Baltische
Monatsschrift
Baltische
Monatsschrift
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Hrinreton Üniversitp.
Baltifche
Monatsichrift.
Herausgegeben
von
Arnold von Tideböpl.
VBierzigiter Jahrgang.
XLVI. Band.
Riga.
Jonck & Poliewsky.
1898. —
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Juhalt.
Von den Funktionen des Gehirnes. Aus dem Franzöſiſchen
des Ch. Richet überſetzt von A. Baron Nofen .
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. Bon M. Böhm
Shakeſpeare's Narren und Klowns. Won Dr. Ed. Edhardt
Herzog Chriſtoph von Medlenburg (1537—1592). Zwei
Vorträge von Dr. U. Bergengrün
Taganrog im Jahre 1825. Von N. K. Schilder . 185.
Zu dem Tagebuch) des Grafen Gotthard Manteuffel (1783).
Don Viktor Diederichs . AUREER E Ber
Eine politiihe Rede vom Jahre 1601. Mitgetheilt von
Dr. Fr. Bienemann jun. . .
Die Kaiſerlich Finländifche — Sorietaͤt 1797 —
1898. Bon 9. von Samjon:Himmeljtjerna . 209.
Kaifer Paul und der Metropolit Sieſtrzencewicz-Bohusz
Aus dem Briefwechſel zwiſchen Viktor Hehn und Georg
Berkholz. Neue Folge. .» . . 2) 3 86L:
Seheimbünde. (Nus hinterlajjenen Papieren.) Von 8.
Die Verfaſſung der Stadt Niga im erften Jahrhundert der
Stadt. Eine Anzeige von Dr. U. Bergengrün .
Litteräriiche Streifliter. Bon H.D.. . . . ..190.
Neue Belletriftit. Von Prof. Dr. 2. v. Schröder 84. 175.
Baltiihe Chronif 1897/98.
995368
—
F Boaltiſche
WMonatsſchrift.
u | Herausgeg eben
von
Urnold v. Tideböhl | x
unter Mitwirkung
N Don Dr. U. Bergengrün, Dr. U. Bielenftein, Baron ®, v. d. Brüggen, Prof.
, Dr. €. Dehio, 9. Diederichs, Dr. Ed. Erhardt, Prof. Dr, J. Engelmann,
Prof. Dr. C. Erdmann, U. v. Gernet, Gr. v. Glajenapp, Dr. E. v. Nottbed,
N ‚Prof. Dr. 2. v, Schröder, N. v. Schulmann, ©. Stavenhagen, U. Tobien u. 4.
— —
| | 40. Jahrgang. Heft Bi; Juli 1898.
46. Band,
-
Abonnements werden von ER Buchhandfungen, —— von den unten-
F en, genannten Firmen, entgegengenommen.
— — Breis jährlich 8 RL, Über die Voſt 9 Nur. »
—* Nign.
7 Bond & Poliewskłth.
— — Karows Uninerf. Buchhandlung: 9. ©. Krüger. — Leipzig,
d —— Ferd Beithorn. C. Ih. Bluhm. — Moskau, J. Deubner. —
g· Eggers DE Ko. 8%. Rider. — Riga, E. Bruhns. J. Deubner. Jonck &
Kymme Er Stieba. — Reval, Kluge & Ströhm. Ferd. Waſſermann.
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Briefe und Beiträge find zu richten an bie — der
Baltiſchen Meneteſchriſt in Riga Küterſtraße 9.
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Von ben Funktionen des Gehirnes. Aus dem Fran- J
zoſiſchen bes Ch. Richet überſetzt von N. Baron Roſen 1.
Ein Grenzgebiet der Medizin und ge Bon
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Shateipeare's Narren und Rlomns. Von Dr. ®. SE
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Neue Belletriftik. "Bon Prof. pre v. ‚"Schiäber 84
Nachdruck verboten.
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Diefem Heft find beigefügt (zwiſchen Seite 86 u. 87) Titel und’
—— zum 45. Bande der „Balt. Mon.‘
Die beiden nächften Seite, zu einem Doppelheit vereinigt,
— am 1. September.
— en euer enger —— = ——— —
IT ——— ——
Herausgeber und Redakteur: ur: Urnoldo. Tidebößt.
Lonnoneno neuaypom. . Pura, 30. Lonn 1898 r.
Druderei der „Baltiſchen Monatsſchrift“, Riga.
Bon den Funktionen des Gehirnes.
Von Ch. Ridet.*)
Aus dem Franzöſiſchen überjegt von A. Baron Rojen.
Organiſche Apparate, wie die Leber, das Herz, die Eierftöde,
die Musfeln haben materielle Sunftionen, welche ſich auf materielle
Vorgänge, chemiſcher, dynamiſcher oder morphologiicher Natur
jurüdführen laſſen. Das Gehirn dagegen hat eine Funktion, die
feines der anderen Gewebe birgt: das Bemußtjein und den
Intellett. Das Bewußtſein und der Verftand jchaffen eine tiefe
Kluft zwiſchen der Phyſiologie des Gehirnes und der der übrigen
Organe, jo daß die Erfenntniß der Seele, des Ih, den Gegenjtand
einer befonderen Wiſſenſchaft, der Pſychologie, bildet, die man oft
von der Phnfiologie im engeren Sinne hat trennen wollen. In
Mahrheit aber vermilcht ſich, troß aller Bemühungen der Pſycho—
flogen, die Piychologie mit der Phyfiologie des Gehirnes, wenn
auch die Methoden der beiden Wiffenjchaften in mancher Hinficht
abweichen.
Troßdem der Sitz und das Organ des Bewuhtjeins das
Gehirn iſt, jo befitt es dennoch glei) den anderen Organen
einfache phyliologiihe Funktionen.
Wir haben alfo beim Gehirn zu unterjcheiden, eine pſychiſche
Funktion im engeren Sinne, das Bewußtſein oder die Erfenntniß
bes Jh, und eine ausschließlich phyfiologiiche Funktion, dur
welche es gleich) den anderen Organen chemiſche und dynamifche
Erjcheinungen hervorbringen fann.
*) Revue scientifique 1897, N 21. (Aus dem Artikel „Cerveau* des
Dictionnaire de Physiologie, Paris 1897 Alcan).
1
2 Bon den Funktionen des Gehirnes.
Diefe Unterfcheidung muß gemacht werden, da andere Theile
des Nerveninftems mit jogen. phyliologiihen Funktionen begabt
find, welche von chemischen und dynamiichen Erſcheinungen begleitet
werden, aber nicht im Stande find Erjcheinungen des Bewußtſeins
zu erzeugen.
Die Ichönen Arbeiten der zeitgenöffiihen Hiſtologen, unter
denen id) bejonders Golgi und Ramon y Gajal anführen will,
fönnen, unjeren Meinung nad, für die Erflärung der pſychiſchen
Phänomene faum von großem Nutzen fein. Nicht auf diefem
Wege wird uns Licht über fie verjchafft werden.
Sogar die jo wichtige Thatſache, daß das Protoplasma ber
Nervenzellen mit Eigenbewegungen begabt ift und auf Entfernungen
hin Fortſätze ausſenden fann, um auf diefe Art mit diejer oder
jener anderen Zelle in Beziehung zu treten, wirft, fo begründet
fie auch zu fein Scheint, Doch nicht viel Licht in die Natur der
Gehirnphänomene. Wußten wir doch jchon vor Entdedung diejer
Eigenichaft des Nervenftoffes mit Sicherheit, daß die Nervenzellen
die Befähigung hätten in gegenfeitige Beziehungen zu treten und
diefe vorübergehende Vereinigung wieder zu löjen.
Daher wollen wir nicht von den hijtologiichen und anatomiſchen
Arbeiten Iprechen, welche fich auf den Bau der Nervenzellen und
auf die Vertheilung der Hirnfaſern beziehen. Denn dieje jchönen
mikrographiſchen Entdedungen beweilen wieder einmal das, mas
Claude Bernard fo oft zu wiederholen liebte, daß es nämlid) fait
nie möglich ſei von einer anatomischen auf eine phyſiologiſche
Thatſache zu Ichließen.
Das Nüdenmarf oder noch einfacher die Ganglien ber
Inſekten und Molusfen find faum movdifizirte Transmilltionsorgane:
ein Reiz läßt den Nerv vibriven und die Vibration verbreitet
fih in der ganzen Ausdehnung der Nervenfafer. Wenn Zellen
im Verlauf diejer vibrirenden Faler gelagert find, jo werden aud)
fie erfchüttert. Es genügt dann, daß fie wiederum in Zufammenhang
jtehen mit anderen, mit dem peripheriichen Bewegungsapparat
verbundenen, Nervenfajern, damit fich dieje zentripetale Vibration
in eine zentrifugale umſetze. So erhalten wir den Nefler, welchen
man ohne Schwierigfeit auf eine Beförderung der Nerven:
Schwingungen von einem peripheriichen Bunfte (dem jenfitiven Pol)
Bon den Funktionen des Gehirnes. 8
ju einem anderen peripherilichen Punkte (dem motorischen Bol)
zurüdführen fann.
Diejes jo wichtige Phänomen läht fih dod auf gewöhnliche
phufifo-chemijche Geſetze zurüdführen. Die Schwingungswelle
(welcher Art fie auch, ob chemilcher, eleftriiher oder noch ganz
unbefannter Natur jei) wird von einem Nachbarpunfte zum anderen
geleitet und von der Stärke des Neizes hängt, bei ganz gleich:
bleibenden Bedingungen, die ihr proportionale Antwort ab, mag
fie auch in einfachem oder zulammengejegtem Verhältniß zu ihm
ftehen. Kein piychiicher Vorgang und feiner des Bewußtſeins tritt
zu der Nealtion der Zellen und Nervenfalern hinzu.
Selbit manche fomplizirt erjcheinende Reflexprozeſſe laſſen
fih bei allendliher Analyje auf dieſe einfahen Schwingungen
zurüdführen,; denn die Beziehungen zwilchen den Zellen fönnen
ſehr zufammengejegte jein, ohne daß der Charakter der Erjcheinung
fih im Wejen verändere. Es fann z. B. eintreten, daß je nad)
der Stärfe des Reizes die Neaftion bei einer Zelle A jtattfindet,
oder bei zweien A und B, oder bei dreien A, B und C u. |. w.,
jo daß der Weiz je nad) feiner Stärfe eine Antwort bedingt,
welche lokal oder allgemein ift. In Folge der organiichen An—
pallung werden die Antworten mehr oder weniger der Natur des
Reizes entiprechen.
So fompler diefe Antworten aber oft auch ericheinen mögen,
fo find fie doch immer beftimmte und wechſeln nicht bei ver-
ihiedenen Individuen. Die Beziehungen zwilchen den Zellen,
welhe die Modalität der Antwort bejtimmen, find jtabil und
beftimmt; man fann je nad der Form und Stärke des Neizes
mit Sicherheit vorausjehen, welche Antwort erfolgen wird. Im
übrigen tritt fein Phänomen piychischer Natur zu dieſem einfachen
phnfiologischen Vorgang, der den Reflex ausmacht, hinzu.
Mir können nod) weiter gehen. Nehmen wir an, daß die
Gruppirung der Zellen fomplizirter jei, als beim Rückenmark,
und daß jeder Neiz eine Spur oder, um fid) jo auszudrüden, ein
Andenfen an feinen Durchzug Hinterlaffen hätte; dann wird es
möglich jein, daß ein Reiz Zellengruppen erweckt, welche durd)
vorhergehende Heizungen in bejtimmter Weile verändert find.
Wir fehen, daß die Antwort fofort nicht mehr diejelbe fein wird,
denn diefe veränderten Zellen bilden neue Apparate deren er
4 Bon den Funktionen des Gehirnes.
weile verjchieden ſein wird bei einem veränderten Individuum
und bei einem normalen.
Der Träger des Gedächtnifjes zu fein, ift eime jpeziell
der Mervenzelle (l’element nerveaux) zufommende Eigenicaft.
Die duch einen früheren Reiz gereizte Zelle A, ift nicht mehr A,
fondern Al, die von der früheren etwas verfchieden ilt, jo daß
die Neaftion = der Zelle A nicht mehr = aber wohl % ift, welche
fih etwas von = unterfcheidet.
Gewiß bildet das ein Charakteriftifum des zerebralen Organes.
Yede Reizung der Zellen bat eine bleibende Spur jeines
Durchzuges gelaflen; fo daß der gegenwärtige Zuftand die Konfequenz
früherer Zuftände ift.
Der Mukel M fehrt troß wiederholter Reizungen und Kon—
traftionen genau in jeinen primitiven Zuſtand zurüd, es findet
eine faft vollftändige Rückkehr zu jeiner früheren normalen organischen
Konftitution ftatt; eine „restitutio ad integrum“ wie man früher
zu Sagen pflegte. Aber die gereizte Gehirnfafer A wird nie
wieder zu A werden: fie wird Aı werden; und nad) jedem Weiz
wird fie fih, von Aı zu Ay, As 20. übergehend, entiprecdhend
verändern, jo daß Die aufeinander folgenden Reaktionen, welche
beim Musfel M jtets identisch find, da er immer M bleibt, — für
die zerebrale Helle ſehr verjchieden fein werden, da fie ſukzeſſive
Aı, As, As x. geworden. Ein Individuum wird alfo heute
Reaktionen zeigen, welche von den geitrigen verjchteden find: und
jedes Individuum wird ihm eigenthümliche Reaktionen aufweijen,
welche es von anderen Weſen untericheiden laſſen, und zu einem
Weſen machen, das ſich auch in verichiedenen Epochen feiner
Exiſtenz von fich jelbjt unterjcheidet.
Die Neaktion wird immer nad) den Grundgeſetzen bes
Reflexes erfolgen, dieje Neflere werden aber, durch das Gedächtniß
und die Eindrücke beeinflußt, ungemein verfchiedenartig und variabel
fein. Das find ſchon pſychiſche Neflere.
Jede Erſchütterung, die das Gehirn oder Rückenmark trifft,
ruft eine Reaktion hervor d. 5. eine Bewegung jei es der Abwehr
oder der Anziehung. Denn alle Bewegungen eines Gejchöpfes
find Bewegungen des Begehren oder Von ſich-weiſens — und
andere fann man fi) auch nicht denfen.
Bon den Funktionen des Gehirnes. 5
Doch haben der medulläre und zerebrale Nefler verichiedenen
Charakter. Der einfache Refler iſt eine fofortige unvermeidliche
Antwort, genau der Quantität und Qualität des Reizes ent-
iprehend. Man kann nad der Organijation diejes oder jenes
Thieres die medulläre Antwort vorausjchen; denn fie iſt von
unerbittliher Unvermeidlichkeit. Der zerebrale Hefler dagegen iſt
unregelmäßig, wenigjtens ſcheint er uns jo zu jein, faſt phantaftiich,
von der perjönlichen Sonjtitution des Individuums und feinem
jeweiligen Zujtande abhängig. Jeder zerebrale intellektuelle Aft
bietet eine Mannigfaltigfeit dar, die der Analyje jpottet und nie
fann mit Beſtimmtheit vorhergejagt werden, wie er verlaufen wird.
Die zerebrale Antwort gejchieht jedoch genau nad) denjelben
Grundgefegen, wie die mebulläre.
Daß der zerebrale Prozeß Fomplizirter erfcheint, hat feinen
Grund darin, daß ein neues Element hinzugetreten ift. Das Mark
hat feine andere Antwort zu geben als die, welche durd feine
anatomische Konjtitution bedingt ift. Frühere Neizungen beeinflujien
es nur in geringem Grade, indem feine Erregbarfeit durd Er:
Ihöpfung oder Hyperäſtheſie geändert ift; während im Gehirn jeit
der Geburt jede Minute tief einjchneidende verändernde Ein-
wirfungen jtattgefunden haben, welche rein individuell und zufällig
(contingentes) find und danf der Aufipeicherung aller früheren
Reizungen Spuren hinterlajjen haben.
Sollte id) in einem Worte die Natur des Gehirnes fallen,
jo würde ich jagen, es ilt der Apparat des Gedädtniljes.
Alles was das Gehirn je, wenn auch nur ein einziges Dial, hat
vibriren laſſen, hat einen unauslöjchliden Eindrud hinterlafien.
Optiſche, akuſtiſche, taftile Neize — fie bleiben alle im Gehirne
firirt, wo auch die Zelle gelegen jein mag, in der der Eindrud
feine Spur hinterlaljen. Alles fann in gegebenem Wiomente
wiedererjcheinen, wenn der gegenwärtige Reiz danf der Ideen—
aljoziation die Erinnerung an alte Neizungen wadruft.
Die Verſchiedenheit der Antwort beruht erjtiens darauf, daß
die Erinnerungen zweier Individuen nie identiſch jein fünnen und
dann darauf, daß die Ideenaſſoziationen in jo ganz verjchiedener
Weile geichehen fönnen.
Denkt man an das mathematische Gejeg der Ordnungen, jo
erfennt man leicht, daß dieje Verſchiedenheiten mit wunderbarer
6 Bon den Funktionen des Gehirnes.
Schnelligkeit wachſen (m — 1) (m-+2) (m+ 3) ..... (mn),
jo dab für n direft ajjoziirte Ideen oder Erinnerungen wir eine
durd ihre Größe jeder Schägung entgehende Zahl von Anordnungs:
möglichkeiten erhalten.
Das Gehirn fann man natürlich mit dem Rückenmark ver:
gleihen, aber nur mit einem mit Gedächtniß begabten Rückenmarke,
welches die Erinnerung an alle früheren Erregungen behalten bat,
und welches daher die Fähigkeit befigt in verſchiedenſter Weije zu
reagiren. Dieje Berjchiedenheit madt die mdividualität aus;
denn all dieje bei jedem Individuum wechjelnden alten Erinnerungen,
die durch das gegenwärtige Bild verjchieden heraufbeſchworen werden,
verändern die Natur der Antwort.
Nun begreifen wir warum das Gehirn an Volumen jtetig
zunimmt und mit der Vervollfommnung des Thieres wädlt. Cs
geihieht damit Zellen vorhanden find, wohin die immer zahl:
reicheren Erinnerungen aufgejpeichert werden fönnen, die dann
aud fähig ſind in ihrer motorischen Antwort abzumechjeln. Der
jonft einfahe und umnvermeidlihe Reflex ift zum pſychiſchen,
komplizirten und faſt bis zur Unendlichfeit verjchiedenartigen
Reflexe geworden.
Wir fünnen mit anderen Worten jagen: das Gehirn ift das
Organ der Vergangenheit, das Nüdenmarf das der Gegenwart.
Das Mark fennt nur den gegenwärtigen Reiz; es antwortet nur
auf das, wodurd es in gegebenem Augenblide aktiv erregt wird;
während das Gehirn jeine Antwort nicht nur dem augenblidlichen
Reize entiprechen läßt, jondern aud) allen früheren Errregungen,
die ihm danf dem Gedächtniß gegenwärtig find. Aus der Erfahrung
der Vergangenheit zieht das Darf feinen Vortheil, während das
Gehirn von Allen profitirt, was ihn frühere Anreizungen gelehrt
haben.
MWir definiren daher das Gehirn als das Drgan bes
Gedächtniſſes d. h. das Organ, das jeine Antworten modifiziven
fann nad den Eindrüden der Vergangenheit. Dan kann zur
Erläuterung dieſer wejentlihen Funktion des Gehirnes aus-
gezeichnete Vergleiche und geijtreiche Analogien finden; doch jcheint
mir die bejte dieſer Dietaphern der Vergleid mit der Photographie
zu jein. Ein Lichteindrud, fobald er Silberjalze getroffen hat,
binterläßt dort unzerjtörbare Spuren, welche mitunter dem Auge
Bon den Funftionen des Gehirnes. 7
erſt nach einer revelatorischen chemilchen Reaktion fichtbar werden:
ebenjo ruft eine jenfible Reizung eine chemiſche Reaktion hervor,
welche die Zelle in einer jcheinbar unmerflihen Weile verändert,
die aber doch hinreichend ift, um fich zu manifeftiven, jobald ein
neuer jie enthüllender Vorgang dieje Zelle berührt. So jpeichern
ih in unferen Gehirnzellen die Eindrüde der Vergangenheit auf,
glei) übereinander gelegten Klihes, in guter Ordnung, bereit
zum Entwideln, jobald jie eine neue Erregung erwedt hat.
Dann erjcheinen dieje alten Platten, unfjere Erinnerungen und
Erinnerungsbilder, und verändern die Antwort auf den peri:
pheriihen Reiz. Es erjcheint feine unvermeidlih ſich gleich
bleibende Antwort mehr, aber eine veränderlihde Antwort, Die
wir unmöglich vorausjehen fünnen, müßte man doch, um fie zu
errathen die ganze Geſchichte des Individuums fennen, müßte die
Form, die Natur und die Zahl jämmtlicher Erregungen kennen,
die es von Kindheit an durchgemacht hat, und welche alle bei
ihm Spuren hinterlaſſen haben.
Die Viannigfaltigfeit der Gehivnafte ijt wohl wunderbar,
und wir willen nicht, ob wir mehr jlaunen jollen über ihre Ber:
ſchiedenheit bei verjchiedenen Individuen oder über ihre Analogien.
Wenn es fi um einfache äußere Vorgänge handelt, ijt Die
Gleichheit eine jehr große; und der Menſch ericheint faum mannig-
faltiger in dieſer Hinfidht als das niedere Wejen. Wenn man
Lärm in der Nähe eines Flujjes, wo Fiihe ſchwimmen, macht, jo
eilen jie alle ſich zu retten, und alle Filche gleicher Art werden
bis auf verjchwindend Feine Nüancen bin alle gleich veagiren.
Wenn in einem Theaterjaale vor verjammelter Menſchenmenge
ein Flintenſchuß fällt, jo wird die Reaktion bei den Anwejenden
faum verjdieden fein. Die Einen werden die Augen jchließen;
die Andern fid) die Ohren zubalten; manche werden einen Schrei
ausjtogen; mande erblajjen oder wie gelähmt daſitzen. Im
Ganzen betradhtet wird aber die Verjchiedenheit feine jehr große
fein und die Antworten dev eine Menge bildenden verjchiedenen
Individuen werden jo ziemlich identisch fein. Trog aller auf:
gejpeiherten Erinnerungen, und den Berjchiedenheiten, welche wir
individuelle oder Charaftereigenthümlichfeiten nennen, werden nur
einige motoriſche Kombinationen auftreten, Die nur wenig von
einander ſich unterſcheiden.
8 Bon den Funktionen des Gehirnes.
Wenn es ſich aber um etwas Kompfizirteres handelt, um
einen Reiz, der fomplerere Erinnerungen wachruft, dann werden
die Antworten jehr variiren und fönnen fich bedeutend von ein-
ander unterjcheiden. Ein plöglich fallender Schuß erweckt einfache
faft gleiche Gefühle, während die Phraſe eines Luſtſpieles oder in
einem Drama weit fomplerere Bilder wachruft. Und doch, aud)
in dieſem Fall, troß mander Motive zur Differenzirung werden
die Neaftionen relativ nur wenig fi) unterjcheiden. Mag ein
Stück fünfzig oder hundert Dial hintereinander gegeben werden,
es ericheinen bei der Zuſchauermenge diefelben Bewegungen, jeden
Abend, zu beftimmter Stunde, jobald diejes tragiſche Wort fallt
oder jener zindende Wi erklingt.
Wir konnen dieje Vorgänge in gewillem Grade mit Recht
als Neflere bezeichnen, und Fönnen fie, was von MWichtigfeit ift,
begreifen ohne das Element des Bewußtſeins oder der Erfenntniß
des Sch heranziehen zu müſſen. Wir brauchen nur anzunehmen,
daß die ſenſible Erzitation jtatt direkt zur einfachen Zellengruppe
zu gehen, die unvermeidlid) den Neiz in eine zentrifugale Anreizung
umjeßt, den Haufen von Nervenzellen in Bewegung feßt, in denen
fid) die alten Neizungen aufgelpeichert haben. Dieje zahlreichen
Nervenzellen werden, — verändert wie fie find und Durch vorher:
gegange Erregungen mit einer Art Individualität begabt, —
ihrerjeits reagiren, die Erregungen verwandeln und verändern
und fie endlidy in eine Bewegung oder in eine Hemmung auflöfen.
Die Komplizirtheit eines Weſens hängt aljo ab von
der Zahl der Nervenzellen im Gehirn. Bei den einfachen
Geſchöpfen, deren Gehirn gleich Null oder rudimentär ift, find
dieje Reaktionen bejtimmte; denn frühere Erregungen haben fich
nit anſammeln Fönnen, um damit differenzirte Neaftionen vor:
zubereiten. Aber je höher man auf der Stufenleiter der Wejen
jteigt, dejto mehr wächſt das Gehirn: die Ffortifale Schicht der
grauen Subjtanz erjcheint ein Neſt von Zellen, wo die Erinnerungen
ji niederlegen; dieſe graue Schicht faltet fi) übereinander je
ftärfer fie zunimmt, um Platz finden zu fünnen im engen Schädel.
Das Gehirn iſt aljo, wie wir oben gefagt und es hier
wiederholen, das Organ des Gedächtnifjes und diejes Gedächtniß
eine Funktion der Anzahl der zur Aufipeicherung geweſener Reize
fähigen Gehirnzellen. Die Fortichritte der modernen Hiftologie
Ron den Funktionen des Gehirnes. 9
erlauben und® fogar ein unerwartetes Faktum fetzuftellen: daß
nämlich die Beziehungen der Zellen untereinander nicht unver:
ünderlih und unbeweglich find. Sie geſchehen durd) bei Gelegenheit
ericheinende Fortſätze, welche nad der Erzitation auftreten, und
deren Form und Dimenfionen vom Reize ſelbſt abhängig find.
Wenn ein zentripetaler Neiz zum Gehirne gelangt, jo veranlakt
er die Thätigfeit einer gewiſſen Anzahl von Zellen, welche ihrerjeits
dann andere durch ihre Fortjäge anregen und jo fort, jo daß zum
Schluß alle Nervenzellen der Gehirnrinde von dieſem einen Neize
erjchüttert werden, und die allendlihe Antwort die Rejultante
diejer ganzen jehr verwidelten zerebralen Erjchütterung ift.
Es folgt daraus ein Faktum von außerordentlicher
Wichtigkeit, daß nämlich die Antwort nicht dem Reiz proportional
it. Wo das Nüdenmarf auf einen jenfiblen Reiz antwortet, ift
das Verhältniß ftets ein einfaches. Wenn die Reize a, 2a, 3a ıc.
find, jo find die Antworten b, 2b, 3b 2c.; das Gehirn wird aber
nicht mit jo unerbittliher Fatalität antworten, denn der Grad
der Reizbarkeit der jo zahlreichen Gehirnzellen, die bei der Antwort
mit theilnehmen, hängt von ihrer Konftitution d.h. von.den früher
erlittenen Reizungen ab. So fann je nad) dem Jndividuum, das
gereizt wird, eine Provokation a die Antwort 100b oder 10b
oder b/100 zur Folge haben, ohne daß man im Voraus vorher:
jagen fönnte, welche Intenſität die Antwort haben wird, ift fie
doch eine Funktion angejammelter Erinnerungen und der früher
unter den Zellen fejtgejegten Verbindungen.
Es fann dann wohl geichehen, daß ein anjcdeinend fehr
ſchwacher Reiz eine ungeheure Antwort hervorbringt, die in feinem
Verhältniß jteht zur Geringfügigfeit des Neizes. Das Gehirn
hat einen wunderbaren Vorrath von Energie, weldye im gegebenen
Augenblide jich ganz entladen fann, jelbit wenn der dieſe Ent-
ladung hervorrufende Funke auch nur ein ganz ‚Fleiner it. Wenn
ein General jeinem Adjutanten zuruft: „Reiten Sie!“ jo iſt
diefer afuftiiche Neiz nicht groß, faſt nichtsiagend: er wird aber
doch eine ungeheure Antwort erhalten, die in feinem energetischen
Verhältnig zur Schwäche des Neizes jteht. Der Offizier wird das
Pferd befteigen, zu Degen und Piſtole greifen, viele Kilometer
über alle Hinderniffe galoppiren, und der im Gehirn aufgeipeicherte
Vorrath von Energie wird ſich plöglic mit großer Kraft auslöfen,
10 Bon den FZunftionen des Gehirnes.
gleih wie ein fleiner eleftrijher Funfe eine große Maſſe
Pulver entzündend fähig it eine ganze Stadt in die Luft zu
Iprengen.
Eigentlih fann jeder Vorgang in der Zelle mit einem
erplofiven Phänomen vergliden werden, denn Die Reaktion ber
Zelle überjteigt bei Weitem die erregende Kraft. Jede Zelle
enthält einen großen Vorrath von Energie, welder im Moment
der Reizung plöglid frei wird. Wenn eine Diuskelfajer von einer
Kraft a angetrieben wird, ijt fie fähig die Energie von 1008 zu
entwideln, denn der Reiz hat die latenten chemiſchen Kräfte
— einen in der Zelle aufgeipeiherten Energievorraty — ausgelöt,
ganz ebenjo wie die Erplofivftoffe in fi eine Quelle ungeheurer
latenter Energie enthalten, welche nur auf die Gelegenheit, den
Heiz wartet ſich zu entladen.
Im Nervenfyitem ift diefe innere Kraft vielleicht nicht größer,
diefe latente Energie vielleicht nicht intenfiver als im Muskel oder
den anderen Zellenorganismen; aber die Wirkung it eine bedeutend
beträcdhtlihere, dank den protoplasmatiihen Verbindungen und
Beziehungen der verichiedenen Nervenzellen; jo daß ber Weiz a
in einer Zelle die Energie von 100a entiwidelnd dabei nicht ftehen
bleiben wird, wie beim Muskel; er wird Schritt für Schritt
andere Zellen erfallen und jo wird — jeßen wir den Fall, daß
1000 Zellen gereizt find — als Folge des Neizes a eine Energie
von 1000 Mal 1008 entwidelt werden können.
Die erplofive Kraft des nervöjen zerebralen Apparates in
Gemeinſchaft mit der außerordentlichen Reizbarkeit der peripherifchen
jenfiblen Ilervenapparate machen den ganzen Organismus zu einem
Apparat von außerordentliher Empfindlichkeit, fähig in allen jeinen
Theilen mit bewunderungswürdiger Intenfität zu vibriren.
Das fönnte man in folgender Form ausdrüden: „im
VBorgange des Nefleres läßt eine Zelle alle anderen
widertönen und alle anderen flingen in ihr wider.“
Dieje Behauptung muß man fogar auf die Gehirnafte aus:
dehnen: nur mit dem Zufag, daß in Folge des Gedädtnijjes
der Gehirnnervenzellen dieſes Widerflingen nit nur in Der
Gegenwart jtattfindet; es erſtreckt ji auch auf die Vergangenheit.
In dem Gehirn tönt eine Zelle unbegrenzt in den anderen wider,
und alle anderen klingen unbegrenzt in ihr wider.
Bon den Funktionen des Gehirnes. 11
Diefe Verbindung der Vergangenheit und Gegenwart und
dieſe Solidarität der einzelnen aufbauenden Theile charakteriſiren
eben das Welen und das Individuum.
Die Gehirnprozejle können aljo in letzter Analyje auf
vefleftoriiche Prozeſſe zurücdgeführt werden, welche aber durch zwei
Eriheinungen gar merfwürdig verwidelt werden: einestheild das
Gedächtniß der Nervenzellen; andererjeits die Ungewißheit (con-
tingence) ihrer gegenjeitigen Nelationen (die gelegentlich zu Stande
fommenden Beziehungen der einzelnen Zellen). Dieje beiden Er:
iheinungen laſſen ſich ohne Zweifel auf ein einziges Phänomen
jurüdführen, den Einfluß nämlid früherer Vorgänge auf ihren
gegenwärtigen Zujtand.
Um die Antwort des Rückenmarkes eines Frojches auf einen
Reiz zu fennen, brauchen wir nicht feine Vergangenheit zu fennen;
aber um die pſychologiſche Antwort eines menjchlichen Wejens auf
einen Reiz vorauszujagen, müßten wir feine ganze Vergangenheit
fennen und alle Neizungen bis ins Detail, welche ſich in der
Maſſe jeiner Gehirnzellen aufgejpeichert haben.
Daß bei jeder Neizung das Gehirn danf jeiner Organijation
in jeiner Geſammtheit vibrirt, jcheint auf den erjten Blick mit
der funktionellen Zofalijation, welche von den modernen Bhyfiologen
jo MHargelegt worden ijt, in Widerjpruch zu jtehen; was aber nicht
der Fall iſt. Im Gegentheil ijt es leicht nachzuweiſen, daß Die
zuerjt diffufe Erzitation fi in bejtimmten Punkten fonzentrirt und
lofalifirt.
Nehmen wir bei einem |ndividuum x irgend einen viluellen
Reiz « an; er wird eine gewilje Gruppe von Zellen erregen, welche
in Relation mit den optiſchen Nerven jtehen; und dieſe erregten
Zellen werden ihre Erjchütterung verichiedenen anderen „zellen:
gruppen A, B, C, D, E, F ac. mittheilen. Aber der durd Die
Zentren der vijuellen Perzeption veränderte Neiz “ wird nicht
überall günftige Aufnahme finden; von all den gereizten Gruppen
A,B,C, D, E, F wird nur eine einzige in wirffamer Weile
angejtachelt werden. Die Zujtände der Vergangenheit haben ein:
gewirkt und beim Individuum x die Gruppen A,B,C, E, F für
den Reiz = unempfindlicd; gemacht, während D reizbar geworden iſt.
Bei einem anderen Individuum y wird C reizbar geworden jein
und in ähnlicher Weije jo fort, jo daß bei x die Zellengruppe D
12 Bon den Funktionen des Gehirnes.
reagiren wird und eine motoriiche Antwort erfolgen wird, welche
von der durch die Gruppe C beim Individuum y bervorgerufenen
motoriſchen Antwort verichieden fein wird.
Doch iſt das hier nur eine erſte Station (relai). Durd die
der Aſſoziation dienenden Faſern werden ſolche Antworten anderen
Zellengruppen mitgetheilt werden, welche fpeziell mit der Aus-
arbeitung der Bewegung betraut find: das find die pſychomotoriſchen
Zentren diefer oder jener Bewegung, die durd ihre Erregung bie
Antwort den zentrifugen Faſern des Gehirnes mittheilen werden
und das Nüdenmarf und dieje oder jene Gruppe motorischer
Nerven erregen werden.
Es läßt ſich alio das Schema des Gehirnes etwa wie folgt
darjtellen: er
Aſſoziation.
K.
Urtheil H.
(Discernement). | =»
I. Wahl.
-
*
—
—
*
Senſitives Zentrum . — —D. Motoriſches zerebrales
Zentrum.
Zerebrale Leitung.
B. Leitunghim Rückenmark.
(Ohr) A. Nerv. 8
E.
G. FO PMotorischer Nerv.
Alle jenfibeln oder jenjoriellen Nerven der Körperoberfläche
find repräjentirt durch an der Peripherie des Gehirnes liegende
Zellengruppen; das Syſtem der ‘Projektion der Senfibilität. Die
auf einen Reiz folgende Vibration einer diefer Gruppen A wird
die Gejammtheit der Gehirnrinde (B) erjchüttern, in Folge der
Reaktion dieſer unzähligen Clemente, deren Beziehungen und
Dispofitionen veränderlid und von vorbhergegangenen Falten
abhängig jind, wird endlih eine Rejultante, die Antwort C,
eintreten, welde ſich in der Reizung einer jpeziell der Bewegung
zugeordneten Zellengruppe (D) äußern wird. Der Reiz des fog.
piycho-motoriichen Zentrums D wird fid durch die Hirnganglien,
das Kleinhirn und das verlängerte Diarf bis zum Rückenmark (E)
fortpflanzgen. Dann wird das motoriſche Zentrum bes Nüden-
Bon den Funktionen des Gehirnes. 13
marfes die von ihm ausgehenden Nerven reizen und die allendliche
Bewegung hervorrufen.
Ein Gehirnprozeß iſt alſo ein refleftorifcher Prozeß, aber
ein durch das Gedächtniß fomplizirter reflektoriſcher Prozeß.
Bis jept nahmen wir an, daß all diefe Vorgänge auf rein
mechaniſchem Wege zu Stande fämen; und in der That als wir
uns des Wortes Gedächtniß bedienten, haben wir nicht fagen
mollen, daß es fi) um ein bewußtes Gedächtniß handele, ſondern
um ein unbewuhtes Gedächtniß, analog dem Gedächtniß der photo-
graphiichen Platte, die ohne etwas davon zu willen Die Spur des
Lichteindrudes bewahrt, der fie getroffen. Man begreift, daß alle
diefe aufeinander folgenden Vorgänge: die Erregung der in der
Rinde gelegenen PBrojektionszentren, die Beeinfluffung eben derjelben
durdy die eingejtreuten Nervenzellen, die Webertragung zu den
piyhomotorischen Zentren und zum Rückenmark — daß alle diefe
Vorgänge auf rein mecdanishem Wege entitehen fönnen, ohne
jegliche Betheiligung des Bewußtſeins. Unfer pſychiſches Syſtem
fonnte ein ungeijtiger und unbewußter Mechanismus fein.
Aber de facto verhält es fich nicht fo: und das Bewußtſein
erjcheint ein einzig daftehendes Phänomen in der unferer Erfenntniß
zugänglichen Welt.
Wir fönnen nicht angeben, wo es beginnt in der Reihe der
lebenden Weſen und nur ſehr ſchüchtern dürfen wir Vergleiche
ziehen zwiſchen dem Bewußtſein bei den Thieren und dem der
Menihen. Wir wiſſen nur, da das Bewußtſein d. h. das fich
Bewußtwerden jeines Ic mit feiner Empfänglichfeit für Schmerz
und attraftiven oder repuljiven Gemüthsbewegungen beim Menjchen
eriftirt; und wir vermutbhen, daß es bei den Thieren, die uns
ähnlich find, auch vorhanden fei. Wir müſſen aus Analogie an-
nehmen, daß der Hund ein Bewußtſein hat, ebenjo wie der Affe,
der Elephant, die Kae, das Pferd. Wenn es fih aber um das
Bewußtſein des Kaninchens oder der Ente, oder gar um das der
Schildkröte oder des Froſches handelt, jo beginnen wir zu zögern.
Wie wird es aber erit, wenn es ſich handelt um das Bewußtſein
eines Maifäfers, einer Spinne, eines Medufe, einer Mikrobe?
Es wäre recht abjurd anzunehmen, die Mikrobe ſei ſich ihres
Seins bewußt. Jede Scheidung zwiſchen einem Weſen ohne
Bewußtjein, wie die Dlifrobe und einem damit begabten Wejen
14 Bon den Funktionen des Gehirnes.
z. B. dem Menschen, ift wahricheinlich unmöglich zu ziehen. Der
Grad des Bewußtſeins bei den Thieren ift mwahricheinlich eines
jener großen Myſterien der Natur, in die einzudringen uns wohl
immer verjagt fein wird.
Laſſen wir das, da es fich hier hauptſächlich um das Bewußtſein
des Menſchen handelt. Diejes fönnen wir nicht wie die Fafta in
anderen MWillenichaften auf Grund der Erjicheinungen der Außen-
welt fennen lernen, aber durd gegebene Thatjachen des inneren
Sinnes. Verſuchen wir zu erforichen, was in dem oben analpyfirten
intellektuellen refleren Mechanismus bewußt ift und mas nicht.
Erjtens it die Empfindung bewußt. Sobald ein jenfibler
Nerv (ein allgemeiner oder jpezieller) gereizt ift, fo erichüttert ber
Reiz das Bewußtſein.
Daher ift wohl anzunehmen, daß der Sig diefes Bewußtſeins
in der Zellengruppe der Rinde gelegen iſt, welche die Projektion
des Spitems bildet. In unjerem oben gegebenen Schema ijt Die
Gruppe A eine Gruppe mit Bewußtſein.
Aber die Gelammterichütterung des Gehirnes, welche Die
Folge des Neizes it, hört auf bewußt zu fein, oder fie ift es
vielmehr nur in Intervallen, ſozuſagen rudweife. Die Arbeit der
auf den Heiz folgenden Schwingungen ijt mehr oder meniger
unferer Kenntniß entzogen; jo da wir nur die Rejultante diejer
Erjchütterungen fennen zu lernen im Stande find d.h. die Antwort
C, welde gewiljermaßen der vom ganzen zerebralen Syitem B
gefaßte Entihluß iſt. Diefen unjerem Bewußtſein entzogenen
Entihluß, der bejtimmt wird durch die gegenjeitigen Beziehungen
der Zellen und ihre Crinnerungen an Früheres, nennen wir den
Millen; und die ihn bejtimmenden Urfachen find nur in unvoll-
fommener Weiſe unſerem Bewußtſein unterjtellt.
Im Prozeß des pſychiſchen Refleres (A ſenſibler Antrieb,
B Schwingung des Gehirnes, C Reſultante der Geſammtvibration,
D motorijcher zerebraler Antrieb, E motoriſcher Antrieb des Nüden-
marks) find uns voll und ganz nur bewußt A, Die jenfible
Stimmulation, die Rejultante C und die motorische zerebrale
Impulſion D; die anderen Elemente entziehen fich theilweife oder
ganz dem Bewußtſein. Wir wohnen der inneren Arbeit, Die
unjeren ganzen Organismus in Schwingungen verjegt nur in
fragmentarischer Weife bei und genau fennen wir nur den jenfiblen
Bon den Funktionen des Gehirnes. 15
Reiz, der zum Gehirn gelangt und den motorischen Reiz der von
ihm ausgeht. Daher muß das Gebiet des Unbewuhten, das von
den zeitgenöffiichen Pſychologen jo gut hervorgehoben worden ift,
als ein ungemein ausgedehntes betrachtet werden.
Wir fönnen jeden Gehirnaft von zwei Gefichtspunften aus
betrachten, vom phyliologiihen d. h. als Ausarbeitung eines fom-
plizirten Nefleres oder vom pſychologiſchen als Phänomen des
Bewußtſeins. Wenn man die Geduld gehabt hat obenermwähnte
Details zu verfolgen, jo hat man erjehen können, daß das
Vorhandeniein des Bewußtſeins den Vorgang im Gehirn nicht
fundamental zu modifiziven im Stande zu fein fcheint. Eine aufs
Zentrum übertragene peripheriiche Erregung, die den geſammten
intelleftuellen Gehirnapparat in Schwingungen verfeßt, fann bewußt
oder unbemußt fein; es ſcheint dieſes jeine Natur nicht viel zu
ändern. Das Gleiche gilt von den leichter zu analyfirenden
Rüdenmarksrefleren. Wenn ein Gegenjtand den Larynr zufällig
reizt, fo erfolgt ſogleich Huften; diefer Huften wird bewußt jein;
und doch iſt das nichts deſto weniger ein Nefleraft und bei einem
feiner Hirnhemilphären beraubten Thiere wird die Reizung des
oberen Kehlfopfnerven einen ebenjoldhen Huſten hervorrufen wie
beim Gefunden. Ob er bewußt oder unbewuht vor ſich geht, das
hindert diefen Vorgang nicht ein Nefler zu fein.
Nehmen wir ebenjo einfadhe pſychiſche Vorgänge. Nähern
wir plöglih einen Gegenjtand unjeren Augen, jo wird Augen:
blinzeln und Zurüdziehen des Kopfes eintreten; das ijt ein voll
ftändig bewußter Refler; aber weder der Wille nod) das Bemwußtiein
greifen ein, um ihn zu gejtalten. Zur phyſiologiſchen Ericheinung
des Nefleres tritt nur noch die piychologiihe Erſcheinung des
Bemwußtwerdens hinzu: das Bewußtwerden des äußeren Neizes
ber unſere Sinne trifft; das Bewußtiwerden der Diusfelanftrengung,
die wir mit unjeren Augen und unjerem Kopfe machen, um der
uns drohenden Gefahr zu entgehen.
Schreiten wir in der Reihe der pſychiſchen Afte fort, jo
erfcheinen fie mehr und mehr fomplizirt; aber allendlich laffen fie
fih alle auf ein Phänomen motoriiher Ausarbeitung begleitet
von Bewußtſein zurüdführen. Dieſe motoriſche Ausarbeitung ift
der phyſiologiſche Vorgang: Erichütterung der Zellen, Veränderung
(Verjtärkung oder Abſchwächung) des Neizes durch die Gehirnzellen,
16 Bon den Funktionen des Gehirnes.
in denen die Erinnerungen aufgeipeichert find; Afjoziation der
Seen: Schaffung neuer Beziehungen; Alles jcheinbar geiltige
Vorgänge, aber doch rein mechanischer Natur, gleich wie das
Spiel eines auf einem Klavier jchwierige Stüde ausführenden
Automaten es iſt. Doch unterjcheidet fih der Automat vom
Gehirn in einem: der Automat führt feine Bewegungen ohne
Bewußtlein aus, während das Gehirn funktionirt, indem es einige
Kenntniß über den ihn treibenden Mechanismus erhält: da ift
das piychologiiche Phänomen. Cinzig und ohne Analogie im
Weltall fteht das pſychiſche Phänomen da: die pfychiiche Bewegung,
die das Gehirn ausführt, verjteht ſich Telbit, während alle anderen
Bewegungen in der Natur, mögen fie groß fein oder Fein, fich
ſelbſt nicht erfennen und fich nicht verjtehen. Es find blinde
Kräfte während das Gehirn eine Kraft ift, die Sich ſelbſt Fennt.
Das piychologiihe Phänomen des Bewußtfeins ift jogar dermaßen
außergewöhnlih, daß man fi fragen fann, ob es denſelben
Geſetzen unterliege wie die lebloje Materie d. h. dem Gejeß der
Erhaltung der Energie. Giebt es eine dynamiſche oder chemijche
Hequivalenz bei den Vorgängen des Bewußtieins, wie es eine
Mequivalenz, chemiſcher und dynamilcher Natur, bei der Musfel-
arbeit giebt? Es bleibt höchſt zweifelhaft; und bei der Lage
unferer Kenntniſſe ift es begreifliher Weile unmöglid) darauf zu
antıworten.
Mas wir aber als höchjt wahrscheinlich annehmen können ilt,
daß der phyfiologische Vorgang d. h. die geiftige Ausarbeitung,
die Verwandlung eines Neizes in eine Handlung, begleitet wird
von molekularen chemijchen Veränderungen, die augenſcheinlich ein
dynamiſches Nequivalent befigen. Die abjolute Nothmwendigfeit
des Sauerjtoffes dabei iſt ein unbeftreitbarer Beweis dafür.
Sobald das ſauerſtoffhaltige Blut im Gehirn nicht mehr zirkulirt,
verſchwindet jegliche geiftige Erfcheinung; der medulläre Refler
ſelbſt troß feiner Einfachheit und feines elementaren Charafters
braucht Blut und Sauerjtoff. Umfomehr der zerebrale Nefler, der
gleicher Natur ift, wenn auch bedeutend zufammengejegter. So
fann man von der energetischen Aequivalenz der Gehirnarbeit
ſprechen, wenn auch die energetiiche Aequivalenz des Bewußtſeins
dieſer geiftigen Arbeit noch ſehr hypothetiſch tft.
Bon den Funktionen des Gehirnes. 17
Da das Vorhandenjein des Bewußtſeins mit den phyfio-
fogiichen Vorgängen im Gehirn als ihre direfte Konſequenz eng
zulammenhängt, jo folgt, daß das Bewußtſein denjelben Gejegen
unterworfen ijt, wie die Gehirnzellen, welche unthätig werden
durh Gift, Abmwejenheit von Sauerjtoff und Zirkulation, durd
Veränderung der Temperatur, mechaniſche Eingriffe ıc.
Es fann alſo die Phyfiologie des Gehirnes als Kapitel der
allgemeinen Phyfiologie behandelt werden: fie iſt das Leben der
Nervenzelle; aber wir befiten um uns aufzuflären ein Element,
das beim Studium anderer Organe uns fehlt, das Element des
Bewußtſeins. Die jogen. piychologiihen Gejege find im Ganzen
phyſiologiſche Gejege und die Beziehung zwiſchen Empfindung und
Intenfität des Reizes ijt Direfter Erperimentation zugänglich.
Ebenjo iſt aud die Dauer pſychiſcher Alte ganz derjelben Art,
wie die Dauer refleftoriicher Akte, und durch jehr analoge Methoden
fann man die einen wie die anderen jtudiren.
Kehren wir zum einfachen Lebeweſen zurück und wollen wir
betradhten durch melde allmähliche Wervollfommnungen in der
Entwidelungsreihe es zum geiltigen und ſich jelbjt bewußten
Menſchen wird.
Auf den erften Stufen des Lebens reagirt das Lebeweſen
auf peripherifche Reize danf der einfachen Erregbarfeit der Zelle:
ein mechanijcher, chemiſcher oder phyſikaliſcher Reiz ruft jofort eine
Antwort als Reaktion hervor, die einfach und unbedingt noth:
wendig ilt.
Darauf erfcheint der Nervenapparat, der reizbarer it als
die anderen: und nun reagiren die Musfeln und Drüjen auf
äußere Neize durch jeine Vermittelung. Das ijt der einfache
elementare Refler, eine einfache und unabweisbare Antwort, wie
die direkte reaftionelle Antwort der Muskeln und Drüfen. Nach
und nad) wird das Nüdenmarf und die Ganglienfette gekrönt
durch eine Zellengruppe mit vielfachen Verbindungen, ein Hudiment
des Gehirnes; und der Weiz ruft jtatt der einfachen Antwort eine
fomplizirte hervor. Diele Zellenhaufen, die bei Jndividuen der:
felben Art gleiche find, entbehren noch des Gedächtniſſes und des
Bewußtfeins. Wir haben nicht mehr ganz den Nefler, da Die
KRomplizirtheit groß iſt, aber aud nod nicht den zerebralen
Vorgang, denn weder giebt es individuelle Verſchiedenheit noch
18 Bon den Funktionen des Gehirnes.
Erwerbungen des Gedächtniſſes; es ift der Inftinftaft, den man
als einen ſehr fomplizirten Nefler betrachten fann. Wenn es
auch feine Neuerungen des Gedächtniſſes und des Bewußtſeins
giebt, fo findet doch eine Anfammlung von Energie in den Nerven:
zellen ftatt, da das Mißverhältniß zwiichen Reiz und Antwort ein
zu großes if. Der Gehirnapparat, aus dem die Inſtinkte hervor:
gehen, ift fchon ein ungeheurer Vorrath an Kraft: denn ein ehr
ſchwacher Reiz genügt um eine andauernde und vermwidelte
motoriſche Thätigfeit hervorzurufen. Schon iſt ein erplofiver
Mechanismus vorhanden; aber ein relativ noch einfacher Mecha—
nismus, weil er meder mit Bewußtſein noch mit Gedächtniß
verbunden.
Bemerkenswerth iſt es, daß inftinftive Afte feine große Maſſe
von Nervenzellen erfordern. Die wunderbaren Inftinfthandlungen
ber fleinen Ameiſen werden von einer relativ jehr Heinen Zahl
von Zellen ausgeführt.
Ein bedeutender Fortichritt tritt ein, jobald zu dieſen Zellen
des nitinftes die Gehirnzellen des Gedächtniſſes Hinzutreten.
Dann hinterlafien die Reizungen jtatt flüchtig und tranfitorifch
zu fein, eine Spur ihres Durchzuges, jo dab fogar durch bie
Vergangenheit, welche fih im Gehirn fozufagen angefammelt, die
Gegenwart verändert wird. Dept erhält die erzeugte Bewegung
ihren geiltigen Charakter, der ji) von dem des einfachen Refleres
oder der injtinftiven Handlung unterjcheidet. Die Antworten auf
einen Reiz find bei jedem Individuum verjchieden, denn die mit
Gedächtniß begabten Zellen haben während des Lebens des Andi:
viduums dieſe oder andere Eindrüde empfangen; fie finden lang»
famer jtatt, denn die Schwingung diejes geiltigen Zellenapparates,
der zu dem Zellenapparate des Reflexes hinzugekommen ift, erfordert
eine bemerfbare Zeit; die Antwort ift ferner in feinem Verhältniß
zur Intenfität des Neizes, da die inneren gegenfeitigen Reaktionen
der Zellen ſchwache Erregungen unverhältnigmäßig zu fteigern
vermögen; ſie kann auch jehr lange andauern, denn der Gehirn:
apparat it fähig auf einen Anfangsreiz bin in fortgejegter Weile
zu Schwingen.
Es fann fogar vorfommen, daß der Neiz jo ſchwach und
feit fo lange ftattgefunden hat, daß er unbemerft bleibt, jo daß
die Antwort auf den Reiz nicht mehr als ſolche ericheint, aber
Bon den Funktionen des Gehirnes. 19
mie ein jpontaner Vorgang. Doch ift diefes nur fcheinbar und
im Grunde genommen folgt der geiltige Mechanismus denſelben
fundamentalen Gejegen wie der elementare Nefler; er bleibt immer
eine Erjcheinung der Erregbarfeit der Zellen, hervorgerufen durch
einen äußeren Vorgang. Am Anfang find die Zellen des Gedächt—
nijfes wenig zahlreid und die Unterjchiede zwiſchen den Individuen
find ſchwach; aber allmählich nehmen diefe Zellen an Zahl und
Bedeutung zu. Das Uebergewicht des Gehirnes tritt deutlicher
und deutlicher hervor; der individuelle Gehirnaft überflügelt den
Reflex und den injtinftiven Aft; das geiftige Weſen ericheint, dejto
intelligenter je umfangreicher fein Gehirn und je reicher an
Gedächtnißzellen es if. Den Schluß dieſer ſtufenweiſen Evolution
bildet der Menſch, mahrlid die Krone des uns Befannten; meil
im riefigen Weltall ſich nichts vergleichen läßt mit der wunderbaren,
unentwirrbaren und doch harmonischen Mannigfaltigkeit feines
Verjtandes. Die Arbeit des Gehirnes ijt nicht nur unendlid)
zufammengefegt, fie hat auch den einzigen Vorzug ihrer jelbit
bewußt zu fein, ſich erfennen und beobachten zu fönnen: es ijt
ein wunderbarer Mechanismus, in dem Sinne gejagt, den Descartes
an diejes Wort fnüpfte; aber es ijt ein mit Bewußtſein begabter
Mehanismus.
Wunderbarer Vorrath an Energie, Aufipeicherung vergangener
Reizungen, Bewußtſein feiner eigenen Thätigfeit: das jcheinen die
Charaftere des zerebralen Aktes zu jein.
Heußerlich wenigitens jcheint es, dak Milliarden von Milliarden
von Lebeweſen gelebt haben, um zu dieſem Ziele zu gelangen.
Das Gehirn des Menſchen bildet in dem, was unjerer Erfenntniß
zugänglih iſt, das legte allervollendetite Glied der Evolution der
Dinge und Weſen.
.-
2*
Gin Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik.
Allenthalben begegnen wir in unferen Tagen ber Klage über
die zunehmende Verbreitung der Nervofität. Sie tönt uns aus
Hunderten von medizinischen Abhandlungen, aus populären Auf-
fügen in Familienblättern, aus Zeitungsnotizen, aus den Unter:
baltungen der gebildeten Kreije entgegen. Mit mehr oder weniger
Recht weiſt man auf den Zeitgeift, die weitverbreitete Unzufriedenheit
mit dem Bejtehenden, die Jagd nad dem vielgeftaltigen Glüd,
ben geiteigerten Wettbewerb, den Umſchwung in unjerem Verfehrs-
leben, auf die in allen Schichten der Bevölferung verbreitete
Genußſucht neben der Noth und Entbehrung von Millionen als
die Symptome der betrübenden Erjcheinung hin, deren Endrefultate
man in den ftetig zunehmenden Geiltesfranfheiten, Selbjtmorden
und Verbrechen erfennen will. Die Thatfache, daß unfere Zeit jo
recht eigentlich das Zeitalter der Nervofität ijt, bleibt unbejtreitbar.
Hieraus entipringt jedocd eine große, ſtets wachſende Gefahr
für die Zukunft des Menſchengeſchlechts. Denn unjere Nach—
kommenſchaft übernimmt nicht nur die pofitiven Errungenjcaften
unferes Dajeins, fondern auch die negativen. Die Schulden der
Väter, hier müſſen die Kinder fie zahlen. Das Naturgejek ermeift
fih, Ausnahmen abgerechnet, als ein unerbittliher Gläubiger.
Da ſcheint menschlicher Klugheit ein Damm gejeßt. Doch ein
Mittel giebt es, das, wenn auch nicht für die Gegenwart, jo Doch
für die fernere Zufunft Nettung verjpricht: verjtändige Delonomie
mit dem Kapital der Gejundheit, naturam secundum vivere
nannten es die Alten. Welche Weisheit liegt in dem kurzen,
Ichlichten Wort!
Aber mir, die wir dieſe Weisheit fchon in der Serta
gelernt, wir verjtehen fie erjt, wenn wir an unferen Kindern
die Früchte unjerer Thorheit jehen. Für uns iſt es dann zur
Umkehr oft ſchon zu jpät, aber unſere Kinder follen nody Gewinn
davon ziehen. An ihnen ſoll jene andere herrliche Forderung des
alten, heute ach! jo verfannten Lehrmeifters: mens sana in corpore
sano wahr werden. Wer hilft uns dazu? Nun doc zunächit die
Schule! Die Schule? Ja, der mens nimmt fie fih nad Kräften
an, aud) des gejammten animus, ber unjterblichen Seele, wenn
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 21
fie es mit ihrem Berufe ernjt nimmt, aber wie jteht es mit ber
sanitas corporis? Das Gehirn wird an Arbeit gewöhnt, aber
wie jteht e8 mit dem übrigen Slörper? 30 Stunden Gehirn:
thätigkeit, 2 Stunden Gliedergymnaftif, kann daß das Richtige
fein? Und in der That, der Junge wird müde und jchlaff, Die
Rofen von den Wangen verſchwinden, unfer „Benjamin“ *) fcheint
nicht mehr recht gefund. Nun wird der Hausarzt zitirt. Er hört
die Klagen der Eltern, fieht den Jungen. „Benjamin lernt zu
viel und hat zu wenig Bewegung” ift jein Bejcheid. „Laflen fie
ihn fih fleißig im Freien tummeln!” „Dann leidet die Schul:
arbeit, und der Junge wird nicht verjegt.” „So bleibt er eben
figen, beiler, als daß feine Gejfundheit zu Schaden fommt.” Der
Rath iſt gut, Scheint aber zu radikal und vielfach unausführbar.
Das weiß der Arzt, ebenjo wie der Lehrer es weiß, daß Die
Schule viele Kinder in ihrer förperlichen Gejundheit beeinträchtigt,
aber beide fühlen ſich unjchuldig, fie fünnen nichts daran ändern.
So geht es denn weiter fort, Jahr um Jahr. Immer lauter
ertönt indejjen der Warnungsruf aus den reifen der Nerven:
ärzte, und unmöglich dürfen wir ihm unjer Ohr verjchließen.
Vielleicht, wenn Arzt und Erzieher Hand in Hand gehen, ift doc
einige Abhilfe möglich. Und in der That ijt drüben in Deutjchland
ſchon mandherlei geichehen, um die Opfer des Hulturfortichritts
in Schuß zu nehmen, um einer Berichlimmerung der bejtehenden
Verhältniffe vorzubeugen. Der erjte Schritt zur Beſſerung iſt
jederzeit, fih über Weſen und Erſcheinung des Uebels flare
Nehenichaft zu geben. Der Bazillus muß ans Licht und unter
das Mitrojfop, damit man ihm zu Leibe gehen fann. Einen
Nervenbazillus giebt es wohl faum, aber die Erforichung der
Nervenübel Haben die legten Jahrzehnte bedeutend gefördert,
foviel darin aud) noch zu thun it. Daß auf diefem Gebiete aud)
ber Erzieher dazu berufen ift, in gewiſſem Maß die Arbeit bes
Arztes zu ergänzen, foll aus dem Folgenden deutlich werden. An
die Aerzte und Lehrer insbejondere wende id) mid) daher mit der
Bitte, mir auf ein wiſſenſchaftliches Beobadhtungsfeld zu folgen,
das fih in Deutſchland unjerer vereinten Arbeit erichloffen hat
*) Eine Anipielung auf U. Matthias „Wie erziehen wir unjeren Sohn
Benjamin?” Münden 1897, das ji mit vollſtem Recht „ein Bud für deutiche
Väter und Mütter“ nennt.
22 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif.
und auch in weiteren Streifen Intereſſe beanſpruchen bürfte.
Vielleicht giebt es dabei auch für uns etwas zu thun.
Dod) zuvor ein paar Worte über die Lage jenes Feldes als
eines „Orenzgebietes“ der pädagogiihen Wiſſenſchaft. Mancher
wird meinen, daß das Arbeitsfeld des Arztes und das bes
Erziehers toto coelo veridhieden jeien. Der Arzt habe es mit
den Kranken, der Erzieher ausſchließlich mit Gejunden zu thun,
der Arzt zumeijt mit dem Körper, Der Erzieher mit ber Seele.
Dem jcheint aud die Entwidelung der Pädagogif in unjerem
Jahrhundert Recht zu geben, denn zu einer Willenfchaft ijt die
Pädagogik dadurd) geworden, daß Herbart fie mit der Pinchologie
und Ethif in enge Verbindung gejegt hat. In jener haben wir
die Grundlage zu ſuchen, auf der allein eine erzieheriihe Ein-
wirfung denkbar ijt, dieje Dagegen weilt ber Erziehung Richtung
und Ziel. Nichtsdejtoweniger gewinnen auch die Rejultate ber
phyſiologiſchen Forſchung für die Pädagogik ein ſtets wachiendes
Intereſſe. Denn der eben genannte PVhilojoph Hat. auch erkannt,
dab die Geſchehniſſe des Seelenlebens, da fie durd den Körper
veranlaßt werden, in dem Körper ihre Wirkungen offenbaren, aud)
der eraften naturwillenichaftlichen Forichung, der Anwendung von
Maß und Zahl zugänglid find. Damit war der Anftoß zu der
von Fechner begründeten Pſychophyſik gegeben, welche vermitteljt
erperimentellev Beobadjtungen die Beziehungen zwiſchen Leib und
Seele ermittelt und der Pädagogik nicht unmejentliden Gewinn
gebracht hat oder noch veripridt. Das zeigen unter anderem bie
an unjerer Univerfität begonnenen Studien Kräpelins, welche in
weiten Kreilen befannt geworden find und in der pädagogiſchen
Weit ein lebhaftes Echo gefunden haben. Cine weitere Anregung
hat die Pädagogik jodann von Seiten der Piydhopathologie, der
Wiſſenſchaft von den Kranfheitserjcheinungen der Seele, erfahren,
und bier bürfte die Pädagogik berufen jein, nicht bloß zu
empfangen, jondern auch zu geben. Denn nachdem das Bedürfniß
erkannt it, die Piychologie des Abnormen für die Piychologie
des Normalen fruchtbar zu machen, iſt auch die Aufmerfjamfeit
des Pädagogen auf die Negelwidrigfeiten des Seelenlebens gelenkt
worden. Daß ihm von diejer Seite ernfte Pflichten erwachſen,
dafür jei das Wort des berühmten Piydiaters Krafft-Ebing an-
gezogen: „Wenn die Pädagogif ein tieferes Studium aus dem
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 23
Menſchen auch in feinen pathologischen Verhältnijfen machte, fo
würden mande Fehler in der Erziehung überhaupt wegfallen,
mande unpajiende Wahl des Lebensberufes unterbleiben und
mande pſychiſche Exiſtenz gerettet werben.”
Dem Bedürfnig des Pädagogen nad) entipredyender Belehrung
fam zunächſt ein Werf entgegen, das an unjerer Yandesuniverfität
entjtanden ijt und zum Theil dort gejammeltes fliniiches Material
enthält: „Die pſychiſchen Störungen im Kindesalter“ von Prof.
9. Emminghaus. Daſſelbe ijt zwar zunächſt für Aerzte gefchrieben,
fann aber aud) vom Lehrer mit Erfolg benußt werden. Es enthält
eine ſyſtematiſche Heberjicht über die in der medizinischen Litteratur
behandelten Kinder: Pſychoſen, nad Urſachen, Symptomen, Verlauf
und Heilmethoden. Freilih handelt es ſich hier um ſeeliſche
Störungen, welde eine ärztlihe Behandlung erheiſchen, das von
ihnen betroffene Sind ſomit der Sphäre des Lehrers entrüden.
Doch iſt e8 nicht gleichgiltig, wann das Vorhandenjein ſolcher
Störungen bemerkt worden ift, und eine gewiſſe piychiatriiche Vor:
bildung wird den Lehrer, der durch jeinen Beruf auf jcharfe
Beobahtung der ihm anvertrauten Kinder bingemwiejen iſt, ge:
legentlid in Stand jegen, den Angehörigen des Kindes beträchtliche
Dienjte zu leiten. Wollzieht jich doch oft der Uebergang von der
jeeliihen Gejundheit zur Krankheit jo unmerklich und allmählid,
daß das Keiden als joldhes erſt erfannt wird, wenn es jchoen
bedeutend vorgeichritten ij. Wie denn ein Arzt Elagt:*) „die
Familie braucht jehr viel Zeit, ehe jie glaubt, daß ber Menſch
krank iſt; der Arzt braucht, endlich gerufen, jehr viel Zeit, ehe er
glaubt, daß der Kranke geiftesfranf ift, und beide zujammen
brauden dann wieder jehr viel Zeit, ehe fie glauben, daß ber
Irrenarzt nothiwendig it.” Doch aud) diefer muB geitehen, daß
die Enticheidung, ob in dem einzelnen Kalle Krankheit oder
Geſundheit vorliegt, Feineswegs leicht ii. So jagt Emminghaus:
„die Flüffigkeit der Uebergänge zwiſchen Geſundheit und Krankheit
ijt nirgends jchärfer, als auf dem Gebiete der pſychiſchen Lebens:
erſcheinungen.“ Gewiß aber ijt gerade hier die Diagnoje be-
deutungsvoll, und nit nur für den Fachmann, dejjen Behandlung
*) Neumann bei Krafft-Ebing „Lehrbuch der Pſychiatrie“, 2. Aufl. I, 284.
24 Ein Grenzgebiet der Medizin und Rädagogif.
durch fie beeinflußt wird, jondern aud für den Erzieher, den
Seelſorger, Richter u. ſ. w.
Da dürfte denn ein Werk auf allgemeines Intereſſe rechnen,
weldyes in den Jahren 1891 -— 1893 unter dem Titel: „Die
pſychopathiſchen Minderwerthigfeiten” erjchienen, einem erfahrenen
Irrenarzt, Dr. 3. 2. 4. Koch, Direktor der K. Württ. Staats:
irrenanftalt Zwiefalten, fein Entjtehen verdanft und eben die
Zuftände auf der Grenze jeeliicher Gejundheit und Krankheit ein:
gehend behandelt.
Den Begriff der piychopathiichen Dlinderwerthigfeit, welchen
Koch zuerſt in feinem 1888 erjchienenen Leitfaden der Piychiatrie
geihaffen hat, beſtimmt er jelbjt am Eingang jeiner Monographie
folgendermaßen: „Unter dem Ausdruck piychopathiihe Minder:
werthigfeit faſſe ich alle jei es angeborenen, jei es erworbenen,
den Menſchen in feinem Perſonleben beeinfluffenden pſychiſchen
Regelwidrigfeiten zujammen, welche aud in jchlimmen Fällen doch
feine Geiſteskrankheiten darjtellen, welche aber die damit bejchwerten
Perſonen aud im günftigiten Falle nicht als im Vollbeſitze geijtiger
Normalität und Leiftungsfähigfeit erjcheinen fallen.“ Damit joll
feinesiwegs gejagt fein, daß die geſammte geijtige Berfönlichkeit des
jo Gejchädigten „an und für fidh betrachtet, eine niedrig ftehende
fein müßte. Nicht wenige plychopathiic Minderwerthige, obgleich)
fie in ih geſchädigt und gefürzt find, ragen doch in manden
geijtigen LZeiftungen, je nad) dem ganzen Werth ihrer geiftigen
Perjönlichkeit, über viele normale Menjchen weit hervor.” (Koch
©. 1.) Den Vlinderwerthigen haften gewiſſe pſychiſche Eigenheiten,
Verfehrtheiten, Mängel an, die ihnen jedody die Freiheit der
Selbjtbejtimmung nicht vauben, jo daß man fie nidt zu den
Beijtesfranfen im übliden Sinne zählen darf. Dabei
liegt die Urfache des Leidens aber immer in „organischen Zuftänden
und Veränderungen, welche jenjeit der phyfiologiihen Grenze liegen“
(©. 2). Daher fünnen die Dlinderwerthigleiten „auf der einen
Seite ganz allmählid völlig zu den Geiſteskrankheiten hinüber:
führen, wie fie auf der anderen Seite ganz allmählid völlig in
die Breite des Normalen ſich verlieren” (©. 3). |
In dieſem legten Satze ift die Wichtigfeit, welde das
Studium der genannten Krankheitserſcheinungen für alle Erzieher
bat, zur Genüge angedeutet: Auf der einen Seite fühlen wir die
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 25
Schwere der Verantwortung, fofern wir durch Unfenntniß oder
Ungeichieflichfeit zu einer jchlimmen Wendung des Leidens Urfache
geben könnten, auf der anderen Seite eröffnet fi) der päda—
gogiſchen Einwirkung bei der Möglichkeit völliger Heilung eine
ihöne Perſpektive.
Koh hat fein Buch nun zwar nidt vom pädagogischen,
fondern vom allgemein mediziniihen Standpunkt geichrieben. Er
jtügt fi daher auf ein Beobadhtungsmaterial, das alle Aiters-
itufen umfaßt. immerhin finden fid) darunter nicht wenig
Krankheitsbilder, die entweder direft dem jugendlihen Alter
entlehnt oder doch mit Hilfe der Erinnerungen Erwadjener aus
dem Geiftesleben ihrer Kindheit entworfen find. Dabei ſei furz
erwähnt, daß der genannte Autor in überzeugender Weiſe Die
Nothwendigkeit hervorhebt, daß auch der Geiſtliche und der Juriſt
fih über das Weſen der pfychopathiihen Minderwertbigfeiten
unterrichten. Was den erjteren betrifft, jo fann er durch richtige
Beurteilung entiprechender jeeliicher Zujtände in ber Geeljorge
viel Segen jtiften, der leßtere wird, wo verbrederiiche Handlungen
als Ausfluß jener Zuſtände vorliegen, auf Milderungsgründe
erfennen, vielleicht ärztliche Behandlung verlangen, jtatt die Strenge
des Geſetzes walten zu lajlen. Denn es wird betont, daß zwar
nit bei jeder jtrafbaren Handlung eines Minderwerthigen
Milderungsgründe indizirt find, daß aber andererjeits die Beein—
fluſſung des Kranken durch die Abnormitäten feiner Konftitution
in einzelnen Fällen joweit gehen fann, „daß die Sache an völlige
Unzurechnungsfähigfeit anſtreift.“ Einſtweilen jcheinen von den
Laien, an welche Kod) ſich wendet, die Pädagogen das lebhaftejte
Interefje gewonnen zu haben und am thatkräftigiten in die Mit-
arbeit eingetreten zu jein. Denn nod) war der zweite Theil des
Kochſchen Buches nicht erjchienen, als ſchon der Nejtor der willen:
Ihaftlihen Pädagogen, Profeſſor Strümpell, in der eben vor-
bereiteten 2. Auflage jeiner „Pädagogiſchen Pathologie“ der
bedeutjamen neuen Lehre eine eingehende Behandlung widmete.
Er jtellte fih ihr gegenüber prinzipiell auf einen durchaus jelb-
jtändigen, vorfidhtig abwägenden Standpunkt, gab jedoch die Noth—
wendigfeit zu, daß die pädagogiiche Bathologie neben ihrem rein
pädagogiihen Theil noch einen piychiatriihen Theil in jih aus:
zubilden habe. In einer ausführlichen Inhaltsangabe des Kochſchen
26 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif.
Werkes thut er ſelbſt den erjten Schritt auf dem von ihm
bezeichneten Wege.
Die Anregungen Kos und Strümpells find auf fruchtbaren
Boden gefallen, denn berufene Pädagogen haben begonnen, Die
Lehre theoretiih und praftiih weiter zu fördern. Unter ihnen
nenne ich bejonders den rührigen J. Trüper, Direktor des Heil
erziehungshaufes Sophienhöhe bei Jena.*) Derjelbe giebt jeit 1896
im ®erein mit Dr. Kod und einem durch tüchtige Arbeiten,
befonders auf heilpädagogiihem Gebiet, bekannten praktiſchen
Schulmann, Rektor Chr. Ufer, eine überaus intereſſante Zeitichrift
heraus: „Die Kinderfehler.” Bon ihr joll weiter unten noch die
Rede fein.
Aus dem bisher Gejagten dürfte hinreichend hervorgehen,
daß weder der Arzt, nod der Erzieher ſich der Lehre von den
pſychopathiſchen Minderwerthigkeiten verichließen dürfen. Es jei
daher im Folgenden verjucht, eine furze Ueberſicht über das für
den Erzieher Wijfenswerthejte daraus zu geben. Vielleicht werden
einige meiner Leſer dadurd zum Studium des Werkes jelbjt angeregt.
Koch unterjcheidet zunächit zwiſchen andauernden und flüchtigen
Dlinderwerthigfeiten. Die legteren, die ſich bei ſonſt gejunden
Menſchen als Folge von Ueberanjtrengungen oder Exzeſſen vor:
übergehend zeigen, darf ich hier übergehen. Die andauernden
*) Trüperd Erziehungshaus iſt, wie ich dem vom Leiter freundlichſt
überfandten Profpeft entnehme 1890 gegründet, 1892 in die ebenjo ſchön, als
für ihre Zwede günjtig gelegene Sophienhöhe übergefügrt. Es iſt „für Kinder
beiderlei Geſchlechts mit geihwädhter oder fehlerhafter Veranlagung beitimmt.”
Als Altersgrenze gilt das 4.—14. Jahr. Die Anjtalt verfügt über reichen
Raum, jo dab, wo foldyes erforderlid erſcheint, Kinder zeitweilig ilolirt bes
handelt werden fönnen, und ijt allen Anforderungen, die an fürperlide und
geiftige Heilerziehung gejtellt werden fünnen, entiprechend außgejtattet. Als Heil
und Erziefungsmittel fommen in Anwendung: überſchüſſige Ernährung, Bäder,
Deilgymnaitit, Mafjage jowie Garten: und Handarbeit, Turnen, Schwimmen ıc.
Für die geiltige Entwidelung jorgt eine fünfflaljige Schule, der ein Kinder:
garten als Vorbereitung, eine Gartenbauſchule als Fortiegung dient. Außer dem
Leiter unterrichten hier drei Xehrer und eine Lehrerin, denen für den Kinder—
garten, die Pflege u. ſ. w. noch mehrere Lehrerinnen, Pflegerinnen u. j. w. zur
Seite jtehen. Diejelben jind mit der größten Sorgfalt ausgewählt, durchweg für
ihren Beruf vorgebildet, jo daß für das leibliche und jittlihe Wohl der (gegen:
wärtig 32) Kinder nad allen Seiten aufs bejte Sorge getragen werden bürfte.
Ein Orenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 27
Diinderwerthigkeiten können angeboren oder erworben fein.
Innerhalb jeder diejer beiden Gruppen trennt der Verfaller die
pſychopathiſche Dispofition, die pſychopathiſche Belaftung und die
pſichopathiſche Degeneration, welche, wie die Namen lehren,
zugleid eine Steigerung des Leidens bedeuten. Die angeborenen
Fälle haben ihren Grund in einem geihädigten Nervenfyitem der
Eltern oder Vorfahren, jei es dab Geijtestranfheit oder Nerven-
leiden unter ihnen vorgefommen jind, jei es daß die Eltern zu
ben in Betradht kommenden Zeiten durch ſchwere Krankheiten,
Entbehrungen u. ſ. w. geihwädht waren. In den meijten Fällen
verräth fih die Vererbung in Degenerationszeichen, d. h. in
anatomiſchen Verbilbungen des Schädels, Gefichts und anderer
Körpertheile jowie in funktionellen Anomalien, wie Musfelzufungen,
Neigung zu Ohnmachten, Krämpfen und ähnl. Da fie dem Arzt
befannt find, den Laien leicht irveführen können, jei bier nicht
weiter auf fie eingegangen. Was nun jene Dreitheilung in
pigchopathiiche Dispofition, Belajtung und Degeneration betrifit,
jo muß id bei ihr etwas länger verweilen, um die pſychiſchen
Eigenthümlichkeiten der Minderwerthigen einigermaßen flar hervor:
treten zu laſſen.
Bei der Dispofition,*) als der leichteften Form der
Erkrankung, iſt das Krankheitsbild naturgemäß noch am wenigſten
ausgeprägt und fann daher von Laien leicht überjehen werden.
Die Kennzeichen, welche Koch angiebt, jind recht allgemein gehalten.
Die Dispofition jtelle fih im Mejentliden als eine für Sid)
beitehende pſychiſche Zartheit dar, eine allgemein oder einjeitig
gejteigerte Empfänglichfeit für Cindrüde, die jih oft als Em—
pfindlidhfeit und Berleglichfeit äußert, oft dDurd einen Mangel an
Thatkraft harakterifirt ift. Deutliher treten die hier genannten
Züge in dem folgenden Krankheitsbild **) hervor, das id) auszugs—
weije wiedergebe.
E. A. Beamtentodhter, 18 Jahre alt, des Vaters und der
Mutter Familie neuro: und pſychopathiſch geſchädigt. War zu
*) Die Bezeichnung jcheint nicht ſonderlich glüdlih gewählt, da man
nad dem verbreiteten Gebrauch unter Dispojition nur die Veranlagung zu einem
Leiden, nicht aber eine Form des Leidens jelbjt veriteht. Die bier vorliegende
Anwendung des Wortes kann aljo leicht zu Mifverjtändnifien führen.
**) Koch a. a. D. ©. 1.
28 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif.
Anfang ihrer Schulzeit, wenn die Schulftunde fam, faum von der
Mutter mwegzubringen, und zwar nicht etwa deshalb, weil fie
Furdt vor der Schule gehabt hätte, fondern darum, weil fie bie
Drama nit verlaſſen wollte. Einige Jahre Ipäter bricht fie in
befreundeten Häujern, wenn fie dort fröhlich eine Stunde zu
Beſuch ijt, wohl einmal in jähem Heimweh nah der Mutter
plöglih in Thränen aus. Später noch flammert fie fich oft mit
den ſüßeſten Schmeichellauten an die Mutter an, welche fie nun
gleichwohl viel leichter entbehrt, als dies ihre pſychiſch normalere
Schweiter thut. Kann tagelang dicke Thränen weinen über den
bevorjtehenden Abichied geliebter Beſuche, deren Abreije fie nichts
dejto weniger fofort verjchmerzt und bald vergeilen bat. Geräth
bei harmloſen Genüſſen leicht in ein übertriebenes Entzüden.
Schließt jchnell ſchwärmeriſche Freundichaften, die übrigens Dauer
haben. Hat viel mit einer gewiſſen morofen Empfindlichkeit zu
fämpfen, feßt immer wieder einen Troßfopf auf. Wird in auf:
fallendem, „fajt unnatürlidem”“ Grade unangenehm berührt durch
Geſpräche, welche ihre eigene Perſon betreffen. Nicht einmal ein
Schnupfen, den fie hat, joll vor anderen Perſonen erwähnt werben,
und wären dieje auch nahejtehend. Zu einer Zeit jtellten ſich unter
der Einwirfung von gelegentlichen gemüthlichen Erihütterungen
echt melandpoliihe Anmandlungen ein. Dieje haben fi) unter
verftändiger Einwirfung rajch wieder verloren. Was mird Die
Zufunft bringen? Es ift anzunehmen, daß fie nichts Böjes bringt,
benn fie hat jene Anmwandlungen gut überwunden; neben den oben
gedachten Eigenichaften stehen, mehr oder weniger mit ihnen
fontraftirend, auch andere: ein Fühler Verjtand, ein flarer Wille,
ein großes Wflichtgefühl, eine energifhe Arbeitskraft; fie ift
förperlich fräftig; und es iſt nicht zu verfennen, daß ſich in ihrer
Generation eine entjchiedene Bellerung der Konjtitution der Familie
angebahnt hat.“
Die pſychopathiſche Belaftung zeigt ein viel jchärferes
Bild. Auch Hier findet ſich die abnorme pſychiſche Erregbarkeit,
deren unnatürliche Steigerung fi in ihrer Stärfe oder in ber
Dauer der Erregungen offenbart. Der Belaftete erjcheint baher
franfhaft rührjelig oder ſchreckhaft oder reizbar oder ſchwärmeriſch,
wobei je nad) der größeren oder geringeren Herrſchaft, welche ber
Verjtand über die erregbare Phantafie behauptet, individuelle
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 29
Unterfchiede hervortreten. Hierher gehören alſo die jchredhaften
Kinder, denen fih in der Dunfelheit der gewohnte Hausrath zu
allen möglichen Ungethümen verzerrt; jene aufgeregten Naturen,
bie nie ein Eramen bejtehen fönnen, mweil eine namenloje Angit
innen jede Denkfähigfeit raubt; jene Empfindfamen, die ſchon im
Kindesalter aus geringfügigem Anlak zum Selbjtmord greifen;
die Nachtwandler oder die an jchredhaften Träumen leidenden
Kinder, die „reizbar Schwachen”, denen neben großer Empfänglichfeit
für Eindrüde und Impulſe doch die Kraft zu nachhaltiger Aftivität
gebriht. Hierher gehören endlich die Wunderfinder, welche nicht
halten, was fie veripradhen, ja oft unter das Niveau des Mittel:
mäßigen finfen, wenn fie nicht gar in Folge falicher Behandlung
feitens ihrer Eltern und Lehrer ihr Leben im Irrenhauſe beichliehen.
Dabei jei jedoch nahdrüdlih vor dem Irrthum gewarnt, als
entſpräche es den Anjchauungen Kochs, daß ein jedes Kind, an
dem bie eine oder andere der genannten Eigenheiten hervortritt,
darum für piychopathiich belaftet zu gelten habe. Das einzelne
Symptom bemeijt noch garnichts, als daß eine — vielleicht vorüber:
gehende — Reizbarkeit vorhanden ift, was auch bei ganz gelunden
Naturen zeitweilig zu bemerfen ijt. Erſt wo die Symptome fich
häufen und dauernd hervortreten, fann die Diagnofe auf Belajtung
angezeigt jein, auch dann jedoch nur unter gewillen Voraus—
jegungen und Kombinationen, worüber weiter unten ein Ausspruch
Kochs Platz finden fol. Doc erſchien es wichtig, in Anbetracht
des heiflen Charakters diefer Darlegungen, ſchon hier einem vor:
Ichnellen Urtheil interejfirter LZejer vorzubeugen.
Bei allen Belafteten finden fich ferner Widerſprüche im
Geelenleben, theils zwiihen Normalem und Abnormem, theils
innerhalb gewiſſer Abnormitäten, wodurd der Eindrud des Krank—
haften gejteigert wird. in folder Charakter zeigt gejunden Muth
neben ungejunder eigheit, mo der völlig Gefunde feinerlei Gefahr
fieht; er iſt normal freigebig, in einzelnen Dingen aber abnorm
geizig oder pathologiich unlauber nad der einen, pathologiſch efel
nad einer anderen Seite, unnatürlich mitleidig und inſtinktiv
graujam.
Typiſch ijt ferner das Triebartige in dem Handeln ber
Belafteten: fie lügen und begehen Graufamfeiten nicht in Folge
einer Weberlegung, fondern unwillfürlih. Auch auf gejchlechtliche
30 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif.
Ausschreitungen verfallen fie leichter in Folge ihrer franfhaften
Anlage. Oft iſt das Bewußtjein von dem Bathologiichen ihres
Strebens vorhanden, und fie leiden darunter, ohne doch die Kraft
zu nachhaltigem Miderjtand zu finden. Nedod it der Trieb, mas
für den Erzieher bemerfenswerth it, nad Koch nie unmiderjtehlich;
die Zurechnungsfähigfeit iſt aljo zwar vermindert, aber nicht auf-
gehoben.
Ein interefjantes Krankheitsbild *) fei aus den Kindheits—
erinnerungen eines älteren Mannes zur Verdeutlichung der bisher
genannten Züge auszugsweile wiedergegeben:
E. P., Gelehrter, 46 Jahre alt. Sein Großvater väter:
ficherfeits fei in hohem, fein Vater in meniger hohem Grabe
„eigenthümlich“ geweſen (menichenicheu, jähzornig u. ſ. wm.) Auch
feine beiden Brüder waren piychopathiich minderwerthig. In der
Familie der Mutter Nervenfrankheiten ziemlich verbreitet, fie jelbit
gefund... Er war bei allen Spielen und Leibesübungen ein
muthiger Burjche, vielfach; geradezu vermegen, dies zumal dann,
wenn er die Augen anderer auf fich gerichtet mußte. Gegen
Schmerzen war er nit empfindlih. Sobald eine Negung von
Stolz oder Troß und Eigenfinn mit ins Spiel fam, hat er fie
geradezu verachtet. Defter hat er jogar einen Kiel veripürt, fich
förperlihe Schmerzen jelbft zu bereiten. Aber gegen alles, was
ihm nach einer „Operation“ ausjah, hat ſich feine ganze Natur
aufgelehnt. Vor ſolchen Dingen empfand er ein alles Maß über:
fteigendes Grauen. Als er in jeinem zwölften Lebensjahre geimpft
werden Sollte, jo jah er dem operativen Eingriff als etwas Un—
geheuerlihem entgegen und fonnte faum vor einer Ohnmacht
bewahrt werden. Etwas Mehnliches hat ſich nod in feinem
zwanzigiten Zebensjahre bei einer erneuerten Impfung wiederholt.
Damals ging er völlig gleichgiltig zum Arzt. Sobald er aber
bei anderen, die mit ihm geimpft werden follten, die entblößten
Arme ſah, wurde er Ffreideweiß und vermochte ſich nur mit ber
größten Anjtrengung noch aufrecht zu erhalten, jo gleichgiltig ihm
auch die Impfung blieb. Vor manchen Thieren, bejonders aber
vor Hunden, empfand er eine große Angit. Oft hat er, um einem
Hunde auszumeichen, die größten Ummege gemadt. Lange Zeit
*) oh a. a. O. S. 65 ff.
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 81
ſteckte er Nacht für Nacht feinen Kopf gänzlich unter das Dedbett,
damit der Menichenräuber, wenn er fommen jollte, das Bett für
unbefegt halten möchte. Unter jeinem Dedbett glaubte er aber
dann zu hören, wie unten in großer Tiefe der Teufel auf einer
Leiter aus der Hölle herausitampfte (Herztöne? Arterienpuls im
Ohr?), und er meinte auch wahrzunehmen, wie derjelbe jede Nacht
näher fomme. Wenn er dann eingeichlafen war, ſo ſchloſſen fich
häufig allerlei peinliche, mehr oder weniger pathologiiche, bisweilen,
mie es ſcheint, förmlich delirante Träume an. Einige Dale hat
er einen und bdenjelben peinlihen Traum Mionate hindurch jede
Nacht geträumt... Won einzelnen Altersgenoflen, bisweilen auch
von älteren Perjonen war er gleich bei der erjten Begegnung in
Ihmwärmeriicher Weile hingenommen und begeijtert, andere hat er
fofort ſchroff abgelehnt. Seine Nblehnung habe oft tüchtige
Menſchen getroffen, jeine Zuneigung nicht leicht einen Unmürdigen.
Als einmal ein Lehrer, an dem er ſchwärmeriſch hing, megging,
fühlte er ſich beim Abſchiednehmen in einer Weile jchmerzlich
bewegt, daß es ihm gemwejen jei, als ob nun das Leben nie mehr
einen Reiz für ihn gewinnen fönne. Doc jei er ſich mitten in
Schmerz und Thränen zugleih mit Wohlgefallen als ungemein
interefjant erichienen... Vor manchen Dingen hat er ſich unnatürlich
geefelt, bejonders vor jchmußigen Händen, wobei jeine eigenen
Hände jtets voll Schmuß waren. In ganz jungen Jahren hat er
in überrafchender Weije injtinftiv gelogen, während es jpäter ihm
geradezu unmöglich war, eine Unmwahrheit zu jagen. Auf jeinen
Spaziergängen überfam ihn ab und zu plöglich ein Schauer und
die Zmangsbefürdtung, dab ein Geſpenſt vor ihm auftauchen
möchte. Auch primordialzinftinftive Todesahnungen und leiſe
Selbftmordantriebe neben einem Grauen vor dem Tode famen
bie und da einmal über ihn. Seine geiftige Entwidelung hat er
langlam und in unjcheinbarer Weile durchgejegt, brachte aber
Ihließlih größere Gaben zur Entfaltung, als man bei ihm gefucht
hatte. Nach mehreren verfehlten Berufswahlen wirkte ein Freund
jeines Vaters mwohlthätig auf ihn ein; er gelangte zu einer Einficht
in die franfhafte Unnatürlichfeit einzelner Seiten jeines pſychiſchen
Weſens, kehrte ins Gymnaſium zurüd, jtudirte Theologie, während
welcher Zeit die Ericheinungen von Belajtung mehr und mehr
abnahmen und die jchlimmen und guten Seiten jeines Geiſtes
32 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik.
und Herzens fi) immer gemwinnender entfalteten, wurde einige
Zeit darauf Pfarrer und hat ſchließlich in theologischen, philo-
ſophiſchen und geidhichtlihen Fächern mandes Tüchtige geleiftet.”
In diefem Kranfenbilde wurde gegen Ende ein neuer Zug
erwähnt, der nad) Koch bei feinem Belajteten ganz fehlen dürfte,
das Zwangsdenfen. Es bejteht in der ungemollten periodiichen
Miederfehr gewiſſer Empfindungen, Vorftellungen, Gefühle und
Antriebe. So find die Empfindungen einer ungeheuren Größe
des eigenen Kopfes oder einzelner Theile deſſelben beobachtet
worden; gewiſſe Wortverbindungen, Tonfolgen, Melodien und
bange Ahnungen verfolgen einen, ohne daß der Wille fie ver-
drängen fann; ein fiebenjähriges Kind wird Nacht für Nacht von
dem Gebanfen „Emwigfeit, ewig, ewig“ überfallen, der zujammen-
hanglos im Bewußtjein auftaucht; dahin gehören unbegründete
Sympathien und Antipathien, Angitvorftellungen, Verſuchungen,
ein häßliches Wort auszuipredhen, eine als unfittlih und ſchlecht
bewußte Handlung zu thun. Doc) befteht ein wefentlicher Unterſchied
zwilchen den hier gemeinten Zwangsporftellungen und den Wahn:
vorftellungen des Verrüdten. Denn jene werden immer als etwas
Fremdartiges, Kranfhaftes empfunden, an deſſen Berechtigung oder
Nealität der Leidende nidht glaubt, während der Verrüdte zwiſchen
Mahn und Wirklichkeit nicht zu unterfcheiden vermag. Dort bleibt
die Vorjtellung üolirt im Bewußtſein, der Verrüdte erdichtet
feinen Wahnideen einen realen Untergrund und bringt fie in ein
Spitem. Deshalb verſchließt auch der Belaftete die ihm als
franfhaft bemwußten inneren Erfahrungen vor der Außenwelt,
während der andere feine Umgebung davon zu überzeugen bemüht
it. Im leichterer Form, als eine gelegentlihe innere Wahr:
nehmung finden fid) die Zwangsvorftellungen befanntlich auch bei
Gefunden als Kolgeericheinung einjeitiger Ueberreizung und Er:
müdung. Wenn dagegen ihr Inhalt in Widerfpruch zu den ethiichen,
aftgetifchen oder gar religiöfen Grundlägen und Anjchauungen ber
Perfönlichfeit tritt, etwa wenn ein ſonſt gottesfürchtiger Menſch
von der Verſuchung zu gottesläfterlichen Gedanken gepeinigt wird,
fann durch die begleitenden Skrupeln und Selbitvorwürfe im
Verein mit der Scheu, ſich anderen mitzutheilen, der an fich
quälende pathologiiche Zuftand noch weſentlich geiteigert werden.
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 33
Solder Art mögen vielfach die Anfechtungen der Einfiedler und
religiöfer Kämpfer gemwejen jein.
Die dritte Stufe der piychopathiihen Minderwerthigfeiten
wird al$ Degeneration bezeichnet, die entiweder auf intelleftuellem,
oder auf moraliihem Gebiet hervortritt, oder gar fich auf beide
eritredt. Die intelleftuelle Degeneration zeigt ſich auf der
Schulbanf in einer allgemeinen Verſtandesſchwäche, in der Un—
fähigfeit, feine Aufmerfiamfeit länger auf einen Gegenitand zu
fonzentriren oder von dem rein jinnlichen Erfallen der Objefte
zur Begriffsbildung vorzudringen. Das hängt zum Theil mit der
Langſamkeit der Phantafie und mit einer (partiellen) Gebächtnik-
ſchwäche zujammen, die den höheren geiftigen Thätigkeiten nicht
genügenden Vorrath an Vorſtellungen darbietet. Hierzu jei jedoch
ausbrücdlich bemerkt, daß die Verſtandesſchwäche manches Gejunden
größer fein fann als bei einem Degenerirten, und daß bei legteren
oft ein ausgeiprochenes Talent oder eine einleitige hohe Begabung
hervortreten fann, jo etwa eine große Fertigfeit im mechanischen
Rechnen, ein auffallendes Zahlengebächtnig, große manuelle
Geſchicklichkeit.
Die moraliſche Degeneration äußert ſich in ihrer reinſten
Form als ſittliche Beſchränktheit bei — wenigſtens primär —
ungetrübtem Verſtand; ſie offenbart Armuth an ſittlichen Vor—
ſtellungen und Grundſätzen, ſowie eine geringe Widerſtandskraft
gegen Verſuchungen. Kommen dieſe aus dem Innern, ſo machen
ſich perverſe Inſtinkte zum Schlechten bemerkbar, während die
Befolgung der Triebe zum Guten gehemmt erſcheint. So kann
das Verhalten dieſer Kranken eine widerliche egoiſtiſch-ſinnliche
Richtung zeigen. Dabei laſſen ſich zwei Typen unterſcheiden, je
nachdem ob ein aktiver Hang zur Entladung jener Inſtinkte
treibt, oder ob die träge Natur des Patienten ihn in gutmüthiger
Stumpfheit verharren läßt, die ſich nicht in die Umgebung
beläſtigenden Handlungen äußert. So können auch erheblich
degenerirte Individuen in Folge anderer Eigenſchaften ihrer
geſunden Natur wie in Folge günſtiger erzieheriſcher Einflüſſe ein
weit vortheilhafteres Geſammtbild ihres ſittlichen Verhaltens dar—
bieten als mancher Geſunde.
Am ſchlimmſten iſt es um diejenigen beſtellt, welche allgemein
degenerirt ſind, d. h. ſowohl intellektuelle als ſittliche —
34 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik.
zeigen, zumal die aftiv-reizbaren Naturen. Bier tritt eine
rückſichtsloſe Selbſtſucht in Verfolgung der vom Inſtinkt biftirten
Ziele hervor, Ausbrüche von Zorn oder tüdiiche Bosheit, Lüge
und Verftellung, Hab und Rachſucht, Thierquälerei und Vanda—
lismus. In den jchwerjten Formen der Degeneration hört auch
die freie Willensbeitimmung auf, die in leichteren Formen kaum
beeinträchtigt erjcheint. Cigenthümliche Kontrafte zeigen ſich auch
bier: eine rigoroje Strenge in der Beurtheilung fremder Fehler
und Vergehen neben einer blinden Urtheilslofigfeit in Betreff der
eigenen unfittlihen Handlungen. Dennoh find auch in dieſen
Naturen ſittliche Vorjtellungen vorhanden, auch wohl das Verlangen
nah Bejlerung, worin die Erziehung immerhin eine Handhabe
erhält, wenn aud die Ausfichten auf Erfolg jehr gering find.
Es ijt bereits bemerkt, daß die hier geichilderten Schädigungen
des GSeelenlebens erſt erworben werden, d. h. erit nad) der Geburt
aus pſychiſchen oder jomatiihen Anläffen hervorgehen fünnen. So
iſt es nicht Selten, daß geiftige Ueberanftrengungen, wie fie das
Schul: und Univerjitätsleben gelegentlid mit jich bringt, ferner
Ueberreizungen der Phantafie oder auch gemüthlihe Weber:
anftrengungen und Affelte, wie 3. DB. Furcht, Neue, Sorgen,
verlegter Ehrgeiz zur Entjtehung einer pſychopathiſchen Minder—
werthigfeit führen, eine Gefahr, die bei gemüthlihen Anläſſen
erheblicher ijt als bei intellektuellen Reizen. Andererjeits fonnen
auch förperliche Leberanjtrengungen und Entbehrungen, Infektions—
franfheiten, Blutarmuth, Mißbrauch von Genußmitteln, Ver:
legungen, bejonders des Kopfes ſowie endlich jeruelle Erzeile zu
jenen bleibenden frankhaften Ericheinungen führen.*)
*) Hierzu jeien ein paar Bemerfungen eincd anderen rrenarztes, Dr.
Fr. Scholz, aus feiner überaus anzicehend geichriebenen „Diätetif des Geiftes“
S. 75 angeführt. Cr äußert über die „im mildeiten Grade ſchwaächſinnigen
Idioten“ (nach Koch wohl in geringem Grade Degenerirten) Folgendes: „Es
giebt dergleichen viel mehr als man glaubt. Sie find zu fuchen unter ben
ungerathenen Söhnen guter ‚zamilien und den leichtfertigen, koketten, pub*
füchtigen flachen Modedamen unierer Salons. Yettere werden von den Umjtänden
gelragen und gehoben, ſie leiſten Nichts, aber man verlangt auch Nichts von
ihnen. Erſtere aber werden ins Leben geichiet, fie jollen fich bewähren unter
Verhältnifien, denen fie in feiner Weile gewachſen find und oft, nachdem fie
unendliches Elend, Schande und Berarmung über ihre Angehörigen gebracht, iſt
das Endrejultat der vollitändigite geiftige und moraliihe Bankerott. Beide
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 35
Nachdem im Worftehenden die Kociche Lehre in ihren
meientlichen Zügen, foweit fie den Erzieher interejfirt, mitgetheilt
worden ift, gilt es eben vom pädagogischen Standpunkte dazu
Stellung zu nehmen. Denn der Kritik der Fachgelehrten über
ihren mwifjenichaftlichen Werth vorzugreifen, fann nicht meine Abficht
jein, wie ich denn auch nicht weiß, welche Beurtheilung das Bud)
in der pfgchiatriichen Welt erfahren hat. Um meinen Standpunft
in aller Kürze zu bezeichnen, jo bin ich der Anficht, daß die hier
niedergelegten Erfahrungen und Urtheile des gewiegten Arztes für
die Pädagogik ungemein bedeutiam find, injofern durch fie ein
flares Verſtändniß für ebenjo verbreitete als bedenkliche Fehler
jugendlicher Individuen angebahnt wird. Andererjeits jehe ich in
dem Kochſchen Merf nur den erſten Verſuch einer Syitematifirung
franfhafter Ericheinungen auf einem bisher noch wenig beachteten
Gebiet. it es daher an fi) wahrscheinlich, daß diefem Verſuch
noch Mängel und Irrthümer anhaften, welche hoffentlich die Mlit-
arbeit berufener Mediziner zur Folge haben werden, jo hat ber
Erzieher als Laie, allen Grund, jene Aufitellungen mit großer
Vorfiht aufzunehmen, ſowohl in Bezug auf die theoretiiche An-
erfennung der einzelnen Urtheile, ſoweit fie fich zu den Erfahrungen
der Pädagogik in Wideripruch jtellen, als vor allem in Bezug auf
eine vorjchnelle Anwendung in der Praris. Man wird fich zu
hüten haben, die Beurtheilung eines gegebenen Sinderfehlers
alsbald unter piychiatriichen Geſichtspunkt zu jtellen, und vollends
eine ſchroffe Aenderung der bisher angewandten erzieheriichen
Behandlung eintreten zu laſſen. Auch wird der Pädagoge von
feinem prinzipiellen Standpunfte aus, mie auf Grund jeiner
Erfahrung über die dem Kindesalter eigenthimlichen Fehler, ihren
Ursprung und Verlauf fih zu mandem Bedenfen und Einwand
genöthigt jehen. Das iſt denn auch, wie bereits oben bemerft,
aber, Mann und rau, gehen durc die Welt, ohne al$ das erfannt zu werden,
was fie find, nämlich als ſchwachſinnige Idioten. Man moralifirt über fie,
man iſt erftaunt und ericroden über ihren Yebenswandel, über ihre Berlogenheit,
über ihre Wechſelfälſchungen und fonitigen Unthaten, aber die wahre Uriache
erfennt man nicht.“ Ueberaus naturgetreu iſt die dann folgende Schilderung
eines ſolchen Typus, des Salonidioten, wie ich ihn nennen möchte, Die ich wegen
ihrer Länge bier wiederzugeben mir verfagen muß. Im Leben iſt ihm jeder
begegnet.
8*
36 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif.
von berufenfter Seite*) geichehen, zugleih mit dankbarer Ans
erfennung der von medizinischer Seite gebotenen Anregung und
Belehrung.
Die Pädagogik und die Pſychiatrie find Wiſſenſchaften, welche
erzentrifchen Kreiſen gleich, bisher feinerlei Berührungspunfte zu
haben ſchienen. Koch hat den Radius jeiner Wiſſenſchaft derart
verlängert, dab die Kreiſe fich jchneiden und ein Grenzgebiet
entjteht, welches beiden Intereſſenſphären angehörend, ein Zufammen-
wirken erheiiht. Da iſt es zur Wermeidung eines Konfliftes
mwünfchenswerth, daß man fi) gegenfeitig über die ideale Grenz-
linie flärt, daß ferner beide Theile auf dem Gebiet, wo fie
gemeinfam zu wirken berufen find, fich über das Ziel, das fie
verfolgen, wie über die Art der Arbeitstheilung friedlich einigen.
Der Arzt darf, die Kollegialität in Ehren, nicht vergeilen, daß er
fein Jugenderzieher, diefer, daß er fein Arzt ift.
Der Feind, den wir gemeinam befämpfen, find die Jugend-
fehler. Für ihre Auffaſſung hatte die Pädagogik jchon bisher
viel von der Naturwiſſenſchaft gelernt. Zu dem Rouſſeauſchen
Grundſatz, „Alles ift gut, wie e8 aus den Händen ber Natur
hervorgeht, alles entartet unter den Händen der Menſchen“ mit
anderen Morten: die Seele des neugeborenen Kindes iſt ohne
jeglichen Fehler, dürften fi wenige Pädagogen mehr befennen.
Auch die Herbartihe Auffaffung von der völlig inhaltslofen,
unveränderlihen Seele dürfte ſich mit den Thatlachen der Erfahrung
nicht vereinbaren laſſen. Vielmehr jcheint die Erfahrung Folgendes
zu lehren: der Seele des neugeborenen Kindes wohnen als ein in
feinem innerften Wejen und feinen Entitehungsurjahen unerflärliches
Erbtheil der Eltern und Voreltern gewiſſe Anlagen inne, bie
fih zu Fehlern bezw. Tugenden entmideln fönnen. Die Indi—
vidualität in ihren nationalen, geichlechtlichen, intellektuellen,
moralifchen u. j. mw. Komponenten iſt hier bereits vorgebildet, wie
*) 2. Strümpell, „Die pädagogiiche Pathologie”, 2. Aufl., Leipzig 1892,
S. 310-384. Dr. 4. Spitner, „die wiſſenſchaftliche und praftiiche Bedeutung
der Lehre von den piychopathiichen Mindermerthigfeiten für die Pädagogik“,
Vortrag Leipzig 1894. Mit befonderem ntereffe darf man der in Borbereitung
ftehenden dritten Auflage der pädagogiichen Pathologie entgegenfeben, die danf
ber vereinten Arbeit der beiden genannten Autoren manches Neue zu der wichtigen
Frage bringen ſoll.
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 87
in der Eichel nit nur der Gattungscharafter, jondern auch die
Individualität des einzelnen Eihbaums vorgebildet it. Wie es
aber dort von klimatiſchen Bedingungen, Bodenverhältnifien, Luft,
Licht und Pflege abhängt, ob die Eiche, die aus der Eichel werben
fann, auch wirfli aus ihr wird, jo wird es auch bei ber
Menſchenſeele von mannigfaltigen äußeren Bedingungen abhängen,
ob und inwieweit die in ihr vorhandenen Anlagen zur Entwidelung
gelangen. Dieje Bedingungen zu erfüllen, die guten Anlagen zur
Entfaltung zu bringen, die jchledhten zu hemmen, darin bejteht
die Aufgabe der Erziehung. Dieielbe verjpriht um jo eher
Erfolg, je flarer die Erfenntnik der in dem Kinde jchlummernden
Charafteranlagen iſt. Bisweilen mag es dann wohl gelingen, die
Sehler im Keime zu erjtiden. Viele fehlerhafte Neigungen aber,
zumal Diejenigen, welche in der jinnlichen Natur ihre Wurzel
haben, finden troß jorgfältigiter Behütung ihre Nahrung. Ja, es
Icheint, als ob den legteren eine ftärfere Lebenskraft innewohnte.
So fommt es, daß der Erzieher fich bald mehr oder weniger
ausgeprägten Fehlern gegenüber jieht, die er nun mit allen
Mitteln zu befämpfen bejtrebt ijt. Gelingt diejes fraft der Freiheit
ber Wahl, welche der Seele aud die fehlerhaften Antriebe zu
überwinden befähigt, jo fann ſich auf der Grundlage bes „ererbten
Charakters” ein „erworbener Charakter” bilden, der oft von jenem
weit verjchieden iſt und jeinerjeitS weiter vererbt werden kann.
Eine jtärfere Lebenskraft freilih jcheinen die angeerbten Anlagen
zu bejigen, zumal wenn fie in der förperlihen Beichaffenheit
wurzeln, denn die Erfahrung lehrt, daß jie in der dritten Generation
aufs neue erjcheinen und unter günjtigen Einflüſſen ſich fräftig
entwideln fönnen, auch wenn fie ein Dlenichenalter hindurch jo
zu jagen brach gelegen haben.
Zur Erfenntniß der ererbten Fehler wie überhaupt derer,
die in einer fehlerhaften Beichaffenheit des Gehirns und Des
Nerveniyitems ihre Grundlage haben, bietet uns die Kochſche
Arbeit einen lehrreichen Beitrag. Müſſen aber die Fehler, welche
Koh in den Bereich jeiner Betradtung zieht, jämmtlid einen
förperlihen Urjprung haben? Genügt für ihre Erklärung die an
ih vielleiht unbejtreitbare Vorausſetzung franfer Nerven? Ber:
gejlen wir nit, daß die Seele, wenngleich fie vielfah in Ab—
hängigfeit vom Körper jteht, eine jelbitändige Exiſtenz behauptet,
33 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif.
ihren eigenen Lebensgejegen unterliegt. Wie fie daher von
förperlichen Mängeln nicht in Mitleidenichaft gezogen zu werden
braucht, jo können ſich troß geſunder Nerven analoge Fehler des
Seelenlebens zeigen, wie fie für den Nervenfranten charafteriftiich
jein mögen. Ein Kind fann dumm, graufam, lügneriich, diebiſch,
unkeuſch fein zufolge jeiner franfhaften Nervenbeihaffenheit und
troß jeiner gejunden Nerven. Weldyes der beiden Berhältnijie
aber im gegebenen Falle jtatthat, darüber wird der Erzieher jein
auf pſychologiſcher Erfahrung beruhendes Urtheil nicht ohne weiteres
dem des Pſychiaters zu opfern ſich verjtehen können.
Die bier befürmwortete Zurüdhaltung gegenüber der Xehre
von den Minderwerthigfeiten gewinnt an Berechtigung, wenn wir
berüdjichtigen, daß Koch feine Beobachtungen vorwiegend an
Erwadienen gemacht hat, daß die Kindesnatur in ihrer Eigenart
ihm weniger befannt jein mußte. Nun bietet aber das Seelen:
leben des Kindes ein weit jchiwierigeres, überhaupt erjt jeit Kurzem
in Angriff genommenes Studiengebiet dar, nit nur weil das
Kind uns über jeine inneren Erfahrungen wenig oder gar feinen
Aufihluß zu geben vermag, jondern auch weil jeine Entwidelung
nod im Fluſſe, noch nicht zu feiten Formen eritarrt if. Schon
feine normale Natur ift daher weit jchiwerer unter klare Formeln
zu bringen als das Innenleben des Erwachſenen, in welchem das
gegenjeitige Verhältniß von WBorjtellen, Fühlen und Wollen ſich
harmoniſch abgeflärt hat; wievielmehr erjt die Negelwidrigfeiten,
die Kinderfehler? Es giebt unter ihnen ſolche, die in der Einnlichfeit
der Kindesnatur oder in dem natürlichen PBrävaliren der einen
oder anderen jeeliihen Funftion begründet, aljo, jo parador es
klingt, völlig normal find. Wann find wir berechtigt, den
gejunden Appetit eines dreijährigen Kindes als fehlerhafte Ge:
fräßigfeit zu tadeln? Werden nicht die meijten gejunden Kinder
in dieſen Fehler verfallen, wenn die Mutter nicht durch jtrenge
Sewöhnung ihrer Eh: oder Naſchluſt vernünftige Grenzen jegt?
Ein drei: bis vierjähriges Kind jagt viel Ummwahres, obgleich es
das Wahre vom Falſchen jchon bis zu einem gemwillen Grade zu
unterjcheiden vermag. Lügt es darum? Die Antwort giebt uns
Jean Paul, wenn er (mie ich glaube, nicht ohne Uebertreibung,
in der Dauptjadye aber wahr) bemerkt: „In den erjten fünf Jahren
jagen die Kinder fein wahres Wort und fein lügendes, fondern
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 39
fie reden nur. Ihr Reden iſt ein lautes Denken; da aber oft
die eine Hälfte des Gedanfens ein Ja, die andere ein Nein ift,
und ihnen beide entfahren, jo jcheinen fie zu lügen, indem jie
bloß mit ſich reden.” Aehnlich jteht es mit der Zerjtörungsiudt,
weldye durchaus normal oder aber piychopathiicher Natur fein kann.
Für den Arzt, wie für den Erzieher ergiebt ſich jomit die
Nöthigung, eine jihere Scheidung vorzunehmen, in wie weit bie
von ihnen beobadteten Kindesfehler als Folgeericheinungen einer
förperlihen Schädigung, aljo eines in medizinijchem Sinne patho:
logiſchen Zuſtandes anzujehen find und in wie weit fie Fehler
rein pädagogiichen Charakters find. Gewiß liegt hierzu in der
Kochſchen Arbeit ein werthvoller Beitrag vor, doch bedarf er einer
Ergänzung von Seiten der pädagogiicen Pathologie. Ihr fällt
nunmehr die dringlihe Aufgabe zu, fejtzuftellen, welcher Art die
Fehler find, die in der Entwidelung des gejunden Kindes hervor:
treten fönnen. Xeider ilt die pädagogiiche Pathologie erjt jeit
Kurzem als jelbitändige Disziplin von 2%. Strümpell begründet
und nod nicht über die erjten Anfänge hinausgelangt. Weber
fennen wir daher „die piychiiche Natur, noch vollends die pſychiſchen
Urſachen der Kindesfehler,“ und doch ijt eine Abredinung mit ber
PBiydiatrie im erwähnten Sinne erjt denkbar, wenn auf Diejem
Gebiet mehr Licht gewonnen jein wird.
Zu den genannten, von der Natur der Kindesfehler her:
geleiteten theoretiichen Bedenken gegen die Lehre von den Minder:
werthigfeiten gejellen Jich ferner ſolche, welche die Uebertragung
und Anwendung auf die Praris betrefjen.
Es war oben bemerft, daß Arzt und Erzieher, wo fie fi)
zu gemeinjamer Arbeit anjdhiden, zuvor über das Ziel, das jie
verfolgen, Klarheit zu gewinnen hätten. Beide jtreben im vor:
liegenden Fall nad Befeitigung gewiſſer Kindesfehler. Trotzdem
dürfte das Ziel, das fie verfolgen, nicht völlig das gleiche jein.
Die Verjchiedenheit ergiebt fih aus dem Gefichtswinfel, unter
dem fie jene Fehler betrachten. Der Arzt ſieht in ihnen Störungen
der geiftigen Gejundheit, die er als ſolche befümpft, ohne jie
nah moraliihem Maßſtab zu werthen; für den Erzieher dagegen
bedeuten ſie Hinderniſſe, welche dem Fortichritt des Erziehungs:
werfes im Wege jtehen und die Erreichung des ethiſchen Zieles
der GCharafterbildung erſchweren; ob jie förperliden Urjprungs
40 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik.
oder rein feeliicher Natur find, fommt für ihn nur infofern in
Betradt, als die Wahl der Mittel, fie zu befämpfen, damit in
Zufammenhang jteht. Dort ift das Ziel erreicht, wenn die frank:
haften Symptome geihwunden find, wenn der Patient trog aller
moraliihen Diängel die ihm unabhängig von jenem Leiden an-
haften mögen, für geiftig geſund gelten fann; der Erzieher nimmt
dagegen hier die Arbeit erjt eigentlich auf, und fein Werk gelangt
erit dann zum Abſchluß, wenn nad Erreichung einer gewiſſen
fittlihen Selbjtändigfeit der Zögling die vom Erzieher begonnene
Aufgabe auf dem Wege der Selbjtzucht fortzuführen übernimmt.
Wie nun, wenn der Erzieher, durd die ihm bisher fremde
und in Folge ihrer Neuheit doppelt anziehende pſychiatriſche Auf:
faſſung verlodt, jein pädagogiiches Urtheil durch das Mitleid, wie
man es für einen Kranfen empfindet, trüben läßt und ſich ber
Erziehungsmittel begiebt, welche ihren Werth in Folge der ver:
änderten Auffaſſung von der Natur und dem Urjprung der Fehler
feinesiwegs verloren haben. Nie und nimmer darf der Erzieher
vergejien, daß nad) dem YZugeftändiß des Pſychiaters ſelbſt in
ihlimmen „Fällen ererbter Minderwerthigfeit, die Willensfreiheit
des Patienten feinesiwegs aufgehoben ijt. So lange derjelbe daher
erzieheriſchem Einfluß unterjtellt ift, darf fein Mittel unverjucht
bleiben, um den Willen, jo jehr er durch körperliche Einflüſſe
gehemmt und geſchwächt jein mag, zu üben und zu jtärfen.
Geſetzt aber, daß der Erzieher der hier angedeuteten Gefahr
entginge, jo iſt bei Uebertragung der Kochſchen Lehre in bie
Praris noch aus einem anderen Grunde die größte Behutjamteit
geboten. Sind die von Kod) genannten Kennzeichen piychopathiicher
Diinderwerthigfeit, ihre medizinische Zuverläſſigkeit vorausgejegt,
für den Laien bequem verwerthbar?
Was zunähjt die Tegenerationszeichen anatomiſcher Art
betrifit, jo giebt es ja etliche, deren urjächliher Zujammenhang
mit pſychiſchen Schädigungen unmittelbar einleuchtet. Bei anderen
dagegen — ihre Aufzählung iſt bier abfichtlic vermieden — fann
ein folder Zuſammenhang ſelbſt vom Fachmann ſchwerlich nad)
gemwiejen werden, geichweige daß er fih dem Laien erjchlöjle.
Mag ihnen trogdem erfahrungsgemäß ein ſymptomatiſcher Werth
nicht abzujprechen jein, jo dürften ihrer diagnoftiihen Anwendung
duch den Nicht-Arzt ſchwerwiegende Bedenken entgegenitehen.
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 4
Nehnliches gilt von den funktionellen Anomalien. Zwar iſt bier
das faufale Verhältnig von Symptom und Leiden meift leichter
erfennbar als bei den leichten anatomiſchen Verbildungen, aber
auh unter ihnen find foldhe (z. B. Kopfichmerzen, Herzklopfen,
Neigung zu läjtigen Erröthen), die durch Erfranfung von dem
Gehirn völlig unabhängiger Organe bedingt jein können. Auch
diefe Symptome werden erjt mit anderen einmwandfreieren zus
jammengehalten, in den Händen des fundigen Arztes ihren Werth
erhalten.
Freilich ſpricht auch Koch den genannten Vorbedingungen
einer Diagnoje auf pſychopathiſche Minderwerthigfeit nur relativen
Beweiswerth zu, und ich fann mid) nicht enthalten, dieje wichtige
Stelle wortgetreu anzuführen: „Wenn bei Vater oder Mutter
ober bei beiden Eltern eines nicht geiftesfranfen, aber pſychiſch
eigenthümlichen Menſchen zur Zeit feiner Zeugung oder wenn bei
feiner Mutter während der Schwangerihaft (und mut. mut. bei
den Großeltern) eine entipredyende Schädigung des Nerveniyitems
oder eine Erihöpfung oder Abgelebtheit des ganzen Organismus
beitand, jo iſt die Möglichkeit gegeben, dab die in jeinem
pſychiſchen Weſen vorhandenen Auffälligfeiten ganz oder theilweije
durd) eine ererbte Schädigung des Nervenigftems bedingt find,
einer angeborenen oder einer gemiſchten piychopathiichen Mlinder:
werthigfeit angehören. Wenn dieſer Menſch Stigmata der Dege:
neration an ſich trägt, jo liegt die Wahrjcheinlichfeit vor, daß
feine pſychiſchen Eigenheiten der Ausdruck einer völlig oder doch
theilweife angeborenen pſychopathiſchen Dlinderwerthigfeit find.
Und die Vermutung, daß dem jo jein werde, ijt deſto mehr
gerechtfertigt, je verbreiteter und ausgeprägter die Degenerations:
zeichen fich finden. Eine Gewißheit in der Sache aber hat
man erjt dann erlangt, wenn die in dem piuchiichen Leben eines
Menſchen zu Tage tretenden Nuffälligfeiten durch ihre eigene
Beichaffenheit an fich jelbjt als pathologisch, beziehungsweije wenn
ie als Bejtandtheile eines der Bilder erfannt wurben, welche
man jchon aus ihren pinchopathiichen Symptomen allein als
angeborene pſychopathiſche Minderwerthigkeiten zu Ddiagnojtiziren
gelernt hat.“
Wie jteht es nun aber mit der praftiihen Verwendbarkeit
der hier betonten piyhiihen Symptome? Koch jelbit erwähnt
42 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif.
gelegentlich die Schwierigkeit, Angelihts der flüjfigen Grenze des
Normalen und des Bindopathiichen ein jicheres Urtheil zu gewinnen;
er giebt zu, daß gewiſſe Schädigungen wie Verſtandesſchwäche
beim Gejunden ausgeprägter. hervortreten fünnen als beim Pſycho—
pathen; Widerfprühe zwiſchen gejunden und franthaften Zügen
gelten geradezu an ſich als ein weientlihes Dierfmal der Belajtung:
der gewiegte Seelenarzt wird ſich aud) innerhalb diejer verwirrenden
SJerpfade zurechtfinden, wird es aber auch der Laie? Wird er ji)
nicht leicht zu einer vorjchnellen und unbejonnenen Diagnoje ver:
führen lajjen?
Endlich jei noch ein legtes Bedenken erwähnt, das ſich gegen
die von Koch gewählte Bezeihnung „Minderwerthigfeit“ richtet.
Geſetzt dieſer Begriff fünde in Schule und Haus Eingang, und
nur unter dieſer Vorausjegung fann erfolgreid; gegen den Feind
angefämpft werden, ijt nicht der Name dazu angethan, bei den
Angehörigen der geſchädigten Kinder Beunruhigung und Ber:
ſtimmung zu erzeugen, diejen jelbjt aber einen Diafel anzuhängen?
Diachen wir uns das far: die Diagnoje auf Minderwerthigkeit
iſt ſchwerwiegend, objektiv durch den Kochſchen Cap, dab Die
Dlinderwerthigfeit „ganz allmählih völlig zur Geiſteskrankheit
hinüberführen fann” (in der Mehrheit der Fälle jei das nicht
der Fall), jubjektiv, indem in die Seele des jo beurtheilten Kindes
duch die Ausnahmejtellung, die man ihm zumweiit, bei aller
Zartheit und Rückſicht von Seiten des Arztes oder Erziehers doch
eine Trübung gebradt wird, die leicht zu hypochondriſchen
Stimmungen führen, ja an jih zu einer Seelenfranfheit aus
wadjen fann.
Diejes Bedenken hat Spipner zu dem Vorſchlag veranlaßt,
dem ich mich im Prinzip durchaus anſchließe, in der Pädagogik
den Namen „piychopathiiche MDlinderwerthigfeit“ gänzlich zu ver:
meiden. Er will die hierher gehörigen Erjcheinungen unter den
Begriff der „pädagogiihen Fehlerhaftigfeit“ gejtellt willen, die
etwa durch den Zujag „auf organiſch frankhafter Grundlage
beruhend“ eine genauere Beltimmung erhalten fünnten. Ebenſo
umgeht Trüper Die heifle Bezeichnung, indem er jeine Anjtalt
ein Erziehungshaus „für Kinder mit geſchwächter oder fehlerhafter
Veranlagung” nennt. Der Eingeweihte weiß, was darunter ver:
jtanden ilt, das odium nominis ijt vermieden.
Ein Örenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 43
Damit wären die wejentlichjten Bedenfen hervorgehoben,
welche ſich dem nicht:medizinifchen Leſer der Kochſchen Schrift
aufdrängen, wenn er jich über ihren Werth für die pädagogiſche
Braris flar zu werden verjudt. Der Kern diejer Betradhtungen
it, den Erzieher vor Ueberſchätzung der Kodichen Lehre nad
Seiten ihrer willenichaftliden Meife, ſowie vor vorjchneller
Anwendung auf den einzelnen Kal und unberechtigten Verall:
gemeinerungen zu warnen. Damit joll jedoch die Bedeutung des
Werkes feineswegs beanjtandet werden. Ein großer Fehler wäre
es, wenn der Erzieher um einzelner prinzipieller Abweichungen
willen eine jo reife und werthvolle Frucht pſychiatriſcher Studien
rungmweg ablehnen wollte. Dem Kochſchen Wert gebührt ohne
Zweifel die ernitefte Beachtung nicht nur von Seiten der erste,
Lehrer und Erzieher und aller jtaatlichen Organe, in deren Hände
die Erziehung fommender Gejcdhlechter gelegt ilt, ſondern von
einem weiteren Gejichtspunft aus das Intereſſe aller, denen das
Volfswohl am Herzen liegt. Denn auch auf die große joziale
Frage fallen nicht unweſentliche Streiflichter, jofern Koch einerjeits
die piychopathiichen Minderwerthigfeiten vielfah aus Mangel,
förperlicher und geiftiger Entbehrung entjtchen läßt, andererjeits
auf ihren Zufammenhang mit dem Alfoholismus, der Projtitution
und der Ausnugung der Ichulpflichtigen Jugend zu gewerblicher
Arbeit Hinmweilt.
Bon der Beadhtung, welche die Lehre Kochs in Deutichland
gefunden hat, und von den Nejultaten, die jie jchon bisher gezeitigt
hat, ijt bereits oben die Nede gewejen. Doc joll im Folgenden
noch unterjucht werden, auf weldem Wege fi weiterer Gewinn
für die Erziehung in Schule und Haus aus der empfangenen
Anregung und Belehrung erzielen ließe. Dabei liegt es nabe,
daß die eigenartigen Verhältniſſe der baltiihen ‘Provinzen, die
mir naturgemäß bei meinen Grörterungen vorjchweben, oft zu
anderen Folgerungen führen müſſen, als fie draußen am Platze
ein mögen. Auch fann die Frage im Rahmen meiner Arbeit
nur in allgemeinen Umriſſen behandelt werden.
Zunädjit erwächlt, wie bereits angedeutet, der wiljenichaftlichen
Pädagogif die Pflicht, das Studium der Kindesfehler auf Grund-
lage förperliher Gejundheit energiih in Angriff zu nehmen, Die
von Strümpell begründete pädagogiſche Pathologie durch umfajjende
44 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif.
und erafte Beobachtungen auszubauen. Diefem Zmede dient
bereits jet die oben genannte Zeitichrift „Kinderfehler,” deren
Studium bei diefer Gelegenheit allen, welche ſich für Erziehungs:
fragen interelliren, aber auch allen Aerzten warm ans Herz gelegt
fei. Sie verfolgt den Zwed, zwiſchen den Vertretern der häuslichen
und der Schulerziehung, den Aerzten, der Geijtlichfeit, kurz allen
denen, welche in ihrem Berufe mit jeeliihen Kinderfehlern zu
fümpfen haben, eine Beziehung herzuftellen, um auf dieſem Wege
durch Austaufh der Erfahrungen eine tiefere Erfenntniß jener
Sehler zu erlangen. Hier können und jollen alle bezüglidhen
Beobachtungen niedergelegt werden als Baufteine für die Hand
des Meijters, der fie zum Aufbau einer Kinderpfychologie rejp.
Pathologie zu verwenden im Stande jein wird. Bier jollen
pſychologiſche Fragen aufgeworfen und dem Fortſchritt Der
Wiſſenſchaft entiprechend der Löſung näher gebracht werben.
Hier findet man aud Belehrung über private, fommunale und
ftaatlihe Einrichtungen innerhalb Deutichlands mie in der ganzen
übrigen Welt, welche der Heilerziehung im weitejten Sinne zu
dienen bejtimmt jind, jowie eine Meberjicht über die hierher gehörige
Litteratur.*)
Immerhin ift es einjtweilen Mofaifarbeit, die in den „Kinder:
fehlern“ geleiltet wird, eine weitere wichtige Aufgabe ift auf
anderem Wege zu löjen, ich meine die Feſtſtellung der thatlächlichen
Verbreitung der „piuchopathiichen Minderwerthigfeiten” innerhalb
unſerer Schuljugend. Wir brauden nah eralter Methode an-
gejtellte jtatijtische Erhebungen darüber, ein wie großer Prozentjag
unjerer Schüler reip. Schülerinnen als minderwerthig anzuſehen
ift, wie jich innerhalb diejer Zahl das Verhältniß der angeerbten
zu den erworbenen Schäden jtellt, welche Formen biejelben zeigen,
wie fie jih nad Zahl und Charakter auf die einzelnen Jahrgänge
derjelben Schule, wie auf die verichiedenen Schultypen vertheilen,
welchen Einfluß die Schule auf die Heilung oder Steigerung ber
einzelnen Schäden hat u. ſ. w. Ein Schema für Unterjuchung
des Einzelindividuums auf pfuchopathiiche Veranlagung, bei deſſen
*) Kinderfehler 1896, ©. 65—68. Cine Fülle von Belchrung für alle
einjchlägigen Fragen bietet auch daS zu zwei Dritteln feines Umfanges (Litt. P)
fertig geſtellte „Enzyklopädiſche Handbuch der Pädagogik", herausgegeben von
Prof. W. Hein (Langenſalza 1895 ff.)
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 45
Entwurf die von Koch aufgeitellten Gefichtspunfte eingehende
Berüdfichtigung erfahren haben, wird von Trüper in den „Kinder:
fehlern” (Jahrg. 1897, ©. 143 ff.) zur Diskuſſion geitellt.
Auf diefem Wege würde jomohl die Theorie der Kinder:
fehler gefördert werden, als auch, worauf es mir bejonders anzu:
fommen jcheint, die praftiiche Bedeutung derſelben in das rechte
Licht treten. Wir würden erfahren, welche Aufgaben der Schule
aus der angeregten Trage erwachlen, inwiefern den Bedürfniſſen
der fehlerhaft Beanlagten in ihr Rechnung getragen wird bezw.
getragen werden fönnte. Denn joviel dürfte außer Zweifel ftehen,
daß ein großer Theil der Inſaſſen von Irrenhäufern, wie der
Verbreder und Selbitmörder pathologiiher Art (und follte
beren Ziffer nicht einen beträchtlichen Prozentſatz aller jugendlichen
Selbitmörder bilden?) den Keim der nachmaligen Erfranfung und
Entartung, für das geihärfte Auge erfennbar ſchon im
pädagogiichen Alter in fih trug. Muß nicht diefe Erwägung in
der Bruft eines jeden Lehrers das Bewußtſein einer jchweren
Verantmwortlichfeit weden? Dürfen wir dem Appell des Seelen:
arztes an unjere Mitarbeit unfer Ohr verjchließen? Doc zu:
gegeben, daß mir die Pflicht haben, der Frage näher zu treten,
was fonnen wir thun? Darauf läßt fich eine erichöpfende Antwort
heute unmöglich geben. Soviel aber ijt gewiß, daß ſchon Die
Beihaffung der Daten über die thatlählihe Verbreitung der
„Minderwerthigfeiten“ in der Echuljugend ohne Hilfe der Lehrer
unausführbar it. Denn nur eine lange fortgeiekte Beobachtung
über das Merhalten des Kindes im Unterricht gegenüber
erzieheriihen Diaknahmen, beim Spiel u. j. w. ermöglicht ein
fiheres Urtheil über jeine intelleftuelle und fittliche Beanlagung.
Und vollends die Auswahl der von der Lehrmethode und Scul-
erziehung gebotenen Mittel, um dem Wachen des Llebels zu
fteuern oder eine Heilung anzuftreben, fann ausschließlich der Lehrer
treffen. Wo ferner, abermals auf Grund der Sculerfahrung,
das Verbleiben des Gejchädigten in der Schule um jeiner ſelbſt
oder um der Mitichüler willen, fich verbietet, wird wiederum der
Lehrer in vielen Fällen den Anjtoß zu feiner Entfernung zu geben
haben. Die Heilerziehung außerhalb der Normalichule endlich iſt
eine Aufgabe, welcher ji) die berufsmäßigen Erzieher auf Die
Dauer nicht werden verichließen können.
46 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik.
Dabei darf nun freilich nicht verichmiegen werden, daß die
pädagogische Vorbildung unjeres Lehrerjtandes vorderhand faum
ausreicht, um die erwähnte Aufgabe erfolgreich zu erfallen. Es
liegt mir fern, meinen Kollegen einen Vorwurf machen zu wollen.
Aber jeder Aufrichtige wird zugeben, daß die pädagogischen Studien
an unlerer Landesuniverfität jeit Jahrzehnten wenig aepflegt wurden,
daß die Prüfungsreglements nad) diejer Seite ungemein genügſam
waren, jo daß der Gymnaſiallehrer — die Verhältniſſe an unjerer
Volfsichule laſſe ich aus naheliegenden Gründen gänzlich außer
Betraht — an theoretischen Kenntnilfen der Pädagogik recht
wenig in den praftiichen Beruf mitbradhte. Bricht ſich doch auch
in Deutichland, deſſen Schulweſen als vorbildlich zu betrachten
wir feit lange gewöhnt find, erſt neuerdings die Ueberzeugung
Bahn, dak für die pädagogische Vorbildung des Gymnaſiallehrers
mehr geichehen mühe, damit fie nicht allzuſehr hinter den jemina-
riftiich geihulten Volksichullehrern zurückſtänden. Auch glaube ich
nicht zu irren, wenn ich annehme, daß das Bebürfnik nad päda—
gogischer Vorbildung von unferen Gymnafiallehrern ſelbſt nicht
gerade lebhaft empfunden wurde, jei es aus Geringſchätzung der
„grauen Theorie” gegenüber der lebendigen Praxis, jei es weil
man den Unterricht für den weitaus wichligiten Theil des Gymnaftal-
betriebs anſah, oder weil wir nach diejer Seite wenig Anregung
beſaßen, wie fie draußen in pädagogiichen Zeitichriften, allgemeinen
Lehrerkonferenzen und Lehrertagen weit reichlidyer verbreitet wird.
Sollte nun aber die bier zur Disfuffion geftellte Frage nicht
geeignet Sein, die Nothwendigfeit einer theoretiſch-pädagogiſchen
Vorbildung für den Lehrer erfichtlich zu machen? Sehen wir uns
in naher Zeit vor die Aufgabe gejtellt, zunächſt auf Grund unjerer
Erfahrung zu enticheiden, welche Schüler normal, welche fehlerhaft
veranlagt find, jo wird durch die neu gebotenen Gefichtspunfte
die Beobahtung geichärft, an der Hand ber jo gelammelten
Erfahrungen die theoretische Beurtheilung vertieft werden. Wie
das Ihlummernde Intereſſe für die Natur durd die Beichäftigung
mit dem Mifroffop erzeugt werden fann, fo wird auch der Verſuch
aufmerfjamer Analyfe des Seelenlebens einer „problematiichen
Kindesnatur” das pindhologiiche und pädagogilche Intereſſe mächtig
anzuregen geeignet jein.
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 47
Aber bleiben wir einftweilen noch bei der als dringlich
betonten Forderung jtehen, daß wir uns Kenntniß über die that-
fachliche Verbreitung der im Sinne Kods „fehlerhaften Ver:
anlagung” innerhalb unjerer Schuljugend verichaffen müſſen, To
ift aus dem oben Gejagten fein Zweifel barüber möglich, daß,
den beiten Millen und das wärmſte Intereſſe der Pehrerwelt an
der angeregten Frage vorausgelegt, wir doch auf die Hilfe der
Aerzte nicht verzichten dürfen. Sa, ich meine, daß von ihrer
Seite der Anſtoß zu praftiihen Maßnahmen erfolgen mühte.
MWenn, wie ich nad) jtattgehabtem Dieinungsaustaufh mit hervor:
ragenden Vertretern der medizinischen Willenichaft glaube annehmen
zu Dürfen, in ärztlihen Kreiſen die WMWichtigfeit der hier auf:
geworfenen Frage anerfannt werben jollte, jo fämen für ihre
Löfung zunächſt die Schulärzte in Frage. Nun it, ſoweit mir
befannt, das Inſtitut der Schulärzte noch Feineswegs weit ver:
breitet, auch dürften ihre Obliegenheiten bisher weſentlich andere
als die aus unjerer Betrahtung abzuleitenden gemwejen jein. Es
würbe fich größtentheils um eine Neufchöpfung handeln, deren
Drganijation im Detail zu erwägen ich nicht für meine Aufgabe
anfehen fann. Doch fann ich nicht umbin, schon jetzt folgenden
Munfd zu verlautbaren. Jede größere Schule und zwar nicht
nur Die öffentlichen, ſondern auch die privaten ſollte ihren jelbit-
gewählten Schularzt haben. Derjelbe müßte ſoweit pſychiatriſch
vorgebildet fein, als für die Beurtheilung dev normalen reip.
fehlerhaften Beanlagung der Jugend erforderlich ift. Auch müßte
er fih mit den bewährtejten Methoden, die intelleftuelle Begabung,
die pſychiſche und geiftige Leiltungsfähigfeit bezw. Ermüdbarkeit,
die Sinnesbeichaffenheit u. j. w. der Judend in erafter Weiſe zu
prüfen, hinreichend befannt gemacht haben.
Sp vorgebildete Schulärzte würden, entiprechendes Intereſſe
für ihre Aufgabe vorausgelegt, ihrem Namen in Stadt und Land
Ehre madhen und Hand in Hand mit dem pädagogiid) nebildeten
Lehrer viel Segen jtiften. Denn während der Arzt dem Lehrer
die erforderlichen medizinischen Anhaltspunfte geben würde, welche
Rüdfichten der förperliche oder geiltige Zujtand des einzelnen Kindes
beanipruche, worauf bei der didaftiihen und erziehlichen Behandlung
befonders zu achten jei, würde der Lehrer mit jeiner Erfahrung,
vermöge der reichen Gelegenheit, Einblide in das Seelenleben
48 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif.
des Kindes zu gewinnen, die Beobadhtungen des Arztes ergänzen
und berichtigen. Ohne Zweifel fönnten auf diefem Wege viele
Fehler der Schule vermieden werden, zumal wenn bas mediziniſch—
pädagogische Unterfuchungsergebniß tagebuchartig protofollirt und
durch die fortlaufenden Erfahrungen des Schullebens ſowie durd)
periodische Unterjuchungen über die Zu: oder Abnahme der Leiltungs-
fähigkeit und über die fittlihe Entwidelung ergänzt würde. Die
Frage, inwieweit die Lernzeit, inwieweit die Lebensverhältniſſe in
den Ferien die Entwidelung des einzelnen Kindes günftig oder
ungünftig beeinfluffen, würde auf dieſem Wege beantwortet werden
fonnen und zu interefianten Schlüffen führen.
Cine wichtige Vorausſetzung harmoniſcher gemeinjamer Arbeit
wäre freilich, daß der Arzt feine Aufgabe in follegialer Berathung
des LZehrförpers, nicht aber, wie es in Deutichland von ärztlicher
Seite beaniprucht mwurde,*) in einer Ueberwachung der Schule und
KRontrole der Schulitrafen fieht. Die Selbjtändigfeit der Schule
dürfte in feiner Weile gefährdet werben. Beiderjeitiges Verftändnik
für die Wichtigfeit der gemeinfamen Aufgabe und gehörigen Takt
in der Verfolgung derjelben vorausgefegt, ſcheint mir einem folchen
Verhältniß feine weſentliche Schwierigkeit entgegenzuftehen.
Auch für die Beziehungen von Schule und Haus veripreche
ih mir viel von der Unterſtützung eines in enger kollegialer
Beziehung zum Lehrförper jtehenden Schularztes. Viele berechtigte
und unberedhligte Rlagen, welche bisher von dem Haufe gegen bie
Schule und umgefehrt erhoben wurden, würden verftummen, wenn
die Schule in offenfundigerer Weile ihr Intereſſe auch für Die
Sefundheit der ihr anvertrauten Jugend darthäte, mofür die
follegiale Betheiligung des Arztes der Familie eine gewilfe Garantie
böte. Andererleits würde die Schule jofern jie bis zu einem
gewilfen Grade eine heilerzieheriiche Fürforge in den Bereich ihrer
Pflichten zöge, ein weit höheres Maß von Vertrauen feitens des
Elternhaufes beanſpruchen dürfen, als es bisher üblich war, ein
Vertrauen, wie es etwa dem Hausarzt entgegengebradht wurde.
Mande Intima der Kamilie müſſen dem Erzieher zugänglich fein,
damit er den für die Benrtheilung der Beanlagung jo wichtigen
Faktor der Vererbung in Nechnung zu ziehen vermag. Auch nad)
*) Siehe Spihner a. a. D. ©. 36.
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 49
diefer Seite wäre daher der Arzt ein vollflommener Vermittler,
der, ohne indisfret zu fein, aus feiner Kenntniß der Verhältniſſe
Ichöpfend, das „erblidy belaſtet“ oder, wie die Erklärung ſonſt
lauten mag, in die MWagichale werfen fonnte. Denn willen muß
der Lehrer, der zugleih Erzieher fein will und ſoll, daß die
Mutter des Schülers U. im Irrenhauſe geitorben iſt, daß in der
Familie des B. in mehreren Generationen die Neigung zu Selbſt—
morden hervorgetreten it, daß der Vater des E. ein ausjchweifendes
Leben geführt und dadurd) auf jeine Nachkommenſchaft ein Ichlimmes
Erbe übertragen haben kann. Aud pflegt ja Frau Kama über
dergleichen Verhältniſſe genügend aufgellärt zu jein, fie find ihrer
Natur nad ſchwer zu verbergen. Da ift denn ein offenes Ver:
trauen nicht bloß das würdigite, ſondern aud das klügſte Verfahren.
In Bezug auf die als das nächſte praftiiche Erforderniß
bezeichneten Unterfuchungen der Schuljugend liegen aus Deutichland
bereits einzelne lehrreihe Erfahrungen vor, wenngleich diejelben
bisher nur zu geringem Theil veröffentlicht zu ſein jcheinen. Im
dem mehrfach erwähnten Vortrag, welchen Dr. Spitner 1894 in
der 31. Allgemeinen deutichen Lehrerverfammlung gehalten bat,
in welchem auch für Cinfegung von Schulärzten plaidirt wird,
findet fi die Klage „daß die Lehrerſchaft im allgemeinen fich
dabei noch jehr zurüdhaltend verhalte.” Dagegen wird mit Be:
friedigung erwähnt, daß „innerhalb einzelner Schulförper bereits
in einem gewiſſen Umfange eine Sichtung der Schüler vorgenommen
murde zum Zwecke eigenartiger Kürjorge für diejenigen, an denen
ein geringerer Grad der Bildungsfähigfeit oder eine gewiſſe
Fehlerhaftigfeit oder Einfeitigfeit jih bemerkbar gemacht bat, wobei
man in gewiſſen Fällen vielleicht jchon an eine „pädagogiſche
Minderwerthigfeit” denken muß.” Insbeſondere wird von bereits
jtattgehabten jtatijtiischen Erhebungen ein Beiſpiel genannt, wo (in
der Schule zu Pauſa) unter 754 Schulfindern 6 Schwerhörige,
8 Stotterer, 6 Gebredlide, 2 Schwadjinnige, 107 Schwad)-
begabte, 197 Kurzfichtige gefunden wurden. Der Vortrag Spibners
bewirfte übrigens erfreulicher Weile die Nelolution des Lehrer:
tages „die Verſammlung halte die Beachtung der geijtigen Fehler
der Jugend für eine jo ernfte und bedeutungsvolle Frage, daß
fie dem ftändigen Ausſchuß ... empfiehlt, diejelbe als Vereinsthema
für die nächfte allgemeine deutſche Lehrerverſammlung Ben?
50 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik.
Eine ärztliche Unterfuhung von Gemeindeihulfindern hat
ferner auch in Berlin jtattgefunden. Hier wurden jedoeh in 10
Schulen nur diejenigen Kinder unterfucht, welche ſich in den drei
unterjten Klaſſen länger als zwei Jahre befinden, bezw. erſt nad
zweijährigem oder längerem Aufenthalt aus einer diejer Klaſſen
in die folgende verjegt werden Ffonnten. Dabei waren zunächit
Fragebogen von den Lehrern auszufüllen, worauf die Kommiſſion
von vier Aerzten, unter denen ſich ein Nerven, ein Augenarzt und
ein Arzt für Hals, Najen: und Ohrenleiden befand, ihre Unter:
fuchung vornahm. Das Nejultat ergab 116 geijtig minderwerthige
Schüler, d. h. 1,5°o von ſämmtlichen Schülern. An meitaus
den meilten fanden fich förperlihe Schädigungen wie Drüfen-
anichwellungen, behinderte Najenathmung u. ſ. w. Die Aerzte
mwünfchten auf Grund ihrer Unterfuhung die Weberführung von
11 Idioten und 5 fittlid Werwahrlojten in die entiprechenden
Erziehungsanitalten. Won den Schwachbegabten, deren fie 68 fanden,
wollten fie nur diejenigen durch Einzelunterricht gefördert willen,
welche in Folge von Schulverſäumniſſen zurüdgeblieben waren,
die übrigen bedürften eines bejonderen individualilirenden
Unterridhts in jogen. Hilfsſchulen. 26 Schwacbegabte, 20
mäßig ſchwachſinnige und 15 ftärfer ſchwachſinnige Kinder (O,; vom
Hundert jämmtliher Schüler jener Schulen) wurden für Diejen
Zweck ausgeichieden.
Somit hat die Berliner Unterfuhung für viele gefchädigte
Kinder fegensreihe Folgen gehabt. Doch jcheint die geiltige Be—
gabung zu ausschließlich der Prüfung unterlegen zu haben und
find die Erfahrungen der Lehrer in Bezug auf geiftige und jittliche
Veranlagung zu wenig zur Geltung gefommen, jo daß bie
Kommiſſion jelbit eine pädagogiihe Nachtontrole für wünſchens—
werth halt.
In diefem Zufammenhang verdient wohl auch eine andere
zeitgemäße Schulreform Erwähnung. In Württemberg hat, nachdem
Koch in feiner Schrift behufs Schonung der Nervenfraft unjeres
Geſchlechts die Herablegung der Schulaufgaben auf höchſtens eine
Etunde verlangt hatte, eine diesbezügliche Jnterpellation an den
Landtag stattgefunden. Die Folge war ein Erlaß des Kultus:
minifteriums, welcher für die häusliche Arbeitszeit an den höheren
Lehranitalten (Gymnafien und Nealichulen) ein Marimalmaß von
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 51
1 Stunde in den unterften, bis 3 Stunden in den oberen Klaſſen
feitiegt, innerhalb welcher Zeit die häuslichen Aufgaben auch von
Schwachbegabten müßten bewältigt werden fonnen. Auch in anderen
deutichen Staaten hat fich die Geſetzgebung der Schwadhbegabten
und Schwachſinnigen angenommen, und ijt insbejondere die Ein-
richtung von Hilfsklaſſen bezw. Hilfsichulen betrieben morden.
1893 gab es in Deutichland 32 jolcher Anftalten, davon 18 in
Preußen. 1896 bejitanden in Preußen bereits 88 Hilfsſchulklaſſen,
in denen 2017 Kinder, melde, obgleich nicht idiotiich, in der
Normalichule nicht folgen können, ihren Bedürfnilien entiprechend
von dazu ausgewählten und bejonders vorgeichulten Lehrern unter:
richtet werden.“)
Kehren wir zum Schluß zu unferen heimiſchen Verhältniiien
zurüd. Auch bei uns ertönt vielfah die Klage über Nervofität
unferer lernenden Jugend. Aud bei uns maltet mit eherner
Strenge das Gefet der Vererbung, es rächt die Schuld und die
Verſäumniß (Fahrläffigfeit) der Eltern an den Kindern und Enfeln
und bedroht die fommende Generation. Auch bei uns ift die Zahl
ber Schüler, welche fi) den Forderungen der Schule nicht gewachſen
jeigen, eine große. Was würde das Ergebniß einer Statiftif über
fehlerhaft Weranlagte fein? Die Antwort überlaſſe id) denen, die
mit den Gejundheitsverhältniifen unferer Bevölferung vertrauter
find als ih. Aber gelegt, es zeigte ſich, dal ein gewiſſer Theil
unferer Schuljugend, jei er nun groß oder klein, pſychopathiſch
beanlagt it; daß hier abnorm Schwachbegabte ſich vergebens und
zum Schaden ihrer Gejundheit mühen, die wiſſenſchaftliche Siſyphus—
arbeit zu leilten; daß dort die ſittliche Entwidelung ſich in be-
denfliher Richtung bewegt, weil Inſtinkte zum Böſen die Willens:
freiheit zu mächtig hemmen; daß bei anderen ſchimmernde Talente
neben TDefeften Verdacht ermweden oder alljeitige geiltige Frühreife
neben förperlicher Zartheit Befürchtungen erzeugen; was fann Die
Schule, felbit wenn ihr der Nath und die Hilfe des Schularztes
zur Seite jteht, dagegen thun? Dieje Frage könnte nur durch eine
eigene pädagogiſche Unterjuhung ihre Erledigung finden. Bier
fann es nur darauf anfommen, im allgemeinen die Richtungen
anzudeuten, in denen etwas geichehen fann. Die erite Aufgabe
*) Näheres hierüber in den „Kinderfehlern,” Jahrgang 1808, S. 24 ff.
4*
62 Ein Grenggebiet der Medizin und Pädagogil.
der Schule ift prophylaktiſcher Art, fie läßt fich jedoch von der
nächſten, der Behandlung vorhandener Schädigungen nicht vollig
trennen. Kann, wie der Pindiater lehrt, geiftige Ueberbürdung
die ſeeliſche Gefundheit jchädigen *), jo werden dieſer Gefahr
befonders diejenigen Schüler unterliegen, welche von zarter Kon-
ftitution, ohnehin nervös veranlagt find, welche joeben eine längere
Krankheit bejtanden haben u. j. w. Sole Kinder find daher in
der Schule zu entlajten, auch auf die Gefahr, daß fie hinter den
übrigen zurücbleiben. Auch gelunde Naturen können geichädigt
werden, wenn fie auf die Dauer Anforderungen ausgejegt find,
denen ihre Begabung nicht gewachſen ift, zumal mwenn die Arbeit
nur pflichtgemäh und ohne ſachliches Intereſſe geichieht. Wird
ihre Bemühung dann noch verfannt, ernten fie ftatt Anerkennung
nur Tadel, verfolgt fie dazu vielleicht das Bild häuslicher Sorge,
an der ihr mangelhaftes Fortflommen in der Schule die Mitſchuld
trägt, jo find die Bedingungen gegeben, unter denen die Krankheit
entiteht. Hier fann der Lehrer nur durch gerechte Abwägung bes
wahren VBerdienjtes, durch freudige Anerkennung des Fortichrittes
das Intereſſe beleben, den jinfenden Muth heben, vielleiht auch
durch Fürſprache bei den Eltern die Schüler moralifch entlajten.
Das pſychopathiſch fFrühreife Wunderfind, in welchem einzelne
Anlagen bejonders hervorſtechen, verführt den Kachlehrer, welcher
die Leitungen feiner Klaſſe ſich zum Werdienit angerechnet ſehen
möchte, dieſe Anlagen zu begünitigen. Vom Standpunkt der Heil:
erziehung iſt der entgegengeiegte Meg der richtige: der krankhaften
Hppertrophie einzelner Gehirnpartien muß jede Nahrung entzogen
werden, während ihr durch andersartige Beichäftigung ein Gegen-
gewicht zu bieten it. So fann eine zügelloje Phantaſie, die fich
vielleicht Ichon in der Quarta in romanhaften Auflägen oder
dramatiichen Verſuchen verräth, durch Betonung der Mathematik
und förperliher Hebungen ſowie körperlicher Arbeit**) neben
Entziehung aufregender Lektüre vor bedenklicher Ausartung geſchützt
werden.
*) Zum Beleg ſei außer diesbezüglichen Aeußerungen Kochs auf einen
Beriht Dr. Hafies auf der Jahresverfammlung deuticher Irrenärzte zu Eiſenach
1880 hingewieſen, wonach Reoner in 11/, Jahren 7 Fälle von Geiftesfranfheit
in ‚Folge Ueberbürdung behandelt habe.
**) Die engere Verbindung des Handfertigkeitsunterrichts mit der Schule,
für welche in Deutſchland eine wirfjame Propaganda gemadt wird (cf. meinen
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 53
Auch die Anwendung von Lohn und Strafe wird von
Bedeutung für die Prophylare jein. Denn ein frankhafter Ehrgeiz,
reizbare Stimmung, triebartiges Handeln und andere derartige
Züge, die wir als die Wurzel oder Begleitericheinungen von
Nervenkfrankdeiten fennen, werden zu einer ernten, vorfichtig ab:
wägenden Defonomie in der Anwendung und in der Auswahl
jener fünjtlihen Erziehungsmittel nöthigen. Wie viele Opfer mögen
die in Frankreich üblichen pomphaften PBrämiirungen der Echüler
und Schülerinnen unter Betheiligung der ganzen Stadt bereits
der Geijtesfranfheit gebracht haben! Und wie bedenflidy find Die
Strafen, welde ohne zum Vergehen in einem inneren Verhältniß
zu jtehen, den nicht leiltungsfähigen Schüler jeiner legten Er:
holungszeit berauben und ihm die Beichäftigung mit der Willenichaft
vollends verefeln? Da war die in alten Zeiten beliebte ſchönungsloſe
Anwendung des Balels, um die Weisheit „einzubläuen” nod) ein
hbumaneres Verfahren. Noch mehr fönnte erreicht werden, wenn
das ganze Lehrprogramm jowie vor allem die methodilche Be-
handlung den Bedürfniffen der Schwachen entipredhend abgeändert
werden fünnte. Wenn das Quantum und die Auswahl der Lehr:
fächer der Leijtungsfähigleit des einzelnen angepaßt werden fünnte,
wenn ſich durch Bevorzugung des Könnens vor dem Willen, durch
verinehrte Anipornung der Aktivität das Intereſſe, wenn auch auf
noch jo eng begrenztem Gebiet anfadhen ließe. Doch da iſt Die
Grenze des Ausführbaren bereits überjchritten, denn innerhalb
ber Normaljchule iſt nur in geringem Maße ein individualijirendes
Verfahren möglid, und die Neformbedürftigfeit unjerer Schule
zugegeben, ihre Vertreter verjchließen fich dem feineswegs, jo weiß
jeder, der diefen Verhältniſſen nahejteht, wie weit der Weg von
der Erfenntniß der Mängel zu ihrer Bejeitigung if. Nocd aber
hat fih aus dem Kampf widerjtrebender Anfichten nicht einmal
ein alljeitig anerfannter Wunjd ans Licht gerungen. Mancher
gejunde Gedanfe könnte auf dem Wege privater nitiative auf
Aufjag in der „Balt. Monatsichrift“ 1888), empfiehlt ſich aud unter dieſem
Geſichtspunkt. Der immenje erzieheriiche Werth der Anabenhandarbeit wird in
unjeren Provinzen vom Publitum nod) bei Weitem nicht gemügend gewürdigt,
obgleih man in Riga, Witau, Reval, Dorpat, Birkenruh, Werro u. j. w. fid)
um die Ginbürgerung des Handfertigkeitsunterrichts bemüht hat und noch jeßt
bemüht.
54 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif.
feine Wirfungen erprobt werden, wenn nicht die jtaatlihen Ver:
günftigungen als ein Nejervatredt der Kronsichule, die Kojten
eines ſolchen Verſuches unerihwinglid machten.
Bleiben wir daher innerhalb der Grenzen des Erreihbaren,
jo fann, wo Minderwerthigfeiten vorliegen, die klare Erfenntniß
der Kranfheitsform an fi von großem Werthe ſein. Weiß der
Lehrer, worum es ſich im einzelnen Kalle handelt, daß der Schüler
die Antwort jchuldig bleibt, weil er an einem Hemmungsfehler
leidet, den zu verrathen er fich ſcheut; dab jeine Beweglichkeit und
jein Grimajfiren ungewollt find, und um ſo auffallender hervor:
treten, je mehr er dagegen anfümpft; daß Die vermeintliche
Trägheit und Unaufmerfjamfeit in gewiſſen Fällen nur eine
Yeußerung körperlicher frankhafter Schwäche jind; hat der Lehrer
ſein Auge für jolhe und ähnliche Ericheinungen geihärft und in
tiefer liegenden Fällen den Nath des Vertrauensarztes eingeholt,
jo werden viele faljche, vielleicht jchädigende pädagogiihe Maß:
nahmen unterbleiben, auch wohl eine Ichonende Behandlung des
Kranfen durd; die Kameraden bewirft werben fünnen. Es ilt
feine Ueberhebung, wenn die Weberzeugung ausgeſprochen wird,
daß in leichteren Fällen durch bloße Vermeidung eines faljchen
Verfahrens, welches die Entwidelung des Leidens zu befördern
geeignet ijt, eine volljtändige Heilung erzielt werden fann, denn
in dem in der Entwidelung begriffenen Urganismus fönnen bie
gejunden Bejtandtheile aus eigener Kraft das Kranfhafte über:
winden, wie der Körper ohne jede Medikamente in Folge erhöhter
Zebensbethätigung jogar die Tuberfelbazillen zum Abjterben zwingen
fann, die Pflege des Gefunden aber behufs Ueberwindung des
Kranken ijt auf jeeliichem Gebiet recht eigentlih Aufgabe ber
Erziehung.
In vielen Fällen dürfte aud) die Heilgymnaftif unter ärztlicher
Leitung von Segen jein, deren Einbürgerung in die Schule mir
überhaupt ein dringendes Erforderniß zu fein jcheint. Nach meiner
Erfahrung darf ein nicht geringer Theil unjerer Jugend aus
förperlichen Gründen nicht am jchulmäßigen Turnen theilnehmen.
Der eine hat jih vor Jahren einen Armbruch zugezogen, bei
einem anderen liegt die Neigung zu Blinddarmentzündungen vor,
ein Dritter hat ein Herzleiden (ich wähle die Beilpiele, wie fie
mir die Praris in die Hände ſpielt). Bedürfen nun nidht gerade
Ein Örenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 55
dieje Bedauernswerthen, die an jeder fnabenhaften Luft in Spiel
und Kampf, in Klettern und Wagen durch das Verbot der Eltern
und bes Arztes gehindert werden, noch weit eher der geregelten
Turnübungen als die Gejunden, welche auch außerhalb der Turn:
halle reichlide Gelegenheit haben, Kraft und Gemwandtheit zu
erwerben? Welcher Art die Uebungen fein müflen, die ein jeder
mit Rüdficht auf jein Gebrechen braucht, darüber mag der Schularzt
enticheiden, der in vielen Fällen auch ohne Foftipielige Apparate
die körperliche Entwidelung der Dispenfirten zu fördern willen
wird. Dann fenne ich noch andere, deren Glieder gefund find,
bie aber aus Trägheit und Willensihwäche nicht mithalten wollen
oder erjt in vorgerüdtem Alter die Gelegenheit zu geregeltem
Unterriht befommen haben und nun die Scham vor den geſchickteren
Kameraden Hinter einer ihrer inneren Natur vielleicht nicht ent:
iprehenden blajirten Miene verbergen. Wie wäre es, wenn man
auch dieſe, die in anderem Sinne der Peilgymnaftif dringend
bedürfen, wo alle Nufmunterung umjonft iſt, zeitweilig zu jenen
anderen gäbe, bis jie fi) auf ihre gefunden Gliedmaßen bejinnen
und der Muskel das träge Fett zu verdrängen begonnen hat?
Das hätte nun freilich zur Vorausjegung, daß eine jede größere
Schule neben dem Scultumen ex ofticio aud) Gelegenheit zu
heilgymnaſtiſchen Uebungen böte, und eben das möchte ich aufs
wärmjte befürworten. Das Turnen jollte jo oder jo für Die
Kranfen ebenjo obligatoriih jein wie für die Gejunden. Die
Schule würde ſich dadurd) ein großes Verdienjt erwerben, und
wo die von Spezialilten geleiteten heilgymnaftiihen Kurje nicht
erreichbar oder zu fojtipielig find, läge eine neue, danfbare Aufgabe
für den Schularzt, als Glied des Yehrerkollegiums, vor.
Wie weit auf diefem oder anderem Wege, — um von der
Nojchweifung zu meinem Thema zurüdzufehren — innerhalb ber
Sculerziehung eine Heilung von Pſychopathien möglich ift, das
überlajje id dem Urtheil der Mediziner. Doc nod ein Verdienſt
fann ſich die Schule um die an ernjteren Formen der Minder—
mwerthigfeit leidenden Zöglinge erwerben, das freilid wiederum
eine gejicherte medizinische Diagnoje des einzelnen alles zur
Vorausjegung hat: Wo die Erfenntniß vorliegt, daß dem Kranken
in der Schule nicht nur nicht geholfen werden fann, jondern daß
die Schule ihn oder er durch Beeinflujjung jeiner Umgebung gar
56 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif.
die Schule jchädigt, da ift der Familie der durch das Urtheil bes
Schularztes gejtügte autoritative Rath der Leitung zu geben, daß
der Patient in andere zuträglichere Verhältniſſe verjegt werde, jei
es daß man ihn einer entiprehenden heilerzieheriichen Anjtalt
übergiebt, jei es daß man auf Fortiegung der Bildung verzichtet
und ihn für einen Beruf vorbereitet, dem er troß jeiner abnormen
Veranlagung gewadjien ericheint.
Was die erjtere Möglichfeit betrifft, fo fehlt es freilich,
joviel mir befannt, in unferen Provinzen noh an Anftalten,
welche Kindern der hier behandelten Cigenart heilpädagogijche
Pflege neben dem erforderlihen Unterricht zu bieten vermöchten.
Doch hat eine in den Verhältniſſen begründete Forderung bei uns
noch immer uneigennüßiges und thatfräftiges Entgegenfonmen
gefunden. ch zweifle daher nicht, daß, wenn erjt das Bedürfniß
nad) derartigen Erziehungsftätten als wirklich vorhanden ermiejen
ift, fich auch die geeigneten Kräfte finden werden, denen es weder
an Idealismus der Geſinnung nod an Thatkraft fehlen wird,
um die jchwierige Aufgabe zu verfolgen. Ueberaus jegensreid
wäre auch die Einrichtung von Hilfsihulen für die in leichterem
Grade Schwachfinnigen, welde in den öffentlihen Schulen nicht
folgen fönnen. Hier jollte ohne jede Rückſicht auf ein Lehrziel,
etwa für die Wehrpflicht Vergünftigungen zu erlangen, nad) freiejtem
Programm, in Abtheilungsunterricht, der für die verjchiedenen
Lehrfächer jede Verjchiebung des Schülerbejtandes ermöglichte, mit
jorgfältigiter Berüdfiditigung der Methode, jedem Schüler das
geboten werden, was er nad jeiner geijtigen Beichaffenheit an
Bildungselementen, nicht an Wiſſensſtoff aufzunehmen im Stande
it. Der glimmende Geijtesfunfe läßt ſich bei geſchickter Behandlung
anfachen, mag das Brennmaterial auch helle, wärmende Flamme
zu erzeugen nicht tauglich jein, wer aber dem Fünfchen zu viel
Nahrung auf einmal bietet, der wundere fich nicht, wenn es
erlifcht oder doch nicht Feuer fängt. So aber verführt unfere
Schule nolens volens gegen viele der am Geifte Mrmen: man
überjchüttet fie mit Wiſſensſtoff aller Art, jie jollen das Abftrafte
erfallen, ehe ihr Denkvermögen ji. an der Anichauung gebildet
hat; fie jollen mit Brüchen operiren, ehe jie den Zahlbegriff erfaßt
haben; fie jollen fremde Spraden hundhaben, ehe fie die Herrichaft
über ihre Mutterſprache erlangt haben. Was bleibt den Märtyrern
Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 57
übrig, als ihr bischen Gedächtniß zu Hilfe zu nehmen und jo
menigitens den Schein zu retten, als wäre das mechaniſch Ein:
gelernte ihr geijtiger Beſiz. Doch wie lange fann die Täufchung
währen! Bald it unter der todten Aſche das Fünfchen eritict.
Ketten wir es daher, bevor es zu jpät iſt! Befreien wir es von
dem tödtlihen Drud, bringen wir es in eine Umgebung, wo es
die Nahrung findet, deren es zum Leben bedarf. Und es muß
ja nicht durchaus ftudirt jein. Es giebt ja des geijtigen Proletariats
Ihon übergenug, ſchon übergenug der verfehlten Erijtenzen, Die
feider zu jpät erfannten, daß die Sphäre, in welde Elternliebe
und Elterneitelfeit fie hineingetrieben, nicht die ihren Anlagen
entiprechende il. Bon dieſem Gefichtspunft aus fann man ja
vet froh jein, daß der Weg ins gelobte Land der Mujen heut:
zutage durd einen Schlagbaum verjperrt ift, wo nad neuem,
uns wenig geläufigem Münzſyſtem der Zoll erhoben wird. Wohl
denen, die rechtzeitig ihre Baarſchaft mujtern und rechtzeitig vom
Verſuche abjtehen. Es giebt ja diesjeit des Sclagbaumes noch
Gelegenheit genug, ſich nüglih zu machen und jein Brod zu
erwerben. Wer darum wegen mangelnder Begabung das Gym:
nafium vor Beendigung des Kurſus zu verlailen gezwungen wird,
dem geichieht in den meilten Fällen eine Wohlthat, wofern er
dem Beruf übergeben wird, zu dem ihn Beanlagung und Neigung
weilt, den er auszufüllen die Fähigkeit hat. Noch größer freilic)
wäre die Mohlthat, wenn er in einer Schule, die weder durch
Eramenziele, noch durch unverrüdbare Klaſſenpenſa ihr Schüler:
material fo zu jagen über einen Leiten zu jchlagen genöthigt ift,
jeine Bildung erweitern und daneben für einen Spezialberuf
vorbereitet werden könnte. Aus schlechten Gymnaſiaſten können
noch immer gute Kaufleute, Litho-, Typo- und Photographen,
Gärtner, Mechaniker und Handwerker werden, jo lange ſie nicht
auch für dieſe Berufsarten verpfujcht find. Für die genannten
und viele andere noch nicht genannten Lebensftellungen, die feine
„gelehrte“ Bildung erfordern, dürfte in unjerer Heimath noch
Kaum genug vorhanden jein, für die geicheiterten Erijtenzen, die
ih gleichwohl ihre Standesvorurtheile und -anjprüde aus dem
Ediffbruch gerettet haben, wird — fürchte ih — der Naum bald
zu enge jein. Zu dem bier ausgeiprochenen Urtheil bin id)
während meiner Xehrthätigfeit an Gymnaſien im Hinblick auf
58 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif.
viele Schwachbegabte immer wieder gedrängt worden, im Hiublick
auf die „Minderwerthigen“ jcheint es mir noch weit beachtenswerther.
Das Nejultat vorjtehender Betrachtung ſei zum Schluß in
folgende Säge zufammengefaßt:
1) Die Lehre Kochs von den piychopathiihen Minderwerthig-
feiten ijt zwar im einzelnen des Ausbaues bedürftig, dürfte auch
mit der Zeit von Seiten der pſychiatriſchen und der pädagogiichen
Wiſſenſchaft manche Einihränfung und Korrektur erfahren, immerhin
beansprucht jie Shen in ihrer jegigen Geſtalt die ernjte Beachtung
aller, deren berufliche Thätigfeit Durch ihre Aufjtellungen berührt wird.
2) Sie nöthigt insbejondere alle Erzieher von Beruf ſich
mit der päbagogiichen Pathologie vertraut zu machen und diejelbe
wiſſenſchaftlich auszugeitalten.
3) Dringend wünjcenswerth ericheint eine durch das Zu-
jammenmwirfen von Aerzten und Lehrern auszuführende vorläufige
Feſtſtellung der Verbreitung piychopathiiher Minderwerthigfeiten
innerhalb unjerer Schuljugend.
4) Zu dauernder Beobadhtung und zwedentiprechender Be:
handlung fehlerhaft beanlagter Schulfinder ijt die Eingliederung
entjprehend vorgebildeter Schulärzte in die Zehrerfollegien größerer
Anſtalten wünſchenswerth.
5) Im Rahmen der Schulerziehung iſt leichteren Fällen
gegenüber eine Heilung durch jchonende Behandlung, Bervoll:
fommnung der Zehrmethode jowie Durch zwedentiprechende förperliche
Uebungen anzujtreben.
6) Minderwerthige, für melde der Verbleib in der Schule
ih als ſchädlich erweiſt, oder von welchen ein ſchädlicher Einfluß
auf ihre Mitſchüler zu befürdten it, jollten in Hilfsjchulen oder
(in ſchweren Fällen) in Peilanjtalten untergebracht werden.
7) In vielen Fällen dürfte zeitiger Webergang zu einem
praftiihen Beruf von günjtigem Einfluß fein.
Dorpat. Mar Boehm.
Shafeipeare’5 Warren und Klowus.
Die Wiſſenſchaft der Litteraturgeidichte hat in unjerem Jahr:
hundert gewaltige Fortichritte gemacht. Noch vor hundert Jahren
pflegte man fie mit der Bibliographie zu verwechjeln: die Litteratur:
geihichte war ein bloßes Bücherverzeihniß. Noch viel jpäter, als
dieſe rein bibliographiihe Auffaſſung ſchon längit überwunden
war, herrichte, ja in manchen litteraturgeihichtlihen Werfen herricht
noch jeßt der Braud), bei der Beſprechung der einzelnen Dichter
deren Leben fein jäuberlid von ihren Werfen zu trennen; zuerjt
fommen biographiihe Einzelheiten, dann folgen, ganz abgejondert
vom Leben des betreffenden Dichters, Inhaltsangaben jeiner Werke.
Das find Nachklänge der veralteten bibliographiichen Richtung in
unjerer Wifjenichaft, während die Litteraturgeichichte ſich unterdeſſen
ſchon längit aus einer bloßen Geſchichte der Bücher zu einer
Geſchichte der in diefen Büchern niedergelegten, das einzelne Zeit:
alter bewegenden Ideen erweitert hat. Hettners „Litteraturgejchichte
des achtzehnten Jahrhunderts” iſt der erjte großartige Verſuch, den
Zuſammenhang der Litteratur mit dem gejammten geiftigen Leben
ihrer Zeit in allen jeinen vielgeftaltigen Werzweigungen nad)
zuweilen. Hettner hat auch in meijterhafter Weile die mächtigen
Anregungen aufgededt, die auf die Litteratur des deutichen Auf:
flärungszeitalters von England und Frankreich her eingewirft haben.
Den gegenjeitigen Einflüſſen der Xitteraturen der verſchiedenen
Völker nachzuſpüren, ijt die Dauptaufgabe der „vergleichenden
Litteraturgeidhichte,“ die allmähli zu einem bejonderen Zweige
der gejammten litteraturgeichichtlichen Wiſſenſchaft ausgewachſen it.
An der Univerjität Breslau iſt ein befonderer Lehrſtuhl für
„vergleihende Litteraturgeſchichte“ geichaffen worden; ihr Inhaber,
Profeſſor Dar Kod, giebt eine „Zeitſchrift für vergleichende
Litteraturgeichichte” heraus. Wir bemerken im Entwidelungsgange
unjerer Wifjenichaft ein immer weiteres Fortichreiten der Erfenntniß
des organiichen Zuſammenhanges aller geijtigen Einzelerjcheinungen.
Je mehr ſich jo die Anſprüche an die Litteraturgeichichte jteigern,
deſto jchwieriger, aber auch dejto interejjanter wird das Forſchen
in dieſem Gebiete.
60 Shafejpeare’8 Narren und Klowns.
Mit den Veränderungen in der Auffaſſung des Zieles und
Zwedes der Litteraturgefchichte war auch meijt ein MWechjel der
Forfhungsmethode verbunden. Neuerdings ijt neben den Geſammt—
darjtellungen der Xitteratur eines einzelnen Volkes, oder nur einer
einzelnen Xitteraturgattung Ddiejes Volkes, und neben den bio:
graphiichen Einzeldarjtellungen dev verjchiedenen dichteriichen Ber:
jönlichfeiten, eine andere Betradtungsweile üblid) geworden. Dan
greift einzelne Gejtalten heraus, die in den verſchiedenen Littes
raturen immer wiederfehren, allen oder vielen gemeinfam find;
man verfolgt die Entwidelungsgeichichte jolcher typiſcher Einzel:
gejtalten. Schon im Anfang diejes Jahrhunderts hatte Francis
Douce den Entwidelungsgang des Narrentypus in der engliſchen
Litteratur bis zu Shafeipeare’s Narren verfolgt. Vor einigen
Jahren hat Hermann Graf die Gejdichte eines anderen Typus,
des großipredheriichen Soldaten, in der älteren engliichen Litteratur,
von dem Ahnherrn diejes Typus, dem miles gloriosus des
Plautus an, bis zu Shakeſpeare's Falſtaff, dem bedeutendjten
Sprößling aus diefem Geſchlechte von Typen, dargeftellt. Es
liegt auf der Hand, daß dieſe Methode mit der in den Natur:
willenichaften üblichen zu vergleichen iſt; jie iſt auch thatſächlich
auf naturwiljenichaftlihe Anregung zurüdzuführen. Bon allen
Geiſteswiſſenſchaften ſteht die Sprachwiſſenſchaft den Naturmiljen:
ſchaften am nächſten; in ihr iſt eine mehr naturwiljenichaftliche
Auffaſſung auch zuerjt aufgelommen, die dann auch auf die.anderen
Geiſteswiſſenſchaften befruchtend gewirkt hat.
Im vorliegenden Auflag joll der Verſuch gemacht werben,
Shakeſpeare's Narren und Klowns nad obiger Methode in ihrem
geihichtlihen Urfprung, und ihren verjchiedenen Erjcheinungsformen
darzuftellen, auf Grund des reichen Materials an Baufteinen,
das die Forſchung jeit Douce’s Unterfuhung deilelben Gegenſtandes
zujammengetragen bat. Auch Shafejpeare’s Narren und Klowns
find geſchichtlich betrachtet, ebenjo wie alle anderen typijchen
Litteraturgejtalten, einzelne Glieder in einer langen Typenreihe.
Wie in den anderen abendländiichen Litteraturen, fo find
auch in der engliicen jogenannte „Mifterien“ *) und „Dirafel:
Aus dem lateiniſchen ministerium, im Latein des Mittelalters —
Gottesdienſt. Die Schreibweiſe „Myſterien,“ die jetzt die herrſchende geworden
iſt, beruht alſo eigentlich auf einem Mißverfiändniß.
Shakeſpeare's Narren und Klowns. 61
fpiele“ die älteften Erzeugniffe der dramatiichen Dichtung. Im
den Mifterien werden die Erzählungen der bibliſchen Geichichte
von ber Erihaffung der Welt bis zur Ausgiegung des heiligen
Geiftes am eriten Pfingitfeit vorgeführt; die Mirakelipiele geben
den Inhalt der Heiligenlegenden wieder. In beiden dramatiichen
Gattungen jpielt der Teufel eine wichtige Rolle; er trägt aber
noch faum irgendwo die Züge der Lächerlichfeit, die ihm in den
jpäteren Entwidelungsitufen des Dramas anhaften. Schon in
einigen Mifterien, noch mehr in den Mirafelipielen begegnen neben
den befannten biblischen Berjönlichkeiten oder den Gejtalten der
Ipäteren Beiligenlegenden auch Abjtraftionen, Perjonififationen
von Tugenden, die troß des engliihen Textes dieſer Dramen:
gattungen lateiniiche Namen tragen, wie Veritas, Mijericordia,
Juftitia u. ſ. w.*) Allmählih wurden ſolche Abjtraftionen, bei
der befannten Vorliebe des Ipäteren Mittelalters für alle Arten
von allegoriiher Dichtung, zu Trägern einer neuen bejonderen
Dramengattung, der „Moralitäten.” In ihnen werden Die
verichiedenen Tugenden als Perſonen den gleichfalls perjonifizirten
Lajtern gegenübergeitellt; beide liegen miteinander im Kampfe.
Auch der Teufel tritt in ihnen häufig auf, uriprünglic als
oberjter Herr und Gebieter der einzelnen Laſter, neben den übrigen
abgeblaßten rein allegoriichen ®ejtalten der Moralitäten ſchon von
vornherein eine individueller gezeichnete Figur, der Vertreter einer
zwar jeher derben, aber gejunden Komik. Jene größere Indivi—
dualität übertrug ſich auch auf feinen häufigen Begleiter in den
Moralitäten, den „vice* (vice — Laſter); uriprünglic) eine
Perjonififation des Lajters an fich, eigentlid) alſo noch allgemeiner,
jomit auch blajjer und farblojer als die Verförperungen feiner
Unterarten, der einzelnen bejonderen Xajter, erhielt gerade dieſer
vice, auf den fih auch die lebhafte derbe Komik des Teufels
übertrug, bald eine jo fräftige individuelle Färbung, daß er uns
anmuthet wie eine erfriichende Oaſe in der dürren jtaubigen
Wüſte des langweiligen Allegorienframs ber Moralitäten. Der
vice erwies fi) auch in der Folgezeit, als dieſe Dramengattung
fih ſchon überlebt Hatte, als deren einzige wirklich) lebensfähige
*) In den älteiten engliihen Dramen pflegten die Perlonenverzeichnifje
überhaupt in lateinischer Sprache abgefaht zu werden; der eigentliche Wortlaut
der Dramen jelbit war dagegen englild.
62 Shakeſpeare's Narren und Klowns.
Geſtalt. Die übrigen allegorifchen Figuren der Moralitäten ftarben
mit diefen jelbit ab, ohne in den dramatiichen Geitalten jpäterer
Entmwidelungsitufen eine Nachkommenſchaſt zu hinterlaſſen; der
viee ift hingegen der Stammvater eines blühenden Geſchlechts
geworden: von ihm jtammen, rein litteraturgeichichtlich betrachtet,
fomohl die Narren als auch die Klowns im engliihen Drama
aus der Zeit der Königin Elifabeth, jomit auch Shakeſpeare's
Narren und Klowns ab.
Die Wichtigkeit des vice für unſer Thema rechtfertigt es,
daß ich noch ein wenig bei dieſer Geftalt vermeile. Mir erfennen
deutlich, daß der Vice in den älteften Moralitäten nody über:
wiegend eine Verförperung der Bosheit it, eine Art „Geilt, der
ftets verneint.” Freilich iſt auch in dieſen ältejten Mtoralitäten
der dämoniſche Charakter, der den urjprünglichen Kern jeines
Weſens ausmacht, ſchon mit vielen derbkomiſchen Zügen untermijcht,
Zügen, die wohl faum aus jenem dämoniichen Kern unmittelbar
abzuleiten find, Tondern einfach den Zweck hatten, das Publifum
zu beluftigen. Das Element des rein Poſſenhaften, der Keim
zum Hanswurſt ſteckt alfo im Vice Schon in den frühejten Stufen
feiner Entwidelung. Es ift piychologiich leicht zu erflären, daß
die Vertreter des Bölen in den verjchiedenen Litteraturen jo oft
den Schein des Läcderlihen an ſich tragen. Dadurch ſetzt fich
der Menſch mit überlegenem Humor über die Schledhtigfeit und
das Elend dieſer Welt gleihlam hinweg, So erklären fi die
den Teufel und feinem Genoſſen, dem Vice, in den engliſchen
Moralitäten von vornherein beigegebenen lächerlichen Eigenjchaften
mittelbar allerdings auch aus dem dämoniſchen Weſen diejes edlen
Paares. Zugleih dienten dieſe komiſchen Beigaben dazu, das
Lachbedürfniß des Publikums zu befriedigen, das bei dem jonftigen
Inhalt jener dürftigen Allegorien allzuiehr zu kurz gefommen märe.
Offenbar fanden die Szenen, worin Teufel und Vice zulammen
oder auch gejondert auftraten, wegen ihres unterhaltenden Inhalts
bei den Zuichauern bejonderen Anklang. Der Vice wurde ein
Liebling des Publifums, die volfsthümliche Geftalt der ſonſt jehr
wenig volfsthümlichen, froftigen Moralitäten. So war es gang
natürlich, daß die Schaufpieler diejenigen Züge im Weſen des
Vice, auf denen feine Beliebtheit beruhte, immer mehr hervortreten
ließen, die burlesfe Komik diefer Gejtalt immer dider auftrugen.
Shalefpeare'8 Narren und Klowns. 63
Yuh die meitere Entmidelung der Moralitäten felbit fam dem
Bedürfnifie des Publikums, feinem Geſchmack an der derben, oft
recht rohen Komik bereitwillig nad: jo verflüchtigte fich im Laufe
ber Zeit das urfprüngliche Hauptelement im Charakter des Nice,
das Dämonifche, mehr und mehr, während das Komiſche, Anfangs
nur lojes Beimwerf, allmählich jelbit zur Dauptiahe wurde. Zu
Shafeipeare’s Zeit war diefe Entwidelung ſchon jo weit gediehen,
daß Vice oft geradezu im inne von „Hansmwurit” gebraucht
wird, wie fich aus manchen Stellen in den Dramen Shafeipeare's
und feiner Zeitgenoffen nachweifen läßt.
Das uriprünglid Dämoniſche des Vice-Typus zeigt ſich
in den älteren Stüden in der Sudt des Vice, einen gegen
den anderen aufzuhegen, überall Unheil zu ftiften, in feiner
erbarmungslos teufliihen Schadenfreude, wenn ihm feine böſen
Streihe gelungen find. Seine Bosheit richtet ſich nicht allein
gegen feine natürlichen Feinde, die Tugenden, gegen das Menſchen—
geihleht im allgemeinen oder gegen einzelne Menſchen, ſondern
aud gegen jeinen uriprünglichen Gebieter, den Teufel. Diejer
tritt zwar äußerlich gar furchtbar auf: in zottigem Kalbfell, mit
Schwanz, Klauen an den Fühen, langen Nägeln an den Händen,
Hörnern auf der Stirn, einer brennend rothen Nafe, zumeilen
auch mit einem diden Haarwulſt auf dem Kopfe; mit jchredlichem
Gebrüll ftürzt er fich auf die Bühne. Aber feine thatjächliche
Rolle widerjpricht dem entjegenerregenden Aeußern: es geht ihm
gewöhnlich herzlich Ichleht. Der Vice verhöhnt und veripottet ihn
auf das bitterfte; er ſpringt ihm auf den Rüden und prügelt
auf diejen los, oder er ſchlägt ihm mit jeiner Narrenpritiche auf
die Finger, angeblid um ihm jo die überlangen Nägel zu be
fchneiden. Oft enden die Teufelsizenen des Stüdes damit, daß
der Vice, auf dem Nüden des Teufels reitend, unter lautem
GSebrüll beider, von jeinem wüthenden Pferde Ddireft in den im
Hintergrunde der Bühne weit aufgeiperrten Höllenrachen galoppirend
hineingetragen wird. Die niedrige Komik Ddiefer Szenen, Die
beitändig wiederkehrenden Prügeleien entiprechen ganz dem rohen
Geihmad eines Zeitalters, das bei alledem doch nur 30—50
Jahre von den höchſten Gebilden dramatischer Dichtung überhaupt,
von Shafeipeare's Meiſterwerken, entfernt war.
64 Shakeſpeare's Narren und Klowns.
Manche komische Züge hat der Vice mit dem Teufel gemeinfam;
fie find alſo wohl einfady von dieſem auf jenen übertragen worden.
Co unter anderem, dab er unter lautem Schreien, und mit dem
ftehenden Rufe „Hoho!“ die Bühne betritt. Durch Fratzenſchneiden
fuht er ganz nach der Art der heutigen Zirkusflowns die Auf:
merfjamfeit der Zuschauer von den anderen Daritellern auf ſich
abzulenfen. Die immer größere Annäherung des Vice an den
Hanswurſt führte Ichließlich zu einem Verſchmelzen beider zu einem
einheitlihen Typus. Indem der Vice die Tracht des damaligen
Hausnarren übernahm, welche wenigitens jeit den Zeiten Wilhelms
des Eroberers, vielleiht nod früher, aud in England zu einer
ftehenden gejellihaftlihen Einrichtung geworden waren, zeigt ſich
uns jene Verjchmelzung auch rein äußerlih. Der Vice tritt ebenjo
wie der Hausnarr, und noch heute der Zirkusflown, der leßte
entartete, aus dem Theater verbannte Abfömmling dieſes alten
Topengeichlechts, in einem aus bunten Lappen zujammengeflidten
Narrenfoftüm auf, mit einem hölzernen Dolch, der jogenannten
Narrenpritiche, bewaffnet.
Die dem Vice innewohnende Lebenskraft offenbart ſich auch
darin, daß er nicht bei jeiner jchon von vornherein fFräftigen
Individualität ſtehen bleibt, jondern dieſe auch lebendig erweitert
und fortentwidelt, und zwar nicht nur, wie wir jchon geliehen,
durch Steigerung feiner fomiichen Züge, ſondern aud) nad) anderen
Richtungen. Er tritt nicht bloß unter jeinem gewöhnlichen Namen
vice (Lajter) auf, ſondern daneben auch unter vielen anderen
Namen: finnlidye Begierde (Sensual Appetite), Trägheit (Idleness),
Aufruhr (Sedition), blinder Zufall (Haphazard), Heucdelei (Hypo-
erisy); am häufigiten wird er, außer mit jeinem eigentlichen Haupt-
namen vice, „Nuchlofigfeit“ (Iniquity) genannt. Im zweiten
Theile des Fauſt, in der klaſſiſchen Walpurgisnadht, läßt Goethe
den Diephiftopheles, nad) feinem Namen gefragt, zur Antwort
geben:
Mit vielen Namen glaubt man mic zu nennen —
Sind Briten bier? Sie reifen jonit jo viel,
Schlachtfeldern nachzuſpüren, Mafferfällen,
Geſtürzten Mauern, klaſſiſch dumpfen Stellen;
Das wäre hier für ſie ein würdig Ziel.
Sie zeugten auch: im alten Bühnenipiel
Sah man mid) dort al$ old Iniquity.
Shafeipeare’8 Narren und Klowns 65
Dies beruht eigentlih auf einem Mißverſtändniß, einer
Vermechlelung des Teufels mit dem Vice, dem allein die Ber
zeichnung „Iniquity“ zufommt. Bei jenen verjchiedenen Bezeich-
nungen weiſt uns der häufige Zujab „the vice“, da mir es
auch wirklich mit diejem jelbjt zu thun haben, der alſo gleichſam
unter verichiedenen Masken, die aber bloße Unterart oder Schat:
tirungen ein-undsderjelben Rolle find, auftritt. Wir bemerfen
auch bier und da mehr oder meniger gelungene Verſuche, im
einzelnen Kalle den allgemeinen Bice-Charafter den Anforderungen
feiner bejonderen Rolle anzupaſſen, alfo weitere Spuren einer
immer fortichreitenden Individualifirung.
"Zu Shalejpeare’s Zeit war aud) der Vice, troß jeiner lang
andauernden Beliebtheit, ſchon veraltet, und durd die Typen des
Narren und des Klowus erjeßt, die ſich inzwiſchen aus ihm
entwidelt hatten. Dem höheren fünjtleriihen Standpunkt Shafe-
ſpeare's und der anderen bedeutenden Dramatifer jener Zeit konnte
bie rohe Komik des Vice nicht mehr genügen; fie rangen ſich zu
reineren ebleren Ausdrudsformen des Humors empor. Daß aber
der Vice im Volfsbewußtiein noch immer lebendig war, bemeilen
u. U. die zahlreichen Anjpielungen in Shakeſpeare's Dramen auf
ihn. In „Heinrich IV,” Theil 1, Akt II, 4, nennt Prinz Heinrich
ben Falſtaff „that reverend vice, that grey iniquity“ (in der
Schlegel-Tiedichen Ueberſetzung: „ehrwürdiges Lalter, graue Rudy
(ofigfeit”). Im zweiten Theil dejlelben Dramas, Aft IIL, 2,
wird der Friedensrichter Schaal von Faljtaff mit der hölzernen
Narrenpritihe des Vice verglichen: „Und nun iſt diefe Narren:
pritſche (this vice’s dagger) ein Öutsbefiger geworden.” In
Richard III, Akt III, 1, vergleicht der Titelheld ſich jelbit wegen
feiner Doppelzüngigfeit mit dem ehemaligen*) Bice:
Thus, like the formal vice, Iniquity,
I moralize two meanings in one word.
(Sp, wie im Faſtnachtſpiel die Sündlichkeit,
Deut’ ich zwei Meinungen aus einem Wort.”)
Im „Hamlet,“ Akt IIL, 4, nennt Hamlet den König Klaudius
„a vice of kings ... a king of shreds and patches“ („einen
Hanswurſt von König ... einen geflidten Zumpenfönig”). In
*) Das Beimort „chemalig” (formal) beweift Mar, daß Shafeipcare und
feine Zeit den Vice bereit als eine veraltete Figur empfunden haben.
66 Shafefpeare’8 Narren und Klowns.
diefem legten Beifpiel wird „vice“ ſchon völlig gleichbedeutend
mit „Hanswurſt“ gebraucht; außerdem wird auf die bunte Narren:
trat des Vice hingedeutet.
Mit dem Abſchluß diefer langen Einleitung, die aber zum
richtigen geſchichtlichen Verſtändniß von Shafeipeare's Narren und
Klomns durchaus nothmendig ift, find wir nun bei unſerem
eigentlichen Thema angelangt.
Narren und Klomns find häufig mit einander vermechielt
worden. In ber fpäteren Zeit find die Unterjchiede zwiſchen beiden
in der That verwiſcht; bei Shafefpeare werden aber beide Be
zeichnungen im Allgemeinen noch jtreng auseinandergehalten. Der
weſentliche Unterfchied zwiſchen einem Narren und einem Klomn
beiteht zu Shakeſpeare's Zeit in Folgendem: der Narr iſt ein
berufsmäßiger Spaßmacher, feine Komik iſt alfo durchaus frei-
millia, bewußt, beabfichtigt; der Klomn hingegen ift ein plumper
und unmilfender Tölpel, meift aus dem Bauernftande, ober
überhaupt ein Vertreter der niederen Volfsichichten, feine Komik
tft mehr oder weniger unfreiwillig, unbewußt, unbeabfichtigt. Zmar
finden ſich Verwechſelungen beider Bezeichnungen aud in Shake:
ſpeare's Perfonenverzeichnifien zu den einzelnen Stüden: in „Mas
ihr wollt“ wird 3. B. Feſte, der Hausnarr der Gräfin Olivia,
fälſchlich ein Klown genannt; aber dieſe Perſonenverzeichniſſe rühren
nicht von Shakeſpeare's eigener Hand her, ſondern find erſt 1623,
fieben Jahre nad) jeinem Tode, in der erjten großen Folioausgabe
feiner Werfe nachträglich hinzugefügt worden. Daß Shakeſpeare
jelbit den Unterfchied zwiſchen Narr und Klown jehr wohl empfunden
hat, geht u. U. aus einer Stelle in „Wie es euch gefällt,”
Akt V, 1, hervor, wo der Narr Probjtein von und zu dem die
Rolle des Klomns innehabenden Bauernburihen Wilhelm jagt:
„it is meat and drink to me to see a clown,“ unb:
„Therefore, you clown, abandon ... the society ... of this
female“ *).
Julius Thümmel hat in jeinem Bude: „Shakeſpeare—
*) In der im Uebrigen umübertrefflichen deutichen Ueberjegung von Schlegel
und Tief lautet diefe Stelle: „Es iſt mir ein mahres Labſal, jo einen Tölpel
zu jehen... Alſo, ihr Tölpel, meidet ... den Umgang ... diefer Frauensperſon.“
Indem „clown“ bier dur „Zölpel” micdergegeben wird, tritt der Unterſchied
zwiichen Narr und Klown weit weniger fcharf hervor, ald im englifchen Original.
Shakeſpe axe's Narren und Klowns. 67
Charaktere,” 2 Bände, Halle 1887, auch Shakeſpeare's Narren
und Klowns je ein Kapitel gewidmet. Er behandelt den Stoff
nur nah äjthetiichen, nicht nach geichichtlihen Gefichtspunften.
Das Buch ift Sehr flott und anziehend geichrieben. Ein großer
Mebelftand ift aber, neben der ungenügenden litteraturgeichichtlichen
Auffaſſung, die bedenkliche Neigung des Verfaſſers zum Schema:
tifiren, mobei er fich gelegentlich nicht fcheut, der einen oder der
anderen Geftalt, die fich nicht ohne Weiteres in das fertige Schema
fügen mill, eine äfthetiihe Zwangsjacke anzulegen.
Der Narr heißt bei Shafeipeare, ebenſo auch noch im heutigen
Enalifh, „fool“, ein Wort, das dem franzöfiichen fou. em. folle
entipricht, welches wieder aus dem mittellateinifchen follis ent:
ftanden iſt. Als Geftalt im Drama vereinigt der Narr zmei
verschiedene Elemente in fih: er ift theils eine Fortſetzung bes
alten bramatiihen Vice-Typus, der fid rein litteraturgejchichtlich,
ganz losgelöft vom wirklichen Leben, entwidelt hatte; theils ift er
aber auch dem unmittelbaren Leben entnommen, indem man eine
damals zahlreich vertretene Gejtalt, den Hausnarren, aus dem
Leben auf die Bühne verpflanzte. Als Lebertragung des Haus:
narren ins Drama ift der Narr typiicher Vertreter eines einzelnen
beitimmten Berufes; der Klown hingegen ijt ein Typus von viel
größerem Umfange, indem er nicht einen einzelnen Beruf, fondern
die niederen Volföflaffen überhaupt in ihrer Berührung mit ben
oberen, typiſch vertritt. Menn mir den Berufstypus als eine
Unterart des Standes: oder Klaſſentypus anjehen, fo ift der Narr
Berufstypus, der Klown Klaſſentypus.
In feiner gejellfchaftlichen Stellung war der Hausnarr weiter
nichts als ein Bedienter niederen Ranges; bejonders während der
Dtahlzeiten fiel ihm die Aufgabe zu, die Tiſchgenoſſen durch feine
Späke zu erheitern. Damals gab es in England berufsmäßige
Narren nicht nur am föniglihen Hofe und in den Schlöflern der
abligen Herren, ſondern aud die reicheren Bürger hielten fich, die
Sitten des Adels, mie noch heutzutage, nachahmend, ihre Haus:
narren. Bei den öffentlichen Luftbarfeiten, die die einzelnen Städte
an beftimmten Tagen veranftalteten, war der berufsmäßige Spaß—
mader zu einer ftehenden Einridtung geworden. Auch in ben
Wirthshäufern wurden Narren von Beruf gehalten, die die Gäſte
mit ihren natürlich nicht jehr feinen Späßen zu unterhalten Beten
68 Shakeſpeare'g Narren und Alorons.
Und endlih finden wir auch Narren in den öffentlichen Häufern
der Unzucht, die das dreifache Amt von Kupplern, Dienern ihrer
Dirnen und Spaßmachern für deren Kundſchaft in fich vereinten.
So bildete auch jogar das Narrenthum damals eine lange foziale
Stüfenleiter, vom föniglihen Hofnarren bis herab zum Diener
der gewerbsmähigen Unzucht, und den verſchiedenen Sproflen diejer
Stufenleiter entipradhen alle Abjtufungen der Komik vom feinen
geiftreihen blendenden Witze bis herab zu ben roheiten und
gemeiniten Späßen.
Aber auch in feiner vornehmiten Geftaltungsform, als
fönigliher Hofnarr, genoß der Narr ein vecht geringes geſell—
Ichaftliches Aniehen. Sein Amt bradıte es mit fih, daß er nicht
nur jehr geringichätig behandelt wurde, fondern gelegentlich auch
die Peitiche zu fühlen befam. Freilich war eine Tracht Prügel
das Schlimmite, was einem folden Narren begegnen Fonnte;
dafür durfte er aud) feiner Zunge die Zügel frei ſchießen laflen,
und aud die höchſten Perſonen, ja den König ſelbſt, mit fcharfem
MWige geikeln. Zumeilen ift der Hohn und Spott, mit dem ber
Narr feinen foniglichen Gebieter überjchüttet, jo bitter und ſchneidend,
daß er jedem anderen Unterthan außer gerade dem Narren, der
allein völlige Nedefreiheit befigt, unfehlbar den Kopf gefojtet hätte.
Alle dieje Verhältniſſe jpiegeln jih auch in Shafejpeare's Dramen
wieder. Shaleſpeare hat den Narrentypus in ethiſcher Dinficht
bedeutend vertieft und veredelt, indem er die unbegrenzte Rede—
freiheit des Hof: und Hausnarren dazu verwerthete, dem Narren
im Drama eine hohe jittliche Aufgabe zuzumeilen: unter allen
Umjtänden und rüdjichtslos einem jeden Menichen die Wahrheit
ins Geficht zu jagen. Dieje unbedingte Wahrheitsliebe des Narren
bei Shafejpeare macht ſich in der Hülle des Wiges und der Ironie
geltend.
Eigentlihe Hof: und Hausnarren fommen nur in fünf von
Shafeipeare’s Stüden vor: in „König Year,“ „Ende gut, alles
gut,“ „Wie es euch gefällt,” „Was ihr wollt“ und „Othello.“
Der Narr im „König Year” iſt ein föniglicher Hofnarr; die
übrigen find Dausnarren in vornehmen Häufern. Aber auch die
unterfte Schicht des Narrenthums ijt in drei von Shafeipeare's
Dramen vertreten: Narren als Diener in öffentlihen Häufern
begegnen in „Zimon von Athen,” „Map für Maß” und „Perikles“.
Shakeſpeare's Narren und Klowns. 69
Trinfulo im „Sturm,“ der im PBerfonenverzeihnig als Spaßmacher
bezeichnet wird, gehört wohl auch zu den berufsmäßigen Narren;
wir haben ihn vielleicht als eine Art Wirthshausnarr zu betrachten.
Wie volfsthümlic das NarrenthHum in jener Zeit war, wie
feit es im Leben des Volkes wurzelte, das bezeugen uns die zahl:
reihen Sammlungen wigiger Nusjprüde, die den berühmtejten
Narren ihrer Zeit zugejchrieben wurden. Neue Witzworte gingen
gleid; nad) ihrer Prägung von Mund zu Munde durch das ganze
Land; indem irgend ein unternehmungslujtiger Dann, ber den
Geſchmack des Lejepublifums wohl kannte, fie dann jammelte und
in Buchform veröffentlichte, entriß er fie der Vergeſſenheit.
Gewöhnlich ſuchte man ſich als Hausnarren Leute von auf:
fallendem Körperbau aus; bejonders Zwerge wurden gen zu
diefjem Amte angeworben. Die Tradt des Hausnarren war
ähnlich der des Vice, die wir ſchon oben beichrieben haben: in
Shafejpeare’s Dramen trägt der Narr einen langen bunten aus
verjchiedenfarbigen Xappen zujammengeflidten Rod mit gelbem
Bejag; auf feiner Narrenfappe war ein mit Scellen verjehener
Hahnenkamm und Dahnenfopf befeitigt. Cr war, ebenjo wie der
Vice, mit der ſchon mehrfach erwähnten Narrenpritjche bewaffnet;
ferner trug er mit ſich eine Dandtrommel und einen Narren:
folben, nämlid einen tod mit einem aus Holz gejchnittenen
Menſchenkopfe daran. Er pflegte halb ſinnloſe Lieder zu impro—
vifiren, Die er unter grotesfen Sprüngen vortrug. Mit einem
jolden Liede bejchließt 3. B. der Narr Seite in „Was ihr wollt“
das Stüd:
Und als id cin winzig Bübchen war,
Hop heila, bei Regen und Wind!
Da madten zwei nur eben ein Paar;
Denn der Kegen, der regnet jeglichen Tag.
Eine wichtige Rolle jpielte der Narr in England am eriten
Mai, dem Maitag, an den fi noch in der Gegenwart allerlei
uralte WBolfsgebräude und WBolfsfeiern fnüpfen. Am Worgen
diejes Tages durchzog eine buntgefleidete Schaar in grotesf:
fomiihem Aufzuge die Straßen der engliihen Städte, den
„Mohrentanz“ tanzend, wobei der in einem Stedenpferde ſteckende,
diejes jcheinbar reitende Narr eine jtehende Figur bildete. Auch
zur Pfingſtzeit war es üblid, den Mohrentanz zu tanzen. Auf
70 Shafefpeare’8 Narren und Klowns.
diefen Mohrentanz und das Weiten bes Stedenpferdes wird in
Shafelpeare’s Dramen häufig angeipielt.
Von den oben aufgezählten Hausnarren, die in Shale-
ſpeare's Stüden vorlommen, jpielt der Narr im „Dihello“ nur
eine jehr unbedeutende Rolle; er tritt nur in zwei Szenen vor:
übergehend auf, und Dabei iſt fein Auftreten für die Handlung
des Stüdes ganz bedeutungslos. In den übrigen der oben
genannten Stüde greift der Narr zwar aud niemals in den
Gang der Handlung jelbjtthätig ein; er it aber doch im einzelnen
Stüde eine der wichtigſten Perſonen. Er begleitet alles, was bie
andern thun, mit jeinem witzigen Spotte; er ijt ein fjcharfer
Kritiker, und um jo unbefangener, als er ja jelbjt an der Handlung
nicht betheiligt it. So mähert ſich jeine Rolle, wie Thümmel
richtig bemerkt, der des Chors im antifen Drama. Der Narr
Shafejpeare’s fieht ebenjo wie der antife Chor die übrigen Berjonen
im Stüde und deren Handlungen gleidyjam von oben herab an,
von der Wogelperipeftive des unbetheiligten Zuſchauers; aber ber
herbe tragiihe Ernſt des griechiichen Chores erjcheint in Shafe-
Ipeare’s Narren zum Frohlinn des Humors verklärt, freilid eines
Humors, der ſich nicht immer ausgelajlen und toll geberdet, fondern
mitunter auch „unter Thränen lächelt”; und die antife Vielheit
des Chores iſt im Narren Shafejpeare’s zu einer Einheit vereinfacht.
Vice und Narr tragen nit nur die gleiche Außenjeite der
Narrentradt; zwiſchen ihnen bejteht aud) eine mehr innerliche
Verwandtichaft, injofern beide dem gleichen Zweck der Beluftigung
des PBublifums dienten. Aus vielen Stellen der damaligen
dramatiſchen Dichtungen läßt ſich deutlich” nachweiſen, daß ber
Narr des Dramas einfah als eine Fortiegung des alten Vice
vom Bemwußtjein der Zeitgenojjen empfunden wurde. Und bod,
wie verjchieden jind die beiden von einander bei aller ihrer
Verwandtihaft. Unter der Königin Eliſabeth entwidelte ſich bie
engliiche Litteratur, ganz bejonders das Drama, aus nod jehr
unvolllommenen Anfängen zu gewaltiger Höhe; diefe Entwidelung
ging jo ungeheuer fchnell vor ſich, daß ſich ihr nidhts in der
Geſchichte irgend einer anderen Litteratur zur Seite jtellen läßt,
außer dem großartigen Fortjchritt der deutihen Litteratur im
achtzehnten Jahrhundert, die in einem ungefähr gleih langen
Zeitraum von Gottſched bis zu Goethe und Schiller emporitieg.
Shakeſpeare's Narren und Klowns. 71
Eine nothwendige Folge jenes riejenhaften Aufichwunges der
damaligen engliihen Xitteratur war es, daß die früheren vohen
und niedrigen, oft gemeinen Mittel ber Komik fi läuterten und
Härten. Der geijtreiche Narr Shakeſpeare's, der bie höchſte Blüthe
diejer Typusgattung, den Gipfel ihrer Entwidelung in der Litteratur
überhaupt Ddarjtellt, veranfhaulicht uns, verglichen mit dem nur
etwa 50 Jahre älteren Vice, jenen Aufihwung flar und deutlich:
er iſt der woblerzogene feingebildete Sohn eines rohen und
ungebildeten Vaters.
Im Gegenjag zum Vice, deſſen Komif zum großen Theil
bandgreifliher Art it, dient dem Narren Shafeipeare’s als Haupt:
mittel der Komik der Wig, der ſich meilt in das Gewand des
Wortſpiels kleidet. Auch die anderen Perjonen in Shafejpeare’s
Dramen wenden das Wortjpiel gern und oft an; der Narr aber
ihwelgt geradezu darin; das Worjpiel gehört gleihlam zu dem
ihm unentbehrliden Handwerkszeuge. Auch Shakejpeare zeigt ſich
darin als ein echtes Kind jeiner Zeit, daß er der damaligen
Vorliebe für Wortipiele veihlid, zuweilen, für unjeren heutigen
Geihmad, allzu reichlich huldigt; oft jchwirren die Wortipiele bei
ihm durcheinander, eines jagt das andere, und der Xejer oder
Zuihauer fommt inmitten des Sprühregens von Wigesfunfen,
der unaufhörlih auf ihn herabitrömt, kaum recht zur Befinnung.
Und doch iſt Shafejpeare aud) auf dem Gebiete des MWortipiels
allen anderen zeitgenöjjiihen Dramendichtern weit überlegen: nicht
nur handhabt er es meijterlicher als fie alle, jondern er weiß es
auch jtets feinen höheren künſtleriſchen Zweden unterzuordnen und
dienjtbar zu machen. Wie bei allen anderen Gejtalten, jo dienen
ihm auch beim Narren Wig und MWortipiel zur Charakteriftit und
Individualifirung*). Durch den rein verftandesmäßigen, gemüth—
lofen Wortwig, der oft in Zynismus und Zotenreißen ausartet,
fennzeichnet Shafejpeare in „Ende gut, alles gut” in Lavatch,
dem Hausnarren der Gräfin von NRouffillon, den Franzoſen. Der
Narr im „König Lear“ iſt jein Gegenftüd: ein jchiwerblütiger
Engländer, ber nit, wie der Franzoſe Lavatch, leichtbeſchwingte
MWigespfeile abjchießt, die ihr Ziel nur oberflächlih rigen, jondern
gewichtige Bolzen, die jchwer verwunden. Die beiden Narren
*) Bgl. Wurth, Leopold, Das Wortipiel bei Shafejpeare. Wien und
Leipzig 1896.
72 Shaleipeare’8 Narren und Klowns.
Probſtein in „Wie es euch gefällt“ und Felte in „Was ihr
wollt” find ein gleichartiges Zwillingspaar, zwei ausgelaflene
Burjchen mit treffendem harmlofem Diutterwig. Der Sonnenidein
göttlihen Humors durdpleudhtet und erhellt beide Stüde aud in
den ernjteren Szenen. Beſonders „Was ihr wollt,“ diejes liebens-
würdigjte aller Lujtipiele, it für jeden Freund gejunden Humors
eine nie verfiegende Quelle der Erfriihung. Die Lebensweisheit
des lachenden Philojophen, dem Die ganze Welt jo pubelnärriich
ericheint, der mit dem milden Lächeln überlegenen Humors über
all die Thorheit dieſer Welt Hinwegfieht, dieſe heitere Lebens:
weisheit haben jene beiden Narren fi zu eigen gemadt. In
den Morten „der Narr hält ſich für weile, aber der Weiſe weiß,
daß er ein Narr iſt“ („Wie es euch gefällt,“ V, 1) liegt ber
Kern ihrer Weltanihauung. Ganz entipredhend der harmloſen
Eigenart dieſer beiden Narren, dienen Wig und MWortjpiel, mit
denen ihre Neden reichlidy geipidt ericheinen, ihnen bloß zum Zwecke
der Unterhaltung und Belujtigung.
Eine bejondere Art des Witzes, die Shafejpeare’s Narren
gern amwenden, iſt neben dem Mortipiel ihre Vorliebe für
unglaubliche paradore Behauptungen, die fie dann durch witzige
Trugichlüffe zu beweiſen juchen. Als Beijpiel diene folgendes
Geſpräch zwiſchen dem Narren Probſtein und dem Schäfer Korinnus
in „Wie es euch gefällt,“ III, 2:
Probitein. Warſt je am Hofe, Schäfer?
Koriunus. Nein, wahrhaftig nicht.
Probſtein. So wirt Du in der Hölle gebraten.
Korinnus. Ei, ich hoffe —
Probjtein. Wahrhaftig, Du mwirjt gebraten, wie ein jchlecht geröjtet Gi,
nur an einer Seite.
Korinnus Weil ich nit am Hofe geweien bin? Euren Grund!
Rrobjtein. Nun, wenn Du nicht am Hofe geweien bit, jo halt Du
niemals gute Sitten geliehen. Wenn Du niemals gute Sitten geliehen bajt, To
müfjen Deine ſchlecht jein, und alles Schlechte it Sünde, und Sünde führt in
die Holle. Du bift in einem verfänglihen Zuſtande, Schäfer.
Dieje ungereimte Beweisführung jteht mit der oben erwähnten
ethiichen Aufgabe des Narren, ein Prophet der Wahrheit zu jein,
nur jcheinbar im Widerjprud. Denn natürlich ijt eine ſolche
ſittliche Aufgabe nur da zu erfüllen, wo es eine ſittliche That iſt,
die Wahrheit, gekleidet in die Form tadelnden Spottes, zu jagen,
Shakeſpeare's Narren und Klowns. 73
die fein anderer zu fagen wagt. In vorliegendem Falle befinden
wir uns aber auf fittlich neutralem Boden; die Worte Probjteins
find ganz frei von irgend welcher bejtimmten Beziehung, „bloße
Seifenblajen des Humors,” wie Thünmel fie nennt. Auch der
wahrheitsliebende Menſch jagt zuweilen im Scherz eine Unmwahrheit,
um eine witzige Pointe zu erzielen.
Mitunter artet dieje Vorliebe des Narren für wigige Un:
gereimtheiten in direften Unfinn aus. Daß die Narren zuweilen
von ihnen ſelbſt improvifirte halb jinnloje Lieder jangen, wurbe
ihon erwähnt. Zu den Sinnlofigfeiten in Proſa gehört 3. B.
eine Stelle in „Was ihr wollt,“ II, 3, wo ber Narr Fejte zum
Junker Ehrijtoph von Bleihenwang jaat: „Ich habe Dein Präjent
in den Sad gejtedt, denn Malvolios Naſe it fein Beitjchenitiel;
mein Fräulein hat eine weiße Hand, und die Diyrmidonier find
feine Bierhäufer.” Hier finft der Humor zur tollen Ausgelaffenheit
komiſchen Blödfinns hinab.
Eine allen Hausnarren Shafejpeare’s gemeinjame Eigenſchaft
ift ihre rührende Treue und Ergebenheit gegen ihre Herren. Im
„König Lear“ wirft diefe Treue des Narren, der mit Kent allein
bei jeinem Herrn ausharrt, als dieſer in jein namenlojes Unglüd
jtürzt, um jo ergreifender, gerade weil es ein Narr ift, ber jeinem
Herrn dieſe Treue erweilt. Der Humor diejes Narren erjcheint
uns, im Gegenſatz zu all der liebenswürdig heiteren Narrheit
eines Probjtein oder Feſte, in die düjtere Stimmung getaud)t, die
das ganze Stüd jo reichlich durdtränft. Beim Narren im „König
Lear“ ift, auf Kojten der vein äußeren Komik, der fittlihe Kern
des Narrenthums jo jehr gejteigert, daß wir wohl jagen fünnen,
der Narrentypus ſei hier in diejer Gejtalt auf die höchite fittliche
Höhe gebracht, auf die er überhaupt gebracht werden fann. Freilich
iſt Year’s Narr ein Narr nur nad jeinem äußeren Sewande:
jeine Redeweiſe Heidet fih in die Formen des Narrenthums; aber
im Grunde ijt er ein tiefjinniger Philoſoph, und der geiftreichite
und weiſeſte Kopf im ganzen Stüde. Es gehört zu deſſen bitterer
Ironie, nit nur, dab fajt allein der Narr jeinem Könige die
Treue hält, jondern daß die Weisheit hier überhaupt im Narren:
gewande einhergeht, und über die wahre Narrheit jpottet, die das
Kleid der Weisheit trägt und fid) weije dünkt. Freilich läht die
gedanfenjchwere gallige Art des Humors, die diejer Narr vertritt,
74 Shakeſpeare's Narren und Klowns.
eine rechte Lachluft nicht auffommen. Die Komik feines geijtreichen
MWiges wirft nur tragiſch; fie erhöht jo die muchtige tragijche
Geſammtwirkung des Stüdes, jtatt fie zu mildern. Der Narr
entfernt ſich bier jo ſehr von der berufsmäßigen Komik jeines
Standes, daß er nad jeinem inneren Wejen, nit aber nad
feiner äußeren Hülle, faum noch als Narr angejehen werden fann.
Trotzdem ift diefer Narr, eben wegen der fittlihen Höhe, auf ber
er jteht, und wegen feines gedankenreichen, inhaltsſchweren Wiges,
unftreitig der bedeutendite Vertreter Diejes Typus überhaupt in
allen Litteraturen. Wie Falftaff der bedeutendjte Prahlhans aller
Litteraturen ift, jo hat Shafejpeare in diefem Narren den Gipfel
der Entwidelung, ja der Entmwidelungsfähigfeit des Narrentypus
überhaupt erreidt.
Denn, troß aller Individualifirung und unterjcheidenden
Charafterijtif, die Shafeipeare mit jo großer Meijterichaft an-
wendet, etwas Starres, Maskenartiges behält der Narrentypus
aud) unter den Händen Diejes größten Charakterzeichners. Jedenfalls
hat Shakeſpeare auch hier in der Yndividualifirung das Höchſte
geleitet, was überhaupt zu leilten war; wenn troßdem aud)
Shafeipeare’s Warren, bei all ihren Werjchiedenheiten unter
einander und ihrer mannigfaltigen Gliederung, uns jo wenig
individuell, jo typiſch jtarr erjcheinen, jo liegt die Schuld offenbar
nicht am Künftler, fondern am Stoffe ſelbſt. Daß der Narr nur
unbetheiligter Zuſchauer im Stüde ij, daß er immer in jeiner
gleichartigen Narrentracht auftritt, daß fein perjönlider Charafter,
das rein menjchlid Individuelle in ihm jtets Hinter der berufs-
mäßigen Komik jeines Narrenthums zurüdtreten muß, alles das
verhindert eine weitere Jndividualijirung. Auch der heutige Zirkus:
klown erjcheint uns ja als ein eritarrter, fejtitehender Typus,
deſſen perjönliche individuelle Eigenfchaften und Verhältniſſe völlig
hinter ſeiner typiſchen Maske verborgen bleiben und den Zirfus:
bejucher ebenjo wenig fümmern, wie zu Shakeſpeare's Zeit bie
Individualität des einzelnen Hausnarren deſſen Hausgenoſſen,
denen er weiter nichts war als ein Werkzeug der Belujtigung.
Die drei Narren, die als Diener in öffentlihen Häufern
vorgeführt werben: der nit benannte Narr in „Timon von
Athen“, Bompejus, Diener und zugleich Bierzapfer der Frau
Veberley in „Maß für Maß,” und Bolzen (Boult), der Diener
Shakeſpeare's Narren und Klowns. 75
eines Kupplers in „Perikles,“ find, ebenjo wie der Spakmader
Trinfulo im „Sturm“, als Spaßmacher niederen Ranges
harafterifirt. Sie gehören als berufsmäßige Spaßmader zu den
Narren, bilden aber, da fie zugleich Vertreter der unteren Volks—
ſchichten und aud als ſolche gekennzeichnet find, den Uebergang
zu ben Klowns. Trinfulo ijt ein naher Geiltesverwandter bes
Trunfenboldes Stephano in demielben Stüde, der unzweifelhaft
zu ben Klowns zu rechnen ijt. Natürlich find befonders die Späße
der drei erjtgenannten Diener der gewerbsmäßigen Unzucht nicht
gerade von der feiniten Art; doch hat Shafeipeare bie jedenfalls
unglaublide Rohheit und Gemeinheit ihrer Urbilder im wirklichen
Leben mit feinem fünftleriihen Taft foweit gemildert, als es
möglih war, ohne den realen Boden unter den Füßen zu verlieren.
Thümmel madt in treffender Weije darauf aufmerfjam, daß die
ethiihe Aufgabe des Narrentyums jelbft bei dieſer feiner ver:
fommenen Abart noch erfennbar it, indem 3. B. der Narr im
„Zimon“ das Treiben jeiner Herrin mit ſcharfem Spotte geißelt.
Die eben beiprochenen Gejtalten bilden, wie wir gejehen
haben, eine Brüde zu den Klowns, zu denen wir nun übergehen.
Das engliihe Wort „elown* iſt vom mittellateinijchen colonus
— Landmann, Bauer, abgeleitet. Shafeipeare braudt das Wort
auch nody in doppelter Bedeutung, jowohl in urjprünglidem Sinne
für „Bauer“ als aud in dem daraus hervorgegangenen für
„Zölpel, Rüpel.“ Dieje beiden Bedeutungen find aber jo eng
mit einander verquidt, daß es im einzelnen Falle jchwer it, fie
auseinanderzubalten. Die Ueberjegung von Schlegel und Tied
giebt „elown“ bald durch „Rüpel“ bald durch „Bauer“ wieder;
legteres 3. B. in den Werfonenverzeichnifien von „Liebes Xeid
und Luft” (Schädel), „Titus Andronifus“ und „Antonius und
Kleopatra.”
MWejentlichjtes Merkmal des Klown im Gegenjag zum Narren
iit das ZTölpelhafte, Naturwüchlige. Die niederen Stände waren
damals von den höheren durch eine viel tiefere Kluft gejchieden
als in unjeren Tagen. Die Litteratur war durchaus arijtofratijch;
die unteren Volksklaſſen famen nur ſoweit in Betradt, als fie
mit den oberen in Berührung traten. Dies geihah freilidy nicht
anders, als indem die Vertreter ber erjteren fih, vom damaligen
allein maßgebenden ariftofratiihen Standpunkte aus, lächerlich
16 Shaleſpeare's Narren und Klowns.
madten. Tüppiiches Weſen und Naivetät, mit einer größeren ober
fleineren Zuthat von geſundem Mutterwige, jind aud nod in
unferer Zeit die Merkmale des Bauern, wenn er vom Lande in
die Sroßjtadt kommt und hier mit dem feinen blafirten Stäbter
zujammentrifft. Dieſe typiſchen Bauerneigenſchaften traten zu
Shafeipeare’s Zeit natürlid) noch viel jtärfer hervor als jegt; und
nicht nur dies, viel größere Kreiſe der Gejellichaft jtanden Damals
in fozialer Beziehung und in ihrem Bildungsgrade mit dem
Bauernthum auf aleiher Stufe. Ein jelbjtändiges unabhängiges
Bürgertum begann ſich ja eben erjt in einigen jeiner Schichten
als wichtiger Faktor im gejellihaftlihen und Staatsleben neben
dem Adel geltend zu maden. Die große Mafle des Bürgerthums
hatte jih noch nicht vom Bauernthum als bejonderer Stand los—
gelöft. So umfahte der Begriff „elown“ im ſechzehnten Jahr:
hundert viel mehr als unjer heutiger Begriff „Bauer.“ Nicht
nur die Bauern jchlehthin und die meilten Bürger, darunter
bejonders die Handwerker und die Vertreter der hohen Polizei,
die Büttel und Gerichtsdiener*) gehörten zu den Klowns, jondern
jelbft die unterfte Stufe des Adels, ländliche Friedensrichter und
Zandjunfer.
Wie jehr Shafeipeare in den arijtofratiihen Anjchauungen
feiner Zeit befangen war, lehren uns befonders die Szenen, mo
er ganze Maſſen niederen Volkes mit den höheren Ständen feindlich
zulammenftoßen läßt: im „Koriolan“ und im zweiten Theil von
„Heinrich VI“, wo er den Aufitand des Jark Cade und feiner
Anhänger jchildert. Lleberall geradezu eine Verachtung des gemeinen,
niedrigen Pöbels, nirgends, was uns heute jo ſelbverſtändlich
ericheint, ein Verſtändniß für Soziale Verhältniffe, obwohl doch
hauptſächlich ſoziale Urſachen ſowohl dem Kampfe der Batrizier
mit den Plebejern im „Soriolan”, als auch dem Aufſtande des
Cade zu Grunde lagen. Ich ſpreche deshalb natürlich Shafejpeare
feinen Tadel aus, jondern führe dies nur als carakteriftiich für
ihn und die damalige Zeit überhaupt an; im übrigen büte ich
mid) wohl, einen modernen Maßſtab an Verhältniffe der Ber:
*) Die Polizei, die jo gern der Bühnendichtung und dem Theater Feſſeln
anlegt, ipielte überhaupt im damaligen Trama fajt immer eine recht traurige
Holle. Durch Karikirung ihrer Vertreter rächten jich die — Be au
die Umnbilden, die fie von der Polizei erdulden mußten.
Shakeſpeare's Narren und Klowns. 17
gangenheit anzulegen, und ihren Werth oder Unmwerth nad) fol
einem modernen Maßitabe zu meilen.
Da der Klomn in Shakeſpeare's Dramen, ald Vertreter der
unteren Gejellihaftsichichten überhaupt, eine ganze Stufenleiter
vom Bauernfnecht bis herauf zum Zandjunfer umfaßt, iſt feine
Ausgeitaltung im einzelnen auch viel mannigfaltiger als die des
Narren. Ns Typen einer ganzen Gejellichaftsflafie find die
Klowns ebenjo vielfältig gegliedert, wie Diele Gelellichaftsflaiie
ſelbſt. Bei diefer jo vielgeitaltigen Gliederung trägt der Klown
natürlich nicht, wie der Narr, eine bejtimmte feititehende Tradıt.
Der Klown als folcher befigt überhaupt feine äußeren Kennzeichen.
Inwiefern dürfen wir bei alledem auch ihn als einen Sprößling
des Vice betrachten?
Vom Vice erhielt der Klown als Hauptvermächtniß die niedere
Komif, die fich bei feinem Vetter, dem Narren, wenigſtens in deſſen
höheren Spielarten, zur höheren Komik geijtreihen Witzes und
bemußten Wortipiels gefteigert hat. Der Zujammenhang des
Klowns mit dem Vice tritt zwar außerlic nicht jo klar hervor,
wie beim Narren, ijt aber doch unzmweifelhaft. Er offenbart fich
vor allem darin, daß beide, Nice und Klown, den gleichen
fünftleriihen Zwed haben, nämlich als luftige Perfon zu dienen.
Der Klown iſt alfo aud, ebenio wie der Narr, von vornherein
zum Träger der Komik bejtimmt; nur ijt feine Komif von anderer
Art als die des Narren.
Die Komik des Klowns ift, wie ſchon betont wurde, eben
wegen feiner Tölpelhaftigfeit unfreiwillig, oder im beiten Kalle
theilmeije freiwillig, je nad) dem größeren oder geringeren Grad
von Bauernpfiffigfeit, die er mit feinem tölpelhaften Weſen vers
bindet. So ijt er nicht, wie der Narr, hauptſächlich Schüße,
jondern, weit öfter, bloße Zielicheibe im Witzgefechte.
Wenn mir die zahlreichen Klowns Shakeſpeare's nad) ihren
verfchiedenen Arten einzutheilen verjuchen, jo jcheint auf den erjten
Blid die Eintheilung nad) ihren Berufsarten am nädhiten zu
liegen. Dabei würden aber manche geiftesverwandte Gejtalten
getrennt, andere, die auf verfchiedener geiltiger Stufe jtehen, in
einer Abtheilung vereinigt werden. Thümmel ftellt einen beſſeren
Eintheilungsgrund auf, indem er fie nach dem geringeren oder
größeren Maß von Schlauheit gliedert, über das fie verfügen.
78 Shafefpeare'8 Narren und Klowns.
einer Eintheilung ſelbſt fann ich mich aber nur theilmeife
anichließen. Es jcheint mir am beiten, die Klowns zu fondern in
1) Rüpel und 2) Mifchlinge von Einfalt und Witz, ober, je
nachdem, von Wig und Einfalt.
Mir fehen unter den Klowns alle Abitufungen des Veritandes
vom Stumpffinn bis zu pfiffiger Geriebenheit vertreten. Die
Rüpel find geiltig völlig wehrlos, bloße Zielicheiben des Witzes
für andere; die Komif der zweiten Gruppe von Klowns ift zwar
auch meiſt von paffiver Art; je nah dem Witz, mit dem fie
begabt find, wiſſen fie ſich aber auch gelegentlich, mit geringerem
oder größerem Geichid, zu mehren, indem fie den Spieß umdrehen
und auf ihren Angreifer einen Gegenangriff maden. In folchen
Fällen nähert ſich ihre aftive Komik der der Narren. Ihr Klown—
charafter verleugnet fi aber doch nicht; bei all ihrem Witze
blidt doch immer mieder „die bäueriſche Cinfalt des Natur:
burſchen“ durch.
Betrachten wir zunächſt die große Schaar der Rüpel. Die
hierher gehörenden Bauern in „Titus Andronikus“ und in
„Antonius und Kleopatra“ verdienen wegen ihres ganz flüchtigen
Auftretens faum eine Erwähnung; wohl aber ber ftumpffinnige
Bauernburfhe Wilhelm in „Wie es euch gefällt,“ für Probfteins
ig ein willlommenes Opfer; der Bauer Schädel in „Liebes Leib
und Luft”; die beiden Schäfer, Bater und Sohn, im „Winter:
märden”; Falſtaffs lächerlich - traurige Nefruten Schimmelig,
Schatte, Warze, Shwädhlih und Bullenfalb im zmeiten
Theil von Heinrih IV”; die beiden Kärrner im erjten Theil
deſſelben Stüdes; der ewig betrunfene Kellner Stephano im
„Sturm,“ der, wie jein Gefährte, der Spaßmacher Trinfulo,
feinen an ſich ſchon nicht ſehr bedeutenden Vorrath an Verjtand
bis auf einen ganz Fleinen Reſt verjoffen hat. Vor allem gehören
hierher jene Mufterrüpel, jene unübertrefflihen Ideale der Rüpel:
baftigfeit, wenn der Ausdrud erlaubt ift, der Weber Zettel und
feine Genojjen, im „Sommernadtstraum.“ Dann die Vertreter
von Polizei und Gericht: die Gerichtsdiener Klaue und Schlinge
im zmeiten Theil von „Heinrich IV.“, Dumm in „Liebes Leid
und Luft,“ Elbogen in „Maß für Maß,“ und, als gelungenite
Vertreter dieſer Abart, das mürdige Paar Holzapfel und
Scleewein in „Biel Lärm um Nichts.” Dann die ländlichen
Shakeſpeare's Narren und Klowns. 79
Sriedensrihter Schaal („Heinrich IV.“, Theil IL, und „Luftige
Weiber“) und Stille („Seinrih IV,“ Theil II). Endlich, als
Abſchluß diefer ganzen langen Reihe die Landjunfer Shaum in
„Maß für Maß,“ Schmädtig in den „Luftigen Weibern“, und
als Krone biejer Abart der Junker Ehriltoph von Bleihenmwang
in „Was ihr wollt,” ein Dummkopf erfter Güte.
Gemeinfame Merkmale aller dieſer Rüpel find: ein uner-
fchütterliches Gelbitvertrauen und Selbſtbewußtſein; ſie ahnen
garnicht, mie lächerlich fie ericheinen, was ihre Lächerlichfeit nur
um fo mirffamer erhöht. Ferner: ihre Handlungen jtehen ſtets
im Widerſpruch zu ihren Abfichten,; fie erreichen immer das
Gegentheil von dem, mas fie eigentlich erreichen wollen, weil fie
in Folge ihrer Tölpelhaftigkeit ftets verkehrte Mittel anwenden,
um zu ihrem Zmede zu gelangen. Holzapfel ftellt, wie er glaubt,
ein äußerft jchlaues Verhör mit den Spigbuben an, die ihm vor:
geführt werden, verwirrt aber durd fein Rieſenungeſchick die ganz
einfache Sadjlage immer mehr, jtatt fie Harzuftellen. Die Rüpel
im „Sommernadhtstraum” mollen eine tieftraurige Tragödie auf:
führen, daraus wird, gegen ihren Willen nicht nur, jondern ohne
daß fie es überhaupt merken, eine Poſſe von unmiberjtehlicher
Komif. So ift diefe Handwerferaufführung zwar nicht die feinfte,
wohl aber die fräftigjte und wirkſamſte Satire auf das Pfuſcherthum
in der Kunft, die je gefchrieben worden ift.
Der Widerſpruch zwifhen Abfiht und Ausführung zeigt ſich
nicht nur in den Handlungen, fondern aud in den Worten der
Rüpel. Sie wollen ſich gewählt und fein ausdrüden und gebrauchen
daher jeltene oder Fremdwörter, aber meilt jo verkehrt, daß fie
gerade das Gegentheil von dem jagen, mas fie eigentlid jagen
wollten. Als Beilpiel diene das Geſpräch zwiſchen dem Spigbuben
Konrad und dem Gerichtsdiener Holzapfel in „Viel Lärm um
Nichts,” Alt IV, 2:
Konrad. Fort! ihr feid cin Ejel, ihr ſeid ein Eiel.
Holzapfel. Deipektirft du denn mein Amt nit? Deipeftirft du
denn meine Jahre nicht? Wär’ er (der Gerichtichreiber) doch noch hier, daß er
es aufichreiben lönnte, daß ich ein Ejel bin! Aber ihr Yeute, vergeht mirs nicht,
daß ich ein Ejel bin; wenns aud nicht aufgefchrieben wird, erinnert euch ja,
daß ich ein Eſel bin. Mein, du Spitbube, du jitedit voller Moralität, das
fann ich dir durch zuverläjfige Zeugen beweiſen, u. ſ. w.
80 Shakeſpeare's Narren und Klowns.
Die falfche Anwendung von Fremdwörtern iſt ja noch in
unjerer Zeit ein Kennzeichen der Unbildung oder Halbbildung.
Vielleicht dürfen wir mit Thümmel auch zwei weibliche
Geftalten Shafeipeare’s zu den Klowns rechnen, die ſich am beiten
ebenfalls unter den Rüpeln unterbringen lallen: die jchmaghafte
Amme in „Nomeo und Julia“ und Frau Hurtig in beiden
Theilen von „Heinrich IV.” und in „Seinrih V.“ Sie dient
dem genialen Miüjtling Falftaff nicht nur als Gegenitand feines
Spottes, jondern wird von ihm auch mehrfady ganz jämmerlich
übers Ohr gehauen. Die Frau Hurtig in den „Lujtigen Weibern“,
Mirtbichafterin des franzöfiihen Doftors Cajus, hat mit der eben
genannten gleichnamigen Gejtalt faum mehr als den Namen
gemein. Sie ift hauptſächlich Heirathsvermittlerin und zweideutige
Gelegenheitsmaderin. Ä
Die zweite Gruppe der Klowns, Miſchlinge von Tölpel
und Wißbold, iſt ebenfalls zahlreih. Hierher gehören bejonders
die vielen Bedienten, die Shafejpeare gern mit einem gewiſſen
Grad von Pfiffigfeit und Mutterwig verfieht: Lanz und Flint
in den „Beiden Veronejern”; Lanzelot Gobbo im „Kaufmann
von Venedig”; Grunio und Biondello in „Der Widerjpenftigen
Zahmung”; das HZwillillingspaar der beiden Dromio in der
„Komödie der Irrungen“; ferner Beter, der Diener der Amme,
in „Romeo und Julia,“ der ſich feiner Herrin als geiftig über:
legen erweilt. Außerdem von anderen Berufsarten: Die beiden
Todtengräber im „Hamlet,“ der Pförtner im „Macbeth,“
ein anderer Pförtner mit feinem Knecht in „Heinrich VIII.“,
der aber nur ganz epiſodiſch auftritt; und endlich, auch ein
Vertreter des niederen Adels, der Junker Tobias von Rülp.
Thümmel rechnet zu diefer Gruppe auch Falſtaffs Spießgelellen,
die meiner Anfiht nad überhaupt nicht zu den Klowns gehören,
Sondern zu dem von dieſen ganz verjchiedenen beionderen Typus
der humorijtiichen Spigbuben, denen fich aud) der Gauner Autolyfus
im „Wintermärchen“ anreiht, ein ausgejuchtes PBrachteremplar feiner
Gattung.
Shakeſpeare's Klowns ſind zeitlih und örtlich begrenzte
Typen. Manche von ihnen berühren uns fremdartig, weil die
Grundlage ihres Weſens uns nicht mehr unmittelbar, ſondern
erſt auf geſchichtlichem Umwege verſtändlich iſt. Aber der Kern
Shakeſpeare's Narren und Klowns. 81
diefes Klowntypus ift Gemeingut aller Zeiten und Völker, mie
Thümmel mit Recht hervorhebt. Mit ihrer köſtlichen urwüchfigen
Naivetät jtellen fie den Volkshumor dar, der zu der angefränfelten
Blafirtheit des gezierten Kulturmenſchen einen erfriichenden Gegenjag
bildet. Den meilten Klowns ijt eine liebenswürdige Gutherzigfeit
eigen, die uns ganz für fie einnimmt. Thümmel hat Recht, wenn
er darauf aufmerfjam madt, daß die romaniſche Komödie, im
Gegenfag zur germaniichen, den Schwerpunft der Fabel in die
Intrigue verlegt, und die fomiichen Charaktere als jtehende Masten
behandelt ; daß dagegen bei Shafeipeare die Komif unmittelbar
und ausſchließlich auf den Charakteren ſelbſt beruht. Jede einzelne
Handlung ift nur ein Ausfluß des Charakters der betreffenden
Perfon. Darin liegt ein echt germanifcher Grundzug des Shafe-
ſpeare'ſchen Luſtſpiels.
Welches iſt nun die innerſte Urſache unſeres Wohlgefallens
an all der ſinnloſen Thorheit der Narren und Klowns? Thümmel
führt als Grund hierfür unſer eigenes Wohlgefühl an, alles das
als Thorheit empfinden zu können, alſo das Gefühl der eigenen
Meberlegenheit. Dies Lleberlegenheitsgefühl ift gewiß auch an
jenem Wohlgefallen ſtark betheiligt; es ift aber nicht der einzige
Faktor, der dabei mitwirft. Ich glaube, dies Mohlgefallen auch
auf eine tiefer liegende Urſache zurüdführen zu dürfen, auf diejelbe
Grundurſache, auf der vielleicht alles Vergnügen an der Kunſt
überhaupt beruht. Dieje ift, in rein praftiihdem Sinne, zmed:
und tendenzlos; je mehr fie dies iſt, dejto eher genießen mir fie,
beito reiner ijt unjere Freude an ihr. Das praftiiche Leben, bie
Wirklichkeit erfordert ein jtetes Handeln zu beftimmten Zweden;
da iſt es für den menichlichen Geiſt Bebürfnik, ſich von Zeit zu
Zeit in ber reinen Zwedlofigfeit der Kunft, in der Welt des
Scheines, in dem Gegenfab zur Wirklichkeit zu erholen. Diele
Erholung bietet uns am ehejten und leichteften eine der Erfcheinungs-
formen der Kunſt, das Komifche, in feinen verfchiedenen Unterarten,
deren edelite und reinjte der Humor ift. Gerade die liebenswürdige
Zwedlofigfeit in all dem geihäftigen Treiben mancher Shake—
ſpeare'ſcher Klowns läßt uns ihre Handlungen und Worte als
Blüthen reinen Humors genießen. Je mehr wir im einzelnen
Falle empfinden, daß diefer Humor nicht den geringiten ſatiriſchen
Beigefhmad hat, dab gar feine Beziehungen und Sup lungen
82 Shafefpeare’8 Narren und Klowns.
auf beſtimmte Perfonen oder Verhältnifie vorliegen, je mehr mir
alio diefen Humor als völlig zwedlos, als abjolut empfinden,
deſto eher jteigert fich unfere Freude an ihm zur Ungetrübtheit.
Wie verhalten fih Narr und Klown zu unferer Zeit? Wäre
es möglich, dieje beiden Typen auf den Boden der Gegenwart zu
verpflanzen? Mir bemerfen leicht, daß der Narrentgpus einer
folhen Webertragung in neuzeitlihe Werhältniffe viel größere
Schmierigfeiten bereitet als der Klomntypus, mweil viel mehr örtliche
und zeitlihe Schranfen ihn einengen. Er ijt der Typus eines
beitimmten, feſt umgrenzten Berufes einer ebenfalls bejtimmten
fernabliegenden Zeit. Es ift far, daß er als typiſche Geitalt
des Dramas nur fo lange in dieſem eine feſte Wohnſtätte hat,
als er auch im Leben jelbit fein Urbild hatte. Als der Hausnarr
aus dem wirklichen Leben verſchwunden war, fonnte auch in ber
Litteratur feines Bleibens nicht mehr lange fein. Denn das
unmittelbare Leben iſt ber Nährboden ber Litteratur, die von ihm
völlig abhängig iſt. Somit hat fi der Narr als Berufstypus
der Litteratur in unjerer Zeit längſt überlebt; denn er iſt fchon
feit Jahrhunderten aus dem Leben jelbjt befeitigt worden. Das
fteigende Selbitgefühl und Bewußtjein der Menſchenwürde machten
eine Fortdauer des Hausnarrenthums unmöglich; jein Dafein ift
überhaupt nur zu einer folchen Zeit denfbar, wo das Bemußtfein
von dem idealen Werthe jedes einzelnen Menjchenlebens, von der
Berehtigung, ja der Pflicht der einzelnen Menfchenfeele, ſich ihre
Individualität nicht verfümmern zu laljen, noch garnicht empfunden
wurde. Nur die Zirfusflowns dürfen wir als die legten Aus—
läufer der alten Hausnarren im Leben der Neuzeit anjehen; fie
find, trog ihres Namens, als berufsmäßige Spaßmacher eher mit
den Narren als mit den Klowns verwandt; ebenjo ließen fi mit
jenen ungefähr vergleichen die berufsmäßigen Spaßmacher unferer
heutigen Qergnügungslofale, und endlid, als vornehmite Abart,
die Komiker unferer Theater. Alle dieſe Berufsarten find zwar
im Drama der Gegenwart aud in Form von Typen dargeftellt ;
aber dieſe Typen vertreten immer nur den jeweiligen einzelnen
Beruf; es giebt feinen modernen Geſammttypus der berufs-
mäßigen Spakmader. Außerdem dürfen wir nicht überfehen,
daß dieſe heutigen zeritreuten Nachkommen jener alten Hausnarren
diefen in vielen mejentlihen Punkten doch jehr unähnlich find.
Shafeipeare’8 Narren und Klowns. 83
Der Hausnarr war eben immer Narr; eine Scheidung zwiſchen
feinem Leben als Brivatmann, und feinem berufsmäßigen Auftreten
gab es für ihn nicht, im Gegenfag zu unjeren heutigen Komikern.
Kurz, der Topus des Hausnarren ift für die Zmede unjerer
neuzeitlichen Litteratur unbraudbar.
Anders jteht es mit den Klowns. Diele haben fich, wie
mir jcheint, noch nicht überlebt; im verfeinerter, Den heutigen
Verhältniffen angepakter Korm wäre der Klomntypus auch in der
Gegenwart noch wohl denfbar. Der Gegenfag von Bildung und
Unbildung, der der Komik des Klowns zu Grunde liegt, ift ja
ein ewiger, für alle Zeiten giltiger. Wir haben aud im Drama
der Neuzeit manche tnpiiche Geftalten, die mit dem alten Shake—
fpeare’ihen Klown verwandt find: der dummſchlaue, verjorfene
Bediente u. |. w. Vereinigen wir die Tölpelhaftigfeit des Klomns
mit dem Element des Reichthums, jo erhalten mir den heutigen
Prog, an den auch mande Klowngeſtalt Shafefpeare’s erinnert,
fo befonders die beiden Schäfer im „Wintermärden,“ die am
Schluffe des Stüdes zu „geborenen“ Edelleuten erhoben merden.
In den heutigen Wipblättern wird der Bauer, wenn er in bie
Großſtadt fommt, und die ihm fremden großftädtifchen Erfcheinungen
nach feinem naiv bäuerlichen Maßſtabe beurtheilt, in einer Weile
als feititehender Typus vorgeführt, die mit dem alten Klomntypus
gar vieles gemein hat.
Und nun nehmen wir Nbihied von all den fchnurrigen
Geſellen, die in bunter Reihe an unferen Bliden vorübergezogen find.
Leipzig. Ed. Eckhardt.
—
6*
Kene Belletrifik.
Adolf Wilbrandt, Hildegard Mahlmann. Charlotte Niefe,
Die braune Marenz. Auf der Haide. Werner von Hejdenitern,
Karl XII. und feine Krieger.
Adolf Wilbrandt hat uns durch feinen Roman „Bildes
gard Mahlmann“*), mit einem tief angelegten, wahrhaft er-
freulichen Kunſtwerk bejchenft. Es iſt das tragiiche Geſchick eines
Trauenlebens, das ſich aus jammervollen Perhältniiien, aus
unfäglihem Elend und Weh heraus zum Lichte emporringt. m
poetiihen Schaffen findet Hilda Mahlmann nad) namenlojen
pſychiſchen und phyſiſchen Leiden endlich den Troft, den ihr das
Leben ſonſt verfagt. Iſt ihr auch das eigentlihe Lebensglück für
immer zerjtört, es fällt nun do ein Schimmer von Glüd, mie
ein heller Strahl aus höheren Welten, verflärend auf ihr trauriges
Dafein.
Die Uebel der Welt, das Elend, das fie birgt, all der
Egoismus, Nohheit, Leichtfinn, Unverftand, die das Gute unb
Edle erbarmungslos umflammern, es zu eritiden, zu vernichten
drohen, — das Alles ift von MWilbrandt ohne jede Schönfärberei
ergreifend gefchildert. Aber es erfüllt uns mit Troft und Freude,
ed ergreift uns noch mächtiger, es erhebt uns zu verföhnenben
Empfindungen, wenn mir jehen, wie ein edles, reines, geijtig und
fittlich hoch veranlagtes Frauenherz trog aller ihm innewohnenden
Zartheit und Senfibilität in dem großen Jammer bes Lebens
nicht hoffnungslos untergeht, jondern immer wieder an das Gute,
Edle, Reine ſich fammernd aus tiefitem Schmerz heraus, zuerſt
fait unbewußt ſchaffend, fich jelbit eine ideale Welt geftaltet, aus
der ihm nun lindernde Tropfen bes Troftes in die brennenden
Wunden fallen. Ergreifend und von überzeugender Wahrheit iſt
vor Allem die Szene, wo Hilda nad einem fürchterlichen, faft zu
Mord und Todſchlag führenden Konflilt zwiſchen ihrem rohen
Manne und dem bemunderten, ob auch treulofen Yugendgeliebten,
dem Dichter Chriftian Zöller, am Herde figend, von der Art bes
eigenen Mannes verwundet, nod tiefer aber im Herzen getroffen,
*) Stuttgart 1807, Verlag der J. ©. Eottafchen Buchhandlung Nachfolger.
Neue Belletrijtif. 85
in leifem Singen, wie durch eine Offenbarung von oben, ihr
erjtes, Schmerz und Qual linderndes Lied findet. Und wie Dies
Lied, jo iſt auch Alles, was jie jpäter jchafft, aus tiefitem,
unmittelbarjten Drange herausgeboren und ergreift darum Die
Herzen, als die Dichterin endlich mit ihren Schöpfungen an bie
Oeffentlichfeit tritt.
Der Schluß, Hildas Tod durch einen Bligftrahl, ijt gewaltjam;
aber der Hohe Werth der Erzählung wird davon nicht berührt.
Er liegt in der ergreifend wahren Entwidelung Hildas zur
Dichterin, die wie eine moderne Jllujtration ausfieht zu der alten
indifchen Sage, nad) welder das Lied aus dem Leid geboren
it. Der ideale Sinn, das Oottvertrauen, die fie vom Vater und
Lehrer überfommen, halten die Dulderin aufredt in allem Wirrjal
des Lebens und helfen ihr endlih zum jchönen Siege. Wir
lernen aus dieſem Roman die im tiefiten Kern gejunden und
tühtigen Bewohner Mecklenburgs, die Landsleute des Dichters,
die er verftändnißvoll jchildert, aufs Neue lieben und achten.
Mir lernen, was mehr ilt, an die Macht des Guten, des Idealen
im Dienichenherzen aufs Neue glauben.
Zu den erquidliditen Erjcheinungen der neueren deutſchen
Erzählungslitteratur gehört ohne Zweifel Charlotte Nieje, deren
reizenD humorvolle Geſchichten „Aus däniſcher Zeit“ ihr raid
allenttgalben die Herzen erobert haben. Auch „Licht und Schatten,“
eine Hamburger Geſchichte, in der jchredlidhen Cholerazeit jpielend
(1895 erſchienen), darf als ein treffliches Bud) bezeichnet werden,
wenn bajjelbe auch an einigen Unmwahrjcheinlichfeiten leidet und
die Kraft der Verfafjerin bei der Gejtaltung dieſer ganz ihrer
Phantafie entiprungenen Erzählung hier und da verjagt. Charlotte
Nieſe zeigte fi eben bisher am bedeutendjten und interejiantejiten,
wo fie Die Bejtalten und Erlebniſſe ihrer Kindheit poetiich verflärt
uns vorführt. In Ddiefe Sphäre griff fie neulich mit richtigen
Takt zurüd und bot uns in dem allerliebjten Bud „Die braune
Marenz und andere Geſchichten““) gewillermaßen eine ort:
jegung jener mit Recht beliebten Erzählungen „Aus däniſcher
Zeit.“ Hier ijt wieder Alles jelbjt gejehen und erlebt, durchaus
wahr, feilelnd und vom föftlihjten Humor umjpielt. Wer wollte
*) Leipzig, Fr. Wild. Grunow, 1897.
86 Neue Belletriftit.
ihr nicht gut fein, dieſer blutarmen und doch immer fröhlichen,
friihen, gutherzigen, ehrlichen, rührend danfbaren braunen Diarenz!
Die Sejtalt diejes Mädchens ijt ebenjo lebendig als liebenswürdig
geichildert und vom fonnigften, echtejten Humor verflärt. Dieje
Erzählung, die dem Buche den Namen gegeben, gehört ohne
Zweifel zum Bedeutenditen, was es enthält. Aber wieviel andere,
köſtliche Geſchichten fommen da nod hinzu, darunter mande von
nit geringerem Werthe! Vor Allem finde ich jehr gelungen
„Das Befinnen“. Diejer brave Böttcher Butenfchön mit feiner
Meisheit „Befinnen is aber doch das Belte beim Menſchen!“ das
iſt eine geradezu meijterhaft gezeichnete Geſtalt, ein echt nord-
beutjcher, jchmwerfälliger, aber in jeiner Naivität und Ehrlichkeit
erfreuliher Charakter. Ein mwürdiges Gegenjtüd zu der Liebes
und Heirathsgeihicdhte des Böttchers Butenſchön und der ihn in
rührender Weije verehrenden Plätterin Frau Lene Thornjen bildet
die Heirathsgeihichte der Haushälterin Kriihane mit dem ver:
unglüdten Kandidaten Nottebohm. Vol föftlihen Humors find
aud) die Fleinen Erzählungen „Ferdinand“ und „Mein Klaus.“
Düfterer, aber von tiefer Lebenswahrheit ijt die Geſchichte „Es
war gut jo.“ Auch „Die falihen Weihnahtsbäume“ und „Unire
weiße Frau“ Haben alle Vorzüge der Nieſeſchen Erzählungen an
ih, die jo recht zur Haus- und Familienleftüre geeignet find.
Wenn an diefen wahrhaft erquidlichen, Jedermann zu
empfehlenden bumoriftiichen Geſchichten etwas ausgeftellt werden
foll, jo liegt das allenfalls in dem Umjftand, dab die Kinder, d. i.
die Erzählerin und ihre Geſchwiſter in der Kinderzeit, gar zuviel
mitwirfend, bejtimmend und vermittelnd in denjelben erjcheinen.
Sie find es, die oft ohne zu wollen, oft aber auch ganz mit
Bewußtſein immerfort in die wichtigiten Geſchicke der gejchilderten
Perſonen felbjtthätig eingreifen, in einer Weije, die zwar vereinzelt
möglich ift, aber in joldher Ausdehnung doc die Wahrjcheinlichkeit
überjteigt. Andererſeits aber ijt gerade Dies bejtändige Hinein-
jpielen der Kinder von jo allerliebjtem humoriſtiſchem Weiz, daß
man die Geſchichten audy wieder faum anders haben mödte. Dan
nimmt jene Unmwahrjceinlichfeiten eben lächelnd in den Kauf.
Baltiſchen Leſern wird aud die naive Sprade der meilt dem
einfacheren Stande angehörenden Perjonen von einem eigenen,
anheimelnden Reiz fein. Erinnert diefelbe doch in fo vielen Bunften
Reue Belletriftik. 87
ganz überraichend an die Sprache, die bei uns in gewiſſen Sphären
gejprohen wird. Der Kulturzufammenhang unferes Landes mit
den norbdeutjchen, in ihrem Volksthum niederdeutichen Gegenden
tritt uns bier in auffallender, unjer Intereſſe fejlelnder Weiſe
entgegen.
Eine Aufgabe größerer Art hat Charlotte Nieſe fih in dem
foeben erjchienenen Roman „Auf der Haide“ *) gelegt, den ich
ebenfallde warm empfehlen fann. Er führt uns wieder nad
Schleswig-Holjtein in die Heimath der Verfallerin und jpielt zur
Zeit des blutigen Aufitandes der Deutichen gegen die Dänen
im 9. 1850, nad) der Schlacht bei Idſtadt. Was biefen Roman
hochbedeutſam und wahrhaft lejenswerth macht, ijt vor Allem bie
herrliche Schilderung jenes Haidelandes von Schleswig und jeiner
fernhaften Bewohner. Die melancholiſche Poefie der Haide mit
ihren Mooren und Hünengräbern ift jelten jo wunderbar erfaßt
und vorgeführt worden wie in dieſer Dichtung, und damit lernen
wir Charlotte Niefe von einer neuen Seite jchägen und lieben.
Und wie viel trefflich gezeichnete Perjonen treten uns da entgegen!
Da ilt zuerſt der Held des Romans, ber holjteinijhe Student
Hans Chriſtian Munk, der in der Schlacht bei Idſtadt ſchwer
verwundet, von dem alten treuen Knechte Niß und ber alten
Karen vom Grafenſchloß gerettet, von jeinen dänischen Verwandten,
ber alten Großmutter und dem Vetter Lars, treulich aufgepflegt
wird. Seine Neigung zu der jchönen, aber etwas abenteuerlichen
Predigersnichte Magda kreuzt ſich mit einem auf tiefiter und
reinjter Verehrung beruhenden Verhältniß zu ber edlen Gräfin
von Trolleborg. Dieje legtere, eine Deutiche, aber Gemahlin bes
bänifhen Grafen, ijt befonders fein und überaus ſympaäthiſch
geichildert, nicht minder der kleine Graf Dlaf, der den Studenten
von ber erjten Begegnung an in rührender Weije ins Herz jchliebt.
Auch der chevaleresfe, aber leichtfertige Graf und feine Töchter,
der fanatifch dänische Paſtor Möller mit feiner ängftlichen, fanften
Frau, der nichtswürdige Hauslehrer Bagge u. a. m. treten uns
lebenswahr gezeichnet entgegen. Zu den bejtgelungenen Gejtalten
möchte ich aber aud in dieſem Werfe der Nieje die Perjonen der
niederen Sphäre rechnen: jo vor Allem den treuen alten Knecht
*) Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, 1898.
88 Neue Belletriftit.
Nik mit feinem tiefen, erniten, jchmweiglamen Weſen und Die
nornenhafte alte Karen, die mit dem Grafenjchloß von Trolleborg
untrennbar verwadjene, in der Heilung von Krankheiten und
Verwundungen ebenjo wie in alten Sagen und Mähren mohl:
bewanderte Dienerin; aud die brave Krugswirthin Frau Willagen
nicht zu vergeflen. Deutihe und Dänen find bier mit gleicher
Liebe treu und wahr geichildert. Der Humor tritt in dieſem
Werke ſtark zurüd, die ernfte Poefie der Haide waltet vor. Am
ſchwächſten jcheinen mir die eigentlih romanhaften Erfindungen,
jo die Geſchichte von dem verborgenen, ſchließlich gefundenen
Schatz im Grafenichloffe, die eine entjcheidende Rolle jpielt, der
Liebesroman ber alten Großmutter, Frau Spenftrup, die Vor:
geihichte der Frau Paſtorin u. a. m. Ich glaube, das Talent
der Nieje weit fie nicht jowohl auf den Roman, als vielmehr auf
die jchlichte Erzählung. Daß aber neben dem urwüchſigen gejunden
Humor und dem Verjtändniß für ihre Heimathgenoffen auch eine
Fülle echter Poefie, ein tiefer Bli in den Zauber der nordijchen
Natur diejer liebenswürdigen Dichterin eigen ift, das zeigt uns
gerade ihr letztes Werk. Wir begrüßen es darum freudigit und
jind gewiß, daß Niemand es bereuen wird, wenn er fih durd
dbajjelbe für einige Zeit auf die braune Haide von Schleswig
zaubern läßt.
Ein Bud von durdjaus anderer Art iſt „Werner von
Hejdenftern, Karl XI. und feine Krieger.”*) Das find
fraftvoll entworfene und ausgeführte hiſtoriſch movelliftiiche Bilder
und Skizzen aus dem Leben und der Umgebung des befannten
Schwedenkönigs, deifen Regierung jo verhängnikvoll für fein Land
und Volk ſich gejtaltet, der ebenjo groß iſt in jeinem Heldenmuth,
feiner Opferwilligfeit und Standhaftigfeit, wie in furzfichtiger
Ueberſchätzung ber eigenen Kraft und thörichtem, alle Erfolge zulegt
vernichtendem, Alles rüdjichts[los opfernden Starrfinn. Für baltiiche
Leſer muß das Buch ein bejonderes Intereſſe haben, da es fid
ja um jenes gewaltige, welthijtoriiche Ringen zwiſchen Karl und
Peter dem Großen handelt, das, zum Theil auf dem Boden
unjeres Landes ſich abipielend, zur Xosreikung der Provinzen von
*) Einzig autorifirte Ueberfegung aus dem Schwebilhen von Thereje
Krüger. Paris, Leipzig, Münden. Berlag von Albert Langen, 1898.
Neue Belletriftik. 89
Schweden und zur Eingliederung derſelben in das mächtige Neid)
bes ruſſiſchen Zaren führte.
Werner von Hejdenitern zeigt fi) als ſehr talentvoller,
origineller Erzähler. Ein herber Realismus verbindet ſich hier
mit jener vielfach mehr andeutenden als ausführenden Manier
der Modernen. Zur Samilienleftüre ift das Buch durchaus nicht
geeignet, aus verjchiedenen Gründen, aber der reife, ernite Leſer
mird es nicht unbefriedigt aus der Dand legen.
Die einzelnen Bilder und Sfizzen find von einander ganz
unabhängig. Was fie verbindet, iſt nur der Umſtand, daß fie
fih von der Sterbeitunde des Föniglichen Waters, vom Regierungs—
antritt des noch fnabenhaften Karl XII. bis in jene Zeit hin-
ziehen, wo der Stern bes merfwürdigen Schwedenfönigs im Er:
löfchen iſt. Es find weit mehr düjtere als freundliche Bilder, die
uns bier entgegentreten, zum Theil Bilder von tief erichütternder
Art. Des Königs Schwächen werden nicht gejchont. Aus dem
Ihüchternen, fromm betenden Anaben jehen wir den Helden werden,
beilen bloßer Händedrud höchſte Belohnung ift, aber dann aud)
meiter den unfinnigen Abenteurer, der feinen eigenen Leuten
Grauen und Nbichen einflöht. Es liegt etwas Piychopathiiches
in feinem Weſen, ſonſt können wir ihn überhaupt nicht verjtehen.
Und unter feinen Kriegern, wieviel Heldenmuth offenbart fich da
neben aller ſoldatiſchen Rauhheit und Härte! Am Erjchütterndften
vielleiht in der Gejtalt jenes Korporals Anders Graaberg (in
„Siehe, das jind mein Kinder”), der ſelbſt jchon verdurftend ſich
nicht entichließen fann, das Waller aus der eigenen eldflaiche
zu trinken inmitten all der andern Verfchmadhtenden bes im
Rückzug begriftenen Heeres. Er labt damit endlid einen
Sterbenden und gräbt ſich dann ſelbſt fein Grab auf der öden
Haide. Die in Riga Ipielende Skizze „Gunnel, die Beſchließerin“
ift furchtbar düſter und hart. Am jonnigiten, freundlichiten
ericheint noch „Hochſommerſpiel,“ aber aud hier ilt das Ende
tragüh. Von mandem Bilde wird der Zeiler ich vielleicht ab-
geitoßen fühlen, aber intereffant und bedeutend find fie alle.
L. v. Schröder.
*
*
*
Bei der Redaktion der „Balt. Mon.“ ſind ferner nachſtehende Schriften
zur Beſprechung eingegangen:
Neue Belletriftif.
Monographien zur Weltgeihichte, 2. Band, II. Hans
Schulz. BWallenftein und die Zeit des breikigjäßrigen Arieges.
Bielefeld und Leipzig, Belhagen & Klafing.
Geifteshelden, Band IV, Anzengruber von Anton Bettelheim,
2. Auflage. Band 27. Luther. 1525—1532 von Arnold G.
Berger. Berlin, Ernit Hofmann & lo.
Thomas Carlyle. Lebenderinnerungen. Deutih von Paul Sarger.
Göttingen, Bandenhoed u. Ruprecht.
Friedrih Zarnte Aufſätze und Reden zur Kultur und Zeit
geichichte. Leipzig, Eduard Avenarius.
9. v. Zmwiedined:Suedenhorft. Deutiche Gelchichte von der Auf:
löfung des alten bis zur Errichtung des neuen Kaiſerreichs.
Band I. Stuttgart, Verlag der J. G. Cottaſchen Bud
handlung Nachfolger.
Ludovica Heſekiel. Deutiche Träumer. Vaterländiſcher Roman,
2. Auflage. Berlin, Otto Janke.
Wilhelm Raabe. Alte Nefter. 2. Bücher, Lebensgeichichte. Berlin,
Otto Janke.
Konrad Fiedlers Schriften über Kunſt, herausgegeben von Hans
Marbach. Leipzig, S. Hirzel.
Weltgeſchichte in Umriſſen. Federzeichnungen eines Deutſchen.
Berlin, Ernſt Siegfried Mittler u. Sohn.
G. 4. Willens. Jenny Lind. Ein Cäcilienbild aus der evangel.
Kirde. Gütersloh, E. Bertelsmann.
Heinrih Hansjakob. Milde Kirſchen, Erzählungen aus dem
Schwarzwalde. Heibelberg, Verlag von Georg Weiß.
Heinrich Hansjafob. Aus Franken Tagen. Erinnerungen. Heidel:
berg, Verlag von Georg Weiß.
Karl Anog. Folklore. Dresden, Verlag der Druderei von Glöß.
KAulenfamp. Chriſtenthum und Malthufianismus. Goettingen,
Vandenhoeck und Ruprecht.
Friedrih Daab. Die Zulälfigkeit der Gelübbe, betrachtet vom
evangeliichen Standpunfte aus. Gütersloh, C. Berteldmann.
er
Herzog Chriſtoph von Medlenburg
(1537— 1592).
Zwei Vorträge, gehalten zu Schwerin im Verein für medlenburgiiche Gefchichte
und Alterthumskunde von U. Bergengrün.
Herzog Chriftoph von Medlenburg ijt weder als Fürjt noch
als Menſch eine hervorragende Perjönlichkeit geweien. Wenn mir
fein Leben troßdem einer bejonderen Betrachtung würdigen, fo
rechtfertigt ſich dieſes durch die mancherlei merkwürdigen, ja
abenteuerlichen Wandlungen deijelben, noch mehr aber dadurd),
daß es hineingejtellt war in den großen Strom der Creignijie,
welche in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die jtaatlichen
Verhältniffe der Länder am Djtjeebeden von Grund aus umzu—
geftalten begannen. Zum Handeln in großem Stil war er von
Natur wenig befähigt, auch ohne Neigung dazu. Aber doc) ift
fein Zeben von Cinfluß auf die Ummwälzungen der baltischen Macht-
verhältniffe gewejen, wenn auch die Rolle, welche er, der halb
widerwillig in fie Dineingezogene, dabei jpielte, feine rühmliche
mar. In allen Phaſen jeines Lebens iſt er direkt durch die großen
politiihen Gegenläße, welche das Zeitalter und insbejondere die
nordiichen Mächte erfüllten, berührt worden. Won diejem Gefichts-
punfte aus gewinnt jein Leben ein Intereſſe, das über den
Rahmen ber dynaftiihen Geſchichte des medlenburgiichen Herzogs—
hauſes hinausreidht.
Seine Eltern waren der abenteuernde, projeftenreiche Albrecht
VII., ber Schöne, befannt durch die Theilnahme an der dänijchen
„Srafenfehde” und den mißglüdten Verſuch fi als Parteigänger
l
a Herzog Chriftoph von Medlenburg.
übeder die däniſche Königsfrone zu erfämpfen, und Anna,
Tochter des Kurfürſten Joachim I. von Brandenburg. Auf
Reife an die ſüddeutſchen Höfe fchenfte die Herzogin, melde
dem Termin der Niederfunft verrechnet hatte, zu Augsburg
30. Juni 1537 ihrem adten finde, unjerem Chrijtoph,
Leben. Entweder glei nah der Geburt oder zu einem
fpäteren Zeitpunfte haben die Eltern zu Linz den Knaben dem
römiſchen Könige Ferdinand zugeführt, der ihn nad) des Vaters
- Tode in feine bejondere Obhut zu nehmen veriprad).
Von irgend einem Einfluß des Vaters auf Charafter und Ent-
midelung Chriftophs ift nichts zu fpüren. Um jo bedeutender, aber
auch verhängnikvoller war derjenige der Mutter. Die Herzogin Anna
mar eine der freundlofen, unglüdlichen Frauengeftalten, wie fie uns
in der Gejchichte des Hohenzollernhaujes mehrfach begegnen. Nach
anfänglicher Hinneigung zur Lehre Luthers warf fie fich jpäter
mit verdoppelter Inbrunſt der alten Kirche wieder in die Arme.
Und doch wehte in Meedlenburg der Mind fo Ffräftig lutheriſch,
daß die Herzogin nicht einmal die katholiſche Erziehung ihrer
Kinder durchzufegen vermochte. Ya fie mußte es dulden, daß zmei
derjelben, unter ihnen die einzige Tochter Anna, in zarteſter
Kindheit von ihr getrennt und ihrer eifrig lutheriſchen Tante
Elifabeth von Braunichweig in Münden zur Erziehung übergeben
wurden. Zmei Jahre nad Chriſtophs Geburt wurden auch die
älteften Söhne Johann Albredt und Ulrich noch im Anabenalter
an fremde Höfe gethan, drei Kinder waren geftorben, und jo
blieben der vereiniamten Mutter nur Chriitoph und der 1540
geborene jüngite Sohn Karl. Vieles traf zufammen, um ihr die
Freude am Leben zu vergällen. Cine früh ſich einjtellende
Kränflichkeit, das Bewußtſein durch ihren Fatholifhen Fanatismus
fih ſtets im Widerſpruche zur näcdjiten Umgebung und zu der
Stimmung des ganzen Yandes zu befinden, die häufigen MWochen-
betten und der Tod mehrerer Kinder verdüfterten ihren Sinn,
machten jie mürriich, unzufrieden und elend. Und als fie gar
nach dem Tode ihres Gatten, 1547, gefährlich erfranfte und es
fih herausftellte, daß fie von einer ihrer Kammerfrauen vergiftet
worden mar, da verzehrte fie fih von nun ab förmlid in Miß—
trauen, unfruchtbarem Hadern und Klagen. Bei ihren vier älteren
Kindern, die ihr völlig entfremdet waren, fand fie für ihre Leiden
Herzog Chriftoph von Medlenburg. 93
und Klagen nur geringes oder gar fein Verſtändniß. So wandte
denn die unglüdliche Fürjtin alle mütterlihe Sorgfalt und Liebe
ihren beiden jüngiten Söhnen Chriitoph und Karl zu, mit denen
fie ihren Wittwenfig zu Lübz bezog. Ihr befonderer Liebling
aber, ihr Troſt und ihre Augenmweide war Chriftoph, den fie in
unverftändiger Weile verzärtelte und verwöhnte.
Mit Beſorgniß Jah der junge Derzog Johann Albrecht, der
einjtweilen die Alleinregierung im väterlihen Landestheil über:
nommen und fich die Wormundichaft über die jüngiten Geſchwiſter
vom Kaiſer hatte übertragen laifen, wie dieſe in einem Sinne
erzogen murden, der dem proteltantijchen Bekenntniß des Landes
geradezu entgegengejegt und auch ſonſt ihrer Charakterentiwidelung
wenig förderlih war. Dbgleich fein Oheim Joachim II. zwiſchen
ihm und Anna einen Vertrag vermittelt hatte, wonach dieſe
die Erziehung der Knaben bis zum 16. Jahre leiten jollte, jo
ſuchte Johann Albrecht doch wenigitens Chrijtoph dem Einfluß
der verbitterten, fränfelnden Mutter zu entziehen und ihn nad)
Schwerin in eine gejündere Luft zu bringen. Es foftete einen
harten Kampf. Aber er jette feinen Willen doch durch und am
28. Auguſt 1550 fonnte er feinen Bruder nad) Schwerin abholen
laffen.
Hier lebte feit zwei Jahren als Freund und mwiijenichaftlicher
Berather des jtrebiamen Herzogs der Magiiter Andreas Mylius,
ein Mann von vortrefflicher Bildung, feinem Gefühl, glänzender
lateinifcher Eloquenz und zugleih warmer proteftantifcher Gefinnung,
furz ein Humanift bejter Objervanz. Diefer wurde Chriftophs
Lehrer und wenn Chriftoph in allen Aeußerungen, die wir von
ihm befiten, niemals die geringite Hinneigung zum Katholizismus
verräth, fondern uns ftets als überzeugter Lutheraner entgegentritt,
fo dürfen wir wohl annehmen, dag Mylius in erfolgreiher Weiſe
zu befeitigen gewußt hat, was von dem ftarren Katholizismus ber
Mutter an dem Dreizehnjährigen etwa haften geblieben mar.
Leider dauerte Mylius’ Unterricht nur anderthalb Jahre.
An einem Dezemberabend des Jahres 1551 erhielt Mylius
ben Befehl, des anderen Tages früh mit feinem Zögling eine
Reife nad) einem nicht genannten Orte anzutreten. Sie wurden
zunächſt nad) Berlin geführt, wo Johann Albrecht fi) zu ihnen
gefellte, und erſt auf der Weiterreife erfuhren fie, dab rn
94 Herzog Chriſtoph von Medlenburg.
nad Dresden an den Hof des Kurfürjten Moritz gebracht werden
folle.. Gerüchtweife verlautete, daß da noch ein anderer ver:
borgener Plan dahinter ftede. In Dresden erklärte der Kurfürſt
an dem jungen Prinzen ein fo großes Gefallen zu finden, daß er
ihn ganz bei fich behalten und ihn zu einem Bilchof oder großen
Herrn machen wolle. In diefem inne jchrieb er der Herzogin
Anna und bat um ihre Zuftimmung. Sohann Albrecht aber verließ
Dresden ſchon nad zwei Tagen und ließ Chrijtoph mit einem
Hofmeijter und zwei Dienern zurüd.
Dean denfe fih den Schmerz ber verzweifelten Mutter! Sie
überfchüttete Johann Albrecht mit den ſchwerſten Vorwürfen:
Gram und Kummer würden fie ins Grab bringen und er daran
fhuld fein. Ihre Ahnung, dab etwas im Merfe jei, was Die
Sicherheit ihres Lieblings gefährdete, trog fie nicht. Aber ſie
mar der vollendeten Thatſache gegenüber machtlos.
Chriftoph war dazu bejtimmt mit einem jungen heifiichen
Landgrafen als Geißel der mit Franfreich gegen den Kaiſer ver:
bündeten evangeliichen Fürjten nah Paris geichidt zu werden.
Durh die plößliche, in geheimnikvolles Dunfel gehüllte Abreije
und das Anerbieten Moritz', ihn bei fich zu behalten, ſollte bie
Diutter überrumpelt und Chriftoph ihren leidenichaftlichen Rekla—
mationen entzogen werden. So trat die hohe Bolitif mit ihrem
ganzen Ernite und ihren rücdjichtslofen Forderungen zum erjten
Male an den fürjtlihen Knaben heran.
Sobald die Nachricht von der Natififation des Bündniſſes
durch den König von Franfreih in Dresden eingetroffen war,
trat Chriftoph mit feinem Hofmeiſter Joachim von Kleinow Die
bejchwerliche weite Neife an. Nach zwei Monaten, Ende April
1552, war er in Paris. Weber feinen dreivierteljährigen Aufenthalt
dafelbit haben wir nur ſehr dürftige Nachrichten. Man hat wohl
gemeint, dab er dort fittlic) verdorben worden fei und den Becher
der Freude jchon als vierzehnjähriger Knabe bis auf die Neige zu
leeren gelernt habe. Das halte ich für eine große Webertreibung.
Günftig aber hat dieſes ereignißreiche Jahr auf den jungen Herzog
nicht gewirft und fein neuer Lehrer Wolfgang Leupold, der ihm
nad Paris folgte, hatte mit der Befürchtung nur zu Recht, daß
er durch Die Zerjtreuungen des Doflebens den Gejchmad an erniten
Studien verlieren werde. Nach dem Paſſauer Vertrage zwiſchen
Herzog Chriftoph von Medlenburg. 95
dem Saijer und den evangeliihen Fürften wurde Chrijtoph in Die
Heimath entlaſſen und Anfang Februar 1553 fonnte Anna den
ſchmerzlich Entbehrten, den fie auf ein faliches Gerücht hin ſchon
todt geglaubt hatte, wieder in ihre Arme jchließen.
Die weitere Ausbildung Chrijtophs blieb in den Händen
Wolfgang Leupolds. Nun aber trat ein, was Ddiejer gefürchtet
hatte: der regelmäßige Unterricht, der Zwang des gebundenen
Scülerlebens wollten dem Prinzen durchaus nicht mehr behagen,
und als zu Michaelis 1553 Wolfgang Leupold das Rektorat an
der neu gegründeten Domfjchule in Güſtrow übernahm und mit
Chriftoph dorthin überjiedelte, da verlor er völlig die Herrichaft
über ihn. Während die Mutter jid) darum jorgte, es fünne Chrijtoph
zuviel Arbeit zugemuthet werden und Johann Albrecht bat, darauf
zu Sehen, daß „er nicht jo viel und manderlei ſprache ftudiret,
auf das er nicht aufs alter in aberwitze oder ander fantajei fommen
muchte,“ klagte jein Lehrer, daß er nur geziwungen an die Arbeit
gehe und bei ihr nicht aushalte. Auch religiöſer Beeinfluſſung
zeigte er ſich unzugänglich; er weigerte jih das Abendmahl zu
nehmen, veracdtete das Wort Gottes und war ein Meiſter im
Sluden, Trinfen und anderen Untugenden. Sein Benehmen gegen
Leupold, jobald diejfer ihn in Güte oder Strenge an feine Plicht
erinnerte, war derart, daß Leupold ſich jchänte, näheres darüber
zu berichten. Auch jtörte er die Disziplin der Domſchule. Wir
hören von förmlichen Kämpfen zwiichen ihm, feinen Genoſſen und
den Domjchülern. Anfang 1555 flagte er einmal, daß jeine
Feinde, wohl die Domjhüler, ihn durch Hunger fajt hätten um:
bringen wollen. Völlige Klarheit über dieje unerquidliche Lernzeit
läßt ſich nicht gewinnen. Chrijtophs Bildung fann aber nad)
allen diefen Andeutungen nur wenig gefördert worden jein. Seine
Erziehung war nod lange nicht zu einem Abſchluß gelommen,
als er dazu berufen wurde, jelbjt in der Welt eine Rolle zu jpielen.
Im jechzehnten Jahrhundert herrichte faſt allenthalben im
deutihen Reiche noch die privatrechtlide Auffaſſung der fürftlichen
Gerehtjame vor. Nur langſam arbeitete ſich in Konkurrenz mit
ihr die Anerkennung des öffentlicy-vechtlihen Charakters derjelben
heraus. Die innere Geſchichte der deutichen Territorien ift überall
duch dieſen Gegenjag beeinflußt. Nur die KurfürjtentHümer und
einige größere Fürftenthümer waren durch Hausverträge und
96 Herzog Chriſtoph von Medlenburg.
Primogeniturordnungen vor den enblojen, verderblihen Theilungen
geihügt. Auh in Medlenburg war der Grundjag der leid):
berechtigung aller männliden Erben nod in voller Geltung.
Ganz von jelbjt aber fam man hier wie anderwärts zu einem
Vorzugsreht der Welteren, insbejondere dann, wenn dieſe bei
Unmündigfeit der Jüngeren eine zeitlang im vollen Befige der
Gewalt gewejen waren. Die Intereſſen der zur Zeit Negierenden
wie der Negierten lehnten ſich gleicherweile gegen die Landes—
theilungen auf. Um jo fejter pflegten die jüngeren Prinzen des
fürftlihen Haujes auf ihrem alten Recht zu beftehen. Dieje
Gegenfäge zwiſchen den Bedürfniſſen der Landeswohlfahrt und
den Geboten politiicher Klugheit einerjeits, dem formalen Fürſtenrecht
andererjeits haben verhängnigvoll und tief in den Lebensgang
Chriſtophs eingegriffen.
Es gelang Johann Albreht nit, wie er Anfangs gehofft
hatte, alleiniger regierender Yandesherr in Mecklenburg zu bleiben.
Als nah dem Tode jeines Oheims Heinrid 1552 das ganze
Land endlich wieder in einer Linie vereinigt war, forderte Herzog
Ulrich feinen Theil und nad) dreijährigen ärgerlihen Händeln
und Streitigfeiten mußte ih Johann Albredt 1555 zur Theilung
der Aemter und Einkünfte mit Ulrich entichließen. Zugleich über:
nahmen die beiden Brüder die Verſorgung ihrer jüngeren Geſchwiſter;
Karl fiel auf Ulrihs Theil, Chrijtoph auf den Johann Albredts.
Seinen Antheil wollte Johann Albredt nun unter allen
Umftänden vor weiteren Theilungen bewahren; das fonnte aber
nur geſchehen, wenn Chrijtoph auf feinen Anſpruch verzichtete,
und das war wiederum nur möglid, wenn er anderweitig genügend
verjorgt wurde. Wie die Verhältniſſe im deutſchen Reihe nun
einmal lagen, muß es als ein Glück betrachtet werden, daß die
Unzahl von geijtlihen FürftenthHümern und Prälaturen die Mittel zur
Ausjtattung der jüngeren Prinzen boten. Es fann garnicht fraglich
jein, daß ohne dieje ihrem eigentlichen Zwecke völlig entfremdeten
Würden und Einnahmequellen jowohl die Zahl der Fehden wie die
Zeriplitterung der deutſchen Gebiete einen noch viel größeren Umfang
erreicht hätte. Gerade damals übten aber die geiftlihen Yürjten:
thümer nocd eine verjtärfte Anziehungskraft. Wer ein jolches
erwarb fonnte hoffen, es zu jeinem oder wenigſtens feines Hauſes
Herzog Chriitoph von Medlenburg. 97
erblichen Befigthum zu macden. Es war die Zeit der Säkula—
tifirungen. Sie lagen gleihjam in der Luft.
Schon jeit längerer zeit hatte Johann Albrecht eifrig unter
den norddeutichen Bisthümern Umſchau gehalten. Napgeburg,
Bremen, Lübel und die livländifchen Bisthümer jind im Laufe
der Zeit in jeinen Gefichtsfreis getreten. In Schwerin verwaltete
bereits Ulrich das Bilchofsamt. Da gelang es ihm, noch vor dem
Theilungsvertrage mit Ulrih, i. 3. 1554 das Heine Bisthum
Ratzeburg für Chrijtoph zu erwerben, das freilich reichsunmittelbar
war, aber dod) als ein dem Lande Medlenburg eingeleibtes Land
betradhtet wurde und in dem die Herzöge von Mecklenburg die
Erhebung eines Schußgeldes jowie das Recht des Aufgebotes
beanjprudten. Die Adminijtration übernahm vorläufig Johann
Albredt für den unmündigen Bruder jelbjt und jeßte in der
Hauptjtadt des Ländchens, Schönberg, einen Statthalter ein.
Aber die Einfünfte aus dem unanjehnlichen, jtark verſchuldeten
Bisthum Ratzeburg waren zu gering um als ausreidhendes Aequi—
valent für den völligen Verzicht Chrijtophs auf jein väterliches
Erbtheil in Medlenburg zu gelten. Johann Albredt brauchte
für ihn nod ein zweites einträglicheres Stift und fand es in dem
Erzbisthum Riga.
Zohann Albrecht jtand jeit jeiner 1550 erfolgten Verlobung
mit Anna Sophie, der Tochter des Herzogs Albrecht von Preußen,
und vollends jeit dem glänzenden Hochzeitsfeite zu Wismar, 1555,
zu jeinem Schwiegervater in einem Verhältniß intimer perjönlidyer
Freundſchaft. Zwiſchen ihnen herrſchte rüdhaltlojes Vertrauen.
Der bejahrte Herzog von Preußen betrachtete den jugendlidyen
Diedienburger als einen eigentlihen Cohn, ala den Erben jeiner
Pläne und Hoffnungen; die Intereſſen der Häuſer Mecklenburg
und Brandenburg wurden furziweg als identijche behandelt. Der
Bruder Herzog Albrechts, Markgraf Wilhelm, war Erzbiichof von
Riga. Dieje verwandtichaftlihen Beziehungen jihlugen die Brüde
von Diedlenburg nad den Ufern dev Düna.
Die alt-livländiihe Staatsordnung*), eine SKonföderation
mehrerer geijtlihen Staaten, der Bisthümer und des livländijchen
Zweiges des deutjchen Ordens, hatte jid damals völlig überlebt
*) Un Stelle des folgenden Abſchnittes enthielt der Vortrag eine aus:
führliche Charakterijtif des alten Libland.
98 Herzog Chriftoph von Medlenburg.
und, jeitbem das Land ſich frühzeitig der evangeliihen Lehre
zugewandt, jede innere Berechtigung verloren. Trogdem vermochte
man in Folge der bejonderen inneren Berhältniffe in Livland und
aus Furcht vor auswärtigen Verwidelungen, die jede Ver:
fajjungsänderung zur Folge haben mußte, den Uebergang zu
einer neuen Ordnung, d. 5. zum jäfularifirten monarchiſchen
Einheitsjtaate, nicht zu finden. Nachdem der richtige Zeitpunkt
für eine ſolche evolution verpaßt war, und nun die Be:
gehrlichfeit der polniihen und ruſſiſchen Nadbarn die Zu:
gehörigkeit Livlands zum deutſchen Reiche bedrohte und aud
manche deutiche Fürjten den morjchen Ordensftaat als willfommene
Beute zu betradhten anfingen, jchien es am zweckmäßigſten, Die
Kataftrophe dadurd hinauszuichieben, daß man den doch unhaltbar
gewordenen Zuſtand jo lange aufredjt erhielt, als es eben ging.
Ganz bejonders fürdtete man ſich aber vor den Umtrieben des
Erzbiihofs von Riga, Markgrafen Wilhelm, und feines Bruders,
des preußiichen Herzogs, die, mit König Sigismund Il. Auguſt
von Polen nahe verwandt, eine polenfreundfiche Partei organifirten
und nicht abgeneigt waren, Livland ebenjo wie Preußen vom
Reiche zu löjen und es mit polnilcher Hilfe gleichfalls zu einem
erblichen brandenburgifchen Fürftenthbum zu machen. Um fich vor
ähnlichen Anjchlägen zu ſchützen war 1546 durd den gemeinfamen
livländischen Landtag zu Wolmar bejchlojien worden, daß fein
Fürft ohne Zuftimmung aller übrigen Herren und Stände zum
Bilhof oder Koadjutor gewählt werden dürfe. Auch Erzbiichof
Wilhelm hatte diejes Geſetz unterzeichnet und beſchworen. Troßdem
nahm er num die alten Pläne wieder auf, als er Chriftoph ins
Land rief. Er war mittlerweile alt geworden; förperlid hinfällig
hatte er den Gedanken eine eigene Familie zu gründen auf:
gegeben; aber jeiner Sippe wollte er dus reihe Erzitift erhalten
und da er, im Lande unbeliebt und rings von Feinden umgeben,
nad einer jugendfräftigen Stüge für jeine alten Tage juchte, jo
lag der Gedanfe nahe genug, Sich einen Prinzen aus dem eng
verbundenen medlenburgiichen Haufe zum Koadjutor und Nachfolger
zu bejtellen. Es war far, daß der Ordensmeilter als mächtigſter
Stand und darum energiicheiter Vertreter der Unabhängigfeit
Livlands opponiren, ja einen MWaffengang nicht jcheuen würde.
Die verbündeten brandenburgiihen und medlenburgiihen Fürften
Herzog Chrijtoph von Medlenburg. 99
verficherten ſich aber der jehr eigennügigen Hilfe des Königs
von Polen und gingen troß aller Bedenken ans Werk.
Uebrigens war der Gedanke, einen mecklenburgiſchen Fürſten
in Livland mit Land und Leuten auszuftatten, nicht neu. Daß
ein Graf von Edwerin thätigen Antheil an der Eroberung
Livlands genommen und ein anderer ſchon Erzbijchof von Riga
gewejen war, mochte wohl ſchon halb vergejlen fein. Aber nod)
Chrijtophs Vater, Albrecht der Schöne, hatte merfwürdige Abfichten
auf Yivland gehabt, jelbit, als er jchon vegierender Herzog war,
für jeine Perfon an die Meijterwürde gedacht und dann jeinen
ältejten Sohn Johann Albrecht zum Koadjutor des Ordensmeijters
oder des Erzbiihofs machen wollen; für diefe Pläne hatte er
fogar die diplomatische Unterſtützung des Kaiſers erbeten und
erhalten. Wie er fi das nun auch im Einzelnen zurecht gelegt
haben mag, die Livländer beantworteten eben dieje Bewerbungen
mit dem Molmarjchen Nezeß von 1546, der allen ähnlichen Ber:
juchen der deutſchen Fürjten einen Riegel vorichieben jollte.
Schon zu Beginn bes Jahres 1554, aljo noch vor der
Erwerbung Rapeburgs für Chrijftoph, waren die Verhandlungen
zwiſchen Johann Albrecht, Albreht und Wilhelm wegen ber
Annahme Chrijtophs zum Koadjutor in Riga in vollem Gange.
Sie wurden geheim betrieben, um die libländiſchen Stände durd
die fertige Thatjahe zu überraihen. Aber der große Apparat
von Verwendungs: und Empfehlungsjchreiben für Chriftoph, welche
vom Sailer, von Königen, Kurfürften und Fürſten, ſelbſt von
Kardinälen erbeten wurden, machte eine völlige Geheimhaltung
des Planes unmöglid. Der Ordensmeilter Philipp von Galen
erfuhr von ihm und eine lebhafte Beunrubigung ergriff das Land.
Der Orden traf jeine Gegenmaßregeln und je länger fich Die
Entiheidung binzog, um jo entichloffener jchien der Orden au
jein, jeder Vergewaltigung des Landesrehts einen entichiedenen
MWiderjtand entgegenzufegen. Dan hatte in Livland den Eindrud,
einer weit verzweigten Verſchwörung gegenüber zu jtehen.
Da war es denn für die verbündeten Fürjten von unſchätz—
barem Werthe, daß der König von Polen entichlojlen ihre Sache
zu der feinen madte. Das Konjtanzer Konzil hatte einjt den
Großfürften von Littauen und eine Anzahl anderer Fürften zu
Koniervatoren des Erzitifts ernannt. Daß mit diejem Titel irgend
100 Herzog Ehriftoph von Medlenburg.
welche bejtimmten Befugniſſe verbunden jeien, war noch von
Niemand behauptet worden. Jetzt aber war der König von Polen
bereit zu erklären, daß der Wolmarjche Rezeß nichtig jei, weil er
die freie Wahl im Erzjtifte beeinträchtige und eine ſolche Bejtimmung
nothiwendig der Bejtätigung durd die Konjervatoren bedürfe. Er
erklärte ferner, von jich aus als Konfervator die Wahl Chriſtophs
zum Koadjutor dem Domkapitel empfehlen und jeine gejammte
Kriegsmacht für die einjegen zu wollen. Die Mehrheit des Dom:
fapitels und die einflußreichſten Stiftsräthe waren, durch Wer:
Iprehungen und medlenburgiiches Geld gewonnen, bereit Chrijtoph
zu wählen, wenn jie nur vor der Rache des Ordens fidher jein
fonnten und für ihre Perſon nichts zu fürdten braudten. Der
Erzbiichof hätte Chrijtopy am liebjten ſchon ım Sommer 1554
bei jich gejehen, ehe jeine Pläne ruchbar wurden. Uber erjt im
Herbjt 1555 waren alle entgegenjtehenden Schwierigfeiten geebnet,
jodaß er nad Livland aufbrechen konnte.
Es ijt begreiflich, daß die Herzogin Anna jeit der Entführung
Chriſtophs nad Paris von einem unüberwindliden Miktrauen
gegen ihren ältejten Sohn erfüllt war. Obgleich ihr Johann Albrecht
das bündige Verjprechen gegeben hatte, daß er Chrijtoph in feinem
Falle ohne ihre Zuftimmung aus Medlenburg entfernen werde,
jo war jie doch in bejtändiger Furcht, daß er ihr plötzlich entriffen
werden fünne; es fehlte nicht an allerlei ZJuträgereien und Gerüchten,
denen fie nur allzu willig ihr Ohr lieh, ſodaß das Verhältniß
von Mutter und Sohn jo Ichleht wie nur möglid war. Für
Chriſtoph aber wurde es verhängnikvoll, daß die Mutter unbedenklich)
die Heime des Argwohns und der Abneigung gegen den älteren
Bruder und VBormund in feine Seele pflanzte. Sie lehrte ihn
Johann Albrecht als eigennügigen, gewifjenlojen und Llieblojen
Mann, ſich jelbjt Hingegen als das bedauernswerthe Opfer
brüderlicher Intriguen und Schlechtigkeiten betrachten. Sorgfültig
vermied jie es in Chrijtoph einen wahrhaft fürjtlichen, thatenfrohen
Ehrgeiz anzuregen; dagegen jchmeichelte ſie jeiner Eitelkeit und
Selbjtliebe, indem ſie ihn zu übertriebener Werthichägung jeines
fürftlihen Ranges und Standes erjog. Im Mlittelpunfte jeiner
Intereijen jtand ihm fein „fürjtlicher Leib,“ der in erjter Linie
Pflege und Berüdjichtigung erheijchte.
Dan kann fi leicht vorjtellen, daß die Herzogin den liv-
Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 101
ländiſchen Plänen Johann Albrechts den allerheftigiten Widerjtand
entgegenießte und dab es einen ſchweren Kampf foftete, bis fie,
von allen Seiten gedrängt und in der Vorausjegung, daß Chrijtoph
gleih nad erfolgter Wahl wieder heimfehren fönne, ihre Aus
ftimmung gab (Auguſt 1555). Nun aber galt es nod) dasjenige
zu erreichen, worauf es Johann Albredt vor allem anfam und
um deſſen willen er fih hauptiählid in das livländiiche Abenteuer
ftürzte, — die MVerzichtleiftung Chriſtophs auf jein väterliches
Erbtheil in Medlenburg, von der die Frau Mutter erjt vecht
nichts willen wollte. Es jcheint nun, dat Johann Albrecht jeinen
Zweck jchließlih auf eine nicht ganz einwandfreie Art erreichte.
Er ſchenkte dem leichtjinnigen Knaben, der bisher nicht viel Geld
in der Hand gehabt haben mochte, ein rothes Sammetjädlein mit
300 blanfen Goldgulden und einen jchönen neuen Petichierring,
und die Freude über den Befiß einer jo großen Summe vermochte
den Unbejonnenen dazu, den Gebrauch des Petſchafts mit der Unter:
fiegelung der Nenunziationsurfunde zu eröffnen. So hat wenigitens
Chriſtoph ipäter an Eides Statt ausgejagt, und unterm Eide bezeugten
es mehrere Männer, daß die Herzogin Anna ihnen diejen Sachverhalt
fo mitgetheilt habe. Stets haben Anna und Chriftoph darüber
geklagt, dab Johann Albrecht in unwürdiger Weiſe die Verzicht:
leijtung feines Bruders und Mündels erihlichen habe. Wie dem
aud jein mag, Johann Albrecht handelte in feinem, feines Landes
und aud wohl jeines Bruders nterejje. Die Verzichtleiftung
jollte gelten, wenn es gelinge, das Erzſtift Niga für Chriftoph zu
gewinnen und für ihn zu behaupten. Sie ijt jpäter wiederholt
vom Kaiſer bejtätigt worden.
Drei Tage nad) der VBerzichtleijtung, am 17. September 1555,
machte ſich Chriftoph von einigen mecklenburgiſchen Näthen begleitet
auf den Weg. In Königsberg wurde längere Rajt gehalten und
mit Herzog Albrecht gerathichlagt. Ein von dieſem ausgefuchter
preußiiher Paſtor ſchloß ſich als Chriftophs Präzeptor und Hof:
prediger der Reijegejellichaft an. Dann irrte man längere Zeit
in den Wäldern und Sümpfen Littauens umher, um den Spähern
des Ordens zu entgehen, und langte endlid, nad einem jcharfen
zehnjtündigen Witte durch das dazwiſchen liegende Ordensgebiet
unbehelligt vor Kofenhujen, der Nejidenz des Erzbiſchofs, an, der
mit einem Gefolge von 150 Reitern jeinen fürftlichen Gajt feierlich
102 Herzog Chriftoph von Medlenburg.
einholte. Sofort begannen die Verhandlungen mit einem Ausſchuſſe
der Stiftsräthe und Kapitelherren. Es gelang fie zu dem Ber:
Ipredhen zu bewegen, die Wahl Chriftophs auch gegen den Wider:
ſpruch des Ordens vorzunehmen. Bald darauf traf ein polnijcher
Geſandter, Lantzki, ein, der den Schuß des Königs verhieß und
gegen den Orden eine drohende Sprade führte. Aber es gelang
nicht, dieſen einzuſchüchtern. Auf die Eröffnung Lantzki's, daß der
König die Wahl Chrijtophs wünſche und daß der Wolmarſche
Nezeß von 1546, weil nichtig, garnicht in Frage fomme, erflärte
der Orbensmeilter, daß er die Angelegenheit einem allgemeinen
Landtage unterbreiten müſſe. Vergebens gab ſich Lantzki Die
größte Mühe, den Ordensmeilter Galen umzuftimmen, vergebens
ftrih er auf dem Ordensfonvent zu Wenden im Januar 1556
Chrijtoph jo heraus, „als immer ein jchöner junger Freyer einer
hübjchen zarten jungjrauen fan und mag bdejcribiret, gelobet und
mit jeinen vedten und artigen farben ausgejtriehen werden.“
In hellem Zorn, geiteigert durd einen perjönlichen Konflikt mit
dem Ordensmeijter, verließ der Gejandte das Land. Der Orden
aber ließ jofort durch jeinen Komtur Gotthard Kettler in Nord:
deutichland jo umfallende Nüftungen und Truppenwerbungen vor:
nehmen, daß Johann Albredht für Medlenburg zu fürdten begann
und wiederholt daran dachte diefen Dann, der jpäter jein Schwager
werden jollte, niederwerfen zu lajlen und gefangen zu nehmen.
Mittlerweile wurde Chriftoph zu Lemjal Ende Januar 1556
wirflid zum Koadjutor des Erzbiſchofs gemählt und erhielt drei
jtattliche Nemter Treiden, Smilten und Pebalg für feinen Unterhalt
angewiejen. Alles fam nun auf den Landtag an, der im März
zu Wolmar zufammentrat. Bier zeigte es fi, daß der Orden
die Situation volltommen beherrſchte. Aud die Städte und
anderen Bijchöfe jtanden freiwillig oder gezwungen zu ihm. Nun
wollte man wohl, um einer friegeriichen VBerwidelung mit Polen
aus dem Wege zu gehen, fi) die Wahl Chrijtophs gefallen lafien,
aber nur unter Bedingungen, welche die ausdrüdlicdye Anerfennung
des Wolmarſchen Rezeſſes und den Verzicht auf jede Säfularijation
und jede weitere Ausbreitung der medlenburgiich-brandenburgijchen
Macht in Livland in fih ſchloſſen. Da der Erzbilchof Diele
Bedingungen im Vertrauen auf die polnische Hilfe ablehnte, jo
erklärten feine Gegner die ungejeglihe Wahl Chriftophs für
Herzog Chriftoph von Medlenburg. 103
Landfriedensbruch. Es mar Mar, daß fein Erjcheinen im Lande
den Bürgerfrieg entzünden mußte.
Wie eine Kriegserflärung wirkte es, da während beilelben
Landtages von den Drdensgebietigern in tumultuariicher Weile
dem altersfhwachen Galen der als befonders energiih und polen-
feindlich befannte Komtur Wilhelm von Fürjtenberg als Koadjutor
zur Seite gelebt wurde. Als darauf Schreiben des Erzbifchofs
aufgefangen mwurden, melche den unzweidentigen Beweis lieferten,
daß er polnifche und preußiiche Truppen ins Land rufe und fie
demnädjt erwarte, da jchlug der Orden los. Cr war mit feinen
Rüftungen fertig. Ueber Lübeck waren zahlreiche deutiche Anechte
nah Livland eingeichifft worden. Die zu einem neuen Landtage
verjammelten Stände ſchickten dem Erzbiſchof ihren Nbjagebrief
und ftellten ihre Aufgebote dem Drdensmeilter zur Verfügung.
Der Roadjutor Fürjtenberg, der den Oberbefehl übernahm, handelte
entichloffen und mit Umficht. Bald war das ganze Erzitift bejeßt,
die erzbilhöflichen Schlöffer mußten fich ergeben und am 29. Juni
erichien das Ordensheer vor Kofenhufen, wo Wilhelm und Chriftoph
mwehrlos und von aller Verbindung mit der Außenwelt abgeichnitten
faken. Selbit das Domkapitel und die erzitiftiiche Nitterichaft
hatten fie im Stich gelalfen, ihnen den Eid gefündigt, nachdem
der Drdensmeilter, in deilen Gewalt fie doch waren, ihnen Mit-
theilung von der landesverrätheriichen Korreipondenz des Erzbiſchofs
gemacht hatte.
Chriftoph war während dieſer ganzen Zeit in feiner Weile
hervorgetreten. Kür ihn hatten die bevollmächtigten Näthe jeines
Bruders und Vormundes gehandelt. Sehr zufrieden äußerten fie
fih über fein Benehmen nit. Sie klagten, daß er hitzigen
Getränken mie Musfateller und Meth im Uebermaße zuipreche,
daß es mit den Studien, die in Livland fortgelett werden follten,
garnicht gehen wolle, woran allerdings auch die Unruhe und der
unaufhörliche Ortswechſel ſchuld ſeien, und veranlaßten Johann
Albrecht, ihm ernit ins Gewiſſen zu reden. Der preußiiche Pfarrer
Junghenlein verließ Chriftoph in dieſer Zeit wieder und jchilderte
die Sittenverderbniß der Livländer in den grelliten Farben und
ftärfiten Ausdrüden. Seinem Bericht zufolge war Chriftoph fort:
während den ärgiten VBerjuchungen ausgelegt, jo daß fein Seelenheil
in Gefahr jtand. Junghenlein bat den Herzog von Preußen er
104 Herzog Chriftoph von Medlenburg.
wolle, „darob fein, damit das junge edle bluth“ mit geeigneten
Leuten umgeben werde, welche „der Gotteslejterung, Ichlemmen
und fauffen, dabeneben der hurerey und unzucht feint ſeyn, ...
auff das der [oblihe und hochgeborne fürjt mit den jodomitischen
leuten berer lande ... nicht dahin gehe.“ So werden mir denn
nicht zweifeln dürfen, dab Chriftoph vielfach auf Abwege gerieth.
Mehr als die männlidhen Ermahnungen des Bruders, ſich eines
ehrbaren, nüchternen und fürjtlihen Wandels zu befleißigen und
die Zeit, jtatt dem Spielen und Saufen, dem studio zu widmen,
mochten ihm die Briefe der rau Mutter gefallen, die ihre Sorge
um fein förperliches Wohl betonte und ihn unummwunden auf:
forderte, dem gefährlichen Lande lieber den Nüden zu fehren.
Noch ehe das Drdensheer vor Kofenhujen erichien, hatte
der Erzbiichof bereits jeine Unterthanen ihres Eides entbunden
und felbjt auf jeine Würde zu Gunſten des Domfapitels verzichtet.
Co hoffte er ſich leichter jalviren zu fönnen und die Erlaubniß
zur Abreife nad) Deutichland zu erhalten. Auch Chrijtoph hatte
um letztere nachgeſucht. An Widerſtand dachten fie nicht mehr.
Sept wurde Chrijtopp am 29. Juni ins Lager des Koadjutors
Sürftenberg befohlen und ihm eröffnet, daß man ihn für Die
Thaten des Erzbiſchofs nicht verantwortlid) machen wolle und ihm
auch gar feine Schuld beimejje; die Abreife aber fönne man ihm
nur gejtatten, wenn er mit feiner Ehre dafür einjtehe, daß meder
von preußiicher noch von polnischer Seite ein Angriff auf den
Orden erfolgen werde. Chriltoph, der ohne Begleitung feiner
Räthe im feindlichen Lager geweſen zu fein ſcheint, meigerte ſich
dejlen, worauf ihm bedeutet wurde, er müſſe ſich dann ſofort auf
ein Ordensichloß verfügen. Schließlich wurde ihm eine Friſt bis
zum anderen Morgen bewilligt. Als er am 30. mieder vor
Fürftenberg erichien, war eine Einladung für ihn nad) der Ordens-
reſidenz Wenden eingetrofien. Dorthin brach er von hundert
Reitern ehrenvoll esfortirt auf, mährend der Erzbiſchof ſich
bedingungslos ergab und nad) Adſel, ſpäter nah Smilten, zu
harter Haft abgeführt wurde. Der Orden übernahm die Ver:
waltung des Erzitifts. In Wenden lebte Chriſtoph acht Tage
als Gaſt des Ordensmeilters. Auf die flehentlichen Bitten der
erzitiftiichen Stände, die in jteter Angſt vor dem mäd)tigen Orden
Ichwebten, entjagte er dann auch jeiner Würde als Koadjutor und
Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 105
wurde fürftlich befchenft auf fein Schloß Treiden entlaffen. Hier
jollte er fih fo lange aufhalten, bis Polen und Preußen allen
friegeriichen Abfichten entjagt haben würden. Für feinen Unterhalt
beftimmte der Ordensmeijter jetzt die vier Nemter Treiden, Zemjal,
Salis und Wainfel, die Chriftoph auch in der Folgezeit an Stelle
der früheren drei behalten hat.
Das energische Vorgehen des Ordens entiwaffnete zeitweilig
feine Gegner, die mit ihren Rüftungen noch jehr im Rückſtande
mwaren. König Sigismund Auguſt hatte ſich getäufcht, wenn er
glaubte, feine Drohungen würden genügen, um den Orden gefügig
zu machen. Gemwohnt durch eine fchleichende, lauernde Politik zu
feinem Ziele zu fommen, jcheute er zunächſt vor friegeriichem Ein-
greifen zurück; er berief fi) darauf, daß er das Leben der Gefangenen
dur einen Angriff auf Livland gefährden könne und ging bereit:
willig auf friedliche Verhandlungen ein. Alle Bemühungen Johann
Albredhts und des Herzogs von Preußen, den ihnen widerfahrenen
Schimpf durd einen Krieg in großem Stil zu rächen, für den fie
unausgejegt und mit vielen Koſten rüfteten, jcheiterten an der
Thateniheu der Polen. Allerdings wurden die polnischen Nüftungen
fortgeießt und der Gedanfe an Krieg nicht völlig aufgegeben, der
polniiche Reichötag bemilligte auch die Mittel für denjelben; aber
zunächſt wollte man die Befreiung und Rejtitution mit glimpflichen
Mitteln verjuchen.
Die Vorgänge in Livland hatten allerwärts großes Aufiehen
erregt. Die Diplomatie des ganzen europäiſchen Nordens und
Dftens bejchäftigte jich mit ihnen und war eifrig bemüht den
Frieden aufrecht zu erhalten. Pommerſche, dänische und faiferliche
Gelandte erichienen nacheinander in Livland und fuchten Die
Reititution der beiden Fürjten in einer allen Betheiligten an-
nehmbaren Weile herbeizuführen. Langſam und ohne Enticheidung
zogen fich die jchleppenden Unterhandlungen bis in den Frühling
1557 hin. Da jtarb der Ordensmeilter Galen und jein Nad)-
folger wurde der Bolenfeind Wilhelm Fürjtenberg, der bisherige
Koadjutor. Jet aber hatten ſich die Verhältniſſe jehr zu Ungunjten
des Ordens verjchoben. Die polnischen Rüftungen waren beendet
und ein Krieg mit dem Mosfowiter jtand vor der Thür. Nun
Ichritt Sigismund Auguft zur That. Er felbit erichien mit einem
Heere von 80,000 Diann, deijen glänzenden Anblid und vor:
106 Herzog Chriftoph von Medlenburg.
trefflihe NAusrüftung Johann Albrechts Geſandter im polnifhen
Lager nicht genug rühmen konnte, an der livländiichen Grenze.
Im Angefichte diefer Uebermaht und der Gefahr, welche von
Moskau drohte, entſank Fürftenberg der Muth. Unter Vermittelung
ber Failerlihen Gefandten fam im September 1557 ber Friede
von Poswol zu Stande. Der Ordensmeifter that einen Fußfall
vor dem Könige und mußte die vollftändige Reftitution des Erz—
biihofs Wilhelm und feines Koadjutors Chriſtoph zugeitehen.
Darauf erjchienen beide Kürjten im polniichen Lager und reichten
dem Drbensmeilter im Zelte des Königs als Zeihen der Ber-
föhnung die Hand. Geinem Schüßling Chriftoph aber ließ der
König bedeuten, daß von nun ab Ergebenheit gegen Polen die
Richtſchnur feines Handelns zu bilden habe.
Dieſes Ergebniß, die einfahe Nejtitution, entſprach aber
nun feineswegs den hochgeipannten Erwartungen Herzog Johann
Albrehts und feines Schwiegervaters. Nicht nur blieben Wilhelm
und Chriftoph nad) wie vor verpflichtet, Feine Säfularifation vor:
zunehmen, fondern der Orden brauchte nicht einmal eine Kriegs:
entfhädigung zu zahlen, und doch hatte Albrecht 600,000 Gulden,
Johann Albrecht über 100,000 für Nüftungen verausgabt. Vollends
von der erträumten Croberung Livlands und der völligen Be—
jeitigung der Ordensmadt, welche dem Anjcheine nad doch im
Bereiche der Möglichkeit gelegen hatten, fonnte nun für lange Zeit
feine Rede mehr fein. Die deutfchen Bundesgenofjen Sigismund
Augufts waren empört; dieſe Nachgiebigfeit gegenüber der ordens—
freundlihen Wermittelungsthätigfeit der faiferlihen Geſandten
erſchien ihnen völlig unbegreiflich, wo doch der König den Trieben
nad) feinem Ermeſſen hätte diftiren fönnen.
Sigismund Auguft aber hatte eben nicht medlenburgifche
oder brandenburgiiche, Tondern polnische Politik getrieben und
feinen Vortheil in einer ganz anderen Richtung gejucht und
gefunden. Gleichzeitig mit dem riedensvertrage mußten nämlich
die livländiihen Stände mit Littauen ein Schub: und Trutz—
bündniß gegen Rußland eingehen. Für beide Theile ſollte dajjelbe
erit in Kraft treten, wenn ihre mehrjährigen Friedensverträge mit
Rußland abgelaufen ſeien. Da aber die Livländer in ihrem letzten
Friedensihluß mit Rußland fich verpflichtet hatten, ſich niemals
mit dem Könige zu verbünden, jo wurden fie nun zu einem
Herzog Ehriftoph von Medlenburg. 107
elenden Vertragsbruch genöthigt. Griff fie der Zar nach diefer
Herausforderung an, To ftanden fie ihm jchußlos gegenüber, meil
der polnisch = ruffiiche Friede noch nicht abgelaufen war, und
mußten die Hilfe ihres Bundesgenoffen um einen neuen Preis
erfaufen, den dieſer jelbjt bejtimmen konnte.
Die Polen hatten vollflommen richtig falfulirt. Wenige Monate
nad) den Poswoler Verträgen, im Januar 1558, brach mit dem Einfall
der Rufen das Unwetter über Livland herein, das das Land in
Stüde fchlagen ſollte. Was folgte, it befannt*). Ich hebe nur die
michtigiten Thatſachen hervor. Das Land, zu nachhaltigem Wider:
ftande unfähig, mußte ſich einer auswärtigen Schutzmacht anver:
trauen. Alle Nachbarn, das beutiche Neid, Schweden, Dänemarf
und Polen wurden um Hilfe angegangen, ein einmüthiges Vor:
gehen jedoch durch die Uneinigfeit und die Sonderinterefien ber
Landesherren unmöglich gemadt. Dede Oſtſeemacht ſuchte aus
dem Zuſammenbruche Livlands Vortheil zu ziehen und ein Stüd
Landes zu gewinnen. Nach den erjten entjeglichen Verheerungen
verfprah der König von Polen dem Erzbiſchof und dem neuen
Orbensmeijter Gotthard Kettler Hilfe gegen Abtretung umfänglicher
an Littauen grenzender Gebiete. Die Gebiete erhielt er; zuchtlofe
polniſche Bejagungen füllten die fejten Schlöffer; die Hilfe blieb
aber aus. Die polnische Politik war auf mühelofe Erwerbung
ganz Livlands gerichtet; man wollte darum dajjelbe allmählich
militäriſch bejegen, die Noth durch die unaufhörlichen Einfälle der
Ruſſen bis aufs Aeußerſte fteigen laſſen und dann die Herrichaft
über die verzweifelten Bewohner bedingungslos antreten. Für
diefe Politif fand der König einen Bundesgenojjen in dem hoch—
begabten, ehrgeizigen aber jErupellojen Ordensmeilter Kettler, der
die Rolle eines AZutreibers für Polen jpielte, in der Hoffnung
dereinit als polnischer Vaſall der weltlichen Fürft über die ge-
fammten Livlande zu werden. Die Polen begingen aber doch den
Fehler mit der wirklichen Hilfleiftung zu lange zu zögern. So
fam es, daß einzelne Landestheile ſich nad) anderer Hilfe umfahen,
und die Zerftüdelung Livlands begann. Das nördliche Livland,
etwa das heutige Gouvernement Ehjtland, huldigte dem Könige
Erid XIV. von Schweden, die Bisthümer Defel und Kurland
*) Das Folgende war im Vortrage ausführlicher behandelt.
108 Herzog Chriſtoph von Mecklenburg.
gewann der Herzog Magnus von Holftein, der Bruder des Königs
Friedrichs II. von Dänemarf, und diefe Gebiete fonnten nun als
dänischer Befis gelten, das Bisthum Dorpat war in den Händen
der Ruſſen. So blieb für Polen nur das Ordensgebiet in Kurland
und im eigentlichen Livland, ſowie das Erzbisthum Niga übrig.
Der Orbensmeifter und der Erzbilhof unterwarfen fi nad) langen
Verhandlungen zu Wilna Ende 1561 und Anfang 1562 dem
Könige von Polen. Gotthard Kettler wurde nad der Auflöfung
des Ordens als polnischer Vaſall Herzog von Kurland und
Gubernator des übrigen Livlands. Das Erzbistum blieb zwar
beitehen; doch mußten der Erzbiichof und feine Stände, Kapitel
und NRitterfchaft, dem Könige huldigen. Nur die Stadt Riga
verweigerte die Anerfennung der polnischen Herrichaft, hielt feit
an der Verbindung mit Haifer und Reich und wußte diefe Sonder:
ftellung noch zwanzig Jahre hindurdy zu behaupten. Die erhofite
Ruhe trat aber feineswegs ein. Vielmehr fam es zmwilchen den
betheiligten Mächten nunmehr zu einem zwanzigjährigen Kriege
um den Beſitz ganz Livlands und damit um die Normadtitellung
an der Oſtſee. Wer hier den Sieg gewann, wurde die Großmacht
des europäilchen Nordojtens. Es mar der erite jener vier großen
nordiihen Kriege, welche bis zu dem endlichen Siege Peters des
Großen immer diejelben Mächte auf den Plan riefen: Polen,
Schweden, Dänemark und Rußland. In dem Mtosfomwiter jahen
alle den Erbfeind chriftlihen Namens. Todfeindichaft beftand
zwiichen Polen und Schweden. Dänemark aber ſchloß fih Polen
an. Während Polen und Ruſſen fich vorzugsmweile in den
fittauifchen Grenzgebieten herumfchlugen, maßen Schweden, Dänen
und Polen auf dem furchtbar verheerten livländiichen Boden ihre
Kräfte. Gleichzeitig führten Schweden und Dünemarf zur See
und zu Lande einen verlujtvollen aber enticheidungslofen fieben-
jährigen Krieg von 1563-1570, in dem zum letten Male die
deutihe Hanſa als jelbjtändiger Machtfaktor, wenn aud nur
zweiten Ranges, thätig war. Erjt 1582 entfchied es fid, daß
Ehjtland ſchwediſch, das ganze heutige Livland polniſch wurde, die
Inſel Oeſel dagegen däniſch blieb. Das ift der große politiiche
Hintergrund für das Lebensbild Herzog Chriftophs.
Bald nad) dem Frieden von Poswal war er in aller Form
zum zweiten Diale zum Koadjutor gewählt worden. Er galt nun
Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 109
als einer der Herren des Landes; die erzbifchöflichen Regierungsafte
wurden in des Erzbiichofs und feinem Namen ausgefertigt und in
den Koadjutoreiämtern übte er eine beichränfte Landeshoheit. Aber
da der Umfang feiner Rechte weder durch Geſetz noch durch Der:
fommen genauer begrenzt war, jo blieb feine Stellung im Ganzen
doch eine unflare und unbeftimmte. Um jo mehr fam darauf an,
wieviel er jelbit aus ihr machen werde. Es gab body nicht wenige,
welche auf den jungen Fürften im Gegenſatz zum alten jchlaffen
Erzbiichof große Doffnungen festen.
Mie eritaunlich gering aber das Pflichtgefühl der livländiſchen
Landesherren damals war, zeigt der Umſtand, dak Chriftoph faft
gleichzeitig mit dem erjten Ruſſeneinfall, im Januar 1558, und
zwar mit Zuftimmung des Erzbiichofs, Livland verließ. Nicht
etwa aus Feigheit. Er wollte zur Mutter, feine Heimath mieder:
fehen, fih von den Aufregungen und Anjtrengungen bes liv—
ländiichen Yebens erholen. Vergebens mahnte ihn Johann Albrecht
zu jchleuniger Nüdfehr; der Erzbiihof und Herzog Albrecht ließen
fih in immer dringenderen Schreiben ebenjo vernehmen. Chriſtoph
mar Anfangs willig, den Geboten der Ehre und der Klugheit zu
folgen; unheilvoll erwies jich jedoch wieder der mütterliche Einfluß.
Anna wußte ihn ein ganzes Jahr zurüdzuhalten, jo dab er nur
müjfiger Zujhauer der Verwüſtung und ber folgenjchweren
Ereigniſſe in Livland war. Je länger er aber blieb, um jo
geipannter wurde jein Verhältniß zu Johann Albrecht, zumal er
ohne Rückſicht auf die Verzichtleiftung jeine Aniprüdhe auf den
vierten Theil Mecklenburgs erneuerte. Erſt Ende 1558 brad)
er mit einem neu gebildeten Hofitaat und 200 wohlgerüjteten
Reitern, deren Bejoldung Johann Albrecht auf ein halbes Jahr
übernahm, nad Livland auf. Er wurde ſehnlichſt erwartet. Eben
mwaren 130,000 Ruſſen ins Land gefallen, hatten einige Tage
bei Riga geheert und überall den größten Schreden verbreitet.
Ein Theil zog Fi im Februar 1559 wieder zurüd, ein anderer brad)
in Rurland ein. Da verbreitete jid das Gerücht, daß Chriftoph
mit einigen QTaufend deutſcher Truppen im Anzuge jei. Nun
räumten die Rufen eilig das Land und Chriftoph gelangte
ungehindert nad Riga und in feine verheerten Nemter. Erſchüttert
fchrieb er beim Anblid der Spuren ruſſiſcher Wildheit, die fich
2*
110 Herzog Chriſtoph von Medlenburg.
auf einer acht Meilen langen Strede zeigten: „Gott wolle fold
greulihen Sammer menden.”
Hatte Livland von vornherein, auch zur Zeit feiner materiellen
Blüthe, für Chriftoph wenig Neiz gehabt, fo ſchien es ihm jeßt,
nachdem er noch ſoeben die Ruhe und Behäbigfeit des medlen-
burgifchen Lebens gefoftet, ganz unerträglich zu fein. Parteiungen,
Feindſchaften und Gefahren aller Orten; die Nondjutoreiämter
vermüjtet und in ihren Einnahmen fehr erheblich reduzirt; dazu
fein fürftfiher Stand in. diefer alten Domäne bes kleinen Adels
wenig reipeftirt, — das alles wurde unter dem Gefichtspunft
betrachtet, ven ihn feine Mutter gelehrt, daß er aus Mecklenburg
durd) das Uebelwollen und die Habſucht des Bruders ins Elend
verftoßen fei.
Kaum war er in Livland angelangt, jo erhielt er fajt gleich
zeitig von Erzbifchof Wilhelm und Herzog Albrecht die Mittheilung,
dab die Herzogin Anna, im Begriff ſich heimlih in Begleitung
ihres Sohnes Karl nad) Livland durchzuſchleichen, an der preußiichen
Grenze in Memel erfannt und aufgehalten worden ſei, und daß
der Herzog nicht gemillt jei, ihr die Erlaubniß zur Weiterreife zu
geben. Die Meldung enthielt für Chriftoph nichts Ueberrafchendes.
Bei der Abreife von Medlenburg war vereinbart worden, daß
Anna Sobald als möglich ihrem Liebling folgen ſollte. Wohl
mußten beide, welche Bedenfen einem jolden Beſuche im Wege
ftanden: dab er durhaus gegen den Willen ihrer nächſten An-
gehörigen lief, daß der Aufenthalt in Livland gefährlich fei, zumal
für eine ältere, fränflihe Fürstin, daß eine Dame von Stand an
den zoelibatären und deshalb um jo zuchtloferen geiftlichen
Fürftenhöfen Livlands eine unerhörte Erſcheinung jei und ihr
Beſuch allen Widerfachern eine unübertrefflihe Gelegenheit zu
Spöttereien und Verunglimpfungen aller Art biete. Darum mar
Chriſtoph wohl auch ziemlich vorbereitet auf das, mas er nun
von allen feinen Verwandten zu hören befam: dab die Reife der
Herzogin in ärmlichem Aufzuge das Gerede von den hungrigen
Fürften, die in Livland jatt werden wollten, wieder aufbringen
werde, daß Chriftoph ſich lächerlich made, der Land und Leute
regieren wolle und fich nicht eine kurze Zeit der Mutter enthalten
fönne, und daß er ſich Koriolans Selbjtändigfeit und Stand»
haftigfeit der Veturia gegenüber zum Mujter nehmen fole. In
Herzog Ehriftoph von Medlenburg. 111
Memel jpielten fich erregte Szenen ab. Die Herzogin follte mit
Gewalt nad Königsberg gebracht werben; jte jchwor, lebendig
den Ort nicht zu verlajlen, es jei denn auf dem Wege nad)
Livland; fie nahm feine Nahrung zu ſich und warf ji in Mein:
främpfen auf das Bett der elenden Herberge. Der junge Herzog
Karl jtand rathlos daneben. Endlich ließ ſie jih nad Nagnit
führen. Als fie dort zwei Monate geweilt hatte, wurde Herzog
Albredt mürbe und gejtattete, da mittlerweile ein halbjähriger
Maffenftillitand mit den Nullen zu Stande gefommen war, die
Weiterreiſe nad Kokenhuſen, von wo fie nad) ganz kurzem Aufenthalt
zurüdzufehren verjpredhen mußte. Anfang Juni war die Herzogin
in Livland und blieb dort bis zum Januar des folgenden Jahres
1560. In weldem Sinne fie Chrijtoph beeinflußte, fann nicht
zweifelhaft jein. Unter dem unmittelbaren Cindrud der über:
jtandenen Aufregungen und Strapazen, ſowie des Anblids eines
entjeglidy verwüjteten Yandes, der alle ihre Befürdtungen übertraf,
wandte fie fi glei nad) der Ankunft mit einem Schreiben an
den Kailer, das neben verzweifelten Klagen über ihr eigenes Elend
und die hartherzige Selbjtjuht ihrer älteren Söhne die Bitte
enthielt, Chrijtoph aus Livland abzufordern und ihn mit einer
Grafihaft in den oberen Landen zu verjehen. Zugleich betheuerte
fie in der Angſt, daß die beginnenden Unterwerfungsverhandlungen
mit Polen Chriſtoph die Acht des Neiches zuziehen fönnten, daß
er an ihnen unjduldig jei und gegen jie protejtirt habe. Als
dann durch die Geichwäßigfeit von Chrijtophs Kanzler Adatius
von Brandenburg und die offen zur Schau getragene Abneigung
der Herzogin gegen alles Livländiiche ihre Gedanken und Abjichten
befannt wurden und aud) der Herzog von Preußen und durd ihn
Johann Albrecht von ihnen erfuhren, entjpann ſich ein heftiger,
erbitterter Briefwechſel, in dem Chriſtoph ſich jagen lajjen mußte,
dab er fein Gefühl für fürftlihe Ehre und Pflicht habe und den
Häujern Dedlenburg und Brandenburg unauslöſchlichen Schimpf
und Schande bereite, wenn er Livland jetzt aufgebe. Der uner:
quidlihe Streit hatte wenigitens das günftige Ergebniß, daß
Mutter und Sohn ſich veranlaßt jahen, in aller Form ihre
geheimen Wünjche zu verleugnen.
Als Koadjutor des Erzitifts mußte nun Chriftoph zu der
Politik des Landes Stellung nehmen. Die Schugverhandlungen
112 Herzog Chriftoph von Medlenburg.
mit Polen waren im Gange und wer der Thatjahe gedachte,
daß Chriftoph feine Stellung allein der Unterjtügung Sigismund
Augufts zu danken hatte, muhte ihn ohne Weiteres zu den
rüdhaltlojen Barteigängern Polens zählen. Wie erwähnt, erwartete
das aud Sigismund Auguft und unermüdlid waren Johann
Albreht und fein Schwiegervater beftrebt, Chrijtoph davon zu
überzeugen, daß Piliht und Klugheit ihm in erjter Linie Rückſicht—
nahme auf Polen geböten. Dem aber hatte von Anfang an Die
Herzogin Anna mit Erfolg entgegengearbeitet. Sie war voll
Mißtrauen gegen die polniſche Politik. Nun wurde immer flarer,
daß jede Annäherung an Polen Livlands Verbindung mit dem
Reiche loderte und löſte. Thaten Kaijer und Neid) audy rein
garnidis, um Livland zu erhalten, jo gebot es doch des Kaijers
Ehre, den Verluſt der Kolonie niemals gutmwillig anzuerkennen.
Wer an der Nbtrennung Livlands vom Reihe mitwirkte, verſcherzte
unfehlbar jeine Gunſt. Auf dieje legten aber Anna und Chrijtoph
das größte Gewidt. Denn der leitende Gedanfe für jie war die
Rückſicht auf das väterlihe Erbtheil in Mecklenburg, zumal jegt
wo in Livland alles ins Wanfen geriet. Für die Enticheidung
über Giltigfeit oder Ungiltigfeit der Nenunziation von 1555 und
für die Wiedererlangung des verlorenen Anſpruches war jedod
die Unterjtügung des Kaiſers von größtem Werthe. Aber aud
ohne dieje Erwägungen lebte in Chrijioph ein fräftiges Bemwußtjein
jeiner reihsfürjtlihen Stellung; es war wohl das Bejte, was er
dem Einfluß der Mutter zu danfen Hatte. So drängten ihn
Neigung, Interejjen und Standesgefühl zu einer polenfeindlichen
Haltung. Rückſichten auf die Bedürfniſſe Livlands jtanden dabei
in legter Linie. Wie denn das Land vor völligem Ruin bewahrt
werden jollte, wenn es jelbjt zu ſchwach zur Abwehr der Ruſſen
war, wenn das Neich feine Hilfe bradıte und der Preis für Die
Hilfe Polens doch nicht gezahlt werden jollte, darüber hat er faum
nachgedacht, und ſich in heroischem WVerzweiflungsfampf unter den
Trümmern begraben zu lajjen, war er am allerwenigjten gemwillt.
Nur widerftrebend, unter dem ausdrüdlichen Vorbehalt, daß den
Rechten von Kaifer und Reich nichts vergeben werden dürfe, und
unter förmlichen Protejten gab er jeine Zuſtimmung zu den Ver—
handlungen mit Polen. Der erſte Schußvertragvon 1559, der die
Verpfändung oder Abtretung von ersitiftiichen und Ordensgebieten in
Herzog Chrijtoph von Medlenburg. 113
ih Ichloß, fand jeine Billigung nicht, doch fonnte er ihn nid
verhindern. Daß aber nicht ſchon damals der Erzbiſchof mit
vollen Segeln in den Dafen polniiher Unterthänigfeit einfuhr,
war doch wejentlih dem Widerjtande Chriſtophs zuzuschreiben.
Bon nun ab mehrten ſich jedoch die Zerwürfniffe zwiſchen ihm
und Wilhelm, jo dab das Verhältnik von Sohn und Vater, das
fie ihren gegenjeitigen Beziehungen zu Grunde legen wollten, nur
noh in den Anreden ihrer oft gereizten Korreipondenz fortlebte.
Im Spätherbit 1559 kam noch einmal ein Feldzug der Livländer
gegen den Mosfowiter zu Stande. Kettler führte die Ordens:
truppen, die bijchöflidhen Aufgebote Chrijtoph, das erfte und einzige
Mal, daß er fih im Felde dem Feinde gegenüber ſah. Cs hatte
ihwere Mühe gefoftet, ihn zur Uebernahme des Feldherrnamtes
willig zu maden. Ihm fehlte jeder friegerijche Ehrgeiz. Das
hauptſächlichſte Motiv jeines Widerjtrebens lag jedoch darin, daß
weder jeine nod des Erzbiſchofs Mittel zu einer fürftlihen Aus—
jtattung für ihn und jein Gefolge reichten; der Gedanfe war ihm
unerträglid, daß die verhakten Ordensleute, ja jelbjt die ruſſiſchen
Bojaren, es ihm an Glanz des Auftretens zuvor thun jollten.
Er gerieth darüber mit dem Erzbiſchof, deſſen Mittel völlig erjchöpft
waren, in die ärgerlichiten Zwijtigfeiten. Ganz freilih hat aud)
er ji dem Reize, als Anführer in anjehnlicher Stellung thätig
zu dein, nicht entziehen fünnen. Der Feldzug, bejtimmt zur
MWiedereroberung des Bisthums Dorpat, verlief rejultatlos und
unrühmlid, nit aber durch Chriſtophs Schuld, der vor dem
Feinde in einigen Gefechten jeine Pflicht that und jehr gegen
jeinen Willen den weiteren Kampf aufgeben mußte, weil der
Erzbijchof jeine Truppen zum Echuge des Erzitifts zurückrief.
Wir fünnen über die Erlebniſſe Chriſtophs in den folgenden
anderthalb Jahren furz Hinweggehen. Es waren Zeiten jchwerjter
Noth für das Land, deſſen Bedrängniſſe nod) durch die Gefahr
eines Bürgerfrieges gejteigert wurden, den das Auftreten des
Herzogs Magnus von Holſtein heraufzubejchwören drohte. Rüſtungen,
Berathungen mit den Befehlshabern der polnischen Präfidien in
den Feltungen, Verhandlungen aller Art füllten aud die Zeit
Chrijtophs aus. Drei Mal reijte er zu Herzog Magnus, dem er
durch Verwandtichaft nahejtand und deſſen perjönliche Verhältniſſe
eine merfwürdige Aehnlichfeit mit denen Chrijtophs aufweiſen,
114 Herzog Chrijtoph von Medlenburg.
und bewirkte endlich auch einen Vergleich zwiichen ihm und dem
Ordensmeiſter Kettler. Stets wurde er als der jelbverjtändliche
Feldherr der Erzftiftiichen betrachtet. Vor den Feind ijt er aber
nit mehr gefommen, wenn er aud wiederholt in Gefahr jtand,
von jtreifenden Ruſſenſchaaren in Treiden gefangen genommen zu
werden. Es jcheint, daß er durch thatjächliche Theilnahme an den
allgemeinen Zandesangelegenheiten ſchließlich doch einiges Intereſſe
für fie gewann.
Menn er es nur verjtanden hätte zu den Ständen bes
Landes das richtige Verhältnig zu finden und jeinem fürftlidhen
Anfehen Geltung zu verihaffen! Er befand ſich fortwährend in
Seldverlegenheit. Von Johann Albrecht wurde er nur ungenügend
unterjtügt; es zeigte fih, daß die Kräfte Medlenburgs für eine
erfolgreihe Durdführung jeiner livländiſchen Politik dody bei
Meitem nicht ausreihten. Mehr aber als durch jeine allerdings
Häglihe Mittellofigkeit jchädigte Chrijtoph das fürftlihe Anjehen
durch eine wüjte und anftößige Yebensweile. In der Korreipondenz
Johann Albredts mit dem Herzoge von Preußen und dem Erz:
biſchof Wilhelm wird immer wieder über jein maßlojes Trinfen
geflagt, an das ſich oft unfürjtlihe Naufereien auf offener Straße
ſchloſſen. So jchreibt Johann Albredt einmal dem Erzbilchof:
„Daß fih mein Bruder jo übel anläßt mit Balgen und Saufen,
daraus nichts Gutes folgt, ift mir treulich und von Herzen leid.
©. 8. haben es bei mir nit gelernt.” Ein anderes Mal hofit er,
Chriſtoph werde ſich bejjern, „wie die niederländiihen Maidlein,
wenn fie ausgerajet haben.“ Leider ließ die Bejjerung noch lange
auf fih warten. Die Nitterihaft des Erzitiftes entfremdete er
fih durd; gewaltjames und unfluges Verfahren gegen Jürgen von
Roſen, das Haupt eines der mächtigſten Sejchlechter, dem er mit
einem Schein des Rechtes jein Stammſchloß Roop nahm. Auch
mit dem Domkapitel, bejonders mit dem Defan Jakob Med,
gerietb er in den heftigiten Zwiſt. Um ihre Einfünfte zu
vermehren, dann aber aud, um die Gäfularijation des Erz—
jtiftes vorzubereiten, bradten er und der Erzbiſchof mehrere
Kapitelsgüter und ſchlöſſer unter verjchiedenen Vorwänden
an fid. Die geichädigten Pfaften, über deren unausjtehlichen
Hochmuth jih Erzbiihof und Koadjutor oft beichwerten, riefen
polniihe Hilfe an, verleumdeten Chrijtopp nah Kräften und
Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 115
verleideten ihm den Aufenthalt in Livland noch mehr als vorher.
Da er außerdem allen auf die Unterwerfung Livlands unter
Polen gerichteten Beitrebungen einen beharrliden und prinzipiellen
MWiderftand entgegenjegte, jo wurde jeine Lage eine höchſt uner-
quidliche, und als die Stunde der Entjcheidung heranrüdte, verließ
er im Sommer 1561 Livland zum zweiten Male, jo daß ſich das
Geſchick des Landes durd die Wilnaer Verträge ohne jedes Zuthun
jeinerjeits vollzog.
Zu Weihnachten 1561 finden wir ihn am Hofe des Kaijers
zu Prag, um fid von dieſem Berhaltungsmaßregeln für jein
Verhalten gegen Polen geben zu laſſen. Natürlih lautete ber
Beſcheid des Kaiſers dahin, daß Chrijtoph jeine Pflichten gegen
das Neid) nie vergeſſen dürfe. Willfommen war ihm ferner des
Kaijers Rath, nur dann nad) Livland zurüdzufehren, wenn feine
Anmwejenheit dort den Abfall vom Neiche verhindern fünne. So
gewann er in der ausdrüdlichen faijerlihen Weiſung einen vor:
trefflihen Stüßpunft gegen feinen Bruder, um die Rüdfehr nad
Livland überhaupt zu verweigern.
Johann Albreht erkannte, daß alle Mühen und Geldopfer,
die auf Livland verwendet waren, vergeblich zu werden drohten,
vergeblich durch die Schuld Chrijtophs, der ſich der ihm zugetheilten
Aufgabe entzog. Unmittelbar nad der Iinterwerfung Livlands
und nadhdem Gotthard Kettler den Herzogshut von Kurland
erhalten hatte, verlautete, daß König Sigismund Augujt willens
gewejen war, jeine Schwelter Chrijtoph zu vermählen und Chrijtoph
alle die Vortheile, ja nod) weit größere zuzuwenden, die Kettler
jest als Lohn jeiner Ergebenheit davontrug. Da Chrijtoph der
rehtmäßige Nachfolger des ſiechen alten Erzbiſchofs war, Die
Säfularijation des Erzitifts aber vor der Thür jtand, jo hatte
aljo Chriſtoph vielleicht die erbliche Herrichaft über Kurland und
das Erzitift, aljo ein großes Fürſtenthum zu beiden Seiten der
Düna unter polnijcher Lehnshoheit in Ausficht geitanden, wenn er
ih Polen fügte. Sept blieb nur noch die Hoffnung, wenigitens
das Erzitift irgendivie für das Haus Mecklenburg zu retten. Der
Gedanke tauchte auf, wenn Chrijtoph es muthwillig preisgab, das
Nachfolgereht auf Johann Albrechts zweiten Sohn, den erjt kürzlich
geborenen Herzog Sigismund Auguſt, übertragen zu lajjen.
116 Herzog Chriſtoph von Medlenburg.
Chriftophs Verhalten läßt indeſſen jede Folgerichtigkeit ver:
millen. Vom Kaiſerhof zurüdgefehrt, gab er Johann Albrecht
zwei Dal das bündige Verjpreden nad Livland zurüdzufehren,
ja ließ fih das Reiſegeld einhändigen, und blieb doch in Mecklenburg.
Aber auch der Aufenthalt in Medlenburg und Ratzeburg hatte bei
den immer geipannter werdenden Verhältniß zu Johann Albrecht
wenig Neiz für ihn und die Ausſicht auf eine eigene Herrſchaft
über Yand und Leute in Livland zeigte ſich ihm in verlodenderem
Lichte, als er einen Weg jah, das Erzitift ohme die läjtige Ab:
bängigfeit von dem verhaßten Polen zu gewinnen. Schwediſche
Unterhändfler näherten jih ihm gleich nach jeiner Ankunft in
Medlenburg im Sommer 1561. Wollte König Erih XIV. die
Polen ganz aus Livland verdrängen, jo war unfraglid Chrijtoph
ein ſehr willkommener Bundesgenoiie. In tiefitem Geheimniß
wurde ein ganzes Jahr lang verhandelt. Dann im Auguft 1562
war Ghrijtophs Entihluß gefaßt. Unter gröblider Täuſchung
feines Bruders, der fejt davon überzeugt war, daß er nun wirklich
die verjprocdhene Reiſe nach Livland antreten werde, jchiffte er fich
nad) Schweden ein. In Mecdlenburg wußte nur die Herzogin
Anna um jeine Pläne.
In Stodholm ſchloß nun Chrijtoph mit König Erid XIV. am
31. Oftober 1562 einen Vertrag, durd) den ihm die Hand der noch
minderjährigen Prinzeifin Elifabeth, der Schwejter Erichs, zugefichert
wurde und in dem er alle jeine gegenwärtigen und zukünftigen Be:
figungen in Livland vom Könige zu Lehen nahm. Erid aber
verſprach mit Polen nicht eher Frieden zu Schließen, als bis das
Erzitift Riga erobert und als ſchwediſches Lehnsfürſtenthum an feinen
Schwager und Vafallen Chriftoph übertragen worden jei. Aus:
drücklich wurde vereinbart, daß der Vertrag auch gegen den Willen
des Kaiſers Geltung haben ſolle. Chrijtoph that aljo, was er
bisher jtetS perborreszirt hatte, nur daß er nicht zu Polen,
jondern zu deſſen Feinden abfiel. Dieje Verleugnung aller früheren
politiihen Grundjäge war aber eine jo breite und ofjenbare, daß
Chriftoph weder damals noch jpäter ſich öffentlich zu derjelben zu
befennen gewagt hat. Auch mußte er zu gut, daß die enge
Verbindung mit Schweden ein Schlag ins Gefiht der medlen-
burgiijhen Haus: und Familienpolitit war; denn Schweden war
der gemeinjame Feind der Medlenburg nah verwandten polnischen
Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 117
und däniſchen Königshäufer. Vorfichtshalber unterzeichnete Chriftoph
deshalb noch einen zweiten Vertrag, der nur von der Heirathsftiftung
handelte, die Zujtimmung des Kaijers zu ihr vorausjegte und gar
feine politiichen Bejtimmungen enthielt. Mit ihm konnte er jich
zur Noth vor der Welt jehen laflen *).
Kurze Zeit nah Abſchluß Ddiejes Vertrages verlautete, ber
Erzbiſchof jei gejtorben. Von Erid XIV. mit 2000 Thalern
Reijegeld verjehen machte ſich Chriftoph im Winter auf den Weg,
um jein Sukzeſſionsrecht geltend zu machen. Mit fieben Begleitern
landete er im Dezember 1562 in Reval, wo ihm troß feines
Inkognitos die Bürger einen fürftlihen Empfang bereiteten.
Obgleich es ſich hHerausftellte, daß das Gerücht von dem Tode
des Erzbiichofs falſch jei, jegte er die Neile fort, da an dem
baldigen Ende dejjelben nicht zu zweifeln war. Mit dem ſchwediſchen
Gouverneur und den Befehlshabern der Truppen wurden Verab-
redungen getroffen für den Fall, daß er bewafjnete Hilfe nöthig
haben oder durch die Polen zur Flucht gezwungen werden jollte.
Die Berhältnijje lagen für ihn in jomweit günftig, als gerade
damals König Sigismund Auguſt feine ganze Heeresmacht an der
rujfiich-littauifchen Grenze zujammenziehen mußte und in Livland
nur die fejten Schlöjler nothdürftig bejegt halten fonnte, aljo an
offenen Kampf gegen Schweden zunächſt nicht denfen durfte.
Chriſtoph gelangte glüdlih in jeine Koadjutoreiämter, die er von
treuen Hauptleuten wohlverwahrt fand. Gleih darauf jtarb
der Erzbiihof am 4. Februar 1563. Chriftoph verkündete, daß
er die Regierung des gejammten Erzitiftes nunmehr antrete und
forderte jeine Unterthanen zur Huldigung auf, als ob die polniſche
Oberherrihaft garnicht eriftirte. Sigismund Auguft erklärte ſich
auch jetzt noch bereit, ihn als Erzbiichof anzuerkennen, wenn er
jofort die Unterwerfungsverträge ratifizire und jelbjt die Huldigung
leijte. Anderenfalls verbot er jeinen livländiicdhen Unterthanen, ihm
irgend melde Hoheitsrechte zuzugeitehen. Ghrijtoph wiederum
erflärte von den beiten Abjichten gegen den König erfüllt zu jein,
nur die Yuldigung werde ihm dur ausdrüdliches Faijerliches
Verbot unmöglich gemadt. Soweit die ſchwachen Kräfte der Polen
*) Die Originale beider Verträge im Reichsarchiv zu Stodholm. Der
erjte gedrudt bei Rydberg Sverges Traftater IV. Eine Kopie des zweiten im
Shmeriter Artio,
118 Herzog Chriſtoph von Medlenburg.
reiten, ſuchten fie ihn zu jchädigen und, obwohl er Weiter und
Knechte in jeinen Dienſt genommen hatte, fühlte er ſich doch
feinen Augenblid ſicher. Tief erbitterte es ihn, daß feine Siegel
von den Kajten, in denen der Nachlaß des Erzbifchofs fich befand,
von einem polnischen Kommiſſar abgeriffen, mit Füßen getreten
und durch polnische Siegel erjegt wurden. Obwohl er nun jchriftlich
und mündlich jede Verbindung mit Schweden in Abrede jtellte,
jo ließ er jchließlich dody zu jeinem Schuß dreihundert Schweden
in das Erzitift unter dem Vorwande einrüden, daß es nur ben
Schutz jeiner Unterthanen vor der Zuchtloſigkeit der polnischen
Befagungstruppen gelte, und wenn er fie nachher auf den Rath
des Herzogs von Preußen auch wieder aus dem Lande entfernte,
jo gab er dem Könige damit doch den offenfundigen Beweis
leines Bündniſſes mit dem Feinde und die ſtärkſte Handhabe zu
aggrejlivem Vorgehen. Nun ſchlug aber die Hoffnung, daß die
Schweden die günftige Lage zur raſchen Eroberung des Erzitifts
benugen würden, völlig fehl, denn eben damals fam der ſchwediſch—
däniſche Land- und Seefrieg zum Ausbrud” und nahm alle ver:
fügbaren Streitkräfte in Anſpruch. Was ſollte Chrijtoph in dieſer
Lage thun? Bitter rächte fih die Doppelzüngigfeit und Un—
wahrhaftigfeit jeines bisherigen Verfahrens. Entichloß er ſich in
legter Stunde doch noch dazu, das Erzbisthum als polnischer Vaſall
aus der Hand Sigismund Auguſts zu empfangen, jo fonnte
Erich XIV. ihn durd Veröffentlihung des geheimen Vertrages
unheilbar fompromittiren. Brachte er aber jeine Perſon rechtzeitig
bei den Schweden in Sicherheit, jo jtellte er jeine Ehre nicht
weniger blos, da er jede Beziehung zu ihnen formell und feierlich
geleugnet hatte. Er handelte nun, wie Leichtfinnige zu handeln
pflegen: anjtatt einen bejtimmten Plan zu fallen, hoffte er auf
einen günjtigen Zufall und war nur zu geneigt, den Ernjt der
Lage zu unterſchätzen. Als Sigismund Auguft ihn, um Zeit zu
gewinnen, feiner Freundichaft und feines Wohlwollens durd einen
befonderen Boten verfihern ließ, ging er in die Falle. In blindem
Vertrauen auf dieſe nichtsjagenden, heuchleriſchen Phraſen redete
er jih ein, die Polen würden jegt wirklich nichts gegen ihn
unternehmen und vereinbarte mit ihnen, daß der Kaifer nod) einmal
gefragt werden jolle, ob er in die Abtretung Livlands willige.
Bis zum Eintreffen der faiferlihen Antwort ſollte er jich frei im
Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 119
Lande bewegen dürfen. Gerabe damals mar aber Gigismund
Auguft mit feinen Rüftungen fertig geworden. Ein anfehnliches
Heer, meiſt beutiche Landsknechte, rüdte unter dem Oberbefehl
des Herzogs Gotthard von Kurland durd das Erzitift gegen Die
Schweden vor. Chriltophs Leichtfinn überfchritt nun jedes Maß, als
er aus feinem anderen Grunde, als um zu jagen und den Vorbei»
marjch der Truppen anzujehen ſich auf das Schloß Dahlen bei Riga
begab, das er und Erzbiſchof Wilhelm im Jahre 1561 dem Dom-
fapitel entriſſen hatten. Hier wurde er plötzlich Ende Juli von
der polniihen Armee eingeichlojfen; vierzehn große Geſchütze
fuhren gegen das ſchwache Haus auf und ein eriter Sturmlauf
murde verſucht. An Widerſtand war nicht zu benfen und jo
fapitulirte denn Chriftoph am 4. Auguſt 1563. Die Zumuthung
der Huldigung lehnte er auch jegt ab. Dagegen verzichtete er,
mas garnidt von ihm verlangt, ja von den Unterhändlern, den
Räthen des Herzogs von Preußen, direft widerrathen wurde, auf
alle feine Rechte am Erzitift zu Gunſten des Königs Sigismund
Auguft. Diejer Verzicht fiel ihm nicht ſchwer. Er glaubte mit
ihm feine baldige Freilaſſung zu erfaufen, auf die ihm die Unter:
händler Hoffnung machten, und er perfönlich verlor dadurch nichts,
da ihm ja das Erzitift fiher war, wenn es von den Schweden
erobert wurde. Wohl aber jchädigte er durch die Preisgabe feiner
Rechte in jehr empfindlicher Weile die Intereilen feines Bruders
und des ganzen medlenburgiichen Haujes.
MWährend er nun auf dem Schloife zu Riga in fürftlicher
Haft gehalten wurde, begaben ſich Die preußiichen Räthe zum
Könige, um deſſen Befehle einzuholen. Nach einigen Wochen
bradten fie eine nicht ungünftige Antwort. Der König ſchien
feinesmegs abgeneigt, Chriftoph nad) Deutjchland zu entlaſſen,
forderte aber, um üblem Gerede vorzubeugen, zuvor eine Zu—
fammenfunft mit ihm in Wilna. Ein heuchleriſcher Brief Sigis-
mund Augujts bejtärkte Chriftoph in dem Wahne, als ob ber
König ihm noch immer mwohlwollend gefinnt ſei. In Wirklichkeit
lag Sigismund Auguſt nur daran, ihn aus der deutichen Um—
gebung in Livland, der er doch nie recht traute, zu entfernen und
ihn in feiner unmittelbaren Nähe zu haben. Auch in Wilna, wo
Chriſtoph ſcheinbar als freier Dann in vollem Waftenichmud,
umgeben von einem zahlreihen Gefolge polniicher Neiter und
120 Herzog Chriſtoph von Medlenburg.
eigener Diener einritt, wurde er durchaus ftandesgemäß behandelt.
Aber feine Ausfichten verdüjterten ſich, als Woche um Woche verrann,
ohne daß der König ihn zu fich rufen ließ, bis ihm ſchließlich
mitgetheilt wurde, Johann Albrecht und Herzog Albredt von
Preußen hätten ihre Vermittelung angeboten, der König ermarte
Johann Albreht ſelbſt in Warſchau und dort ſolle Chriitophs
Angelegenheit dem Neichstage zur Enticheidung übergeben werden.
Mit mefentlih herabgeſtimmten Hoffnungen trat er die Weiterreiie
an. Furcht vor der ungewillen Zufunft, ein ſchlechtes Gewiſſen
dem Bruder gegenüber, dem er in Medlenburg jtets aus dem
Wege gegangen war und den unter ſolchen Umjtänden wieder:
zufehen ihm peinlich genug war, dazu das nicht ungerechtfertigte
Miktrauen, daß es Johann Albreht nad) allem, was geichehen
war, weniger um jeine Befreiung als um die Wahrung ber
medlenburgiichen Intereſſen zu thun jein werde, — alle biete
Erwägungen modten ihm die durch längeren Aufenthalt in dem
Flecken Liwa unterbrodhene Reiſe jehr unerquidlid maden. Im
Schweriner Archiv befindet ſich ein von Chriltophs Sefretär
Johann Köhler geführtes Tagebuch über dieſe Reife und Die erite
Zeit des Aufenthaltes in Warfchau, leider ſehr defeft und ver-
dorben. Einen hervorragenden Pla unter feinen Mittheilungen
räumte Köhler hier den gelegentli von Raufereien gefolgten Zech:
gelagen ein, mit denen Chrijtoph ſich die Yangemweile vertrieb.
Es fehlte dabei nicht an mancherlei ergöglichen Szenen recht derben
Charakters, die lebhaft an die Erzählungen des edlen Nitters Hans
von Schweinichen, Chriftophs jüngeren Zeitgenoijen, erinnern. Zu
einem Tage findet ſich nur die charafteriftiiche Eintragung: Heute
haben J. 8. ©. nichts getrunfen.
Mitte November traf er in Warfchau ein. Kaum hatte er
die Herberge betreten, fo erichien der Großmarjchall mit der An-
fündigung, daß er die Maffen abzulegen habe und fein Gemach
nicht verlallen dürfe, vor das eine ſtarke Wache gejept wurde.
Bald darauf fanden ſich auch medlenburgifche und preußische Räthe
als Vorboten Herzog Johann Albrehts in Warihau ein. Aus
der Unterredung mit ihnen, die vom Könige geitattet wurde,
fonnte Chriftoph entnehmen, daß Johann Albrecht allerdings feine
Freilaſſung betrieb, daß ihm aber weit mehr noch an der Rettung
des Erzitifts für Dledlenburg und an einer zweiten völlig einwand-
Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 121
freien Verzichtleiftung Chriftophs auf fein väterliches Erbtheil
gelegen mar, und jofort jtand bei ihm die Meinung feit, daß
Johann Albrecht ihn aufopfern mwerbe.
In der That überwogen dieſe Intereſſen jett bei Johann
Albrecht jede andere Rüdfiht. Zu feinen livländiichen Plänen
geſellte ſich allmählich ein anderer noch lodenderer: er ging damit
um, fih die Negentichaft in Preußen nah dem Tode feines
Schwiegervater für deſſen unmündigen Sohn und, wenn dieſer
finderlos jterben follte, das Nachfolgerecht in Preußen übertragen
zu laſſen. Herzog Albreht war damit einverjtanden; die Ent-
fheidung lag aber bei feinem Lehnsherren, dem Könige. Gelang
das, fo eröffnete fi dem Haufe Medlenburg eine weite Berjpeftive.
Noch ſprach fein einziges Anzeichen dafür, daß Brandenburg der
deutiche Staat der Zukunft fein werde. Es war eine Zeit, welche
unter anderen Möglichkeiten auch die einer mecklenburgiſchen
Großmacht in ihrem Schoße barg. Chriftophs Neife nach Schweden
und fein trog aller Ableugnung doch offenfundiges Einverſtändniß
mit dem gefährlichiten Feinde Polens brachte aber Johann Albrecht
in den Verdacht der Mitwifjerichaft, der durch manche zufällige
Nebenumftände genährt wurde. Es liegt auf der Hand, wie jehr
feine hochiliegenden Pläne dadurch gefährdet wurden. Es fam
ihm vor allem darauf an, fi vor dem Könige zu recht:
fertigen und zunächſt das Erzitift auf jeinen Sohn Sigismund
August übertragen zu laſſen. Im Januar 1564 erjchien auch er
in Warichau. Es gelang ihm den König von feiner unentmwegt
loyalen Haltung zu überzeugen und er erreichte, nad) dreimonatlichem
Aufenthalt, am 6. April einen Vertrag, durch den feinem Sohne
wirflid das Erzbisthum Riga zugeiprochen wurde. Die Admini—
ftration jollte Johann Albrecht bis zur Volljährigkeit Sigismund
Augufts jelbit übernehmen.
Dagegen führten feine Bemühungen um Chrijtophs Befreiung
niht zum Ziel. Alle Ausfichten für fie ſchwanden, als dem
erbitterten Könige ein aufgefangener Brief Erids XIV, an
Chriſtoph eingeliefert wurde, in dem dieſer zu treuem Feſthalten
an ihrem Bündnijje ermahnt wurde. Und eben noch hatte Chriſtoph
fih bereit erflärt, einen Eid darauf zu leiften, daß er mit dem
Schweden in feinem Bündniſſe ftehe! Jetzt gab er freilich zu,
einen Ehevertrag eingegangen zu jein; auf ihn beziehe ſich Die
122 Herzog Chriſtoph von Medlenburg.
Ermahnung Erichs. Aber beharrlich leugnete er, daß das Bündnik
feine Spige gegen Polen richte. Seine Haft wurde nun verjchärft
und der ergrimmte König erflärte, daß er ſich in nichts einlaflen
wolle, bevor Chriſtoph den Driginalvertrag herbeigeſchafft und
aus ihm feine Unschuld ermwiefen habe. Während diejer Zeit
bejuchte Johann Albrecht den Bruder einige Male. Er hatte
gehört, Chrijtoph jei geichmeidiger geworden, habe Einkehr in ſich
gehalten und die fünf Bücher Mofis gelefen. Aber er fand bei
ihm nicht die Spur von Neue, nur Troß, Anmakung und Mik-
trauen. Letzteres erreichte feinen Höhepunft, ald Johann Albrecht
ihm eine erneute DVerzichtleiftung auf Dtedlenburg vorlegte, und
— fo erzählt Chriſtoph — ſehr deutlich zu verjtehen gab, daß es
in feiner Macht liege, ihn die Thüren des Kerfers für immer zu
verichließen, wenn er die Verzichtleiftung jetzt nicht unterfchreibe.
Wie dem aud jein mag, ob Johann Albrecht ſich zu ſolcher
Drohung hinreißen ließ, — Chrijtoph verweigerte feine Unterfchrift
und mar jekt feit davon überzeugt, daß Johann Albrecht nicht
nur nichts Ernitliches zu feiner Befreiung unternommen, jondern
fie jogar Direft hintertrieben habe. Dieſe Ueberzeugung hat fich
Chriftoph bis an fein Lebensende bewahrt.
Nach der Abreife Johann Albrechts erft entichloß ſich Chriſtoph
dazu dem Verlangen des Königs gemäß den Driginalvertrag mit
Schweden herbeilchaften zu laſſen. Natürlih nur den zmeiten,
den eigentlichen Heirathsfontraft. Die gleichfalls verlangte Aus:
lieferung der erzitiftiihen Privilegien, die jeit langer Zeit beim
Domkapitel in Lübeck deponirt waren und die er an fich zu bringen
gewußt hatte, verweigerte er aber beharrlich, aus welchem Grunde
iſt nicht recht erfichtlich, da doc) der König auch jie zur Bedingung
der Begnadigung machte. Kein Wunder, da die Uebergabe des
Heirathsfontraftes ohne jede Folge blieb und an Chrijtophs Lage
nichts änderte. Die Gewißheit, daß er mit Erichs XIV. Schweſter
verlobt jei, war für den König jogar ein Grund mehr, ihn nicht
aus der Hand zu laſſen; er wollte nicht nur Nahe an ihm
nehmen, jondern ihn gewiſſermaßen als Geißel für die Sicherheit
feiner eigenen Schweiter Katharina benußen. Dieſe war mit
Johann von Finnland, Erichs Bruder, vermählt; Erich aber, dem
diefe Ehe verhakt war, hatte den Bruder gefangen ſetzen laſſen
und von der Leidenichaft des halb mahnfinnigen Königs jtand
Herzog Chriftoph von Medlenburg. 123
jeden Augenblid das Aergſte zu befürchten. Sigismund Auguft
mar überzeugt, daß zwilchen Chriftophs Verhältniß zu Erich und
der Gefangennahme Johanns von Finnland ein Zulammenhang
beitehen müſſe. So lange daher dieje Vermwidelungen dauerten,
fo lange Schweden mit den verbündeten Mächten Dänemark und
Polen Krieg führte, war an Begnadigung nicht zu denfen.
Auch die wiederholten Verwendungen des Kaiſers und zahlreicher
deutſchen Fürften zu Gunſten Chriftophs hatten nicht den geringiten
Erfolg. Johann Albreht brah für Jahre alle Beziehungen zu
Chrifttopd ab. Um jo eifriger waren Herzogin Anna und
Herzog Ulrich im Intereſſe des Gefangenen thätig. 1564 reiite
die unglüdlihe, franfe Fürftin jelbft nah Wien, um die Per:
mittelung des Kaijers anzurufen; 1566 mar Ulrich deswegen beim
Raifer. Kaiſerliche, medlenburgiiche, brandenburgiiche und ſächſiſche
Gefandte erichienen in buntem MWechfel am polniihen Hofe, richteten
aber nichts aus. Herzogin Anna ftieg 1567 ins Grab, ohne ihren
Lieblingsiohn wiedergejehen zu haben, ja ohne jede tröftende
Gemwißheit über jein ferneres Schickſal.
Chriſtoph wurde nah) Schluß des polnischen Neichstages im
Sommer 1564 auf das feite Schloß Rawa gebradit, dann als dort
die Vet ausbrach auf einem Gut jeines Briftavs (Aufſehers) Jarſyna
internirt. 1565 fam er für furze Zeit in das Klojter Sulewa bei
Petrifau, um bald darauf wieder nad) Rawa zurüdgeführt zu
werden, wo er nocd dreieinhalb Jahre verbleiben ſollte. Seine
Behandlung war verichieden je nach jeinem Verhalten und manchen
mitwirfenden äußeren Umſtänden. Zeitweilig war ihm jede Korre—
ſpondenz unterjagt; fein Schreibjeug wurde verfiegel. Dann
durfte er wieder unter jtrengiter Kontrole Briefe empfangen und
erwidern. Am jchwerjten trug er an der zeitweiligen Einquartirung
von Machen in jeinem Schlafgemahe und an dem Merbot der
Bewegung in freier Luft. Er klagte über die ſchlechte Ausdünftung,
fühlte ſich krank und ſchwach und fürdhtete feine Gejundheit für
immer untergraben zu ſehen. Das Schidjal fahte ihn hart an.
In ſolch trüber und weicher Stimmung mag aud) ein Afroftichon
entitanden fein, deilen Strophenanfänge feinen Namen „Chrifto:
phorus Derzog zu Medlenburg” ergeben. Die jchwerfälligen Verſe
verrathen gleichwohl eine aufrichtige, Schmerzlihe Sehnſucht
des Gefangenen nad) der medlenburgifchen Heimath. — ein
124 Herzog Chriftoph von Medlenburg.
feftes Gottvertrauen fpriht aus dieſen Morten. Unzmeifelhaft
machte Chriftoph einen heilfamen Läuterungsprozek durch. Aber
von einem Bewußtſein deifen, daß er fein Unglüd jelbit verichuldet,
von reuiger Geſinnung findet ſich nicht die Spur. Wenn er in
dem Gedichte feine Lage mit der Johann Friedrichs von Sadien
verglih, To fühlte er fih offenbar lediglich als Märtyrer einer
guten Sache und als unichuldiges Opfer feiner Widerſacher. Und
wirfli Spann er ſich in der Ciniamfeit des Gefängniſſes immer
mehr in die Anjchauung ein, da nur fein treues Feithalten an
Kaifer und Reich und an feinen angeborenen Rechten als medlen-
burgifcher Herzog ihn ins Unglück geſtürzt habe. Dieſes Gemiſch
von abfichtliher Selbittäufchung und Meberzeugung verlieh ihm
eine gewiſſe Standhaftigfeit im Ertragen des ſchweren Ungemachs.
Erit im Sommer 1567, al& er durch die Nachricht vom
Tode der Mutter tief befiimmert war, eröffneten fi) ihm bie
erften Ausfichten auf Befreiung. Sigismund Auguſt ſuchte mit
Schweden zum Frieden zu fommen. Die erzitiftiiche Angelegenheit
hatte foeben ihre vollitändige Erledigung im Sinne Polens dadurd)
gefunden, dab das Erzbisthum Täfularifirt und mit dem übrigen
Livland verihmolzen worden war. Johann Albredht war um das
feinem Sohne zugeiprochene Erzitift vom Könige einfach betrogen
worden, nachdem er neue Geldjummen auf daljelbe verwandt, Truppen,
Gefandte und Beamte bereits hingejchiet hatte. Sein Verhältnik
zu Rolen wurde immer geipannter und damit hängt auch das
Scheitern jeiner Doffnungen auf die Nachfolge in Preußen zu:
fammen. Sein Ehrgeiz wurde dem Könige unbequem, er fiel bei
ihm in Ungnade. Unzweifelhaft bejteht aber zwiſchen dieſen Vor:
gängen und der Bellerung von Chriltophs Yage ein innerer
Zufammenhang. Denn das Yerwürfniß der beiden herzoglichen
Brüder mar Sigismund Auguft jehr wohl befannt; er mußte,
daß Chriltophs Heimkehr die Werlegenheiten Johann Albrechts
mehren würde. mmerhin vergingen noch anderthalb Jahre bis
Chriftoph im Kebruar 1569 auf den Reichstag nad) Lublin berufen
wurde, um bier auf die von dieſem feſtgeſetzten Bedingungen hin
feine Freiheit zu erhalten. Der Sturz Erihs XIV. in Schweden
im Jahre 1568, die Thronbefteigung Johanns III., Sigismund
Auguſts Schwager, und die dadurd eintretende Verichiebung der
auswärtigen Verhältnifje waren dabei von mahgebender Bedeutung.
Herzog Chriftoph von Medlenburg. 125
Die Bedingungen der Freilafiung waren hart, weniger in
der Sache, — denn das eigentliche Streitobjeft, das Erzbisthum
Riga, erijtirte nicht mehr, — als in der Form, die ausgefucht
demüthigend war. Selbſtverſtändlich mußte er nochmals feierlich
auf alle Rechte an Livland verzichten und die erzbiſchöflichen Privi—
legien, die ſchon vor 1567 aus Mecklenburg geholt worden waren,
ausliefern. Am 18. Februar 1569 leitete er vor dem ver:
fammelten Senate öffentlich Abbitte, befannte durch jeinen Abfall
zu Schweden undanfbar und treulos gehandelt und die Etrafe
ber langen Gefangenichaft wohl verdient zu haben; der König habe
ihn aber in überjtrömender Gnade milde behandelt und ihm den
nöthigen Lebensunterhalt gewährt. Dann verſprach er an Eides
Statt jtets ein treuer Klient Polens zu fein und nie gegen den
König oder feine Bundesgenofien, Friedrid von Dänemarf
und Johann von Schweden, eimas Teindfeliges zu unternehmen;
auch verpflichtete er fih, binnen Jahresfrift an den däniſchen
Hof zu gehen, dem Könige Friedrich diefelben Erklärungen vor:
zutragen und ein Protofoll über diefen demüthigenden Aft nad
Tolen einzufenden. Darauf erhielt er vom Könige eine gnädige
Antwort und die Werficherung vollfommener Sreundichaft und
Verföhnung. Ja ihm wurde zur Befräftigung der lehteren eine
jährlihe Penfion von 1000 Thalern bemilligt.
Fünf Wochen darauf traf er auf der Heimreiſe mit einem
Gefolge von fünfzehn Perjonen bei feinem Oheim, Marfgraf Hans
von Küſtrin, ein.
Die Freude über die wiedergewonnene freiheit wurde ihm aber
ebenfo durch die Erinnerung an die erlittene Demüthigung wie durd)
das Bewußtiein geichmälert, daß jein Kommen in Medlenburg von
Niemandem gerne gelehen wurde und daß dort für ihn eigentlich Fein
Raum war. Zu wen jollte er? Die Mutter war todt ; Johann Albrecht,
dem feine Verforgung oblag, grollte er mehr als je. Sein Ver:
hältniß zu Ulrich war zum mindeften ein Fühles, erträglich nur fo
fange er beifen Kreiſe nicht jtörte. Auf ein herzlicheres Entgegen:
fommen hatte er nur beim jüngiten Bruder Karl zu rechnen. Der
aber wieder fonnte ihm feine Bortheile zuwenden. Im Gefpräche
mit Markgraf Hans lieh er allen bitteren Empfindungen über
fein angeblich unverichuldetes Unglüd freien Lauf. Der Marfgraf
aber machte ihm den Standpunkt in einer Weile far, daß Chriſioph
126 Herzog Chriftoph von Medlenburg.
vor Aerger franf murde und ſich mehrere Tage nicht fehen
ließ, und als er einen Nathichlag verlangte, wie er um Die
Erfüllung feiner Verpflichtungen genen Polen herumfommen und
wieder zum Beſitze Livlands gelangen könne, mußte er ſich einen
fräftigen Hinweis auf die Gebote fürjtliher Ehre und Treue
gefallen laſſen.
Bald darauf finden wir Chriitoph bei feinen Brüdern Karl und
Ulrich. Dann trat er die felbitändige Verwaltung des Stiftes
Ratzeburg an. Den Dauptinhalt des nun beginnenden neuen
Lebensabichnittes bildete der Kampf um das, was er jein Necht
nannte und mwas zum Theil wirklich fein Recht war. Won ben
Einfünften Ratzeburgs konnte er einen fürftlihen Hofhalt nicht
beftreiten; das murde auh von Johann Albrecht zugegeben.
Chriſtoph beanjprudte nun als jein Recht Theilnahme an ber
Gefammtregierung Medlenburgs und den vierten Theil aller
Hemter und Einfünfte des Landes, ſowie des Nachlaſſes feiner
Eltern und Verwandten an beweglichem Gute. Johann Albrecht
ftellte fih auf den Standpunft, daß die vom Sailer beftätigte
Verzichtleiftung Chriitophs vollfommen giltig ſei; Chriſtoph habe
in aller Form abdizirt, die Aufwendungen für feine livländiſche
Karriere betrügen mehr als wozu er, Johann Albrecht, verpflichtet
geweſen fei, und die reichliche Verforgung’in Livland habe Chriftoph
durch eigene Schuld veripielt. Es könne fih alfo nur um einen
Zuſchuß aus freiem Willen zu den Napeburger Einfünften handeln.
Geltend wurde ferner gemacht, daß Medlenburg nur zwei regierende
Herren vertragen fönne, und aus Präcedenzfällen der allerdings
fehr mangelhafte Beweis geführt, dak die Zmeitheilung der Herrichaft
bereits gemohnheitsrechtlid Janktionirt jei. Chriftoph behauptete
natürlich, der zur Zeit der Minderjährigfeit geleiftete Verzicht fei
trog Ffaiferliher Bejtätigung von feinem Belang und habe nur
Eventualgeltung gehabt, wenn er im Belige des Erzitiftes bleibe;
an bem Verluſte deifelben jei er jedoch unſchuldig. Mehr als die
rechtliche Seite der Frage intereifirt die politiihe. Die privat»
rechtliche und die erften Anfänge einer ſtaatsrechtlichen Auffaſſung
der Dinge jtießen aufeinander. Johann Albreht und Ulrich hatten
ihr vorläufiges Abfommen von 1555 über Gemeinichaftsregierung
und Theilung trog aller Proteite Chritophs im Jahre 1561
Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 127
erneuert und dachten nicht daran nod) einem Dritten oder Vierten
eine gleichberechtigte Stellung einzuräumen.
Chriſtoph jah ein, daß er nichts ausrichten werde. indem
er ſich alle Rechte vorbehielt, wollte er jchließlih den Grundjag
anerkennen, daß Mecklenburg zwei regierende Herren haben jolle.
Herzog Karl vermittelte alsdann im Jahre 1570 ein Abfommen,
wonach Johann Albrecht ihm die Aemter Gadebuſch und Tempzin
mit beichränfter Landeshoheit einräumte und einen jährlichen
Zuſchuß von 500 Thalern gewährte. Seine polniihen Schulden
im Betrage von 10,000 Thalern wurden von dem Landtage
bezahlt. Seitdem rejidirte Chriſtoph abwechſelnd zu Schönberg
und Gadebujh. Seine Einnahmen verbeijerte er ferner durch
eine failerlihe ‘Benfion, die ihm in Anerfennung jeiner reichstreuen
Haltung nebſt einer Bejtallung als faijerlicher Feldoberſt zu
Theil wurde. Auf die 1000 Thaler jährlider PBenfion, die ihm
Sigismund Auguſt verjchrieben hatte, hat er jpäter verzidtet.
Eine jehr willftommene Zulage bedeuteten aber in der Folge die
Brautichäge jeiner beiden Semahlinnen, jodaß Chriſtoph ſchließlich fein
unvermögender Fürjt war, jo jehr er auch bis an jein Ende über
bittere Armuth zu klagen pflegte.
Der Redtsjtreit wurde wieder aufgenommen nad) dem Tode
Johann Albrehts 1576 und hatte zur Folge, daß Chriftophs
Verhältniß zu Ulrich ein ebenjo unleidliches wurde wie zu Dem
verjtorbenen Bruder. Ich erwähnte, dat Chrijtoph den Grundjag
der Zweiherrſchaft in Mecklenburg anerfannt hatte. Auf ihn
geltügt verlangte er nun als Zweitälteſter volljtändig in die Nechte
Johann Albrechts einzutreten. Vom Standpunfte des damaligen
medlenburgiihen Staatsredits ließ ſich dieſe Forderung garnicht
beitreiten. Johann Wlbrechts minderjährige Söhne Johann und
Sigismund Auguft hatten troß des väterlihen Tejtamentes fein
Recht an den väterlichen Landestheil, weil eine wirkliche Erb-
theilung zwijchen Johann Albrecht und Ulrich garnicht ftattgefunden
hatte. Das Rüſtzeug zur Bekämpfung der formell richtigen
Forderung Chriftophs wurde daher aus einer anderen Kammer
geholt. inerjeits mußte feine Verzichtleiftung herhalten, Die
mittlerweile zum zweiten Male auch von Kaiſer Dtarimilian
bejtätigt worden war, dann aber erklärten Ulrich und die Kurfürjten
von Brandenburg und Sadien als beitellte Vormünder der jungen
128 Herzog Chrijtoph von Medlenburg.
Herren deren Intereſſen wahren zu müjlen und mährend ihrer
Minderjährigfeit gar feine Zugeſtändniſſe machen zu fönnen.
Diefelbe Antwort erhielt Chriitoph als er jeine Anſprüche wieder
auf den vierten Theil Medlenburgs, d. h. auf die Hälfte von
Johann Albrechts Gebietstheil, ermäßigte.
Dan fieht hieraus, wie die Verhältniffe unaufhaltiam und
nothwendig auf eine volljtändige Erbtheilung in zwei regierende
Linien mit der Primageniturerbfolge innerhalb jeder derjelben
bindrängten. Zu Recht bejtand fie aber noch feineswegs. Zunädjt
bis zur Volljährigkeit des Herzogs Johann übernahm Ulrich Die
Alleinregierung in ganz Medlenburg und Chriſtoph hatte das
Naciehen. Was half es, daß die Yurijtenfafultäten von Heidelberg
und Helmjtädt in ihren Nechtsqutachten zu feinen Gunften ent:
Ihieden! Nachdem einige Verfuche gütlicher Einigung gejcheitert
waren, betrat Chrijtoph den Rechtsweg. Er fonnte entweder feine
Klage beim NReichsfammergericht vorbringen oder um Ernennung
einer bejonderen failerlihen Kommilfion nachſuchen. Er wählte
das Letztere. Der Kaijer pflegte in ſolchem Falle zwei Fürften
zu Kommijjaren zu ernennen, deren Näthe als Zubdelegirte Die
Verhandlungen führten und das Urtheil ſprachen, das alsdann
von den Sommiljaren und dem Sailer bejtätigt wurde. Hier
offenbarte ſich aber nun die ganze Kläglichkeit der deutichen Reichs»
und Juſtizverfaſſung. An diejem unerquidliden und ausfichtslojen
Etreite wollte fid) niemand die Singer verbrennen. Ein Fürft nad)
dem andern lehnte die Uebernahme des faijerlichen Kommiſſoriums
ab. Bier Jahre dauerte der Nechtsitreit feit dem Tode Johann
Albredits, bis der Kaiſer die erften Verſuche zur Cinjegung einer
Konmiljion machte, und weitere vier Jahre vergingen, bis Die
Kommiſſare endgiltig ernannt waren und ein Verhandlungstag an:
beraumt werben fonnte. Unterdeſſen hatten die beflagten Herzöge ein
kaiſerliches Gegenkommiſſorium ermwirft, auf Grund deſſen im
Sanuar 1587 zu Güſtrow ein umfängliches Verhör ftattfand, das
nur den Zweck hatte „zu ewigem Gedächtniß“ den Thatbejtand
und die Rechtsfrage Harzulegen. Diejes Verhör, in dem 29
Zeugen vernommen wurden, ijt deswegen bejonders intereflant,
weil es Die ganze Lebensgeihichte Chrijtophs, die livländiichen
Verhältnijje und die Gejdichte der medlenburgiihen Landes:
theilungen zum Gegenjtande hatte. Das Protokoll defjelben hat
Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 129
ih) erhalten. Auf den weiteren Verlauf des Rechtsjtreites jelbit
brauchen wir hier nicht einzugehen. Er ijt nie beendet worden, ein
Kommiljar nad) dem andern jtarb über ihm weg und ſchließlich
wurde er mit Chrijtoph jelbjt, da er nur eine Tochter hinterließ,
begraben. Chriſtoph iſt in dem ganzen Verfahren jedenfalls jehr
übel mitgejpielt worden. Seine Angehörigen behandelten ihn,
obwohl er formell im Rechte war, nur wie einen läjtigen Querus
lanten, der jidy mit feinen Anſprüchen lächerlih made. Auch jonft
wurde er wiederholt durch die Nüdjichtslofigfeit und Lieblofigfeit
jeiner nächſten Verwandten verlegt. Die Kette fortlaufender Ver:
drießlichfeiten brad; während jeines ganzen Lebens nicht ab.
Doc aber war ihm zulept nod ein reines, unverfäljchtes
Glück beichieden. Er fand es in jeiner zweiten Che mit feiner
eriten Braut, der ſchwediſchen Eliſabeth. Freilich war aud) der
Weg zu ihm ein Ddornenvoller und fojtete ihn neuen Zwiſt mit
leiner Familie.
Sehr bald nad) feiner Befreiung im Jahre 1569 fragte er
in Schweden an, wie der neue König Johann III. über feine
Verlobung mit Elijabeth denke. Diejer, als Feind jeines Vor:
gängers auf den Thron gefommen, wies dejien Bundesgenojjen
rund ab, unter dem Borgeben, Clijabeth fühle feine Neigung für
ihn. Ja er veranlaßte jeine Schwejter verjchiedene ſchon früher
oder jetzt als Brautgeichenfe überjandte Kleinodien in einer jo
verlegenden Form nad Diedlenburg zurücdzujenden, daß jogar
Chriftophs Brüder, ja der König von Dänemarf, Ulrichs
Schwiegerjohn, darüber empört waren und darin eine jchimpfliche
Beleidigung des ganzen medlenburgiichen Hauſes jahen. Chriftoph
hatte, wie er zugab, bei diejer Brautiverbung nur die Aufbeilerung
feiner Einfünfte im Auge. „Zwei Jahre darauf 1573 befand er
ih mit Ulrich auf einer Kindtaufe am dänischen Königshofe zu
Kolding und hier verlobte er ji) mit des Königs Schweſter, der
jehsundvierzigjährigen Dorothea. Am 27. Oftober fand die Hochzeit
itatt. Der Brautihag war nur ein mäßiger: 18,000 Gulden und
9000 Thaler, aber dod) groß genug um die Hand der neun Jahre
älteren Prinzeſſin begehrenswerth erjcheinen zu laſſen. Die freudloje
und unfrucdhtbare Ehe wurde nad) faum zwei Jahren durch den
Tod Dorotheas wieder gelöjt.
Etwa anderthalb Jahr darauf, 1577, Elopfte Chrijtoph noch
130 Herzog Chriitoph von Medlenburg.
einmal in Schweden an und dieſes Mal hatten feine Gejandten
einen beileren Erfolg. Im Gegenſatz zu der früheren jchroffen
Abweilung antıvortete König Johann, daß Elijabeth ihm ihre alte
Zuneigung nod) immer bewahrt habe und er die begehrte Che:
ſchließung gerne jehe. Eliſabeth war mittlerweile zu Jahren
gefommen; mehrere jcheinbar alänzende Partien, jo die Hand des
Herzogs Franz von Alencon, hatte fie ausgejchlagen und es mochte
die Befürchtung gehegt werden, daß ſich feine weiteren Freier für fie
finden würden. Als Chriftoph fie bei der erjten Verlobung 1562
fennen lernte, war fie vierzehn Jahre alt. Ob er damals Eindrud
auf jie machte, willen wir nicht. Aber fie ſcheint doch jeine
Sefangenichaft als ein Martyrium um ihretwillen angejehen zu
haben und hat ihm ein zum mindejten freundjchaftliches Interejie
bewahrt. Gewiß war die ſchnöde Zurückweiſung, welche Chrijtoph
gleidy nad) ſeiner Freilaſſung erfuhr, nicht ihrer Jnitiative ent:
Iprungen. Ihn ſelbſt bejtimmten bei der Wiederbewerbung wohl
feine anderen Nüdjichten als die auf den Brautihag von 100,000
Ihalern. MWenigitens bat er jeinen Brüdern gegenüber dieſen
Geſichtspunkt allein geltend gemacht; er bedürfe, jo betonte er
wiederholt, diejer Summe um feinen fürjtlihen Stand und damit
das ganze Haus VDledlenburg in Flor und Aufnehmen zu bringen.
Aber faum war die Wiederverlobung perfeft geworden, jo entipann
jih zwiſchen Chriſtoph und Eliſabeth ein Briefwechſel, deſſen
kümmerliche erhaltene Reſte doch einen wärmeren Ton verrathen,
als ihn die fonventionellen Liebesbriefe fürjtliher Brautleute jener
Zeit gemeiniglid aufweilen. Die Widerwärtigfeiten und direften
Seindjeligfeiten der nächiten Verwandten, welche Chriitoph ſich mit
diefer Verlobung zuzog und durch melde der Vollzug der Che
um volle vier Jahre aufgehalten wurde, modten die Verlobten
einander noch näher bringen und das ihre dazu beitragen, daß
dieje uriprünglich als Geldheiratl; geplante Verbindung zu einem
wirflichen, glüdlichen Herzensbunde führte.
Daß Chrijtophs Verlobung feine Brüder und feinen königlichen
Schwager in Dänemark befremden mußte, ijt begreiflih genug.
Der jtebenjährige Krieg zwiſchen Dänemark und Schweden mar
allerdings im Jahre 1570 durch den Stettiner Frieden beendigt
worden. Doch bejtand der jcharfe Gegenjat der beiden Reiche
fort. Nad) wie vor betrachteten fich die beiden Könige als Feinde;
Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 151
weder die livländiiche Frage noch andere Streitpunfte hatten eine
befriedigende Löjung gefunden, der Kampf fonnte leicht wieder
ausbrechen. Unter jolchen Umjtänden erjichien Chrijtophs Braut:
werbung mie Fahnenfluht und Abfall zum Feinde. Im Fahr:
wajler der däniſchen Politik aber befand ſich Herzog Ulrich. Verletzt
mochte fich der König auch dadurd fühlen, daß zwiſchen dem Tode
jeiner Schwejter und der neuen Werbung Chriſtophs nicht viel
mehr als ein Jahr verflojfen war. In gereizten Schreiben gab
Ulrih seiner Verwunderung darüber Nusdrud, daß der dem
Hauje Mecklenburg durd die Zurüdweilung und Heimjendung der
Kleinodien widerfahrene Schimpf von Chriftoph ſchon ganz ver:
geilen ſei; im dieſer auch politiich jo bedeutiamen Angelegenheit
hätte er zuvor den Rath jeiner Angehörigen hören müſſen; vor
allem jehe der König von Dänemark in der Wahl Chriftophs eine
weitgehende Nüdfichtslofigkeit, ja einen Aft der Feindjeligfeit, den
er nimmer vergeben fünne. Natürlich goß es nur Del ins Feuer,
als Chriſtoph die Gegenfrage jtellte, ob etwa König Friedrid und
Herzog Ulrid ihn um Rath gefragt hätten, als jie heiratheten.
Der König erklärte rundweg, er wolle Chriftoph nicht mehr für
jeinen Schwager und Freund, jondern für jeinen Feind halten
und den Schimpf räden, wo und wie er fönne.
Die Leibgedingsverichreibung der Aemter Gadebujh und
Tempzin für die Gemahlin Chriftophs bedurfte der Zuftimmung
der Agnaten, aljo Ulrichs, Karls und der Vormünder ber beiden
jungen Herzöge. Friedrich von Dänemark forderte fie nun auf,
diefe Zuſtimmung direkt zu verweigern. Das geihah freilich nicht,
wohl aber wurde die Angelegenheit jo jehr in die Länge gezogen,
dab Ehriftoph ſchon den Kaiſer um jeine Vermittelung anzurufen
ſich genöthigt Jah. Nach unendlichen Weiterungen, während welcher
die Dochzeit von einem Termin zum anderen verjchoben wurde,
war ſchließlich 1580 die Unterjchrift der Agnaten zur Leibgedings:
verfchreibung beichaftt. Jetzt machte noch die Neile nah Schweden
Schwierigkeiten. Vergebens bat Chrijtoph wiederholt um freies
Seleit durch die dänischen Gewäſſer und Gebiete. Sie wurde
von dem umerbittlihen Könige Friedrich ausdrüdlih mit dem
Demerfen abgelehnt, wie Chrijtoph ohne den König zu fragen
und ohne freies Geleit zu erbitten jeine Boten zur Verlobung
nah Schweden geſchickt habe, jo möge er aud jetzt allein fein
132 Herzog Chrijtoph von Medlenburg.
Heil verſuchen. Chriftopd mußte fih zu einem weiten Ummege
entſchließen. Im Spätherbit 1580 ging er nad) Danzig und
gelangte von da glüdlih nad Schweden. Hier fand im Mai
1581 die Hochzeit jtatt. Sie machte Chrijtoph zu einem wohl:
habenden Herrn. Denn feine Gemahlin brachte ihm einen Brautihag
von 100,000 Thalern und eine Nusjteuer mit, deren Werth auf
51,000 Thaler berechnet wurde. Zu ihr gehörten Kleinodien im
Merthe von 12,000, Kleider im Werthe von 20,000 Thaler; auch
ein fürjtliher Wagen und eine mit Geihüß und allem Zubehör
verjehene Naht, „Die Häringsbarfe“ genannt, werden im Inventar
verzeichnet. Auch mit den Ehren, die dem jungen Paare erwieſen
wurden, durfte Chriftoph wohl zufrieden fein. Eine Flotte von
13 ſchwediſchen Kriegsihiffen und einer Bemannung von 2100
Knechten ohne die Bootsleute brachte die Neuvermählten ficher vor
dänischen Nachitellungen nad) Medlenburg. Am 15. Juli landeten
fie auf der Inſel Pol, um am folgenden Tage ihren fejtlichen
Einzug in Wismar zu halten. Kaum hatten fie aber den heimiſchen
Bodenbetreten, als der alte Bruderzwijt wieder ausbrad. Zu den
Hochzeitsfeierlichfeiten in Stodholm war niemand von den fürjtlichen
Verwandten geladen worden. Um jo prunfvoller und großartiger
loflte dagegen die Nachfeier in Wismar jein. Ein unglücklicher Zufall
wollte es aber, daß jowohl Karl wie Ulrich den Brief Chriſtophs,
in weldem er jeine Anfunft in Wismar zum 16. Juli meldete,
erjt zwei Tage vor derjelben erhielten. Beide entjchuldigten ich,
daß fie in dieſer furzen Friſt Fich zum Feſt nicht gehörig rüjten
fönnten und daher fortbleiben müßten. Ulrich ſchickte in aller
Eile jeinen Silberfneht und Nentmeilter, um das Feſt jo gut es
ging auszurichten und die nöthigen Viktualien zu beichaffen. Seine
Beifteuer war nun vielleicht nach damaligen Begriffen eine etwas
färgliche. Sie bejtand in zwei Drömt Noggen, zwei Ochſen, etlichen
Hammeln, vier Bratichweinen, 100 Hühnern, einer Tonne Butter,
vier Laſt Hafer, Wild und Fiihen nad) Bedarf. Chrijtoph, jtets
voller Miptrauen und bejorgt jeinem fürftlichen Anjehen vor den
begleitenden hohen ſchwediſchen Würdenträgern etwas zu vergeben,
war ſchon jehr betreten, auf Pöl feine Vorbereitungen zum
Empfange zu finden. Als ihm gar das Verzeichniß der fürſt—
brüderlihen Verehrung vorgelegt wurde, fand er dieſe jo ungenügend,
daß er im erjten Unmuthe erflärte, lieber garnihts als eine jo
Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 133
ärmliche Ausrichtung anzunehmen. Insbejondere vermißte er eine
Darbringung an Getränfen. Mehrere Kuriere wurden von dem
Rentmeifter an Ulrich mit der Bitte erpedirt, noch etwas zuzulegen
und auch die Getränke zu jpenden. Ulrich beharrte dabei, er habe
genug geleijlet, für das Uebrige könnten die jungen Vettern, Die
Stadt Wismar und Chriftoph ſelbſt ſorgen. Wirklich wurden
18 Chm Rheinwein, die Chriitoph beim Nathsfeller zu Wismar
beitellt hatte, ihm vom NRathe der Stadt als Geſchenk dargebradt.
Er beiann fih dann eines Beileren, nahm aud das von Ulrid)
Gebotene entgegen und hielt am 18. Juli feinen Cinzug in
Wismar, an den fi drei Tage währende Feitlichkeiten ſchloſſen.
Auch ein Theil des Adels und „des medlenburgiichen Landfrauen—
zimmers“ betheiligten jih an ihnen. Dann begaben ji Die
Feſtgenoſſen in feierlihem Aufzuge nad Gadebujh, wo jie,
wie es in Chriltophs Einladungsichreiben angefündigt war, „ſich
bey demjenigen, jo der liebe Gott dajelbjt gnädiglichen verlieh, in
Fröhlichkeit ergötzten.“
Mittlerweile war aber auch eine däniſche Nlotte vor Pöl
erihienen und es fehlte nicht viel, jo wären Schweden und Dänen
aneinander gerathen. Beide Theile begnügten fih schließlich
damit, ihre Yojung abzufeuern und jchieden diejes Mal gütlich
von einander. So jtand aud die Heirath Chrijtophs im Zeichen
der großen politiichen Gegenfäge, welche den europäiſchen Norden
erfüllten.
Zwölf Jahre war es Chriftoph vergönnt an der Seite jeiner
Genahlin eine glüdliche Che zu führen, aus der 1584 eine
Tochter, Margarethe Elifabeth, hervorging.*) Der Liebe zu ihrem
Gemahl jegte die Herzogin Elifabeth nad) deſſen Tode aud äußerlich
ein dauerndes Zeichen durd ein großes Grabmonument im Dome
zu Schwerin, welches die lebensgroßen Figuren des Herzogspaares,
im Gebete fnieend, trägt. Wir dürfen annehmen, daß das Stand:
bild des Herzogs uns auch jein wohlgetroffenes Porträt zeigt **).
Livland hat in dem jpäteren Leben Chrijtops gar feine Rolle
mehr geipielt. Nur hier und da taucht fein Name in einer oder
*) Sie heirathete 1608 den Herzog Johann Albrecht II. von Medlenburg-
Güftrom.
**) Cine gute Abbildung im zweiten Bande der Kunſt- und Geſchichts—
dentmäler Medlenburgs von Fr. Schlie. Schwerin 1898.
134 Herzog Chriftoph von Medlenburg.
der anderen politischen Kombination auf und nur gelegentlich
wurde der Gedanfe erwogen, ob die verlorene Herrihaft noch
wiederzugewinnen jein werde. Einmal 1577 hat Chriſtoph des-
wegen jeinen Rath Benedift Schwerin nad Riga geſchickt. Um
diejelbe Zeit war aucd vorübergehend davon die Rede, daß er
eine faijerliche Sejandtihaft nach Moskau führen ſolle. Ernſtlich
und nachhaltig beichäftigten ihn dieſe Gedanfen nicht.
Gejtorben ijt Chrijtoph zu Tempzin am 3. März 1592,
ohne vorher franf geweſen zu jein. Das Bild, weldhes der raße:
burgiihe Superintendent Schlüjfelburg in jeiner XLeichenpredigt
von dem Entichlafenen entwirft, zeigt ihn uns doch in einem
anderen Lichte als in jeiner Jugend. Schlüſſelburg rühmt an
ihm jeine wahrhaft landesväterlihe Geſinnung, jeine rechtgläubige
Srömmigfeit und jeine geiftigen Intereſſen trog mangelhafter
Jugendbildung, wie er denn wirklich im Jahre 1582 zu Rojtod
einen tractatus de veteri philosophia druden ließ, „da jhr
F. ©. beweijet, quomodo natura ab arte juvetur vnd ift Herkog
Garolen in Schweden jhrer F. ©. vielgeliebten Herrn Schwagern
zugeichrieben.“ „Es haben audh jhr F. ©. getreue Prediger,
gelerte Leute, die Musicam artificialem oder Instrumentalem
ſehr geliebet. Es waren aud jhr F. G. von Natur beredet,
hatten ein feine Memoriam, ein herrlich Ingenium vnd ein
ſcharpffſinnich ludieium...“ Dann erzählt er ausführlid von
Chriſtophs gottjeligem Ende, und wenn wir von der Laudatio des
Superintendenten auch Manches in Abzug bringen dürfen, jo
Icheiden wir doch mit dem Eindrud, daß ſchließlich auch dieſes
unruhige und unbefriedigte Leben in einen verjöhnenden, har:
monilchen Afford ausflang.
s
Taganrog im Jahre 1825.
Von
N. A. Schilder.
(„Rufffaja Starina” 1897, Januarbeft, S. 5—48.)
®
Der Gefundheitszuftand der Kaiſerin Elifabeth flößte dauernd
Beſorgniſſe ein. Die Aerzte MWyllie und Stoffregen ſprachen ſich
Ende Juli 1825 dahin aus, daß die Kailerin den kommenden
Winter nit in Petersburg zubringen fonne und erflärten ihren
Aufenthalt in einem jüdlichen Klima für unbedingt erforderlich;
fie wiejen auf Italien, das Südliche Frankreich oder das ſüdliche
Rußland Hin. Die Wahl fiel fchliehlih auf Taganrog. Der
Kaifer erklärte, daß er ſich ebenfalls dahin begeben und zu Neujahr
nad Petersburg zurüdfehren werde. Doch murde die für den
Herbit geplante Revue über die Truppen ber zweiten Armee in
der Umgegend von Bjelaja Zerkow (unmeit der Stadt Kiew) ab-
geſagt, mahrjcheinlih weil Nachrichten einliefen, dab ſich unter
den Offizieren diefer Truppen immer mehr geheime Gejellichaften
verbreiteten.
Kailer Nlerander beauftragte den Fürſten Wolkonſki, der
eben erit nah der Krönung Karls X. aus Paris zurücgefehrt
war, die Saiferin in den Süden Rußlands zu begleiten und
während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts dajelbjt bei ihr zu
bleiben. Hierauf erging Angefichts der Ueberſiedelung des Hofes
nah Taganrog an den Architekten Charlemagne am 6. Auguft
der Befehl, ſich in diefe Stadt zu begeben, um die erforderlichen
Appartements in Bereitichaft zu jegen.
Kurz vor feiner Abreife nad) Taganrog gab Kailer Alerander
dem Fürften A. N. Golizin den Auftrag, die Papiere in jeinem
Arbeitszimmer in Ordnung zu bringen. Bei diejer Arbeit entipann
fih ein Geſpräch und Fürft Golizin erlaubte ji, indem er bie
gewiſſe Hoffnung ausiprad), der Kaifer werde völlig gelund in bie
Hauptitadt zurüdfehren, die Bemerkung, wie unrathjam cs ei,
Dokumente, welche die Ordnung der Thronfolge veränderten, bei
längerer Abwejenheit unveröffentlicht zurüdzulafien und welche
136 Taganrog im Jahre 1825.
Sefahren hieraus im Falle eines plöglich fich ereignenden Unglüds
entipringen Fönnten. Anfangs ſchien Nlerander durd die Richtigkeit
der Bemerkung Golizins betroffen zu fein, nad minutenlangem
Schweigen fagte er aber: „Mollen wir uns hierin auf Gott ver-
laffen. Er wird Alles beſſer machen als wir ſchwachen Sterblichen.”
Unwillfürlih fommt einem die Frage: weshalb entichloß ſich
Kaiſer Alerander, diefe Dofumente vor dem von ihm defignirten
Thronfolger und auch vor Rußland fo geheim zu halten? Schwer
it es hierfür eine vernünftige Erflärung zu finden, und jein
Geheimniß hat Alerander mit fi ins Grab genommen. Einige
glauben, der Kaiſer habe die Abficht aehabt, gleichzeitig mit dem
Manifeft über die Veränderung der Thronfolgeorbnung auch feine
eigene Thronentiagung zu verfündigen. Die auffallende NAufichrift
auf dem Kouvert: „Aufzubewahren, bis ich es zurückfordere“ meilt
vielleicht wirflich auf die Abficht Aleranders hin, in Uebereinſtimmung
mit feinen früheren Gedanfen hierüber noch bei Lebzeiten dem
Throne zu entlagen. Die Nichtigfeit einer jolhen Annahme erhellt
aus folgendem Umſtande. Am Frühjahr 1825 fam der Prinz
von Oranien nad Petersburg; der Kaijer Alerander vertraute
ihm feine Abficht an, abzudanken und fih ins Privatleben zurüd:
zuziehen. Der Prinz erfchraf und bemühte fi, den Kaifer von
diefem Vorhaben abjubringen. Aber Alerander blieb bei feiner
Anfiht und die Bemühungen des Prinzen führten nicht zum
gewünschten Ziel; es gelang ihm nicht, den Kaiſer in feinem
Vorhaben mwanfend zu machen. Jedoch die Vorfehung löfte in
allernächiter Zeit alle dieje Bedenken in ganz anderer und vollia
unermarteter Weiſe.
Am 28. Auguſt, Abends von 8—114 Uhr, hatte Karamfın
feine leßte Unterredung mit dem Kaiſer Alerander, und ſagte, fich
von feinem erhabenen Gönner verabichiedend: „Majeität, Ihre
Tage find gezählt. Sie haben feine Zeit mehr, etwas aufzu-
Ichieben, es bleibt aber noch foviel für Sie zu thun übrig, damit
das Ende Ihrer Negierung des ruhmoollen Anfanges derielben
fih würdig ermweile.” Mit einem Neigen feines Dauptes und
einem freundlichen Lächeln äußerte der Kailer jeine Zuſtimmung;
auch fügte er laut hinzu, dab er bejtimmt Alles thun merde: er
werde Rußland ein Grundgeleg geben. „Wir trennten uns nicht
Taganrog Im Jahre 1825. 137
ohne Rührung,” Tchreibt Karamfin, „meine Anhänglichfeit an ihn
fommt von Herzen und wird ewig währen.”
Am 30. Auguft 1825, an feinem Namenstage, hörte Kaiſer
Alerander zum lebten Male im Newſki-Kloſter die Liturgie an.
Hierauf begab er Sich ins neu errichtete Palais des Groffürften
Michael Pawlowitſch; als er es betreten hatte, ertheilte er Sr.
Hoheit den Segen, ihm ein Bild des Erlöjers und Salz und Brod
darbringend.
Am 31. Auguſt, am Tage vor feiner Abreiſe nad Taganrog,
befuchte Alerander die Kaiſerin Maria in Pawlowsk. Nach dem
Diner mar er, im Garten lujtwandelnd, im Roſen-Pavillon, in
welchem vor elf Jahren mit ſolchem Glanze feine Rüdfehr aus
Paris gefeiert worden war. Die Erinnerung an die Vergangenheit
mußte im Kaiſer wieder aufleben; aber dieſes Mal breitete der
nahende Derbit, der ſich durch das Gelbwerden der Blätter an
den Bäumen und durch die verödeten Roſen Bosquets bemerkbar
machte, über die ganze Umgebung einen Hauch ſtiller Trauer,
mas vollfommen der Eeelenitimmung des Kaiſers entiprad.
Am 1. September verließ Kaifer Alerander für immer feine
Hauptitadt; die Stille der Nacht und Nebel hatten ſich über Die
Stadt gebreitet, als er allein, ohne Suite, von feinem auf
Kamenni Oſtrow belegenen Palais fortfuhr. Am 41/4 Uhr nad
Mitternaht machte die mit drei Pferden beipannte Kaleſche am
Thor des Newſti-Kloſters Halt. Gier erwarteten den Kaiſer, von
feinem Beſuch unterrichtet, der Metropolit Seraphim, die Archi-
mandrite in vollem Ornat und die ganze Brüderjchaft. Alerander,
mit der Uniformsmübße, im Mantel und Nod ohne Degen, ftieg
raſch aus der Kaleiche, fühte das Kreuz, wurde mit Weihwaſſer
beiprengt, empfing den Segen des Metropoliten, befahl das Thor
hinter ſich zu ſchließen und begab ſich in die Kathedrale. Die
Mönche fangen den Hymnus: „Nette, o Herr, die Deinigen.”
Nachdem der Kaifer die Kathedrale betreten hatte, blieb er vor
dem Sarge des heiligen Alerander Nemifi jtehen und das Gebet
begann. Die lange Reihe der Mönche, die den Kaifer beim
Betreten des Klojters begrükt hatten, die ringsumbher herrichende
Dunkelheit und der hell erleucdhtete Sarg des Märtyrers, der
durch die geöffnete Thüre der Kathedrale von ferne jichtbar mar,
madten einen tiefen Cindrud auf fein empfängliches Gemüth:
138 Taganrog im Jahre 1825.
Alexander meinte während des Gebets. Als die Zeit gefommen
mar, das heilige Evangelium zu verlefen, näherte fich der Sailer
dem DMetropoliten und jagte: „Lege mir das Evangelium aufs
Haupt“ und bei diefen Worten fniete er nieder.
Nach Beendigung des Gebets verbeugte er fih drei Mal
bis zur Erde vor den Neliquien des recdhtgläubigen Fürften, küßte
fein Bild und verabichiedete fich von den Perſonen, die mährend
des Gebets zugegen gemwejen waren. Der hohe Bejuch verließ die
Kathedrale, geleitet vom Mtetropoliten im vollen Ornat mit dem
Kreuz in den Händen und von der ganzen Brüderichaft, unter
Geſang deſſelben Hymnus: „Nette, o Herr, die Deinigen.”
Nachdem fie die Kathedrale verlaiien, jagte der Metropolit
Seraphim zum Kaiſer: „Belieben Ew. Miajejtät nicht zu mir in
die Zelle zu kommen.“
„Sehr gerne” antwortete der Kaijer, „aber nicht auf lange,
ih habe mich ohnehin mit Bezug auf meine Marichroute um eine
halbe Stunde verſpätet.“ Hierauf bog die ganze Gejellichaft zum
Daufe des Metropoliten ab und betrat den Saal. Der Kaiſer
und Seraphim entfernten ſich ins Audienzzimmer. Bier empfing
er abermals den Segen des Metropoliten, ſprach mit ihm einige
MWorte ftehend, ſetzte fih und bat Sr. Eminenz an feiner Seite
Platz zu nehmen.
Der Metropolit wünichte das Geſpräch auf einen Gegenitand
zu lenfen, der jeinen hohen Gaſt intereflirte, und jagte:
„Ich weiß, daß Em. Majeſtät jtets den Nöfeten gewogen
waren; auch in unjerem Klofter hält fich jest ein Asket auf;
geruhen Em. Majejtät nicht den Befehl zu ertheilen, ihn herbei:
zurufen?“
„But, rufen Sie ihn herbei” antwortete der Kailer.
Der Asket wurde jofort gerufen und dem Wlonarchen vor:
geftellt. Gnädig empfing der Kaifer den ehrwürdigen Vater Alerei,
bat ihn um jeinen Segen und unterhielt ſich mit ihm einige
Minuten lang. Im Fortgehen ſagte der Asket mit gerührter
Stimme: „Herr, erweile mir die Gnade und mwürdige meine Zelle
Deines Beſuches.“ Nachdem Alerander vom Metropoliten erfahren
hatte, daß ſich die Zelle des Asketen gleich bei der Auffahrt
befand, neben welcher die Kaleſche jtand, erklärte er fich einver:
ftanden, den Alten zu beſuchen.
Zaganrog im Jahre 1825. 138
Cs öffnete fih die Zellenthür, und ein düfteres Bild bot
ih den Bliden des Kaifers dar: der Fußboden und alle Wände
bis zur halben Höhe waren mit ſchwarzem Tuch beichlagen; links
an der Wand jah man ein großes Kruzifir mit der Mutter Gottes
und dem Evangeliſten Johannes daneben, an der anderen Wand
der Zelle ftand eine lange jchwarze Holzbanf; die Lampe, die vor
den Heiligenbildern brannte, beleuchtete trübe die traurige Behauſung
bes Asketen.
Beim Eintritt des Kaiſers warf fi) der Asket vor dem
Kruzifir nieder, verlas ein Gebet und ſagte, ſich an jeinen hohen
Gaft wendend „bete, Herr.” Alexander verbeugte fi drei Mal
bis zur Erde. Dierauf ergriff der Asfet ein Kreuz, verlas den
Schiußfegen und ertheilte auch dem Kaiſer den Segen.
Nah Beendigung des Gebets ſetzte ſich der Monarch mit
dem Metropoliten auf die Banf und befahl daſſelbe dem Asfeten,
der Anfangs für diefe hohe Ehre danfte, endlich aber gehorchen
mußte und in einiger Entfernung von Beiden Plak nahm. In
halblautem Tone das Geſpräch mit dem Metropoliten fortjeßend,
fragte ihn der Kaiſer: „it das das ganze Eigenthum des Asfeten;
wo fchläft er? Ich jehe fein Bett.” „Er jchläft,” antwortete der
Metropolit, „bier auf dem Fußboden, vor diefem jelben Kruzifir,
vor dem er betet.“
Als der Asket diefe Worte hörte, jagte er: „Nein, Herr,
auch ich habe ein Bett, fomm, ich werde es Dir zeigen.“ Mit
diefen Morten führte er ihn hinter einen Bretterverjchlag in
feiner Zelle, wo ſich dem Kaiſer ein erfchütternder Anblick darbot:
auf dem Tiich Stand ein ſchwarzer Sarg, in ihm lag ein Bußfleid,
Kerzen und Alles, was zu einer Beerdigung gehört. „Siehe“
jagte der Asfet, „das iſt mein Bett, und nicht nur meins, jondern
unfer Aller Bett; in dieſes, Herr, werden wir Alle uns legen
und einen langen Schlaf thun.“
Schmweigend, in Gedanfen verlunfen, jtand der Monarch
einige Minuten. Als der Kaifer ji) vom Sarge abwandte, redete
ihn der Asfet mit folgenden Worten an: „Herr, ich bin ein alter
Mann und habe vieles in der Welt gejehen; geruhe meine Worte
anzuhören. Bor der großen Peit in Moskau waren die Sitten
reiner, das Volk frömmer; aber nad) der Belt wurden die Sitten
verderbt; im Jahre 1812 kam die Zeit der Beſſerung ar der
140 Taganrog im Jahre 1840.
Frömmigkeit, doch nach Beendigung bes Krieges find die Sitten
noch viel verberbter geworden. Du bijt unfer Herr und mußt
über die Sitten wachen. Du bit ein Sohn der recdhtgläubigen
Kirhe und mußt ſie lieben und ſchützen. So will es der Herr
unfer Gott.“
Nahdem Alerander diefe Morte vernommen hatte, wandte
er fih an den Metropoliten und ſprach zu ihm: „Diele lange und
mohlgefegte Reden habe ich gehört, aber feine hat mir beiler
gefallen, wie die furzen Worte diefes Alten.” „Es thut mir
leid,“ fagte er hierauf zum Asfeten, „daß ich jo ſpät Dich fennen
gelernt habe“ und veriprad ihn wieder zu beſuchen. Hierauf
empfing er von ihm den Segen und verließ mit dem Metropoliten
die Zelle. An der Brüderichaft vorübergehend, die in zwei Reihen
von ber Zelle des Asfeten bis zur Kaleſche ſtand, bat der Kaiſer,
für ihn zu beten und empfing noch einmal vom Metropoliten den
Segen. Sich in die Kaleſche jegend, richtete er ſeine thränen-
gefüllten Augen gen Himmel, wandte fid dann an den Metropoliten
und die Brüderichaft und ſprach: „Betet für mich und für meine
Frau.“ Innerhalb des Klofterhofes bis zum Thor fuhr er mit
entblößtem Haupt, fih häufig ummendend, und verbeugte und
befreuzigte fich, auf die Kathedrale jehend.
Und jo mar eine düſtere Zelle und ein offener Sarg mit
allem Zubehör einer Beerdigung der lebte Eindrud, den Kaifer
Alerander bei der Trennung von feiner Hauptſtadt mit fi) nahm.
Bevor er das Stadtgebiet von Petersburg verließ, ließ der Kaijer
bei dem Schlagbaum anhalten, richtete fih in der Kaleſche auf,
wandte fi) rückwärts und ſah gebanfenvoll mehrere Minuten auf
die Stadt, wie von ihr Abichied nehmend. War das eine trübe
Vorahnung, veranlaßt dur die Begegnung mit dem Asketen,
war das der feite Entichluß, nicht mehr als Kaifer zurüdzufehren,
— mer fann dieje räthjelhafte Frage löjen?
Kaifer Alerander verließ Zarjfoje auf der weißruſſiſchen
Route und bog von ihr an der Grenze des Gouvernements Plesfan
über Toropez auf die Tulaiche Noute ab. Während diefer Reife
fanden nirgends Revuen, Paraden oder Manöver jtatt. Auf allen
Nachtquartieren beſah der Kaiſer aufmerffam alle Bequemlichkeiten,
die das Haus in Hinfiht auf die bevorjtehende Reiſe der Kaiferin
nah Taganrog auf berjelben Route bieten fonnte. Den Kailer
Taganrog im Jahre 1825. 141
begleiteten der Chef des Hauptitabes Generaladjutant Baron
Diebitih, Wyllie, der Medifo-Chirurg D. K. Taraffom und der
Obrijtlieutenant WU. D. Salomfa. Im Ganzen bejtand die Suite,
die Dienerichaft eingerechnet, aus 17 Perfonen.
Am 13. September langte Alerander in Taganrog an,
nahdem er den langen Weg raſch und glüdlich zurüdgelegt Hatte.
MWpllie jchreibt in feinem Tagebuh: „Hier endet der erite Theil
der Reife” und fügt weiter, unter einem Strich, das Wort „finis“
hinzu. Damals fonnte er natürli noch nicht wiſſen, melde
prophetiiche Bedeutung diefes Wort in fich ſchloß: der erite Theil
mar auch der letzte.
Das Haus in Taganrog, das zur Wohnung für Ihre
Majeitäten ausgejucht worden war, war aus Stein, einetagig,
mit einem Kellergeihoß zur Unterbringung der Dienerſchaft. Die
Hälfte für die Kaiferin bejtand aus acht Fleinen Zimmern, von denen
zwei für zwei Fräulein bejtimmt mwaren. In der Mitte des
Haufes lag ein großer Saal, der gleichzeitig als Speiſezimmer
und als Empfangsjalon diente. Auf der Hälfte für die Kailerin
befand fi in einem bejonderen Zimmer die Feldfirde. Auf der
anderen Seite des Saals lagen die zwei Zimmer des Kaiſers:
das eine, ziemlich geräumig, war zum Arbeitszimmer bejtimmt,
diente zugleich auch zum jchlafen; das andere, halbrund und jehr
flein, in welchem der Kaifer ſich anfleidete, war das Toiletten:
zimmer, mit einem Fenſter, das auf den Hof hinausging. Neben
diefen beiden Zimmern befand ſich ein Korridor, ber jein Licht
aus dem Toilettenzimmer erhielt; er war für den dejourirenden
Kammerdiener beitimmt; das Garberobenzimmer lag im Seller:
aeihoß. Neben dem Haufe war ein geräumiger Hof und ein
feiner Garten mit Fruchtbäumen, etwas vermwahrlojt, aber vor
der Ankunft des Kaiſers jo viel als möglich in Ordnung gebradt.
Das Möblement des ganzen Haufes war jehr einfach).
Nah jeiner Ankunft in Taganrog war bie erjte Sorge des
Raifers, die Wohnräume der Kaiferin fo bequem wie möglich für
fie einzurichten; in jedem Winkel jah er jelbit nad), vertheilte
eigenhändig die Möbel in den Zimmern, ſchlug Nägel für bie
Bilder ein. Im Hinblid auf die Ankunft der Kaiferin forgte
Alexander dafür, daß ber Stadtgarten in Ordnung gebracht wurde
und ſteckte felbit die Gänge in ihm ab.
4*
142 Taganrog im Jahre 1825.
Täglih ging der Kaifer in der Stadt fpazieren, war im
Umgange ungewöhnlich zugänglid. Dem Anicheine nah war
Alerander ruhigen Gemüthd und heiter, doch ungeachtet deſſen
quälte ihn Argwohn. Diebitic erzählte, der Katjer habe einmal
des Morgens früh nad ihm geſchickt, ihm einen Zwiebad gezeigt,
aus dem er ein Ffleines Steindhen genommen, und ihm jtreng
anbefohlen, zu unterfucdhen, was das jei, und nachzuforſchen, wie
das gejchehen fonnte, indem er zugleicd) fagte, er wolle diefe Sache
nicht Wolfonjfi anvertrauen, weil er wife, daß er ein altes Weib
fei und nichts verjtehe. Diebitih rief Wyllie herbei und ber
fand, daß es ein gemwöhnliches Steinden fei; auch bat der Bäder
um Entihuldigung, in Folge feiner Unachtſamkeit fei das Steinen
in den Zwiebad gerathen. Nur mit Mühe gelang es Diebitich,
den Raifer hierdurch zu beruhigen.
Am 3. September verließ Kaiferin Eliſabeth Petersburg.
Es begleiteten fie Fürſt Wolkonſki, Staatsfefretär Longinow, bie
Kammerfräulein Fürſtin Warmara Wolfonjfi und Katharina
Walujew, der Leibmedifus Stoffregen, die Doftore Dobbert und
Reinhold und der Dofapothefer Brott. Die Kaijerin reijte langjam,
täglich nur furze Streden zurüdlegend und ſich oft erholend; am
23. September langte jie in Taganrog an.
Um Elifabeth zu begrüßen, fuhr ihr der Kaiſer bis zur
eriten Station entgegen und traf um 7 Uhr Abends, in derjelben
Dormeufe mit der Saiferin beim griechiſchen Alerander-Klofter
ein, das vom Kaufmann Warwazzi erbaut morben iſt; dort
erwarteten Ihre Majeftäten die Geiftlichfeit und beinahe die ganze
Bevölferung der Stadt. Bemerfenswerth ijt es, daß die Kaiferin,
deren geſchwächter Gejundheitszuftand ihr in Petersburg kaum bie
geringite Bewegung gejtattet hatte, bei ihrer Ankunft in Taganrog
ziemlich rüjtig allein, ohne Hilfe, die Equipage verließ und mit
dem Kaiſer Arm in Arm die Kirche betrat. Nach Anhören eines
Danfgebetes begaben ſich die Majeftäten in ihr Palais, das nad
Ausfage eines Augenzeugen wegen feiner befcheidenen und einfachen
Verhältniffe nichts mehr als das gutgebaute Wohnhaus eines
begüterten Zandedelmannes darjtellen fonnte.
Nahdem die Kailerin angefommen war, umgab fie ber
Kaifer mit der zärtlichiten Aufmerffamfeit, fam ihren geringjten
Wünſchen zuvor und bemühte ji, ihr alle möglichen Zeritreuungen
Taganrog im Jahre 1825. 143
zu verichaffen, nur danad) jtrebend, ihr den Aufenthalt in diefer
Stadt jo angenehm wie möglid zu machen. Die Einjamfeit
Taganrogs knüpfte zwiichen ihnen wieder die früheren Banden,
die zuerjt durch die Vergnügungen der Jugend und jpäter durch
die Sorgen um den Staat gelodert worden waren. Sie führten
bier ein jtilles, einjames Leben, frei von jeglicher Hofetiquette.
Unter dem Einfluß dieſer zärtlichen Liebe begann Eliſabeth ſich
neu zu beleben, ihre Geſundheit bejierte ſich augenanſehnlich;
Ihon nad) einigen Tagen war jie phyſiſch und moraliſch jtärfer
geworden. Taraſſow erzählt in jeinen Aufzeichnungen, daß die
ganze Suite an diefem Familienleben der Majeftäten ihre Freude
gehabt und fie unter ſich nur die jungen Cheleute genannt habe.
Einjt fam das Geſpräch auf die Vereinſamung, die für die
Raijerin eintreten müßte, jobald der Kaiſer bei feiner Nüdreije
nah Petersburg fie allein in Taganrog zurüdlajien würde.
Alerander jagte zu Elijabeth: „Selbjit wenn es möglich wäre,
Ihnen Jemanden aus der Familie, mic ausgenommen, herzu:
Ihiden, jo glaube ih doch, daß Sie Niemanden nöthig hätten.“
„Ratürlih nicht“ antwortete ihm die Kaiferin aus tiefiter Seele.
Als die Kaiſerin jpäter in einem Briefe an ihre Mutter hiervon
erzählte, fügte fie hinzu: „Es madte mir Vergnügen, ihn fo
überzeugt davon zu jehen, daß er mir Alles jei.“ Bei ihren
Spaziergängen außerhalb der Stadt gefiel der Kaiſerin bejonders
ein Pläschen am Ufer des Dieeres in der Nähe der Quarantäne.
Sofort befahl der Kaijer, an dieſer Stelle einen Garten anzu:
legen, zeichnete jelbjt den Plan dazu auf und befahl dem Fürſten
MWolfonjfi, aus Ropſcha den Gärtner Grey herkommen zu laſſen.
Bald nad) jeiner Ankunft in Taganrog, am 16. September,
ihrieb Kaiſer Alerander an den Grafen Araktſchejew: „Gott jei
Danf, mein lieber Alerei Andrejewitih, ich habe meinen Be—
ftimmungsort glüklih und ich fann jogar jagen, jehr angenehm
erreicht, denn das Wetter und die Wege waren ausgezeichnet.
In Tſchugujew Hatte ich) meine Freude am Vorwärtsichreiten der
Bauten. Ueber den Frontedienit fann ich nichts jagen, denn
ausgenommen eine Wachparade und ein Ererzitium der An:
gejiedelten, der Esfadronen zu Fuß und der Santonijten habe ich
nidhts geiehen. Meine Wohnung hier gefällt mir jo ziemlid).
144 Taganrog im Jahre 1825.
Die Luft ift herrlich, die Ausfiht aufs Dieer, mein Haus ziemlich
gut; doch Hoffe ich, Du wirft das Alles ſelbſt jehen.“
Doch faum hatte Alerander dieje Zeilen gejchrieben, als
am 22. September in Taganrog die Nachricht von dem tragischen
Ereigniß eintraf, das in Grufino vor fi gegangen war: am 10.
September hatte das Hausgelinde die Wirthſchafterin Araktſchejews
Naftasja Minkin erjchlagen.
Am 12. September, am dritten Tage nad) biejer Mordthat,
ichrieb Nraktichejew an den Raifer:
„Bäterhen Ew. Meajejtät.
Das Unglüd, das mid) getroffen hat, der Berlujt einer
treuen Freundin, die 25 Jahre in meinem Hauſe gelebt, hat
meine Gejundheit und meine Urtheilsfraft jo jehr zerrüttet und
geſchwächt, daß ich allein den Tod erjehne und juche, und deshalb
habe ic) weder Kraft noch Ueberlegung, die Geſchäfte weiter zu
führen. Lebe wohl, Väterchen, gedenfe Deines früheren Dieners;
meine Freundin iſt des Nachts von meinem Dausgejinde ermorbet
worden, und ich weiß nicht, wohin ich mein einjames Haupt legen
joll; aber von hier gehe id fort. Dein treuer Diener ©. A.“
Es blieb nicht allein bei diefem Briefe, der davon Zeugniß
giebt, wie jeher Graf Nraftichejew damals den Kopf verloren
hatte und wie grenzenlos Die Verzweiflung war, die fid feiner
bemädhtigt hatte; in einer unruhigen Zeit, die von ihm in jeiner
Korreipondenz mit dem Sailer jogar „ſtürmiſch“ genannt wurde,
hielt dieſer „treue Diener” es für möglich, eigenmäcdtig Die
Geſchäfte, die Allerhöchit ihn anvertraut waren, von ſich abzu—
ihütteln.
Einen Tag bevor Graf Araftihejem den Brief an Kaijer
Alexander abjchiete, erließ er am 11. September an den General:
major von der Artillerie Euler folgende Vorſchrift:
„Wegen des Unglüds, das mid betroffen hat, und ber
ſchweren Zerrüttung meiner Gejundheit, in Folge deren mir ber
richtige Ueberblid über die mir anvertrauten Gejchäfte benommen
it, Schreibe ih Em. Ercellenz als Nelteften im Dienjte vor, bis
zur Rückkehr des Chefs des Stabes das Kommando über die
angefiedelten Truppen und deren Stab zu übernehmen; hierüber
babe ih Sr. Majeftät dem Kaijer rapportirt.”
Taganrog im Jahre 1825. 145
Im jelben Sinn verfuhr Graf Araftichejew auch hinſichtlich
der zum Zivil-Rejjort gehörenden Gejdäfte, indem er an ben
Staatsjefretär Muramjew unter Demfelben Datum eine Vorſchrift ab-
fertigte, welche der dem General Euler ertheilten ähnlih war:
„Wegen des Unglücks, das mid betroffen hat, und ber
ihweren Zerrüttung meiner Geſundheit, in Folge deren mir ber
richtige Ueberblid über die mir anvertrauten Gejchäfte benommen
iit, belieben Ew. Ercellenz alle Saden, die unter meiner Ver—
waltung jtanden, jowohl in ber Kanzlei als auch im Komite, zu
übernehmen, aud alle von Sr. Dlajejtät dem Kaijer einlaufenden
Schreiben zu eröffnen, ebenjo auch die Briefe, die unter meiner
Adreſſe anlangen, mir jelbjt jedod nichts zu Tiberjenden; hierüber
habe ih Sr. Majeftät dem Kaiſer rapportirt.“
Die vom Grafen Nraftichejerw erhaltene Nachricht und jeine
londerbaren Anordnungen erbitterten und braten Kaiſer Alerander
in hohem Grade auf. Der Generaladjutant Diebiticd erzählte, als
die Nahriht von der Ermordung der Geliebten Araktſchejews
nah Taganrog fam, nahm der Kaijer an, fie jei nicht jo jehr
aus Haß gegen jie, als gegen den Grafen Araktſchejew erſchlagen
worden, um ihn von den Bejdhäften zu entfernen. Dod dann
erließ Graf Araftichejew den jonderbaren oder beijer gejagt uner:
laubten Befehl, durch den er wegen jeiner Erfranfung den General
Euler zum Kommandeur über alle angefiedelten Truppen einjegte,
als ob irgend jemand, der einen Truppentheil fommandirt, das
Kommando einem Andern übergeben fönnte. Obgleich dieſes
unerlaubte Benehmen dem Kaijer unangenehm war, jo jagte er
mir doch, daß er den Grafen Araktichejew mit jeinem franfhaften
Zujtande entichuldige. „Natürlich“ fügte Diebitich hinzu, „Niemandem
anders wäre ein jo ungejegliches Benehmen ohne Bemerkung bin:
gegangen. Aber diejer Menſch macht eine Ausnahme von
der allgemeinen Regel.“
Kaifer Alexander beeilte ji, den Grafen Araktſchejew zu
ermuthigen und zu tröften und jchrieb ihm am 22. September
aus Taganrog:
„Lieber Freund! Vor wenig Stunden habe ih Deinen Brief
und die Trauernachricht von dem entieglichen Ereigniß erhalten,
das Dich niedergeworfen hat. Mein Der; fühlt Alles, was das
Deine empfinden muß. Uber, mein Freund, Verzweiflung ift
146 Taganrog im Jahre 1825.
eine Sünde vor Gott. Unterwirf Did blind jeinem heiligen
Willen. Das iſt der einzige Troft, Die einzige Linderung auf
welche ich bei einem ſolchen Unglüf Did hinweiſen fann. Nad)
meiner Weberzeugung giebt es feinen anderen.
Aufrichtig theile ih Deine Trauer, obgleich ich die Perjon,
die von Dir bemweint wird, nicht gefannt und niemals gejehen
babe, aber fie war Dir eine aufrichtige und langjährige Freundin
— das ift genug, daß dieſer Verluft Dich tief betrüben mußte.
Dazu fommt der entjeglihe Gedanfe an die Art ihres Todes.
Lebhaft fann ich mir vorjtellen, lieber Freund, was in Dir vor:
gehen mußte: Deine Lage, Deine Trauer haben mich tief getroffen.
Selbjt mein eigener Gejundheitszuftand hat das jchmerzlid)
empfunden. Aber nod einmal wiederhole ih Dir, mit dem
Gefühle innigiter Liebe zu Dir, — Verzweiflung ift eine Sünde,
eine große Sünde. Unterwerfung unter den Willen des Höchſten
ift unjer Aller Pilicht, und je tiefer der Kummer, um jo mehr
müjlen wir unjer Haupt mit Demuth und Ergebung vor jeinem
heiligen Willen beugen. Unterwirf Dich ihm und Gott ſelbſt
wird Did jtügen und jtärfen.
Du ſchreibſt mir, daß Du Dich aus Grufino entfernen
mollejt, aber nicht wiljelt, wohin. Komme zu mir, Du haſt feinen
Freund, der Did aufrichtiger liebte. Der Drt hier ijt ein
einfjamer. Du wirft bier leben, wie Du es jelbit beftimmen
wirjt. Der Umgang mit einem Freunde, der Deinen Kummer
theilt, wird ihn einigermaßen lindern.
Aber ich beſchwöre Dich bei Allem, was heilig iſt, denke an
das Vaterland, wie nützlich und, ic fann wohl jagen wie noth-
wendig Dein Dienjt ihm iſt, mit dem Vaterlande bin aber id)
unzertrennlid. Du bift mir nothwendig. Ich bin weit davon
entfernt, von Dir eine Fortiegung Deiner Arbeiten in der erjten
Zeit Deiner Trauer zu verlangen. Nimm Dir die nöthige Zeit,
Deine Seelen: und Körperfräfte etwas zu erholen, denfe daran,
wieviel Du geſchaffen haft und wieviel das Alles noch verlangt,
bis es vollendet ii. Ich bitte Gott inftändig, er möge Deine
Kraft und Deine Gejundheit jtärfen und Dir die nothwendige
Energie zugleih mit der Ergebung unter jeinen heiligen Willen
einflößen.
Taganrog im Jahre 1825. 147
Schicke mir eine ausführliche Beſchreibung von dieſem
entieglihen Vorfall, die Ausſagen der Berbreder und Deine
Anſicht über dies Alles.
Eröffne dem Gouverneur, er möge durd alle möglichen
Mittel zu ergründen ſuchen, ob da nicht geheime Abjichten oder
Aufhegereien im Spiele waren.
Lieber Freund, über alle Beichreibung fühle ih Mitleid mit
Deinem tief empfindenden Herzen. Ih fann mir voritellen, was
es fühlen muß und trauere aufrichtig mit Dir.
Lebe wohl, lieber Alexei Andrejewitich, verlajje nicht Deinen
Freund, Deinen Dir treuen Freund.” *)
Doch Kaifer Nlerander begnügte ſich nicht mit Abjendung
diefes ungewöhnlichen Briefes; er berief den Stabschef der Militär:
anfiedelungen General Kleinmichel zu fich, der ſich damals in den
üblichen Anfiedelungen aufhielt und ſchickte mit ihm nod einen
zweiten Trojibrief an feinen Freund ab, batirt vom 3. Oftober
und ebenjo gnädig gehalten wie der erjte.
Alexander jchrieb: „Lieber Freund! Dein förperlicher und
geijtiger Gejundheitszuftand nad ſolch einem Unglück beunruhigt
mih in hohem Grade. Abſichtlich habe ich Peter Andrejewitich
Kleinmidel, einen Dir ergebenen Mann, hierher berufen, um mit
ihm Deine Lage zu berathen, und nad) langer Ueberlegung find
wir zum Schluß gefommen, er jolle die Inſpektion der unter
*) Der hier miedergegebene Brief Kaiſer Nleranderd an den Grafen
Araktſchejew iſt Ichon einige Male im Druck erichienen, aber in verfürgter und
verftümmelter Geſtalt. Die Worte des Kaiſers: „obgleich ich die Perjon, die
von Dir beweint wird, nicht gefannt und niemals gejehen habe, aber jie war
Dir eine aufridtige und langjährige Freundin — das ijt genug, dab diejer
Verluſt Dich tief betrüben mußte” gefielen wahriceinlid) dem Grafen Araftichejem
nit, und deshalb fehlen dieſe Worte in den von ihm ſpäter verbreiteten
Abſchriften des Kailerlihen Briefes. Man darf nicht vergefien, daß damals
erzählt wurde, Kaijer Alerander habe beim Beſuche Grufinos auch die Najtasja
Minkin aufgeſucht und es nicht an Beweiſen der Aufmerkjamfeit ihr gegenüber
fehlen laſſen; dieſe Klaiichereien ſchmeichelten der grenzenlojen Eigenliebe des
Grafen Arattichejew und man fonnte natürlih von ihm nicht erwarten, er
werde zur Bernichtung der entitandenen Legende mitwirken. Der Brief des
Kaiſers in jeinem vollen Umfang widerlegt in entjchiedenjter Weile dieje Legende
oder, richtiger gelagt, dieje Verleumdung und zeigt die Sache in ihrer wahren
Seitalt, ohne Araktſchejewſche Berjchönerungsverjuche.
(Anm. des Autors.)
148 Taganrog im Jahre 1825.
Kommando des Grafen Witt jtehenden Truppen auf eine andere
Zeit verlegen, um unverzüglich zu Div zurüdfehren zu können.
Ich aber werde die Möglichkeit haben, nicht nur über Deinen
Sejundheitszuftand, jondern auch über die Details des unglüdlichen
Greignijjes genaue Nachricht zu erhalten. Ich gejtehe es Dir, es
betrübt mich in hohem Grade, daß Daller nicht eine Zeile über
Did ſchreibt, während er mich früher jedes Dial pünftlid über
Deinen Gejundheitszujtand benadridtigte. Kommt Dir benn
wirflih nicht in den Sinn, wie groß die Sorge ift, die ih um
Did in einer jo ernjten Zeit Deines Lebens tragen muß? Es ijt
unrecht von Dir, einen Freund, einen Di) jo aufrichtig und fo
lange liebenden Freund, zu vergellen, es ijt ein nod größeres
Unredt, an jeiner Theilnahme an Deinem Kummer zu zweifeln.
Dringend bitte ih Dich), lieber Freund, wenn Du es jelbjt nicht
vermagit, jo laß mir durch einen Andern genaue Nadricht über
Did zufommen. Ih bin in großer Sorge.
Dein Did) jtets aufrichtig liebender.“
Doch begnügte ſich der Kaiſer nicht mit den angeführten
Zeichen freundſchaftlicher Aufmerfjamleit; er erjtredte jeine Sorgfalt
jo meit, daß er am 3. Oktober dem General Kleinmichel nod)
einen Brief folgenden Inhalts an den NArdimandrit Photius
einhändigte:
„Bater Arhimandrit Photius! Nach allen Nahrichten, die
an mich gelangt jind, befindet ſich Graf Alerei Andrejewitih nad)
dem Unglüd, das ihn betroffen hat, in einem Zujtande äußerjter
Muthlofigfeit, die nahe an Verzweiflung grenzt. ch weiß, wie
body er Sie als Teeljorger jtellt, ih bin davon überzeugt, daß
Sie mit Hilfe des Allerhöchſten viel auf feinen Geelenzujtand
einwirfen fünnen. Indem Sie ihn wieder aufrichten, werden Sie
dem Reiche und mir einen wichtigen Dienjt erweilen, denn Der
Dienjt des Grafen Wraftichejew ijt für das Vaterland
von Werth. Es it Chrijtenpflicht, mit Ergebung die Schläge,
die von des Herrn Hand fommen, binzunehmen. Wir jind Alle
in jeiner Hand.
Indem id; Sie um Ihren Segen bitte, empfehle id mid)
Ihren Gebeten an.
Diejer Brief ift geheim zu halten.“
Taganrog im Jahre 1825. 149
Als Antwort auf alle diefe Beweiſe von Gnade und
freundichaftliher Gefinnung fühte Graf Araftichejew in feinen
Briefen die Kniee und Hände des Kaiſers, folgte aber nicht ber
dringenden Einladung jeines treuen Freundes, nad) Taganrog zu
fommen, indem er fi mit Herzklopfen und täglichen Fieber:
anfällen entichuldigte.
Groß war das Erjtaunen des Generals Euler, als er ganz
unerwartet die oben angeführte jonderbare Vorſchrift des Grafen
Nraftihejew vom 11. September erhielt. Sofort ſchickte er an
den Grafen einen Brief und bat ihn um Erlaubniß, bei ihm
ericheinen zu Dürfen, wurde aber nicht angenommen „wegen
ſchwerer Zerrüttung der Geſundheit.“
General Euler jchreibt in jeinen Denfwürdigfeiten: „Schon
zehn Jahre lang wurden die Anfiedelungen nad) des Kaiſers
eigenem Entwurf organifirt, Graf Wraftichejew, der von ihm
unterjchriebene VBollmacdhtsbriefe in Händen hatte, war unum—
ihränfter Vollzieher und räumte in des Kaiſers Namen alle vor:
fommenden Hindernifie aus dem Wege, feine Obliegenheiten auf
ih zu nehmen war folglich eine Aufgabe, die die Kräfte eines
Jeden überjtieg, namentlih in Abweſenheit des Kaiſers; ich
berichtete ihm von der mir ertheilten Vorſchrift des Grafen,
erhielt aber als Antwort nur einen Brief Diebitich’s, der Kaijer
habe meinen Bericht in Taganrog zu lejen geruht. Im legten
Tertial des Jahres liefen von allen Militäranjiedelungen Rechen—
Ihaftsberichte über die ausgeführten Arbeiten und über die Ver:
pflegung ein, wurden Generalbudgets und Berichte zujammen:
gejtellt, die durd) das Minifterfomite dem Kaiſer vorzulegen waren,
wurden hinfichtlich aller Gegenjtände Anordnungen für das fünftige
Jahr getroffen; folglih war die Zeit meines Antritts eine jehr
Ihwierige: es mußten Torge abgehalten, Anfäufe für ungeheure
Summen gemacht werden, die Bejtätigung mußte man aber vom
Kaifer jelbjt erbitten, weil die Militäranfiedelungen nicht nur
feinem Miniſter jondern auch feiner der höchſten Neichsinjtitutionen
untergeordnet waren. Zu dem Zweck jchidte ich einen Feldjäger
mit den Berichten an den Kaiſer nad) Taganrog, doch Diebitſch
ihidte jie mir ohne irgend eine Nejolution zurüd, nur mit einem
Brief, der Kaiſer habe fie zu lejen geruht, was mid in eine
entjegliche Lage brachte. Nach der allgemeinen Regel hatte ich
150 Taganrog im Jahre 1825.
ohne Bejtätigung durd Sr. Dlajeftät nicht das Recht, irgend
etwas in Ausführung zu bringen, ebenjowenig hatte ich die Macht,
zu erklären, es jei das der Allerhöchite Mille, wenn id) das aber
nit that, jo jah ich voraus, daß dann die ganze Organijation
der Militäranfiedelungen im nächſten Jahr ins Stoden gerathen
werde. Die Nothwendigfeit zwang mid, mir eine Macht anzu:
maßen, die mir nicht gegeben war, und eigenhändig verjah ich
alle Berichte mit der Aufichrift: „Se. Majejtät der Kaijer gerubte
diefe Unterlegung in Taganrog zu lejen und fie zu genehmigen,“
d. h. ich handelte jo, wie der Graf zu thun pflegte, und übergab
dann alle Berichte mit den entipredhenden Vorjchriften dem
Oekonomie Komité, das nad ihnen handelte. Alles ging nad)
früherer Ordnung und meine Verwaltung endete glüdlih, ohne
geringiten Einſpruch von irgend einer Seite und zu volllommener
Zufriedenheit des Grafen; doch zu einer jolhen Kühnheit würden
ih nur Wenige entjchlojien haben, man mußte dazu jehr gut
orientirt ſein.“
Des Grafen Araktſchejew eigenmächtige Niederlegung ber
von ihm befleideten Staatsämter machte ſich in verderblicher Weije
in einer Sache von allergrößter Wichtigfeit geltend, die perjönlid
das Wohlergehen und die Sicherheit Kaifer Aleranders betraf.
Es jei hier daran erinnert, daß der Unteroffizier des 3. Ukrainſchen
Ulanenregiments Sherwood am 17. Juli 1825 dem Sailer jeine
Denunziation der geheimen Gejellihaften übergeben, und als er
fih auf den Weg madte, um weiter alle Fäden der damaligen
Verihwörung aufzudeden, darum gebeten hatte, es möge unfehlbar
zu einer gewiſſen Stunde des 20. Septembers ein YFeldjäger auf
der Bojtjtation der Stadt Karatſchew im Orelihen Gouvernement
ericheinen, dem er den geheimen Bericht über die von ihm ver:
anjtaltete Unterfuhung einhändigen Fönnte.
Nachdem Sherwood mit Erfolg jeine Nahforihungen beendet
hatte, traf er, wie vorherbejtimmt, auf Tag und Stunde in Der
Stadt Karatihew ein, doch der von ihm erwartete Feldjäger
erihien nit. Der Stationsaufjeher fragte Sherwood, ob er
nicht Pferde anjpannen laſſen ſolle. „Ich jagte ihm,“ ſchreibt
Sherwood in jeinen Aufzeichnungen, „Daß ich ſtarke Kopfihmerzen
babe, nicht weiter fahren könne, bat ihn um Eſſig, verband mir
den Kopf und jtellte mich drei Tage lang frank, dann begann id)
Taganrog im Jahre 1825. 151
wieder allmählich mich zu beilern, und endlich, mehrere Tage nad)
dem angelegten Termin, erſchien der Feldjäger; ich ſchickte den
Stationsaufjeher unter dem Vorwande, er ſolle für mich etmas
einfaufen, fort und fragte den Feldjäger, weshalb er nicht zehn
Tage früher gefommen ſei, darauf erwiderte er mir, in Grufino
fei die Najtasja Fedorowna ermordet worden und Araftichejem fei
in Folge hiervon wie gejtört geweſen. Unterdeſſen begann die
ganze Stadt gegen mid; Verdadht zu hegen; endlich erſchien der
Polizeimeifter von Karatſchew bei mir und befragte mich, wer ich
wäre und meshalb ich jo lange auf der Station mich aufhielte.
Ich ſagte ihm, ich fei Unteroffizier, jei auf der Etation geblieben,
weil ich mich nicht gefund fühle, jei auf ein Jahr beurlaubt, und
zeigte ihm mein Billet mit der Unterfchrift des Grafen Araktſchejew
und des Stabschefs Kleinmichel. Der Bolizeimeijter erichrad, bat
um Entichuldigung, daß er mich inkommodirt habe und entfernte
fh; aber dieſer Unterichied von zehn Tagen hatte wichtige Folgen:
niemals märe es am 14. Dezember zum Aufitande der Garde
auf dem Iſaaksplatze gefommen; die Häupter der Verichwörung
wären rechtzeitig arretirt worden. Ich weiß nicht, wen man es
zufchreiben ſoll, daß ein jo hoch jtehender Staatsmann, wie Graf
Araftichejew, dem Kaiſer Alerander I. jo viele Wohlthaten erwieſen
hatte und dem er jo ergeben war, die Gefahr, in der fi das
Leben des Kaiſers und die Nuhe des Neichs befand, gering achtete
wegen eines trunfjüchtigen, dicken, gedenartigen, ungebildeten und
boshaften Frauenzimmers von jchlechter Führung: das giebt zu
denfen.“
(Schluß folgt.)
.
In dem Tagehuch des Grafen Gotthard Mantenfel
während feiner Neife aus Livfand nad Deutichland im J. 1783,
(Jahrgang 1897 der „Balt. Mon.”, Beilage S. 317— 336.)
Ueber den Grafen Gotthard Manteuffel, der im Mai 1783
von Niga aus eine Reife nady Deutichland antrat und über jeine
Erlebnilfe und Anichauungen bis zum 6. Juli in einem Tagebuch
berichtet, hat der Herausgeber des Neifeberichts nichts Näheres zu
ermitteln gewußt. Der Neifende verweilte während der anderthalb
Monate die längjte Zeit (vom 9. Juni bis zum 1. Juli) in
Deſſau. Dieſe Stadt genoß damals eines mweitverbreiteten Rufes
durch einen trefflichen funftjinnigen und Bildung fördernden Füriten,
unter feinem Schub jchien für die Jugenderziehung von dem
philanthropiichen Jnjtitut, das Baſedows Reform ins Leben über:
führen follte, ein neuer Tag anzubrehen. Wir jehen aus ben
Aufzeihnungen, dat diejer Ruhm Dejjaus und feiner Erziehungs:
anjtalt auch ihren Verfaffer ganz hingerifien hat. Won mahrer
Hochachtung für den Fürjten Friedrih Franz erfüllt und tief
bewegt nimmt er Abichied, und jeinen Eindrud von dem Philan-
thropin, an dem allerdings einiges ausgefegt wird, faht er doch
in die Worte: Hätte ich Kinder, mehr fann ich nicht jagen, hierher
müßten fie, wenn die Anjtalt jo bleibt, wie fie iſt. Da unter
den Schülern „Coufin Ernſt Manteuffel“ genannt wird und dejien
Vater der Landratd Graf Mantenffel in Schloß Ringen mar, jo
muß Graf Gotthard, der Sohn eines älteren Bruders bes liv-
ländiſchen Landraths gemwejen fein. Danach hat dann unlängit
5. Amelung (Dünazeitung 1898, Nr. 94) aus der Stammtafel
der Familie im ehitländiichen Ritterſchaftsarchiv die Perſönlichkeit,
um bie es fich handelt, als den Grafen Gotthard Johann, Beſitzer
von Münfenhof und anderen Gütern in Ehjtland, feitgejtellt, wobei
fich das Todesjahr 1780 in der Stammtafel als unrichtig ergiebt.
Aus der Stammtafel im livländiichen Ritterſchaftsarchiv, die ſehr
füdenhaft ift, läßt fi) noch entnehmen, daß er in der Chevalier:
garde gedient hat, woraus die Bezeichnung Chevalier ſich erflärt.
Menn nun außer den Vettern, in denen wir die beiden Philan-
thropiften aus Schloß Ringen erkennen, nody bei einem Abend»
Bu dem Tagebuch des Gr. Gotth. Manteuffel (17883). 153
eſſen „Schmweiterfinder Mathefon und Sander” (S. 328) angeführt
werden, jo zeigt die folgende Charakterijtif von Mathejon und
Sander, daß dieje feine Schüler waren, und nur das mangelnde
Komma hat F. Amelung auf die faliche Fährte geführt, hier
Kinder von Schwejtern des Grafen, die an Mathefon und Sander
verheirathet gewejen, zu juchen. Sehen wir das Verzeichniß von
Zöglingen an, die aus den Dftlfeeprovinzen nad Deſſau entiandt
waren (Balt. Monatsichrift 43, 131 ff.), fo finden wir die Schweſter—
finder in zwei Brüdern von Schwengelm (26, 27), die als Stief-
föohne des Grafen Sievers auf Nopkoi bezeichnet werben. In eriter
Che mar ihre Mutter, Henriette Juliane geborene Gräfin Man:
teuffel, mit Herren von Schwengelm, Erbheren auf Wennefer in
Ehftland vermählt, der am 29. Dezember 1774 beerdigt wurde,
in zmeiter mit dem Grafen Johann Karl von Sievers, deſſen
Sohn erjter Ehe Paul gleichzeitig mit den beiden Schwengelm in
das Philanthropin eintrat. Die Stammtafel der Grafen Sievers,
die übrigens die obigen Vornamen nicht angiebt, belehrt uns noch,
daß die Gräfin 1785 zu Altona gejtorben iſt, erblos, jo weit es
ihre zmeite Che betrifft.
Haben mir jo mit Hilfe genealogiichen Materials uns einige
Klarheit über Perſonen und Namilienbeziehungen geichafft, To
vermag eine litterariiche Quelle, die freilich nicht überall zugänglich
fein wird, noch einige Züge aus dem Leben des Grafen Gotthard
Manteuffel und der Gräfin Juliane Sievers zu liefern.
Nah Erwähnung jener Abendgelellichaft in Deſſau (S. 328)
fagt Graf Manteuffel: „Ih kann diefen Augenblid nicht übergehen,
ohne zu jagen, daß id) wenig jo jehr gute Menſchen gefunden
al& den Matheion, voll reiner, wohlerfannter Gottesfurdt und
einem herrlichen Herzen, wei, aber jtrenge Urdnungsliebe und
echt geläuterte Liebe zu feinen Untergebenen und Zöglingen, die
denn auch an ihm mie an einem Freund und Vater hängen.”
Dies erweilt doc Mar, daß wir einen Lehrer und Erzieher
des Inſtituts vor uns haben, und unter der ungenauen Namensform
erfennen wir den befannten Dichter Friedrich Matthilion, der
als Zmanzigjähriger an der berühmten Anftalt eine Stellung antrat.
Mir befigen von ihm eine Selbitbiographie, aus dieſer erfahren
wir, welche Wichtigkeit für fein ganzes Leben in den nächſten
Jahren eben Graf Danteuffel und deſſen Schweiterfinder gewannen.
154 Zu dem Tagebuch) de8 Gr. Gotth. Manteuffel (1783).
Sie findet fi) in dem Sammelwerk: Zeitgenoſſen. Biographieen
und Charakterijtifen. 1. Bos. + Abth. Leip,ig und Altenburg
1816. Im Kolgenden geben mir ihm jelber das Wort.
* *
*
Zugleihd mit Spazier, dem afademifhen Freund, trat
Matthiifon im Frühjahr 1781 in den freudig erforenen Wirfungs-
frei, unter günftigen Worbedeutungen, ein. So waren 3. B. bie
acht Knaben, welche jeiner unmittelbaren Aufjicht übergeben wurden,
durchaus gutartig und mwohlgezogen, jo daß es von feiner Seite
gar feiner jtudirten Kunitmethode bedurfte, um ihnen Wohlmollen,
Vertrauen und Folgſamkeit abzugewinnen. Mit ganz befonderer
Liebe hingen an ihm zwei Brüder aus Livland, der eine von
zehn, der andere von adt Jahren. Ihre Muttter, Juliane
Gräfin Sievers, war eine Frau von männlid jtarfem und
weiblich mildem Charafter, die zurüdverpflanzt jchien aus den
goldenen Zeiten der altrömijhen Eitteneinfalt und Herzensfraft.*)
Der feitbegründete Ruf des philofophiichen Arztes Hensler zu
Altona**) bejtimmte die ſchon jeit Jahren fränfelnde Gräfin, in
feiner Nähe Genefung oder Tod ruhig zu erwarten. Auf ihrer
Durchreiſe nad Altona lernte Matthiſſon die würdige Frau, mit
welcher er jchon in regelmäßigem Briefwechſel ſtand, perfönlic
fennen. Sie jchied mit den Worten: „Auf frohes Wiederſehen
in Altona!” Die Verabredung war nämlich getroffen worden,
daß Matthiſſon binnen Jahresfriſt in Gefellichaft ihrer Kinder
eine Beluchreiie dahin machen follte.***) So reifte denn mieder
*) In feinen Erinnerungen (Zürich 1810, 1, 328) fagt Matthiffen nad
diefer Charafteriftit noch: Ihre theueriten Kleinode waren zwei holde Anaben;
und fchmiegten diefe lichfolend fi an die mütterliche Bruſt, fo erblidte man
die hohe Kornelia mit den beiden Gracchen.
**) Später Profeffor in Kiel, auh aus B. &. Niebuhrs Leben befannt.
***) Für diefen Beſuch der Gräfin wird ein Jahr nicht angegeben. Da
Graf Manteuffel mit einer Schweſter reiite, To werden wir die beiden Heilen
als eine gemeinichaftlich unternommene anichen dürfen, die in Altona zu dem
erwähnten Zwed ihren Abſchluß fand, alio das Jahr 1783 anfegen. Allerdings
fommen nad der ausgehobenen Stelle Begebenheiten aus dem Jahre 1782 vor.
Es ift aber nicht möthig, eine durchaus chronologiſche Ordnung anzunehmen.
Sept man den Bejuch der Gräfin 1782, mie Hoſäus in der allgem. deutjchen
Biographie (39, 677) vorausjegt, fo wäre doch die Reiſe nah Altona im
folgenden Jahr oder ihr Unterbleiben ausdrüdlic erwähnt worden.
Zu dem Tagebuch des Gr. Gotth. Manteuffel (1783). 155
einer der Lieblingswünfche feiner Yünglingsjahre, die ——
mit Klopſtock, der Gewährung entgegen (S. 31).
[Während Matthiſſons Mutter einige Wochen zum Befuce
in Deffau vermweilte, 1783] fam ein Brief aus Altona von der
Gräfin Sievers, worin ſie dem bisherigen Aufjeher ihrer Söhne
den Vorſchlag that, mit ihnen das Deſſauer Erziehungshaus zu
verlaflen und ſich diefen hoffnungsvollen Knaben allein zu widmen,
in deren Gefellichaft fie die legten, vielleiht nur noch ſparſam
gezahlten Lebenstage zujubringen wünſchte. „Meine Geſundheit,“
war der Schluß, „verichlimmert ſich täglih, und id habe dem
Glauben an Genejung troß Henfters guigemeinter Scheinüberzeugung
vom Gegentheil völlig entſagt. Dieſen Umjtand bitt' ih Sie
bei meinem Antrag am jchärfiten ins Auge zu fallen.“
Auch gänzlich abgeiehen von dem enticheidenden Umftande,
würde Matthilfon diefem Ruf ohne weiteres Bedenfen gefolgt
fein (©. 38).
Im April 1784 verließ Matthiffon mit feinen beiden
Zöglingen Deffau und ging dem friedlicheren und ftilleren Beruf
mwohlgemuth entgegen.)
Bei der Ankunft in Altona trafen unfere Neilenden Die
franfe Gräfin Sievers jehr leidend an. Durch die Vorjtellung,
von ihren Kindern ungetrennt bis zum Tode zu bleiben, jchien
indeß ber ſchwach glimmende Lebensfunfe noch einmal heller
aufzuleudhten. Ueber ihr blaſſes Geficht flog ein augenblidlicher
Schimmer von Heiterfeit oder vielmehr von Verklärung, der nicht
mehr von dieſer Welt war. Den Gemahl der Gräfin hielten
Familiengeſchäfte nody im Vaterland zurüd. Seine Stelle vertrat,
als Reiſegefährte und Sadwalter, ihr ältejter Bruder, Graf
Gotthard Manteuffel. Dieler ausgezeichnete Nordländer
verband mit einer jchönen, männlichen Geftalt feingeichliffene
Hoffitte, mannigfache Geiftesbildung, vieljeitige Welterfahrung und
meitumfichtige Lebensklugheit. Er Hatte nach und nach die ganze
franzöfifche Enzyflopädie durchgeleſen und verjtand ſich vortrefflich
*) Da auch der Stieflohn der Gräfin zu gleicher Zeit austrat (Balt.
Monatsichrift 43, 132), To fällt deffen Nichterwähnung bier auf. Irrthümlich
fagt ©. Franfe (a. a. D. 129): Matthiffon begleitete den Grafen Gotthard
Manteuffel (auf die Univerfität), — eine Verwechielung zweier Beitern gleichen
Namens, aber jehr ungleichen Alters. n
156 Zu dem Tagebuch; des Gr. Gotth. Manteuffel (1783).
darauf, in der Konverfation die Früchte diefer Lektüre vermöge
feiner ausnehmenden Urtheils: und Gedächtnikfraft immer glüdlich
und ortgerecht anzubringen und auf dieſe Meile, dem Scheine
nad ganz ohne Wiſſen und Mollen, ſich in das Anjehen eines
gründlihen und fafultätgeredhten Gelehrten zu Teen, auch mar
er einer der angenehmjten Erzähler, jelbjt nad) dem Ausiprud
der Kailerin Katharina, und feinen Heinen Poefien in franzöfiicher
und deuticher Sprache, nur dem engeren Gejellichaftszirfel bejtimmt,
gebrach es garnicht an Zierlichfeit und MWig. Dabei ward von
ihm die nur allzu oft vernachläffigte Klugheitsregel in Ausübung
gebracht, den Vorgeſetzten der Zöglinge, bejonders menn dieſe
zugegen waren, nicht als gedungenen Miethling, fondern als
erworbenen Freund zu behandeln. Ihm verdankt Matthiſſon die
michtigften Worjchriften, Winke und Aufichlüfe über MWeltleben,
Geiellichaftsmweile und Schidlichfeiten, zugleich mard er aber durch
den Eintauſch trauriger Wahrheit gegen fröhlichen Mahn auf den
Uebertritt aus der idealiftiichen Welt in die wirflihe allmählich
vorbereitet.
Claudius, der nie dem Range, fondern immer nur bem
Verdienit huldigte, fam öfters zu der franfen Gräfin Sievers,
welche jeine Schriften liebte. Ihre Rinder erwiderten in Begleitung
des Lehrers diefe Beſuche zu Wandsbek, wo Claudius ein ge—
räumiges, gut gebautes Haus bewohnte und einen großen Küchen-
und Objtgarten fultivirte ut prisca gens mortalium (S. 40, 41).
Wenn Hensler auch die Heilung der Gräfin Sievers auf-
geben mußte, jo gelang es ihm doch mwenigitens, ihr bie Grenze
des unbefannten Yandes mit Blumen zu beftreuen. Sie war nie
fortdauernd bettlägerig und jtarb, als der Frühling 1785 zu
grünen begann, in ihren Armſeſſel zurüdgelunfen, mit dem Lächeln
einer Deiligen. Wenige Tage vor ihrem Tode machte fie die legte
Spazierfahrt, um ihrem Bruder die Stätte zu bezeichnen, mo man
fie hinlegen follte. Dem zufolge ward fie auf dem Gottesader
des Dorfes Ottenfen an der Seite von Margaretha Klopftod
begraben. Ein einfacher Sanditein ohne Wappen und Grafenfrone
fagt dem Wanderer, daß fie tugendhaft lebte und glaubensvoll jtarb.
Um den Schmerz der trojtlofen Knaben zu mildern, ließ der
Graf Manteuffel fie mit ihrem Lehrer eine Fußreiſe durch einen
Theil von Schleswig und Holftein machen.
Zu dem Tagebuch des Gr. Gotth. Manteuffel (1783). 157
Der Graf Manteuffel hatte nun den Entichluß gefaßt, die
Oberauffiht über die Erziehung feiner Neffen zu führen und bis
zur vorläufigen Endigung derjelben ſich nicht von ihnen zu
trennen. Es mar eine feiner vorherrichenden Erziehungsideen, den
Aufenthaltsort der jungen Leute von Zeit zu Zeit wo anders hin
zu verlegen. Er vertaujchte daher im Sommer 1785 Altona mit
Heidelberg. Zu folder Wahl ward er durch die einladende
EC childerung des berühmten Sulzer von SHeidelbergs maleriicher
und romantiiher Lage im Neiletagebuche dieſes Gelehrten von
Berlin bis Nizza hauptſächlich bejiimmt. Wenn wir nun bei
dem reizenden Bilde der Gegend noch die geſunde Luft, Die
wohlfeilen Lebensmittel und den guten Gejellichaftäton mit in
Anſchlag bringen, jo war die getroffene Wahl im höchiten Grade
gerechtfertigt. Der Graf nahm eine Wohnung, welche die Ausficht
nah dem Nedar und dem angrenzenden Maldgebirge hatte, traf
eine mohlberechnete Dauseinrichtung und ordnete alles auf das
Zmwedmäßigite nach dem augenblidlihen Bedarf der Kolonie.
Nicht nur des Oheims väterliche Vorjorge, Tondern auch des
Lehrers redliches Bemühen belohnten die hoffnungsvollen Knaben im
reihften Maß. Zur Aufmunterung und Belehrung der leßteren
dienten Spaziergänge nad Mannheim. Bier wurden die Gemälde-
gallerie, reich an Meiſterſtücken, beſonders aus der niederländijchen
Schule, und der Antifenjaal, in welhem die Gypsabgüſſe der vor:
züglichiten Sfulpturwerfe des Alterthums ein wahres Kunftpantheon
darftellten, mit Eifer dDurchgemuftert. Auch das Theater der freundlichen
Stadt blieb jelten bei ſolchen Ausflügen unbeſucht (©. 42, 43).
Im Frühjahr 1786 verlegte der Graf Manteuffel feinen
Wohnſitz nah Mannheim, wo unter dem Kurfürſten Theodor
für Wiſſenſchaften und Künfte ſchon viel Nahahmungswerthes
eingerichtet war und noch eingerichtet wurde. Bejonders erfreuten
th Schauſpiellunſt und Muſik einer Epoche des Blühens und
Reifens, die für unfer Vaterland, jo lange darin Theater und
Orcheſter bejtehen werden, auf immer denfwürdig und unvergeßlich
bleiben muß.
Vom Grafen Manteuffel, der jelbjt ein poetiſcher Dilettant
mar, dazu aufgemuntert, gab Matthifion zu Mannheim im Verlag
der afademiichen Buchhandlung ein Bändchen von Iyriichen Gedichten
heraus (S. 45).
5*
158 Zu dem Tagebuch des Gr. Gotth. Manteuffel (1783).
[Im Herbit 1786 madte Matthiffon die Rheinreiſe von
Mainz bis Düfleldorf und verfiel nad der Rüdfehr zu Mannheim
in ein hartnädiges Fieber] Der treue Jung hatte ohne bes
langſam Genejenden Wollen und Willen hierüber an Bonitetten
Bericht eritattet. Da murde Matthiiion von dieſem bejorgten
Freunde dringend aufgefordert, feine Feſſeln, mie er fih aus:
drüdte, abzuitreifen, eine jo weite Strede durd das Erbenleben,
als Fatum und Parze vergönnen würden, mit ihm Hand in Hand
zu wandeln und die alte Burg von Nyon nicht anders forthin
zu betrachten, als hätte feine Wiege darin geftanden.
Der Graf Manteuffel, immer fonjequent und gerecht, jo oft
vom Wohl oder Wehe des hinlänglich erprüften Familienfreundes
die Rede war, bot hierzu die Hand um fo milliger, da die Privat:
erziehung feiner Neffen vollendet war. Dem zufolge trat ihr
bisheriger Lehrer im Sommer 1787 die Reife nad) der Schweiz
an (S. 46).
+ *
*
Aus dieſen erſten Wanderjahren ſtammen auch die erſten
Briefe des Dichters, die er ſelbſt 1795 in Zürich erſcheinen ließ.
Darin iſt aber „das meiſte, was nur ben Verfaſſer und feine
Korreipondenten perjönlih anging,“ meggeichnitten, jo daß nur
an einer Stelle bemerkt wird, die Neile von Altona nad) Heidelberg
fei am 29. Juli 1785 in Gefellichaft des Grafen M. angetreten
worden.
Spätere Erwähnungen des Grafen Manteuffel oder der
einftigen Zöglinge begegnen uns in der Biographie niht. Nur
als er einige Jahre jpäter auf einer Reiſe nad) Kopenhagen über
Hamburg feinen Weg nimmt, gebenft er in bewegten Worten ber
Gräber auf dem Kirchhof zu Ottenien, Margaretha Klopſtocks und
der Gräfin Juliane Sievers.
Victor Diederichs.
Kine politiihe Rede vom Jahre 1601.
Mitgetheilt von Dr. Fr. Bienemann jun.
Der lange, fait dreißig Jahre währende Krieg zwiihen Polen
und Schweden jeit Beginn des 17. Jahrhunderts, erjtredte jeine
Wurzeln tief in den Boden der agarejjiven fatholiihen Reaktion,
die man mit dem Namen der Gegenreformation zu bezeichnen
pflegt. Sie drohte, Ichritt fie auf ihrem Marjche widerjtandslos
vorwärts, dem ‘Protejtantismus in Europa den Lebensathen zu
erjtiden. In Schweden trat die Frage in dem Streite zwiſchen
Sigismund III., König von Polen und zugleich jeit 1592 als
Nachfolger feines Vaters Yohann Ill. aud König von Schweden,
einerjeits und jeinem Oheim Hy. Karl von Südermannland, dem
Reichsverwejer, und der bei weitem überwiegenden Mehrzahl des
ihwediichen Volles andererjeits in die Erjdeinung. So gewann
bier der Kampf freilich einen perjönliden Charakter. Sigismund 111.
wurde aus Schweden vertrieben, aus jeinem legitimen Erbreid.
Aber für Herzog Karl gejtaltete ji) der Streit zu einem Kampf
um das Vajaerbe im Großen, um die religiöfe und politijche
Freiheit des Volfes, zu einem Kampf, den er in wahrhaft vater:
ländijcher, uneigennüßiger Abfiht — denn nicht die Königskrone
war jein Ziel — auf fid nahm.
Der Krieg begann in Schweden, er jpielte dann nad) Finnland
hinüber, endlich nad) Ehitland und Livland. In faum eines halben
Jahres Frijt hatte Herzog Karl fait ganz Yivland erobert. Und
überall hatten die Xivländer, ein Gebiet nah dem andern, mit
ihm fapitulirt und ſich ihm angeſchloſſen. Anfangs nur zögernd
und langſam — noch Ende 1600 hatte die livländiiche Adelsfahne
auf Sigismunds Ruf jih verjammelt und in dem für die Polen
jiegreihen Treffen bei Wenden mitgefochten — dann aber immer
entichiedener und immer klarer die politiide Tragweite diejes
Schrittes erfennend: der Abfall von Polen, der Anihluß an
Schweden, dem ein Theil Alt-Livlands — Ehſtland — ja längit
ihon angegliedert war, mußte die größere Garantie bieten, daß
ihre religiöjfe und politiiche Freiheit aufrechterhalten werde. Oder
vielmehr wieder hergeitellt werde; denn Die polnische Derrichaft
hatte beides nicht nur gefährdet, jondern zu einem großen Theile
vernichtet. So jtellten fie jih unter Schwedens Schug, geführt
vornehmlih von Johann Tiejenhaujen auf Berjon, ihrem Vertreter
160 Cine politiihe Rede vom 3. 1601.
und Vorfämpfer auch ſchon während der legten Jahre. Hatten
zunächſt die Vertheidiger der einzelnen Häujer und Sclöfjer, Die
Edelleute der umliegenden Nachbarſchaft, allo jedes einzelne Gebiet
für ih unter bejtimmten Bedingungen und Garantien fapitulirt
und dem Herzog gehufldigt, To fanden bald darauf im Mai 1601
in Neval Verhandlungen jtatt, bei denen alle jene Bedingungen
der Einzelfapitulationen zulammengefaht wurden; das Nejultat
diejer Verhandlungen bildeten jchließlih die für die Stellung
Livlands unter Schwedens Herrſchaft fundamentalen Privilegien
von 1602. So war Livland im Frühjahr 1601 ſchwediſch
geworden. Nur Riga und Kokenhuſen fehlten noch.
Wie an alle übrigen Livländer, hatte Herzog Karl auch an
die Stadt Niga die Aufforderung ergehen laljen, jih mit ihm
und den jämmtlichen livländischen Ständen zu vereinigen. Es
iheint nun fait, als habe Riga Anfangs nit offen abgelehnt;
wenigitens beutet Herzog Karl das in einem Briefe an. Als er
jedody den Franz Ulthöveling zum zweiten Mal in die Stadt jandte,
nahm man ihn hier feſt und jchiete ihn nach Polen. Aber nod)
am 24. Januar 1601 jchrieb der Bürgermeijter Ede an den Herzog:
„Ich habe ganz gerne verjtanden, was dero Diener wegen E. erl.
Sn. löblihen Vorhabens mir mündlich eröffnet und angebradt.
Spüre daraus derojelben jonderliche gute Affeftion und Gemwogenbeit
gegen diejer guten Stadt jowohl als gegen dem ganzen Yand und
wünjche von Bott, daß jolches nach Wunsch und Willen derjelben
glüklid fortgehen und fie aljo dem gemeinen Valerland bardurd)
viel nützlich und eriprießlich fein mögen, darzu dann E. erl. On.
e. e. Rath allhie, dann aud ich für mein Perſon nad allem
Vermögen zu dienen jederzeit erbietig und willig jein, inmajjen
E. erl. Gn. jolden auten Willen ihr Cecretarius mit mehrem
mundlih erflären wird.“ Allein dies waren im Grunde doch
bloß Redensarten. Aus Polen war durd Gerhard Dönhoff die
Nachricht gelommen, David Hilden, der frühere Rigaſche Syndifus,
habe die Stadt bejchuldigt daß fie „gut ſchwediſch“ gefinnt jei.
Das mahnte noch mehr zur Vorjicht und verfehlte jeine Wirkung
nicht.
Herzog Karl beklagte ſich über die ungeredhtfertigte Behandlung
leines Boten Olthöveling; wieder und wieder jtellte er der Stadt
vor, welcher Schritt für fie der vortheilhaftejte wäre. So langte
auh am 17. März wieder ein Trompeter mit einem Briefe des
*) Den ganzen Verlauf diejer Ereignijje hoffe ich demnädit an anderem
Orte eingehend zur Daritellung bringen zu können.
Eine politijdhe Rede vom J. 1601. 161
Herzogs in Riga an. Fünf Tage jpäter aber jandte der Rath
den Selretären Peter Jeger zu dem wartenden Trompeter, um
ihm jagen zu laflen, daß er jein Schreiben nicht empfangen
werde; er ſolle jih alsbald von hinnen maden und ji nicht
länger in der Stadt oder deren Weichbild finden laſſen. Durch
den Stadtwachtmeiſter wird jener dann bis zur VBogelitange hinaus:
begleitet. Dort aber lauerten die Polen aus Dünamünde auf ihn
und nahmen ihn gefangen. In der Stadt aber ließ der Rath
nun ein Edift anjchlagen, daß feiner vom Herzog Karl etwas
gutes jagen oder ihn loben jolle. Als dann bald darauf abermals
ein Bote des Herzogs, Thomas König, mit einem ausführliden
dringenden Schreiben, Datirt aus Kofenhujen, 31. März, erſchien,
wurde er ebenjo wenig gehört, jondern jtrafs abgemwiejen.
Der Herzog belagerte inzwilchen die Feſte Kofenhujen. Won
bier aus hat er dann auch nod) einen anderen Verſuch gemacht,
Riga zu gewinnen. Es jollte ein Landtag in Reval jtattfinden,
auf dem der endgiltige Anſchluß der livländiſchen Stände berathen
und fejtgejtellt werden jollte. Bevollmächtigte Gejandte der einzelnen
Kreile und Städte jollten dort ericheinen. Zuvor mubten natürlic)
in den einzelnen Kreijen die vorberathenden Verſammlungen jtatt:
finden. In diejer Zeit nun, offenbar im April, hat Herzog Karl
einen angejehenen VBertrauensmann aus der Mitte des livländiichen
Adels nad) Riga gejandt, damit er nodmals, und zwar lediglich
Namens der livländiichen Landſchaft, die Stadt zum Anſchluß zu
bewegen juche. Dieier Dann war Johann Tiejenhaujen von
Berjon, vordem neun Jahre lang Nitterihaftshauptinann und
jegt in der neuen politiihen Bewegung eine der einflußreidjten,
thätigiten und wirkſamſten Berjönlichkeiten.
Ueber diejen Vorgang jind wir bisher nur durch eine ganz
furze Notiz bei einem nnjerer Chroniften, Menius, unterrichtet,
von dem jie dann andere, Kelch und Hiärne übernommen haben.
Denius jagt bloß: „Wurde aljo Herr Johann von Tiejenhaujen,
der lettiſchen Ritterichaft Hauptmann, ſammt anderen Xegatis nad)
Riga geichidt, nicht in des Herzog Caroli, jondern der Yandjtände
Namen die Nigiiche zu vermahnen, fich von dem ganzen corpore
nicht abzujondern, quia vis unita fortior. In jelbiger Oration,
jo er dajelbjt publice gehalten, erinnert er jie des wunderjeltzamen
polniſchen Regiments, welches nur lauter ad exstirpandos Germanos
angejehen, wesjals denn auch jie nicht jonderlidyes zur Gegenwehr
jich gejchidet, jondern den Verlujt nur gerne gejehen, auf dab fie
das arme Lieffland mit dem Schwerd recuperiren und der Privis
162 Eine politiihe Rede vom J. 1601.
legien berauben könnten; aber er richtete nichtes aus.“ Hiärne
weiß allerdings noch zu melden, die Rigiichen hätten zur Antwort
gegeben, „daß, wenn die Schweden des ganzen Landes mädhtig
werden, jie alsdann auf ſolche der Landſchaft Werbung richtigen
Beicheid geben wollten.“ Das ijt alles, was wir bis jegt Darüber
wußten. Bier nun joll die Nede jelbit, die Johann Tiejenhaufen
gehalten, zum erjten Mal zur Mittheilung gelangen. Ich habe
fie zu meiner großen Ueberraſchung und Freude in einem Konvolut
den polniichen Krieg betreffender Papiere im jchwediichen Reichs:
ardiv zu Stodholm gefunden und glaube, daß fie interejfant genug
it, auch an dieſer Stelle veröffentlicht zu werden.
Die Rede gewährt uns einen unmittelbaren Einblid in die
politiichen Meinungen und Empfindungen der Livländer in jenen
Tagen. Und wir find jehr arm an joldden unmittelbaren, zu:
jammenhängenden Neußerungen. Geijt und Fühlen vergangener
Tage ziehen bier deutlicher, greifbarer an unjerem geijtigem Auge
vorüber, als jpäter abgefahte Annalen fie uns aufzuzeigen ver:
mögen. Und dann fommt bier nody eins in Betracht. Wir
wiljen, daß Johann Tiejenhaujen, der an allen Angelegenheiten
jeines Vaterlandes jeit 1587, wo er auf dem Warjchauer Reichs:
tage Mitvertreter und Redner der livländiihen Landſchaft war,
den thätiglten Antheil genommen Hatte, jeit 1593 eine Art
Protofoll geführt hat, in daß er „alles was ſich bei jeiner Zeit
in livländiihen Sachen begeben und zugetragen“ aufzeichnete.
Diejes Protofoll nun war noch im vorigen Jahrhundert vorhanden,
der alte Gadebuſch bejak es. Seitdem aber ift es verjchollen und
wird jehr bedauerlicher Weile wohl faum wieder aufzufinden jein.
Nun will es aber jcheinen, als böte uns jeine Rigaſche Nede
wenigitens in Hinfiht auf jeine Anjchauungsart und Auffaflung
der Dinge gewiljermaßen einen Heinen Erſatz. Das dürfte uns
den Werth der Nede nicht unmejentlich erhöhen.
Wie bemerkt, wurde die Nede im Auftrage Herzog Karls
gehalten. Na noch mehr, fie wurde ihm vorher, wie aus einer
Schlußbemerfung der Handichrift hervorgeht, zur Ratififation vor:
gelegt in einer jauberen Abjchrift, die mit der eigenhändigen
Unterichrift Johann Tiejenhaufens verjehen war, ebenderjelben,
die jih im Stodholmer Archiv erhalten hat. Die Ueberſchrift
giebt uns an, an melde Adreſſe die Nede gerichtet werden jollte.
Sie lautet:
Oration und Anwerben auf des di. und großen
Fürften und Herren, Herrn Garoli 2c. 2c. gnädiges Zulaß und
Eine politiihe Rede vom 3. 1601. 163
Nachgeben, jo im Namen und von wegen e. wgb. und geftr.
Ritter: und Landihaft den Herren Burggrafen, Bürger
meijtern, Hathverwandten, Meltejten und ganzer Gemeine der
fol. Stadt Riga durch die wgb., geitr. und ehrenfeite Derren
N. N., ale ihre vollmädtige an ihnen abgefertigte Gejandten,
zu proponiren und anzutragen anbefohlen worden. Anno
Domini 1601, den ...
Nah dem Gruße folgt dann die Nede*) jelbit:
Rn N *
Iſt einmal Zeit und Stunde vom alten Schlaf, vom Schlaf
der Sünden ſich aufzumuntern, günjtige Herren und nadıbarliche
gute Freunde, es ijt mwahrlid eine Zeit, zu mwelder uns der
barmberzige Gott väterlich heimjucht. it abermals jage ich eine
Zeit, darinnen man Gott, den Geber alles Guten, um Weisheit,
Verjtand, WVorjichtigfeit und guten Rath mit bußfertigem Herzen
zu bitten Urſache bat; und es ift eine Zeit, merfet meine Morte,
Gott den getreuen Vater um das Band der Liebe, gutes Ber:
jtändniß und Einigkeit anzurufen! Fürwahr es iſt die Zeit, ich
wiederhofe es nochmals, in welder uns Gott aus lauter Güte
heimſuchen thut. Wieviel unjerer Vorfahren haben dieſelbe zu
erleben ſehnlich gewünſcht, aber die bejtimmte Zeit von ©ott ihrer
Tage nicht erreichen mögen. Wieviel mehr haben wir dann Gott
dem getreuen Vater zu danken, der uns jolches zu erleben gnädigſt
gegönnt.
Weil nun in allen hochwichtigen Sachen vornehmlich diejes
zu beherzigen, ob es ehrenvoll, oder nützlich oder leicht zu bewerk—
jtelligen jei, und wohl zu beherzigen ganz nöthig, was ein jeder
zu thun und zu lallen hat, und weil uns die Zeit, die ja „bie
Schmerzen bringt und wieder heilt,“ jolches durch Gottes gnädige
Vorjehung jekt auch wohl zu beherzigen jelber anweilt, aljo labt
uns in brüderlichem Vertrauen und Zuverſicht eines gegen den
*) In unſerer Wiedergabe haben wir natürlich die alte Nechtichreibung
nicht berüdjichtigt und auch ſonſt den Tert mit leichter Hand injofern entlaftet
und vereinfacht, als wir die zahlreichen Tautologien fortließen, viele lateinische Zitate
ins Deutjche überiegten („“) und hie und da einige Kürzungen eintreten ließen,
wo 88 ſich um ganz unmejentlihe Dinge handelte. Wir haben aljo verjudt die
altertHämlich-Ichmwerfällige, aber für jene Zeit nicht geringe und nicht unwirkſame
Beredſamkeit Johann Tiejenhaujens gewijjermaßen unjerer Empfindung von
redneriicher Kraft etwas näher zu bringen. Sinn und Form it dabei nirgends
geändert.
164 Eine politiihe Rede vom J. 1601.
andern als Glieder eines Körpers die vorige mit Ddiejer gegen:
wärtigen Zeit, imgleichen den Urjprung, Anfang, Dlittel und Ende
diefes Kriegswejens mit einander auf der Wage der Billigfeit
ponderiren, und fein „Zweifel, wir werden dann Gottes längit
geſchloſſenen Rath mit jeiner Wirkung zu unfer jelbjt und unjeres
lieben WBaterlandes bejonderem Gedeihen und Wohlfahrt verjtehen
lernen.
Die Annalen und Jahrbüdjer, die E. ©. aud als bejonderes
Kleinod für die Nachkommen in dieſer Stadt treulich hinterlegt
haben, werden uns berichten, wie vor nicht jo undenflihen Jahren,
da dieje gute Provinz Livland zum heiligen römiſchen Reiche nod)
gehörig geweſen und von den Reußen und anderen benachbarten
Feinden mit Krieg jehr bedrängt wurde, daß wegen der weiten
Abgelegenheit und weil die fil. Dit. jowohl, als auch das heil.
römische Reid) an dem türfiichen Kriege in Ungarn jehr interejlirt
war und aus Diejer Urſache auf vielfältiges Anhalten unferer
Herren im Lande den gebührliden Schug nicht leijten Ffonnte, daß
wir zur jelben Zeit von 3. fil. Mt. und dem heil. römiſchen Reich
an die Könige in Schweden, Dänemark und Polen, als unjere
vorlängjt dazu dejtinirten Schugherren uns zu halten und Bilfe
von ihnen zu ſuchen angewiejen wurden. Wenn unjere derzeit
gewejenen Obrigfeiten und Stände der Yande in der Furcht Gottes
mit dem Bande der Liebe, gutem Vertrauen und Einigfeit unter
einander ihre Nathichläge auf jolhen angewiejenen Schug gerichtet
und ſich einhellig unter den Schuß eines von den Königen ergeben
hätten, dann hätte das vielleicht dem großen Unglüd, welches dies
arme Land Ddieje Jahre her hat ertragen müſſen, vorgebaut. Aber
die Größe und Menge der Eünden, die in diefem Lande von den
Oberjten an zu rechnen bis auf den Geringjten ganz überhand
genommen, hat geurjadht, daß Gott der gerechte fie mit der
Blindheit der Uneinigfeit geftraft, jo daß fie fi in drei Haufen
zertheilt, die Harriichen und Wierifchen und ein Theil dev Ehjten
fi) an die Krone Schweden, die Deleler und Wiekſchen jammt
dem Stifte Kurland an die Krone Dänemark, die meijten übrigen
Oerter der Lande aber jid an die Krone von Polen geichlagen,
die Stadt Riga aber eben aus und nirgends an, jondern eine
faijerliche freie Stadt hat werden wollen. Was für eine Frucht
nun die jchändliche Mutter der Uneinigfeit geboren hat, bezeugt
das alte Spridwort „durch Eintracht wachſen fleine Dinge, durch
Zwietradht jtürzen die größten zulammen,“ dermaßen, daß mir
jolhes mit unjeren Vorfahren und deren Kindesfindern genugſam
Eine politiihe Rede vom J. 1601. 165
zu bereuen und zu beflagen haben. Wir wollen aber der Kürze
halber übergehen, was dieſe Uneinigfeit den Herrſchaften und
Ländern, die fih an die Krone Schweden und Dänemark geichlagen,
an allerlei Gefahr, Unglüf und Kummer geboren hat, weil wir,
die wir uns unter den Schuß der Krone Polen und des Groß—
fürftenthHums Littauen vertraut, mit unjerem eigenen Unglüd und
eigener Drangjal, darin wir uns in die vierzig Jahre her fümmerlich
ihmiegen und Duden müſſen, Dies zu beherzigen genugjam zu
ihaffen haben.
Denn die erjten Traftate der Sozietät mit dem Großfürjtenthum
Littauen, die gar bald auf die Gubjeftion erfolgten [1566], hatten
zwar wohl einen ziemlichen Schein, zupörderjt weil dDurd Aufhebung
aller vorigen Stifte: und Ordensſtände dies Land in gleichem
Erbrecht vereinigt und vom König von Polen Tigismund Auguit,
als derzeitigen Erbfüriten im Großherzogtum Littauen und Livland,
als Ueberdüniſches Herzogthum mit Infignien und Wappen bejtätigt
wurde. In diejen Verträgen wurde auch bejonders favirt und mit
theuren Eiden bejchmworen, daß in ganz Livland nur die wahre
Lehre der Augsburgiihen Konfeſſion jtatthaben jollte, aud die
Adminiſtration und alle anderen Dignitäten des Landes von den
Eingejeflenen vom Adel oder den Indigenen allein jollten ver:
waltet werden. Wenn zu jener Zeit diefe gute Stadt Niga („wenn
Beilpiele auch mipliebig find, jo ijt es doch gegenwärtig jehr
nöthig, fie anzuführen“) mit einer gejtr. und wgb. Nitter- und
Landſchaft wäre einig geweſen, vielleicht wäre der Würfel anders
gefallen zu des ganzen Yandes und auch der Stadt gutem Gewinn,
deilen jedoch umjtändlich zu gedenfen die Zeit nicht leiden will.
Als nun die Krone Polen gemerkt, daß die Sozietät des
Großfürſtenthums Littauen mit Livland, weil es Kg. Sigismund
Augufts Erbländer und J. fönigl. Mt. von Gott mit feinem
männlichen Leibeserben begabt waren, durch Abjterben 3. fol. Dit.
ihr eine beichwerliche Angelegenheit werden fünnte, und fie ſich
jorgte, daß die Nachbarn ihr endlidy über den Kopf wachſen möchten,
erdenft fie diejen Nath bei fih: „Wo die Lowenhaut nicht hilft,
da muß man den Fuchspelz anlegen,“ und mit bergegroßen und
vielen Zujagen wird, ich weiß nicht wie, der löbl. Kg. Sigismund
Auguft verleitet, daß er ſich durch die verfluchte Union zu Lublin
A. D. 1569 jeiner Erbgeredhtigfeit an das Großfürſtenthum Littauen
und Livland begiebt und dieſe mächtigen Herrſchaften der Krone
Polen mit einverleibt. „Daher der Schmerz, daher die Thränen!“
166 Eine politiiche Rede vom I. 1601.
Aber hier gilt, was vom Rechte: Der achte darauf, den es angeht;
denn sapienti sat dietum.
Aber wie diejfe Union gerathen, in wel’ großen Jammer,
Trübjal und Elend dieje arme Provinz gefommen, bezeugen bie
jämmerlichen Tragödien, die von Anno 1569 bis 1577 währten,
als dies arme Land mit Dintanjegung aller Zujagen und mit
theuren Eiden beſchworenen Verträge, alles Schuges verlajjen, dem.
Moskowiter zum Haube übergeben wurde, dermaßen, daß man es
nit genugiam mit blutigen Thränen beweinen fann. ber
dennod), „Zeit und Trübjal lehrten uns Geduld und in Schweigen
und Hoffnung lag unjere Tapferkeit!”
Da nun Bott der Allmächtige dies arme hodhbedrängte und
wohlgeplagte Livland mit den Augen jeiner Barmherzigkeit wiederum
anjehen und ihm nad) langer Mühe und Arbeit etwas Luft maden
wollte, erweckt er den hochlöbl. König in Polen Stephan Batory,
der dem Großfürjten in Moskau Iwan Wajjiljewic; dermaßen
zujeßt, daß er volens nolens ſich Livlands zu begeben gezwungen
wurde. Und was dann die Sade nicht wenig befördern that,
war, dab Kg. Johann in Schweden, nachdem er zuvor jchon durch
langwierige Kriege den Mosfowiter jehr geihwächt und mürbe
gemacht, auch zur jelben Zeit mit jeiner Kriegsmadt vor Iwan—
gorod, Koporje und in andern Feltungen ihm die Hände dermaßen
feitband, daß dem Großfürjten nicht wohl möglich war, dem König
von Polen Widerftand zu leijten.
Wie nun durch Gottes gnädige Echidung König Stephan
diejer Lande wieder mächtig geworden, hat er fich jehr angelegen
jein lajen, jie wiederum in gute Ordnung zu bringen und alle
Dignitäten und Wemter allein durd eingeborene Livländer zu
beitellen, wie das jeine 1582 darüber gemadte Konjtitution und
gegebene Reſkripte bezeugen, denen zufolge aud eine gejtr. Nitter-
und Landichaft zur Zeit der Gubernation des Fürften Georg
Radziwill 1583 auf dem allgemeinen YLandtage zu Riga auf
Begehren 3. fal. Mit. die Präſidenten, Bannnerherrn, Land—
fümmerer, Yandrichter und andere amtstragende Perſonen aus
ihrem Mittel vorgeichlagen und die Verzeichniife ihrer Namen
J. fgl. Dit. zugejandt. Wie man nun in guter Hoffnung gejtanden,
das Yand würde wieder in gute Ruhe und Ordnung gejegt werben,
hat das neidiiche Unglüd das nicht verjtatten wollen, jondern durch
unjere Mißgünſtigen wurde joviel zu Wege gebradit, daß So.
Stephan in vielen Sachen jeinen vorigen guten Borjaß geändert
und uns Cindrang in unjere Religionsjahen gethan, zuerjt Die
Eine polittiche Rede vom J. 1601. 167
Yafobsfirhe und das Jungfrauenflofter in Riga, Gott allein weiß
mie, einnehmend; zugleih hat er auch durch Inzweifelziehung
etliher Privilegien (nämlich die nad) der Reformation gegeben
worden), um dem Antichriit zu Nom dadurch zu Hofiren, viel
redlicher ehrlicher Leute Güter zu caducen gemacht und das Land
dadurch mit MWehflagen erfüllt, worüber dann Ritter: und Pandichaft
zum höchſten bejtürzt worden, aber bei der Sache nichts anders
tun fönnen, als darin nicht zu verwilligen, fondern mit Proteſtiren
fih auf ihre beichworenen Verträge zu referiren und das Uebrige
Gott dem gerechten Richter zu befehlen.
Was aud die Aenderung der Religion und Annehmung des
neuen Almanachs, worin e. wgb. Nitter: und Landſchaft Rath
und Bedenfen nicht begehrt wurde, von etlichen Plazentinern und
Römlingen verurfacht, für Lärmen und Tumult in diefer guten
Stadt angerichtet, hat der umgedrehte Hals des Hahns auf der
St. Petersipige genugiam bezeugt. Und wie er, nachdem er
wieder aufgerichtet, zum andern Mal wiederum gar herunter:
geworfen mworden,*) hat das nicht allein ein böfes Omen angedeutet,
fondern hat es auch die gute Stadt mit großem Schaden erfahren
müjlen, daß des umgedrehten Haljes des Hahns Prophezeiung
leider zu viel wahr geworden. Gott wolle aus Gnaden verhüten,
daß er, weil er wieder aufgerichtet, nicht zum andern Mal gar
heruntergeworfen werde. Was aud als eine fonderliche Frucht
der Uneinigfeit mit der Ritter: und Zandichaft wohl zu merfen!
Wie gefährlihd auch Kg. Stephan aus dieſer Urjache der
guten Stadt zuießen wollte, willen E. ©. und lieben Freunde
beiler, als wir es Euch zu Gemüthe führen mögen. (Gott der
Herr allein, dem dafür Lob und Dank gebührt, hat durd) Abjterben
Kg. Stephans dem großen Unglüd, das über Schloß und Stadt
beichlofien geweſen, gemwehret. |
Wie man nun zur Wahl eines neuen Königs fchreiten wollte,
hat ſich bald durd die Mutter alles Unglüds, die Uneinigfeit, die
unter andern Sachen auch wegen Theilung der Provinz Livland
zwiſchen der Krone Polen und dem Großherzogthum Littauen
entitanden, ein neuer Unrath über uns erhoben, melcher ſich
bis an die Krönung jetzt vegierender fol. Mt. in Polen Sigis-
mund III. und meiter bis auf den erjten Weichstag 1589 zu
Warſchau erjtredet. Dajelbit haben fie dann nicht allein wider
alle vorigen mit theuren Eiden bejchworenen Verträge, jondern
*) Das geihah beides 1577.
168 Eine politifche Rede vom 3. 1601.
auch wider die in ihrer eigenen 1569 aufgerichteten Konftitution
enthaltenen dürren Worte, daß ohne der livländiichen Ritter- und
Landichaft, als nunmehr ihres Körpers einverleibten Gliedes, Bor:
willen, Konſens und Vollbort in linländiichen Händeln nichts vor-
genommen, traftirt oder beichloiien werden jolle, ohne Vorwiſſen
und Zuziehung unserer, der Livländer, bevollmädtigten Abgelandten,
die auf dem Neichötage mit zugegen waren, eine ganz unbillige
und tyranniſche KRonititution über uns Livländer geichmiebet, auch
wider aller Völfer Rechte, was den Juden und Türen freijteht,
ihre darüber gethanen Protejtationen nicht angenommen und in
allen Kanzeleien anzunehmen verboten. Damit vermeinten fie
uns um unfere chriftliche Religion, um alle Dignitäten, uralte
Freiheiten und Immunitäten zuerſt, hernach um unfere zeitliche
Wohlfahrt und Güter zu bringen und uns berjelben „wie mit
Harpyenhänden” gänzlich zu berauben, mie jolches die vielen über
uns, eine ärger als die andere, gemachten Konjtitutionen, darauf
erfolgte Nevifionen und Sfrutinien, um ehrliche Yeute, die einem
fih anvertraut, dadurch aus dem Lande zu verbannen, bewährte
Meifter- und Bubenjtüde, vornehmlid; aber die letzte General:
fommilfion [1599], womit man vermeint, uns den Garaus zu
machen, genugiam ausweilen. Aber „der Menſch denft und Gott
lenkt!“
Deswegen hat auch Gott der Allmächtige, da er ſeine
väterliche Güte über uns von aller Welt Verlaſſenen wieder hat
walten laſſen wollen, in das Spiel eingegriffen, ihren Rathichlag
einen Krebsgang nehmen und fte als Eidvergeliene nach jeinem
gerechten Gericht in die Grube, die fie uns zugerichtet, felber
fallen lalfen, daß unfer liebes Vaterland, welches wir mit be
Ihmorenen Verträgen ihnen vertraut und in dem fie uns feine
Stelle gonnen wollten, fie durch Gottes gerechte Rache wiederum
ausipie und ſie es als nunmehr Unwürdige verlallen müjjen.
Soli Deo gloria!
Menn wir nun zum andern die Urjachen, Anfang, Mittel
und Ende Diejes jetigen Kriegsweſens, alle Affekte bintanjeßend,
wohl bei uns erwägen, jo wird es ſich heller als der Mittag
erzeigen, „daß diejer Krieg feineswegs nolhwendig war und meder
Ehre noch Nutzen noch Leichtigleit aufweilt,” was mit jeinen
Narben zu eluminiren zwar hochnöthig, aber ſolches jetziger
Gelegenheit nad füglich nicht wohl geichehen fann. Denn es ift
ja weltfundig, was für großes Blutvergieken, Unglüd und Herzeleid
die babyloniihe Hure und das Kind des Verderbens zu Nom,
Eine politifche Rede vom 9. 1601. 169
das fih über Gott und alles mas Gottes it geſetzet hat, durch
die ſpaniſche Inquiſition und die heil. Liga in Spanien, Frankreich,
den Niederlanden und anderen benahbarten Provinzen und Konig-
reihen für und für angerichtet und wie es mit jeinem Gifttrunfe
auch den arökten Theil der Krone Polen purzeln und taumeln
gemadit. Denn ich bitte, es wolle mir doch einer berichten, mas
den jeßt regierenden König in Polen Sigismund III. verurſacht,
ohne Bewilligung und Vorwiſſen der jämmtlichen Stände, movon
auch die Vornehmiten I. fol. Mt. zum beftigiten abgerathen, fich
mit ſolcher Kriegsmacht, mit einem großen Gefolge von Yejuiten
in fein Erbfönigreich zu begeben und wider feinen Eid die päpftliche
antichriftlihe Religion einzuführen? Was hat 3. fol. Mt. ver:
anfaßt, auf der Sinreife in Preußen alle Kirchen Augsburgiicher
Ronfeifion mit Gewalt einzunehmen und den Baalspfaften zu
übergeben, wenn es nicht der Papſt zu Rom mit feinem be-
fhorenen Saufen gethban? Der unterjteht fih, den Engeln im
Himmel und den Teufeln in der Hölle zu gebieten, was Wunder,
daß er aud) die irdiichen Könige bezaubern fann. Das ijt unleugbar
der Impuls und der Anfang zum Kriege.
Was das Mittel anlangt —, davon fönnten die, welche das
Rädlein haben treiben helfen, wie es vor Lynköping, Wyborg und
Kalmar mit wenig Ruhm des Königs zugegangen, beiler berichten,
als es uns jet hier zu erwähnen nöthig erjcheint.
Unmibderjprechlich aber ijt es, daß auf einen böſen Anfang,
einen ungebührlichen Fortgang nur ein trauriges Ende erfolgen
fann, wie das alle Kirchen: und Welthiftorien genugſam bezeugen.
Nun möchte jemand gerne berichtet fein, wie denn Livland
in dies unnöthige Kriegsweſen gerathen, da der Krieg doch nicht
von allen Ständen auf dem Neichstage beichloffen worden? Der
Grund liegt auf der Hand, wäre leicht zu antworten. Denn
Fürmig madet Jungfrauen theuer und Eigennuß und verborgener
Haß hat Rom und Troja zerjtört! Wir zeigen nur die Gajlen,
die Häufer wird ein jeder wohl finden! So hat Gott der Gerechte
auch das Unglüd am meijten über die hereinbrechen laſſen, die
e8 über jih und manchen ehrlihen Mann im Lande herauf:
beihmoren haben. Aber das ijt noch das Geringite, wenn nur
das Schwarze Hündlein, das ihnen unter der linken Bruft fibet,
das Gewiſſen, über foviel unschuldig vergofienes Blut und Ver:
wüſtung der Lande ftillichweigen wollte! Schlieflih: es hat fo jein
müffen. Dod hat der Allmächtige ſolch' Uebel der Strafe zu
anderem Zwecke über uns verhängt, als wohl der Teufel und
170 Eine politifche Rede vom J. 1801.
feine Gehilfen vermeint; denn diefer ganze Arieg bezeugt, daß
unfere Bedränger das Unglück fich jelbit aufgeladen und nun mit
Schimpf und Schaden büßen müjlen.
Daß alſo der dI. Fürft und Herr 9. Karolus, ber Reiche
Schweden ꝛc. regierender Erbfürjt 2c. zu Diefem Kriege wie an
den Haaren dazugezogen worden, und mie nadläffig der Schuß
geleijtet worden, ift offenbar, jo daß es Ichier das Aniehen gehabt,
als mollten fie uns mie hiebevor dem Mosfomwiter zum zmeiten
Mal den Feinden zum Raube übergeben. Wie ſchändlich die
foniglihen Feitungen von den polniihen Hauptleuten zum Theil
verlaffen, zum Theil übergeben wurden, iſt offenbar am Tage.
Wie die übrigen, die zuvor, als fie feinen Widerftand fanden,
nur zu rauben bedacht maren, ſpäter, als fl. Di. ihnen etmas
näher rüdte, mit dem Haſenpanier das Land ſchützten und Ferjen-
geld über die Düna gaben, iſt Ichändlich zu gedenlen. Ja, mas
noch mehr iſt und höchlich zu beflagen, daß die anmwejenden
polnifchen Befagungen nicht allein in höchiter Gefahr uns arme
Livländer verlaffen, fondern aud ärger als ein Feind mit Unzudt,
Raub, Mord und Brand die unferen vergewaltigt und dem leidigen
Teufel, der mit einem Stanfe zu jcheiden pflegt, dieſe Kunſt
abgelernt, wie das Beilpiel der fol. Starofteien, der quten Stadt
Wenden”) und anderer Orte mehr mit herzlidhem Seufzen um
Rache es genugſam bezeugen.
Zudem ſind auch Schutz und Eid Korrelate und ſo mit
einander verbunden, daß eins ohne das andere durchaus nicht
beſtehen kann.
Aus dieſen Urſachen nun wollte ich mir gerne berichten laſſen,
welcher Menſch mit Wahrheit uns Livländern das Laſter der
Untreue oder Leichtfertigfeit beimelien fönnte. Das Gegentheil
fönnten wir wohl ausführlicher darthun, aber wir wollen ſolches
Gott dem gerechten Richter heimftellen. Wer wollte nın jo bumm
erfunden werden, daß er nicht verjtehen fönnte, daß Gott fl. Di.
KRarolus, unſern gnäd. Fürften und Herrn, zum ausermählten
Rüftzeng erforen, dadurd er zur rechten Zeit mider aller Menſchen
Bermuthen nach langer, jedoch wohlverdienter Drangfal uns armen
Livländern wiederum Luft zum Herzen machen, diefen Joſua jenden
und uns von der Hand aller unferer Bedränger erretten mollte.
Dann ſage mir einer, wer hätte doch den jtolzmuthigen Polaken,
*) Als Wenden Anfang Februar von der polniihen Belagung verlafien
murde, da wurben die Bürger vollitändig ausgeraubt.
Eine politifhe Rebe vom 9. 1601. 171
die alle Nationen neben ſich verachten, dies früher fagen dürfen,
daß ein löblicher Fürſt aus foniglihem Stamm von Norden ihnen
das Ueberdüniſche Herzogthum Livland, jo einen niedlihen Bien,
an dem fie viele Jahre lang wiedergefäut und den fie doch nicht
verichlingen fonnten, wie in einem Wu aus dem Rachen reißen
würde? — außer etwa der hochgelobten Feufchen Aungfrau Maria,
melche in ihrem Magnificat*) gelungen und fie nachzugmitichern
gelernt: „Er ſtößet die Gemwaltigen vom Stuhl und erhebt Die
Niedrigen!”
Denn iſt es nicht wahr, daß gebadte fl. Dt. das Weber:
düniſche Herzogtum Livland in eines halben Jahres Frilt bis
auf dieſe Stadt Riga, melde von altersher wohl gewohnt iſt
„gegen den Stadel zu löcken“ und deren „fatale Periode“ nicht
weit jein wird — „it die Wahrheit auch nicht angenehm zu
hören,” jo muß es dennod gejagt jein — eingenommen hat. So
darf 3. fl. Di. des großen Monardhen Alexandri Magni [!]
Sprihwort: Veni, vidi, viei mit Ehren billig gebrauchen, was
%. fl. De. wohl auch hätte fehlen fönnen, wenn Gott der Herr
nicht ſelber oberjter Feldherr geweien und den Sieg verliehen hätte.
Nun mollen wir ferner in brüderlihem Vertrauen beides,
den Nupen und die Wohlfahrt als auch die drohende Gefahr und
den Untergang dieler guten Stadt, was Gott gnädig verhüten
molle, mit einander wohl erwägen.
Das Fundament dieſer Sache beruht darauf, daß Land und
Stadt miteinander einig Jind und Friede und gutes Vertrauen
einander auf der Galle freundlidy füllen mögen, Wenn Dies
Rundament durch Gottes Gnade befeftigt wird, fann großem
Unheil, das Gott über dieje gute Stadt verhängen möchte, leicht
vorgebeugt werden. Eritlih und was das vornehmjte ijt, darum
fi alle rechten Gottesfinder, die zum Banner des Herrn Chrijti
geihmoren, zum höchſten bemühen follen, würde dies Land vom
Jeſuitiſchen Ungeziefer und von des Papſtes Gottesläfterung
befreiet. Wenn fi aljo dieje gute Stadt von der ganzen nunmehr
vereinigten Ritter: und Landſchaft trennen und fich der fl. Dt.
auf gewiſſe Bedingungen nicht unterthänig machen wollte, jo würde
ein aroßer Haufen in der Stadt bleiben und viel Jungen aus:
beden, jo daß zu beiorgen ilt, Stadt und Land möchten dadurch
wiederum, mie jchon einmal gejchehen, vergiftet werden. Und
*) D. h. der Lobgefang der Maria Luc. 1, 46—55, tägliches Gebet in
der fatholiichen Vesper.
6
172 Eine politiiche Rebe vom 3. 1601.
wer mollte alsdann den Gedanken, die zollfrei find, mehren, daß
viele in diefer Stadt jein möchten, die von ihrem Gift bezaubert
heimliche Baalsdiener find, welchen böjen Argwohn ihr ja bei
allen chriftlihen Herren in der Welt nicht auf euch und euren
Kindern werdet liegen laſſen mwollen, wie wir es auch für unſere
Perſon nicht gerne diefer Stadt wünſchen wollten.
Zum andern fönnen E. ©. mit guten Bedingungen bei
euren uralten wohlhergebrachten Privilegien und reiheiten erhalten
werden, fie auch vermehrt befommen, was Dagegen, wenn ihr euch
gegen fl. Dt. auflehnen wollt und hernach N. fl. Di. nad) Gottes
Verhängniß der Stadt mit Gewalt mädtig würde, nicht allein
meit fehlen thäte, jondern ihr würdet es jogar noch für eine
große Gnade erachten Fönnen, wenn ihr auf einem reinen mit
Siegel und Handzeichen befeitigten NHalbsfell, worin 9. fl. Dt.
mas ihr gelüften wiirde jchreiben möchte, auf Gnade und Ungnade
euch ergeben mühtet.
Und Drittens, wer wollte für das unichuldige Blut ver:
antworten, das mwegen ber Dalsftarrigfeit einiger würde vergoſſen
werden? Mer wollte den Schaden erjeten, der euch dann Durch
Abbrennung eurer Luſthäuſer, VBorjtädte und Speicher wiberfahren
fonnte? Wer mwollte für des ganzen Landes und dieſer Stadt
unmiederbringlichen Verderb und Schaden büßen, wenn euch der
Hafen verjenft und alle Nahrung zu Waſſer und zu Lande
benommen würde, daß hernad Gras auf dem Markte müchie,
mie wohl auch andern vornehmen Städten jchon geichehen? Da:
gegen, wenn ihr euch J. fl. Dt. bequemet, würde auch der Nutzen
erwachien, dab ihr die Seefahrt auf der Düna und andern
Stromen zu eurem Vortheil frei gebrauchen fönntet, zu geſchweigen
die Kaufhandlung im Reiche Schweden und in allen Landen des
Großfürften von Mosfau, die ihr nad) deſſen ewigem beſchwornem
Frieden mit der Krone Schweden als ein Glied derſelben auf
das allerfreiejte zu gebrauchen hättet. Und nod viel mehr Motive
fonnten aus der Gegenüberftellung des Nutzens und Schadens
angeführt werden, wenn es der Kürze wegen nicht unterlallen würde.
Nun möchte uns vielleiht einer oder ber andere bie große
Macht der Krone Polen und des Großfürſtenthums Littauen ent-
gegenhalten, die etliche taujend Diann ins Feld bringen fönnten
und den Schimpf nicht leiden würden. Denen wäre zu antworten,
daß an fich freilich wahr ſei, daß fie im Felde mächtig fein fönnten,
wenn fie unter ſich jelber einig wären und mit einem Feinde zu
thun hätten. Aber fie willen nicht, wie fie mit dem Erzherzog
Eine politifche Nede vom J. 1601. 173
Marimilian ftehen, der noch eine große Partei in Polen hat *).
Mit dem Mtoldauer jtehen fie in öffentlicher Fehde, der ihnen
diefe Jahre her genuglam zu Schaffen gemadt hat. Der Friede
mit dem Mosfomiter iſt gegen Fünftigen Nohannis aus, morauf
fie durch Eingehen gar beichwerlicher Bedingungen den Frieden
erlangen fönnten, ſonſt aber des Krieges ſich gar gewiß beiorgen
müſſen. Und wenn fie gleich aus verblendetem Uebermuth ſolches
alles nicht achten, jondern allen ihren Feinden zugleid mit Krieg
und Waffen zulegen wollten, jo wäre das mehr einer übermüthigen
Dummoreijtigfeit als der Tapferkeit beizumeſſen. Auch das Groß—
fürftenthum Littauen würde ohne Zweifel betrachten müſſen, was
zu feinem Frieden dient, denn Die Ariegszüge der Polen nad)
Rußland und Livland durch Littauen find wenig zu feinem Frommen
gemejen.
Und wenn das alles nicht gelten follte, jo it Doch Die Krone
Schweden gegen fie genuglam qualifizirt, denn fie iſt zu Waller
und zu Lande mächtig und was das für ein Vortheil it, verjtehen
die wohl, denen das Ariegsmweien befannt it. König Erich von
Schweden hat auch mit drei mächtigen Potentaten zugleich Kriege
geführt, die ihm dennoch nichts anhaben fünnen. Und die Könige
von England, Schottland und Dänemark, der Pfalzgraf bei Rhein,
die Kurfürjten von Sachen und Brandenburg, der Fürft in den
Niederlanden Graf Morit ſammt anderen Fürjten und die mächtigen
Seeſtädte im heil. römischen Reich find in dieſem Kriege gegen
die unchriftliche heil. Liga der Päpſtlichen mit einander vereinigte
Bundesgenojlen.
Schon hat aud die löbl. Krone Schweden die vornehmiten
Porte, Bälle und Feitungen in Livland inne, melde die Polafen
und Pittauer mit ihren Nenniteden nicht durchbrechen werden.
Es mwird auch die nunmehr vereinigte Ritter: und Landichaft ſich
mit der löbl. Krone Schweden durd) die Gnade Gottes zu ſtets
mwährenden Zeiten verbinden, für einen Mann zu jtehen, und
anftatt der vorigen vielen Negenten ein bejtändiges Haupt bei
fih im Lande haben. ines ſolchen Glüdes hat Yivland nod)
fein Mal jeit der erjten Befejtigung der Lande jich rühmen fönnen;
nun ilt es Gottlob wie ein Bejen dicht zu Haufen verbunden und
kann nicht leicht von einander geriffen werden.
In Summa, wenn alle diefe Sachen, eins gegen das andere,
*) Erzherzog Marimilian von Defterreih mar 1587 neben Sigismund
von Schweden Thronfandidat in Polen.
6*
174 Eine politifche Rebe vom J. 1601.
auf die Wage gelegt würden, jo würde ſich aud der Ausfchlag
bald finden.
Und jchließlih, wenn gleih, was Gott verhüten wird, Die
Polen der Lande wieder mächtig werden follten, jo würde erftlich
der geiftlihe und weltliche Jammer in den Städten und auf dem
Lande angehen; des Papftes Mäufjedred und Greuel würde allent-
halben mit Gemalt aufgedrungen werden; eure verjenfte Häfen
und entwandte reiheiten würden fie auch ſchwerlich erjegen; der
große Jammer und das Elend, das mit Mord und Brand viel
Unjchuldige entgelten müſſen, würde dadurch gar wenig geftillt,
geſchweige denn Erjag dafür geleijtet werden, zuvörderft von jenen,
die Land und Städten, da fie noch unter ihrem Schuß waren,
ihre Freiheiten mißgönnten und Tag und Nacht darnad) trachteten
fte zu unterbrüden. Ich meine, haben fie Eid und Gelübde ver-
geſſend Kriegsreht erzwingen wollen, fürwahr fie würden das
Kriegsreht alsdann zu unjerer jämmtlichen Untergang und Ver:
derben recht wohl zu praftiziren wilfen, daß des deutichen Namens
Gedächtniß, wenn es an ihnen läge, aus Livland gar vertilgt würde.
Günſtige Herren und lieben Freunde, es wäre bemnad denen
wohl zu helfen, denen noch zu rathen wäre. TDiefe Sade betrifft
eure chriftliche Religion, eure Privilegien und Freiheiten, eure
zeitlihe Nahrung, eure Weiber, Kinder und Unterthanen, Heil
und Mohlfahrt eurer ganzen Stadt: entweder Verderb und Unter:
gang —, oder bejtändige Wohlfahrt. Dermegen €. ©. foldyes
wohl bei ſich erwägen wollen!
Mir meinen’s von Herzen gut mit euch, deſſen mir Gott
als einen Herzensfündiger zum Zeugen anrufen. Wenn nun,
mie wir hoffen und mwünichen, unfere treuherzige Wohlmeinung
bei E. ©. eine Stätte finden wird, alsdann fann man zu ben
Mitteln schreiten, die zu dieſer guten Stadt und des ganzen
Landes Mohlfahrt und Gedeihen gereihen werden. Wir erbieten
uns aud, E. ©. als unſern lieben Mitbrüdern und Gliedgenoflen
unferes allgemeinen lieben Waterlandes bei fl. Dt. und mo es
ſonſt der Sache Nothhurft erfordern würde, nad unferem Wer:
mögen zu dienen, indem mir von Herzen wünſchen, Gott molle
E. ©. das Beite zu ermählen regieren, damit durch feine Gnade
unfer angewandter Fleiß und qute Affektion zu dieſer Stadt nicht
vergeblich ſei, ſondern gute Frucht bringe.
Sapientibus sat dietum!
* *
Eine politiſche Rede vom J. 1601. 175
Riga aber hatte fich bereits entichieden. Es ſchloß fich den
übrigen Ständen des Landes nicht an, es ging feine gejonderten
Mege. WBielleiht war das gerade in jenem Moment ein nicht
leicht wiegender politiſcher Fehler. Wer will jagen, wie die Dinge
ſich entwidelt hätten, jtand Riga mit dem gemeinfamen Water:
lande wie ein Diann? Die Parteijtellung der mächtigen und feiten
Stadt mußte wenigitens jchwer in die Wagichale fallen. Doch
Bedenken, und gewiß wohl auch beträchtlicher Art, kommerzielle
Intereſſen wie die Furcht vor polnischer Rache, verhinderten bier
die vom Lande gehoffte entichloffene raſche Entſcheidung. Unver—
richteter Dinge mußte Johann Tiejenhaujen heimfehren. In ber
Stadt regten ſich freilih hier und da auch jtarfe ſchwediſche
Eympathien, die wir noch deutlich zu erfennen vermögen. Aber
fie blieben zunächjt gänzlich) unwirfiam. Der Krieg nahm jeinen
unglüdlihen Fortgang. Die Polen eroberten fait das ganze Land
wieder zurüd und die Schlacht bei Kirchholm befiegelte Karl IX.
Mibgeihid; fie zerichmiß aud) das Korps der livländiichen Ritterjchaft
in Scherben. Riga blieb no Jahre lang polniid; man weiß,
daß es viel Freude davon nidt gehabt hat. Erjt unter Gujtav
Adolf reifte die Frucht; er erjt wurde wahrhaft der Netter des
Landes, als er das Werk vollendete, das jein Vater begonnen.
a
Reue Helletrikif,
Zola, Paris. — Gujtao Falke, Tanz und Andacht. Neue Fahrt. — Hugo
Salus, Gedichte. — Die Kunitzeitichrift Pan.
Es war ein merfwürdiges, faſt wunderbares Zujammentreffen,
daß Emile Zola’s Roman „Paris“ gerade in jenen Tagen in
die Melt hinausging, wo fein Autor vor dem Forum von Paris
jtand, um ſich zu verantworten in einem Prozeß, der die Augen
der ganzen Welt auf fich zog, überall mit athemlojer Spannung
in feiner Entwidelung verfolgt wurde. Und während im Aus:
lande im Allgemeinen die Sympathie auf der Seite des muthigen
Schriftitellers war, der es gewagt hatte, das ganze offizielle
176 Neue Belletriftif.
Frankreich herauszufordern, um — mie einjt Voltaire — einen
feiner Dieinung nad) unſchuldig Verurtheilten zu retten, — während
ſelbſt prinzipielle Gegner jeiner Schriftjtellerei erfennen und befennen
mußten: Es iſt doch was Heroiſches in diefem Manne! wurde in
Paris jelbjt jede Aeußerung der Sympathie für ihn gewaltig
übertönt von dem wild anflagenden, ſchmähenden Gejchrei der
Gegner, die von den höchſten Spigen der Negierung an, durch
alle Schichten der Gejellihaft bindurd, bis zum gemeiniten
Straßenpöbel hinunter wie eine unüberwindliche feindliche Phalanr
vor ihm ſich erhoben hatten und ihn zu vernichten drohten. Wenig
fehlte und er wäre vom Mob auf der Straße gelyndht worden,
— in bemjelben Paris, zu deſſen VBerherrlihung er joeben den
Hymnus jeines Nomans gefungen. Denn jo gewiß er aud hier
wieder die Nadhtjeiten der Seineftadt mit der befannten, nidhts
verhüllenden Schonungslofigfeit jchildert, wir jehen es, wir fühlen
es doch überall dur, daß des Dichters Herz erfüllt iſt von be:
geijterter Liebe für eben dies jelbe Paris, das mit all jeinen
Sehlern ihm dennod als die höchſte Blüthe moderner Kultur, als
die Hoffnung der Zukunft, die Nettung der Menjchheit erjcheint.
Und als wäre er nicht im Stande, dies überquellende Empfinden
zu beherrichen, wird der Nomancier zum Maler, der jeinen Pinſel
in Die gluthvolliten, herrliditen Farben taucht; wird er zum
Lyrifer, der jein ‘Paris, das menjchheitrettende, mwelterlöjende, in
gewaltigen Herzenstönen befingt.
Ob ihm wohl in jenen furdtbaren Augenbliden, wo eben
dies Paris ihm fein wuthverzerrtes, von allen Dämonen der Lüge
und Falichheit entjtelltes Antlig, Vernichtung drohend, entgegen:
fehrte, ein Zweifel überfommen haben mag an der Wahrheit
jeines Hymnus von Baris? Wir willen es nicht, — und Mancher
möchte geneigt jein daran zu zweifeln, denn Zola ijt ein jtarfer
Diann, nicht leicht zu erjchüttern in feinen Ueberzeugungen. So
viel hat er der Welt fraglos bewiejen.
Doch wenden wir uns zu der Fabel des in Rede jtehenden
Romans.
Sein Held ijt Pierre Froment, der franzöfiiche Abbe, der
nad den erjchütternden, niederdrüdenden Erfahrungen von Lourdes
und Rom nad) Paris zurüdgefehrt ift, um nun hier zu ganz neuen
Ueberzeugungen zu reifen.
Neue Belletriftif. 177
Noch ijt er Fatholiicher Prieiter, noch feiert er täglich feine
Meile, nod will er leben und jterben in dem Beruf, der ihm
geworden; und fait wie ein Heiliger wird er von den Armen,
denen er Zrojt Ipendet, verehrt. Aber er jelbit ift des Trojtes,
der Hilfe nur allzu bedürftig. Sein Glaube, — der Glaube an
Wunder, der Glaube an Papſtthum und Kirche ijt tief erjchüttert,
it in feinen Fundamenten untergraben. Er Hammert jih nur
noch an Eines, — die chriftliche Liebesthätigkeit, das Wohlthun
und Helfen im Geiſte des Heilands, der die Mühjeligen und
Beladenen zu ſich rief, um fie zu erquiden. In diejem erniten,
treuen, entjagungsvollen Wirken hat er ſich mit einem alten
Priejter gefunden, der ganz im Wohlthun lebt, der aber durch
jeine grenzenloje Gutmüthigfeit in eine Unzahl von Unannehmlid)-
feiten verwidelt, jhamlos ausgebeutet und mißbraudt, von den
geijtlihen Oberen nun in jeinem Thun beichränft und im Geheimen
itreng überwacht wird, damit er nicht wieder durch jeinen Wohl:
thätigfeitsprang mißleitet die Kirche fompromittire. Es ijt eine
rührende Gejtalt, diejer alte Abbe Roſe, der, demüthig Fromm
und jtreng aläubig, auch nad) allen Maßregelungen, die er erlitten,
nur in dem einen Gedanken lebt, Anderen wohlzuthun und zu
helfen. Er weiß fi überwacht in all jeinem Thun, madt aber
Niemand daraus einen Vorwurf, jondern ſucht nur nad) Möglichkeit
im Geheimen nod) Barmberzigfeit zu üben. Und da ijt ihm Pierre,
den er mit väterlicher Liebe umfängt, das rechte Werkzeug. Es
it bedeutjam, daß die erjte Szene des Nomans ein Zuſammen—
treffen diejer beiden edlen Prieſter vor der Kirche Saceré Coeur
von Montmartre uns vorführt, — des Alten, der in der chriſtlichen
Liebesthätigfeit Schiffbrud gelitten, mit dem ungen, dem es
beichieden iſt, neue, verheißungsvollere Bahnen zu finden. Der
Alte bittet Pierre verjtohlen und ängitlich, eine fleine Summe —
drei Franken, die zu erlangen er etwas von jeinem jpärlicdien Hab
und Gut hat verfaufen müſſen — einem armen, alten, franten,
arbeitsunfähigen Arbeiter Namens Yaveuve in der Nue des Saules
zu überbringen. Und Pierre macht ſich auf in die Höhlen des
Elends und des Laſters, die uns nun Zola mit befannter
Meiſterſchaft jchildert. Nach mühleligem Suchen findet er endlich)
den unglüdlihen Alten und labt ihn mit Wein und Brod, aber
verbittert und verzweifelnd weiß ihm der Elende wenig Danf.
178 Neue Belletriftif.
Bei diefer Gelegenheit geräth der Abbe auch in die Wohnung
des arbeitslojen Arbeiters Salvat, eines energiihen Mannes, der
in der Verzweiflung des Elends zu Allem, zum Aeußerſten fähig,
ja ſchon dazu bereit und gerüftet ift. Pierre überzeugt ſich davon,
dab dem alten, franfen, dem Tode nahen Laveuve nur durch die
Aufnahme in ein Aſyl für JInvaliden der Arbeit wirklid geholfen
werden fönne, und ohne Zögern madt er fih ans Wert. Aber
welche Hinderniſſe jtellen jich ihm entgegen, machen ihm die Er:
reihung jeiner jcheinbar jo gerechten und beicheidenen Abficht
unmöglid! Er wird von Bontius zu Pilatus geihicdt, — durch
die Salons der Reihen und Bornehmen, die auf ungezählten
Millionen figen, durch die Vorjäle des Parlaments bis in die
Wohnung einer jhönen, aber mit Recht übel berüchtigten Schau—
jpielerin dritten Nanges, Silviane d'Aulnay — Alles vergeblich!
Ueberall giebt es Echwierigfeiten, Rückſichten, Verhältniſſe, uner-
läßliche Sormalitäten u. dgl. m., und über dem Allen ijt der alte
Zaveuve in Jammer und Elend gejtorben und verdorben.
Diefe jchmerzlihe Erfahrung erichüttert den jungen Prieſter
auf das Furchtbarſte. Im Zufammenbhang mit Allem, was voraus-
gegangen, raubt fie ihm das Letzte, was ihn nody am Chriſtenthum
fejthielt, den Glauben an den Werth der dhrijtlichen Nächitenliebe.
„Zugleih mit der trügeriichen, unnügen Nächjtenliebe brach auch
das Evangelium zujammen, und nahte das Ende des heiligen
Buches.“ „Er hörte auf, an die Wirfiamfeit des Almojens zu
glauben. Die Barmbderzigfeit genügte nicht; fortan handelte es
ih darum, gerecht zu fein. Bor Allem Gerechtigkeit — und das
erichredende Elend würde verjchwinden, ohne daß man barmherzig
zu jein brauchte.“ „Nach jo vielen Jahrhunderten dhriftlicher
Nächjtenliebe hatte ſich nod feine einzige Wunde geichloilen,
und das Elend war nur gewachſen, hatte jih bis zur Najerei
gejteigert“ u. j. w.
Die Gedanfengänge Pierres find pſychologiſch vollfommen
verjtändlid. Dennoch find die Schlüe, zu denen er und mit
ihm der Autor gelangt, anfedhtbar genug. Oder kann jene elende,
heuchleriiche „chriftlihe Nächſtenliebe“ der Pariſer Reichen, die in
Lurus und Lüften aller Art leben und jo nebenbei auch Wohl:
thätigfeitsbazars abhalten und von eitlen, jelbjtiüchtigen Weltdamen
geleitete Aſyle jtiften, — fönnen alle Mißerfolge eines Abbe Roſe
Neue Belletriftit. 179
und Pierre Froment wirklich den Werth der echten chrütlichen
Nächſtenliebe, der Barmherzigkeit als nichtig erweilen? it jene
„Gerechtigkeit“, die wie ein neues rettendes Prinzip der hriftlichen
Barmherzigkeit gegenüber geftellt, ihr übergeordnet wird, nicht
vielmehr die elementarjte Forderung wahrhaft hriftlichen Geiſtes?
Wie fie zu erreichen, zu vermwirfliden iſt, das iſt freilid eine
andere, unendlich viel jchwierigere Frage, aber auf Dieje giebt
auch Zola uns feine Antwort und fann fie nicht geben. Es wäre
wohl aud unbillig, Solches von ihm zu verlangen; aber es muß
andererjeits flar ausgeiprocdhen werden, daß der große Nomancier
jene gewaltigen Probleme nicht irgend erheblich gefördert hat.
Um jo glängender ijt dagegen die Schilderung des Barijer
Milieus, wie das nicht anders zu erwarten war.
Da ijt der ungeheuer reihe Baron Duvillard, deſſen folojjales
Vermögen zum großen Theil aus höchſt unlauteren Spekulationen
im Stil der Panamageſchichten erwachſen iſt. Mit jeinem Oelde
fauft und beherrſcht er Alles, die Preſſe, die Deputirten, Die
Diinifter, — mührend er jelbit von der launishen Schönen
Silviane beherriht wird, die troß ihrer Unbedeutendheit ichs in
den Kopf geſetzt hat, in der Comedie Françaiſe aufzutreten, —
und über dieje Frage jtürzt zulegt ein Miniſterium! Das Souper,
welches Duvillard einem ernjthaften Sritifer giebt, um ihn für
Eilviane zu gewinnen, und was fi) daran jchließt, gehört wohl
zu den gelungenjten, gleichzeitig aber auch zu den abjtoßenditen
und widerwärtigiten Szenen des Nomans.
Duvillards Frau, die noch immer jchöne Baronin Eva,
unterhält ein VBerhältnig mit dem jungen Grafen Gerard Quinjac,
über den fie dann jchließlich in einen unbejchreiblicy widerwärtigen
Kampf mit ihrer häßlichen und boshaften Tochter Kamilla, der
Millionenerbin, geräth, bis dieſe endlid den Sieg davonträgt
und Gerard heirathet. Mit unglaublihem Zynismus unterhalten
ih Kamilla und ihr von perverjen Neigungen beherrichter Bruder
Hyazinth über die heimlichen Freuden der alternden Mutter.
Gerard ift ſchwach und charakterlos, während jeine Mutter, die
legitimiftiiche Gräfin Quinfac — dem Sohne gegenüber allerdings
auch ſchwach — mit ihrem alten treuen ritterlichen Verehrer, dem
Marquis de Morigny, einen wohlthuenden Gegenjag zu den
Duvillards abgiebt. in efelhaftes Miihmaih von eiteliter,
180 Neue Belletriftif.
frivoljter Weltlujt und allerlei ſozialiſtiſchen und ſymboliſtiſchen
Velleitäten jtellt die PBrinzejfin Roſamunde von Horn dar, bie
nad) vielen vergeblihen Bemühungen den halbverdrehten Hyazinth
wenigjtens zeitweilig als Liebhaber fapert.
In das Treiben der Preſſe, in die Deputirtenfammer, das
Miniſterium bliden wir tief hinein, und eine Fülle von charak—
teriftiichen Gejtalten tritt uns da entgegen, — in der über:
wiegenden Mehrzahl allerdings von recht wenig erquidlider Art.
Alles iſt faul, zerfreilen, unterhöhlt, käuflich, verlogen; und mer
noch halbwegs ehrlich jein will, wie der Minifterpräfident, dem
geht es am ſchlimmſten. Alles in dieſer Melt erjcheint zum
Untergange reif. Und die gefährlihden Mächte des Umſturzes find
auch nicht müjlig, — die anardiftiihen und die mit den Anardiften
mehr oder weniger jnmpathifirenden Kreije, von denen uns Zola
alle möglichen Spielarten vorführt. Und Salvat, der arbeitsloje
Mechaniker, einjt bei Guillaume Froment, dem Bruder des Abbe,
bejchäftigt, ift auf der Wanderung, mit einer Bombe, die er aus
dem Atelier feines ehemaligen Brodherrn gejtohlen hat. Er wirft
diejelbe in die Einfahrt des Palais Dupvillard, erreicht aber nichts
weiter, als eine arme feine Modijtin zu tödten und Guillaume
Sroment, der ihm gefolgt ijt und die Erplojion zu verhindern
jucdht, zu verwunden. Pierre, der, unabhängig von Guillaume,
den Salvat beobachtet hat, jpringt dem Bruder bei und bringt
ihn in fein Häuschen nad) Neuilly, ihr elterliches Haus, wo er
ihn aufopfernd pflegt. Die beiden Brüder, lange einander ent:
fremdet, finden und verjtehen einander in herzlicher brüderlicher
Liebe. Der einjt zwiſchen ihnen, dem atheiſtiſchen Chemiker und
dem jtrenggläubigen Abbe, bejtehende jchroffe Gegenjag hat ſich
faſt in ein Nichts verflüchtigt Durch die Jhwerwiegenden Wandlungen
in der Welt- und Lebensanihauung Pierres. Guillaume verbirgt
fih bei dem Bruder, weil er in den Fall Salvat verwidelt zu
werden fürchtet. Iſt doch der Erplofivfioif jener Bombe fein aus:
ſchließliches Eigenthum. Auf diefe Erfindung, das Rejultat feines
arbeitsvollen Gelehrtenlebens, baut der kühne, jeltfjame Mann
abenteuerlid mweittragende Pläne. Er will jeinen Sprengſtoff
zuerjt dem Staate Frankreich jchenfen, fejt überzeugt davon, daß
mit Hilfe dejjelben jein Vaterland alle Feinde befiegen und Herr
der ganzen Welt werden müjle. Dann ändert er jeinen Plan
Neue Belletriftif. 181
und unternimmt es, die Kirche Sacre Goeur, dies „freche Denkmal
der Dummheit,“ das Paris jhände, mit Taujenden frommer Pilger
darin in die Luft zu jprengen; aber im legten Augenblide ver:
hindert ihn Pierre mit Gefahr des eigenen Lebens an der Aus:
führung der ungeheuerlihen That. Endlidy bejcheidet er ſich damit,
den wunderbaren Stoff als Triebfraft eines neuen Diotors zu
verwenden, an deilen SKonjtruftion er jchon lange mit feinen
Söhnen gemeinjam arbeitet und von dejien Leiltung für die Kultur,
für das Glüd der gelammten Menſchheit ganz ungeheure Dinge
erwartet und gemweisjagt werden.
Nach jeiner Genejung iſt Guillaume wieder in jein eigenes
Heim am Montmartre übergeliedelt. Pierre, der nun nicht mehr
die Meſſe lieft, bald aud die Soutane des Priefters ablegt, um
äußerlihd wie innerlid vom Chriſtenthum loszukommen, bejucht
den Bruder und nimmt an den gemeinlamen naturwijjenichaftlichen
und mechanischen Arbeiten mit wadjenden Intereſſe Theil. Dies
Haus der ehrlichen, jtrengen geijtigen Arbeit wird nun im Gegenjaß
zum übrigen Paris mit wärmſter, fajt begeijterter Sympathie, in
den rofigiten Farben gejchildert. An der Spige deſſelben jteht Die
Großmutter, die alte Schwiegermutter des vermwittweten Buillaume,
eine fühne, energiiche Frau, die durchs Leben geitählt ift, — bie
Einzige, die in alle Pläne ihres Schwiegerjohnes volljtändig ein-
geweiht iſt und vor nichts zurüdichredt. Neben ihr der Herr des
Haujes, der ideenreiche, rujtlos arbeitende Gelehrte mit einen
drei Söhnen, wahren Enafsfindern, groß, jtarf, aut, bejcheiden,
ehrlich, intelligent und arbeitiam. Endlich noch Marie, ein Mündel
Buillaumes, das er ins Haus genommen und zu jeiner rau
machen will, das aber in der Folge die Frau des vom Priejterrod
erlöjten Pierre wird; ein herrliches Mädchen, grundgut, ſtark, klar,
einfach, thätig, Liebevoll. Die gemeinjame geiltige Baſis des
ganzen Haujes ijt ein ruhiger, flarer Atheismus, dem ſich
Serechtigfeitsliebe und Arbeit als leitende Genien zugejellen.
MWährend der arme Salvat, dem Guillaume und Pierre die wärmjten
Eympathien widmen, jein Schidjal vollendet, von der Polizei in
fuchtbarer Weile gehept, gefangen und endli vor einer großen
Zujchauermenge guillotinirt wird, ijt es Pierre bejchieden, in der
gefunden Luft des brüderlichen Haujes geijtig und gemüthlich ganz
182 Neue Belletriitik.
zu genejen und in der Verbindung mit Marie das volljte, reichfte
Lebensglüd zu finden.
Dies Haus vertritt die rettenden geijtigen Mächte, die Paris
und durd Paris die ganze Welt erlöfen jollen. In begeijterter,
hochpoetiſcher Meile jingt Zola zum Schluß jeinen Hymnus von
Baris, der Weltretterin, — und dem fleinen Sohne Pierres und
Diaries wird die Ernte all des Glückes prophezeit, das aus der
gejunden, fräftigen Saat jolcher Häufer wie des Haules Froment
erwachſen joll.
Indeſſen, es ift für den Nidhtparijer, den Nichtfrangofen jchwer,
dieje begeijterten Hoffnungen zu theilen. Wir find meit davon
entfernt, von dem „ruhigen, flaren Atheismus“ das Heil zu
erwarten, und haben im MWebrigen audh in anderen Städten
und Ländern davon gerade genug. Wenn aber ehrliche, jtrenge,
wiſſenſchaftliche Arbeit oder die Erfindung neuer Eprengjtoffe und
Motoren die Melt erlöien können und jollen, dann dürften
Deutichland, England und Amerika vielleiht noch mehr Ausficht
darauf haben, die Nettung der Welt zu vollbringen, als Paris;
als Franfreid. Bon welder Seite wir auch heute Paris be—
traten, wir fünnen da nichts entdeden, was Diejer Stadt einen
Aniprudy gäbe, die Menichheit aud in Zukunft, wie oftmals
vorher, zu leiten oder gar die Welt zu retten! Solche Rettung
erwarten wir von ganz anderen Faktoren. Paris aber bewegt
jih allem Anjchein nad) in abjteigender Linie, politiſch nicht nur,
jondern ebenjo auch moraliid und geiftig. Ein Voll, das wie
fein anderes der Herrſchaft der Lüge und bodenlojejtem Selbjt:
betrug verfallen it, das ijt gewiß nicht berufen und im Stande
„die Welt zu retten“!
Auch diefer Roman Zolas, des Poeten wider Willen, enthält
gar mande Partien von feinem poetiihem Weiz. Dahin gehört
3. B. die Szene im Salon der alten Gräfin Quinfac, die Tour
auf dem Bicyele, welche Pierre und Marie zufammen in die Um:
gebung von Paris unternehmen u. a. m.
In moderner Lyrif habe ich weitere Umschau gehalten
und neben viel Unerquidlihem doch auch Manches gefunden, was
werthvoll, ja bedeutend genannt werden darf. Erwähnenswerth
erjheint mir vor Allem Gujtav Falke mit feiner Sammlung
Neue Belletriſtik. 188
„Tanz und Andacht, Gedichte aus Tag und Traum.” * Der
Titel ift mwunderlih und, wie mich dünft, wenig zutreffend. Der
Untertitel, Gedichte aus Tag und Traum, paßt ſchon weit beſſer.
Aber, was dod die Hauptjache bleibt, der Inhalt des Buches iſt
gut und werthvoll. Falke iſt ohne Zweifel einer der bedeutenditen
modernen Lyriker. Gedanfenreihthum und Kormvollendung heben
die Gedichte diefer Sammlung hoch über das Maß des Gemöhn-
lihen hinaus. Hier und da glaubt man Goethes Einfluß zu
jpüren, öfters denjenigen der modernen Malerei, in allem
Mefentlichen aber erfcheint Falke hier als ein durchaus origineller
Geift, im beiten Sinne des Wortes.
Das tritt gleich in den die Sammlung einleitenden „Phantafie-
ſtücken“ deutlich hervor, die eine bedeutende Kraft in der Schilderung
phantaftiicher Gebilde befunden. Ein paar Beilpiele mögen das
beutliher madhen. Das erite Gedicht „Traumbild“ mwird durch
folgende Schilderung eingeleitet:
An einem jtillen Garten gingen mir,
Nacht wars, vorbei. Traumrojen hingen bier
In dunklen Zweigen, die im Lufthaud bebten,
Und jeltiam ſchwarze Schmetterlinge jchmebten
Im Mond mit regungsloiem Flügelbreiten
Langſam herab aus wolfenloien Weiten.
Wie ruhig mars, wie ruhig war es rings.
Und dort im Dunfel lag fie jelbit, die Sphinr,
Das Stein gewordne Schweigen. Koniferen
Und Buchsbaum, den ſchon längit des Gärtners Scheeren
Nicht mehr berührt, beichatteten den Leib,
Und auf der Schulter ſaß dem Marmormweib
Ein einziger der ſchwarzen Schmetterlinge
Und rührte langiam, träumeriich die Schwinge.
Das fehr originelle „Geſtorben“ beginnt mit der folgenden
Ihönen Schilderung:
Der Himmel jentte feine grauen Fahnen
Tief auf des Parfs umflorte Sommermipfel,
Und durd die jtilfen Scyattengänge jchmebten
Der Schwermuth dunkle Falter leiſen Fluges.
Die hohen Ulmen weinten und die Birken,
Die erniten Honiferen und die Roſen,
Und dur den feuchten Schleier jah das Haus
Mit feinen dichtverhängten Fenſtern wie
*) Berlin 1897, Verlag von Schufter und 2oeffler.
184 Neue Belletriftik,
Ein müdes, bleiches Menichenangeficht,
Dem Gram die heiken, franfen Lider ſchloß u. ſ. w.
Zum Beiten und Originelliten in dieſer Abtheilung gehört
ohne Zweifel „Die Regeninjel,“ die eine an Bödlin erinnernde
mothologifche Geftaltungsfraft befundet. Auch die „Parkſzene“ ift
fein. Weniger befriedigt mich das grelle Rhantafiebild „Der Berg.”
Die übrigen Gedichte find als „Wermilchte” bezeichnet und
alſo nicht weiter geordnet. Viel Schönes, Feines und Tiefes
findet fid) da. So das träumeriihe „Am Kamin,” der überaus
fein gezeichnete, wieder an Böcklin erinnernde „Hirte,“ „Der
Blutstropfen,“ „Viola d’amour,“ „Lenzluſt,“ „Sommerglüd,“
„2er Zitronenbaum,” „Wenn id) fterbe,“ „Die Welle” u. a. m.
Veberaus grazios ift das Gedicht „Rose d’amour,“ bedeutend
„Der Schritt der Stunde, wenn Du fchlaflos liegſt.“ Zum
Schönſten muß ich das Gedicht „Die jtille Frau“ rechnen, das
ih volljtändig mittheilen will:
Du wirkſt in Sorgen treu und fchlicht,
Grau reihen Tage fih an Tage.
Nichts, was Die ſchwere Nette bricht
Der immer gleichen Frauenplage.
Und doch war einjt ein Koienflor,
Und war die Melt voll füher Lieder,
Und Hoffnung ichlug ans Himmelsthor
Mit ihrem jtürmiichen Gefieder.
Ach, auf den reihen Frühling fam
Ein furzer Sommer ohne Segen,
Der alle deine Blüthen nahm
Und gab dir feine Frucht Dagegen.
Schon küßt des Herbites fahles Licht
Dir deine guten fleißigen Hände,
Du achteſt nicht im Drang der Pflicht
Der Zeit und ihrer raichen Wende.
Ob aber Nachts, wenn Alles jchmweigt,
Nicht manchmal deine Seele jammert
Und, mas aus jtillen Gräbern jteigt,
Mit Schniuhtsarmen wild umklammert?
Tief ergreifend iſt das Gedicht „Mich friert jo ſehr,“ S. 107.
Das todte, raſch vergeliene Kind fehrt aus dem Grabe zurück,
flopft an und tritt ein und klagt leife weinend:
Neue Belletriftik. | 185
„Schelte nicht, mich friert fo jehr!
Ach, ein Grab, das Liebe pflegt,
Warm und weich Geitorbene hegt.
Aber Liebe, die vergikt,
Weiß nicht, wie den Todten iſt.“
In dem Gedicht „Die Falte” ericheint dem Dichter der
Haß in der ganzen trogigen, wilden Schönheit gefallener Engel,
aber er fieht auch die tiefgefurdte Schmerzfalte zmifchen den
Brauen der Erjcheinung. Er fragt: Warum die Kalte?
Zeile,
Verquält Hang es zurüd:
„Weil ich nicht lieben darf.“
Manche Gedichte Falfes machen den Eindrud, von der
modernen Malerei beeinflußt zu jein; andere bieten Gedanken
und Bilder, die diejer zum pajjenden Vorwurf dienen fönnten, fo
z. B. außer einigen der angeführten auch „Begräbniß,“ „Himmel:
fahrt” u. a. m. Sit uns aud nicht Alles ſympathiſch, fo werden
wir uns Doch der Ueberzeugung nicht verichließen fönnen, daß wir
es hier mit einem bedeutenden Künjtler zu thun haben. Die
Sinnlichkeit tritt im Allgemeinen nit zu ſtark hervor. In
Gedichten wie „Die Bacchantin“ ijt fie in ihrem vollen Rechte.
Ein jtimmungsvolles Naturbild, mit kurzen Strichen gemalt, bietet
uns der Dichter in „Feldeinſamkeit.“ Hübſch und originell ift das
fleine Gedicht „Verſchwiegen.“
In fein fchönes Namilienleben läßt uns Falke in mehreren
tiefempfundenen Gedichten hineinbliden. So z. B. in dem „Deinem
Kinde“ überjchriebenen:
Du Schläfit und jachte neig’ ich mid
Ueber Dein Bettchen und jegne Did.
Jeder behutiame Athemzug
Iſt ein ſchweifender Himmeläflug,
Iſt ein Suchen weit umber,
Ob nicht doch ein Sternlein wär
Wo aus eitel Glanz und Licht
Liebe fih ein Glückskraut bricht,
Das fie geflügelt hernicderträgt
Und Dir aufs weiße Dedchen legt.
Die zartempfundene „Tempelhüterin” iſt in danfbarer Liebe
der treuen Gattin gewidmet. „Aus dem Takt” gehört in denjelben
Gedanfenfreis, desgleihen „Schamhafte Liebe.” Welch andere
186 Neue Belletrijtif.
Cindrüde gewinnt man bier, als aus den rohen Gedichten, bie
R. Dehmel Frau und Kind widmet!
Als fein und tief möchte ich noch das Gedicht „Halt zu Die
Thür” hervorheben, in welchem der Dichter flagt, daß er die
Welt zu tief in jein Innerſtes, fein Deiligites habe ſchauen lafien,
und mit dem Rathe ſchließt:
O ſei nicht allzu gaitbereit,
Halt zu die Thür, halt zu die Thür!
Ein Winfel muß Dein eigen fein,
Wohin fein Fremder ſich drängt ein,
Und böt' den Himmel er dafür.
Man kann es dem Dichter nicht verdenfen, wenn er fi
gegen die bejchränften Kritifer aufbäumt, die nichts Neues gelten
laſſen wollen, jei es noch jo gut. Selbſt ein Gedicht wie „Die
Peitihe euch” hat da jeine Berechtigung. Daſſelbe aber möchte
ih nicht von dem verwandten Gedichte „Laus bleibt Laus“ jagen,
und zwar darum, weil der Schlußgedanfe, in dem es gipfelt,
durchaus unſchön, ja widermwärtig it.
Den Schluß der Sammlung bilden „Gedichte in Profa,“
unter denen ich das modern grelle, aber fraftvolle Bild „Der
Meberfall“ hervorheben möchte.
So günftig im Allgemeinen der Eindrud it, den mir von
der genannten Gedichtiammlung Falkes gewinnen, jo jehr ver:
ändert fi) das Bild ins Ungünftige, wenn wir die ebenfalls im
Fahre 1897 erichienene Sammlung „Neue Fahrt” zur Hand
nehmen.*) Das Bud iſt Richard Dehmel zugeeignet und das ilt
harakteriitiich für daſſelbe. Falkes „Neue Fahrt” nimmt ihren
Kurs in der Nihtung auf Dehmel! und was das bedeutet, werden
diejenigen leicht ermeijen können, weldje meine Bejprechung der
Dehmelihen Gedichte im Aprilheft der „Balt. Dion,” gelefen
haben. Mit Erjtaunen und Bedauern habe id Diele Wendung
in Falkes Ridhtung wahrgenommen. Statt auf „Neuer Fahrt”
die Segel jeines Sciffleins von Dehmels Genius jchmellen zu
laſſen, hätte er beſſer daran gethan, im alten eigenen Kurſe
weiter zu fahren. Er fonnte durch Dielen Einfluß nur verlieren,
und mir mit ihm.
*) Berlin 1897, bei Schuiter und Loeffler.
Neue Belletriftif, 187
Falfes Talent ift fo tief und bedeutend, daß er trotzdem
uns auch in diefer Sammlung mandes Schöne und Erfreuliche
bietet. ch nenne nur Gedichte wie „Morgenmuth,“ „Heimweh,“
„2er redte Ort,” „Toter Winkel,“ „Dinterm Deich,” „Sommer“,
„An einem Grabe,” „Zotenamt” und namentlich „Der thörichte
Jäger.” Aber daneben — mie viel Nohes, Geihmadloies, höchſt
Unerfreuliches, das den Einfluß Dehmels verräth! Da erjcheinen
jo midermwärtige ‘Brodufte wie „Skal“ und „Klöjterverfehr,“ deren
nähere Charafterijtiif ich mir und den Lejern eriparen möchte;
fo unerfreuliches, rohes Zeug wie „Nachtwandler,” „Haß,“ „Zwanzig
Mark,“ „Es reicht hin,“ die Schlußwendung in dem Gedicht „Die
Verſchmähte“ u. a. m. Auch zu Dehmels geichmadlojen Kinder:
gedichten werden uns hier Pendants geboten wie „Die Prinzeſſin“
und „Kinderreim”. Dan erkennt Falke geradezu garnicht wieder.
Es iſt mir aufrichtig leid um dieſen Dichter, daß er nun aud) in
diefen Ton verfallen und unter Dehmelihen Einfluß gerathen it.
Man fieht aus dieſer jeltiamen Wandlung, melde dämoniſche
Macht der böje Geilt übt, der die moderne deutſche Lyrik beherrict.
Ich Hoffe Sehr, daß Falfe den eingeichlagenen neuen Kurs bald
als eine Verirrung erfennen und ſich jelbit wiederfinden werde.
Es ſteckt in ihm ein jo tücdhtiger Kern, daß ihm das nicht ſchwer
fallen jollte.
Zu den beiten der modernen Lyrifer wird Hugo Salus
gerechnet. Ich habe jeine „Gedichte“ *) gelefen und bin zu der
Meberzeugung gelangt, daß auch in diefem jungen Dichter ein
tüchtiger Kern ſteckt, nicht nur Begabung, jondern audy moraliicher
Fond. Manches ſchöne, manches gedanfenreiche Gedicht tritt uns
da entgegen. ch hebe hervor „Bild,“ „Liebeslied,“ „Duntel,”
„Einfames Dorf,“ „Sommermittag,“ „Kammermufif,“ „Selgo-
land,” „Im Reifewagen,” „Ewige Treue,” „Erinnerung,“ „Blumen,”
„Lieder aus Italien,“ „Stilles Glück,“ „Die Mutter”. Feine,
tiefe und edle Empfindung offenbart fih in den Liedern, melde
das Verhältnig des Dichters zu jeiner Frau, zu feinen Eltern
erkennen laſſen; ſympathiſch berührt feine warme Begeifterung für
Italien, das Land der Schönheit, desgleidhen die weile Selbſt—
erfenntniß in dem Gedicht „Die Goethejtürmer”. Es ift eine
*) Mit modern auffallendem, wenig Ichönem Frauenbild auf dem Titel
geziert, erjchienen bei Albert Zangen, Parissteipzig-München, 1898.
188 Neue Belletriftif.
gefunde, tüchtige Dichternatur. Damit fol aber nicht gelagt fein,
dak mir Alles an diefem Dichter gefällt. Ganz abgelehen davon,
daß die Form, fpeziell die Neinheit der Neime noch Manches zu
wünfchen übrig läßt, die Sonette zu vechter Vollendung fih noch
nicht erhoben haben, findet ſich auch Manches, was direft abjtößt
und unangenehm berührt. Wo der Dichter dem Geiſte der jogen.
„Moderne“ opfert, da bietet er uns Inerfreulihes. So in dem
widerlih finnlihen Gedichte „Pan,“ jo auch in dem Gedicht
„Die Fliege,“ wo der Dichter jchildert, wie er bei der Trauung,
fromm geitimmt, jchon in Gefahr war, feinen „ichönen Unglauben”
zu verlieren, als eine „kühn atheiſtiſche Fliege,“ die laut brummend
um den Kelh mit dem Blute des Herrn herumfliegt, ihn nod
glücklich davor bewahrt u. dal. m. Immerhin gehört Salus, wie
mir jcheint, zu denjenigen jungdeutichen Dichtern, die im Stande
fein werden, fich durch die modernen Verirrungen hindurch zu
höherem und reinerem Wirfen emporzuarbeiten. Das bemeilen
uns feine „Gedichte.“
Vor mir liegt das vierte Heft des dritten Jahrganges ber
hochmodernen, luxuriös ausgejtatteten Runitzeitichrift „Pan,“ die
das Neuejte und zugleich Befte in bildender Kunſt, Poefie, Nejthetif
bieten will. ch geitehe, daß das vorausgehende Heft mir beſſer
gefallen bat. Es enthielt neben viel durchaus Abjtohendem doch
auch gar Dianches, was von bedeutendem Talent Zeugniß ablegte.
Von dem vorliegenden Heft 4 vermag ich das nur in jehr be-
Iheidenem Make zu behaupten. Ueber die Bilder habe ich
natürlich fein fahmännifches Urtheil, wenn ich auch nicht verhehlen
will, daß mir da Manches einen halb oder gan; verrüdten
Eindrud madt, 3. B. Henri Herans „Spielendes Meerweib“
oder die Kruredullen von Theodora Onaſch auf S. 225, die
feine nähere Bezeichnung tragen und auch ſchwer zu bezeichnen
fein dürften; mid) erinnern ſie an findliche Schmierereien, vielleicht
aber jollen fie ſymboliſch etwas bedeuten. Doch, mie gejagt, da
bin ich nicht Kenner und beanſpruche nicht, dab mein Urtheil ins
Gewicht falle. Bon dem poetiichen Inhalt dieſes Heftes aber fann
ich dreijt behaupten, daß derielbe herzlich ſchwach und unerfreulich
ijt. Ein paar Proben mögen genügen. Ciner der Bahnbreder
und Pfadfinder der modernen deutichen Poeſie, Arno Holz,
Neue Belletriftik. 189
produzirt fih da mit einer Reihe von Gedichten, die unter ber
Veberichrift „Phantafus” zufammengefaft find. Ach ſetze eines
hierher:
Ueberm Bett, eingerabmt, hängt der Myrthenfranz.
Am Fenſter
itand vor Jahren mal die Nähmaſchine;
ein Hanarienvogel fang.
Jetzt
iſt das alles anders.
Abends,
wenn die rothe Lampe brennt,
kommen fremde Herren in das Stübchen;
alte, junge, wies grad trifft.
Du lieber Gott — das Leben!
Nur manchmal,
wenn der Regen draußen auf die Dächer peitſcht,
Nachts,
Kein Menſch iſt wach,
ſitzt das Weib und weint.
Der tote Mann! Die armen Kinder!
Das nennt man heutzutage ein Gedicht! Wären die Ab—
theilungen nicht gemacht, jo würde das faum Jemand erfennen.
Neben der Proja der Holzihen Gedichte fteht der hyper—
poetiſche Bombajt der Proſadichtung „Sonnenopfer” von Stanislaw
Praybyszemifi. Diefelbe beginnt:
„Die Du mir mit lichttrunfenen Fingern die Schönheit mwelfender Serbit:
trauer, den müden Glanz Iujliatter Pracht, die fiebernden Farben fonnenzer:
frefiener Baradieje in meine ſchweren Träume verwebit —
Geliebte —
viele Monden find gegangen, ſeit ich Dich geliehen, aber noch immer glänzt mein
Herz über den Sternen, die Du in mein Leben gejät, noch immer wachſen aus
meinem Blut Hände, ringend, flehend nah dem Glüd, das Du mir einit
entfacht“ ıc.
Der Erzähler ift ein Sonnenfohn, der der Geliebten jeine
Mutter, die Sonne, opfert! An die jonnenzerfreiienen Paradieſe,
an die ringenden Hände, die aus dem Blute hervorwachlen, reihen
fih weiter fladernde Verzweiflungsichreie, eiterndes Volt u. dgl. m.
Mir hören, daß fih des Erzählers „Herz nad) der Sonne nadt
ſchrie“ u. dgl. m.
Auch das Ausland wird im „Pan“ berüdjichtigt. Neben
einem Auflag über die „Niederländiihe Dichtung“ der letzten
zwanzig Jahre von Pol de Mont merden uns Gedichte von
7*
190 Neue Belletritik.
Herman Gorter geboten, aus dem Holländifchen überjegt von
Marimilian Dauthendey. Das erfte derjelben fei hier mit:
getheilt:
mei Jampen leuchten,
Blau ſchimmert der Spiegel,
es beleuchten,
Lichter die Möbel rundum,
Alle Dinge find jtumm.
Ich hörte Frauenathem
Kommen, ich wollte —
Ich wollte — ich ſitze ganz ſtill,
Es iſt nichts, was ich will.
Höre der Uhr Wiedergetide,
Sie zählt die Augenblide.
Die Lefer werden daran mohl genug haben und feine
weiteren Proben begehren.
8. v. Schroeder.
Litteräriihe Streiflihter.
9. v. Treitſchke's Vorleſungen über Politik. — B. Gebhardt, Deutiche
Geihichte im 19. Jahrh. — G. Steinhauſen, Das häusliche und geiell«
Ichaftliche Leben im 19. Jahrh. — Staatsminiiter Jolly, Gin Lebensbild. —
Fr. Zarnde, Aufläge und Reden zur Aultur und Zeitgeichichte.e — 28.
Rymarifi, Die Ephemeriven des Iſch Schacheſeih. — W. Hertz, Parcival
von Wolfram von Eſchenbach. — J. 9. Löffler, Martin Böpinger, ein Yebens-
und Zeitbild aus dem 17. Jahrh.
Eine letzte, wahrhaft erfreuliche Gabe aus dem Nachlaſſe
Heinrih von Treitſchkes wird uns in dem Buche: Politik.
Vorlefungen gehalten an der Univerfität zu Berlin, herausgegeben
von Mar Gornicelius geboten, von dem bis jeßt Der erite
Litteräriſche Streiflicter. 191
Band*) vorliegt. Die Veröffentlihung von Vorlefungen, die ihr
Verfaſſer nicht ſelbſt hat durchſehen und zum Drud vorbereiten
fönnen, hat immer etwas Mikliches und um jo mehr dann, wenn
der Autor ein hervorragender Redner geweſen iſt; die echte Rede
unterfcheidet fi) ganz wejentlid von der von vornherein für das
Lejen bejtimmten Abhandlung. In dem vorliegenden Falle hat
Treitichfes eigenes Heft nicht einmal als Leitfaden dienen fönnen,
die Veröffentlihung der Vorlefungen über Bolitif beruht ganz auf
ſtenographiſchen Nachſchriften einzelner Zuhörer aus verjchiedenen
Jahren. Es begreift ſich daher, daß gerade von manchen Treitjchfe
in Verehrung zugethanen PBerjonen gegen die Herausgabe Diejer
Kollegienhefte Bedenken erhoben wurden und daß zunädjt von
ſechs angejehenen Kollegen und Freunden des Dahingeichiedenen
Gutadhten darüber erbeten worden find, ob es gerathen jei die
Vorlefungen zu veröffentlihen. In Folge des zuftimmenden Urtheils
der meijten Befragten iſt dann die Ausgabe erfolgt, über die wir
nur unjere vollfommene Befriedigung ausjpredhen Fünnen. Was
wir bier leſen, ijt jelbjtverjtändlicdy nicht jenes große Werk, mit
dem 9. v. Treitichke feine hiſtoriſche und politische Lebensarbeit
abzuichließen gedachte, in dem er die Summe jeiner Erfahrungen
und jeines jahrelangen Nachdenkens über Bolitif zu ziehen beab-
fihtigte, aber es ijt dod) ein, wenn auch unvollfommener, Erjag
dafür; nicht nur jeine Grundanjhauungen über die widtigiten
Fragen des Staatslebens und der Politif lernen wir aus Diejen
Vorlejungen fennen, jie lajlen an vielen Stellen auch klar erjehen
oder wenigſtens vermuthen, wie ſich die Ausführungen jenes
größeren Werfes im Einzelnen gejtaltet haben würden. Und jogar
einen Vorzug haben dieje VBorlefungen: die köſtliche Unmittelbarkeit
und Friſche des Ausdruds jowie die herzerjreuende Unummwundenheit
des Urtheils; dadurd allein jchon fejlelt das vorliegende Buch den
Lejer von der erjten bis zur legten Seite. Man hat fortwährend
den Eindrud der Rede und glaubt beim Leſen Treitichfe vor ſich
zu jehen und ſprechen zu hören. Falſche und verkehrte Anjichten,
weitverbreitete Irrthümer und Thorheiten des Tages werden oft
furzweg als „Unfinn“ oder „Dummheit, Berjchrobenheit” bezeichnet,
darunter nicht weniges, was heutzutage als ausgemadte Wahrheit
*) Leipzig, Verlag von S. Hirzel. EM.
192 Litteräriiche Streiflichter.
verfündet und geglaubt wird. Andererfeits muß ausdrüdlich hervor:
gehoben werben, daß die jo häufig in Univerfitätsvorlefungen vor:
fommende gehäffige perfünliche Polemik hier ganz fehlt, Treitſchke
befämpft jtets nur die Anfichten und Lehren, nicht die Perjonen,
aud) darin zeigt fich jeine edle, vornehme Perjönlichkeit. M. Cor:
nicelius gebührt für feine vortrefflihe Redaktion der verſchiedenen
von ihm benugten Nadhichriften der warme Danf aller Freunde
Treitſchles.
Ueber Politik iſt unendlich viel geſchrieben worden, meiſt
mit vorgefaßten Meinungen, unter der Herrſchaft beſtimmter
Theorien. Die Staatslehren der großen Denker der philoſophiſchen
Epoche Deutihlands: Kants, Fichtes, Schleiermahers, Hegels
enthalten viele tiefe, zum Theil in das allgemeine Bewußtſein
übergegangene Gedanken; bejonders Hegels Rechts- und Staats—
philofophie bietet auch demjenigen, der feine Wergötterung des
Staates verwirft, eine Fülle erniter, nie veraltender Wahrheiten.
Aber verhängnißvoll war es do, daß das Wejen und die Aufgabe
des Stuates nad philofophiichen Ideen und Prinzipien fonjtruirt
und bejtimmt wurden, oft genug ohne Rückſicht auf die Wirklichkeit
und die geiichtliche Erfahrung. Nicht nur die politiſchen Ver:
treter des Liberalismus jtanden unter dem Banne Rouſſeauſcher
und popularphilojophiicher Theorien, auch ein fo geijtvoller und
Iharfdenfender Dann wie J. 3. Stahl hielt ſich nad) entgegen:
gejegter Richtung in jeiner Staatslehre von der Herridaft vor:
gefaßter, einjeitiger Doftrinen nicht frei. Dahlmanns 1835 zuerft
erſchienene Bolitit macht allein eine Ausnahme; fie berubte auf
wirflih geihichtliher Grundlage; leider blieb das Bud aber
unvollendet. Zu wie verkehrten NRejultaten das theoretiiche Kon—
Itruiren auf dem Gebiet der Bolitif führt, das lehren bejonders
augenfällig die Bücher des geijtreihen Konjtantin Frank, ber
unter anderem noch 1866 bewies, daß die Einheit Deutichlands
ein thörichter, der Geſchichte widerjtreitender Traum jei, daß bie
Trias die wahre und richtige Form der Verfaflung Deutſchlands
fei und daß Preußen abjolut nicht geeignet jei die Führung
TDeutihlands zu übernehmen. Selbjt ein Hiftorifer von ſolchem
Scharfblid wie G. Waig zeigt fih in jeiner Politik noch vielfach
von der Neigung zu theoretiiher Konftruftion befangen. Erſt die
große Epoche der neuern Zeit, die durch Cavour und Bismard
Litterärifche Streiflichter. 193
heraufgeführt wurde, hatte aud) einen Wandel in der Auffaſſung
und Behandlung der Lehre vom Staat und der Politik zur Folge.
Treitichfes Definition: Bolitif ijt angewandte Gedichte zeigt jo
recht den Unterjchied der jegigen Hijtoriichen von der früheren
ipefulativ:philofophiichen Lehre vom Staat. 9. v. Treitichfes Vor:
lefungen find gewiljermaßen der litteräriiche Niederjchlag der großen
Realpolitit Bismards, in ihnen kommt der gewaltige Umſchwung
der deutſchen Verhältniſſe in den legten vierzig Jahren zum
lebendigiten Ausdrud. So jind diefe Vorlefungen ein bleibendes
Denkmal einer großen Zeit und großer Ereigniſſe. Treitichke,
der urjprünglid von einem jehr entichiedenen Liberalismus ausging
— liberal und national waren ja damals faſt identisch — erſcheint
in jeiner Bolitif frei von jeder Doftrin, von feiner ‘Barteiichablone
beengt, er jpricht oft ganz fonfervative Anfichten aus und verurtheilt
bornirt-liberale Meinungen rüdjichtslos, er jteht eben ganz auf
hiſtoriſchem Boden und erflärt und beurtheilt die jtaatlidhen Dinge
nad) den Erfahrungen der Gedichte. Daß das durd glänzende
MWaffenthaten und eine großartige Staatsfunft aufgerichtete deutjche
Reich den Hintergrund jeiner Auffaffung und Darjtellung des
Staates bildet, erfennt man an vielen Stellen. Einer der Grund:
gedanfen 9. v. Treitjchfes in der Bolitif: der Staat ijt vor allem
Macht — wer hätte ihn vor 1866 und 1870 in Deutichland mit
überzeugender Kraft auszuſprechen vermocht?
Niht die philoſophiſch-ſyſtematiſche Darlegung, die jcharfe
logiihe Definition und die jorgfältig erwogene Deduftion iſt
Treitſchkes Stärfe, was ihn auszeichnet ijt die Tiefe der gejchidht-
lihen Auffafjung, die bewundernswürdige Kenntniß des uner-
meßlichen hiſtoriſchen Stoffes und das gereifte, durch feinen Schein,
durch feine herrſchende Zeitanihauung geblendete Urtheil; dazu
fommt dann die leidenjchaftliche Kraft, die wunderbare Beweglichkeit,
der ideale Flug diejes edlen Geiſtes, die in dieſen VBorlejungen
noch jtärfer als in dem ausgearbeiteten Werfe zur Erjcheinung
gelangen und den Lejer mit padender Gewalt fortreißen. In
zwei Büchern behandelt Treitichfe das Wejen und die jozialen
Grundlagen des Staates, aber die fiebenzehn Kapitel, in die jie
zerfallen, geben faum eine Ahnung von der veihen Fülle gedanken—
voller Auseinanderjegungen, die oft nur in lojem Zujammenbange
mit dem eben behandelten Gegenjtande ſiehn. Im erjten grund:
194 Litteräriſche Streiflichter.
legenden Buche ift die Darftellung geſchloſſener und jtraffer, im
zweiten find die einzelnen Theile oft nur loder mit einander
verfnüpft, das ijt eine ganz natürliche Folge des mündlichen
Vortrags. Wie Treitjchfe in der Politik ein Feind aller Abjtraftion
ift und daher das Naturrecdht als hohles Verſtandesprodukt uner-
bittlih verfolgt und bekämpft, jo ift auch jein Stil und jeine
Sprache immer fonfret, von höchſter Lebendigkeit, jein Vortrag
eine fortwährende Unterredung mit feinen Zuhörern.
Mit der Grundanjchauung des alten Liberalismus von ber
Entjtehjung des Staates, der Vertragslehre, hat Treitichfe voll-
fommen gebrodyen, er jteht ganz auf dem Standpunft der hiſtoriſchen
Schule, aber in der jtarfen Betonung der Bedeutung des bewußten
Willens für die Entwidelung des Etaatslebens macht ſich der
Zeitgenojje Bismards erfennbar. Es wäre lodend auf die einzelnen
Abſchnitte des Buches näher einzugehen, fie zu würdigen und auch
mit manden Einwendungen nicht zurüdzuhalten, aber aud) das
Zehnfadhe des uns zugemejjenen Raumes würde dazu faum hin:
reihen. Nur eine die Gejammtauffallung Treitichfes vom Staate
berührende Bemerfung fünnen wir nicht unterdrüden. Er bat
bei jeinen Erörterungen des MWejens und der Forderungen Des
Staates an den Einzelnen jtets den nationalen Staat eines
einheitlihen Wolfes, insbejondere den preußiich-deutihen Staat
vor Augen. Für diejen haben alle jeine Ausführungen vollfommen
Geltung und Berechtigung. Ganz anders aber verhält es ſich
mit national gemiſchten Stuaten wie 3. B. Oejlerreihd. Da fann
von den verjchiedenen Stämmen und Nationalitäten nicht diejelbe
Stellung zum Staatsorganismus erwartet und gefordert werden,
wie in einem nationalen Neiche. Der Italiener und Slomwene
werden ſich gegenüber dem Gejammtjtaate und jeinen Anforderungen
fehr anders verhalten als der Deutjche. Hier ift nicht der Staats-
organismus, jondern die Perſon des Derrichers der Vereinigungs-
punft für die verjchiedenen Volfsftämme, nicht jo jehr Staats:
gelinnung als Anhänglichfeit an den Monarchen ift das ver:
einigende Band zwilchen ihnen. Im Uebrigen müflen wir uns
damit begnügen einige Bunfte als Proben deſſen, was bier geboten
wird, hervorzuheben. Mit rechter Befriedigung liejt man bei
Treitichfe den heute ganz bejonders zu betonenden Sag: Alle
Geſchichte it zunächſt politiihe Geſchichte und freut fih an
Litteräriſche Streiflichter. 195
feiner nachdrüdlichen Erklärung gegen die überwiegende Schägung
der Kulturgeihichte. Seine wundervollen Ausführungen über die
Bedeutung des Krieges für den Staat und das Volk, jeine feinen
Auseinanderjegungen über die Stellung der Diplomatie zur Moral,
endlicd) jeine Darlegung der Verhältniſſe des Einzelnen zum Staat
find wahre Schläge in das Angeſicht herrichender Zeitanfchauungen.
Vortrefflih weiſt Treitichke nad), daß ein großer Staat heutzutage
ohne Kolonien jeine Stellung auf die Dauer garnicht behaupten
fonne. Zu den glängendjten Partien des Buches gehört der
Abſchnitt über die WBarteien, die Parteibildung und über Die
Freiheit, in dem die gejundeften Anfichten ausgeiprochen werden,
die ficherlich feiner Partei gefallen werden. Was Treitſchke über
die Preſſe und ihre jchweren Schäden jagt iſt ganz vortrefflich.
Das Kapitel über die Racen, Stämme und Nationen ijt jo
durhdadht und reidy an treffenden Bemerkungen, daß es wiederholt
gelejen und wohl durddacht zu werden verdient. Auch die Aus-
einanderjegungen über Kaften, Stände, Klaſſen zeigen Treitichfes
bewundernswürdige hiſtoriſche Einfidt. Seine Würdigung des
Models it jehr bemerfenswerth; aufgefallen ift es uns, daß er
dabei des baltiihen Adels mit feiner Silbe gedenkt, aud da nicht,
wo fih wie S. 312 eine Erwähnung dejjelben dem Gejdichts-
fundigen gewiſſermaßen aufdrängt. An anderen Stellen ſpricht
er übrigens nicht unfremmdlich von den baltiihen Provinzen.
Treitſchke ijt ein unerbittliher Gegner der modernen Bildung, Die
in einem Wuſt zujammengeraffter Notizen bejteht, und jpricht
unerihroden von der Stupidität unter ven Gebildeten. Dab ein
Diann wie er fid entichieden gegen die Frauenemanzipations:
bejtrebungen erflären werde, war zu erwarten; wir empfehlen jeine
ausgezeichnete Erörterung diejer Frage allen, die fi) durch bie
Phrajen und Schlagworte dieſer Modethorheit noch nicht völlig
haben blenden laſſen. Mit feurigem Eifer tritt Zreitichle für bie
alte klaſſiſche Gymnaſialbildung als eines der fojtbarjten Erbjtüde
der deutjchen Nation ein, er jieht in der Zurüddrängung derjelben
eine jchwere Gefahr für die geiftige Zukunft der leitenden Klajien
des deutſchen Volkes und erklärt jih mit allem Nachdruck gegen
die Einheitsichule, diefes Schoßfind moderner verſchrobener Schul:
politif. In dem Schlußabſchnitt über die Volfswirthihaft jpricht
Treitſchke ſich entichieden gegen die immer mehr um jid) greifenden
196 Litteräriiche Streiflichter.
fozialiftiihen Theorien auf diefem Gebiete aus. Im zweiten Bande
jollen die Verfaflung, die Verwaltung und das Verhältniß ber
Staaten untereinander behandelt werden; wir jehen ihm mit
wahrer Spannung entgegen.
Wir müſſen uns auf dieje furzen und dbürftigen Andeutungen
beijchränfen, die nur den Zweck haben auf den reihen Inhalt des
Buches hinzuweilen; von der überquellenden Fülle geiftreicher,
frappirender Bemerkungen im Einzelnen giebt nur Die Lektüre
jelbjt eine VBorjtellung. Treitichfes Politik ijt ein im höchſten
Grade zum Nachdenken, zum Selbitforichen anregendes Bud, das
wie es oft genug freudige Zuſtimmung hervorruft, nit jelten
auch den Widerſpruch erweckt, immer aber erfriihend wirft; man
fann hunderte von Fragezeihen an den Rand des Buches maden,
aber unzählige Stellen find Einem dann wieder aus der Seele
geiprochen. Man fühlt es jtets: ein tapferer, unerſchrockener, nur
die Wahrheit juchender Geiſt, genährt mit dem Marke der klaſſiſchen
Litteratur des Alterthums Ipricht zu uns, ein Dann erfüllt von
friegeriihem Feuer, der jeine ganze Seele in das hineinlegt, was
er jagt. Die Schüler find glüdlid zu preilen, die zu Diejes
Lehrers Füßen gejeilen haben und wenn man bedenkt, dab ihrer
viele hunderte im Laufe der Jahre geweien jind, jo fann man
wohl hoffen, daß die von Meijter gejtreute Saat im politiichen
Leben der Zukunft gute Frucht bringen wird. Ein Bud von
9. v. Treitichfe bedarf feiner Empfehlung, wir wünſchen nur von
Herzen, daß jeine Politif überall gelefen, durchdacht und vor allem
beherzigt werden möge.
In diefen trüben, dunklen Tagen, da jchiwere Trauer um das
Hinſcheiden feines Helden, feines großen politiihen Führers und
Dieijters auf dem deutichen Volke lajtet, hat gewiß mander mit
Wehmuth aucd des jchon früher Hingegangenen begeijterten Heroldes
und geijtigen VBorfämpfers des neuen deutjchen Reiches, des glühenden
Patrioten, der mit Wort und Schrift an allen Ereigniſſen der großen
Zeit den lebendigjten, Fräftigiten Antheil genommen hat, gedadıt.
Nun ijt dieſe wunderbar großartige Epoche völlig abgeſchloſſen, das
Zeitalter Bismards iſt beendet; aber mit dem unjterblichen Begründer
des Reiches wird auch Heinrich von Trritichfes Name, ber den
Gefühlen und Gedanken der Beften in diejer gewaltigen Zeit den
vollfommenjten Ausdrud gegeben hat, fortdauern in die ferne Zukunft.
Litteräriſche Streiflichter. 197
Von dem Sammelwerfe: Am Ende des Jahrhunderts,
Rückſchau auf hundert Jahre geiftiger Entwidelung*) liegen uns
zwei Bände vor. Dies von Dr. P. Bornjtein geleitete Unter:
nehmen jtellt ji die Aufgabe dem großen gebildeten Bublifum
in einer Reihe von Bänden und in gemeinfaßlicher Norm vorzu-
führen, was auf den verjdhiedenen Gebieten der Wiſſenſchaft,
Technik, Kunft, Litteratur, Kultur während des neunzehnten Jahr:
bunderts geleiftet it. Eröffnet wird die Sammlung mit dem
eriten Bande einer von Bruno Gebhardt verfahten beutjchen
Geſchichte im neunzehnten Jahrhundert, der bis 1849
reiht. Es iſt gewiß eine der ſchwerſten Aufgaben in zwei feinen
Bändchen den wirren politischen Entwidelungsgang Deutichlands
in unjerem Jahrhundert mit feinem bejtändigen Wechſel von
Fortichritt und Rückſchritt allgemein verjtändlidy darzuftellen. 8.
Gebhardt, durch eine in Gemeinschaft mit anderen Siftorifern
unternommene allgemeine deutſche Gedichte und andere wiſſen—
ihaftlihe Arbeiten befannt, hat fi ihr unterzogen und fie, wenn
man nicht allzu hohe Anforderungen jtellt, im Ganzen befriedigend
gelöft. Wir erhalten in dem Buche in fnapper Form und ein-
facher Darjtellung eine jedem halbwegs Gebildeten verjtändliche
Ueberjicht der neuern deutſchen Geſchichte. Verwunderlich iſt es,
daß Gebhardt die Darftellung mit dem Jahre 1792 beginnt, welches
dod im feiner Weije als Anfang einer neuen Zeitepoche angejehen
werden fann. Selbſt mit dem Bajeler Frieden 1795 eine deutjche
Geſchichte im 19. Jahrhundert zu beginnen würden wir für
durchaus unrichtig halten, eine jolche fann unjerer Meinung nad)
nur mit dem zweiten Pariſer Frieden und dem Abſchluß des
Miener Kongreſſes 1815 beginnen; alles Frühere jteht in mehr
oder weniger engem Zuſammenhang mit den Ereignilien am Schluß
des 18. Jahrhunderts. Mit diefem fpäteren Anfangstermin würde
Gebhardt mehr Raum zur genaueren Darjtellung der inneren
Entwidelung des deutichen Volkes gewonnen haben, höchſtens ein-
leitungsweije hätte die frühere Zeit behandelt werden jollen. Der
politiihe Standpunkt des Verfaflers ijt etwas einjeitig: liberal
und reaftionär jind die beiden Kategorien, unter denen er alle
geihichtlichen Ereignifje betrachtet, man vermißt oft ein jchärferes,
*) Berlin, Verlag von Siegfried Cronbach, jeder Band 1 M. 50 Pf.
198 Litteräriſche Streiflichter.
entichiedenes Urtheil. Auch jtellt ſich Gebhardt nicht jelten zu jehr
auf den Standpunkt der von ihm erzählten politiichen Bejtrebungen,
daraus erflärt ſich jein ſonſt unbegreiflich günjtiges Urtheil über
die Neichsverfajjung von 1849, wie er denn überhaupt der Frank:
furter Nationalverfammlung allzugroße Anerkennung zollt. Gebhardt
ſcheint etwas fortichrittlichen Anihauungen zu huldigen, die hoffentlich
in der Darjtellung der neuejten Zeit nicht allzu ftörend hervortreten
werden. Im Ganzen ijt das Büchlein wohl geeignet in bie
Kenntniß der neueren deutichen Geſchichte einzuführen. Das andere
derjelben Eammlung angehörige Buch von Georg Steinhauien
behandelt das häusliche und geſellſchaftliche Leben im 19.
Jahrhundert, wobei der Autor vorzugsweile Deutichland berüd:
jihtigt. Steinhaufen, der mehrere werthvolle Arbeiten auf dem
Gebiet der Kulturgeichichte veröffentlicht hat und eine Zeitjichrift
für Kulturgeſchichte redigirt, bietet in dieſem Bändchen eine ebenjo
unterhaltende wie lehrreiche Lektüre. Selbſtverſtändlich ijt mit
dein bier Sebotenen der reihe Stoff nicht erichöpft, aber die aus
einer großen Anzahl von Quellen gemadten Mlittheilungen ver:
gegenwärtigen dem Leer anichaulich die Lebensverhältniſſe unſerer
Väter und Großväter und laſſen uns deutlich die Vorzüge und
Schattenjeiten jener früheren zeit erfennen. Wir fünnen das
inhaltreihe Büchlein unfern Lejern nur lebhaft empfehlen. Die
ganze Sammlung zeichnet fi durd ihren außerordentlich billigen
Preis vor andern vortheilhaft aus.
Unter den nichtpreußiichen Staatsmännern hat faum einer
die große Wendung der deutichen Gejchichte im Jahre 1866 jo
freudig begrüßt und jo eifrig für den Anſchluß feines Heimath—
landes an den Norddeutihen Bund gewirkt, jo lebhaften, that:
kräftigen Antheil an der Neugejtaltung Deutichlands genommen
wie der Staatsminiiter Julius Jolly in Baden. Er ijt jtets einer
der treuejten und tüchtigijten Dlitarbeiter Bismards an dem Werfe
ber deutichen Einigung gewejen. Ein joldher Dann hatte volles
Anreht auf eine Biographie. Hermann Baumgarten, der Straß:
burger Biftorifer, ein naher Freund Yollys, hatte fie begonnen,
aber war nur bis zum Jahre 1866 gelangt, als ihn der Tod
abrief. Ein Neffe des Miniſters Profeſſor Ludwig Jolly in
Tübingen hat dann die Biographie weitergeführt und beendigt;
fie iſt jezt unter dem Titel: Staatsminijter Jolly, ein
Litterärifche Streiflichter. 199
Lebensbild*), der Deffentlichfeit übergeben. Jolly entftammte
einer feit zwei Jahrhunderten in Mannheim anſäſſfigen Dugenotten=
familie. Seinem Berufe nach Juriſt, war er vierzehn Jahre lang
zuerit Privatdozent, dann auferordentlicher Profeſſor in Heidelberg,
gelangte aber troß hervorragender wiljenichaftlicher Leiſtungen wegen
feiner nationalen Gefinnung nicht zu einer ordentlichen Profeſſur.
Durch Roggenbach wurde er dann 1861 Regierungsrath im Mini-
fterium des Innern, damit begann feine hervorragende politiſche
Thätigfeit. An dem Frankfurter Fürftentage von 1863 nahm er
als jtiller und ſachkundiger Berather des Großherzogs von Baden
und Roggenbachs bedeutjamen Antheil; über die Vorbereitungen
zu dieſer jet faſt vergeifenen, damals ungeheures Aufſehen
machenden Fürjtenverfammlung erfahren wir in dem Bude vieles
Intereſſante. Auch mie in jenen Jahren jchon ernite Politiker
über die verworrenen, ehrgeizigen Velleitäten des Herzogs Ernit
von Koburg dachten, erjehen wir aus den hier mitgetheilten Brief:
auszügen. Als fi Baden 1866 auf die Geite Deiterreichs
drängen ließ, nahm Jolly feinen Abichied. Es ijt ein glänzendes
Zeugniß feines jcharfen, politiihen Blides, daß er früher als fo
viele Andere die Bedeutung und hohe Begabung Bismards erfannt
hat, obgleich auch er zuerjt von dem landläufigen Urtheil über
den frivolen Junker jich hatte irreleiten laljen. Nacd dem Ende
des Krieges ernannte ihn der Großherzog 1866 zum Minijter des
Innern und nah Karl Mathys allzufrühem Tode auch zum
Minifterpräfidenten. In diefer Stellung hat er wie Mathy alles
aufgeboten von Bismard die Aufnahme Badens in den Nord:
deutichen Bund zu erlangen. Als Bismard dies zunächit entichieden
ablehnt, arbeitet er nichts deitoweniger rajtlos daran weiter Badens
Anſchluß an den Norddeutichen Bund vorzubereiten, bemirfte
namentlid die Neorganifation der badiichen Truppen nad) preu—
ßiſchem Muſter. Mit welcher Freude ein Mann wie Rolly bie
großen Ereignilfe von 1870 begrüßte, läßt fich denfen. An dem
Abſchluß der Verträge, durch welche der Süden mit dem Norden
zum beutichen Heid) verbunden wurde, im Dftober und November
1870 und am Abſchluß des Präliminarfriedens zu Verfailles Ende
Februar 1871 nahm Jolly perjönlich Antheil. Die Briefe, welche
*) Tübingen, Verlag der 9. Lauppchen Buchhandlung 5 M,
200 Litterärtiche Streiflichter.
er von Berjailles aus an feine Frau jchrieb, find mohl das fchönfte
Stüd im ganzen Bude. Jolly war eine nüchterne PVerftandes-
natur, Rationalilt in der Religion wie in der Politik und ein
Iharfer Beobachter und Beurtheiler der Menichen und Dinge.
Nun muß man in diefen prächtigen Zeugnifien einer großen Zeit
(efen, wie ganz erfüllt von nationalem Hochgefühl diefer ernite
nüchterne Mann damals ericheint, vor allem, wie entzüdt und
begeijtert er von Bismard iſt. Er verſucht wohl dazwiſchen ſich
dem übermwältigenden Eindrud diefer Größe zu entziehn, aber immer
wieder bricht doch die Bewunderung diejes unvergleichlichen Genies,
diefer wahrhaft originalen Perjönlichkeit, die ihn ftets von Neuem
feſſelt, durch. Er findet faum Morte genug namentlich die be-
zaubernde Liebenswürdigfeit des eiſernen Kanzlers zu ſchildern.
Diele Briefe find höchſt werthvolle Dokumente zur Kenntniß und
richtigen Windigung Bismards. Aber aud über andere Perſonen
im deutſchen Hauptquartier ſowie über ben Geift des deutichen
Heeres, endlih über die riedensverhandlungen ſelbſt berichtet
Jolly manderlei Anziehendes. Sein Werk war der Abſchluß der
Militärkonvention mit Preußen, durch welche die badischen Truppen
in die engite Verbindung mit dem Heere der führenden Macht traten.
Im Innern führte er eine Neorganifation des höheren Schul-
weſens durch und verfolgte eine durdaus konſequente Kirchen-
politif, welche ihn in heftigen Konflift mit der erzbilchöflfichen Kurie
in Freiburg bradte und zum Gegenjtande des bitterften Haſſes
von Seiten der Ultramontanen madte. Da er fi aber jtets
ftreng auf dem Boden der Staatsgeſetze hielt und begründeten
Anforderungen und Bedürfniffen der Kirche bereitwillig entgegenfam,
fo fonnten ihm die Gegner nichts anhaben. Seine nüchterne Auf-
fallung der Verhältniſſe hielt ihn von der damals herrichenden
Ueberihägung der Altfatholifen zurüd wie er denn auch mit der
Art und Weile, wie der Kulturkampf im Reihe und in Preußen
geführt wurde, im Ginzelnen wenig einverjtanden war. Die
Schwäche und vielfahe Uneinfichtigfeit des badiihen Liberalismus,
an deſſen Spite Männer ohne ruhige Ueberlegung oder ehrgeizige
Minijterfandidaten wie Bluntichli ſtanden, machte Jolly ebenfalls
viel zu Schaffen. Für die innere Geſchichte Badens in den legten
dreikig Jahren iſt vorliegendes Bud von nicht geringem Werthe,
wenn auch für einen Fernerjtehenden die parlamentarischen und
Litterärifche Streiflichter. 201
Parteifämpfe mohl zu ausführlih darin behandelt find. Jolly
mar fein hinreißender Redner, aber ein jchlagfertiger Spreder
und fcharfer Dialektifer. Er mar ein wirklicher Staatsmannn,
wie ein folder in den kleinen deutichen Staaten nur ausnahms-
meife vorfommt, er wäre würdig gemwejen auf einem größeren
Schauplak zu mirfen. Umnerwartet wurde er im Sommer 1876
vom Großherzog veranlaft ſeine Entlaffung zu nehmen; Die
eigentlichen Urfachen, die den Fürften zu diefem Vorgehen gegen
feinen verdienten Minifter bejtimmt haben, find bis heute unauf-
geklärt. Es war ein jchwerer, empfindlicher Schlag für Jolly im
fräftigen Mannesalter faltgejtellt zu werden, denn jeine Ernennung
zum Präfidenten der Oberrehnungsfammer gewährte ihm wohl
ein otium cum dignitate, ließ aber feine Kraft bradjliegen.
Fortan Fonnte Jolly nur als einfichtiger Zuſchauer an allen
Ereignilien der Zeit lebhaften Antheil nehmen. Er blieb ein
unerjchütterlich treuer Anhänger Bismards, aud als fein Freund
Roggenbach verftimmt jich von dem großen Staatsnanne abmanbdte.
Yolly erlebte noch den Sturz des Kanzlers, der ihn mit tiefem
Schmerz erfüllte; er fand es unbegreiflich, da Kailer Wilhelm II.
eine Macht zeritörte, die er zu erben berufen war. Kurze Zeit
darauf, im Oftober 1891 ftarb er. Leider haben fih nur jehr
wenig Briefe von ihm erhalten; nad) den mitgetheilten läßt ſich
annehmen, daß fie jehr anziehend geweſen fein müſſen, fie würden
zur Belebung der Darjtellung nicht wenig beigetragen haben. Der
Verfaller des Buches hat die Biographie mit Sachkenntniß und
unbefangenem Urtheil verfaßt und in feinem Buche einen beacdhtens-
werthen Beitrag zur neuejten deutichen Geſchichte geliefert.
Die Aufiäge und Reden zur Kultur: und Zeit-
geihichte von Friedrih Jarnde*) enthalten eine Sammlung
der Fleineren Arbeiten des verdienten Leipziger Germanijten durch
feinen Sohn. Die Bezeichnung „zur Zeitgeihichte” auf dem Titel
hätte lieber mwegbleiben jollen, jie iſt doch etwas zu anſpruchsvoll
für eine Zujammenjtellung von einigen Neben. Nah ihrem
Inhalte zerfallen die in diejem Bande vereinigten Aufläge in drei
Gruppen. Die der eriten beichäftigen fich mit der Geichichte der
deutichen Univerfitäten überhaupt und mit der Univerfität Leipzig,
*) Leipzig, Eduard Avenarius. 9 M.
202 Litterärifche Streiflichter.
welcher der Verfaſſer faft vierzig Jahre angehört hat, im Befondern.
Ton allgemeinerem Intereſſe iſt die zmweite, welche Beiträge zur
Gelehrtengeichichte des 19. Nahrhunderts bietet. Bier bildet Jakob
Grimm den Mittelpunkt, deiien Gedächtniß Zarnde mehrere lejens-
merthe Aufläge und Reden gewidmet hat. Am anziehenditen für
weitere Kreiſe ift wohl der dritte unter dem Titel: Kultur:
geichichtlihes aus Norddeutichland vor hundert Nahren zufammen:
aefaßte Abſchnitt. Zarnde giebt darin Kamilienerinnerungen jeines
Großvaters und Vaters, die uns die Kulturzuftände und Lebens:
verhältnifte am Ende des vorigen und am Anfang diejes Jahr:
hunderts lebendig veranichaulichen. Der Auffa über den Gänje-
tumult zu Bützow, giebt eine aftenmäßige Darjtellung diejes durch
W. Raabes vortrefflihe Novelle weiteren Kreiſen befannt gewordenen
charakteriſtiſchen Vorganges. Unter den Reden finden ſich mehrere,
die fi) auf die große Seit des Arieges von 1870 beziehn. Zarnde
mar ein echter Mecklenburger, unummunden und oft wenig wähleriich
im Ausdruck, ein echter deutfcher Gelehrter, dem es weniger auf
die Form als auf die Sade anfam. Für den Freund ber
Univerfitäts: und Rulturgeichichte enthält Die vorliegende Sammlung
vieles Belehrende und Intereſſante.
Ein jehr merfwürdiges Buch find die Ephemeriden des
Iſch Schachefeth. Aus dem Tagebudh eines Einjamen
ausgewählt und herausgegeben von 2. Rymarſki.) Man
ftugt gleich über den Titel und fragt ſich ift der Mann ein Araber
oder ein Türke? Aus der Worrede erfährt man dann, dab der
Name nur ein hebräiihes Pſeudonym ijt, meldhes „Mann der
Schwindfuht” bedeutet. Warum aber diefe jeltiame Bezeichnung
gewählt iſt, die zum inhalt des Buches nicht paßt, haben mir
nicht ergründen können. Wir erhalten darin die in Amerika
geichriebenen Tagebuchblätter eines Deutichen, die vom Heraus:
geber bearbeitet find. Der Geilt des Buches ift ganz deutſch und
an Deutihe wendet ſich aud der Verfaller und Herausgeber.
Meiteres erfahren wir über die Perſon und das Leben des Autors
nit. Er it, das erfennt man bald, entweder Theologe von
Beruf oder ein Dann, der ſich ſehr viel mit Theologie beichäftigt
hat. Es find vorzugsweile religiöje Fragen, die tiefiten Wahrheiten
*) Gütersloh, Verlag von C. Bertelsmann, 2 Bände.
*
Sitteräriiche Streiflichter. 203
des chriltlihen Glaubens, die in diefem originellen Buche polemiſch
und apologetiich behandelt werden. Ein energilcher, unbedingter
Glaube an die Offenbarung Gottes in der heiligen Schrift tritt
uns überall entgegen, in dev Kraft jeiner religiöjen Ueberzeugung
erinnert der Verfaſſer vielfad an Better, nur ijt er weniger
phantafiereih und Ddichteriih als dieſer. Der Cinjame it ein
unerbittliher Streiter gegen die moderne Theologie, das Halb-
chriſtenthum, die Glaubensſchwäche der Gegenwart und das moderne
Heidenthum; er führt jeine Streiche jo fräftig wie ein Farmer
im Urmwalde fi den Weg bahnt. Aus den vielen in hohem
Grade lejenswerthen Abjchnitten, aus denen das Bud bejteht,
jeien hier nur einige hervorgehoben. Vorzüglich ift „Das goldene
Zeitalter der Kleinen,“ ſehr ſchön das SKapitel „von Trübjal,
verjchuldeter und unverichuldeter”; ein Meiſterſtück der Ironie ift
„der Chrift und allerlei Ismuſſe.“ Sehr Icharffinnig und treffend
find die Nusführungen über Dogma und Schrift. Auch Goethes
Fauſt in feinem Verhältniß zum Chriſtenthum beipricht der Ver—
faſſer. Merfwürdig it es, wie er für das Duell gegenüber den
in England herrſchenden rohen Fauſtkämpfen eintritt; er führt
einleuchtend aus, das nur der überzeugte Chrift ein Recht hat
das Duell zu verwerfen und daß bloße Verjtandesgründe es nie
bejeitigen werden. Manches in den Aufzeichnungen ift durch
amerifanijche Berhältniffe hervorgerufen wie der Aufſatz über Die
Trunfenheit, in denen ſich der Cinjame nadhdrüdlid gegen die
Temperenzler und Nbjtinenzler erklärt. Sehr lejenswerth ijt weiter
der längere Aufſatz über Schöpfungsiage oder Schöpfungsbericht,
in dem der Verfafler manche eigenthümliche Anfichten ausipridt.
Als treffliher Apologet erweiſt jih der Cinjame in dem Aufiag
Antitrinitarier und „Viel gewandelt,“ worin er die Verſöhnungs—
(ehre erörtert. In allen Abjchnitten iſt nichts Abjtraftes, Die
Ausführungen des Verfaſſers find jtets fraftvoll und realiftiich,
rüdhaltslos macht er die Autorität der Bibel geltend. Seine
Ausdrucksweiſe iit manches Mal etwas urwüdjig und derb, aber
er bietet fajt immer tiefe Gedanfen, innerlid Erlebtes und man
merft es feinen Worten an, daß er die driftliche Wahrheit wirklich
erfahren bat. Der Verfaſſer iſt ein hochgebildeter Geift, der an
alles den Maßſtab der göttlichen Offenbarung legt, ihm imponirt
feine noch jo allgemein anerfannte moderne Lehre und Be
204 Litteräriſche Streiffichter.
Zeitanfhauung. Ein Haud) innerer Freiheit weht durch das Bud
und ein jtarfer männlicher Geift jpricht aus ihm. Zwiſchen die
einzelnen Tagebuchaufläge jind Gedichte eingejtreut, Die innerliche
Erlebniſſe des Verfaſſers ausdrüden; fie find meift nur gereimte
Proſa und hätten ohne Schaden größtentheils wegbleiben fönnen.
Für chriſtlich geſinnte, überhaupt religiös empfänglidye, gebildete
Leer bieten dieſe Tagebudhblätter eine höchſt anregende, zur
Gelbitprüfung auffordernde und zu ernitem Nachdenken reizende
Lektüre. Aber auch Zweifelnde und Schwankende, aber ernitlich
nad) der Wahrheit Ringende werden in dem Buche vieles finden,
was ihnen zur Stärkung und Befeitigung dienen und zu ent
ichiedener Ueberzeugung verhelfen fann. Es ſei ihnen allen warm
empfohlen.
Einer der gepriejenjten, aber am wenigjten gefannten und
gelefenen Dichter des deutſchen Dlittelalters iſt Wolfram von
Eſchenbach. Das hat zum Theil darin jeinen Grund, daß ber
Inhalt von Wolfvams Hauptwerk, dem Parcival, den Intereſſen
der Gegenwart jehr fernliegt, andererjeitS in der vermwirrenden
Fülle der vom Dichter erzählten Abenteuer jowie der Unmaſſe
darin vorfommender fremdartiger Namen, endlid in der Dunfelheit
feiner Sprache. Allerdings ijt der Gegenwart die Sage vom
Parcival durd Wagners große Oper wieder näher gebracht worden,
aber wohl nur jehr wenige der Bewunderer diefer Mufik find durch
fie dazu veranlaßt worden den alten großen Dichter jelbjt genauer
fennenzulernen. Und in der That war das für Freunde der alt:
deutihen Poeſie, die nicht Fachmänner find, nicht ganz leicht.
Seitdem Lachmann durd jeine Fafjiihe Ausgabe der Dichtungen
Wolfram von Eſchenbachs ihr Verjtändniß erjt möglich gemacht
hat, jind freilid mehrere Ueberſetzungen erjchienen, aber fein
deutjcher Dichter des Dlittelalters jtellt der Uebertragung in unjere
heutige Sprache jo viel Schwierigfeiten entgegen als Wolfram
durch die Gedrängtheit jeines Stiles und den Tieffinn feiner nicht
jogleid) erfaßbaren Gedanken; jo find gleich über den Eingang
des PBarcival viele Abhandlungen und Kommentare gejchrieben
worden. Simrod, der unermüdliche Vermittler der altdeutichen
Didtung für unjere Zeit, hat auch Wolframs Parcival übertragen
und erläutert, man fann aber nicht jagen, daß dieſe Ueberjegung
zu den gelungenen Arbeiten des verdienten Mannes gehört; fie
Litteräriſche Streiflichter. 205
ift ziemlich fteif und fchwerfällig und manchmal der Ausdrud fo
dunkel, daß man ihn ohne Hinzuziehung des Originals nicht ver:
ftehen fann. Von San Marte, der ſich ein langes Leben hindurd)
mit Wolfram von Eſchenbach beichäftigt hat, giebt es eine Ueber—
feßung, die freier und veritändlicher it als die Simrockſche, aber
er umgeht dafür nicht felten die Schwierigfeiten und ſchwächt den
energiichen Ausdrud des Originals ab. G. Boettcher hat eine
allerdings nicht ganz vollitändige, im Uebrigen aber vortreffliche
Mebertragung des Parcival geliefert, leider ohne Feithaltung des
Reimes, der doch bei einer Dichtung zu ihrem Wejen gehört.
Yept hat nun ein Dann, der jelbit Dichter ift, eine neue Ueber—
tragung des großen Dichterwerfes unternommen, fie iſt unter
dem Titel: Barcival von Wolfram von Eſchenbach, neu
bearbeitet von Wilhelm Hersg*) erichienen. W. Herb, als
Dichter, Germanift und Sagenforicher befannt, hat ſchon als
meijterhafter Ueberjeger durd feine Uebertragung von Gottfried
von Straßburgs Epos „Triſtan und Iſolde“ allgemeine Aner:
fennung erlangt; es it das eine wahrhaft bemundernswürdige
Neudichtung. Nun hat er ſich daſſelbe Verdienjt um Molframs
PBarcival erworben. In der vorliegenden Webertragung hat fich
Hertz jelbjtändiger und freier dem Driginal gegenüber verhalten
als bei Gottfried, er hat es vielfach gekürzt, namentlih in ben
erjten Theilen, hat viele von Wolfram erzählte Abenteuer ganz
mweggelaiten, andere jehr zulammengedrängt, viele Abjchweifungen
bejeitigt, an nicht wenigen Stellen die Erzählung zufammengezogen,
kurz Wolframs Werk in einer der Gegenwart zulagenden Weiſe
bearbeitet. Daß bei einem ſolchen Verfahren jubjektive Anſchauung
ein weiterer Spielraum eingeräumt wird, ijt unverfennbar, aud)
ift W. Hertz nad) jeiner ganzen Geiftesrichtung weit mehr Gottfrieds
friicher und freier Lebensanfchauung kongenial als der erniten,
jtreng religiöjen Sinnesart Wolframs. Steht daher auch diejes
neue Ueberſetzungswerk Hertzs vielleiht dem früheren nicht ganz
gleich, ijt der jchwere Charakter von Wolframs Dichtung und Stil
in der Uebertragung wohl auch hie und da etwas abgeſchwächt,
fo iſt diefe Erneuerung doc eine vortreffliche Arbeit, die dem
modernen Leſer den Sejammteindrud der alten Dichtung wirklich
*) Stuttgart, Verlag der 3. G. Cottaſchen Buchhandlung Nachfolger.
6 M. 50 Pf. *
206 Litterärifche Streiflichter.
vermittelt, es ift eben eine wahrhaft dichteriiche Mebertragung, die
ſich wie ein Original liejt, allerdings dem Lejer feine rechte Vor—
ftelung von der Dunfelheit des Molframichen Stiles giebt.
Jedenfalls läßt Hertzs Ueberſetzung alle früheren weit hinter fich
zurüd. Zum Verjtändnik des großen Epos hat Hertz durch eine
vortreffliche Abhandlung über die Sage von Parcival und vom
Gral jomie durch Iehrreiche gediegene Anmerkungen nicht wenig
beigetragen. Man fann wohl hoffen, daß der größte Kunſtdichter
des deutichen Mittelalters, von dem die meilten Gebildeten nur
durh Die allerdings vorzügliche Anhaltsüberfiht in Wilmars
Litteraturgeihichte etwas willen, durh W. Hertzs Uebertragung
und Bearbeitung fünftig allen, die für echte und tiefe Poeſie
Sinn und Neigung haben, nicht mehr fremd bleiben wird.
Cinen höhere Aniprüche erhebenden hiltoriichen Roman hat
% 9. Löffler unter dem Titel: Martin Böpinger. Ein
Lebens: und Zeitbild aus dem 17. Rahrhundert*) geliefert.
Der Verfaſſer behandelt darin die Jugenderlebniſſe des aus Freytags
Bildern aus der Vergangenheit allgemein befannten fränfiichen
Pfarrers bis zu feiner Heirath und jeinem Eintritt ins Pfarramt.
Der Roman jrielt in den Jahren 1609-1627 und mill in An-
fnüpfung an die Schickſale und Erfahrungen des jungen Bötzinger
die damalige Zeit überhaupt Schildern. Der Verfaſſer iſt, das
erfennt man leicht, ein Sohn des fränfiichen Thüringens, er
zeichnet Land und Leute mit großer Anschaulichfeit und marmer
Liebe. Er hat jich auch in die von ihm geichilderte Zeit vertieft
und giebt dem Leſer mandjes anziehende Bild aus dem damaligen
Bürgerleben, er jchreibt endlich friih und lebendig. Aber als
Ganzes befriedigt das Buch doch nicht. Vor allem es iſt zu
gebehnt, der Verfaſſer verliert fich zu jehr in Abichweifungen und
in Details. Sodann ilt der Held nicht Mar und jcharf gezeichnet,
er iſt eine ſtets refleftirende unentichiedene Natur, die oft hin und
her ſchwankt, jo namentlih in jeiner Liebe zu Sufanna, dem
Edelfräulein, und dann wieder zu Urfula Böhm von Heldburg.
Dazu äußert er Anichauungen, Stimmungen und Gedanfen, mie
ſie den Dienichen jener Zeit völlig fremd waren und das it der
zweite Hauptmangel des Buches, daß jene rauhe und wilde Zeit
*) Leipzig, Fr. Wild. Grunom. 2 Bände, geb. 19 M.
Sitterärifche Streiflichter. 207
zu gemüthlih und abgeſchwächt in Löfflers Darftellung erfcheint.
Auch an manderlei Unmwahricheintichleit in Situationen und Be-
gebenheiten fehlt es nicht. So wird geichildert, wie der Schüler
Böginger nad) Würzburg zu dem grimmigen Feinde des Brote:
ftantisınus, dem Biſchof Echter fommt und mit ihm ein Geipräd)
über die firhlihen Gegenläge führt. Das iſt ſchon an und für
fih jo unmahrscheinlid wie möglich, was Toll man aber dazu
jagen, wenn Bößinger dem Bilchof erklärt: die freie Forſchung in
der Bibel, die Gemiliensfreiheit und die Mannigfaltigfeit im
Reiche der Geijter jind die Stärke des Proteftantismus! Das ilt
doch mahrlich ganz wie ein Theologe des 19. Jahrh. geiprocen.
Noch ein Beilpiel ganz modernen Ausdruds jei angeführt. Böhinger
ruft einmal aus: ich kann mich hier nicht ausempfinden, das
wirft einem jungen Menjchen jener rauhen Zeit in den Mund
gelegt geradezu komiſch. Auch der wiederholt vortommende „Gott
der Ferien“ muthet jehr modern an. ©. Freytag iſt von ver:
hängnikvollem, durchaus nicht günitigem Einfluß auf die Dar:
jtelung des Verfaſſers geweſen. Schon das im erjten Theile
immer wiederkehrende Motiv des Suchens nad) einem verloren
gegangenen jeltenen alten Buche des Aeneas Sylvius erinnert
doch gar zu fehr an die verlorene Handſchrift. Die Einmiſchung
märchenhafter Züge in die ſonſt ganz realiſtiſche Daritellung
entipricht ebenfalls ganz Freytags Vorgang, fo die hier ungebührlic)
oft mwiederfehrende Unterhaltung des Eulenvaters mit jeiner Familie
oder die Dorjtellung einer großen jchwarzen Fledermaus, Die
Bößinger über jeinem Kopfe zu ſpüren meint und die ihn ängitigt.
Auch in der Form erinnert manches an Freytag. Viel ſympathiſcher
ald Martin ift jein wilder Jugendgeipiele Hans, deſſen Mutter
alö Here verbrannt wird. Die Nebenperjonen: der Superintendent,
der Metzger Dertlein, der Amtsichöffe Andreas Gög, der Jäger:
meijter von Edhold find überhaupt viel anziehender und ſym—
pathiicher, auch ſchärfer gezeichnet als der eigentliche Held. Eine
wunderbare Rolle jpielt in dem Buche die lahme Magd Elia von
Gompertshaufen, die Pflegemutter des Hand; fie ericheint als Die
irdiihe Vorjehung, Die immer zur rechten Zeit ſich einjtellt, wenn
die Verhältniſſe unlösbar verwidelt jind, um alles wieder in
Ordnung zu bringen und alles beugt ſich ihrer Autorität. Warum
Hans, der aus ehrenvollem Kriegsdienite mit jeiner jungen Gattin
208 Litteräriſche Streiflichter.
Suſanna heimkehrt, meuchlings erſchoſſen und in dem Pfarrhaufe
feines Jugendfreundes fterben muß, iſt unverjtändlich, es jei denn
um durch den Kontrait das ruhige Glück des Pfarrers deſtomehr
hervortreten zu laſſen; das wäre denn aber dod) etwas zu grauſam.
Man kann Yofflers Bud) mehr als ein, wenn aud nicht vollig
richtiges Zeitbild, denn als ein echt dichterifches Werk bezeichnen.
Leſenswerth aber iſt es immerhin und troß der hervorgehobenen
Mängel gehört es zu den beſſeren Produften dieſer Art. Die
Ausftattung des Buches iſt ganz vorzüglich, die Verlagshandlung
zeichnet fich in diejer Beziehung jehr vortheilhaft vor den aller-
meilten ihrer Kollegen aus.
H. D.
* *
*
Bei der Redaktion der „Balt. Mon.“ ſind ferner nachſtehende Schriften
zur Beſprechung eingegangen:
Otto Kämmel, Der Werdegang des deutſchen Volkes. II. Band.
Leipzig, Fr. W. Grunow.
Heinrich Frhr. Zangmwerth von Simmern. Aus meinem Leben.
2 Bde. Berlin, B. Behr's Berlag (E. Bod).
Anton Schlofiar, Briefmechlel zwiſchen Erzherzog Johann Baptiit
und Anton Graf Profeid-Often. Stuttgart, Adolf Bonz & Ko.
Im PBolenaufruhr 18461848. Aus den Papieren eines Land»
ratbs. Gotha, Friedrich Andreas Perthes.
3. Deco, Erinnerungen eines Japaners. Stuttgart, Streder u. Moier.
8. Weber, Die Wiffenichaften und Künfte der Gegenwart. Gütersloh,
C. Bertelämann.
Adolf Hafenclever, Aus Geſchichte und Aunit des Chriſtenthums.
Berlin, Schwetichfe u. Sohn.
Tiftor Schweizer, Ludolf Wienbarg, Beiträge zu einer jungdeutichen
Aeſthetik. Leipzig, Conit. Wild.
—
die Kaijerlihe Finländiihe dekonomiſche Sozietät,
1897 — 1898,
H. von ———
Zum Oktober 20./1. November v. J. iſt die Feſtſchrift
„K. Finska Hushallningsſällſkapet 1797—1897” von
Guſtav Cygnäus (Abo 1897, VIII und 472 ©.) erſchienen.
Allein Schon die hiftorische Bedeutung des Werfes müßte es an-
gezeigt ericheinen laſſen, weitere Kreife mit ihm befannt zu machen.
Ganz bejonderes Intereſſe aber bietet es dem Bewohner bes
ſüdlichen Nahbarlandes; der vom Verfaſſer aufgerollte bijtorijche
Hintergrund, von dem fi) die bejonderen Umjtände der Stiftung
der Gefellichaft, ihr Statut und ihre Wirfjamfeit während der
DOrganifirungszeit lebensvoll abheben, — alles das veranlaft
gemwichtige und lehrreiche Vergleihung: unter wie andersartigen
Präzedenzen und Imftänden und mit wie ungleihem Erfolge hat
fih im J. 1792—1796 die Stiftung der K. Livländiichen Gemein:
nüßigen und Oekonomiſchen Sozietät vollzogen! In wie ver:
fchiedenem Grade haben die beiden Gefellichaften auf die Gejchide
ihres Landes einzumwirfen vermocht!
Im Vorworte berichtet der Verfaller, Lektor am Lyzeum zu
Abo, daß die Gefellichaft ihm, nad) Bewilligung eines namhaften
Beitrages zu den Drudkoften der Feſtſchrift und nad Feititellung
ihres Programmes in allgemeinen Zügen, — bezw. ihres Umfanges
1
210 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät.
— volle Freiheit in Benugung ihres Archivs gewährt habe, fo
daß allein er, der Verfafler, ſowohl für die Form als auch für
den Anhalt der Schrift, die Verantwortung trage.!)
Das nadjitehende Referat wird fi) mit thunlicher Konzifion
und möglichiter Vollftändigkeit den Ausführungen des Berfaflers
eng anſchließen. An die Vergleichsthatfachen foll in befonderen
Anmerkungen erinnert werden, und zum Scluffe foll ein Anhang
allgemeine vergleichende Betrachtungen bringen.
I. Schwedens öfonomifhe Entwidelung während ber
Freiheitszeit.*)
Die meiften Länder Europas waren zu Beginn des 18.
Jahrhunderts von verheerenden Kriegen heimgefucht worden. Die
Staatsfaffen waren geleert, und vermehrter Steuerdrud belajtete
die dezimirten Bevölferungen, deren Kapital und Arbeit fi von
Gewerbe und Handel zurüdgezogen hatten. Für die Regierungen
lag bei Wiederkehr des Friedens die zwingende Nöthigung vor,
dem NReichshaushalte aufzuhelfen; und zu dieſem Zwecke werden
der Großinduſtrie durch traditionelle Maßregeln genau einzuhaltende
Bahnen vorgefchrieben. Die wirthichaftlichen Beftrebungen erwarben
lich einflußreiche Bundesgenoffen auf dem Gebiete der willen:
Ichaftlihen Forſchung, welche bisher ihre eigenen Wege gegangen
war. Die Mathematif und die aufblühenden Naturwiſſenſchaften
widmeten fi mit Vorliebe praktischen Arbeiten, und daran fnüpften
fich bald nationalöfonomische Unterfuchungen, aus welchen der Drang
nad) Gewerbefreiheit hervorgegangen ift. Gleichzeitig machte fich
das Beltreben geltend, den Unterricdhtsanftalten eine praftifche
Richtung zu verleihen; Zeitungen und populäre Schriften wett:
eiferten, in der Mutterfprache Kenntniffe in die weiteſten Kreiſe
zu verbreiten. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts waren
bei Behandlung von Neichshaushalt- Fragen „Aufklärung und
Freiheit” zu Schlagworten geworden.
Diefe Charakteriftif des 18. Jahrhunderts gilt auch für
Schweden und Finland, welche fih, namentlih nah Karls KU.
*) Mit diefem Namen pflegt die Epoche vom Tode Karla XII. bis zum
Regierungsantritte Guſtavs III. bezeichnet zu werden, während welcher Schweden
eine, abmwechielnd von den Parteien der „Düte und Müten“ regierte, Adels»
republif darjtellte.
Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 211
Kriegen in beforglicher Lage befanden.) Die Periode der Arbeit
für die Aufridhtung des Schmwedenreiches aus dem Verfalle wird
in der politiihen Gefchichte gewöhnlich die „Freiheitszeit” genannt,
hat aber auch den fat ebenfo oft gebrauchten Namen der „wirth:
Ichaftlichen Epoche” gefunden. Der Hiftorifer Lagerbring bezeugt:
die Liebe zur Defonomie habe ſich über das ganze Land verbreitet
und durch dieſes Stedenpferd ſei das Volk zu Haushältern geworden,
wenigitens in Worten, wenn auch nicht in Thaten. Die damals
geltenden Geſetze über Zolihug, Zunftzwang und ©emwerbe-
beichränfungen waren unter den Präoffupationen der Regierung
Karls XII. faft obfolet geworden; aber jobald die von den Kriegen
geichlagenen Wunden zu heilen begannen, wurde auch wieder die
Einfuhr fremder Waaren, weil die Kapitalfraft des Landes be-
drohend, für gefährlich angefehen. Eine günftige Hanbdelsbilanz
zu bewirken, — das ward zur Hauptſache für die Staatsfunft.
Die fi zwar befämpfenden leitenden Parteien der „Hüte“ und
der „Müpen” waren doch, wenigftens Anfangs, darin einig, daß
nit nur die öffentliche, ſondern aud) die private Defonomie unter
Vormundichaft geftellt werden müfje. Demgemäß wurde dem Ver:
mögen ber Privaten, ihre wirthichaftlichen Intereſſen ſelbſt zu regeln,
wenig Vertrauen geſchenkt. Davon zeugen die ſchon 1723 erlaffenen
und lange geltend bleibenden Regeln für Handel und Schiffahrt,
das „Produftplafat” v. 3. 1724 und das 1725 erlalfene Verbot,
welches den Schiffen unterfagte, andere als Produfte des eigenen
Landes oder feiner eigenen Kolonien einzuführen — mas alles
indeffen in Mißwachsjahren in Fortfall kommen mußte. Im
Jahre 1727 nimmt fi der Reichstag der Fabrifinduftrie an,
gewährt ihr Geldunterftügungen und Zollſchutz: die Prinzipien des
Merkantilismus werden für einige Zeit herrſchend. 1739 wird
ein „Manufaktur-Kontor“ eingefegt und mit reichlichen Mitteln
ausgeftattet; 1747 wird unter Mitwirfung von Hüttenbefigern ein
befonderes „Eiſen-Kontor“ gebildet, zur Förderung der Eifeninduftrie.
Den Gouverneuren der Provinzen wird wiederholt eingejchärft, fie
mögen vor Allem den Fortichritt der Landesöfonomie im Auge
haben, und zu dem Zwede die Einfuhr fremder Waaren hindern
und das Fortjchreiten des Lurus im Gebrauce fremder Produkte
hemmen, wobei freilich geftattet wird, fich in einheimischen Sammet
zu Heiden. 1726 wird nicht nur die Getreideeinfuhr, — auch
212 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät.
der Branntweinbrand verboten. Der Zunftzwang wird auf davon
bisher frei gewejene Gewerbe, 3. B. auf den Gartenbau und auf
den Handel, ausgedehnt: als Bedingung für felbjtändigen Betrieb
werden überall Lern- und Ausbildungsjahre gefordert. Die An:
fammlung der Induftrie an gewiſſen Orten wird begünftigt; Die
Kleininduftrie und das Hausgewerbe werden vernadjläffigt, in
manchen Fällen fogar direft verhindert: fo 3. B. wird im Jahre
1748 verboten, gefaufte Wolle im Haufe und für eigenen Bedarf
zu verarbeiten, was freilich als undurchführbar ſchon im %. 1749
widerrufen ward.)
Zufolge der, jedes friedliche Wirken veradhtenden, Kriegszeiten
war der Aderbau dermaßen in Verfall gerathen, daß zu Beginn
der Freiheitszeit nur ein Drittel bes vormals benußten Bodens
unterm Pfluge Stand. Die Aderarbeit galt fait für entehrend,
und nur wenige Befiger widmeten ihren Gütern einige Pflege.
Diefe waren zuallermeiit dermaßen vermahrloft, daß man in
Mißwachsjahren von feinem Felde zu jagen pflegte: „es fieht aus
wie ein Derrenader.” Manche weitfichtige Bejtrebungen patriotifcher
Männer (u. A. des Jonas Aljtrömer), den Nderbau zu heben,
Icheiterten an den ungünjtigen Aderbaugejegen, welche allgemeinen
Aufſchwung Hinderten; namentlich war es die Gemengelage und
die ſchmalen und langgeſtreckten Areale der Beligthümer, wodurch
Sruchtmwechlelwirthichaft unmöglih gemacht wurde. Durd die
einfeitig bevorzugte Induftrie wurden nicht nur die Kapitalien vom
Aderbau abgezogen, fondern auch die Arbeitsfräfte und die In—
telligenz. Anfangs bejchränfte fich die ftaatliche Unterftügung des
Aderbaues auf Gewährung von einem Abgaben: Freijahre bei Wieder:
aufnahme liegengelafjener Neder, und von Eteuerermäßigungen für
Neuland-Kulturen. Wenn die Gouverneure der Provinzen ange:
wiefen wurden, den Anbau von Lein, Hanf, Hopfen, Tabaf und
Farbefräutern zu begünftigen, fo geichah es nur, um ohne Jmport
aus dem Auslande den Fabrifen Rohſtoffe zu liefern.
Eine beginnende Sinnesänderung der Regierung zeigt ſich
in der Königlichen Verordnung vom 3. 1742, durch welche an-
geordnet wird, in jedem Kirchipiele eine ökonomiſche Sozietät zu
bilden, damit auf deren Verfammlungen fundige Männer Gelegenheit
hätten," durch ihren Rath einzuwirken; auch jolle alles Beachtens—
werthe dem Gouverneur der Provinz gemeldet werden. a, ber
Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 213
Reichstag d. J. 1747 machte den — unbeftätigt gebliebenen —
Vorihlag: je nad) der Ausdehnung ihrer Aecker und der Anzahl
der von ihnen gehaltenen Kühe und Schafe jollten den der:
bauern Titel verliehen werden, wie: Landwirth, Landmeijter,
Defonomierath, Landrath. Die Zolljäge wurden von den ein-
heimiſchen Getreidepreifen abhängig gemadt. Bankinftitute wurden
für alle Gewerbe, auch für den Aderbau, errichtet: die Negierung
wollte der Zentral-Geldverleiher fein, und der Hypothekenzins
wurde auf 4°/o ermäßigt — aber die Maßregel ftieß auf Schwierig:
feiten, namentlich hinfichtlich der weit abgelegenen Orte, und das
Hypothekenkapital blieb ein geringes.
Almählih machten fih in Schweden die Lehren der fran-
zöfiichen Phyſiokraten geltend. Yu ihren Gunjten hatte jchon im
3. 1744 der Gouverneur Anfarfrona in der Willenfchafts-
Akademie einen ausführlichen Vortrag gehalten, wonad) den Manu—
fafturen, dem Handel und der Schiffahrt um jo mehr aufgeholfen
wird, je mehr die Landwirthichaft gefördert wird. Der lange und
eifrig fortgeführte Streit über den Vorzug der Gewerbe endigte
damit, daß die Ebenbürtigfeit der Landwirthſchaft und ihr Anſpruch
auf öffentliche Fürforge allgemein anerfannt wurden. Nun ge
wannen auc die Klagen über die Mipftände, welche dieſes
Gewerbe niederhielten, Ausfiht auf Beadhtung —, namentlid) die
Klagen über die engherzigen und jtrengen Gejeße, welche die
ländlichen Dienjtverhältnijje vegelten, und über die Gemengelage
der ländlichen Befigthümer, jowie über deren Unzertheilbarfeit.
Ein Gejeg vom 9. 1723 hatte die Marimalzahl der bäuerlichen
Arbeitskräfte — des Wirthes, feiner arbeitsfähigen Stinder, der
Knechte und Mägde — normirt; ein anderes v. J. 1738 hatte
dem Wirthen, außer dem zuläffigen Dienftvolfe, nur zwei arbeits:
fühige Kinder, einen Sohn und eine Tochter, zugejtanden. Ein
anderes Gejep hatte die Anlegung von Knechtsanjiedelungen, die
Anjepung von Badjtübern, d. h. von Käthnern ohne Landwirthſchaft,
überhaupt jede Zerjpaltung der „Heimathen” unterjagt, und Die
Zertheilung der geſchloſſenen Dorfihaften in jelbjtändige Wirth:
Ihaftsfomplere unmöglihd gemadt. Die Aufhebung aller dieſer
Verbote, des einen nach dem anderen, ward durchgeſetzt. Schließlich
wurde auf dem Neichstage d. J. 1756 aud) „Storsfiftet” beſchloſſen,
d. h. die Großtheilung, die ganz allgemein durdyzuführende Be—
214 Die Kaiferl. Zinländ. Dekon. Sozietät.
jeitigung der Gemengelage, die allgemeine Arrondirung der Liegen:
ihaften. Sofort zeigte fih ein empfindlicher Mangel an Land-
mejlern und es hat lange gedauert, bis die Maßregel durchgeführt
werden fonnte.*)
Die nächte Folge dieſer wohlthätigen Maßregeln war ein
großer Aufihiwung in Einführung der Wechjehvirthichaft, im Anbau
von Klee und Timothygras, von Schoten: und Wurzelgewächſen,
ſowie in Ausführung von Ent: und Bewällerungen. Schon um
1750 wurde in Süd-Dalarne die „wilde“ Viehweide gänzlich) aus-
geſchloſſen und nur Aderweide benugt. Bereits im Jahre 1747
lehrte der Defonomieprofellor Berch: „Damit der Aderbau
Gewinn bringe ... müſſe der Boden bejtochen werden” — nämlich)
durch reichliche Viehhaltung ꝛc. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts
werden von der Xitteratur ſchon viele von der Naturforichung
gefundene Hilfsmittel dem Aderbaue angerathen, wie aus C. E.
Bergftrand: „Einige Züge aus der Geſchichte des ſchwediſchen
Aderbaues“ (1896) zu erjehen ijt.?)
Die Erfahrung hatte gelehrt, daß blühende Induſtrie ſich
nicht Fünftlih ſchaffen laſſe. Dazu famen die Parteiverhältniffe.
Der „Hüte“ übertriebener Merkantilismus hatte den Widerſpruch
der „Mügen” hervorgerufen. Der Neichstag v. I. 1765 gewährte
dem Landmanne die Freiheit, jeine Produfte im Neiche zu ver-
äußern, wo es ihm beliebe. Dem Bauer ward die Freizügigfeit
aus einem Län in ein anderes gewährt: „er jolle in den Reiche:
grenzen jedem erlaubten Gewerbe nachgehen Fönnen nad) feiner
eigenen größten Bequemlichkeit.“ Gleichzeitig trat Linderung des
Zunftzwanges ein und das Stapelredht, d. 5. die Gewährung des
Rechtes zum Außenhandel, wurde vielen Orten, die es nicht
bejejlen hatten, verliehen; und i. %. 1766 wurde dem Landmanne
gejtattet, zum Abjage feiner Produfte Seefahrt zu betreiben. Aus
den Verordnungen und Vorjchriften der Behörden klingt in jener
Zeit ein Ton hervor, welcher den Mittelweg zwiichen Unterweifung,
Kath und Befehl einzuhalten ſucht. In einer Publifation v. J.
1739 über nügliche Einridtung der Handwerfe, des Handels und
der Fiſcherei appellirt die Negierung an die „bisher bewiejene
Vaterlandsliebe und Treue (trohet) der Städte ...“ Am An:
Ihluffe an des Philoſophen Anders Rydelius (7 1738) Anfidt:
die Wiſſenſchaften feien allzulanne nur theoretiich und zu wenig
Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 215
praftifch betrieben worden, haben nun die Verfaſſer willenfchaftlicher
Werke fih auf ökonomiſche Fragen eingelaffen, wie z. B. ber
Botaniker Linn, der Chemiker Vallerius. Der leptere bezeichnet
den Ackerbau als „aller übrigen Induſtrien Dlutter, welche geradezu
neid: und lijtfrei Gewinnjte abwirft.“
Unter den derzeitigen Schriftitellern ijt bejonders zu nennen
Anders Badmanfjon, 1743 unter dem Namen Nordencrang
geabelt (7 1772), der in öfonomilchen Fragen auf bie öffentliche
Meinung großen Einfluß ausgeübt hat; dem Neichstage d. J.
1756 haben nicht weniger als fünf feiner Schriften gegen die
Sewerbebejchränfungen und die ftaatliche Bevormundung vorgelegen.
As Bahnbreder und als „Stammpvater der Lehre von der
ſchwediſchen Gewerbefreiheit” gilt indeſſen Aſſeſſor und Seerath
Johan Rifing (F 1672). MNordencrang war es erlaubt, feinen
Sedanfen gewagtefte Prägnanz zu verleihen; er fagt u. U:
„Durd den Mißbrauch des Zunftzwanges werden die Menjchen
zu Ejeln gemadt, welche nur langjam vorwärts ſtreben.“ „Eine
Negierung darf die Menſchen nicht wie Holz behandeln.” „Nach
dem Beilpiel gewiſſer Verordnungen könnte zu bejtimmen verfucht
werden, welde Zahl von Kindern man haben dürfe.” „So gut,
als man der Induſtrie Privilegien ertheilt, kann vorgejchrieben
werden, wie Waſſer, Luft und Feuer zu benußen jeien.” In
Allem zeigt ih der Einfluß der franzöjiihen Phyfiofraten oder
economistes, welde lehrten: das Individuum müſſe das Necht
haben, nad) eigenem Verſtändniß durch jeine Arbeit ſich des Lebens
Genuß zu verfchaffen,; der Staat habe ihm nur Sicherheit des
Eigenthums und Freiheit im Erwerben durch Arbeit zu gewähren.
BZahlreihe Schriften, nicht in Latein, jondern in der Mutterſprache,
verbreiteten dieje Lehren und fanden Eingang. Ortsbeichreibungen
mit Angabe der natürlichen Beichaffenheiten und Hilfsquellen waren
üblich) geworden (nad) Johann Fagott's Programm v. 3.1741).
Jüngere Männer der Wiljenjchaft führten Forſchungsreiſen aus
mit ökonomiſchem Programm. 1741 ward in Upjala ein befonderer
Lehrjtuhl für Delonomie errichtet und zuerjt von Anders Berch
verwaltet, der zahlreiche einichlägige Arbeiten, namentlih zur
Förderung des Aderbaues, verfaßte und, der damaligen Zeit:
rihtung entjprechend, verlangte, daß im Sculplane für den
Landmann Lehrjahre und die Ausführung eines Meijterjtüdes
216 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät.
vorgejehen würden. Für die praftiihe Richtung der damaligen
Wiſſenſchaft iſt bezeichnend, daß im Jahre 1748 die ſchwediſche
Wijlenichaftsafademie zu ihrem Mitgliede ernannte die 24-jährige
Frau Gräfin Eva Efeblad, geborene De la Gardie, „wegen
ihrer bejonderen Begabung zu Verfuhen, welche dem Haushalte
dienen” — nämlich Verjuche im Brodbaden und GSeifefieden!
Befonders angelegentlid wibmen fi den öfonomijchen
Intereſſen während der Freiheitszeit die Medizin und die Statijtif.
Die Kriege Karls XII. hatten die Bolfsmenge erheblid vermindert,
und ihr Zuwachs blieb ein geringer in Folge jchädlicher Seuchen,
namentlid) der Boden, woher großer Arbeitermangel ſich geltend
mad)te. Die Defonomieihule nahm ſich daher der Geſundheits—
pflege an und förderte die Ausübung der ärztlichen Kunſt. Auch
den Viehjeuchen wurde Aufmerkſamkeit gewidmet. Verordnungen
werden erlallen, welde das Heirathen beeinfluſſen. Leuten, welche
ledig bleiben wollen, wird die Erlaubniß zu Liegenſchaftstheilungen
verjagt. Der Vater von vier Kindern wird von perjönliden Ab—
gaben befreit. Verheirathete werden nicht zum Militärdienfte,
nod) zu den Jahresübungen herangezogen. Die Wirkung Diejer
Diabregeln iſt indeſſen feine auffällige gewejen. Die Wifjenichafts:
afademie bringt i. J. 1747 Bevölferungsftatijtit (Volkszählung) in
Vorſchlag und v. J. 1749 beginnt das bezügliche Tabellenwert,
zum Erjage der jchon 1721 eingeforderten Predigerberichte, weiche
ih) oft mit recht apofryphen Fragen bejchäftigt hatten. Die
während der Freiheitszeit ſchon ganz reiche Zeitjchriftenlitteratur
hatte fi) mit Vorliebe der Defonomie und der Haushalt-Verſuche
angenommen; für dieſe Gegenitände wird ſeit 1760 ein bejonderes
Organ: die „nland“-Zeitung, herausgegeben. Die Verbreitung
praftiiher Kenntnijje geſchah auch durch die Kalender, denen ſchon
im 3. 1707 verboten worden war, Prophezeiungen irgend welcher
Art zu bringen. Auch die Romane der Zeit find mit ökonomiſchen
Betrachtungen angefüllt. So wird 3. B. dem Roman „Roloffs
Handlungen” von der Nezenfion nachgerühmt, daß er „ſchöne Ab-
handlungen und Gedanken” enthalte über vorliegende Fragen,
wie; das Gedeihen des Handels, Abjag von Produkten des
Aderbaues und der Handarbeit. (Nehnlihe Tendenz verfolgt
Ipäter Zſchocke's „Goldmaderdorf.“) Auch die proteftioniftifche
Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 217
Grabmal-Borfie Jacob Freje’s vom Jahre 1729 verdient hier
erwähnt zu werden.
Nicht mit Unrecht ift Schwedens Freiheitszeit feine „ökonomiſche
Epodye” genannt worden: die Zeit war reich an Anregungen und
Vorſchlägen,“) welche übrigens viel jpäter Frucht getragen haben,
außer auf den erwähnten Gebieten auch in Anlegung von
Kirchipiels-Vorrathsmagazinen, in Errihtung von Feuerwehren,
in ber privaten Mitwirkung bei Anlage von Verfehrswegen, in
Verjuchen zu holziparenden und feuerfiheren Bauten, in Förderung
der Fiſcherei u. j. w.
ll. Finlands ökonomische Entwidelung in der
Sreiheitszeit.
Im Allgemeinen, jedod mit manchen Ungleichheiten, ijt Die
öfonomifche Entwidelung Finlands den Spuren Schwedens gefolgt.
Trog ihrer Zentralifirungs: und Gleihmadungstendenzen hat die
Neichsregierung ſich doc, genöthigt gejehen, auf Finlands, durch
den „großen Krieg“ äußerjt verarmten, Zuftand mande Rüdjicht
zu nehmen. In Folge der häufigen Mißernten und der Leiden
durch den „kleinen Krieg” find manche Anordnungen jpeziell zur
Schonung Finlands erlajfen worden. Nach dem Frieden von
Nyitadt wurden die Steuerrüdjtände erlaſſen und Freijahre gewährt.
Den Bebauern von Sronsländereien waren jchon früher Erleid):
terungen binfichtlih der Grundjteuer-Ablöjung zugejtanden worden.
Eine Verordnung v. %. 1726 hatte fürs ganze Reich bejtimmt,
daß die Grundjteuer-Ablöjung mittels Erlegung der jechsfachen
Jahresjteuer ftattfinden dürfe. Vom Jahre 1741 ab genügte dazu
in Finland die dreifache Jahresfteuer. In Ausnahmefällen galt
Finland als bejonderer Zollbezirt. So durften nad dem Kriege
von 1741—1743 die von Djten eingeführten Waaren in Finland
verfauft, nicht aber ins übrige Schweden importirt werden, und
1744 ward die Einfuhr von Getreide, Pferden, Nindvieh, Lein-
und Hanfjaat für Finland gänzlicd freigegeben. Dabei aber gab
es manden Anlaß zu berechtigten Klagen über Finlands Zurüd:-
ſetzung; gar zu wenigen Orten Finlands war „Stapelfreiheit”“
d. h. die Beredhtigung zum Außenhandel, verliehen worden, und
an den reichlihen Anſchlägen zur Manufakturförderung partizipirte
Finland in gar zu bejcheidenem Maße, und diejelbe geichah zumeijt
218 Die Kaiferl. Finländ. Oekon. Sozietät.
durd) private Initiative. Indeſſen ift doch Einiges zur Förderung
der Lein- und Wollipinnereien geihehen: Familienweile wurden
dazu Arbeiter aus dem Auslande bezogen; jedes Län durfte je
einen Dann und eine Frau zur Ausbildung an die jchwedijche
Spinnereifhule zu Wadſtena entjenden.”) Wenn aber in Süd—
und in Weſt Finland die bäuerliche Leinwandfabrifation ganz
erheblichen Flor erlangte, jo ift es ganz unabhängig von Reichs—
unterjtügung gejchehen.
Zu Beginn der Freiheitszeit find wiederholt Kommilfionen
eingejegt worden mit der Aufgabe, Finlands Lage und Bedürfnijle
ju prüfen und Vorjchläge zu jeiner Förderung zu machen; fie
haben mande beachtenswerthe Erwägungen zu Tage gefördert,
find aber im Ganzen ohne Erfolg geblieben. Dem Reichstage
find vielfach allgemeine und private Klagen über Finlands Be:
dürfniife übergeben worden.) Am wicdhtigjten unter ihnen ijt das
1741 vom Lagman Johann Ehrenmalm eingereichte Diemorial,
worin nachgewiejen wird, daß Finlands Aufſchwung vornehmlid)
durch feinen Vollsmangel behindert werde; er betonte außerdem
die Nothiwendigfeit von Verkehrswegen, von Kirchipiels-Borraths-
magazinen, von Werbejjerung der Waldpflege und des Jugend-
unterrihts; ein ferneres Memorial hat Chrenmalm als Gou—
verneur von Abo dem Kanzler und Delonomieprofeilor der dortigen
Univerfität übergeben. In den Jahren 1746 und 1747 hat die
Finländiſche Neicdhstagsdeputation eindringlich die Einjegung eines
Generalgouverneurs zur Förderung der wirthſchaftlichen Intereſſen
des Landes verlangt. Im Jahre 1747 ward denn aud) Diejes
Amt geihaffen, und der damit betraute Graf v. Roſen erhielt den
bejtimmten Auftrag, Mahregeln zur Vermehrung des Bevölferungs-
zuwachſes, zur Verbefjerung der Waldpflege, zur Vermehrung der
Waſſerwege u. |. w. zu ergreifen; auch hatte er für Verftärfung
der Grenzbefeſtigungen zu forgen.
Seit den 1740-er Jahren macht fid in Finland vermehrte
Sorge für den jo wichtigen Yandanbau geltend, und als erjte
Bedingung dazu wird die Chartirung des Landes und eine zweck—
mäßigere Befigvertheilung erfannt. Im Jahre 1744 wird es von
der Finländiſchen Defonomiefommiljion für unerläßlih erflärt,
das Land zu vermeſſen und zur Charte zu bringen, jo daß man
über feine anbauwürdigen Areale, feine Moore und Wälder eine
Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 219
Meberficht erhalte: erſt dann werde paſſendes Sfiftet (i. e. Austauſch
und Zufammenlegung zur Arrondirung) ftattfinden können. Dieje
Anſchauung wurde namentlih von Johann Faggot unterjtügt,
der 1747 Oberdirektor des Landmefler-Kontors wurde. Die
Neichstagsdeputation der Jahre 1746 und 1747 ſchloß ſich der
Anſicht an, dab durch die Neueinmellung (skiftet) jede Liegenſchaft
geichlojjene Grenzen erhalten, und daß damit in Dejterbotten, wo
es am nothwendigiten jei, angefangen werden ſolle. Im Jahre
1756 wurde der Vorjchlag von den Ständen genehmigt und zu
jeiner Ausführung, und für äbnlide Zwede, eine beiondere
Deputation niedergeſetzt. Danad) follten jeder Liegenjchaft be-
jtimmte reale von jeder Bodengattung zugetheilt und ber
Ueberſchuß als Kronsland ausgejchieden und zu Neuanfiedelungen
rejervirt werden. Zum Schluß der Freiheitszeit waren allein in
Defterbotten 1000 Neuanfiedelungen entjtanden; Storsfiftet, d. i.
die General:Neueinmeflung, war dort raſch vorgejchritten, das
Dedland Hatte abgenommen und die Bolfszahl hatte jich erheblid)
vermehrt. In den anderen Theilen Finlands nahın die Operation
langjameren Fortgang, hauptiählihd wegen Mangels an Land-
meſſern. Inzwiſchen waren aud, zu des Aderbaues merflichen
Nugen, neue Land: und Wafjerwege angelegt und Seeabzapfungen
ausgeführt worden.
Im öjtlihen Theile Finlands war der Aderbau zumeift
mittels Rodungen (svedar) betrieben worden, und an den Küſten
war das Küttisbrennen allgemein. Der eigentliche Aderbau wurde
entweder in Dreifelderwirthichaft (mit Brade, Sommer: und
Herbjtjaat) oder in Zweifelderwirthichaft (mit Brache und Sommer:
oder Herbitjaat) betrieben. (Wie in Schweden, jo war auch in
Sinland, außer in Nyland, der Kartoffelanbau ganz gering.) Nun
wird die Moorbeaderung in Dejterbotten allgemeiner, wo fie i. J.
1661 durch den Pfarrer Iſak Brenner zu Storfyro zuerſt ein-
geführt worden war. An Stelle der älteren Brenn-Vorkulturen
treten nun andere Methoden, u. U. jeit 1760 die „Miſchkultur“
(mittels Zehmaufführen), weldhe 1759 durch Johan David Kneif
beichrieben worden war in einer vom Manufakturkontor der Reichs:
ftände herausgegebenen Schrift. Auch die Wiejenverbejferung wird
nun fräftig betrieben, zum Theil auch bejjere Viehhaltung und
vollflommenere Meiereiwirthſchaft. So wird z. B. feit 1750 in
220 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät.
Hoittis und Punfalaitio eine Art Parmeſankäſe hergeftellt und
der Aland-Käſe wird als Lederbijjen erwähnt. Auch Frudtbaum:
gärten werden, zuerjt auf einigen großen Herrenhöfen in Süd—
Finland, angelegt, ſpäter aud in Dejterbotten. Mehrere der jept
allgemein vorfommenden Gewächſe find während der Yreiheitszeit
eingeführt worden, 3. B. die zu Baubholzerijparung ala Heden-
pflanzen benugten Zyrenen 1728 in Abo, 1744 der fibirifche
Erbjenbaum, caragana arborescens. Die zu Schluß der
Freiheitszeit in Finland ſehr merflihe Steigerung des Boden:
werthes ift wohl zum Theil auf die durch Finanzkriſen verurjachte
Geldentwerthung zurüdzuführen.
Bedeutjamer noch, als die vorjtehend erwähnten Thatjachen,
durch welche der öfonomiihe Aufſchwung Finlands eingeleitet
worden, iſt für jeine Geſchicke das Auftreten und die Wirkſamkeit
einer ganzen Reihe von Männern geweſen, welche während der
Freiheitszeit auf dem litteräriihen Gebiete das Streben fürs
Gedeihen des engeren WVaterlandes in nod heute unvergebner
Weiſe gewedt haben, — Männer, unter denen vornehmlich zu
nennen find: Anders und Samuel Chydenius, Brovallius,
Mennander, Kalm, Waftröm, Kraftman, Gadd, Lede,
Haartman, Högmann, Galonius, Hajt, Stenius, Aspe:
gren, Ervaſt und aud ſchon Borthan. Die Wirkjamfeit diejer
Männer ift um jo anerfennenswerther, als es damals in Finland
feine einzige Zeitung gab, noch eine Buchhändlerfirma, welche der
Verbreitung der heimischen Geijtesprodufte hätte dienen können,
und daher für alle auf Finland bezügliden Publikationen ein
Spradrohr in Schweden gejucht werden mußte, jei es daß als
jolhes dienten die „Verhandlungen der Wiſſenſchaftsakademie,“
jei es die „Inlandzeitung“ oder andere Organe. Bemerfenswerth
it, daß Die meijten der genannten Männer gerade dem, bisher
in öfonomijchen Dingen in mander Weije zurückgeſetzten, Oeſter—
botten entjtammten. Der Zwed der vorliegenden vergleichenden
Studie bringt es mit fi, daß auf die Bedeutung der Genannten,
wenn auch nur flüchtig, eingegangen werde.
Vor allen Uebrigen ragt hervor Anders Chydenius, zuerjt
Kapellan in Nedervetil, dann Pfarrer in Gamlafarleby. Aus:
gejtattet mit umfaljender Kenntniß der lokalen Bedürfniſſe, hat
er alle Einwendungen, melde gegen jeine Vorſchläge gemacht
Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 221
wurden, niederwerfen können. Cingeleitet hat Ch. feine fchrift-
ftelleriihe Thätigfeit durch die preisgekrönte Beantwortung zweier
1762 und 1763 von der Wiſſenſchaftsakademie aufgeitellten Preis—
fragen. Faft gleichzeitig erjchien von ihm eine größere Arbeit
über die Frage der Akademie: „Die Urfachen der Auswanderung
aus dem Lande?” Dieſe Arbeit ift zwar nicht durch einen Preis
ausgezeichnet worden; aber fie erregte großes Aufſehen, als fie
1765 in Stodholm im Drud erichien, wo Ch. als Reichstags:
deputirter des Priejterftandes aufgetreten war. Die Urjadhen der
Auswanderung erblidt der Verfaſſer in den durch verjchiedene
BZuftände den Einwohnern bereitete Schwierigkeit, ihr Auskommen
zu fuchen und zu finden. „Die Freiheit, — jagt er — zu welcher
der Menjch geboren, wird von Jedem gefucht. Findet er fie nicht
zu Haufe, fo fucht er fie anderswo zu genießen.” Sein Hauptziel
war bie Aufhebung aller, die Gewerbe fchädigenden Schranfen,
welche vor Allem des Aderbaues Entwidelung hemmten; außerdem
beitritt er Die Untheilbarfeit der Liegenschaften, die Unficherheit
der Beligrechte, wies er auf die Mängel der Verkehrswege, auf
das Verbot beliebigen Produftenablages hin, ſowie auf die Verbote,
welche den Bauer hinderten, mehr als eine bejtimmte Anzahl von
Perſonen zu beichäftigen, Neuanfiedler anzulegen, oder Landknechte
oder Käßner und Einlieger. Er tadelte die Zunftverordnungen,
mwelhe der Entwidelung der Handarbeit entgegeniwirften, bie
Handelsbeihränfungen, die Privilegien, welche den Landanfauf
hinderten; er zeigte, wie des Volkes Freiheit durch mehrere andere
Vebeljtände leide: durch die Unficherheit des Geldweſens, die
Langſamkeit der Nechtspflege, vor allem aber durch den auf den
Federn und auf der Preſſe laltenden VBernunftzwang. Noch andere
Schriften verfaßte Eh. im J. 1765, welche die Gemüther erregten
und beren Gedanken lebhaft disfutirt wurden. Als Glied der
Fiſchereikommiſſion hatte er den größten Antheil an dem 1766
erlaffenen Fiichereigelege, welches noch heute als das bejte aller
bisher aufgeftellten gilt (U. W. Ljungmann: „Das dfonomilche
Gefellichaftsleben” II, 225). Am bemerfenswertheiten ift eine
Schrift, welche auf Kojten des Kirchipiels Hamlafarleby gedrudt
und an die Reichstagsmitglieder vertheilt wurde, und worin ber
Kampf für die Stapelfreiheit der Städte des Bottnifchen Buſens
eröffnet wird. Finlands öfonomijche Verwaltung — heißt es dort
222 Die Kaiſerl. Finländ. Delon. Sozietät.
— Scheine aus einer eigenthümlichen VBertheidigungspolitif hervor-
zugehen. „Ye mehr Finland einer arabiichen Wüjte und einer
MWildmarf gleicht, um fo weniger regt es freilich die Begehrlichkeit
des Nachbarn an; aber um jo fchwerer wird es dem Lande, aus
der eigenen Kraft ödegelegter Gebiete, feine berechtigten Grenzen
zu vertheidigen.“ In Folge dieſer ebenfo lebhaften wie Flaren
Ausführungen faßte 1765 der Neichstag einen freifinnigen Beichluß,
der für Finland wichtiger geworden ift, als für das übrige Neid).
Chydenius’ Einfluß war groß auch durch das von ihm perjönlich
gegebene Beilpiel: fteinige Berge baute er an, Moore trodnete er
aus, Obftgärten legte er an, taugliche öfonomiihe Bauten führte
er auf. Selbſt mit der medizinischen Praxis befaßte er ſich:
erfolgreich hat er Mugenoperationen ausgeführt, und namentlid)
die Pockenimpfung unter den Bauern verbreitet. Keinen größeren
und bedeutenderen Schriftiteller, als den Pfarrer Anders Chydenius,
hat es auf dem öfonomijchen Gebiete mwährend der reiheitszeit
gegeben.
Mährend des „großen Krieges” war die Univerfität Abo
faft geiperrt, jedenfalls für die Wiſſenſchaft ruinirt. Auch fpäter
war ihr gelehrtes Anfehen nicht groß. Gelegentlicd eines Beſuches
in Abo berichtet noch 1759 Gjörmwall: „die Univerfität verfällt
täglih.“ Um fo bemerfenswerther ift es, daß einigen ihrer
Profeiloren gelungen iſt, nicht nur durch eigene Zeitungen auf
dem öfonomifchen Gebiete ſich hervorzuthun, fondern auch das
afademiiche Leben bafür zu intereffiren. Das ijt namentlich
Johann Brovallius gelungen (Phyſikprofeſſor 1738—1746,
7 1755). Er it in Finland Bahnbrecher geworden für die An:
wendung der Naturwillenichaften zu praftiihen Zweden, und iſt
hervorragend geweſen als populärer Schriftiteller. Unter feinem
Vorfige ift die erſte „Disputation“ über ein rein öfonomijches
Thema auf der Nboer Univerfität abgehalten worden. Die Dis-
putationsfchrift war noch lateiniih abgefaßt, aber im Verfafler
meint man einen gemwiegten Kaufmann vor fich zu haben. Zwei
Jahre fpäter präfidirt er einer ähnlichen Disputation in Tavaftland,
fowie einer anderen über die Bedeutung von Forſchungsreiſen im
eigenen Zande zum Sammeln von Kenntnilfen über dejjen natürliche
Verhältniffe, Verkehrswege u. |. w.“ Mehrfach hat er die Noth:
wendigfeit einer Unterrichtsreform in praftiichem und realem Sinne
Die Kaiſerl. Finländ. Defon. Sozietät. 223
betont. Als fein Nachfolger hat 1746—1752 gewirkt Phyfif-
profeffor Karl Friedrich Mennander, geitorben 1786 als
Erzbifchof zu Upfala. Er hat einige „Disputationen” öfonomijchen
Inhalts in lateinischer Sprache verfaßt, die fpäter ins Schwediſche
überjegt worden find. Bezeichnend für feine Auffaſſung iſt feine
Eintheilung der Naturmiffenichaften in „zehrende und nährende.”
Unter den zahlreichen von ihm präfidirten öfonomilchen „Dis:
putationen” ijt diejenige von Nic. Waſtröm über den gegen-
wärtigen (1747) Zujtand von Abo, abgejehen von ihrem inneren
Werthe, auch dadurch hervorragend, daß zuerft fie in ſchwediſcher
Sprache abgefaßt worden. Unter den Magifter-Promotionsichriften
war zuerft 1748 in ſchwediſcher Sprache abgefaht diejenige von
Johann Kraftmann „über Fabriken, in Sonderheit ſolche, die
Geſpinnſte und Gewebe hervorbringen, und die man mit Vortheil,
zu anfehnlicher Förderung des Nderbaues, in unferem Baterlande
errichten fann.” Unter den zahlreichen Beiträgen, die Mennander
zu den Verhandlungen der Wiſſenſchaftsakademie lieferte, iſt fein
1769 veröffentlichter Aufſatz: „Zuwachs der Volkszahl im Stift
Abo feit 30 Jahren“ zu erwähnen, weil es der erite Verſuch ift,
aus der 1721 begonnenen Bevölkerungsſtatiſtik wiſſenſchaftliche
Schlüffe abzuleiten. Auf feinem Landgute in der Nähe von Abo
legte Mennander einen großen Objtgarten an. Im Jahre 1747
erhielt die Univerfität Abo ihren erften Defonomieprofeilor in der
Perſon des Petrus Kalm, auf Linnes Empfehlung. Derfelbe
trat im Jahre 1753 feine Lehrthätigfeit an nad einer großen
Forſchungsreiſe in Amerika. Cine feiner erjten Thätigfeiten bejtand
in der Anlage eines botanischen Gartens für die Univerfität,
welcher bis zum Jahre 1827 bejtanden hat, ſowie zweier „Plan:
tagen.” Manche der Verfuche haben zwar negative Reſultate
ergeben, andere aber find von der Nachwelt nicht genug beachtet
worden, und „es erwedt ein bitteres Gefühl“ jagt Otto Hjelt
in feinem Buche: „Das Naturgefchichtsitudium auf der Univerfität
Abo” — „daß die Folgezeit es verfäumt hat, diefe Arbeiten fort:
zuſetzen“ — Kalm hielt VBorlefungen über Aderbau, Garten:,
Wieſen- und Waldwirthichaft, Fabriken, Handel und Zivilarditeftur.
Seine 1846, zumeift ſchwediſch verfaßten, Disputationsichriften
behandeln fait ausschließlich öfonomishe Fragen, namentlid General:
umtheilung (storskiftet), Kirchſpielsvorrathsmagazine u. ſ. w. Aud)
224 Die Kaifer!. Finländ. Dekon. Sozietät.
bat er zu den Verhandlungen der Wiffenichaftsafademie zahlreiche
Beiträge geliefert. Es mag nicht verichwiegen werden, daß
Kalm’s feite Weberzeugung von der Ausgiebigkeit der Natur:
ausftattung Finlands ihn aud zu mandem Worfchlag verleitet
hat, der ... Beiterfeit veranlaßt. Cine ähnliche Auffaſſung findet
fih bei Peter Adrian Gadd, der 1758 als ertraordinärer Pro:
feffor für Delonomie und Chemie und 1761 als ordentlicher
Profeffor für legteres Fach angejtellt wurde. Im Jahre 1755
hatte er auf Staatsfoften eine Reife durch Südfinland ausgeführt
zur Auffindung von Farbe-Gewädhlen und offizinellen Pflanzen,
und ward darauf in Abo angeftellt zur Wervolllommnung der
Salpeterfiedereien und der Schafzuchten. Im Jahre 1762 hat er
als Plantagedireftor eine Inſtruktion herausgegeben zum Anbau
von Färberwaid, Hanf, Lein, Rhabarber und Käüchengewächſen.
Eine Reihe bezügliher Schriften von ihm find 1763—1778 auf
Staatsfoften gedrudt und gratis vertheilt worden. Im Jahre
1768 erſchien ein von ihm in finnischer Sprache verfahtes Lehrbuch
über Gartenbau. Seine Disputationsfchriften, mehr als hundert
an Zahl, behandeln die midtigiten ökonomiſchen Gegenftände.
Vielleiht am bedeutfamiten ift feine 1761 —1764 in Abo erjchienene
Schrift: „Die chemiſchen Grundlagen des Aderbaues.” Gadd ift
Mitarbeiter geweſen an ber bereits ermähnten, von Anders
Chydenius gelieferten, Arbeit über die Auswanderung. In feiner
1772 erjchienenen Schrift: „Ueber den Zufammenhang und die
gegenfeitige Mitwirkung ber Gewerbe” vertritt Gadd den Gap:
daß fein Gewerbe auf den Nachtheil eines anderen fi ftüßen
dürfe. Außer dieſen vier Profefloren, die jämmtlih Mitglieder
der ſchwediſchen Wilfenfchaftsafademie waren, find noch zu nennen:
Samuel Chydenius, des Anders älterer Bruder, als verdienter
oberfter Leiter der finländiichen Gtromreinigungen; Johann
Kraftmann, Rektor der Schule in Björneborg und praftifcher
Aderbauer, als ökonomiſcher Schriftiteller, u. A. als Verfaſſer der
1761 herausgegebenen Schrift: „Gedanken über die Ohnmadt, in
welcher der finländifche Landmann fich befindet,“ worin das Röden
(svedjandet) befämpft und Moorkultur ſowie Einrichtung von
Scäfereien und Meiereien empfohlen wird; er gehörte zu den
Erjten, die Zuchtitiere aus Holland einführten. Ferner David
Erif Högmann wegen jeiner Schrift: „Beförderung der Defonomie
Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 225
durch Unterweifung der Schuljugend in den nüglichen Wiffenfchaften
(1753); auch Johann Leche, Profeſſor der Medizin, wegen
feiner Schrift: „Unterricht im Pflanzen wilder Bäume und Büſche“
(1764). Wie jehr an der Univerfität zu Abo das Intereſſe für
die Defonomie gewadhjen war, ift auch daraus zu erfehen, daß
der ſpäter fo berühmte Juriſt Matthias Calonius ſeit den
1760:er Jahren „über den ökonomiſchen Nutzen der Gewächſe“
gelefen hat. Ermwähnenswerth find auch die praktischen Arbeiten
auf dem medizinischen Gebiete, wie Diejenigen von 9. Spöring
(feine 1737 ebdirte Schrift über Vodenimpfung); des Wrofejlors
der Medizin Johann Haartman (1750 die erite Ausgabe
feines berühmten Lehrbuches, und ſeine Schriften über die Vieh:
feuchen, wovon eine finnijche Ueberjegung erſchienen iſt). Der erſte
an der Univerfität Abo gegründete Stipendienfonds von Efeftuba
(1745) war bejtimmt für Studenten der Defonomie. Vom Jahre
1750 ab find verichiedene Unternehmungen zum Zwede der
Geſundheitspflege zu erwähnen; neue Arztitellen werden gegründet;
früher als in Schweden, wird in Finland jchon i. J. 1755 bie
Podenimpfung offiziell eingeführt (des Anders Chydenius Cr:
mahnung zur Podenimpfung v. J. 1761). Dem Provinzialarzte
B. NR. Hajt in Waſa wurden im 9. 1762 von der Regierung
zwölf Thaler Kupfermünze für jedes glüdlid) geimpfte Bauerfind
zugejichert.
Während die Univerfität aljo wirkte, griffen auch in der
Regel die Gouverneure der Provinzen von Dienjtwegen ein, um
die Zeitideen zu fördern. Manche der gelehrten Vorjchläge erwiejen
fih als undurchführbar, aber andere wurden durd die Schüler
der Univerjität ins praftiiche Leben eingeführt, und trugen jchöne
Früchte. Bejonders haben ſich darin die Pfarrer hervorgethan.
Schon im 9. 1750 war feftgefegt worden, daß fünftig, wer fein
Zeugniß über Kenntnilfe in Dekonomie, Phyfit und Chemie vorzu—
weifen habe, nicht als ‘Pfarrer angejtellt werden ſolle. Durch eine
Disputation Kalm’s vom Jahre 1757 wird dahin gewirkt, dab
die Predigtamtsfandidaten in Naturgeſchichte und Aderbaulehre
eraminirt werden follten. it das aud in der Folge nicht jtreng
eingehalten worden, jo hat es doch unzweifelhaft beigetragen, dem
Delonomie-Stubium einen gewiſſen Vorzug zu gewähren und ben
Studenten beftimmte Interejjen fürs Leben beizubringen. Rher
226 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät.
auch mag es fich nicht felten herichreiben, daß in den Predigten
jener Zeit praftiihe Haushaltungsfragen berührt worden find.
Unter den Pfarrern, welche in den Verfammlungen ihrer Gemeinden
die materiellen Fortichritte förderten, verdienen die folgenden
befonders genannt zu werden. Jacob Stenius, Pfarrer zu
Pielisjärvi (vom Jahre 1740 bis zu feinem 1766 erfolgten Tode)
war unermüdlih thätig für den Anbau von Mooren und ver:
öffentlichte im J. 1772 eine Schrift darüber. (Bei der befonderen
Bodenfonfiguration Finlands fann die Michtigfeit diejer Agitation
garnicht überfchägt werden.) Gabriel Aspegren, Pfarrer in
Pedersöre (von 1764 bis 7 1784) ift von ber Regierung und
von der Defonomiichen Gefellihaft (se. Schwedens) durch reife
ausgezeichnet worden wegen feiner Verdienſte in der Galpeter:
gewinnung, im Fördern der Steinbauten und im Ziegelbrande.
Eein Obftgarten zählt zu den allernördlichiten des Landes. Die
Erbauungsichriften nahmen oft Bezug auf die Wirthichaftsführung,
wie 3. B. die im %. 1738 herausgegebene Schrift: „Gewiſſens—
prüfung infonderheit für den Haushälterjtand.” Die Errichtung
des „Tabellenwerfes,” in welchem die Priejterichaft Angaben nicht
nur über die Bevölferungsbewegung fondern auch über öfonomifch
wichtige Ereigniffe zu machen Hatte, hat ihre Mitglieder nicht wenig
zu öfonomijchen Beobachtungen angeleitet.”)
Damals wurde in der öfonomilchen Litteratur im Ganzen
noch jelten von der finnischen Sprache Gebrauch gemacht. Zuweilen
ließ die Regierung Aufſätze belehrenden Inhaltes überfegen, z. B.
über den Nutzen des Kartoffelbaues. Auf Verlangen bes Gou—
verneurs und mit Genehmigung des Collegium medieum über:
jeßte Lilljenberg 1756 eine Schrift: „Ueber die Wartung der
Heinen Kinder” ins Finnische. Die finnischen Ueberſetzungen von
Gadd's Lehrbuch über Obftbaumzucht und Haartman’s Abhandlung
über Viehſeuchen wurden bereits erwähnt. Im Jahre 1770 wurde
eine andere finnilche Schrift über Wiehjeuchen herausgegeben. Es
erfolgten zuweilen obrigfeitliche Befehle, gewiſſe Arbeiten im
Finnischen herauszugeben, aber fie fcheinen nicht immer gebührend
beachtet worden zu fein. So wird z. B. im J. 1748 durch
föniglichen Brief dem Kanzleifolleg befohlen, von Afen’s „Haus-
und Landapothefe” eine finnifche Ueberſetzung zu veranftalten;
diefe Neberfegung aber ift nie erfchienen. Zur Freiheitszeit wurden
Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 227
die wichtigeren Verordnungen auch finniſch publizirt; doch fcheint
die Auswahl eine willfürliche geweſen zu fein. (freilich ift Pipping's
Verzeichniß der finnischen Echriften, worauf dieſes Urtheil fich
gründet, nicht ganz vollftändig.) Ein Neihstagsihluß v. 3. 1769
will den gemeinen Mann Finlands anhalten, alle ihn angehenden
föoniglihen Verordnungen ins Finnische überfegen zu laſſen, mas
aber, wegen Geldmangels, von der Reichstagsrejolution verweigert
wird. Ungefähr gleichzeitig ward aber feſtgeſetzt, daß alle Ver:
ordnungen, welche ſich auf Neuhöfe, Landfnechte und Anfiedler
beziehen, von der Kanzel finnilch verlefen werden follten. Indeſſen
fand fih in den, in Schweden herausgegebenen, Kalendern eine
große Zahl Finnisch verfaßter ökonomiſcher Aufſätze; aber deren
Sprade war garzufehr vernachläſſigt und durch Drudfehler entjtellt.
Im eriten finnifchen Kalender v. J. 1726 ift die Auslaffung von
Metterprophezeiungen entichuldigt, zugleich aber angegeben worden,
wie man auf natürlicher Grundlage zumeilen das Wetter vorher:
beftimmen fonne. Won in finniicher Sprache in dieſer Periode
erfchienenen Auflägen find zu nennen: 1723 „Ueber Milchfühe
und ihre Wartung”; 1727 „Rathichläge zur Verbefferung des
Aderbaues“; 1730 „Nüglicher Rath zur Förderung des Getreide:
baues.“ Darauf find in langer Jahresfolge, bis 1749, da Die
Herausgabe der Kalender von der Willenichaftsafademie über:
nommen murbe, hiftoriiche Aufläge gefolgt; dann „Wiſſenswerthes
über Ackerbau und Viehzucht“; 1750 ... „Das Pflanzen, Die
Benugung und Verwertung der Kartoffeln.” Alsdann ohne
Unterlaß ökonomische Aufläge in finnischer Sprade: 1753 „Webers
Vorfommen von Nachtfröften,” 1754 „Verwendung der Kartoffeln
zu Brod, Branntwein, Stärfe und Puder”; „Trodenlegung von
Sumpfwieſen“; 1755 „Wiejenbau und Entwäjlerung”; 1757 „Harz—
bereitung”; 1760 „Ueber gute Milchfühe”; 1761 „Ueber Weizen:
bau”; 1763 „Mittel gegen den Kornwurm“; 1764 „Schub der
Kinder gegen die Boden”; 1765 „Ueber Gejundheitspflege”; 1766
„Weber MWaldanbau”; 1767 „Weber die Saatzeit” und „Ueber den
Anbau des Himmelsforns”; 1768 „Ueber Verbeilerung des Erd:
reiches“; 1769— 1775 „Ueber Lein- und Hanfbau“.'®)
Während der Freiheitszeit lernten Finlands Bewohner beſſer
als vorher den Werth; der friedlichen Arbeit ſchätzen; und durch
nähere Bekanntſchaft mit den natürlichen Veranlagungen der Heimath
228 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät.
ihre Hilfsquellen bejler wahrzunehmen. Nicht felten wurden dieſe
[egteren überſchätzt, namentlich von der akademiſchen Beredjamfeit.
1749 hielt Profeſſor Mennander, in Anlaß der Geburt des Prinzen
Friedrich Adolf eine Nede, in welcher u. A. gefagt wurde: „Da
wir unjer Land genau zu betrachten begannen, da erwies fich fein
Boden als reich und fruchtbar, und feine Bewohner als geſund
und fräftig, — aber bettelarm. Hinfichtlid ihrer Defonomie war
das Ausland der Heimat Vormund. Nachdem mir dieſe Vor:
mundſchaft abgefchüttelt haben, ift in allen Gewerbezweigen Auf:
blühen erfolgt, und die MWiffenichaft hat fich immer mehr ben
Bedürfniffen angepaßt.“ Als Profeflor Gadd im 9. 1752 im
Namen der Univerfität den König Adolf Friedrih in Abo begrüßte,
ipradh er feine Ueberzeugung aus: Finland werde ſich jehr bald
an Reihthum vergleichen können mit — Holland! Eine ähnlich
zuverfichtliche und lichte Auffaffung glänzt häufig in den öfonomijchen
Abhandlungen jener Zeit. Diefes Vertrauen auf die Zukunft trug
dazu bei, in Zeiten von Viehſeuchen und Hungersnöthen, melde
zufammen mit anderen unfeligen Verhältniſſen eine raſche Ent-
widelung binderten, im Lande den Muth aufredht zu erhalten.
Andererfeits wird in den offiziellen Verordnungen vorgehalten,
daß von den Nbfichten der Regierung die erhofften Refultate nicht
erzielt worden jeien, und in den Memorialen der Neichstagsmänner
findet fi gewöhnlich eine andere Sprade als im Munde der
afademifchen Schönredner. Aus jenen ging hervor, wieviel noch)
zu thun übrig geblieben, um nur den allerdringendften Bedürfniffen
zu genügen, und wie groß die Schwierigfeiten jeien, dem Fort:
Ichritte Bahn zu brechen. Inzwiſchen lernte man es, daß Arbeit
und Selbithilfe die mwichtigiten Bedingungen für den Fortichritt
feien. Es ward zur vorherrichenden Meinung, daß Finlands in
vieler Beziehung ungleichartige Verhältniffe befonders beachtet zu
werben verdienten, was auch von der Regierung eingejehen wurbe;
und für die leitenden Männer wurde es zu einer unerläßlichen
Pflicht, jeder in feiner Provinz auf die Mittel bedacht zu fein,
wie ihr Auffhwung zu bewirken jei. Im Gegenfage zum Ver:
halten während der Anfangszeit der ‘Periode, wurde es nun zu
ihrem Scluffe von den angefiedelten (indelta) Soldaten nicht
mehr als eine Verunehrung angejehen, bei Stromreinigungen und
Neukultur-Unternefmungen mitzuhelfen. Den Arbeitern auf Dem
Die Kailerl. Finländ. Delon. Sozietät. 229
geiftigen Gebiete war es zu einer Glaubensregel geworden, mas
der Verfaſſer der Verſe zur Magifterpromotion d. J. 1769 von
der Wiſſenſchaft jagte: „Ja freilich, fie ift die Grundlage aller
Freude und trägt in ihrem Schoß den Stoff zu unſerm Wohl.”
Diejes Wort zielte unverfennbar auf den Kernpunft der Lebens:
philofophie der Freiheitszeit: auf das VBeftreben, in einladender,
angenehmer Art zu dem Nüslichen Hinzuführen — utile dulei!
Um die Mitbürger zu nüßlicher Arbeit zu erziehen, war die
Wiſſenſchaft gleichjam die höchſte Aufgabe der Gefellihaft und
des Staates — eine Auffaſſung, die auch in fpäterer Zeit fort-
gewirkt hat, wenn auch unter veränderten Verhältniſſen. Der
Verfaffer der foeben angeführten Berszeilen war der, von den
Zeitgenofjen der Freiheitsepoche aufgezogene, während der folgenden
Periode von Finlands Aufihwung-Geidichte fo bedeutungsvoll ein-
greifende, Henrik Gabriel Borthan.'?)
Il. Schmedens öfonomijhe Entwidelung während der
Jahre 1772—1800.
Die Guſtavianiſche Periode hatte von der Freiheitszeit gar
manche Verordnungen geerbt, die geeignet geweſen waren, Die
öfonomijche VBorwärtsbewegung zu befördern, aber auch jolde
Verhältniſſe, welche fie behindern mußten: durchs Erperimentiren
nad) verjchiedenen Richtungen waren namentlid) die Geldverhältniffe
jeritört worden. Da ift es nun als ein Berdienft Guſtavs III.
und jeiner Rathgeber anzuerkennen, durch die Münzrealifation
d. J. 1776 die Finanzen zurechtgeftellt zu haben. Schon im 3.
1773 war in Stodholm, zur Erleichterung des Geldumfages und
zur Förderung der Gewerbe, vornehmlich von Privatleuten, die
Disfontofompagnie gegründet worden; dieſe wurde nun von ber
Regierung geftügt. Dazu fam, daß Schwedens Neutralität während
des nordamerifanifchen Freiheitsfrieges auf feinen Handel und jeine
Seefahrt günftig einwirkte. Im I. 1787 wird mit Staatsmitteln
ein Generaldisfontfontor ausgeftattet, welches vorzugsweije Unter:
nehmungen zur Verbejjerung des Aderbaues zu unterjtügen hat;
1790 wird ihm gejtattet fünfprozentige Hypothefendarlehen zu
gewähren, wobei die von Friedrih II. im Jahre 1770 für Die
ſchleſiſchen Gutsbejiger gegründete erjte moderne Hypothekenbank
als Vorbild gedient haben mag.
230 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät.
Als Bewunderer alles Franzöfiihen ſchloß Guſtav IH. ſich
der Lehre der Phyliofraten an: der Landbau jei die einzige
wirkliche Erwerbsquelle. Wiewohl der 1772, bei Gelegenheit der
Krönung, geitiftete Waſa-Orden beftiimmt war, nit nur im
Aderbaue, jondern auch im Bergmwejen, in den Künjten und im
Handel, durd ihre Einfiht und ihren Nutzen Ausgezeichnete zu
belohnen, jo war doch der Gedanfengang jeines Statutes ein
durdaus phyfiofratiiher. Hierdurch und durd die verfehlten
Verfuhe der Freiheitszeit, - fünftlid eine Induſtrie zu jchaffen,
wurde Gujtav’s III. ökonomiſche Politif bejtimmt, in deren Durch—
führung er von feinem Finanziminifter, dem Grafen Liljencrang,
unterftügt wurde, welcher ſchon in der Freiheitszeit unter feinem
bürgerlihen Namen Bejterman als ökonomiſcher Schriftfteller
bemerft worden war. Phyſiokratiſch beeinflußt juchte Liljencrang
nun den Aderbau zu heben, vornehmlid mittel® Durchführung
des Sfifte (d. i. Arrondirungsumtheilung), aber aud) durd) Be:
fürderung der Neuanfiedelungen, durch Boden-Erwerbs: und Arrende-
Erleichterungen. Die Induſtrie ſuchte er einzujchränfen bis zur
Anpaſſung an des Neiches natürliche Verhältniſſe. Eifrig war er
im Anlegen neuer Städte, deren Eimwohnern gejtattet war, nad)
Willen und Können jede Art Gewerbe und Handel zu betreiben.
Seit dem Jahre 1773 find feine weiteren Unterjtüßungen an
Dianufakturen und Fabriken ausgereihht worden. Dem Manus
faftur: Fonds ward im J. 1779 ein neues Gtatut verliehen: in
der Regel durften nur Lein-, Woll:, Baumwoll- und Seiden;, aud)
Feinſchmiede-Fabriken unterjtügt werden; Ausnahmen davon fonnten
nur auf bejondere föniglide Genehmigung gemadt werden. Ein
bejonderer MWolldisfontfonds wurde im J. 1781 zur Unterjtügung
des Wollhandels errichtet, der Anfangs 25°, dann nur 15°/o
und vom Jahre 1786 ab nur 12°, Vorjchuß gab. Von 1784
ab gab es für die meilten Waaren feine Erportprämien mehr,
noch Prämien für Seide und Farbgewächſe. Wie in der Freiheits—
zeit dur) Bevormundungen, jo ward nun durch dieſe Maßregeln
Mißvergnügen unter den Gewerbeleuten erwedt. Im Jahre 1773
war jogar verboten worden Hausgebäd zu verfaufen, und nad)
dem Hinſcheiden der Königin-Wittwe ward den Händlern verboten,
einen Preisaufichlag auf ſchwarze Stoffe eintreten zu laſſen.
3u Guftavs III. Regierungsantritt war dev Getreidehandel
Die Kaiferl. Finländ. Oekon. Sozietät. 231
freigegeben worden. Die Jahre 1771 und 1772 hatten fchwere
Mikernten gebradt, und es ward ein Getreideausfuhrverbot
erlajfen, unter dejten Wirkung, nad) den guten Ernten der Jahre
1773 und 1774, ein empfindlides Fallen der Getreidepreile
eintrat; da ward 1774 die Getreideausfuhr wieder geitattet. Im
Sahre 1775 ward „verfuchsweile” Freihandel für Getreide, Mehl
und Kartoffeln fürs Neich inkluſive Finland, aber erfl. Bommern,
1780 aber ganz allgemein fürs ganze Neid geftattet. Später
wurde zweimal jährlich der Getreidezoll nad) den Preiſen des
Inlandes regulirt. Im Allgemeinen wurde größere Handelsfreibeit
gewährt und der Zunftzwang vermindert. Die Gefepgebung über
Branntweinbrennerei unterliegt mehrfachem Wecjel. Sie wurde
nad dem Mißwachſe des J. 1772 überhaupt ganz verboten, 1775
zum Staatsmonopol gemadt; im Jahre 1787, als darüber in
bäuerlichen Kreiſen Mifvergnügen ſich laut fundgethan hatte,
wurde der Branntweinbrand für häuslidde Zwecke wieder frei:
gegeben. 1786 wurden jtaatlihe Kornmagazine errichtet gegen
die jchwerften Folgen von Mißernten. 1790 erfolgte ein Gejeg
zur Förderung der Waldpflege und des Forftichuges.
Je mehr die politischen Freiheiten eingefchränft wurden, um
jo mehr wurden die öfonomijchen erweitert. Nachdem der Umfang
des ftaatlihen Bodenbefiges ſich vermindert hatte, wurde die Ueber—
tragung von Kronsländereien an Private zu vollem Eigenthum
erheblich gehindert. 1779 ward verfügt, daß jorgiame Bewirth:
Ichafter von Kronsgütern daran ein Beſitzrecht für 25 bis 30
Jahre erhalten follten. 1783 ward die in der Freiheitszeit an
Neuanfiedler für 15 Jahre gewährte Steuerfreiheit widerrufen.
Der vom Bauerftande im I. 1786 beantragte Widerruf der
Abgaben:Ablöfungsverordnung vom 3. 1723 war vom Neichstage
verworfen worden; aber unter dem Drude der Verhältniſſe
bewilligte der König doc im J. 1789 das Verlangen der Bauern.
Zugleid) wurde den Inhabern von jchagbarem, von der Krone
gefauftem, Lande dafjelbe unerjchütterliche Beſitzrecht zugeiprochen,
wie es den Beligern von Nittergütern zuſtand. Zur Sicherſtellung
der Bebauer von Kronsgrundjtücden follten fie, jo lange fie für
diefelben ordnungsgemäß Sorge trugen, fie und ihre Kinder,
unbehelligt darauf figen dürfen und ohne andere Rechtsbelaſtung,
als die durchs Abgaben:Ablöjungsgejeg vom %. 1723 bejtimmte.
232 Die Kaiferl. Finländ. Defon, Sozietät.
Durch gewiſſe Verordnungen wirkte der König darauf bin, daß
auch Unadelige Nittergüter erwerben fonnten. Im ſelben Jahre
ward dem gemeinen Manne in Schweden nnd Finland das Recht
gewährt, feine eigenen Produkte und die feiner Nachbarn überall
bin zu verführen und zu veräußern. Den Beligern von ſchatzbaren
Gütern wurde zugefichert, daß alle ihre Moor: und Unland-
Aufaderungen für ewige Zeiten frei von allen Abgaben bleiben
jollten, und der Gutsbefiger möge eine beliebige Anzahl von
Kindern und Knechten zur Arbeit verwenden. Durch alles das
wurde des Landmannes Arbeitslujt in hohem Grade belebt.
Daß Guftavs III. jpäteren Negierungsjahre in öfonomijcher
Hinfiht weniger glüdlih waren, beruhte einmal auf den Miß—
ernten der Jahre 1781— 1786, ſodann auf den darauf folgenden
friegerifchen Creigniffen. Als Liljenerang im Jahre 1786 das
Finanzminijterium quittirte, befand fih der Gtaatshaushalt in
weniger günjtiger Lage, als bei feinem Gejchäftsantritte im J.
1773. Bemerfenswerth ift, daß, wie auf dem ökonomiſchen Gebiete,
jo auch allmählih in der ſchönen Litteratur und in der Straf-
gejeßgebung der philanthropiihe Zug der Zeit fi) Geltung ver:
ihaffte. Dazu mögen die von den fchweren Nothjahren herbei-
geführten Leiden beigetragen haben; unverkennbar aber waren
Dabei aud) die Rouſſeauſchen Ideen, welche die franzöfiiche Revolution
mitverurfaht haben. Wie eifrig man auch unter Gujftavs 111.
Negierung, namentlich während deren erjtem Abſchnitte, der
öfonomischen Fragen fich angenommen hat, jo erlahmten doch in
Folge der politiichen Verhältniſſe die bezüglichen Diskuſſionen,
jobald fie die ſtaatlichen Intereifen berührten. Andererfeits trug
des Herrichers Vorliebe für litteräriihe Dinge dazu bei, das
Intereſſe für MWiffenichaftlichfeit und für praftiihe Abhandlungen
aufrecht zu erhalten. Oekonomiſche Arbeiten von bleibendem Werthe
erichienen ſowohl in Zeitichriften, deren Zahl merklich wuchs, wie
auch in bejonderen Schriften. Unter dieſen find bejonders
bemerfenswerth des Anders Chydenius Auffäße über die Berech—
tigung zum Handel mit Landgütern, und über die Verbefferung
der Lage der dienenden Klaſſen. Diefe Schriften zeigen, daß
Chydenius ih nicht von Theorien, fondern von dem MWuniche,
beobachteten Mißftänden abzuhelfen, leiten ließ. Im Gegenjage
zu den Phyfiofraten war er der Meinung: nicht die Natur fei Die
Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 233
einzige Produftivfraft, fondern nur diejenige Arbeit jei produftiv,
melde darauf ausgehe, „materiellen“ Bedürfniffen zu entſprechen.
Wie hoch Chydenius von jeinen Zeitgenoijen geihäßt wurde, geht
aus einem Briefe des Anders Schönberg hervor: feiner unferer
übrigen PBrojafchriftiteller gleiche ihm an Stärke und Feuer bes
Genies; ſelbſt den abgelegenjten Orten Finlands biete er geijtige
Nahrung; er befige Weltfenntniß und fei dadurch unvergleichlich.
Auf den Univerfitäten wurden fortgefegt öfonomische „Verſuche“
in Form von Disputationen veröffentlicht, während die rein
willenichaftlihen Studien in den Dintergrund traten. Die Schulen
geriethen in Verfall, jo daß es den Univerfitäten jchwer wurde,
die nöthige Zahl von Beamten und Predigern zu liefern, und zu
ihrer Förderung geichah wenig oder nichts; und ebenjo ſtand es
mit der Volksſchule. Die Wiffenichafts-Afademie fuhr fort, als
eine Art Aderbau:Hohichule zu fungiren. Von einer Privat:
perjon erhielt fie im J. 1773 eine Schenfung von 50,000 Silber:
thalern zu Prämien für Aderbau, Viehzucht und Hausinduftrie.
Wie aus zahlreichen Beilpielen zu erjehen, betrafen ihre Preis-
fragen zumeijt öfonomijche Dinge. In Göteburg wird im Jahre
1773 eine Afademie für Wiſſenſchaft und ſchöne Litteratur geftiftet
und dieſem Beijpiele folgen viele andere Gejellichaften. Eine
wirflihe öfonomijche Sozietät war im Jahre 1767 errichtet worden,
nämlih die „Patriotiſche Geſellſchaft,“ — urfprünglid als
eine heimliche DOrdensverjammlung, die aber beim Aufſtellen von
Breisfragen ihre Anonymität aufgeben mußte. Zuerſt ftand fie
in engem Zuſammenhange mit dem Orden „Bro Batria,“ mwelder
geitiftet worden war „zum Verbreiten von nützlichen Künjten und
zur NAufmunterung von Haushalt, Aderbau und Gewerbe.“ Die
beiden Gejellichaften trennten fih im Jahre 1772, und die „Pro
Patria“ wurde fait ausichlieglih zu einer Wohlthätigkeits—
Geſellſchaft; unter Guſtav III. hat fie kräftig mitgewirkt, die
Folgen der Mikernten zu mildern. Die Ziele der „PBatri-
otiihen Geſellſchaft“ waren weiter geitedt: ihre Preisfragen
galten jolden Gegenftänden, welde dem Handel, dem Aderbaue
und anderen Gewerben Nuten braten. Sie ermunterte Künitler
und fleißige Landwirthe. Ihre Mittel wurden durch die Nezeptions-
Abgaben aufgebradt. Ihre mit des Königs Bildniß geihmüdten
Medaillen wurden vergeben für Fleiß im Aderbau, für lange
234 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät.
und treue Dienſte, für nützliche Erfindungen in Ackerbau und
Gewerbe, für edle Thaten, für Preisfragen-Beantwortungen und
für andere verdienjtliche Einfendungen. In den Jahren 1770— 1782
gab fie ihre „Verhandlungen,“ 1776-1789 ihr „Haushalt:
Journal” heraus und 1790—1813 ihr „Neues Journal für
den Haushalt.” Seit Stiftung der ſchwediſchen Aderbauafademie
im Sabre 1811 veränderte fich theilweiſe die Wirkſamkeit der
Sejellichaft; ihr gegenmwärtiges Statut ſtammt aus dem J. 1830.
Nicht wenige ihrer Mitglieder waren in Finland zu Haufe.
Die jhon im Jahre 1746 geplanten und verordneten, aber
nur an wenigen Orten realifirten fommunalen Aderbaugejellihaften
wurden nun vom Kanzleirath Anders Schönberg mieder auf:
genommen, theils um die MWirthichaft zu fördern, theild um
politiichen Freunden Beſchäftigung und die Gelegenheit, ſich hervor:
zuthun, zu gewähren. Er wollte zu dem Zwede eine allgemeine
ökonomiſche Verſammlung im Gefleborg-Län veranjtalten, aber jein
‘Plan wurde verworfen, angeblid) weil dem Neichstage von 1775
ein bezüglicher Vorſchlag vorliege, in Wirklichfeit aber, weil
befürchtet wurde, ſolche Gejellichaften fönnten des Königs Abſichten
durchkreuzen und feinen Kompetenzen präjudizirlid; werden. Gtatt
dejjen wurde ein allgemeiner Befehl erlajjen über Erneuerung des
föniglihen Briefes vom Jahre 1742, wonad) vielerorts Fleinere
öfonomijche Gejellihaften eingerichtet werden jollten. Der Antrag
des Jahres 1776 betreffend die Einrichtung von öfonomijchen
Gejellihaften für ganze Läne oder Provinzen wurde vom König
nicht bejtätigt und damit waren auf längere Zeit öfonomijche
Gejellihaften für größere Gebiete unmöglich gemadt. (Ausnahme:
die im J. 1791 für Oottland gegründete Oekonom. Gej.)
Die Vormundidhaftsregierung 1792— 1796 it in ökonomiſchen
Dingen gleichbedeutend mit einem Stilljtande. Immerhin wirkte
Liljenerang als Präſident des Kommerzfollegs in freifinniger
Richtung. 1792 ward der Tabafimport erlaubt; 1784 wurden
alle Erport: und Wollprämien eingezogen; 1796 wurde auf Die
Klage wegen jchwierigen Abjages der Wollmaaren geantwortet:
man folle jie in derjelben Güte wie die ausländijchen herjtellen;
1793 wurden Klonjulate zur Förderung des Außenhandels errichtet;
im jelben Jahre ward ein ganz neues Waldgejeg erlajlen; 1797
und 1798 Verbote gegen Ausfuhr von Sparren und Spieren und
Die Kaiſerl. Finländ. Teflon. Sozietät. 235
gegen Verwendung von Bauholz zum Theerbrennen; 1794 eine
Vorordnung, die bejtimmend war, dem unter Guſtav III. überhand
genommenen Lurus zu jteuern.
Guſtav IV. Adolph, der 1796 zur Regierung gelangt war,
manifejtirte jeine Auffallung in den, auf dem im Jahre 1800
abgehaltenen Neichstage von Norrköping erlajjenen, „Punkten.“
„Das Uebergewicht des Neichshandels jolle zur Richtichnur dienen,
und demgemäß feien 1) aus dem Wuslande nur die unent-
behrlichiten Gegenftände zu beziehen, die daheim nicht geliefert
werden fünnen; 2) die MWaarenproduftion und -Veredelung jei
möglichit hoch zu erheben.” Zu dem Zwede wurden Einfuhrverbote
erlajjen und hohe Einfuhrzölle angeordnet und wurden zur An-
legung von Fabriken bedeutende Freiheiten gewährt. 1799 wurde
geftattet, überall Fabrifen zur Berjtellung von Woll- und anderen
Bekleidungsftoffen anzulegen; fontrafignirt war der Erlaß von dem
jpäter in öfonomifchen Dingen jo einflußreihen Staatsjefretär
Matthias Nofenblad; zugleid wurden für Erridtung von
mechanischen Spinnmajchinen bedeutende Vortheile in Ausficht
geitellt. Korn und Salz jollten hinfort aud) durch ausländijche
Sahrzeuge angebracht werden dürfen. Die Einfuhr von Eijen-
waaren aber ward unterjagt. Die 1787 angeordnete Zolltare
wurde 1799 durch eine neue erjegt. Maßregeln gegen den
Schleihhandel wurden ergriffen, und außer einer Konfursordnung
noch andere Negeln erlajjen zur Förderung des Handels und der
Schiffahrt. Bezeichnend für Guftav IV. Adolph's Sinnesart find
feine Worte bei Unterzeichnung der erjten gewichtigen öfonomifchen
Verordnung vom J. 1798 über Salpeterbereitung: jeine Regierung
jolle jelbftherrlich, aber in philanthropiichem Sinne, geführt werden...
Der unter Guftav Ill. auf die ökonomiſche Litteratur aus:
geübte Drud ward in den darauf folgenden Zeiten nicht gemildert,
jo daß es fein großes Jntereije bietet, darüber zu berichten. Eine
zu Anfang des Jahres 1796 in Stodholm veröffentlichte Bekannt:
madhung über das Erjcheinen einer neuen öfonomijchen Zeitichrift
jagt nit ohne Aerger (ekäl): „Unjere neuerdings erjcheinenden
periodiihen Schriften regaliren das Publikum gar jparjam mit
ſolchen Dingen, welche unjere Bedürfniſſe beſonders nahe angehen;
einen um jo größeren Vorrath bieten jie von Geſchichtchen,
Gedichten, Einfällen und Anekdoten.” Am bemerfenswerthejten
236 Die Katjerl. Finländ. Dekon. Sozistät.
war nocd die in den Jahren 1797—1801 vom Patrioten Georg
Adlerjparre herausgegebene: „Auswahl (läsning) aus ver:
jchiedenen Materien“; fie brachte u. N. eine Ueberſetzung von
Ad. Smithes „Nationalreihthum,” ferner Ueberjegungen aus
Hume’s Schriften und eine Wiedergabe von Rouffeau’s „Ab:
handlung über den Staatshaushalt,” — alles zur Bekämpfung
der merfantilen und phyfiofratiichen Einjeitigfeiten, und zur Hervor:
bebung der Lehre: Freihandel, freie Konkurrenz, menjchliche Arbeit,
das jeien die wahren Neichthumsquellen; und bHinfichtlih des
Aderbaues jolle die Regierung fih auf Herjtellung günftiger
Bedingungen für freie Wirkſamkeit bejchränfen, wie 3. B. guter
Belegenheit zum Erwerben theoretiicher und praftiicher Kenntniſſe
im Gewerbe, guter Verkehrswege, zweckmäßiger Befigumtheilungen
u. ſ. w. Bei Hofe galt Adlerſparre als ein Nabulift und feine
Zeitichrift wurde jpottend „Auswahl aus brennbaren Materien”
genannt. Die Zeitjichrift brachte Beſchwerden über Belaftung des
Aderbaues durch MWegebau und Schiekeftellung; fie wirkte dahin,
daß alles Kronsland zu Privatbejig aufgelaſſen werde; daß der
Aderbauer zum uneingeſchränkten Boden-Eigenthümer werde; daß
zwifchen dem Bauer und dem Knechte ein bejleres Verhältniß
hergejtellt werde; fie brachte Unterweifungen in der Fruchtwechſel—
wirthichaft, im Aufführen von Lehmgebäuden u. j. w. (der Biograph
von Anders Chydenius, E. G. Palmen, meint diejer habe feine
Hand in Adlerjparre’s Zeitichrift gehabt.)
Während die Regierung fortfuhr, die Gelehrtenfchulen und
die Volfsichule zu vernachläffigen, richtete die Zeitjchriftenlitteratur
auf dem pädagogiihen Gebiete die Aufmerfiamfeit auf des Aus-
landes philanthropiihe Bewegung; fie ließ fich dabei von dem
Wunſche leiten, auf den ganzen Gang des materiellen Fortichrittes
der Maſſen und auf deren geiftige Aufklärung günftig einzumwirfen.
In diefer Beziehung verdienen erwähnt zu werden die Vorjchläge
der Gejellichaft „Pro fide et christianismo*, welche im Sabre
1791 in Stodholm gejtiftet worden war, in der Nbficht, dem
Verfalle, der dem Chriſtenthume drohe, zu wehren. Im Jahre
1798 wurde von der Geſellſchaft an alle Konfiftorien die Bitte
gerichtet, fie mögen zur Einrichtung von Kirchſpiels-Wanderſchulen
beitragen, welche im Lejen, in Religion, im Schreiben und Rechnen,
einfadher Buchhaltung, Heimathsfunde und Geographie Unterricht
Die Kaiſerl. Finländ. Delon. Sozietät. 237
ertheilen follten. Der Borfchlag, welcher von einer zu befürdhtenden
Emanzipation der Volksſchule von der Priefterichaft abjah, ift in
fofern bemerfenswerth, als zum erjten Male von ihm auf Unter:
weiſung des gemeinen Mannes in foldhen Kunftfertigfeiten, welche
den Gliedern der Geſellſchaft direkt nütlich jeien, hingewirft worden
ift. Obſchon der Vorichlag ohne direktes Nefultat blieb, jo hat
er doch in gewiſſem Maße die öffentliche Meinung beeinflußt.!?)
IV. Finlands ökonomiſche Entwidelung während der
Jahre 1772—1800.
Auf Finland hat Guſtav III. ganz bejonders jeine Auf:
merfjamfeit gerichtet. Schon in den Freiheitszeiten war es nicht
ungewöhnlich geweien, daß öfonomijche Verordnungen der Negierung
einzig und allein Finland gegolten hatten: unter Guftav III. geſchah
es oft. Es lag ihm daran, die Ditgrenze in jeder Beziehung zu
verftärfen, und dazu auch dem, ihm nicht unbekannt gebliebenen,
Mißmuthe gegen die Zentralregierung den Grund zu entziehen ;
und feine, auf die Vertheidigung des Landes gerichteten Abfichten
begegneten, mwenigitens anfänglich, der Zujtimmung der Einwohner.
Noch merklicher aber hat Guftav III. für den ökonomiſchen Fortſchritt
des Landes gearbeitet. Von verichiedenen Seiten find in den
1770:er Jahren dem König bezügliche Vorſchläge gemacht worden,
welche u. N. die dringende Nothiwendigfeit des Storffift (i. e.
der General: Arrondirungs:Umtheilung) betonten, wie fie auch
Ichließlih durchgeführt worden ift, — ſowie der Gründung neuer
Städte, der Verbeſſerung der Verfehrsftraßen, der Theilung der
allzugroßen Läne, der Errichtung neuer Gerichtshöfe u. |. w.
Am bemerfenswertheiten darunter ift des Fortififations-Obriften
Nordencreug „Projekt zur allgemeinen Wirthſchafts-Verbeſſerung
in Finland.” Alles das hat der König in fein Programm auf-
genommen.!?)
Mährend einer feiner Anweſenheiten in Finland, im Jahre
1775 unterzeichnete der König in Abo eine Verordnung, betreffend
die Storjfiftet-Theilungen in Finland; damit wurde eine wichtige
Prinzipienfrage erledigt. Ueber die ausgedehnten Wald- und
Debelanditreden im Landesinnern hatte der gemeine Dann bis
dahin frei verfügt. Die Dorfichaften und Kirchſpiele in Defter-
botten, Savolafs und Karelien bejaßen jo ausgedehnte Gemeinde:
238 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät.
meiden, wie fie weder nothmwendig noch billig waren. Den Anbau
in größerem Stil zu fördern, ftellte die neue Verordnuug feit, daß
nah den Auffaffuugen, die ſchon unter Guſtav Wafa giltig geweſen
waren, die ausgedehnten Gemeindeweiden der Krone zugehörten,
und dab im Storffift jeder Mantal — (das Analogon eines liv-
ländifchen „Hakens“) — eine gewiſſe Anzahl von Tonnlandarealen
erhalten, der Ueberſchuß aber zu Neuanfiedelungen refervirt werden
follte. Diefes Vorgehen wurde recht allgemein als ein Eingriff
in die Eigenthumsrechte angeſehen, und rief auf vielen Seiten
Mikvergnügen hervor. Das Net, die Mantals-Arealgröße zu
beftimmen, wurde den örtlichen Befehlshabern des Königs über:
laſſen. An Defterbotten wurde, je nach der Qualität des Bodens,
der Mantal auf 600—1200 Tonnland feitgefegtt. Am nächlt:
folgenden Tage ward die Verordnung, betreffend die Befteuerung
von Savolafs und Sarelien erlallen. Das Verbot des Rödung-
und Küttis-Brennens wurde erneuert. Um die Einwohner dieſer
Landestheile zu ftändigem Ader: und Wieſenbaue zu vermögen,
wurde ihnen für neue ftändige Weder volle und für neue jtändige
Wieſen halbe Schapfreiheit zugefichert; für Neuanfiedelungen Steuer:
freiheit auf 15—20 Jahre. Da die ungleich veranlagteu Landes:
theile auch ungleiche gejegliche Beitimmungen erforderten, jo wurden
auch zahlreiche Zufag-Verordnungen nothiwendig. 1796 erflärte ein
Königliher Brief, daß die Storffift:Verordnung für Aland feine
Geltung haben folle: dort folle es bei den Beſtimmungen vom J.
1762 fein Bewenden haben. 1777 ward beitimmt, die für Dejter:
botten feſtgeſetzte Mantalsgröße ſolle auch für das übrige Finland
gelten. Es erfolgten auch Beitimmungen zur Verminderung des
in Folge der Ausicheidung bes „Weberflußlandes” entjtandenen
Mißvergnügens, 3. B. 1783: im Kuopioſchen folle das Mantal
600-1700 Tonnland betragen; nah dem Mißwachs von 1787
wurden in Savolats und Karelien Nödungen unter gemiljen
Bedingungen geftattet. Etwa um diejelbe Zeit wurde zur För-
derung der Storjfift:Mejfungen in Savolafs und Karelien jährlich
3000 Speziesthaler bemilligt, während in den anderen Theilen
Finlands die Gutsbefiger allein die bezitglichen Koften zu bejtreiten
hatten; ja i. J. 1786 wurden zu demſelben Zwed für ganz Finland
15,000 Spezies:Reichöthaler ausgeworfen. Zugleich ward beftimmt,
daß Beſitzer von fchagbarem Lande, die ih für den Anbau von
Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 239
„Ueberſchußland“ entichieden hatten, das Necht haben Sollten, diefes
als jchagbares Land zu bejtgen, und daß fein Areal, beim Vor:
fommen von „Impedimenten,“ nad Prüfung um je 100-—-300
Tonnland vergrößert werden follen. 1779 ward für Dejterbotten
bejtimmt, daß von ſolchen Wiefen, die nicht alljährlich abgeerntet
werden können, der vierte Theil außer Rechnung bleiben volle.
Damit aber war nicht immer den Ansprüchen genügt. So hat
3. B. der Landshöfding von Uleaborg darum nachgeſucht, daß in
feinem Län der Mantal auf 800—2000 Tonnland angeſetzt werde:
in der ablehnenden Antwort heißt es: „alle Nenderungen würden
Ihmwer empfunden...“ Im Wala-Län jtellt der Landshöfding vor:
dort follte der Mantal 1700— 5100 Tonnland umfaſſen; Antwort:
es folle damit wie in Kuopio gehalten werden. Unter der Regierung
Guftavs IV. Adolphs wurden zu den Zweden des Storjfift in
Finland jährlih 6000 Neichsthaler — im übrigen Schweden im
Ganzen nur 900 Reichsthaler — verwendet. 1783 waren, zur
Befeitigung von Mißbräuchen, ausführliche Landmeſſungs-Vor—
Ihriften erlalfen morben; nichtsdeftoweniger hemmten manche
Scwierigfeiten den Fortgang des Storffift; was aber zur Aus:
führung gelangte, förderte den Aufihwung des Aderbaues ganz
anfehnlih. 1786 waren auf „Weberflußland“ bereits nicht weniger
als 2000 Neuanfiedelungen entitanden; in den Jahren 1777—1797
find nicht weniger als 2000 neue, zur Steuer herangezogene,
Mantale hinzugefommen, was um jo bemerfenswerther ijt, als in
diefer Periode Mißwachsjahre nicht jelten geweſen find, und zwar
haben darunter die Neuanftedelungen in den inneren Zandestheilen
am fchmwerften zu leiden aehabt. Bei Gelegenheit von Mikwachs
wurde der gemeine Mann gemöhnlih von unmittelbarer Rück—
jahlung der aus den Kronsmagazinen erhaltenen Kornvorſchüſſe
befreit, und die Zollfäse für ausländiiches Getreide wurden
ermäßigt oder gar für Finland auf die Hälfte angelegt.
Von großem Einfluffe auf Finlands Aderbau iſt ein, auf
die bereits erwähnte Abgaben-Ablöfungsbeitimmung vom J. 1789
bezüglicher, Erlaß vom 9. 1790 gewefen, wonach zur Ablöfung
in Finland die Erlegung von nur drei Yahresrenten genügte.
Die Folge davon war, daß in den nächiten Jahren ſehr viele
folder Ablöfungen ftattfanden —: eine ganz andere Luſt zum
Anbaue machte ſich geltend!
240 Die Katjerl. Finländ. Defon. Sozietät.
Der Plan Liljencerang’s, Freijtädte ins Leben zu rufen, fam
zur Ausführung: zuerft wurden an Tammerfors 1779 Stadtrechte
ertheilt mit voller Gewerbefreiheit, dann an Kuopio 1782, an
Kaskfo 1785; Tamaftehus war 1780 an einen anderen Ort über:
geführt worden, mit zwanzig reijahren.
Im Jahre 1776 war die Zahl von Finlands Länen (Pro-
vinzialverwaltungsbezirfen) von vier auf ſechs gebracht, mit neuen
Arzt: und Landmeſſerſtellen. Zugleih wurde in Wafa ein neues
Hofgeriht eröffnet und die Zahl der Lagmanns: (oder Sreis-)
Gerichte wurde vermehrt. Neue Landſtraßen wurden angelegt, die
Dedemarfen zu beleben, namentlich die wichtigen Trafte von Waſa
über Saarijärvi nad) Kuopio, und von Illeaborg nad) Kuopio.
Durch einen Kanal wollte der König eine Verkehrsſtraße zwiſchen
Tamwaftehus und Tammerfors heritellen. Manche Arbeiten find in
der Folge eingejtellt, die Unternehmungen aber nicht aufgegeben
worden. Demnächſt iſt eine Anzahl von Stromregulirungen und
:reinigungen ausgeführt worden, theils um Verkehrswege zu Schaffen,
theils um durd; Eeeabzapfungen neue Anbau-Marfen zu geminnen.
Der Einfluß aller dieſer Maßregeln auf das Anwachſen der Be-
völferungszahl war ein merklicher.
Die Fabrifinduftrie ward zu jener Zeit faum in nennens:
werther Weile gefördert. Einige neue Eifengruben wurden eröffnet.
In Mariefors wurde 1795 ein neues Eifenwerf errichtet; vorher
ihon war ein ſolches 1778 mit „donnerndem“ Cinmweihungsfeite,
u. A. mit einer Rede von Anders Chydenius, eröffnet worden;
und 1798 desaleichen bei Dejtermyra... Die Seefahrt aber und
zugleich der Sciffsbau gingen rajdh vorwärts. 1777 wurde den
Städten Dejterbottens Stapelfreiheit verliehen; 1800 wurde ber
neue Porkkala-Leuchtthurm fertiggeitellt.
Die unter Guftav III. erlaffenen, der Landwirthichaft Jo
vortheilhaften, Verordnungen hatten in Finland ganz allgemein
ein zunehmendes nterefje an diefem Gewerbe erwedt. Mehr
als vorher gaben fid) ihm nun Standesperjonen, namentlich Beamte
aller Art, hin. Der Preis für den Grund und Boden ftieg in
Finland, und die Getreidepreife hielten fi, dank den Anfäufen
der Krone für ihre Magazine. Vorher hatte Finland nicht genug
Getreide für den eigenen Bedarf hervorzubringen vermodt. Im
Jahre 1795 aber hat Finland, nad) den Angaben von Tuneld’s
Die Kaijerl. Finländ. Delon. Sozietät. 241
Geographie, 45000 Tonnen Getreide erportirt, während aleichzeitig
Porthan den Jahreserport mit 150000 Tonnen beziffert. Die
Briefiammlungen jener Zeit bezeugen das große Intereſſe an der
Landwirthichaft, und namentlid an Urbarmachungen. Auf einer
Rundreife in Finland begriffen, fchreibt 1794 Porthan an Calonius
von Uleaborg aus: im Waja-Län fei der Eifer für Urbarmadungen
beionders jtarf, nicht nur bei Standesperjonen, fondern nad) deren
Beilpiel auch beim gemeinen Manne. Dieſer beichäftige ſich
namentlid mit Entwällern und Noden von Mooren, auf denen
er nad) einigen lohnenden Noggenernten jtattliche Wieſen gewinne,
Die Glieder und die Beamten des Vofgerichts feien von dem Eifer
angeltedt worden; weſſen Mittel zum Ankaufe eines eigenen Gutes
nicht ausreichen, der nehme die Dioore Anderer auf unter gemwillen
ausbedungenen Freijahren und Bedingungen. Pfarrer Gabriel
Ring zu Karis jchreibt 1795 an Kammerrath U. I. Winter in
Abo nad) dejlen bei ihm abgejtatteten Bejuche: „Ich finne darauf,
ob ich wohl jo glüdlich jein werde, meinen Herrn Bruder für
einige Sommertage hierher zu befommen, nicht zu feiner fplendiden
Bewirthung, fondern um ihn zu ermüden mit Spaziergängen zur
Befihtigung aller meiner fleinen Anlagen, welde nicht er:
Ihönerungen dienen, ſondern zumeift der Urbarmachung von
Mooren, welde unjeres Landes ſcheußlichſten Theil ausmachen,
aber vermuthlicd zu feinem nüglichiten werden follen. Mein Ein:
gepfarrter, der Gutsherr Linder, ijt eben jolch eine Moorſau mie
ih; er treibt aber im Großen, was ich im Kleinen verſuche; er
hat einen volleren Beutel; aber er prunft mit nichts anderem als
mit Bauten und mit Landwirthichaft.“ Aehnliche Daten werden
anderweitig nachgewiejen.
Vielfach werden Klagen laut über den Mangel an Nder:
Arbeitern, auch über den langjamen Fortgang des Storifift.
Ring 3. B. Ichreibt an Winter aus Karis 1798: „Hier ift es
ſchlimm mit dem Dienjtvolf; das geht alles zur Eee. Wer fann
da hindern?! Wie fann man helfen? Wie das Volk bleibend an
den Aderbau feifeln?“ (Es folgen Gedanfen über Abhilfe-Maß—
regeln.) Die Gouverneure wetteifern im Fördern der Land:
wirthichaft. Unter ihnen ragt J. 3. Carpelan (1785— 1800)
in Uleaborg hervor, durd) feine Wirkjamfeit fürs Zujtandefommen
von Kirchipielsmagazinen, für Feuerverſicherungen, durch) —
242 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät.
für landwirthſchaftliche Verbeflerungen, durch Eorge für Viehzucht
und Hausinduftrie. Er ließ in 600 Gremplaren eine finnifch
verfaßte Schrift vertheilen: „Nath und Wegweiler im Aderbau,
im Nufführen und Unterhalten von Gebäuden u. f. w.“ Porthan
berichtet 1796 an Galonius: der Landshöfding von Willebrand
in Abo gehe mit der Abſicht um, Garpellans Beiſpiel zu befolgen
z. B. durch Herausgabe eines Haushaltbudes für den gemeinen
Dann in finniiher Sprade. ©. W. Carpelan, Landshöfding
in Kuopio (1785— 1791) förderte fräftig Stromreinigungen und
die Storjfift:Arbeiten und führte fchwediiche Pflüge ein. 1787
hatte er den gemeinen Mann bewogen, in der Trivialihule in
Kuopio Unterriht in der Landwirthſchaft einzuführen. Zufolge
des Krieges ward das aber nicht durchgeführt. Daß die Land:
wirthſchaft erhebliche Fortichritte machte, wird duch das Anwachſen
dev Bevölferung bemwiefen. Am Jahre 1795 hatte fie 760965
Köpfe betragen; im J. 1800 zählte man deren ſchon 834829.
In fünfzig Jahren hatte fich die Volfszahl verdoppelt.“)
Der von einzelnen Privatperlonen ausgegangene Aufſchwung
auf dem öfonomilchen Gebiete wurde nun von der Regierung
nicht mit ganz günftigem Auge betrachtet, und das wirkte gewiſſer—
maßen mie ein Hemmſchuh auf die Entwidelung ein. Den
Mittelpunkt für die immer deutlicher hervortretende planmäßige
Arbeit zu Gunſten des Landesaufihiwunges bildete beftändig Die
Univerfität. Cine gewiſſe Reaktion gegen die einfeitige Beichäf:
tigung mit Defonomie wird durch die 1782 aufgejtellte Magijter:
Trage bewiejen: „Ob der afademilche Unterricht ſich auf ſolche
Kunjtfertigfeiten zu beichränfen habe, welche unmittelbar die Dienjt:
oder Gemwerbeangelegenheiten betreffen.” (Die Antwort lautete ver:
neinend.) Auch jagt J. G. Bergmann im Jahre 1783 in der
„Zeitung herausgegeben von einer Gejellichaft in Abo“ über
Kalm’s und Gadd's Verſuche: „...einträglichere und nothiwendigere
Arbeiten könnten uns beichäftigen.“ Die in den 1750 und 1760:er
Jahren gehegten Hoffnungen, aus Finland ein Holland zu machen,
waren durch manche verfehlte Verjuche gedämpft worden, und die
jegt folgenden Arbeiten bauten meiſt auf feiterem Boden. Kalm
war 1779 gejtorben; feine Arbeiten hatten doch große Bedeutung
gehabt. Gadd, mit Chemie und Mineralogie beichäftigt, zog in
die afademijchen Abhandlungen auch Fragen von praftiider
Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 243
Bedeutung hinein, 3. B. 1781 Sumpferzbenugung, 1782 Rartoffelbau,
1785 Bedürfniffe der Seefahrt, 1786 Seeabzapfungen, 1786 Lein—
und Hanfbau, 1792 Waldwirthichaft u. j. w. 1781—1783 führte
er auf Regierungskoſten eine Unterfuchungsreife in den füdlicheren
Zandestheilen aus. Auf Grund feiner Beobachtungen klagte er,
da die Städter ihr Land noch nad) Bauernart benußten, jtatt
„nützliche und notwendige Plantageprodufte hervorzubringen.“
Im Gegenjage aber zu Gadd's Auffallung wurden die neu an:
gelegten Städte von der Verpflihtung „Plantagen“ anzulegen,
befreit. Gadd's wichtigfte Arbeit ift die 1773-—-1774 in drei
Theilen erjchienene Schrift: „Verſuch zu einer ſyſtematiſchen An-
leitung in der ſchwediſchen Landwirthſchaft, angepaßt dem nördlichen
Klima des Reiches und gegründet auf Verſuche und Beobachtungen
in Naturgeihichte, Chemie, Phyſik und allgemeiner und bejonderer
Defonomie.” Ein moderner Verfaller (Göſta Grotenfeld: die
Landwirthichaft in Finland,“ 1896) jagt von dem Buche: „Die
erjte auf Finlands Landwirthichaftsiehre ſich beziehende Schrift
enthält eine große Anzahl von Kapiteln, die man noch heute mit
Vergnügen und Nutzen lefen fann.” Darin finden ſich werthvolle
Nachrichten über den Zuſtand der finländiihen Landwirthſchaft
noh in den 70:er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Gadd's
Vorfchläge find mehr auf Theorien als auf Erfahrungen gegründet.
Energiſch proteftirt er gegen das Küttisbrennen auf Hochwieſen
und auf Gras: und Bradeland, und dringend empfichlt er Futter:
anbau, namentlich den Rothklee, der damals in Finland eingeführt
wurde. Die geringe Verbreitung des Kartoffelbaues iſt jchon
daraus erfichtlih, daß Gadd ihn 1782 nur zur Aushilfe in
Mißwachsjahren empfiehlt — obſchon bereits im J. 1773 der
Kapellan Arel Zaurell in einer jchwedifch und finniſch edirten
Schrift „auf Grund langjähriger Erfahrung” ihn empfohlen und
durch jein Beijpiel gefördert hatte. Bon dieſer Schrift war im
%. 1776 durch die Batriotiiche Gejellichaft ein Neudrud veranftaltet
worden. Schon 1774 hatte die Wifjenichaftsafademie die Kartoffel
zum Branntweinbrande empfohlen. Dennoch war nody im Jahre
1776 von Erif Lenquiſt in der „Zeitung herausgegeben von
einer Gejellihaft in Abo” die geringe Verbreitung der Kartoffel
fonjtatirt worden, obichon auch die Kalender auf ihren Anbau
hingewieſen hatten und er namentlich den angefiedelten ne)
244 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietöt.
Soldaten anempfohlen worden war. 1793 erjcheint noch eine andere
Schrift über den Kartoffelbau vom Kommerzrath Anders Liffander.
Kalm’s Nachfolger Kreander (1779— 1792) hat feine
Spuren feiner Wirkſamkeit hinterlaffen. Deſſen Nachfolger C. N.
Hellenius hat fih zwar mit öfonomilchen Fragen beichäftigt,
aber nicht eben in praktiſchem Einne; er vertritt 3. B. ein Syſtem
von Aderwirthichaft ohne Wieſen, diverje Hybridenzuchten, Spargel:
behandlung zum Wintergebraude u. ſ. w. Seine Schriften haben
nur durch ihre dejfriptive Tendenz einigen Werth. Noch andere
Univerjitätslehrer mit öfonomilchen Bejtrebungen verdienen genannt
zu werden: der Mediziner Gabriel Erik Haartman (von
1784 ab) und Joſeph Pipping (von 1789 ab), welche beide
für Verbreitung der Podenimpfung eifrig gewirkt haben; aud)
Gabriel Bonsdorff, ſeit 1786 Naturgeichichte und Veterinär:
wiſſenſchaften vertretend; der Chemifer Johann Gabdolin 1785
ertraordinärer und 1795 ordentlicher Profeſſor. Im Konfiftorium
der Univerfität tauchen ökonomische Fragen häufig auf in Anlaß
der Verwaltung ihrer zahlreichen Landgüter; fie war aud Theil:
baberin an Eijengruben. In den Jahren 1792—1795 werden
zahlreiche Magiiterfragen aufgeftelli über öfonomilche Gegenjtände
und auch über Vervolljtändigung des Verfehrswege-Nekes.
Die meilten der damaligen Profeſſoren waren Gutsbefiger
und trieben die Landwirthichaft praftiih. Unter den Nicht:
afademilchen find als Arbeiter auf dem ökonomiſchen Gebiete die
folgenden PBerjonen zu nennen. Johann Borgitröm, der in den
1780:er Jahren in Borga einen botanischen Garten gründete,
dann Apotheker in Uleaborg und jpäter in Abo wurde; Johann
Sulin, der auf manchem Gebiete wirkſam war; Landmeſſer Hans
Henrif Aspegren, der 1772—1779 am Storjfift im Kirchipiel
Bedersöre arbeitete und 1777 eine Schrift „Pedersöre landtman”
herausgab; Superfargör Beter Johann Bladh, der auf jeinem
Gute Benvif in Nerpes Wiejenfulturen in großem Maßſtabe
ausführte und Holländervieh zur Kreuzung mit inländiichem ein:
führte. (Diejes Vorgehen war die Folge der 1792 erfolgten Ver:
leihung des Stapelrchtes an die Stadt Kaskö; noch heute lebt
in ber Umgegend von Waſa die jogenannte Bladh'ſche Race fort);
Rathmann Jakob Fellmann in Brahejtadt, der ſich für Meierei
interejirtte und im 9. 1788 ein finniſches Lehrbuch über Milch
Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 245
behandlung und Butterbereitung herausgab. Alle diefe Männer
haben vorzugsweile in Defterbotten gewirkt.
Im Jahre 1770 war die Gefellihft „Aurora“ gegründet
worden, die, wie die anderen Gejellichaften jener Zeit, zuerſt als
geheimer Orden gewirkt hat, woher über ihre anfängliche Thätigfeit
wenig befannt geworden iſt. Für ihre und namentlich für bie
Erfolge ihrer Zeitung iſt der zweite Biſchsff Mennander fehr
wichtig geworden, den Porthan den erjten Urheber der been und
den ficherften Gönner der Zeitung nennt. Es war nicht eine fchön-
geiftige Sejellichaft im gewöhnlichen Sinne —, fie erwies fich
vielmehr als jehr Fräftig, auf allen Gebieten Finland zu fördern.
Ihr Statut beginnt mit den Worten: „Die Liebe zu unferem
Vaterlande und die zärtlihe Sorge für Finlands Ehre iſt der
Anlaß zur Stiftung der Gejellichaft gemwejen, deren wirkliche
Nützlichkeit nicht bezweifelt werden könne.“ Unter Mitwirkung des
Domfapitels von Abo ward im J. 1770 im Lande ein Aufruf
verbreitet: vom Jahre 1771 ab werde eine Zeitung herausgegeben
werden zum Wirken für „allgemeine Aufklärung,“ bejonbers im
Wunde, den Bewohnern Ninlands Gelegenheit zn geben, das
eigene Land, jeine Vorzüge und Gebrechen, kennen zu lernen, wobei
die Gejellihaft den Beitritt von fundigen nnd edelmüthigen Lands—
leuten erwartet, welche verjprechen, Korrejpondenten der Zeitung
zu werden. Das Programm dieſer lepteren wird in 14 Punkte
gefaßt, welche betreffen die Geſchichte, Geographie und Phyſik
des Landes, feine nüglihen Anjtalten und deren wiſſenſchaftliche
Beurtheilung, Behandlung anjtedender Krankheiten und bewährte
Hausmittel dagegen u. ſ. w. Die „Zeitung herausgegeben von
einer Gejellichaft in Abo” ijt während der Jahre 1771—1778
erichienen. Ihre erjte Nummer bradte ein programmartiges Poem
von Porthan und Gadd, weldes dem Vertrauen: dur das
neue Organ werde für Finlands Aufihwung gewirkt werden
fönnen, warmen Ausdrud verlieh. Leitende Perſon war am Blatte
Porthan (1762 Dozent für Beredjamteit, 1772 Bibliothekar, von
1777 ab Profeſſor der lateiniſchen Sprade). Seine Beiträge
über Finlands Geſchichte, Geographie und Statijtif geben der
Zeitung ihr charakteriftiihes Gepräge. Unter den Mitarbeitern
finden fich viele der fchon Genannten: Mennander (der 1775
Erzbiihof in Upſala wird); Gadd (über Nothbrod, Jndigo,
246 Die Kailerl. Finländ. Dekon. Sozietät.
Neunaugenfiicherei, Nennthierzudt in Paldamo u. ſ. w.); Kalm;
Galonius (über Preßfreiheit, Nechtshijtorie 2c.); Dr. med. Hajt
(über Lazarethe); Samuel SKreander; Johann Kraftman
u. U. Diefer leptere jchrieb 1771 über „Steinmauern“; Die
Tendenz des Aufſatzes erhellt aus den Eingangsworten: „Bei dem
drohenden Holzmangel jollten zum Hausbau und zu ben Ein:
friedigungen bei Wohnhäujern und Viehjtällen, um die Gärten,
Meder und Wiejen Feldjteine angewendet werben.” (Zu jener
‚Zeit bereits haben viele Verfaſſer ihre Beſorgniß wegen Wald-
mangels ausgedrüdt!) — und 1772 feinen Aufſatz: „Wie des
Landes Anbau durd Aufmunterung befördert werden kann“ —
wovon die Einleitungsiworte für die Auffaſſung der Zeit bezeichnend
find: „In unjerer aufgeflärten Zeit jollte fein denfender Mitbürger
daran zweifeln, da ein jtreblamer Nderbau das fiherite Mittel
ift, wodurch unjer theures Vaterland zu Wohlſtand und Anjehen
gebracht werden kann.“ Der Berfaffer Schlägt Prämien vor für
fleißige Yandwirthe, namentlih für den Anbau von Mooren —
(se. der in Finland, wenn fie entwäjlert werden, jo überaus
fruchtbaren Grünlandmoore). Titel jeien nicht jo erwünſcht, wie
Belohnungen; die erjteren ſeien mehr geeignet, Ueppigkeit und
Lurus zu befördern, mehr zum Erſchlaffen als zum Helfen
(mer stjälpa än hjälpa); befonders habe die Regierung große
Sluftuationen im Getreidepreife Hintan zu halten. An jonitigen
Mitarbeitern find zu nennen: Arzt J. ©. Bergman (1771—
1783 jeine mediziniihen Aufläge); Pfarrer Erif Lencquift in
Karislojo, ſpäter in Drihvefi (aus der Zeit 1772—1778 feine
Aufläge unter den Titeln „Finska akerbukets hjälp af akerbruket
själf;* „Vergleich zwiſchen des Kirchipiels Carislojo Zuſtand im
15. und im 18. Jahrhundert”, „Vergleich zwiſchen der Land—
wirthichaft in Garislojo und Ohriveſi“; er jagt: „die Zandsleute
jeien zu ermuntern, daß fie mehr Weder anlegen,“ und „Finland
habe über das vom Schöpfer ihm zugetheilte Loos nicht zu Fugen“);
ferner der Landshöfding Nappe; Aſſeſſor Sylvius, ſpäter geadelt
als Feuerftern; Bergsmann Auguſt Nordenjfjöld (1772
Geſchichte von Finlands Eijeninduftrie); Propit A. Yizelius (17714
Armen-Magazin in der Propftei Wirmo). Dazu fommt eine große
Zahl von Kirchſpielsbeſchreibungen, Behandlungen von Schulfragen
u. 1. w. Anfangs war der Zufluß von Beiträgen ein reichlicher,
Die Kaiferl. Finländ. Delon, Sozietät. 247
allmählih aber erichlaffte das Intereſſe. Das erklärt fich zum
Theil durch der Redaktion vorfichtige Kritik, die nicht Jedem
angenehm war. Die Gejellihaft „Aurora“ ging ihrer Auflöfung
entgegen, zum Theil, weil das Intereſſe für ernjte Arbeit mit
jorglofem Epikureismus jchwer zu vereinigen war. Um das Jahr
1780 muß die „Aurora“ zu bejtehen aufgehört haben. Im Jahre
1795 jchreibt Borthan an Galonius: „Das Aufleben des Utile
Dulei erinnert mich an die entichlafene Abogejellihaft; ich Hatte
noch Luft, unter gewiſſen Bedingungen ihre Erneuerung vorzu—
ichlagen”; daraus aber wurde nichts.
Die „Zeitung u. |. w.“ hörte 1778 auf, wurde aber 1782
von PBorthan wieder aufgenommen, und zwar unter dem alten
Titel, nur daß die herausgebende „Geſellſchaft“ nun aus wenigen
Perſonen bejtand, vor allen anderen aus Borthan und jeinem
Schüler und Freunde, dem Profeſſor Jacob Tengjtröm. Von
dem leßteren, jowie von 3. ©. Bergman, dem Bergrath
Difinger u. N. bradte die Zeitung zahlreiche Aufjäge über
Obſtbaumzucht, welche damals in Finland guten Fortgang nahm.
Allein das damalige Abo zählte 48 Objtgärten; in Südwejtfinland
wurden vorzugsweile Aepfel, in Borga aber ſchwunghaft aud)
Birnen gezogen. Die Zeitung brad im J. 1785 mit ihrer Air. 21
plöglid” ab, offenbar zufolge des Befehles: die Zeitungen jolien
unter Verantwortung ihres Druders erjcheinen. Im jelben Jahre
ſchreibt Porthan an Diennander: „Seinenfalls wollen wir den
Anjchein, in Frendels — (sc. des Drudereibefigers) — Solde zu
itehen.” In demjelben Briefe findet ſich jeine Auffallung von der
Bedeutung der Zeitung: „Folglid wird es nun ſchwer fein, "was
zu Finlands Aufklärung druden zu lajjen, außer in Univerfitäts-
Disputationen.” Im Jahre 1789 erſchien die Yeitung wieder;
nun war Frendel ihr Verleger und Porthan ihre Stüße; fie hieß
nun „Neue Abver Nachrichten“; fie brachte vorzugsweije
Hiſtoriſches und ſchöne Litteratur, und wurde vom J. 1791 ab
von Tengjlröm redigirt, unter Beihilfe von PBorthan und J. M.
Sranzen. „Der Sinn für die Aufklärung des Vaterlandes über
feinen Anbau, und für Verbreitung genauer Kenntniſſe über jeine
Geographie, feine Wirthichaft, Gewerbe und Lebensführung, jowie
für Unterjtügung und Förderung des Geſchmackes für die jchönen
Wiſſenſchaften, — der Sinn dafür, einem achtungswerthen Publifum
248 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät.
zu nüßen und es zu unterhalten, hat einige Gönner gewonnen,
das Erjcheinen der Zeitung durch Beiträge zu unterjtügen“ —
beißt es im Proſpekt, welcher noch bejondere Programmpunfte
enthielt. Die Zeitung erichien in vergrößertem Formate. Zu den
Brogrammpunften waren namentlich Nefrologe von Männern, Die
dem Yande befonders nützlich geweſen, hinzugefommen. Unter jolchen
wurden zuerjt Nachrufe an Fürzlich Verſtorbene gebradht, wie über den
Bergrath Johann Hifinger, und durch fünf Nummern durchgehend
über den Defonomieprofeffor Johann Kraftman, jpäter Prediger
in Kumo. Ein 1791 begonnener öfonomijcher PBrogrammartifel:
„Betrachtungen über die allgemeinften Hinderniſſe der Gewerbe in
Finland, und wie man fie bejeitigen kann,“ bricht fehon nad) der
dritten Nummer ab, ohne mehr als den Bevölferungsmangel
beſprochen zu haben, zu deſſen Bejeitigung, außer jtrenger Beachtung
verjchiedener hingehöriger ökonomischer Mahregeln, ganz bejonders
die Verbejjerung der Stindererziehung, ſpeziell in Dejfterbotten,
empfohlen wird. Von Tengjtröm ſtammten Anfangs vorzugsweife
die Beiträge auf dem Gebiete der jchönen Litteratur, allmählich
aber geht er zu praktischen Fragen über. (Schon 1775 hatte er
unter Kalm „über die Nothiwendigfeit des Storjfift in Anjehung
beijerer Waldpflege” disputirt.) Er jchrieb 3. B. über die Armen-
pflege und gab mit Vorliebe jtatiftiiche Beiträge. Aber ſchon im
3. 1793 geht aus einem Briefe Porthans an Galonius hervor,
daß man jich mit der Frage beichäftige, ob nicht die Zeitung auf:
zugeben jei: feine Unterftügung aud nur mit einer Zeile. Da
trat, mit PBorthan’s und Tengſtröm's Beihilfe 1794 Franzen an
die Spitze. Meiſt werden nun biftorijche Aktenſtücke gebracht und
geographiiche und jtatiftiiche Aufiäge. In fichtbarem Maße hat
die Bejorgnig lähmend gewirkt: unter der empfindlichen Vor—
mundjchaftsregierung möchte ein mehr beitimmtes Wirken mehr
Schaden als Nupen hervorbringen. Im ganzen Jahrgang 1794
findet jich ein einziger öfonomifcher Artikel: über Feuerlöſchweſen;
im Jahrgang 1795 giebt es deren nur zwei: über die Ausrottung
der Pockenkrankheit, aus dein Deutichen überjeßt, und dann eine
ausführliche Nezenfion von Dr. Radloff's Beichreibung lands,
(dazu eine kleine Notiz), Im Jahrgang 1796 finden ſich einige
Haushaltangaben, wie „Mehl aus Kartoffeln,“ „Käfelab,“ ein
längerer Nrtifel über die Hopfenfultur in Inga; außerdem
Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 249
Biographien über Propit Nils Idman in Hoittis (7 1790) und
Dr. Joh. Gabr. Bergman (7 1793)."°)
Neues Leben erhielten die ökonomiſchen Bejtrebungen in
Finland durch Guſtav IV. Adolph’s Negierungsantritt. In Abo
ward er am 10. Dftober 1796 im Namen der Univerfität durd)
Profeſſor Tengjtröm begrüßt mit einer Rede, in welcher bie
Segnungen, die Finland durd den Frieden geworden, der Dant
dafür und die Hoffnungen auf den jungen König hervorgehoben
werden. Dieje legteren find durd des Königs jpäteres Auftreten
fräftig unterjtügt worden.
In Nr. 9 der „Zeitung“ erichien 1797 ala „Eingejandt”
ein Artikel von Porthan „Leber Finlands Ausbau”. Seine
Vorſchläge waren alle wohlüberlegt; er mißbilligte entjchieden alle
eigentlihe Projeftenmacherei. Mandyem galt er als garzju vor:
fichtig, aber jeine Sachkenntniß imponirte. Zu Beginn fragt er:
„Woher wohl in den legten 30—50 Jahren, ſeit die Negierung
mit größerem Ernft und Eifer ſich Finlands Pflege und Förderung
zugewandt, fein Zuftand und Ausjehen ſich jo vortheilhaft geändert
habe?” Inzwiſchen jei nod) viel zu thun übrig geblieben. Große
Streden lägen noch als Dedeland da und jeien mit jumpfigen
Mooren bededt. In Savolar ſei man nod nicht über das Röden
und Küttisbrennen herübergefommen. Auch die Bergwerke und
Wälder fönne man nocd nicht loben. Zu Viehzucht und Ackerbau
biete Finland ermwünjchte Gelegenheit. Die erjtere babe den
nördlichen, die zweite den jüdlicheren Gegenden Haupterwerbszweig
zu jein. Das Entwällern der Dioore im Landesinnern jei zwingende
Nothwendigkeit. Bloß dadurd könne den Nachtfröſten gejteuert
werden, zugleich gewinne man dadurch Wiejen. Das fünne aber
nur durch Niedrigerlegung der Seejpiegel geichehen und durd)
Sprengung der Stromichnellen, wodurch auch der Verkehr gefördert
werde. Durch Waſſerwege erjpare der Bauer viel Zeit, die er
zum Verführen der Produkte zur Küfte auf den Landwegen verliere.
Es ſei beffer, die Zeit zur Dausinduftrie und ſonſtiger Handarbeit
zu verwenden. Bejonders der Butterhandel bedürfe tauglicher
Verkehrswege. An manden Orten werde bereits mit Vorliebe
die Binnenjchiffahrt benugt, und manche aderbare Darf jei bereits
durch Mioorentwällerung gewonnen worden, 3. B. der vormals
unnahbare Bezirk, wo fürzlih die Straße zwiichen Nerpes und-
250 Die Kaijerl. Finländ. Dekon. Sozietät.
Waja angelegt worden. Viele Orte werden aufgezählt, wo Fluß:
reinigungen noch nöthig wären; manche von diejen jeien Schwierig:
da habe die Negierung einzugreifen. Die vielen kleinen privilegirten
Mühlen jeien ſchädlich — beijer jeien große Mühleninduftrien.
Die Bedeutung der Wailerläufe zur Flößung wird hervorgehoben.
Wo nur Private den Vortheil davon haben, fünne der Regierung
nicht zugemuthet werden, allein mit Errichtung von Stanälen und
Waſſerſtraßen vorzugehen: man jolle auf England bliden, wo jo
viele Kanäle aus privater Initiative entjtanden feien. Eine Ab:
handlung, welde ein jorgfältig motivirtes Programm für Die
Sortjeßung der Stromregulirungen in Finland bradte, war für
des Generalen Fabian Wrede’s Rechnung verfaßt worden, und
dieſer — (se. ein Liebling des jungen Königs) — veriprad), beim
Könige die Wiederaufnahme diefer Arbeiten auszumwirfen. Für
die September: bis November-Nummern der Zeitung lief ein von
Tengſtröm verfaßter, auf die Angaben zweier erfahrenen Land—
wirthe aus Nyland und Süd-Oeſterbotten gejtügter „Unterricht,
Moore in Wiejen und Weder zu verwandeln“ ein. Der eine der
beiden Rathgeber war der Pfarrer Ring in Karis, der andere
wahrjcheinlich Bladh. Porthan's und Tengſtröm's Aufſätze waren
von großer Bedeutung. Den MWeifungen des Lebteren ijt man in
vielen Fällen gefolgt. Derjenige von Porthan war der erjte
Zeitungsartikel, der direkt Negierungsmaßregeln hervorgerufen hat:
im Jahre 1797 wurden die finländiichen angejiedelten (indelta)
Negimenter angemwiejen, jih für Rechnung der Strone an den
Flußregulirungen zu betheiligen, wovon fie bis dahin befreit
gewejen waren. Im Jahre 1799 wurden dazu 500 Dann ab-
fommandirt und 6000 Neichsthaler angewiejen. Die Leitung der
Arbeiten wurde einer Direktion, bejtehend aus dem Generalen
Grafen Klingipor, dem Landshöfding v. Willebrand, General
3. 8 Aminoff, Zagmann Olaf Wibelius, Kammerraih Winter
und Bortdan, anvertraut. Der Einfluß, den die vom Aurora—
Bunde begründete und von Porthan perjönlic) fortgejegte Zeitung
auf ihren Lejerkfreis ausgeübt hat, muß jehr hoch veranjchlagt
werden. Ihr durcchgehender Gedanke war Finlands Hebung in
materieller und geijtiger Hinficht.!®)
In finniſcher Sprade war die öfonomifche Litteratur auch
in diefer ‘Periode noch arın, aber doch ſchon etwas reicher als in
Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 251
der vorigen.) Pfarrer Anders Lizelius zu Wirmo gab im
Herbſte 1775 die Probenummer einer finnischen Zeitung heraus:
Suomen Tieto Sanomat, — fie bradte es aber nur auf 24
tummern und ging im Jahre 1776 ein — wegen Wiangels an
Unterjtügung; fie war für den gemeinen Mann bejtimmt und
behandelte Wirthichaftsfragen. Außerdem find zu erwähnen Die
jeit 1773 in vielen Auflagen erjchienenen „Weltbriefe für den
Bauer“; 1774 Daartman’s Bud) „Ueber Viehleuchen“; 1775
3. ©. Bergman’s Aufſatz „Ueber die Boden“; 1778 von P.
Mozelius ein „Lehrbuch über die Landwirthichaft,“ heraus:
gegeben von der „Patriotifchen Geſellſchaft,“ überjegt von Denrif
Wigelius; 1750 über „Salpeterbereitung“; 1783 über „Bier:
brauerei”; 1786 von 9. R. Daft über „Die Nindviehpeft”; und
1787 „Belundheitsregeln” — (legteres Bud) erjchienen in Waja
in der Buchdruderei von G. W. Londicer, wo für den gemeinen
Dann, Shwediid und finniid), viel Bücher gedruckt worden find)
— 1788 von Chr. Sanander über „vViehſeuchen,“ welches Bud)
viele Auflagen erlebt bat, die legte noch 1879 in Delfingfors;
1758 Fr. 3. v. Afen über „Branntweinbrand“; 1784 von Chr.
Hanander „Des Landmanns Haus: und Heimapotheke; 1797
über „Sumpferz“; 1788 „Anwendung der Birkenrinde zum Serben.“
Zuweilen gaben aud) die Yandshöfdinge Werke in finniicher Sprache
heraus. Die meijten öfonomiichen Verordnungen wurden, laut
Vorſchrift vom Jahre 1772, in finnifcher Spradye publizirt. Die
finnischen Salender wurden fortlaufend von der (jchwediichen)
Wiſſenſchaftsakademie herausgegeben; fie enthalten auch öfonomijche
Aufſätze, die aber übermäßig jchlecht überjegt find. Die behandelten
Gegenjtände find: 1776—1778 Aufzucht von Zaubholzwald; 1779
—1782 MWiejenbau; 1783 Viehfutter und Yuttermangel; 1784
— 1795 Aderbau-fatehismus; 1796—1802 %. ©. Ballerius
preisgekrönte Schrift über die Bodenarten und deren Verbeſſerung
durch Miſchung miteinander.
In dieſe Zeit viel verheißenden wirthſchaftlichen Aufſchwunges
fällt nun, unter Umſtänden, die das ganze Land aufs freudigſte
erregten, die Gründung der K. Finländiſchen Oekonomiſchen
Sozietät.!?)
(Schluß folgt.)
Tagaurog im Jahre 1925.
Von
N. K. Schilder.
Schluß.)
II.
Unterdeſſen benutzte Kaiſer Alexander feinen Aufenthalt im
Süden Rußlands dazu, die benachbarten Gebiete zu bereiſen.
Am 11. Oktober begab er ſich auf einige Tage ins Land der
Doniſchen Koſaken und beſuchte Roſtow, Nachitſchewan und Nowo—
tſcherkaſk.
Auf dem Wege nach Nowotſcherkaſk übergab er dem General-
adjutanten Diebitih einen Brief Eherwood’s an den Grafen
Mraftichejew, in welchem jener darum bat, in der Mitte des
November einen zuverläffigen Beamten zu ihm nad) Charkow zu
ſchicken. Se. Majeität wählte hierzu den Oberſt des Leibgarde-
Kojafenregiments Nikolajew, weder ihm nod jemand anders follte
aber hierüber bis zur Nüdfehr von der jchon damals geplanten
Reiſe in die Krim etwas mitgetheilt werden.
Wohl beabfichtigte man damals, die Neife noch weiter aus:
zudehnen bis Uralsf, ja bis nad Aſtrachan, jedoh wurde dieſe
Abſicht nicht verwirklidt und am 15. Dftober fehrte Mlerander
nad) Taganrog zurüd.
Um dieje Zeit fam mit Allerhöchiter Genehmigung Graf
Mitt aus den jüdlichen Antiedelungen nah Taganrog. Er theilte
dem Kaifer die Pläne der geheimen Goejellichaften und diejenigen
ihrer Zeiter mit. Die ſchon früher vom Unteroffizier Sherwood
gemachten Entdeckungen in Berbindung mit den neuen vom Grafen
Witt vorgebradten Daten klärten die Sache immer mehr auf
und eröffneten die Möglichkeit, Schon bald zu enticheidenden Map:
regeln zu greifen. Vorläufig befahl der Sailer dem Grafen
Mitt, feine Unterſuchungen fortzufegen.
Der Generalgouverneur von Neu-Rußland Graf M. ©.
MWoronzow erjchien auch in Taganrog. Er bat den Kaiſer, Die
Krim zu bejuchen und verficherte ihn, daß man noch vor Eintritt
der Regenzeit und der Kälte zurücdfehren könne. Im Hinblid auf
Taganrog im Jahre 1825. 253
die Beſſerung im Gefundheitszuftande der Kaiferin nahm Alerander
die Einladung an, indem er bemerkte, gute Nachbarn müßten mit
einander in Eintracht feben. Am 20. Oftober reilte der Kaiſer
in die Krim ab; die Marfchroute war auf 17 Tage berechnet.
Ihn begleiteten der Generaladjutant Diebitih, Wyllie, Taraſſow
und der Wagenmeifter Oberjt Salomfa.
Einen Tag vor der Abreije ereignete ſich folgender Vorfall.
Der Kaiſer arbeitete an jeinem Schreibtiſch; plötzlich zog eine
Molke über die Stadt und es wurde jo dunkel, dab Alerander
flingelte und dem Kammerdiener Aniſſimow befahl, Lichte herein:
zubringen. Bald darauf wurde es wieder hell und es ſchien die
Sonne. Da trat Aniſſimow aufs Neue ins Zimmer und wollte
die Lichte mwegbringen. Auf die Frage des Kaiſers, weshalb,
erwiderte er, es gelte in Rußland für ein böjes Omen, bei Tage
binter brennenden Lichten zu fißen: man fönnte benfen, daß bier
eine Leiche liege. Der Kaiſer antwortete: „Du Haft Recht, aud)
ich denfe jo, bringe die Lichte weg.” Diejer Vorfall prägte ſich
dem Gedächtniß KHaifer Aleranders ein und fpäter erinnerte er
fi) deilen, wie wir unten jehen werden.
In den eriten Tagen der Reife ging Alles gut und der
Kaifer war fehr heiter und geiprähig. Nachdem er in Mariupol
genächtigt, fuhr er durch die Dienoniten-Stolonien, die am Flüßchen
Miolotichna belegen find. Das blühende Ausjehen und die gute
Drdnung dieſer Anfiedelungen freuten ihn jehr und erwedten jeine
volle Zufriedenheit. Am Abend des 24. Dftober langte der
Kaijer in Simferopol an, übernadhtete dort und ritt am folgenden
Tage auf Tartarenpferden nad Jurjuf; die Equipagen jollten ihn
in Baidary erwarten. Der Kaiſer ritt an dieſem Tage 35 Werft
auf jehr beichwerlichen Wegen und mit Steinen bejäeten Pfaden.
Hierauf bejuchte er den Garten zu Nikita und ſah ſich Drianda
an, das er vom Grafen Kujchelew:Besborodfo gefauft hatte und
wo er ein Palais zu erbauen beabfichtigte. Bier hatte Alerander
augenjcheinlih das Winfelhen in Europa gefunden, von dem er
einjtmals träumte und wo er für immer fid) niederzulajfen wünjchte.
Veberhaupt jchien Alerander feit feiner Reiſe nad) Taganrog
wiederum zu jeinen früheren Träumereien zurüdgefehrt zu fein
und dachte daran, ins Privatleben zu treten. „Bald werde ich
mic in der Krim niederlajjen,” jagte er, „und als PBrivatmann
254 Taganrog im Jahre 1825.
leben. Ich Habe 25 Jahre lang gedient, auch dem Soldaten
giebt man nach diefer Zeit den Abjchied.” Zum Fürſten MWolkonffi
jagte er: „Muh Du wirft den Abſchied nehmen und bei mir
Bibliothefar werden.”
Der Kaiſer dinirte in Alupfa beim Grafen Woronzow, der
ihn von Simferopol an begleitet hatte, legte am 27. Oktober
mehr wie vierzig Werſt auf einer schlechten Bergitraße zurüd und
fam in Baidary an, wo ihn die failerlihen Wagen erwarteten.
Hier war das Diner bereitet, doch Se. Majeſtät befahl Müller,
mit dem Diner gerade nad Sewaſtopol zu fahren und ihn dort
zum Diner zu erwarten. Don Baidary begab fi der Kaiſer mit
Diebitich in einer Kaleſche nad Balaflawa zur Inſpektion des in
diefer Stadt ftationirten griechischen Bataillons, das unter Kommando
Ravaillotts ſtand. Nah der Befichtigung frühftüdte er beim
Bataillonschef und aß dabei etwas von einer Art ſehr fetten
geflügelten Fiſches.
Von Balaflawa fuhr Kaifer Alerander in der Kalefche bis
zu der Stelle, wo der Weg nad) dem Georgs-Klojter abbiegt.
Hier bejtieg er wieder ein Pferd, im Uniformsrod ohne Mantel,
entließ die Suite nah Sewaftopol, nahm nur den Feldjäger
Godefroi mit ſich und ritt in Begleitung nur eines Tartaren ins
Klofter. Tas geſchah am 27. Oktober um 6 Uhr Nachmittags.
Es war ein warmer, herrlicher Tag; allein gegen Abend erhob
fi ein Nord-Oft- Wind und es wurde empfindlich falt. Es unterliegt
feinem Zweifel, daß ſich Kaifer Alerander während diejes unvor:
jichtigen und nicht zeitgemäßen Nittes ins Georgs-Kloſter erfältet
und daher wurden die ermüdenden Touren des 27. Oftober zum
Ausgangspunft der tödtlichen Krankheit, die ihn bald darauf befiel.
Die Suite, die bereits im Kaiferliden Quartier zu Sewaitopol,
im Hauſe des Kommandanten, angelangt war, verbrachte die Zeit
in qualvoller Spannung. Das Diner war um 4 Uhr fertig. Es
wurde dunfel, immer heftiger blies der eifige Wind, doch der
Kailer kommt nicht. Alle Spiten der Stadt, die ihn erwarteten,
und die Suite begannen unruhig zu werden, denn jie mußten
nicht, wem fie die Verzögerung feiner Ankunft zufchreiben jollten.
Endlih um 8 Uhr langte der Kaiſer an. Nlerander empfing den
Admiral Greigh und den Kommandanten im Saal, begab fid
dann direft in jein Arbeitszimmer und ließ, auf das Diner ver:
Taganrog im Jahre 1825. 255
zichtend, ſich raſch Thee reichen und das war, Schreibt Taraſſow,
um fo ungewöhnlicher, da es früher während der Neife nicht vor:
gefonmen war und der Kailer unterwegs immer einen guten
Appetit hatte und Andere zu bemwirthen liebte.
Den 28. Dftober widmete Nlerander der Befichtigung der
Befeftigungen, der Flotte, des Seehoſpitals und der Kafernen;
darauf war großes Diner beim Kaifer und in feinem Aeußern
war feine Veränderung zum Schlechteren bemerkbar.
Am folgenden Tage, am 29. Oftober, ließ fih Alerander
auf die Nordjeite überjegen, bejah die dortigen Befeftinungen und
fuhr hierauf in einer Kaleſche nah Bachtichiffarai, wo er im
Palaft des Chans abjtieg, jo wie er es während der Neife im
Jahre 1818 gemadıt hatte.
Bier ließ der Kaiſer Taraſſow zu fich ins Kabinet rufen
und befahl ihm, für ihn daſſelbe Neisgetränk zuzubereiten, das er
im Januar 1824, während einer fieberhaften Noje am Fuß, ge:
trunfen hatte. Taraſſaw führte Sofort diefen Befehl aus und
hielt es gleidyeitig für erforderlich, hiervon Wyllie zu benad):
richtigen, indem er hinzufügte, der Kaiſer habe fi den Magen
verdorben.
Ungeachtet feines beginnenden Unwohlſeins gönnte ſich der
Kaiſer feine Ruhe, ritt unter Anderem nad Tſchufut-Kale und
bejuchte auf dem Rückwege das Uſpenſli-Kloſter; er ſchien völlig
gefund, war ſehr aufgeräumt und verkehrte mit Allen mit der
ihm eigenen Leutjeligkeit. Am 1. November nahm Nlerander
jein Nachtquartier in Eupatoria und bejuchte hier die Kirchen,
Moſcheen, Synagogen, Kujernen und Quarantänen; am 2. No:
vember übernadtete er in Perekop, woſelbſt er das Hospital
infpizirte.
Am Tage darauf des Morgens frühe ſetzte der Kailer,
gemäß der Marichroute, feine Neife fort und befichtigte im Dorfe
Snamenſtoje die dort garnifonivende Artillerie-Brigade und hierauf
das Lazareth. An diefem Tage wurde das Mittagsmahl in einem
großen Dorfe zwiichen Snamenfa und Orechowo eingenommen.
Taraſſow erzählt: „Bon Bachtſchiſſarai an, wo der Kaiſer
fih ein Getränk zubereiten ließ, ſchien er vollfommen gefund zu
fein und Fagte weder mir noch dem Baronet Wyllie über feine
Geſundheit. Hier, während des Mittagejjens, brachte er plößlich
256 Taganrog im Jahre 1825.
das Geſpräch auf die Krimſchen Hofpitäler und begann fih über
die dortigen Fieber auszulajfen, namentlich aud über das Chinin,
defien Wirkung gegen dieſe Krankheiten er lobte, dabei aber
bedauerte, daß der Geſchmack diejes Arzneimittels fehr unangenehm
fein müßte. Baronet MWyllie vertheidigte das Mittel und febte
dem Kaiſer auseinander, fein Geichmad fei garnicht miderlich,
Sondern nur bitter. Der Kaiſer mollte ihm nicht recht glauben
und befahl mir, ſofort das Chinin aus der Neifeapothefe zu holen.
Unverzüglich überreichte ich ihm das Glasgefüß, das dieſes Salz
enthielt. Der Kaiſer fojtete davon ſelbſt, ſchnitt darauf eine
Grimaſſe und fagte zu mir: „Sie und Jakob Waſſiljewitſch lieben
es nit, Ihren Patienten Lederbiifen zu geben.” Hierauf gab
er mir das Glasgefäß zurüd und fragte mid: „Wie verordnen
Sie diefes Mittel?” Ach antwortete: „Man giebt es den Sranfen
in Bulverform, in Pillen oder in Lölung.” „Danfe für die
Bewirthung, legen fie es an feinen Platz zurüd” ſagte dann ber
Kaiſer zu mir.”
Nad dem Mittagsmahl, auf der legten Station vor Orechowo,
begegnete der Kaifer dem Feldjäger Masfom mit Depeichen aus
Petersburg und Taganrog. Der Kaifer empfing die Depeichen
und befahl dem Feldjäger ihm zu folgen; allein bei einer Biegung
des Weges trieb der Kuticher feine Troifa an und der Poſtwagen
ftieß mit folcher Gewalt an einen Lehmhügel, daß Maskow in
weitem Bogen binausgefchleudert wurde; er fiel mit dem Kopf
voran auf die Straße und blieb bewegungslos liegen. Der Kaijer
ſah den Unglüdsfall und jchidte fofort durch Godefroi an Taraffow
den Befehl, unverzüglid) dem Verunglückten ärztliche Dilfe zu
bringen und nad) feiner Ankunft in Orechowo perjönlich ihm über
den Zuftand Maskow's zu vapportiren. Es erwies fi, daß der
Unglückliche an ftarfer Gehirnerichütterung mit Bruc des Schädels
geftorben war. Taraſſow langte in Orechowo um Mitternadht an;
Diebitſch wartete auf ihn und befahl ihm, perfönlich hierüber
dem Kaifer, der mit Ungeduld Nachricht über Maskow erwartete,
Bericht abzujtatten.
„Nachdem der Kammerdiener mic gemeldet, betrat ich das
Schlafgemach des Kaiſers“ jchreibt Taraſſow. „Sr. Majeftät ſaßen
im Mantel vor dem Kamin und lafen die Depejchen. Ich bemerkte,
daß fein Bli etwas unruhiges hatte und daß er ſich am brennenden
TZaganrog im Jahre 1825. 257
Kamin zu erwärmen ſuchte. Sofort, nahdem ich die Schwelle
übertreten hatte, fragte er mid) furz: „In welchem Zuſtande
befindet fih Masfow?” „Beim Fall erhielt er einen tödtlichen
Hieb auf den Kopf, mit jtarfer Erjchütterung des Gehirns und
einer weiten Spalte gerade an der Schädelbafis; ich fand ihn
bereits ohne Athem daliegend und jegliche ärztliche Hilfe erwies
fih als fruchtlos.“ Der Sailer hörte meinen Bericht an, erhob
fih und ſagte mit Thränen in den Augen: „Welch' ein Unglüd!
Diefer Dann thut mir ſehr leid.” Darauf wandte er fi) dem
Tiſche zu, und flingelte, ic) aber verließ das Zimmer. Hierbei
nahm ich einen ungemwöhnlihen Ausdruck in den Gefichtszügen
des Kaijers wahr, den ich im Verlauf jo vieler Jahre genau
fennen gelernt hatte: es lag darin etwas Unruhiges und zugleich
auch Krankhaftes, als ob er fich im Fieberichauer befände.“
In Orechowo erwartete den Sailer eine zweite Unan:
nehmlichkeit, die um jo fchädlicher auf ihn wirken mußte, als er
fich nicht mehr ganz gejund fühlte. Zwilchen dem Zivilgouverneur
von efaterinojlam und dem Erzbiichof Theophil hatte ein Streit
jtattgefunden, wobei es zu Thätlichkeiten gekommen war. Nachdem
der Kaiſer hiervon vernommen hatte, wünjchte er diefe Sache zu
unterfuhen und berief beide Widerfacher nach Orechowo. Nad)
dem Zeugniß Taraffow’s „empfing der Kaiſer Beide einzeln und
gab mit der ihm eigenen Delifatejje einem jedem ernitlid all’
das Unangemejjene feiner Handlungsweije zu verjtehen, da jie doch
die Dauptreprälentanten der Staatsgewalt im Jekaterinoſlawſchen
Houvernement wären. Natürlicd) konnte Se. Majeſtät das nicht
gleihmüthig, wenigjtens nicht ohne jtarfe innere Erregung thun.“
Nachdem der Kaiſer am 4. November, um 7 Uhr Abends,
zum Nachtlager in Mariupol eingetroffen war, berief er um
10 Uhr Wyllie zu ſich und diejer fand ihn in einem völlig ent:
widelten heftigen Fieberpororysmus.
„Wyllie war jehr bejtürzt über die Lage des Kaiſers“ jchreibt
Taraſſow, „er Ichien völlig jeine Geijtesgegenwart verloren zu
haben und entichied fich endlich dafür, ihm ein Glas Fräftigen
Rumpunſches zu geben, darauf bradte er ihn zu Bett und dedte
ihn möglidhjtit warm zu. Das vermehrte nur die Unruhe des
Kaifers und erſt gegen Morgen jchlief er ein wenig ein. Wyllie
proponirte ihm, in Mariupol zu bleiben, doch ber — ging
258 Taganrog im Jahre 1825.
darauf nicht ein, denn von Mariupol bis Taganrog waren es
nur 90 Merft und Se. Majeſtät wünichte am feitgejetten Termin,
am 5. November, die Kailerin wiederzujehen. So war es nad)
der Marjchroute beitimmt worden. Am Morgen des 5. Nov.,
nad) dem heftigen Barorysmus, fühlte fi) der Kailer müde und
ſchwach. Um 10 Uhr Morgens fuhr er in einer verdedten,
mit Bärenfell gefütterten NKaleihe im marmen Mantel nad)
Taganrog ab.”
Um 6 Uhr Abends langte Kailer Alerander in Taganrog
an. Er betrat fein Toilettenzimmer und erwiderte dem Fürften
Wolkonſki auf deifen Frage, wie es ihm gehe: „Ich verjpüre ein
gelindes Fieber, das ich in der Krim trog des herrlichen Klimas,
dad man uns fo gepriefen, erwiſcht habe.” Hierauf begab ſich
Se. Majeftät zur Kaiferin und verbrachte den übrigen Theil des
Abends mit ihr.
An diefem Abende gedachte Kaifer Alerander im Geſpräch
mit dem Kammerdiener Anilfimow des Vorfall, der ſich vor
feiner Abreife in die Krim ereignet hatte und jagte zu ihm: „Ich
bin Sehr frank.” Aniffimow antwortete ihm: „Man muß fi
behandeln lajjen, Herr.” „Nein, Bruder” erwiderte der Kailer,
„die Lichte, die ich vom Tiſch nehmen lieh, die fommen mir nicht
aus dem Kopf; das bedeutet: ih muß jterben und fie werden
dann neben mir jtehen.” Der Kammerdiener entgegnete: „Was
belieben Sie zu reden? Gott behüte uns vor ſolchem Unglüd.“
Damit endete das Geipräd.
Wyllie fchreibt in feinem Tagebuche: „Die Nacht verlief
Ihleht. Weigerung, Arzenei einzunehmen. Er bringt mich zur
Verzweiflung. Ich fürchte, diefer Starrfinn führt einmal zu
Ihlimmen Folgen.“
Am 6. November jpeilte der Kaifer zum legten Mal bei
der Kailerin zu Mittag, doch mußte er vom Tische aufitehen: eine
ftarfe Tranfpiration ftellte fih ein. Um 3 Uhr holte der Sammer:
diener Fedorow Wyllie herbei; ihm folgte Fürſt Wolfonjfi. Nad)
des Fürften Erzählung fanden fie den Kaijer in feinem Arbeits:
zimmer im Rod auf dem Divan figend, um die Füße war eine
Tlanelldede gemwidelt. Wyllie machte den Borfchlag, Sofort ab-
führende Pillen einzunehmen; der Kaifer ging darauf ein, doch
nach einigem Proteſtiren, jchreibt Wyllie.
Taganrog im Jahre 1825. 259
Gegen Abend that die Arzenei ihre Wirkung, der Kaiſer
fühlte fich leichter, wurde heiterer geſtimmt und bedankte ſich bei
Woyllie und Wolfonjfi für ihre Fürforge. Hierauf ließ er Die
Kaijerin zu fich bitten, die bis 10 Uhr Abends bei ihm figen blieb.
Am 7. November verordnete MWyllie dem Kaiſer eine
abführende Mirtur. Der Tag verlief ohne Fieber, der Kaijer
fühlte fih etwas beifer und jchlief in der folgenden Nacht ruhig
vier Etunden. Nach dem Tagebuh Wyllie's zu urtheilen konnte
er damals fich noch nicht darüber Nechenichaft geben, ob es ein
epidemijches, ein Arimiches oder irgend ein anderes Fieber jei.
Gegen Abend jtellte fi eine leichte Dige ein, weil der Kaijer
troß allen Zuredens die Mirtur nicht fortjegen wollte.
Endlih am 8. November ftellte Wyllie die Diagnoje; er
Schreibt: „Diejes Fieber it augenicheinlich eine febris gastrica
biliosa.“
An diefem Tage fand Fürft Wolkonjfi den Kaifer leicht
fiebernd auf dem Divan fißend. „Er fagte mir,” jchreibt der
Fürjt in feinem Tagebuch, „daß er nicht wille, was er mit den
Papieren beginnen folle, deren ſich eine große Menge anhäufe.
Ich ermiederte ihm, jebt ſei nicht Zeit an Papiere zu Denfen,
denn die Gejundheit Er. Majeftät ſei viel wichtiger; wenn Gott
ihm wieder MWohljein Schenken werde, werde er Alles wie erforderlich
erledigen können.“ Die Nacht verbrachte der Kaifer ziemlich gut,
tranfpirirte aber jtark.
Am 9. November gejtattete der Kailer, daß Fürft Wolfonjfi
die Kaiſerin Maria über feine Krankheit unterrichtete. Einige
Tage Später (am 11. November) befahl er dajjelbe nah Warjchau
zu jchreiben, um den Zäſarewitſch SKonjtantin Pawlowitſch zu
benachrichtigen.
Beunruhigt durch die Krankheit des Kaiſers, ſchickte Die
Kailerin ihren Leibarzt Stoffregen, um fih mit Wyllie zu berathen;
doch es wollte nicht vorwärts gehen. So wie früher widerjeßte
fi) der Kaiſer hartnädig dem Rath feiner Aerzte.
Die kurzen Notizen, die Wyllie an den folgenden Tagen
gemacht, illujtriren am beiten die Lage in Taganrog während der
traurigen Novembertage des Jahres 1825.
10. November. „Beute geht es ihm viel jchlechter.” An
diejem Tage befiel den Kaifer um 11 Uhr Vormittags, art Hal
260 Taganrog im Jahre 1825.
er das Bett verließ, zum erften Mal eine jtarfe Ohnmadt. Den
übrigen Theil des Tages verbrachte der Kranke in ſtarkem Fieber
und murde ſehr ſchwach; am Abend jtellten fich jtarfer Schweiß
und Vergeklichkeit ein, jo daß er nad dem Zeugniß des Fürften
Molfonffi wenig oder faſt garnicht mehr ſprach.
11. November. „Die Krankheit dauert fort. Der Darm:
traftus iſt noch recht unrein. Wenn ih ihm von einem Aderlaß
oder einem Abführmittel jpreche, geräth er in Wuth und würdigt
mich feines Wortes.” An dieſem Tage wiederholte ſich der
Ohnmachtsanfall, wenn aud in geringerem Grade.
13. November. „Alles wird fchleht gehn, weil er nicht
erlaubt noch darauf hört, was unbedingt geichehen mühte. Dieje
Sucht zu jchlafen jagt nichts Gutes voraus.”
Wyllie hat uns aus diejer Zeit noch eine werthvolle An-
deutung hinterlaſſen. Er ſchreibt: „Schon vom 8. November an
bemerfe ich, daß ihn etwas weit MWichtigeres, als der Gedanfe an
feine Geneſung, beichäftigt und jein Gemüth beunruhigt.”
„Ich weiß vortrefflih” fagte Nlerander zu Wyllie, „was
für mich jchädlich und was nüglich it. ch habe nur Einjamfeit
und Stille nöthig. ch vertraue auf den Willen des Allerhöchiten
und auf meine SKonjtitution. Ich münjche, Sie richteten Ihre
Aufmerfjamfeit auf meine Nerven, da dieſe außerordentlich zer:
rüttet find.” Wyllie antwortete: „Sch glaube, daß das bei
Monarchen weit häufiger als bei anderen Menihen geſchieht.“
„Und jept habe id dazu mehr Grund, wie je“ ermwiderte Der
Kaiſer.
Die Annahme Wyllie's, daß damals Sorgen das Gemüth
Kaijer Alexanders quälten, erwies fih als vollfommen berechtigt.
Unglüdliher Weije geftaltete fi) die Lage der Dinge jo, dab der
franfe Kaiſer der für ihn jo nothwendigen Ruhe beraubt wurde.
Wirklich langte damals ein Feldjäger in Taganrog an, der ihn
aufs neue an das unglüdjelige Ereigniß in Grufino und an den
untröjtlihen Einſiedler dajelbjt erinnerte.
Der Inhalt diejes Briefes war folgender :
„Bater und Mobhlthäter, Väterchen, Ew. Majejtät.
Ich ſchicke Ihnen eine genaue Beichreibung des in Grufino
verübten Verbrechens, fie ift von Schumſti lediglich für Sie nad)
meinem Diktat geichrieben.
Zaganrog im Jahre 1825. 261
Mit meiner Gefundheit, Väterchen, geht es fchlecht, wie
Sie aus dem Briefe Daller’s erjehen; jeden Tag wird es jchlecdhter,
doch geduldig trage ich Alles und bemühe mich, jeden Tag ins
Freie zu fommen; allein Herzklopfen, Fieber und Nachtſchweiße
entfräften mich außerordentlich.
Gerne möchte ich aus Gruſino fort, dody war es mir bis
jest noch micht möglich, jegt aber will ic) nad Nowgorod, um
dort in der Cinjamfeit, in der Nähe von Photius, zu leben; jehe
ih, daß meine Krankheit ſich verjchlechtert, jo reife ih nad
Betersburg, mwiewohl ic) das dortige Leben fürchte, denn, Väterchen,
unjere Modeherren werden mir feine Ruhe gönnen. Ad) Väterchen,
gerne flöge ich zu Ihnen nad) Taganrog, denn nichts wäre mir
lieber, als meinen Wohlthäter zu jehen, allein meine Bruftichmerzen
nehmen jo zu, daß ich bei dem jegigen fchlechten Wetter die Reife
fürdte; wahrjcheinlich würde ich fie nicht überftehen.
Der gute Peter Andrejewitich Kleinmichel ift in Nowgorod
und führt die Unterfuhung in meiner Sade, er hat fait alle
meine Dofleute, 22 Berfonen, arretirt.*)
„Lebe wohl, mein Vater, glaube mir, bleibe ih am Leben,
jo werde ih nur Dir allein angehören, jterbe id), jo wird meine
Seele die Aufmerfjamfeiten Ew. Majeſtät gegen mid) nie vergeſſen.“
Es läßt ſich ſchwer feftitellen, ob Kaifer Alerander damals
nod irgend welde Auskünfte über die Verſchwörung erhalten hat;
nur das iſt gewiß, daß er am 10. November dem General-
adjutanten Diebitſch den Befehl ertheilte, dem früher gefaßten
Plane gemäß den Obrijten Nikolajew nad Charkow zu fchiden,
jowohl um dem Unteroffizier Cherwood bei der weiteren Aufdeckung
der Verſchwörung behilflich zu fein, als aud) um die Theilnehmer
an ihr zu verhaften, wobei er den Nath und die Erläuterungen
Sherwoods mit der nöthigen Vorſicht benutzen jollte.
Ale diefe Sorgen um eine Angelegenheit, die die Ruhe
Rußlauds und jeine perfönliche Sicherheit bedrohten, mußten ohne
Zweifel die legten Lebenstage ANleranders mit Kummer erfüllen
*) Die Unterfuhung des „guten“ Kleinmichels und der Prozeß der
Mörder der Maitrefje Araltſchejew's bilden ein jchimpfliches Blatt in der
Geſchichte der grenzenlojen Eigenmädhtigfeit des Grafen Alexei Andrejewitſch,
da5 um jo mehr empören muß, ald es während der Regierungszeit deö milden
und humanen Alerander Play finden fonnte. (Anmerkung des Yutors.)
262 Taganrog im Jahre 1825.
und trübe Gedanken in ihm hervorrufen. Der dem General
adjutanten Diebitſch ertheilte Befehl war die letzte vom Kaifer
getroffene Anordnung.
Am 14. November ftand der Kaiſer um 7 Uhr früh auf,
wuſch ſich ohne fremde Hilfe und rafirte fih. Hierauf legte er fid)
wieder aufs Bett, befand ſich aber in jtarf erregtem Yujtande;
nad einer Bemerefng Wyllie’s fiel es ihm damals jchwer, irgend
einen Gedanfen richtig zu fallen. „Mein Freund, welch’ eine
Ichredliche Angelegenheit ift das” jagte er, fi an Wyllie wendend.
Wyllie machte an diefem Tage folgende Notiz: „Alles geht
ſchlecht, wiewohl er nicht phantafirt. Ich beabfihtigte ihm einen
Tranf mit Salzjäure zu geben, er weigerte ſich aber, wie
gewöhnlich: „Entfernen Sie ſich.“ Ih begann zu weinen; er
bemerfte es und jagte zu mir: „Kommen Sie her, lieber Freund.
Hd) hoffe, Sie find mir deshalb nicht böje. Ich habe meine
Gründe, jo zu handeln.”
Nah dem Tagebude des Fürften Wolfonjfi „trat bei dem
Kaiſer um Mittagszeit wieder jtarkes Fieber ein und hinter den
Ohren zum Naden bin wurde der Hals merklich roth, deshalb
machten Wyllie und Stoffregen Sr. Majeftät den Vorſchlag,
Biutegel hinter den Ohren anzujegen, doch der Sailer wollte davon
nichts hören, auf jede mögliche Weile verjuchten die Aerzte, die
Ktaiferin und ich, ihn umzuſtimmen und durd Bitten zu bewegen,
dod) er weigerte fih und äußerte jogar zornig, man möge ihn in
Ruhe laſſen, denn feine Nerven jeien ohnehin zerrüttet, dieſe müſſe
man zu beruhigen juchen und ihren gereizten Zujtand nicht durch
unnüge Arzneimittel jteigern.“
MWolfonjfi äußerte nun in Gegenwart der Kaijerin zu den
Herzten, jeiner Anfiht nad) ſei das einzige Mittel, den Kaijer
zum Cinnehmen von Arzeneien und zum Anſetzen der Blutegel
zu bewegen, — ihm den Empfang des heil. Abendmahls vorzu-
ichlagen, „wobei der Geiſtliche inftruirt werden müßte, bei der
Beichte und nad) Ertheilung der Saframente den Kaiſer zu
ermahnen und ihn zum Anlegen der Blutegel zu bejtimmen, indem
er vorbrädte, man halte das in Taganrog für das allerbejte
Mittel. Die Merzte afzeptirten diefen Rath und baten die Kaiſerin,
fie möge es übernehmen, dem Kranfen diejen Vorſchlag zu machen.“
Taganrog im Jahre 1825. 263
„Um 12 Uhr Nadts” schreibt Taraſſow, der vom 14.
November an meilt beim Kaifer wachte, „trat die Kaiferin zu
Alerander, jehr aufgeregt, ſich aber bejtrebend, in jeiner Gegenwart
ruhig zu erjcheinen. Sie jegte jih auf den Divan neben den
Kranken und begann dem Kailer zuzjureden, er möge die ihm von
den Werzten verordneten Arzeneien pünftlih einnehmen. Dann
fagte fie franzöfiih zum Stranfen:
Ich beabjichtige Ihnen mein Arzneimittel vorzufchlagen, das
allen Menſchen Nutzen bringt.
But, reden Sie — antwortete der Kaifer.
Die RKaiferin fuhr fort: „Ich weis mehr wie Alle, daß Sie
ein guter Chriſt find und die Regeln unferer rechtgläubigen Kirche
ftreng beobachten; ich rathe Ihnen, zu geiftiger Hilfe Ihre Zuflucht
zu nehmen: fie bringt Allen Nugen und führt auch in jchweren
Krankheiten zu einer günftigen Wendung.”
Wer hat Ihnen gejagt, daß mein Zuſtand bereits dieſes
Arzneimittel für mid) nothwendig macht?
Ihr Leibarzt Wyllie — ermwiderte die Kailerin.
Sofort wurde Wyllie herbeigerufen. In bejehlendem Tone
fragte der Kaifer ihn: „Glauben Sie, daß meine Krankheit jchon
jo weit vorgerüdt ijt?” Durch diefe Frage aufs Aeußerſte in Ver:
wirrung gelegt, beſchloß Wyllie dem Kaiſer ftrift zu erflären, er
fönne ihm nicht verbergen, daß jein Leben fih in Gefahr befinde.
Völlig ruhig fagte nun Se. Diajeftät zur Kaiferin: „Sch danke
Ihnen, befehlen Sie, ich bin bereit.“
Dian beichloß, den Oberpriefter an der Kathedralkirche Alekjei
Fedotow zu rufen, doch nad) dem Fortgange der Kaiferin jchlief
der Kaiſer ein, es war das übrigens fein richtiger Schlaf, ſondern
Schlafſucht (80por). In diefem Zuftande blieb der Aranfe bis
5 Uhr Morgens.
„Ich ſaß die ganze Nacht neben dem Kaiſer“ jagt Taraflow,
„und bemerfte, daß er, von Zeit zu Zeit aufwachend, Gebete und
Palme Heriagte, ohne dabei die Augen zu öffnen.
Am 15. November um 5'1/% Uhr Morgens jchlug der
Kaifer die Augen auf, erblicdte mid und fragte: „Befindet ſich
der Geiftliche hier?” Sofort benadhrichtigte ich hiervon den Baron
Diebitih, den Fürjten Wolkonjfi und den Baronet Wyllie, die im
Empfangsjaal neben dem Arbeitszimmer die ganze Nacht zugebracht
264 Taganrog im Jahre 1825.
hatten. Fürft Wolfonifi berichtete hierüber der Kaiferin, die zum
Kaifer eilte. Wir Alle betraten das Arbeitszimmer und blieben
am Cingange neben der Thüre jtehen.
Sogleidy) wurde der Überpriejter Fedotow hereingeführt. Der
Kaiſer ſtützte fi auf feinen linken Cllenbogen, begrüßte den
Heiftlihen und bat ihn um jeinen Segen; nachdem er Diejen
empfangen, füßte er ihm die Hand. Hierauf jagte er mit fejter
Stimme: „Ih wünſche die Beichte abzulegen und das heil.
Abendmahl zu empfangen, ich bitte mir die Beichte abzunehmen,
nicht wie dem Sailer, jondern wie einem gewöhnlichen Gemeinde:
gliede; belieben Sie zu beginnen, ich Din bereit.”
Dierauf hörte der Kaifer das Gebet an, das der Beichte
vorausgeht und fagte dann zur Kaiferin: „Jh muß allein bleiben.“
Die Kaiſerin und alle Anwejenden entfernten fih. Die Beichte
und die Ertheilung der Saframente dauerten nad) dem Zeugniß
Taraſſow's 11/4 Stunde. Nach Beendigung der Beichte befahl
der Sailer die Kaiferin zu rufen, mit ihr traten Fürſt Wolkonſti,
Seneraladjutant Diebitich, Wyllie, Stoffregen, Taraſſow und Die
Kammerdiener ein. Der Kaiſer empfing nun die Saframente.
Die Kaiſerin fühte ihm Stirn und Hand. NWlerander wandte fic)
an die Kaijerin, ergriff ihre Hand, küßte fie und jagte: „Niemals
habe ich einen größeren Genug empfunden, aufrichtig danfe id)
Ihnen dafür.”
Und Gott offenbarte fih ihm und es wid von ihm Die
graufige Erinnerung, die ihn Zeitlebens verfolgt hatte und oftmals
inmitten der größten Feitlichfeiten wie ein Gejpenjt vor ihm er:
ſchienen war.
Nach dem Abendmahl begannen die Kaiferin und der Geijtliche
den Kranfen zu beichiwören, ſich nicht weiter den ärztlihen Maß—
nahmen zu widerjegen; mit dem Kreuz in Händen warf fi) Bater
Alekſei auf die Kniee, unterjtügte die Ermahnungen der Kaijerin
und jagte, wenn ein Kaijer jeine Gejundheit nicht jchone, jo jei
es eine ſchwere Sünde, die dem Selbjtmord nahe füme. est
wandte ſich Alerander an die Aerzte mit den Morten: „Lebt,
meine Herren, thun Sie Ihre Pflicht, wenden Cie die Mittel
an, die Sie für mid) für erforderlich halten.”
Der Fieberzujtand hatte allmählich an Intenfität zugenommen,
die Anfälle wieſen deutlid auf eine Affektion des Gehirns hin.
Taganrog im Jahre 1825. 265
Unverzüglich feste Taraſſow hinter den Ohren und am Naden
30 Blutegel an, auf den Kopf wurden falte Umjchläge gelegt und
von den Werzten innere Mittel angeordnet. Gegen Abend jchien
der Zuftand des Kaiſers etwas beſſer, wenigjtens waren die Zufälle
nicht jtärfer geworden. Dod gab Wyllie fih nicht trügerijchen
Hoffnungen hin. Er notirt am 16. November in feinem Tage:
buch: „Alles jcheint mir zu ſpät zu jein. Nur wegen Abnahme
der Fförperlihen und Seelenfräfte und wegen Verringerung Der
Senfibilität gelang es nad) dem Abendmahl und nad) den Er:
mahnungen Febotow’s, ihm einige Arzeneimittel beizubringen.“ *)
Die Naht verbradhte der Kaifer etwas ruhiger. Das Fieber
war jchwäcer, das auf den Naden geſetzte Spaniichfliegenpflajter
hatte qut gewirkt.
Der 17. November begann mit einem berrlihden Morgen.
Die Sonne jchien hell, ihre Strahlen fielen gerade auf die Feniter
des Kaiſers. Der Kranke befahl die Fenitervorhänge aufzuziehen,
erfreute fih am Sonnenichein, den er jtets jehr geliebt hatte,
und ſagte: „Wie jchön iſt es!”
Einige andere Symptome gaben geringe Hoffnung auf eine
Wendung zum Beſſeren in der Krankheit des Kaijers, die übrigens
nad einer Bemerkung Taraſſow's bereits den höchjten Grad der
Entwidelung erreicht hatte.
Die Kaiſerin, die nicht einen Schritt vom Sterbelager ihres
Gemahls ſich entfernte, freute jich des ſchwachen Schimmers von
Hoffnung und beeilte fich, hierüber an die Kaiſerin-Wittwe nad)
Petersburg zu jchreiben.
Doch der Tod jchwebte bereits über dem armen Xeidenden:
er war im Berlöjchen. Das, was die Kaijerin und Einige von
den Anwejenden für eine Wendung zum Bellern nahmen, war
nur ein legtes Auffladern des Lebenslichtes. Gegen Abend wurde
der Zuftand des Kaijers wieder jchlechter, alle Zufälle jteigerten
*) In den „Erinnerungen eines Diplomaten“ führt Lord Loftus eine
Erzählung an, die er im Petersburg von Wpllie gehört hatte. Nachdem man
dem Kailer Alerander mit jeiner Zuftimmung Blutegel angefegt hatte, fragte er
die Kaiferin und Wyllie, ob fie nun zufrieden wären. Kaum hatten jie ihre
Zufriedenheit ausgedrüdt, da riß der Kaiſer plöglid) fid) die Blutegel ab, die
allein ihm das Leben retten konnten. Dabei ſagte Wyllie zu Yoftus, augen:
ſcheinlich habe Alerander den Tod gelucht und deshalb allen Mitteln ſich widerlegt,
die ihn retten fonnten. (Anm. des Autors.)
266 Taganrog im Jahre 1825.
fih, die Symptome der Gehirnaffeftion wurden deutlider und
jede Hoffnung auf einen günjtigen Musgang der Krankheit war
dahin: „Keine Hoffnung, meinen vergötterten Gebieter zu retten“
ruft Wpllie in einer Notiz aus, die er am 18. November made.
Taraſſow jchreibt: „Die ganze Nacht verbrachte der Kaiſer
in Bemwußtlofigfeit; nur zuweilen öffnete er die Augen, wenn bie
Kaiferin, die neben ihm ſaß, ihn anredete, zumeilen richtete er
auch feine Blide auf ein Kruzifir, befreuzigte ſich und lallte Gebete.
Trog der Bewußtlofigkeit in Folge des ſich jteigernden Hirndruds
fühlte er die Gegenwart der Kaiferin, jo oft fie zu ihm trat,
ergriff ihre Hand und hielt fie an fein Herz. Gegen Abend
begann ber Kaifer fichtbar jchwäcer zu werden. Wenn ich ihm
aus dem Löffel zu trinken gab, merfte ih, dab er langjam und
nicht frei zu jchluden anfıng. Ohne zu fäumen gab ich hiervon
Nachricht. Sofort berichtete Fürſt Wolkonjfi hierüber der Kaiſerin,
die um 10 Uhr Abends ins Arbeitszimmer trat und ſich auf
einen Stuhl neben dem Sterbenden hinſetzte, beftändig hielt fie
mit ihrer linfen Hand feine rechte. Bon Zeit zu Zeit weinte fie.
Ich ftand die ganze Nacht hinter der Kaiferin, zu Fühen bes
Kaifers. Was man ihm zu trinfen gab, jchludte er mit großer
Mühe herunter; eine Biertelftunde nad) Mitternaht wurde Die
Athmung merklich langlamer, fie war aber ruhig und jchmerzlos.
Die Glieder der Suite und die Hofbeamten verbrachten Die
ganze Nacht ftehend im Schlafzimmer und warteten auf das Ende,
das jede Minute näher Fam.
Es brady der 19. November an. Der Morgen war dunfel
und trübe; der ganze Platz vor dem Palais war von Wolf bededt,
das aus den Kirchen, wo es um Geneſung für den Kaiſer gebetet
hatte, ſchaarenweiſe zum Palais ftrömte, um Nachricht über feinen
Zuftand zu erhalten.
Der Kaijer wurde allmählich jchwächer, oftmals öffnete er
die Augen und richtete fie auf die Kaiferin und aufs Kruzifir.
Seine legten Blide waren fo friedlich und drüdten ſolch' ein
gläubiges Vertrauen aus, daß wir alle, die wir anweſend waren
und trojtlos ſchluchzten, von unausiprechlicher Andacht erfüllt
wurden. In feinem Blid lag nichts Irdiſches mehr, fondern
bimmlisches Entzüden und fein Zug von Leiden. Die Athmung
wurde immer feltener und leiſer.“
Taganrog im Jahre 1825. 267
Um 10 Uhr 50 Minuten ging Kaiſer Alerander in Die
Ewigkeit über.
Die Kaijerin, die bejtändig neben dem Sterbenden gejellen
hatte, erhob fich, hielt fniend ein Gebet, ſchlug über dem Kaijer
ein Kreuz, füßte ihn, drückte ihm die Augen zu, band hierauf mit
einem zujammengelegten Tuche das Kinn auf, betete nochmals
fniend, verbeugte fi tief vor dem Entichlafenen und begab ich
dann aus dem Arbeitszimmer in ihre Gemächer.
Am jelben Tage noch fand die Kaiſerin foviel Kraft, folgende
Zeilen an die Kaiferin Maria Feodorowna zu richten;
„Iheure Mutter! Unjer Engel iſt im Himmel und id) blieb
auf Erden; o fönnte ich, von allen Wejen, die ihn beweinen,
das unglüdlichite, mid) bald mit ihm vereinigen! O mein Gott,
das überjteigt faſt die menſchlichen Kräfte, doch da Er es geſchickt
hat, jo muß es ohne „Zweifel getragen werden fönnen. Ich
verjtehe mich jelbjt nicht mehr, ich weiß nicht, träume ich etwas,
ich fann weder über meinen Zujtand Rechenschaft geben, noch ihn
falten. Hier haft Du eine von feinen Haarloden, theure Mutter.
D warum mußte er joviel leiden! Doch jet zeigt jein Geficht
nur den Ausdrud der Zufriedenheit und des Wohlwollens, der
ihm eigen ijt. Er jcheint Alles, was um ihn gejchieht, zu billigen.
D theure Mutter, wie unglüdlid find wir Alle! So lange er
hier bleibt, bleibe auch ich bier, führt man ihn fort, jo werde,
falls man es für möglich findet, aud ich fort. Ich werde mit
ihm reifen, jo lange ich fann. Ich weiß nody nicht, was mit
mir geichehen wird. Theure Wiutter, bewahren Sie mir Ihr
MWohlwollen.”
Selbjt unheilbar franf, wurde Elijabeth in ihrem untröjtlichen
Schmerz nur von einer Hoffnung bejeeit; bald mit dem theuren
Entſchlafenen im Jenſeits vereint zu werden.*)
*) Der Wunſch der Kailerin Eliſabeth ging in Erfüllung. Die Leiche
ihres Gemahls, die mit Kaiſerlichem Pomp durch ganz Rußland geführt und
am 13, Mär) 1826 in der Peterpaulsfeitung zu Wetersburg bejtattet wurde,
hatte fie nicht begleiten Fönnen. Krank verlieh jie Taganrog am 21. April und
ftarb auf der Reiſe nad) Petersburg im Tulajchen Gouvernement in der Kreisjtadt
Bielew am 4. Mai 1326, des Morgens früh; die Kaiferin-Mutter Maria, die
ihr von Petersburg aus entgegengeeilt war, traf erjt einige Stunden nad) ihrem
Tode in Bjelemw ein. (Siehe „Ruſſtaja Starina“ 1897, Aprilheft S. 5— 25.)
268 Taganrog im Jahre 1825.
I.
Am 19. November 1825 geihah ein großes Unglüf für
Nußland: der bejte der Monarchen Europas war nicht mehr.
Als er von der politiihen Bühne verſchwand, trat nur all’ das
Herrliche jeines Lebens in den Vordergrund; alles Uebrige fiel
der Vergejjenheit anheim. tan fieht ihn vor fich, ſchreibt W. A.
Shufowffi im November 1826, dieſen herrliden Genius, den
man jo freudig im Jahre 1801 begrüßte; man fieht den ruhm—
bededten Kaiſer vor fi, dem Rußland die Jahre 1813 und 1814
verdankt; man fieht den Tröjter des Volkes nad der vorigjährigen
Ueberſchwemmung; man jieht den freundlichen, wohlwollenden
Menſchen, der in perjönlihem Verkehr jo liebenswürdig war, nad)
dem Ausdrud Speranifi’s jtets wahrhaft bezaubernd. In feiner
Seele gab es viel ideal Schönes; er wünſchte aufrichtig das Gute,
er liebte das Gute und ſuchte es zu erreichen. Plan hatte Grund
traurig zu fein, namentlid im Hinblid auf die unbefannte Zukunft,
die Nußland erwartete, welchem, wie ein ruifiiher Schriftiteller
fid) bildlidy ausdrüdte, nad) dem Tode Nleranders bejtimmt war,
in einen falten unfreundlichen Korridor zu treten, in einen langen
finjteren Tunnel. Das fühlten viele Zeitgenoffen und gejtanden es.
Allein abgejehen von der Trauer, die auf aan; Rußland
fi) herabjenfte, brach für diejenigen, die das Sterbelager des
verewigten Monarchen umjtanden, noch eine bejondere, von ihnen
allein zu durchlebende, wahrhaft tragiihe Zeit an. Ferne von
der Hauptjtadt und von allen Gliedern der Kaijerlihen Familie,
in einer einjamen Stadt des Ruſſiſchen Reichs, 2000 Werft vom
Zentrum der Staatsverwaltung, tauchte vor ihnen die ſchickſals—
ihwere Frage auf: wer wird nun Sailer fein, wem joll man den
Eid leijten, von wen fünftig Befehle erwarten? Und noch dazu
mußte man ſich diefe Fragen inmitten einer weitverzweigten Ver:
ſchwörung und alljeitiger Gährung vorlegen.
„Die Sphinr, die bis zum Tode von Niemandem errathen
ift,“ wie ein Dichter treffend Alerander genannt, bat Niemandem
feinen legten Willen entdedt und jelbit im Angeficht des unver:
meidlihen Todes, deſſen er fid) bewußt war, es nicht für nöthig
gehalten, auch nur mit einem Worte, mit einer Andeutung dieje
für das Wohl Rußlands jo bedeutungsvolle Frage zu berühren.
Ganz im Gegentheil, in jeinen lebten Lebenstagen hat Kaijer
Taganrog im Jahre 1825. 269
Alerander wie abjichtlih alle irdischen Angelegenheiten von ſich
ferne gehalten und iſt wie ein Privatınann geitorben, der jeine
Rechnung mit der Welt abgeichloffen hat. Deshalb ift es nicht
zu verwundern, dab er nicht auf dem von ihm bejtimmten Nad):
folger hingewiejen hat; fi) damit begnügend, daß er im Geheimen
jeine Anordnungen getroffen, fchien er zu denfen: man wird das
Tejtament eröffnen und dann erfahren, wen Rußland zufällt.
Vom Vorhandenfein eines Dofuments, welches den Groß:
fürften Nikolai Pawlowitſch zum Nachfolger bejtimmte, wußte bei
Lebzeiten Nleranders Niemand, ausgenommen drei Staatsbeamte:
Graf Araktichejem, Fürft A. N. Goligin und der Erzbifchof von
Moskau, Philaret. In Folge einer unglüdlichen Verfettung der
Umjtände war Seiner von ihnen beim Tode des Kaiſers in
Taganrog zugegen. Bon den drei beim Kaifer befindlichen General:
adjutanten: dem Fürften Molfonjfi, dem Baron Diebitih und
Tſchernyſchew wußte Niemand, daß die Nechte des älteren Bruders
auf den Thron auf den nädjitfolgenden übertragen waren.
Ter Seneraladjutant Diebitich erzählte jpäter dem Michailomifi:
Danilewjfi: „Der Kaiſer, der mir viele Geheimniſſe anvertraut hat,
hat mir hierüber nicht ein Wort mitgetheilt. Einſt war id) mit
ihm in den Anfiedelungen, er wandte fih an den Großfürſten
Nikolai Pawlowitſch und ſagte zu ihm: „Das wirt Du erhalten
müjlen.“ Aus diefen Worten jchloß ich nur, daß der Großfürft
im Hinblid auf jein Alter den Kaifer und den Thronfolger über:
leben und dann ihr Nachfolger jein werde.“
Darauf beichränfte fich Alles, was Diebitih in Taganrog
über die TIhronfolge wuhte. Dem Fürjten Wolkonſki war ebenfalls
nichts über dieſen Gegenſtand befannt. Schließlich befand ſich die
Kaiferin Elifabetd in derjelben Lage und wußte nichts von der
bereits erfolgten Thronentijagung des Groffürften Konjtantin
Pawlowitſch.
Weiter erzählt Diebitſch: „Fürſt Wolkonſki und ich, wir
nahmen an, der ſeelige Kaiſer Alexander Pawlowitſch habe ein
Teſtament bei ſich, denn er trug beſtändig ein Kouvert mit Papieren
in der Taſche, deren er ſich niemals entäußerte. Als wir aber
nach ſeinem Tode die Papiere öffneten, fanden wir, daß es die
Abſchriften zweier Gebete und einiger Kapitel aus der heiligen
Schrift waren.“
270 Taganrog im Jahre 1825.
Bei einer folchen Lage der Dinge blieb dem Generaladjutanten
Diebitſch nichts übrig, als über den Tranerfall nah Warſchau an
den Zälarewitich Konftantin Pawlowitſch zu berichten, als an bie:
jenige Berfönlichfeit, die jest nach dem Geſetz der Erbfolge Kailer
von Rußland war.
Das in Taganrog verfaßte Dokument über den Tod Kaijer
Nleranders wurde dem llerunterthänigiten Bericht des Baron
Diebitih an den Kaiſer Konjtantin vom 19. November 1825
beigelegt.
Einen Tag nad) dem Tode des Kaiſers Nlerander, am 20.
November, fand die Sektion ſeiner Leiche im Beilein des General:
lieutenants Tſchernyſchew ſtatt. Das Zeftionsprotofoll unter:
Ichrieben neun Aerzte, unter ihnen die Leibärzte des verjtorbenen
Kaifers und der Kaiſerin Eliſabeth. Am Schluß des Protokolls
heißt es:
„Diefe anatomische Unterfuhung beweiſt augenscheinlich, daß
unſer Allerhöchſter Kaiſer an einer akuten Krankheit gelitten bat,
von der Anfangs die Yeber und die übrigen zur Gallenbereitung
dienenden Organe befallen waren; dieje Krankheit ging im weiteren
Verlauf allmählich in ein heftiges Fieber über, mit Blutfongejtionen
zu den Sehirngefäßen und nachfolgender Abjonderung und An:
häufung einer jeröjen Flüffigfeit in den Gehirnhöhlen, und war
Ichliehlih die Todesurfache Sr. Kaiferlihen Majeftät.“
Als Anhang zum furzen Abriß der Trauerereignille, Die
1825 in Taganrog vor fi gingen, bringe ich einen Brief des
Fürſten Wolfonfti an den Generaladjutanten Safrewili; in diefem
Briefe findet ſich eine jchonungsloje, doch gerechte Kritik der
Handlungsweife der verruchten Schlange, die die lebten Lebens:
wochen Kaiſer Aleranders verdüjtert Hat.
MWolfonjfi jchreibt unter Anderem am 21. November 1825:
„Die verruchte Schlange trägt zum Theil Schuld an dieſem
Unglüdsfall dur ihre garftige Affaire und ihre abjcheuliche
Handlungsweile; denn am erjten Krantheitstage las der Kaijer
die von der Schlange eingelaufenen Papiere, da befiel ihn plößlich
ein äußerſt heftiges Fieber, das wahrjcheinlid dem Aerger feinen
Ursprung verdanfte, er legte fi zu Bett und iſt nicht wieder
aufgejtanden. Habe ich nicht Necht gehabt, als ich Ihnen jagte,
dieſes Ungeheuer richte Rußland zu Grunde und werde auch den
Taganrog im Jahre 1825. 271
Kaifer ins Verderben ftürzen, der zu fpät von feinen Schandthaten
erfahren werde? Jetzt ijt eingetroffen, was ich geahnt habe. Kann
diefes ‚Ungeheuer noch die Kühnheit haben, fi) den Augen ber
Welt zu zeigen und wird ihn jein böjes Gewiſſen nicht ver:
nichten? Wenn aber das auch zutrifft, jo wird damit das Unglück,
das Rußland und uns alle treue Unterthanen des Kaijers betroffen
hat, nicht ungejchehen gemacht.“
Aus der Antwort des Generaladjutanten Safrewifi auf
diefen Brief, dat. Hellingfors d. 10. Dezember 1825, fann man
erjehen, wie jehr er mit der Aeußerung des Fürlten MWolfonffi
über die Handlungsweile des Grafen Araftichejew übereinjtimmte.
„Nur zu jehr bin ich von der Nichtigfeit ihrer VBorahnungen
in Bezug auf das friehende Gewürm überzeugt, das durch feinen
Geifer die letzten Augenblide jeines Wohlthäters zu vergiften
vermochte” jchreibt Sakrewſti. „Erinnern Sie ſich meiner Anficht
über ihn, fie hat ſich jegt in auffallender Weiſe bewahrheitet.*)
Nicht ohne Grund it er mir von jeher in höchſtem Grade anti:
pathiſch geweſen. Wenn Sie wühten, wie unerträglich jest allen
Vaterlandsgenoffen aud nur der Gedanfe an jeine Erütenz iſt!
Dan Schreibt mir aus Petersburg, daß fat alle Menichen ihn
haſſen und zugleich wie ein Ungeheuer fürchten. Selbſt hat er
jest feinen gemeinen Charakter offenbart, dadurch daß er damals,
als die ſchmachvolle Geſchichte mit ihm geichah, feine Ehre und
feine Pfliht dem Vaterlande gegenüber vergaß, Alles von ſich
abichüttelte und fich in feine Höhle zu ſeinen friehenden Kreaturen
zurückzog, jet aber, wo jein Wohlthäter geftorben it, das Herz
dazu hatte, aus feinem Schlupfiwinfel hervorzufriechen und wieder
jeine Gefchäfte zu übernehmen. Nachdem er jo gemein gehandelt,
ift es nicht Schwer zu errathen, welche niedrigen Gefühle diefe Mip-
geburt von Natter beherbergt.”
Ein hartes Urtheil, aber, das muß man befennen, ein
gerechtes! Wirklih wurde Graf Nraftjchejew, der dem Kaiſer
Alerander verfichert hatte, er habe wegen jchwerer Zerrüttung
der Gejundheit alle Ueberlegung verloren, die ihm anvertrauten
*) Schon 1819 hatte 9. U. Safremjfi behauptet, „der Graf Araktſchejew
jei der jhädlichite Menich in Rußland.“ Hieran hatte Sakrewſti den prophetiichen
Ausipruh geknüpft: „Ich glaube, Kleinmichel wird mit der Zeit noch ſchlechter
wie er werden.“ (Anm. des Autors.)
272 Taganrog im Jahre 1825.
Geſchäfte mweiterzuführen, und denfe nur daran, in der Einfamfeit
in der Nähe von Photius zu leben, plöglich, nachdem er dem
Kaiſer Konftantin den Eid geleiftet, auf ganz wunderjame Weiſe
von allen feinen Leiden befreit und berichtete am 30. November
dem neuen Herriher: „Ta meine Krankheit ſich gebejlert hat,
habe ich das Kommando über das abgetheilte Korps der Militär:
Anfiedelungen wieder angetreten.”
Troß ihrer Krankheit und Schwäche dachte Kailerin Elifabeth
inmitten ihres namenlojen Schmerzes an Laharpe und ehrte ben
früheren Erzieher Kaiſer Aleranders durch folgenden eigenhändigen
Brief:
„Von Allen, die meinen tiefen Kummer theilen, ift mir der
Gedanke an Sie in dieſer traurigen Zeit der theuerjte. Gerne
beweinte ich mit Ihnen den herrlichen Menſchen, deſſen jchone
Seele Ihnen befannt war; Sie folgten feiner Entwidelung, Sie
trugen dazu bei, Ihnen dankt er zum Theil die ausgezeichneten
und an jeinem Plage jeltenen Eigenschaften, die ihn zum Liebling
und zum Entzüden jeines Volfes und der Ausländer machten;
Niemand kann bejjer wie Sie die Größe meines Verluftes ermeſſen
und zu mir in dem Tone reden, nad welchem mein Herz vor
Allem dürjtet. Sie willen, daß er zu befennen liebte was er
Ihnen zu danken hätte, und ich finde Troſt darin, Ihnen jolches
zu wiederholen. Sie jagen, daß der Neft Ihrer Lebenstage durd)
unjer Unglüd verdüftert jei, und id) glaube Jhnen das; doc) denfen
Sie an den unmittelbaren Einfluß, den Sie auf feine Jugendzeit
hatten, denfen Sie an das Heil, das Sie dadurch ihm und der
ganzen Menjchheit erwiefen haben, und Sie werden noch Trojt in
diefem Gedanken finden.
Was ſoll ih Ihnen von mir mittheilen? Ich brauche Ihnen
nicht zu jagen, daß ich vollitändig unglüdlid bin, daß ich Alles
auf diefer Welt verloren habe, wo jeine Liebe für mid) das
höchſte und werthoollite aller Güter war. Als ich jo glücklich
darüber war, mit ihm an dieſen fernen Ort zu reifen, weil er
den Aufenthalt in ihm für förderlih für meine Gejundheit hielt,
fonnte ich da vorausjehen, daß er ein Opfer feiner Thätigfeit und
jeiner Bemühungen für fein Land werden werde. Die rajchen
Fortichritte der jüdlichen Provinzen feilelten und interejfirten ihn;
zu großen Strapazen jegte er ſich aus, als er die Krim bereijte,
Taganrog im Jahre 1825. 273
zu wenig achtete er feiner Gefundheit dabei, in einem Klima das
gerade durch feine Schönheit gefährlich it, und brachte von dort
die eriten Symptome der jchredlihen, jo raid verlaufenden
Krankheit mit, die ihn uns entrilien hat. Zu niedrig jchäßte er
jein Leben, das iſt der einzige Vorwurf, den er verdient hat.
Ich halte es für meine Pflicht, alle diefe Details feinem ältejten
Freunde mitzutheilen und finde Troft darin, mit Ihnen von ihm
zu Iprechen. Gleichzeitig bedauere ich, daß jo große Entfernungen
zwiſchen uns liegen, während wir Beide doch wünſchten, die auf-
richtige, tiefe Trauer, die uns niederdrüdt und bis zum Ende
unjerer Tage nicht aufhören wird, mit einander zu theilen.“
Neue Belletrikik,
Friedrich Nietzſche, Gedichte und Sprühe. — Jenny von Reuß, Tempi
passati. — Korfiz Holm, Schloß Uebermutd. — Guy de Maupailant,
Gejammelte Werke.
Noch steht die Welt unter dem erjchütternden Eindrud des
grauenvollen Verbrechens, durch welches die habsburgiſche Monarchie
ihrer allgeliebten und verehrten, edlen Kaiferin Elifabeth jo jählings
beraubt ift. In die Bruft der jchuldlojen Frau, der Märtyrerin
auf dem Saijerthrone, die ihr jchweres Loos mit bemwunderungs-
würdiger Ergebung trug, ijt der Mordjtahl des Frechen Anarchiſten
gedrungen, der jekt mit empörendem Zynismus feiner bübijchen
That fih noch rühmt und den feigen Meuchelmord als leuchtendes
Beijpiel Hinzujtellen fich nicht entblödet. Wie gelähmt von Ent:
jegen umjtehen die Völker Oeſterreich-Ungarns ihren greifen
Monarchen, der unter Strömen von Thränen fein ebles, ſchmählich
5
274 Neue Belletriftif.
ermordetes Weib in der Gruft der Kapuziner von Wien gebettet
hat, und durch die ganze zivilifirte Welt geht neben der Entrüftung
über das Gefchehene ein Gefühl tiefer, aufrichtiger Theilnahme
mit jo großem Leid, verbunden mit der dumpfen, nur zu berechtigten
Furcht vor noch bevorjtehenden ähnlichen Geſchehniſſen.
Aber wird auch der richtige Standpunkt für die Beurtheilung
des erjchredenden Ereigniſſes nad allen Zeiten bin gefunden?
Wirkt es die innere Einkehr und Läuterung, die es mahrlid)
wirfen Sollte und müßte? Das fteht noch jehr in Frage. Mit
dem Entrüftungsgeichrei gegen die Greuel der Anardiften, mit
den zunächſt noch recht vagen Plänen zur Bekämpfung Diejer
verabicheuenswürdigen Richtung iſt die Sache nocd lange nicht
abgethan, jo jehr berechtigt dies Alles auch ohne Zweifel ift. Wir
ernten da nur die jcheußlichen Früchte jenes großen Giftbaumes,
deſſen Wurzeln die moderne Geſellſchaft in weiten Kreifen liebevoll
gehegt und gepflegt, an deſſen Blättern und Blüthen fie oft
unverhohlen ihre herzliche Freude gehabt hat. Wenn jet Die
Zeitungen aller Länder und Völker, die Blätter der verſchiedenſten
Parteirihtungen jich nicht genug thun fönnen in Neußerungen der
Entrüjtung über Luccheni's elende Mordthat, dann ift es wohl
am Plate die Frage aufzumerfen, wie viele derjelben Blätter die
moderne Weisheit von der Ummerthung aller Werte, von der
Abſchaffung der chriltlihen Lämmleinmoral und Sflavenmoral,
und Erjaß dur) die Herrenmoral des Löwen und Adlers, Die
rüdjihtslos ihre Opfer morden, gepriefen und verherrlicht haben;
wie wenige es gewagt, Dem und Aehnlichem energiich und ent:
Idieden entgegenzutreten. Lie man fich nicht in weiteſten Kreiſen
den höhnenden Spott über die „Tugendbolde,” die „moralijchen
Brüllaffen“ ſchmunzelnd gefallen und begeifterte ſich mit Friedrich
Nietzſche an deſſen WVerherrlihung des Verbrecherthums, der
Bejtialität, des rüdfichtslojen Egoismus, der Immoral und Irre:
ligiofität? Die Verbrechen des Einzelnen find die Verbrechen der
Gejammtheit, — dieſer tiefe und wahre Sag trifft hier in vollem
Maße zu. Zwiſchen dem Anarchismus und der fo viel bewunderten
modernen Litteratur bejteht ebenjo unleugbar ein Zufammenhang
wie zwiſchen der franzöfiichen Litteratur des vorigen Jahrhunderts
und den Greuelthaten der franzöfiichen Revolution. Die bürgerliche
Geſellſchaft, die einem Niegiche zujauchzt und ihn zu ihrem geiftigen
Neue Belletriftik, 275
Führer erhebt, hat fein Recht, fich über Luccheni und fein 2er:
breden zu entrüften. Mitichuldig hieran wie an vielem Anderem
find in bervorragendem Maße jene führenden Geilter, die mit
bewußter Energie auf eine Nevolutionirung der modernen Menſchheit
gegen Alles, was uns bisher heilig gemwejen, losarbeiten. Mit:
Ihuldig ift das große Heer jener Schriftiteller und Dichter, Die
mehr oder minder bewußt, mehr oder minder zyniſch daran arbeiten,
alles Gute und Edle in den Staub zu ziehen, es fo lange und
jo reichlich mit Koth zu bewerfen, bis es nicht mehr zu erfennen
ift. Mitichuldig iſt Jeder, der diefen Geift direft oder indirekt,
mit offener oder geheimer Sympathie in feinem Wachsthum fördert.
Mitichuldig find wir Alle, wenn wir nicht, ein Jeder an feinem
Theile, diefem Geijt überall, wo er fid) regt, entgegentreten und
ihn mit aller Energie befämpfen.
Daß Nietzſche ein ungewöhnlich geiftvoller Schriftteller war,
fann nicht bezweifelt werden; ebenjo unzweifelhaft aber ift es,
daß feine geiftige Entwidelung einen durdaus pathologischen
Charakter trägt. Gegenüber dem unglüdlihen halb oder ganz
Wahnfinnigen verjtummt nothiwendig das moraliſche Urtheil, aud)
wenn er die ralenditen Theorien entmwidelt. Aber es iſt ein
furdtbar ernjtes Zeichen der Zeit, daß dieſe genugſam befannten
Theorien in jo weitem Umfang begeilterte Anerkennung gefunden
haben und von Unzähligen wie das Evangelium einer neuen Zeit
begrüßt werden; — daß mit dem Andenken des unjeligen Mannes
ein Kultus getrieben wird, als handle es ſich bier in Wahrheit
um einen berufenen geiftigen Führer der Nation, der Menichheit.
Neben das Goethe-Arhiv ift nunmehr in Weimar bereits ein
Niegfhe:-Arhiv getreten, und aus demjelben veröffentlicht
die Schweiter des Unglüdlihen, Elifabeth Förjter-Niegiche,
„Sedichte und Sprüde von Friedrid Nietzſche“ (Leipzig
1898). Sie follen das Befte darjtellen, was er von der Kindheit
bis zum vollendeten Irrſinn dichteriich geichaffen hat.
Nach Niegiche's profaiichen Schriften, deren glänzende Diftion
oft von poetifcher Gluth durchtränft ift, oft zu dithyrambiicher
Begeilterung fi erhebt — biendend, berüdend, fortreigend —
habe ich eigentli von jeinem poetiihen Können Größeres erwartet.
Wenn aud als Philofoph nicht ernft zu nehmen, jchien er doch
als Spradfünftler, als Dichter von gewaltiger Begabung au „jein.
276 Neue Belletriftik.
Allein die vorliegende Sammlung bejtätigt ſolche Vorausſetzung
nur zum Theil und dürfte Manchem in dieſer Richtung eine
Enttäufchung bereiten. Die Schöpfungen der früheren Jahre find
vielfah recht unbedeutend, in Form und Inhalt nicht felten
mangelhaft; diejenigen der Neifeperiode, der Zarathuftrazeit, leiden
zu fehr an Maßlofigfeiten und Brutalitäten aller Art, laſſen zu
oft Schon den irren und wirren Geiſt erfennen, als daß eine rein
äfthetiiche Freude ihnen gegenüber auffommen fönnte, wie fie
wirfliden Kunftwerfen gegenüber doch auch dann durchaus möglich
it, wenn der Betrachtende auf diametral entgegengeleßtem Stand:
punkt jteht wie der Scaffende. Echte künſtleriſche Vollendung
müffen wir aud) da als ſolche anerfennen, wo der Dichter Ber:
breden und Wahnwig predigt; aber von ſolcher Vollendung ift
in Der vorliegenden Sammlung doch nur wenig zu fpüren.
Immerhin findet fih, wenn man das Ganze überblidt, mandes
interejjante und jchöne Gedicht, mancher bedeutende Sprud, mie
das bei einem jo geiftvollen Manne nicht anders zu erwarten war.
Unter den Gedichten aus der Kindheit und Jünglingszeit
(1858---1864) find „Gruß“ und „Alt Mütterlein“ recht hübſch.
Ergreifend finde ih „Du hajt gerufen — Herr, ich komme,“ —
ein von echtem frommem Empfinden zeugendes Gedicht. Hätte
der Didhter etwas von der hier waltenden Stimmung fi) dod
auch in jpäteren Jahren zu bewahren gewußt! Bier beugt er fi)
andäcdhtig, veuig vor dem Sünderheiland, während er jpäter in
Hohn und Spott über Kreuz und Chriſtenthum fi) garnicht genug
tun fann und den einjt von ihm angebeteten Nichard Wagner
empört verläßt, indem er ausruft:
Weh! Daß auh Du am Kreuze niederjantit
Auch Du! Auch Du — ein Ueberwundener!
Unter den Gedichten der Neifeperiode finden fi) manche
wirklich Schöne, 3. B. „Der Herbit,“ „Nad neuen Meeren.” Auch
die legten, großentheils ſchon krankhaft zerfahrenen Schöpfungen
enthalten erhabene und ergreifende Stellen, 5. B. „Die Sonne
ſinkt“ u. a. m. Von den Eprüden hebe ich als geijtvoll und
treffend den folgenden heraus:
Wer Biel einjt zu verfünden hat,
Schweigt Biel in fi hinein.
Wer einjt den Bli zu zünden hat,
Muß lange — Wolle jein.
Neue Belletriftif. 217
Aber neben einigen ſolchen Blüthen echten Talents wieviel
Häßliches, Umerquidliches, Abſtoßendes, Frivoles und geradezu
Unfinniges! Das Gedicht „An Goethe” beginnt:
Das Unvergängliche
Iſt nur Dein Gleichniß!
Gott der Berfängliche
Iſt Dichter — Erſchleichniß u. ſ. w.
Der Spruch über „Das Neue Teſtament“ lautet:
Dies das heiligſte Gebet —
Wohl: und Wehe⸗Buch?
— Dod an feiner Pforte fteht
Gottes Ehebrud!
Aus demielben Geijt it das folgende Poem geboren:
Einſtmals — id; glaub’, im Jahr des Heiles Eins —
Sprad) die Sibylle trunfen jonder Weins:
„Web, nun gehts fchief!
Verfall! Verfall! Nie ſank die Welt fo tief!
Kom janf zur Hure und zur Durenbube,
Roms Cäſar ſank zum Vieh, Gott jelbjt — ward Jude!”
In „Freund Vorif, Muth“ offenbart Niegiche feine ſchon
halb wahnfinnige Weisheit in dem Schlußſatz:
„Wer feinen Gott licht, züchtigt ihn.“
Sehr darakterijtiih ijt das Gedicht „Kimus remedium,*“
deſſen Anfang folgendermaßen lautet:
Aus Deinem Munde,
Du fpeihelflüffige Here Zeit,
Tropft langiam Stund’ auf Stunde.
Umſonſt, da all’ mein Ekel ſchreit:
„Fluch, Fluch dem Schlunde
Der Ewigfeit!“
Welt — it von Erz:
Ein glühender Stier — der hört fein Schrein.
Mit fliegenden Dolchen ſchreibt der Schmerz
Mir ins Gebein:
„Welt hat fein Herz,
Und Dummheit wär's, ihr gram drum fein!“ u. f. w.
Bon den legten Gedichten, den Dionylos:Dithyramben, hat
der Dichter jelbit bemerkt: „Dies find die Lieder Zarathuftras,
welche er jich jelber zujang, daß er jeine legte Einjamfeit ertrüge.“
Sie zeigen zum großen Theil ſchon ganz pathologiichen Charafter.
Neben erhabenen Partien findet fich bereits völliger Wahnfinn,
278 Neue Belletriftif.
und mit Grauen jehen wir den Dichter irren Geiftes, bald düſter
blidend, bald grell auflachend, über die Abgründe des Dafeins
dahinſchweben. Tief innerlid) gequält, aber von rajendem Selbſt—
bewußtjein himmelhoch gehoben flieht er von einer Einfamfeit in
die andere, bis in die „Jiebente Einſamkeit“ hinein. Dort fingt
er fid) dieje Lieder, die uns Mitleid und Grauen zugleich erregen.
Ich will nur aus einem diefer Gedichte „Unter den Töchtern der
Wüſte“ Hier einige Proben mittheilen. Es beginnt:
Die Wüjte wählt: weh dem, der Wüſten birgt...
Ha!
Feierlich!
Ein würdiger Anfang!
afrifaniich feierlich!
eines Löwen würdig
oder eines moraliihen Brüllaffen...
— aber Nichts für euch,
ihr allerliebiten Freundinnen,
zu deren Füßen mir,
einem Europäer unter Palmen,
zu figen vergönnt iſt. Sela.
Wunderbar wahrlich!
Da ſitze ih nun,
der Wüſte nahe und bereits
jo ferne wieder der Wülte,
auch in Nichts noch verwüjtet:
nämlich hinabgeſchluckt
von diejer feiniten Dajis
— jie jperrte gerade gähnend
ihr lieblidie8 Maul auf,
das wohlriechendite aller Mäulcen,
da fiel ich hinein,
hinab, hindurch — unter euch,
ihr allerliebiten Freundinnen! Sela.
Heil, Heil jenem Wallfiiche,
wenn er alio es feinem Galte
wohljein lieg! — ihr veriteht
meine gelehrte Anjpielung?...
Heil feinem Bauche,
wenn er alio
ein jo lieblicyer Dafis-Baucd war,
gleich diejem: was ich aber in Zweifel ziehe.
Dafür fomme ih aus Europa,
t⸗
2
Neue Belleiriſtik.
das zweifelſüchtiger iſt als alle Eheweibchen.
Möge Gott es beſſern!
Amen! u. ſ. m.
Zum Schluß des Gedichtes heißt es:
Ha!
Herauf, Würde!
Blafe, blaſe wieder,
Blajebalg der Tugend!
Ha!
Noch ein Mal brüllen,
moraliich brüllen,
als moraliſcher Löwe vor den Töchtern der Wüſte brüllen!
— denn Tugend:Gcheul,
ihr allerliebſten Mädchen,
ijt mehr als Alles,
Europäer-Inbrunſt, Europäer-Heißhunger!
Und da ſtehe ich ſchon,
als Europäer,
ich kann nicht anders, Gott helfe mir!
Amen!
* *
*
Viel Anerkennung haben die Gedichte von Jenny v. Neuß*)
bei der deutichen Sritif gefunden, und es läßt fich in der That
nicht verfennen, daß wir es bier mit einem bedeutenden poetischen
Talent zu thun haben. Cs finden jih viele tadellos ſchöne
Didtungen in diefer Sammlung, bejonders unter den Sonetten
und Terzinen, welche Formen die Vichterin vorzüglid) beherrjcht.
Aber auf der anderen Seite überraiht die ungeheure Skrupel—
lofigfeit, — um einer Dame gegenüber ein härteres Wort zu
vermeiden —, mit welcher Jenny von Neuß die Details ihrer
Liebesabenteuer schildert. Bejonders mwiderwärtig berührt Die
Slagellation, welcher fie jih in den Schäferſtunden unterwirft.
Die in den Händen des Geliebten fnijternde Geißel ehrt vielfach
wieder. Das iſt pathologiih, — jeruelles Naffınement auf feinem
Gipfel, das moralische Gefühl verletzend. Dod Einwände diejer
Art find nach Anficht der „Modernen“ nicht erlaubt. M. R. von
Stern, der neulich in jo trauriger Weiſe von der Bühne in Zürich
abgetreten ijt, beſprach in der Januar-Nummer feines „Litterar.
*) Tempi passati, Dichtungen von Jenny von Reuß, Graz 1398,
280 Neue Belletriftif.
Bulletin für die Schweiz” in dithyrambiicher Weile die Tempi
passati von 9. v. Neuß und verwahrte fich dabei energiich gegen
jeden Vorwurf moraliiher Natur, indem er bemerkte: „Erjt vom
Moment des Lächerlihen an beginnt für mich die Sündhaftigfeit
und das Aergerniß. Die Schönheit hat die höchſte Moral als
Seele unbewußt in fih und aus allen Thorheiten taucht fie nur
noch biendender hervor. Es ijt eine Gemeinheit, ihr über:
haupt mit dem Sittengefeg zu fommen, das von fleinen
Ihmußigen Leuten für Eleine ſchmußzige Leute erfunden
worden ijt.” — Die Sperrung rührt von mir her, und id)
glaube, der Sab verdient es, in folder Weile hervorgehoben zu
werden.
Mit Korfiz Holm, dejlen Novelle „Schloß Uebermuth“
foeben erjchienen ift,*) tritt wiederum ein livländiſcher Yandsmann
als moderner Dichter auf. Ih glaube jedoh faum, daß die
Heimath an diefem Buche viel Freude haben wird. Die „Düne:
Zeitung” nennt daffelbe in ihrer Nr. 178 „ein höchſt merfwürdiges
Buch“, vindizirt dem Verfaſſer Talent und meint, man werde es
nicht iu Abrede jtellen können, daß Dolm ſowohl die einzelnen
Menſchen, die er zeichnen will wie das Milieu, in dem fie athmen,
mit künſtleriſchem Geſchick zum Ausdruck zu bringen verjtanden hat“
— ein Urtheil, dem ich beizupflichten nicht im Stande bin. Nach
meiner Meinung ift dies Bud) vielmehr ein recht elendes Machwerk,
das nur mäßige Spuren von Talent verräth. Aber wer uns heut:
zutage elende, ſchmutzige und gemeine Dinge erzählt, der darf ja
von vornherein darauf rechnen, daß man ihn mit einem gewiſſen
Reſpekt behandelt und ihm allerlei Elogen jagt, wenn dann auch
allenfalls einige Einwendungen angehängt werden. War man früher
vielleicht geneigt, fFritiflos einen Jeden, der fih für das Gute,
Edle und Schöne in Verſen begeilterte, für einen talentvollen
Dichter zu halten, jo ift man jegt ebenjo fritiflos in das entgegen-
geſetzte Ertrem verfallen, — bemißtraut das Talent eines Jeden,
der von ſolcher Begeijterung erfüllt ift, und ift geneigt, Jeden für
talentvoll zu erklären, der das Häßliche und Gemeine Tchildert.
Das Milieu, in welches uns Korfiz Dolm hineinführt, iſt die liv-
*) Korfiz Holm, Schloß Uebermuth, Novelle. Kleine Bibliothek Langen,
Band XVI. Paris, Leipzig, München 1898.
Neue Belletriftif. 281
ländiſche Gejellichaft der Gegenwart. Die Edjilderung defjelben
aber ijt ihm nad allen Richtungen mißlungen, fie ift durch und
durch umvahr und verfehlt. Die erbärmlichen Vertreter des liv:
ländiſchen Adels, des livländiichen Litteratenthums und Kaufmanns:
jtandes find nicht nach dem Leben gezeichnet, fondern eitel Hirn:
geipinnjte des Herrn Holm, der überall nur Lumpigfeit, Schmuß
und Gemeinheit fieht. Das allein macht aber noch feinen talent-
vollen Dichter. Nur die erjte Szene am Prahme finde ich qut
erzählt, alles Uebrige ift in der Hauptſache mihglüdt. Die
„Dünazeitung” äußert fih zum Schluß ähnlich ablehnend und
abmwehrend, wenn auch vielleicht etwas weniger ſcharf. Um jo
auffallender erjcheint es, daß fie an Holms Zeichnung der Menichen
und ihres Milieus das Fünftleriiche Geſchick riühmt. Das Buch
verdiente eigentlich garfeine Beiprehung. Nur die darin enthaltene
beleidigende Darjtellung der livländiichen deutſchen Gejellichaft, die
angeblich garfeine Ideale kennt, provozirt zu jcharfer Abwehr.
Ich habe eine joldhe für nöthig gefunden, auch auf die Gefahr
hin, daß das Bud) nun von Manchen aus Neugierde gefauft und
gelefen wird. Wie häßlich vom patriotiichen Gefichtspunft aus
Herrn Holms Arbeit gerade in unferer Zeit fid) ausnimmt, brauche
id) faum bejonders zu beleuchten.
Nah dem unberühmten einheimilchen wenden wir uns nod)
zu eınem berühmten ausländischen Dichter. Vor mir liegen die
neun erjten Lieferungen von „Buy de Maupajfant, Gejammelte
Werke, frei übertragen von Georg Freiheren von Ompteda.” *)
Sie enthalten eine Anzahl von Eleineren Erzählungen des gefeierten
franzöfiihen Dichters. Es ijt erjtaunlid, wie viel uns hier an
(Hemeinheiten und Nohheiten aller Art geboten wird, — noch
eritaunlicher vielleicht, daß Erzähler oder Zuhörer in den Geſchichten
über dieſe Dinge zu laden pflegen, daß ihnen die Thränen über
die Baden laufen. Diejelbe Wirkung foll offenbar auch bei dem
Zejer erzielt werden. Bei mir it fie nicht eingetreten, ich empfinde
vielmehr nur ein Gefühl unbefchreiblichen Efels gegenüber all’
dieſen raffinirten Scheußlichkeiten, wie fie 3. B. „Der Weihnachts:
abend,“ „Der Erjagmann,” „Pariſer Abenteuer,” „Erwacht,“
„Eine Liſt,“ „Eingeroftet,“ „Die Wirthin,“ „Der Fall Luneau”
*) Berlin 1898, 5. Fontane & Co,
282 Neue Belletrijtik.
u. a. m. bieten. Der Ueberjeger hat vielleiht Recht, wenn er in
der Vorrede bemerkt, daß man im Franzöfiihen Dinge jagen
dürfe, die wir nicht jagen können. Er hätte dann aber aud)
bejier gethan, ſolche Dinge nicht ins Deutiche zu übertragen,
jondern die Lektüre dieſer Geſchichten Denjenigen zu überlaffen,
welche Franzöſiſch lefen. Einen Gewinn für die deutjche Lejewelt
jtellt meines Erachtens feine UWeberjegung der Maupaſſant'ſchen
Novellen nicht dar. Daß wir bier ein novellijtiiches Genie vor
uns haben, wie es faum dageweſen und mohl fo leicht nicht
wiederfehren wird, — von dieſer buperbelhaften Behauptung
Ompteda's habe ich mich durch jeine Meberfegung nicht überzeugen
fünnen. Die vielgerühmte Kunft der Maupafjant’ichen Novellen
verliert offenbar ganz erheblich durch die Uebertragung. Auch die
nicht eigentligy unanjtändigen Gedichten wie 3. B. „Weihnachts:
feier” u. dgl. überraichen oft durch ihre Nohheit, und an nur
wenigen der mir vorliegenden kann man eine durch derartige
Dinge nicht wejentlich gejtörte Freude haben, wie etwa an der
Geſchichte „Die beiden Freunde,” „Kellner, ein Glas Bier“
u. dgl. m.
Im fittlihen Schmuß fi bewegende, laszive und an das
Bornographiiche ftreifende Litteratur, mit größerer oder geringerer
Kunft geichaffen, hat es auch früher genug gegeben und immer
findet Diejelbe ein zahlreiches und dankbares Publikum. Neu it
heutzutage nur, daß derjenige, welcher an Geſchichten wie den
Maupaflant’schen Anſtoß nimmt und fi) von denfelben moraliſch
angemidert fühlt, von vornherein mit Verachtung als ein Zurüd:
gebliebener, in jtarren Vorurtheilen Befangener, ein bejchränfter
Tugendbold und moraliicher Brüllaffe angejehen wird. Von einem
höheren künſtleriſchen Standpunft aus verjchwindet angeblich jeder
Anſtoß, wie ihn der „Entrüftungsmensh” nimmt (vgl. Ompteda
in der Vorrede). — Nun, ih kann und will nicht heucheln, —
und ich glaube, mindejtens ebenjo verwerflich wie die Frömmigfeits-
und Tugendheuchelei wäre das Heudeln von Begeijterung für Die
Maupafjant’ihen Schmutzgeſchichten. Der ungeheure Erfolg der:
jelben jcheint mir auch ein Zeichen der Zeit. Nach meiner Dleinung
können fie feinerlei Segen ftiften, und nicht wenige meiner liv-
ländiichen Landsleute werden wohl diefe meine Anficht theilen.
Im Uebrigen bin ich mir deſſen wohl bewußt, daß ich durch mein
Neue Belletriftik. 283
Urtheil bei Vielen Anjtoß erregen werde, aber ich halte es für
meine Pflicht, offen und unverhohlen auszuſprechen, was ich für
die Wahrheit Halte, zumal in unferer Zeit, wo die Verwirrung
und Vermilderung der moraliichen Begriffe ſchon jo hoch gejtiegen
ift. Mögen mir dafür immerhin Steine an den Kopf geworfen
werden, — id) bin bereit, fie zu empfangen.
L. v. Schroeder.
u
Sinijer Raul und der Metropolit Gieitrzencewicz-Bohusz.
(Ruſſkaja Starina 1897, Maibeft S. 279— 282.)
Im Jahre 1798 wurde Kaifer Baul I. von den Malteſer—
rittern zum Großmeiſter diejes Ordens gewählt, nachdem fie den
Meijter Hompeſch des Verraths verdächtig befunden und dieſer
Würde entkleidet hatten. Uebrigens hatte der Kaiſer Schon früher
(im Jahre 1797), beeinflußt durch den Grafen Georg Yitta,
genehmigt, daß in Rußland ein „ruſſiſch-katholiſches Groß-Briorat”
diefes Ordens begründet werde, gewillermaßen als Erjaß des
Briorats, das vordem in ‘Polen bejtanden hatte, und gleichzeitig
hatte er die Nechte des Ordens auf die reihen Oftrowjfiichen Güter
im unlängit mit dem Saijerreich vereinigten Wolhynien bejtätigt.
Der ganze Charafter des Kaiſers Paul, der von Natur
Ihwärmerifsh und dem Idealismus zugeneigt war, harmonirte
ungemein mit den Zielen, die den Statuten des Malteferordens
zu Grunde lagen. Die Dinneigung zu dem Nitterorden zeigte
fi) bei dem Kaiſer Schon in jungen Jahren, als er mit Begeifterung
ſolche Bücher las, in denen die früheren Nuhmesthaten der Nitter
beichrieben wurden; bejonders ſympathiſirte er immer mit den
Maltejerrittern, den Nachfolgern der alten Johanniter: und Rhodiſer—
Nittern. Deshalb war der Kailer mit feiner Wahl zum Groß:
meilter des Ordens jehr zufrieden und legte fich mit nicht zu
verhehlendem Entzüden die Inlignien feiner neuen Würde an.
Unter ihnen befand ſich aud) das Kreuz, das einjtmals dem Groß:
meilter la Valette, dem berühmten Vertheidiger Maltas gegen
die Türken (1565) gehört hatte und das von den Rittern bis
284 Kaiſer Baul I. und der Metropolit Sieſtrzeneewiez-Bohusz.
dahin heilig mit ihren übrigen Kleinodien aufbewahrt worden war.
In diefer Tracht iſt Paul I. auf dem Bilde dargejtellt, das ſich
im Winterpalais befindet. Der Kaifer verlieh dem Orden „alle
Die Auszeichnungen, Prärogative und Ehren, deren ſich der berühmte
Drden an anderen Orten durd die Hochachtung und das Wohl:
wollen der Hrrrſcher erfreut” und bemühte fi durch verichiedene
Sejegesbeftimmungen und andere Maßregeln, die materielle Lage
des Ordens in Rußland ficherzuftellen. Indem der Kaijer den
feinem Verfalle entgegengehenden Orden jtügte, verfolgte er nod)
andere mehr reale Ziele: er wünschte nämlich aus ihm gemiljer:
maßen einen Hort wider die revolutionären Ideen zu Ichaffen,
die damals in Frankreich herrjchten. Der Orden erſchien als
Feind der Nevolution allein ſchon deshalb, weil er durch fie feiner
reichen Güter in Franfreih und Italien beraubt worden war.
Baul ließ fi durd Alles hinreißen, was irgendwie auf den
Orden und feine Einbürgerung in Nußland Bezug hatte. Eine
Zeitlang interefirte ihn zum Beifpiel fehr die Frage von der
Aufitellung des Throns im Kapiteljaal des Ordens (gegenwärtig
das Haus des Pagenkorps, in dem jid) noch jetzt eine katholiſche
Kirche Johannes des Täufers befindet).
Um die Entidheidung in einigen Fragen und einige Befehle
einzuholen, war eines Tages der beim Kaiſer beliebte katholische
Metropolit Siejtrzencewicz*) ins Winterpalais gefahren; er ijt
dadurch befannt geworden, daß dank feinem energiichen Wider:
jtreben die Bemühungen Pauls I. beim Papſte, den Jejuitenorden
offiziell in Rußland einzuführen, wozu den Kaifer der obengenannte
Graf Litta zu bewegen juchte, nicht zum Ziele führten. Der
Kaijer, der an diefem Tage jehr gut aufgelegt war, nahm ben
Dietropoliten gnädig auf. Im Saale, in dem Die Audienz
jtattfand, befand ſich außer dem Kaifer und Sieſtrzencewicz aud)
noch der Generalgouverneur von Petersburg Graf Pahlen. Im
benachbarten Zimmer, zu welchem die Thürflügel geöffnet jtanden,
hatten einige junge Kammerpagen, ſich nicht bejonders durch die
Nähe des jtrengen Kaijers beengt fühlend, irgend ein Spiel an:
*) Sieftrzencewicz Bohusz, geb. 1731, + 1828, war von Geburt ein
Littauer und in der Jugend preußiſcher Huſarenoffizier geweſen. Er hatte den
Kurſus der reformirten Schule in Sluzk durdigemadit, war aber jpäter zum
Katholizismus übergetreten. Sein ganzes Leben lang haßte er die Jeſuiten
wegen ihres Fanatismus, zog ſich hierdurd den Zorn des Papſtes zu und
jtrebte danach, die katholiſche Kirde in Rußland von Kom loszulöjen, was
damals für möglich gehalten wurde. Er war Anfangs Erzbiihof von Mohilew
gemweien, allein 1798, als der Kaifer die fatholiichen Epardien anders eintheilte
und ihre Zahl vermehrte, erhielt er den Titel eines Metropoliten, Kailer Paul
erwirfte ihm den Kardinalshut und ernannte ihn zum Präjes des damals
errichteten Departements für Verwaltung der Angelegenheiten der römiſch—
katholischen Kirche in Rußland, wodurd das Anſehen Siejtriencewicy’8 ganz
bejonders erhöht wurde.
Kaiſer Paul I. und der Metropolit Sieſtrzencewicz-Bohusz. 285
gefangen. Bon Zeit zu Zeit wurde von dorther Lärm und unter:
drücktes Kichern hörbar, das jichtlich nur mit großer Mühe zurüd:
gehalten wurde und jeden Augenblid in fräftiges jugendliches
Lachen übergehen fonnte. Doc die Fröhlichfeit der jungen Yeute
und ihres Spiels verlegten den Kaiſer nicht und er gab ſich den
Anſchein, als ob er dieje Verlegung der Hofetiquette garnicht
bemerfte.
Die Audienz, die lange gedauert hatte, ging endlich zu Ende,
Paul verabjchiedete fich anädig vom Mtetropoliten und wollte ſich
eben in die inneren Gemächer entfernen. In diefem Moment
ſah er zufällig in das benachbarte Zimmer und fein jcharfes Auge
bemerfte augenblidlih an der Kleidung eines der Pagen, Die
fih ferzengerade aufgeitellt hatten, etwas Formmidriges. Die
fleinjte Abweihung von der Form der Kleidung wurde damals
für das größte Verbrechen, für „Klüger fein wollen“ gehalten,
das Fonnte der Kaiſer weniger wie irgend etwas leiden, das ver:
folgte er unbarmherzig. Baul hatte jo lange alle diefe von ihm
während der vielen einjam in Gatichina verlebten Jahre erfonnenen
neuen Uniformen und neuen Reglements jowie die jtrengite
Disziplin in feinem Herzen gehegt, er hatte jeßt, wo er zur Macht
gelangt war, das Alles "eilig eingeführt, folgte Allem unermüdlich)
und in eigener Perſon, faſt jede Soldatenuniform bejehend und
jelbit Feldmarjchälle für eine Abweichung von der Form nicht
Ihonend, — und nad allem dieſem ſah er in feiner nächiten
Nähe, im failerlichen Balais, noch dazu einen Pagen nicht nad)
der Form gekleidet. Und die gnädige Stimmung des Kailers
ſchlug plöglich in heftigen Zorn um, was befanntlih Paul Petro—
witſch's ſtarke Geite war. Vergeſſen waren die Mtaltejerritter
mit ihren Idealen, der Thron und alles Andere, der Kailer jah
nur die Abweichung von der Form, die jo lange auf Anwendung
hatte warten müſſen, er ſah nur das unleidliche „Klüger fein
wollen,“ und bleich vor Aufregung wandte er fih an Pahlen und
Ichrie ihm, in der feiten Ueberzeugung, daß etwas Formwidriges
von Jedem fofort bemerkt werden müſſe, die Worte zu:
„Führen Sie dieſen Affen in die Peter: Baulsfeftung ab
und erjtatten Sie mir über die Ausführung meines Befehls
Bericht.” Im Saale befanden ſich der Ffatholiiche Metropolit,
voll Unentichlojfenheit und verwirrt durd die lauten Worte des
Kaijers, der Generalgouverneur Pahlen, der auf irgend eine Weile
den faiferlichen Befehl erfüllen mußte, und im benachbarten Zimmer
die erfchrodenen Pagen, deren Fröhlichfeit augenblidlich verflogen
war. Ahnte Pahlen überhaupt garnicht, wen der Kaiſer unter
dem Affen veritanden hatte, oder gehörte er zu der nicht geringen
Zahl von Perfonen in der Umgebung Pauls, die ihn abjichtlid)
zu reizen pflegten, jedenfalls näherte er fi nad dem Weggehen
286 Kaifer Paul I. und der Metropolit Sieſtrzencewicz-Bohusz.
des Kaiſers dem Metropoliten und ſagte zu ihm: jo leid es ihm
thue, müle er den Willen des Kaijers erfüllen, Se. Ercellenz
habe ja jelbit den unwiderruflichen Befehl des Kaijers vernommen.
Sieſtrzencewicz, der feine ruhige Ueberlegung verloren hatte, da
er wußte, wie raſch Kaifer Baul mit harten und oftmals jehr
Ihonungslojen Befehlen bei der Hand war, wie leicht jeine Gnade
fi) in Zorn verwandelte und umgefehrt, unterwarf fih ohne zu
murren jeinem Gejchide, mit den düſteren Feltungsfajematten
Bekanntichaft machen und das für jeinen hohen Stand Feineswegs
jchmeichelhafte Epitheton eines Affen über ſich ergehen laflen zu
müſſen.
Cine Stunde ſpäter erſchien Pahlen, um Bericht zu erſtatten,
im Palais, wie ihm befohlen worden war.
„Halt Du ihn abgeführt?” fragte Paul Petrowitih den
Petersburger Generalgouverneur.
Sehr wohl, Ew. Kaijerliche Majejtät, ich habe ihn abgeführt.
„Nun, er weinte wohl, nicht wahr?“
Keineswegs, Ew. Kaiſerliche Majeſtät, er bat mich inftändig
um die Erlaubniß, ein Gebetbuc mit fich zu nehmen, und ihm
das abzujchlagen, konnte ich mich nicht entichließen. Den ganzen
Weg über jeufzte er, ſich demüthig feinem Geſchick unterwerfend,
und murmelte Gebete.
Der Zorn des Kaiſers war jchon lange verraudt; ihn
interejfirte jet nur noch das Entjegen, das jeiner Anficht nad)
der arme Page empfinden mußte, während er in den fürdhterlichen
Seltungsfafematten ſaß, deren Name allein damals Allen Schreden
einflößte. Der Bericht Pahlen’s, daß der junge Mann ſolche
Standhaftigfeit und Demuth bewiefen und daß er gebetet hatte,
wunderte ihn jehr.
„Bon wen Iprihit Du? Wer hat gebetet?“
Der Metropolit Siejtrzencewicz, den Ew. Kaiſerliche Majejtät
durch mich in die Peter: Paulsfejtung abführen zu laſſen gerubten,
antwortete ruhig Pahlen.
Und abermals brah Paul in heftigem Zorne los, daß man
jeine Befehle nicht verjtehe, fie fonfundire, daß in Folge hiervon
ein völlig unjchuldiger Menſch bejtraft worden jei, noch dazu der
Metropolit, der überdieß die Intereſſen der vom Kaiſer geliebten
Maltejerritter jo warm vertrete.
Abermals muhte Pahlen auf Kaiſerlichen Befehl jpornftreichs
in einer Hofequipage in die Peter-Paulsfeſtung eilen, den Metro-
politen befreien und fih im Namen des Kaijers bei Sr. Ercellenz
entihuldigen.
— — —*
Br
Die Sinijerlihe Yinländiige Delonomiihe Sozietät,
1797 — 1898,
Ton
9. von Samſon-Himmelſtjerna.
(Schluß.)
V. Die Stiftung der Finländiſchen Oekonomiſchen
Sozietät 1797.
Wiewohl zuweilen durch das Verhalten der Regierung Miß—
vergnügen erregt worden iſt und ſogar einzelne Perſonen ſich auf
landesverrätheriſche Komplotte eingelaſſen haben — (e$ wird bier
wohl auf den Anjalabund angeſpielt, der im Lande feine Sympathie
fand, vgl. A. Brüdner in „Balt. Dion.” XIX) — jo waren doc)
Finlands Einwohner loyale Unterthanen gewejen und geblieben.
Selten bat im Laufe des 18. Jahrhunderts die Yandeshauptjtadt
Abo es verjäumt, bei föniglichen Familienfejten ihre unterthänige
Treue an den Tag zu legen; und daß joldhe Demonjtrationen mit
Mohlwollen entgegengenommen wurden, hat ſich namentlich unter
Guſtavs III. Regierung gezeigt. Inzwiſchen hatte jich ſeit 1792 die
Vormundichaftsregierung unpopulär gemacht, und jo waren die
Hoffnungen, die man auf den jungen Gujtav Adolph ſetzte, um
jo größer. Das iſt aus den Ovationen, die man zu Beginn
jeiner Regierung ihm darbrachte, hervorgegangen.
Als er im %. 1796, unmittelbar vor jeinem Regierungs—
antritte am 8. Dftober, Abends, in Abo anlangte, wurde er von
allen Ständen und Korporationen empfangen, mit 128 Galut-
1
288 Die Kaiſerl. Finländ. Oekon. Sozietät.
Ihüffen und bei Jlumination der Stadt. An den folgenden Tagen
Feſtaſſembleen, Beluch des Rathhauſes mit Reden des Oberbürger:
meijters und des Univerfitätsreftors, AInjtrumentalmufif der Muſi—
kaliſchen Geſellſchaft u. ſ. w. u. ſ. mw. bis zu der unter erneutem
Kanonendonner erfolgenden Abreife des Königs. Auch der darauf
folgende 1. November (21. Oftober), da der König mündig wurde,
it in Abo mit nicht geringeren eltlichfeiten begangen worden;
u. A. ward, um der allgemeinen Freude ein bleibendes Denkmal
zu ſetzen, aelegentlich einer Bürgerverfammlung auf dem Nath-
hauje, eine Kollefte veranftaltet, zur Aufbringung eines Kapitals,
deſſen Renten, das Andenken an den Tag zu feiern, zur Unter:
ftügung der Armen verwendet werden follten. Bald darauf ift
von einer Bürgerverjammlung beitimmt worden, daß die Nenten
des Kapitals zur Erziehung armer Waiſenkinder dienen ſollten.
Die bezüglichen Verhandlungen und Neben find ſehr geeignet, die
philanthropiihe Sentimentalität der Zeit zu veranfchaulichen.
Unabhängig davon hat auch ber Handmerfer:Verein ein Kapital
jur Unterftügung feiner Armen dargebradt. Jeder Tag bradıte
ein neues Seit. Der Gouverneur, die Univerfität, die Bürgerichaft,
Die verschiedenen Korporationen und Vereine — (aud) die Studenten:
„Nationen“) — wetteiferten in Weranftaltung von öffentlichen
Seitlichfeiten, und in Variirung von deren Programmen. Eine
der Ordensgelellichaften brachte ein Kapital auf zur Unterftügung
von Armen bejjerer Herkunft.
As am 14. Oftober des folgenden Jahres der König fich
mit der Brinzeilin Srederife Wilhelmine Dorothea von Baden
verlobt hatte, find in Abo Sofort Vorbereitungen getroffen worden
jur würdigen Feier der Vermählung, — und zwar hat man die
Seltlichfeiten nicht nur fplendider noch als die vorangegangenen
geitalten wollen, fondern aus Vielem iſt auch erfichtlich, wie jede
der Körperfchaften es den anderen hat zuvorthun wollen, und wie
man bejtrebt geweſen it, ſich gegenfeitig zu übertrumpfen. Es
muß bier darauf verzichtet werden, über die Einzelheiten der Feit-
verlammlungen, über die dabei gehaltenen Reden, und über den
von einem Feittage zum anderen fich jteigernden Enthufiasmus zu
berichten. Als äußeres Zeichen für dieje Steigerung mag nur
bemerft werden, daß bei Ausbringung des MWohles der hohen
Neuvermählten, die Anzahl der gelöjten Salutſchüſſe von einem
Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 289
Tage zum anderen, fait bis zum Vermunderlihen, zugenommen
hat. (Das DVermählungsfeit fiel am 1. November mit dem
Geburts: und Thronbefteigungstage des Königs zulammen.) Man
gelangte bald zur Zahl von 512 Salutihüffen, unter welcher es
dann nicht mehr gethan murde. Aus der Mannigfaltigfeit der
Feſte, aus dem Sichüberbieten derjelben und aus der Theilnahme
der ganzen Bevölferung an dem lärmenden Jubel, geht deutlich)
die Abficht hervor: darzuthun, daß man mehr an den Tag legen
wolle, als die bei Huldigungen übliche Loyalität.
Den Gipfel aber erreichte das Felt, und dauernd iſt fein
Andenfen verewigt worden, durch die Stiftung der Finländiſchen
Defonomifchen Sozietät. Darüber berichtet die Abo-Zeitung mit
den ſchlichten Worten: „Eine zahlveihe Verſammlung von Mit:
bürgern aller (sie!) Stände, welche fi unter dem Namen Finska
Hushallningssällskapet vereinigt hatte, um zur Förderung der
Landesfultur und zur Hebung unſeres finnischen Vaterlandes, und
um zur Feitlichfeit des Tages etwas Bemerfenswerthes beizutragen,
ift zum erſten Male beim Herrn Bilchof, Prokanzler und Kommandeur
Gadolin zufammengetreten, zur Erwägung des Statuts und der
Mittel, welche zur Forderung eines jo guten Vorhabens geeignet
jeien. Möge dieſes nüpliche Unternehmen jo ſicher der Nation
Mohlfahrt entipreden, wie es des Tages und der Zeitläufte
würdig iſt.“ Der Verfaſſer der Yubelichrift hebt noch ausdrücklich
den Umjtand hervor, daß es geglüdt war, alle Gejellihaftsklafien,
die bei Weranitaltung der Fejtlichfeiten gejondert vorgegangen
waren, bei Gründung der Finländiihen Oekonomiſchen Sozietät
ju vereinigen.
Das auf Anjuchen vom Lagman Dlaf Wibelius verfaßte
Protofoll von der erjten Sozietätsverfammlung enthält nad) den
formellen Cingangsworten Folgendes: „Das Grokfürftenthum
Finland ift lange der Tummelplag für Krieger gemwejen. Die
Nation, während des Krieges graufam behandelt, hatte es noch
nicht vermodt, den Schutt der zerjtörten und blutgetränften Wohn:
jtätten wegjuräumen, als Hungersnöthe hinzufamen, des Landes
Arbeitskraft zeritörten und eine Kette allen möglichen Elends nad)
fih zogen. Schrecklich it, was auf der Tafel der Gejchichte über
jene unglüdlihen Zeitläufte hervorgehoben wird. Wie bejchaften
fonnte wohl im Lande bei jeinen wiederholten un die
‘290 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät.
Mirthichaft fein, da während der kurzen friedlichen Ruhepauſen
Aufklärung, Beiſpiel, Unterftügung und Aufmunterung fehlten.
Und in jpäteren Zeiten gerieth aud) das größte Gut in Verfall
und die allgemeine Ohnmacht nahm immer zu, da die Gutsherren
ihre Cinnahmen außer Landes verzehrten. Unwiſſenheit, Bor:
urtheile und Barteihader ſchienen Finland zu einer Dedemarf
gemacht zu haben, welche mit ihren MWüjteneien einen überlegenen
Feind ausiperren follte — (wie Chydenius gejagt hatte); — aber
in lichteren Tagen haben gejundere Grundſätze gefiegt, und Die
Regierung hat begonnen, fi) des MWerthes von Finland für die
Ichwedische Krone zu befinnen, und für des Landes Aufihwung
zu forgen. Unter den hauptjädhlichiten Mitteln, welche im Verlaufe
von vierzig Jahren zur Förderung der Yandmwirthichaft angewendet
worden find, verdient an erjter Stelle die Beranftaltung des
Storjfift und an zmeiter die Freigebung des Getreidehandels
genannt zu werben. Alle die neuen und unerprobten Maßnahmen
erwarben nicht immer Beifall; fie blieben offenbar ohne Nuten,
fo lange durch unfluge und unbillige Mittel, fie durchzuſetzen,
nur Mikvergnügen erregt und unterhalten wurde; und da hiermit
zugleich Willfür der Beamten fih geltend machte und zunahm,
jo fann man fich nicht wundern, daß MWiderwille und Mißtrauen
allgemein wurden. So iſt es aud mit den Veranjtaltungen des
Storjfift in Finland ergangen, wie überhaupt im öffentlichen Leben
es mit mancher guten Einrichtung ergeht, daß nämlich ein guter
Zwed nicht ohne Erregung bitterer Leidenjchaften erreicht werden
fann. Inzwiſchen und nad) Durchführung des Storjlift in Finland
hat größere mirthichaftlihe Worjorge (hushallsaktighet) Platz
gegriffen, und ſeit dem Zeitpunft hat Finlands Landwirthichaft
ein anderes Anjehen gewonnen.) Vormals, als das Getreide
ihwer Abſatz fand und geringen Werth hatte, iſt den Beamten,
welchen die Pflege des Aderbaues oblag, diejes Gewerbe als das
im geldleeren Lande am wenigiten lohnende erſchienen; jeßt fing
man an, jih ihm mit mehr Luft zujumwenden. Immer mehr ward
durch aufgeflärte und denfende Wirthe bejjerer Anbau eingeführt
und paſſenderes Geräth verwendet, und murden viele vormals
unbefannte und unerhörte MWirthichaftsfunftgriffe allgemein ver:
breitet. Es erwies fi), daß dadurd) die Häufigkeit der Mikjahre
vermindert und der Ertrag der Ernten vermehrt wurde, modurd)
Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 291
auch bei den Unfundigen und Einfältigen die Augen ſich öffneten,
und auch der gemeine Dann es wagte, den Weg des Kortichrittes
zu betreten. Der lebte finländiiche Krieg, viel erträglicher als
die vorigen, brachte viel Geld ins Land; die Güter jtiegen im
Preiſe, es gab nun Mittel und Wege fie zu verbeilern, und man
begann die Landwirthichaft mit Enthufiasmus zu betreiben; in
Sonderheit thaten es die Aufgeflärten der Nation. Nun ftrebt
jedermann nach Zandbefig, jeder will die höchſten Ernten erzielen.
Alle Beiprehungen, alle Geſellſchaften beichäftigen fid mit wirth—
ſchaftlichen Gegenſtänden.“,“) In ſolcher Zeit, und da das Neid)
von einem Könige geleitet wird, der ſich bemüht, durch kluge
Wirthichaft dem Staate Telbjtändigfeit und den Unterthanen
wahre Wohlfahrt zu fihern, — find einige Männer Finlande
durch dieſe günjtigen Umſtände veranlaßt worden, zu einer
Vereinigung zulammenzutreten, um unter dem Namen Finska
Hushallningssällskapet den in der Nation erwacdten wirth:
ihaftlihen Geijt zu unterjtügen, zu leiten und zum allgemeinen
Beiten zu fördern. Die Mitglieder dieſer Gejellihaft Haben
beobachtet, wie bei anderen Nationen Privatgejellihaften zu deren
Aufſchwung beigetragen haben, wie dadurd) der Aderbau zu:
genommen hat, wie Gewerbe und Handel gewonnen haben, und
daher dürfen jie von ihrem Unternehmen alljeitig gute Folgen
erhoffen; darum und nicht minder um durch eine gemeinnügige
Stiftung das Andenken an den 1. November, der für alle vedlichen
Mitbürger ein jo vielfach fejtliher Tag iſt, zu verewigen, find die
Mitglieder diefer Gejellihaft übereingefommen, fich beim Herrn
Biſchof, Profanzler und Kommandeur des föniglihen Nordjtern:
ordens Doktor Jakob Gadolin einzufinden, der die Verſammlung
mit einer furzen Anrede eröffnet und ein ihm übergebenes Projeft
zum Öejellichaftsitatut verlefen hat.” Der Stalutenentwurf wurde
zur Durchlicht einem aus fünf Perfonen bejtehenden Komite über-
geben, welches ihn zur Prüfung und Genehmigung der Geſellſchaft
unterbreiten ſollte. Mit geſchloſſenen Zetteln wurden ins Komite
gewählt: Biſchof Gadolin, Lagınan Dlaf Wibelius, Kammerrath
A. J. Winter und die Profeſſore Jakob Tengſtröm und Joſeph
Pipping. Ferner wurde beichlojjen: „eine Proflamation an die
Deffentlichfeit jollte ausgefertigt werben, wodurd die Errichtung
der Geſellſchaft aller Welt fundaethan werde, wie aud) der.
292 Die Kaiferl. Finländ. Delon. Soyietät.
Geſellſchaft Vorausfegung, daß nicht nur die Herren Landshöfdinge
des Landes, denen von Amtswegen die Förderung der Defonomie
zufommt, jondern auch andere ehrenwerthe Beamte und Mit-
bürger als Mitjtifter der Gejellidaft werden gelten, und ſich der
Mitwirfung an einem jo guten Werke nicht werden entziehen
wollen.“
Am 9. Dezember verjammelte ſich die Sozietät wieder beim
Biihof Gabolin, um über ihr Statut zu beichließen. Der vom
Komite durchgefehene, elf Paragraphen umfaljende, Entwurf ward
beprüft und gutgeheißen. Ta diejes Statut bereits im J. 1799
auf Grund gemwonnener Erfahrung wejentlid) abgeändert und er:
mweitert worden ijt,2!) jo ift hier feine volljtändige Wiedergabe nicht
erforderlih. Der erjte Paragraph, welcher der Sozietät urſprüng—
liches Programm darjtellt, hat folgenden Inhalt: „Der Sozietät
Zwed ſoll jein, die private Wirthichaftlichfeit im Allgemeinen und
in Sonderheit die Landwirthſchaft mit allem, was hierzu gehört
oder damit Verbindung haben mag, zu fördern. Die Sozietät
erkennt, daß aufgeflärte und allgemein verbreitete Voritellung von
den erwähnten Materien für den Fortichritt unjerer Wirthichaft
die fiherfte Grundlage iſt. Die Sozietät wird, jo weit thunlich,
bedacht jein, die Hand zu bieten zur Verbreitung ökonomiſcher
Kenntnilfe jowohl unter Standesperfonen als aud beim gemeinen
Dianne, einmal durd Ausgabe gedrudter, an die Bedürfniſſe und
Verftändniffe der verſchiedenen Bewirthichafter angepaßter, Schriften,
— jodann dur allgemeinen zu diejem Zweck eröffnelen Brief:
wecdjel, und endlich durch Anſchaffung und Wertheilung von
Seräthichaftsmodellen mit bezüglihen Bejchreibungen über bie
Art fi ihrer zu bedienen, zur Prüfung, ob die jihere Erfahrung
der Wirthe fie als zur allgemeinen Verwendung annehmbar gut:
heißt, indem die Sozietät fi) dabei die Beihilfe der geneigten
Landwirthe verſpricht, und zwar um jo ficherer, als nad) ſolchen
Diodellen die Geräthichaften in natürlicher Größe zum Gebraudhe
und zur Benußung angefertigt werden ſollen. Wenn zufünftig
die Einnahınen der Sozietät es gejtatten Jollten, will fie es aud)
nicht unterlajfen, mit entiprehenden Prämien und Aufmunterungen
auf diejenigen Mitbürger hinzuweiſen, welche fid) in einem oder
dem anderen Zweige der Landwirthſchaft oder in einem Damit
zulammenhängenden Gewerbe vor Anderen auszeichnen.” Außerdem
Die Kaiſerl. Finländ. Defon. Sozietät. 293
enthielt das Statut folgende Beltimmungen: Der 1. November
wird als Jahrestag gefeiert; die Sozietät verfammelt ſich am erjten
Werktage jeden Monats; zur Beſchlußfaſſung müſſen, außer dem
MWortführenden, mindejtens zwölf Mitglieder anweſend fein; neue
Dlitglieder werden von den älteren vorgejchlagen, worauf über
ihre Aufnahme mit einfacher Majorität ballottirt wird; der Jahres-
beitrag bejteht aus drei Neichsthalern; die Beamte, die alle fein
Gehalt beziehen, find: der Wortführende, der für ein halbes Jahr,
immer am 1. November und 1. Mai, gewählt wird, und nicht
vor zivei Jahren wiedergewählt werden fann, der Sekretär und
der Schaßmeifter, welde am 1. November gewählt werden und
wieder wählbar find; zur Unterjtügung des Sefretärs wird ein
Vizejefretär gewählt. Zugleich wurde eine Inſtruktion für den
Schatzmeiſter feitgejtellt, welcher nicht nur die Kaſſe, jondern auch
die Bibliothek und die Modelllummlung verwalten jollte. Außerdem
wurden Bejtimmungen für den Termin der JahresbeitragsZahlungen,
jowie für Nehnungsabihluß und Budgetaufmahung getroffen.
Nach Erledigung dieſer Angelegenheiten wurde zur Wahl
der Beamten gejchritten. Da erbat ſich der erſte Hofgerichts—
präfident Lode das Wort und ſchlug vor, die Gejellichaft möge
für diefes Mal ohne Abjtimmung den ortführenden, und zwar
in der Perſon des Biſchof Gadolin, erwählen, der die erjte
Verfammlung geleitet hat. Diefer Vorſchlag wurde ohne Widerſpruch
von den Anmwejenden angenommen, welce alsdann ebenfalls ein—
hellig, aber mit geichlojfenen Stimmzetteln den Yagman Wibelius
zum Sefretär erwählten und zum Schapmeijter endlich den Kammer:
rath Winter. Da auf diefer Verfammlung nicht alle vorliegenden
Sachen erledigt werden fonnten, jo verjammelte fid) die Sozietät
wieder am 12. Dezember beim Wortführenden, der nun mitteilte:
der Landshöfding E. ©. von Willebrand habe im Namen der
Geſellſchaft ihre Stiftung bei Königlicher Majeftät unterthänigjt
angemeldet und zugleih um des Königs gnädigen Schutz und
Beiltand nachgeſucht, und daß fie fi „Königliche Finska Hushall:
ningsfällifapet” nennen dürfe, und es könne auf Königlicher Majeſtät
Beifall gerechnet werden, da das Anjuchen bereits vorgetragen
werden fonnte... Die in der erjten Sitzung bejchlojjene und nun
vom Sekretär vorgelegte „Proflamation” ward gutgeheigen und
294 Die Kaiſerl. Finländ. Oekon. Sozietät.
zur ſofortigen Drucklegung verfügt, nebſt dem Mitgliederverzeichniß.
Damit war der Sozietät Wirkſamkeit eröffnet.
Die vorjtehenden Angaben find aus dem Gejellichaftsprotofoll
geichöpft. Diejes giebt garfeinen Aufſchluß über die eigentliche
Initiative bei der Bildung der Gefellichaft. Darüber aber steht
in Brofejjor Johann Gadolin's, bisher ungedrudter, Selbit:
biographie: „Als erjten Urheber der Königlihen Finsfa Hushall-
ningsjällffapet ſehe ich mich an, injofern als ums Jahr 1796
zuerjt id) dafür gewirkt und im Verein mit meinem Freunde
Profeſſor Pipping manchmal vor Vielen von unjerem Plane geredet
haben, welcher ſoviel Beifall fand, daß die Sejellichaft geftiftet
werden fonnte. Das Statut, weldes die Gejellichaft jpäter
annahm, war auch inſoweit von mir verfaßt, als ein von mir
anonym eingejandter Vorſchlag unter vielen anderen Projekten
als der geeignetjte befunden wurde, um der Redaktion zu Grunde
gelegt zu werden.” Daß der Gedanke zum Bilden der Gejelljchaft
vom Profeſſor Johann Gadolin ausgegangen ift, kann nicht
bezweifelt werden; da ev vorzjugsiweile Dann der Wiſſenſchaft
war, dazu einer von den jüngeren unter den Stiftern der Geſellſchaft
und als jolcher unter ihnen feine dominirende Stellung einnehmen
konnte, jo iſt es begreiflid, daß das Bewuhtjein: die Sozietät
habe ihre Entjtehung eigentlid ihm zu verdanfen, nicht zum Aus:
drude gelangen fonnte. (Gadolin war einer der wenigen Stifter,
welche das fünfzigite Jahresfeſt der Gejellichaft mitgemacht haben;
auf demjelben ijt er als ihr Urheber nicht bezeichnet worden.)
Ebenſo hat Gadolin aud in der wilfenjchaftliden Welt ſich Feine
Mühe gegeben, jein Recht als Entdeder neuer Wahrheiten zu
betonen; (In jeiner Arbeit: „Johann Gadolin. Ein Beitrag zur
Geſchichte der induftiven Wilenichaft in Finland“ jagt Rob.
Tigerftedt: „Für ihn Hatte die Wiſſenſchaft nichts zu jchaffen
mit ‘Berjonen. Brad) nur eine Wahrheit ſich Bahn, jo war es
für ihn gleiygiltig, wen die Welt als ihren Entdeder nannte.“)
und jo jcheint es, daß er ebenjo nichts dafür gethan hat, um vor
der Deffentlichfeit fi) als den eigentlichen Stifter der Hushall-
ningsjällffapet Hinzuftellen. Man darf annehmen, daß er gerade
abjihtli in den Hintergrund zurüdgetreten iſt im Dinblide auf
Diejenigen Mitbürger, welche der Sozietät ferner jtanden, und in
Die Kaiſerl. Finländ. Tefon. Soyietät. 295
deren Augen jeine perjönlihe Mitwirfung weniger günjtig hätte
ericheinen können.
Die Vorbereitungen zur Bildung der Gejellichaft, und deren
Verlauf während des Yeitraumes eines Jahres, Icheinen überhaupt
nicht allgemeiner befannt geweſen zu fein. Das ergiebt fih u. A.
daraus, daß Porthan davon nichts wußte. In einem an Galonius
gerichteten Briefe vom 6. November 1797 jchreibt er: „Cine neue
gelehrte Geſellſchaft (ich fürchte es niebt deren bereits genug!) hat
ſich hier unter dem Namen Finska Hushalls Sällskapet gebildet.
Ihr Zweck joll fein, in Wirthichaftsjachen bejonders den gemeinen
Dann aufzuklären und aufzumuntern. Unter den Mitgliedern
finden fich außer verjchiedenen Profejioren, unferem Sefretär und
Kämmerer, dem Lagman Wibelius und Kammerratd Winter auch
einige Kaufleute, einige Offiziere u. j. w. Sobald id) ihre Statuten
gejehen habe, werde ich darüber mitteilen. Wan beabjichtigt,
die Autorifation des Königs nachzuſuchen.“
Unter den etwa 260 ‘PBerjonen, welche zur Stiftung der
Sejellihaft ji am 1. November beim Biſchof Gadolin ver:
jammelten war der bedeutendjte der Wirth ſelbſt, ein Mann, der
durch feine gejellichaftlihde Stellung, feine aründlichen Kenntniife,
namentlid) in den öfonomiihen Wifjenichaften, und durch feine
praftiihe Natur von großem Einfluß war. (Seine Studien hatten
eigentlid der Phyſik, Mathematit und Ajtronomie gegolten; die
wiſſenſchaftlichen Berechnungen, welche der in den 1740:er Jahren
begonnenen Vermeſſung und Chartirung von Finland zu Grunde
lagen, jtammten von ihm; nun, in jeinem vorgerüdten Alter,
beichäftigte er ſich Hauptiächli mit dem Schleifen optiicher Gläſer.)
Dian geht ficher nicht fehl, wenn man den glüdlichen Gedanken,
die Stiftung der Gejellihaft an die Königlichen Vermählungs—
fejtlichfeiten anzufnüpfen, ihm zujchreibt... Seit Guftavs II.
Zeiten wußte man in Finland die Bedeutung der königlichen Gunſt
jehr wohl zu jhägen. War dieje gewonnen, jo durfte man auf
die Mitwirkung des lofalen Beamtenmehanismus rechnen, ohne
welche auf einen Erfolg faum zu rechnen gewejen wäre. Dazu
wurde auch durd Gadolins Stellung als Bischof die Geiftlichkeit
im Intereſſe der Sache angejpornt; jowohl zu feiner Zeit als
auch unter feinen Nachfolgern ſind nicht felten die Aufrufe der
Gejellihaft zufammen mit den Zirfulären des Domfapitels erpedirt
296 Die Kaijerl. Finländ. Oekon. Sozietöt.
worden. Ohne Zweifel war Biſchof Gadolin durd feinen Sohn,
den Profeſſor Johann Gadolin (geb. 1760), für das neue
Unternehmen gewonnen worden. Diefem lepteren, bei feiner
Kenntniß alles deilen, was im Auslande durch Affoziationen auf
dem öfonomilchen Gebiete geleitet worden, und bei jeinem Scharf:
blide, mit welchem er den damals in Finland für den Aderbau
erwacdhten Eifer erkannt hatte, und die Möglichkeit, ihn nod zu
jteigern, — Johann Sadolin muß das Verdienjt zuerfannt werden,
rechtzeitig gewürdigt zu haben, wie erwünjdt es war, daß die
Mitbürger fi zu planmäßiger Förderung von Finlands Aufſchwung
zulammenfchlojfen... (Die Nüdjiht auf den hier verfügbaren
Raum verbietet es, die interejlanten Nachrichten wiederzugeben
über Johann Gadolins Studiengang, ſeine ausführliden Neijen
in den vornehmjten Hulturländern, feine aller Spefulation abholden
jtreng wiſſenſchaftlichen Ueberzeugungen, feine ufademijche Lehr:
thätigfeit, und über jeine Betheiligung an gewerblichen Unter:
nehmungen.)
Daß unter den, wohl vornehmlid dur Johann Gadolin
zulammengeführten, Anhängern der neuen Ideen, die am 1. No—
vember jich vereinigten, ‘Borthan gefehlt hat, hatte eine natürliche
Urſache. Geplagt durd jchwere rheumatiiche Leiden, war er den
ganzen Herbſt 1797 ans Haus gefejlelt. Seine Unbekanntſchaft
mit der Stiftung der Gejellichaft iſt dadurch erflärlid. Damals
fanden ſich an der Univerfität Abo zwei deutlich hervortretende
Parteien. In der Perſon PBorthan’s, mit feiner ruhigen fonjer:
vativen Gründlichfeit, jahen die älteren Profeſſoren ihren Vor:
mann. Johann Gadolin, mit einer anderen Anjchauung vom
Leben, ein lebhafter, raſch denfender Optimift, hielt nichts von
den Einwendungen und Bedenklichfeiten, und gehörte zur Oppofitiun.
Aber ein Kampf zwijchen den beiden ‘Parteien hatte begonnen.
In jeinen Briefen an Galonius erwähnt Porthan des öfteren mit
Mißvergnügen „der Gadolin’s,“ und namentlid des Johann
Gadolin, dejjen gründlichen Kenntniſſen und Farem Blide er
indeilen jeine Anerfennung nicht verjagte. Man darf wohl an-
nehmen, daß Johann Gadolin es nicht ungern jah, daß Porthan
zufällig außerhalb der Sache jtand, und gehindert war, mit jeinen
nit immer leicht zu mwiderlegenden „Zweifeln hervorzutreten.
Zufolge jeiner, mit dem jo freudig geitifteten „Aurora-Bunde“
Die Kaiferl. Finländ. Oekon. Sozietät. 297
gemachten, Erfahrungen: dab aud der wärmjte Enthufiasmus mit
der Zeit erfaltet, hätte Borthan gegen das Stiften einer neuen
Sejellichaft oder das Wiederaufnehmen der alten abgerathen, und
hätte Johann Gadolin’s Hoffnung nicht getheilt, da nämlich aud)
ohne direkte Mitarbeit, allein ſchon durc ihre Geldbeiträge, die
Mitglieder den Erfolg der Sejellichaft würden fördern fönnen.
Borthan, der es gewohnt war, von Allen und über Alles um
feinen Rath befragt zu werden, ſah fich verlegt durd) den Umftand,
daß er einem, dem Bellen des ganzen Landes gewidmeten, Unter:
nehinen fremd geblieben war. Sein demjelben verliehenes Epithet
„gelehrt” enthält wahrjıheinlid eine Spige gegen Johann Gadolin
und dejjen oft beiprochene Gelehrtheit. Troß jeiner Jugend war
Lepterer Mitglied vieler in: und ausländischen gelehrten Gejell-
ihaften, während Porthan nur der jchwediichen Wiſſenſchafts—
akademie angehörte. Dieje ablehnende Haltung hat aber nicht
lange gewährt: zur Theilnahme an der GSejellihaft aufgefordert,
und alsbald von den patriotiichen Abfichten, welche ihre Bildung
herbeigeführt hatten, überzeugt, it Porthan eines ihrer thätigiten
und wirkjamjten Diitglieder geworden. Es fonnte nicht ausbleiben,
da derart zwijchen den verjchiedenen Aufajlungen eine Aus:
gleihung jtattfand: nad) Verlauf eines Jahres war aus den
Arbeiten der Sozietät erfichtlid, wie jehr eine anſprechende Idee
geeignet iſt, auch Perſonen mit jehr verjchiedenen Anjchauungen
und Intereſſen zufammenzuführen und zufammenzubalten. Porthans
Beiträge zu den Arbeiten der Gejellichaft bilden von jeiner jo
mannigfaltigen Wirkjamfeit eine der jchönjten Seiten. Auch aus
einem anderen Umjtande erklärt es fi, daß zur Stiftung der
Sozietät Porthan nicht herangezogen worden war: er war nicht
praftiiher Zandwirth; wohl hatte ev ein Präbendegut in Arrende,
diejes aber wurde von den Bauern bewirthichaftet,; mit einziger
Ausnahme des Johann Sadolin aber waren unter den Stiftern
nachweislic alle Brofeilore, alle Beamte und Gejchäftsleute —
auch die Offiziere, als Inhaber von Regimentsgütern — alle
waren fie praktiſche Landwirthe, deren Theilnahme in erjter Linie
angeftrebt worden zu jein jcheint. Unter ihnen iſt namentlich der
Gouverneur des Abo:Län, Emil Gultav von Willebrand, zu nennen,
der bei jeiner amtlichen Verpflichtung, die öfonomijchen Intereſſen
zu fördern, an den Vorbereitungen zur Stiftung ſich betheiligt
298 Die Kaiſerl. Finländ. Defon. Sozietät.
hatte, zur Zeit aber in Privatgeſchäften fih in Stodholm aufhielt.
Seinen amtlihen Wohnſitz hatte er auf dem fönigliden Gute
Nunfala, ihm gehörte aber das große Gut Jodis in Tammela,
wo nicht nur eine umfangreiche Landwirthichaft betrieben wurde,
fondern aud Sägewerfe, Diahlmühlen, fowie eine Stampfmühle
und Zeugwalferei, welde legtere beiden Anlagen im Jahre 1804
einem Etangeneifenwerfe lat gemacht haben — (diejes, wie
man jagt, größte Beſitzthum Finlands ift im Jahre 1870 in Die
Hände einer Schwedischen Nftiengefellichaft übergegangen).
In nicht geringer VBerlegenheit befand ſich die Sozietät
gegenüber dem erſt kürzlich ernannten erjten Präfidenten des
Aboer Hofgeridhts Georg Wilhelm Lode. Diejer, ein gejdidter
Juriſt und in der Freiheitszeit ein hervorragender Politifer der
Mützenpartei, hatte während der Vormundichaftsregierung, dank
feiner intimen Freundſchaft mit dem allmächtigen ©. U. Neuterholm,
als Juſtizkanzler eine bedeutende Rolle geipielt. Durd König
Suftavs IV. Adolph erfte Negierungshandlungen war Lode dieſes
hohen Amtes beraubt worden, und er durfte fid) nun, mit zer:
rütteten Vermögensverhältniſſen, nad) Abo zurüdziehen, deſſen
eriter Hofgerichts: Präfidentenfig herkömmlich als Netraite für
gefallene Staatsinänner gegolten hatte — (jo war 5. B. beim
Sturze der Doljtein-Bartei im J. 1727 Akerhjelm dorthin ernannt
worden). Seine hohe Würde fonnte nicht überjehen werden, aber
es erſchien wenig pailend, den in Ungnade gefallenen Staatsmann
mit der neuen Gejellichaftsftiftung in enge Verbindung zu bringen.
Lode hatte die Situation richtig erfaßt und ſich bei Seite gehalten,
und feine Nägjtuntergebenen waren jeinem Beilpiele gefolgt:
unter den Stiftern der Gefellichaft befindet fich fein Glied des
Hofgerichts. Lode's Amendement:VBorjchlag vom 9. Dezember, den
Biihof Gadolin per Afflamation, ohne Zettelwahl, zum Wort:
führenden zu ernennen, befreite die Wählenden aus einer unbe-
haglihen Lage, da der vornehmſte Beamte des Landes felbit-
verjtändlich hätte erwählt werden müſſen. Ueber den Widerſpruch
mit dem foeben bejtätigten Statute, welches Zettelwahl vorichrieb,
hat man gemeint ſich hinwegſetzen zu dürfen, da ja der Vorjchlag
vom erjten Juriften des Landes ausgegangen war. Aber es
wurde ausdrüdlih im Protokoll verichrieben, daß diefe Wahl nicht
als Präjudikat zu gelten haben werde.
Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 299
Aus dem erften gedrudten Mitgliederverzeichniß werden
Ichlieglich auf ganzen zwei Druckſeiten die durch ihre Stellungen
hervorragenden Perſonen vom Verfaſſer hervorgehoben. Neben
den vorherrichenden Gutsbefigern und zahlreichen Landesbeamten
— (unter diefen nun auch Glieder des Hofgerichts) — finden ſich
Seneralmajore, Kontreadmirale, Obrifte, Rittmeiſter, Bilchöfe,
Dompröpfte, Großhändler, Fabrifanten, VBuchdrudereibefiter u. j. w.,
zweier Neichstagsdeputirten aus dem Bauerjtande nicht zu vergeilen.
Erwähnt zu werden verdient noch, als ſehr bezeichnend für die
Sinnesart, aus welcher die Sozietät hervorgegangen iſt, dab in
der Eigung vom 9. Dezember feſtgeſetzt worden war, daß Die
Reihenfolge, in welcher die Mitglieder vom gedrudten Verzeichniſſe
aufzuführen feien, jedes Mal durchs Loos zu bejtimmen jei.
Der Bericht über die Vorgänge bei tiftung der Finska
Hushallningssällskapet wird durch die Bemerfung abgeſchloſſen,
daß ihr als nächſtes Vorbild wohl die fchon erwähnte „Patriotiſche
Geſellſchaft“ Schwedens, welche ihre Wirffamfeit auch auf Finland
ausdehnte, aber doch vorzugsmweile in Schweden ſelbſt ausübte,
vorgeichwebt haben mag, ſodann aber wohl auch die 1769 in
Kopenhagen gegründete Koöniglihe danske Landhusholdnings-
selskab, ſowie die im Jahre 1792 mit einer jährlichen Staats:
fubvention von 3000 L. St. ins Leben getretene engliſche Gejellichaft
The board of Agriculture; in den erjten Jahren des Gefellichafts:
lebens jei übrigens der Zujammenhang mit den Gepflogenheiten
der damaligen, den geheimen Klubs entnommenen, gelellichaftlichen
Unterhaltungen unverkennbar gemwejen; denn zwiſchen den offiziellen
Sisungen haben ſich die Mitglieder als folhe auch privatim
verfammelt.”?)
VI Das Organilationsjahr der Finländiihen Defono-
miſchen Sozietät 1798 und 1799.
Die in entiprechender Auflage gedrudte „Proflamation”
war ins Land verfandt und von der „Nbo:Zeitung” in der erjten
Nummer des Jahres 1798 reproduzirt worden. Es wird darin
zunächſt auf die großen Erfolge hingewieſen, welde in England,
Dänemark, Franfreih und der Schweiz durch öfonomilche Geſell—
Ihaften erreicht worden; auch in manchen Landſchaften Schiwedens
feien jolche patriotische Vereine entjtanden, nur Finland hätte einer
300 Die Kaiſerl. Finländ. Defon. Sozietät.
ſolchen nüglichen Einrichtung bisher entbehrt u. ſ. w. Nach einem
Anszuge aus dem Statut schließt dann das Schriftjtüd mit den
für die Ausdrucksweiſe der Zeit beseichnenden Morten: „Werthe
Landsleute! Der Bürgerfinn nennt es eine Ehre, in ſolchem
Anlaffe zu nützen. Laßt uns mit vereinten Kräften das All:
gemeine zu fordern ſuchen. Ver niemals der Allgemeinheit Gutes
that, iſt das unglücklichſte Glied der Geſellſchaft. Der Eine trägt
durch fein Wien zum gemeiniamen Wohle bei, der Andere durch
feinen Eifer und feine Betriebjfamfeit, wieder ein anderer durch
feine Begütertheit. Cine brüderliche Qereinigung bildet das allen
diejen Vermögen gemeinfame Band, und erhebt zum Gipfel des
bürgerlichen Wohlſeins.“ Tie „Nbo:Zeitung” fügte der Profla-
mation noch folgende Worte hinzu: „Was von den Beidhäftigungen
und Unternehmungen der Sozietät das Publikum intereffiren fann,
wird von dieſer Zeitung fortlaufend mitgetheilt werden; und es
darf gehofft werden, daß unfere mohlmeinenden Mitbürger und
Landsleute nicht unterlaiien werden, ungetheilten Beifall und
Unterftüsung diejer patriotiihen Vereinigung zuzuwenden, welche
geheiligt ift durch die reinſten mitbürgerlichen Gefühle fürs all:
gemeine Bejte, für König und Vaterland.“ Die Zeitung
bat mehr aethan, als fie verhieg: ſie ward zum richtigen Organ
der Sozietät.
Für diefe galt es zunächſt, die Zahl ihrer Mitglieder zu
vermehren: in jeder Monatsfigung wurden neue aufgenommen.
Unter den Neuaufgenommenen find viele höhere Militärperjonen
zu nennen, wie Areiherr M. von Klingfpor, General en chef
für Finland; General E. N. af Alerder, Nommandant von
Speaborg; die Obriften J. 3. Aminoff und G. von Numers,
Chefs der Negimenter von Björneborg und Waja, Obriitlientenant
A. G. Nordenitjöld u. j. w.; ferner Juriſten, Glieder vom Waſa—
Hofgericht, viele Geiftlihe wie M. J. Alopaeus, Dompropit zu
Borga, Merzte, Landmeſſer, Schulmänner wie Lektor Joh. Borg:
from zu Borga, Gelchäftsleute aus verihiedenen Landestheilen
wie die für Bulterfabrifation jo befannten Nathmann ul.
Sellmann in Brahejtadt und Superfargör P. J. Bladh, Apothefer
Joh. Julin u. j. w., dazu viele Perfonen aus Schweden. In
der gedrudten Mitaliederlifte vom 1. November 1798 finden ſich
321 Namen. (Erwähnt zu werden verdient, daß zwei Perjonen,
Die Kailerl. Finländ. Defon. Sozietät. 301
Axel Neuterholm, Bräfident des Mafa-Hofgerichts, und Freiherr
S. W. Carpellan, erjter Gouverneur in Kuopio und Dann
Kommandant von Speaborg, welche ihre Sympathie für Die
Sozietät zu erkennen gegeben hatten, leßterer durch Zulendung
einer Schrift: „Gedanken über die Verbejlerung der Landwirthſchaft
im Kuopio-Län,“ und zufolge deilen in die Zahl der Mitglieder
aufgenommen worden waren, die Aufnahme abgelehnt haben —
offenbar aus zarter Nüdjicht, weil fie von der Regierung, in deren
Schutz die Sozietät ftand, nicht wohl angejehen waren. Um für
die Zufunft jolchen unliebjamen Fällen vorzubeugen, ward bejtimmt,
daß der Proponent fich zuvor darüber zu vergewitiern habe, ob
der zu Broponirende die Wahl annehme.) Im zweiten Gefellichafts-
jahre find 68 neue Mitglieder binzugefommen, meiſt Militär:
perfonen, Geiſtliche, Juriſten, Aerzte, Gejchäftsleute u. |. w. Hervor—
togend unter ihnen waren u. A. der berühmte Upfalajche Botanif-
Profeſſor C. BP. Thunberg, der Landshöfding in Derebro C. D.
Hamilton, der Generaldirektor des Mtedizinalrefforts Olaf af
Arcell, der Kontreadmiral Carl Olaf Cronjtedt.??)
MWährend der beiden eriten Betriebsjahre find gelegentlich
des Yahresbeitrag-Erlegens nicht unbedeutende Leberzahlungen vor:
gefommen; für beide Jahre zujammen haben dafür 434 Reichs—
thaler Ertraeinnahmen gebucht werden können; auch liefen von
vornehmen Damen Donationen (zumeilen für bejtimmte wede,
3. B. zur Förderung des Hartoffelbaues) in verjchiedenen Höhen
ein, von je 10 bis 100 Neichäthalern. Diefer Donationen it
jedesmal in der „Abo-Zeitung” ehrende Erwähnung geichehen.
Das Jahresſchluß-Kaſſenſaldo hat im erſten Betriebsjahre 909 und
im zweiten 1703 Neichsthaler betragen. Aber nicht nur aus den
verhältnigmäßig erheblichen Geldſpenden ward jchon mährend ber
eriten beiden Jahre erfichtlich, daß die Geſellſchaft durch ihr reges
Wirken und durch ihre merflichen Erfolge bei der Negierung und
beim Publikum fich Anerkennung erworben hatte. Für ihre Korre:
ſpondenz ward der Sozietät auf ihr Geſuch von der Regierung
PVortofreiheit bis zu einem angemeljenen Betrage bewilligt —
(und gleichzeitig auch auf die ſchwediſche „Patriotiſche Geſellſchaft“
ausgedehnt). — Seitens der Königlichen Befehlshaber der Provinz,
der Univerfität, der ſchwediſchen „Patriotiſchen Geſellſchaft“ und
auch zahlreicher Privater gingen der neugegründeten Sozietät jo
302 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät.
zahlveihe Modelle zu, daß zu ihrer Nutzbarmachung ein bejonderer
„Gerätheausſchuß“ niedergeiegt werden mußte. Am bemerfens:
werihejten aber iſt, daß bereits am 2. Juli 1798 der Kronofogd
Ahlmann ein Tejtament errichtet hat, mittelft deſſen er jein
Landgut — nach Abzug der darauf fundirten Speziallegate auf
10,000 Reihsthaler bei Eintragung der angenommenen Schenfung
ins hofgerichtlide Hypothekenbuch geſchätzt — der K. Finska Hus-
hallningssällskapet vermadte, mit der Bejtimmung, dab fie in
Tammerfors und Umgegend die Hälfte der freien Gutseinfünfte
zur Forderung des Unterrits armer VBauerfinder in Neligion
und Schreiben und diverſen nüßlichen Kenntniſſen verwenden
möge, die andere Hälfte aber zur Unterjtügung nüßlicher Inter:
nehmungen von Bauern, für deren Durhführung ihre Mittel
nicht ausreichten, auch zu Unterftügungen an Bauern in Mißwachs—
jahren, und zur Belohnung hervorragender bäuerlicher Leijtungen.
Bei Annahme der Schenkung beſchloß die Geſellſchaft zugleich die
Aufjtellung von Ahlmann's Bildnik in ihrem Verſammlungslokal
und die Niederjeßung eines beionderen Ahlmann-Stiftungsrathes
bejtehend aus Perſonen, die der Sozietät nicht angehören ſollten.
Außer den erwähnten Geld: und Mobdellichenfungen, find der
Sozietät auch zahlreiche Geräthe und Bücher — leptere namentlich
jeitens Wibelius' und Porthan's — zugegangen, jo daß fie
Ihon zu Schluß des zweiten Geichäftsjahres eine anjehnliche und
werthoolle Bibliothef aufzuweiſen hatte.**)
Bald hat fich das Bedürfnig nad einem bejonderen Gejell-
Ichaftslofale geltend gemacht, nicht nur zur Abhaltung der Sitzungen
und zur YAufitellung der Modelljammlung und der Bibliothek,
jondern auch zum Auslegen der Gejellichafts:-Verhandlungen und
zum freien Verfehre der Mitglieder behufs ihrer Beiprechung und
der Beratdung über bingehörige Gegenftände. Bis zum Juni
1798 hatten die „zahlreich beſuchten“ Sozietäts:Verfammlungen
in der Wohnung des Wortführenden, des Biſchof Gadolin, jtatt:
gefunden. Von diefem Zeitpunfte ab wurde für die Gejellichafts:
zwede ein für die Jahresmiethe von 53 Reichsthalern erworbener
Saal nebjt drei Zimmern benußt; hierzu find vom 1. Juni 1800
ab noch drei weitere Räume Hinzugefommen. Außer den, von
der „Abo: Zeitung” befannt gemachten, ordentlichen Monatsfigungen
haben hier nod), vom Herbjt 1798 ab, an jeden Mittwoch von
Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 303
4 Uhr Nachmittags an „bejondere Berathungen und Beiprediungen
jeitens der Mitglieder, die ſich einfinden wollten,“ jtattgefunden.
Das neue Verjammlungslofal gab Anlak zu einem wahren Klub:
leben, wobei die Mitglieder auch andere gemeinnügige Zwede,
außer den von der GSejellichaft in die Hand genommenen, verfolgt
haben; jo ift z. B. aus der „Abo-Zeitung“ zu entnehmen, daß
von einer Anzahl von Mitgliedern 108 Neidysthaler 24 Schillinge
gejammelt worden find, welche am 27. Dezember 1799 an einige
Zandleute von Greivilä in Afikfala, welche durch einen Hagelichlag
ihre ganze Ernte verloren hatten, vertheilt worden jind. (Im
Brotofoll der Dezember-Berjammlung 1798 findet jich gelegentlic)
der Jahresabrechnung ein Ausgabepojten „für Dünnbier (svag-
dricka) Tabaf und (Ihon:) Pfeifen 2c. bei den Gejellichafts-
Verfammlungen,“ der ſpäter unter „Diverje Ausgaben“ gebucht
worden fein muß.) In demjelben Lokale ijt auch vom 1. Januar
1799 ab an zwei Nachmittagen der Woche von 3-—7 Uhr die
„neue Leſegeſellſchaft“ zufammengefommen.?)
Während der erjten zwei Jahre hat die Sozietät mehrfad)
Beweije der Königlihen Huld und Gnade empfangen. Auf der
Sitzung vom 1. März 1798 ward ein zu Gunjten der Sozietät
erlajienes Dianifeit des Königs verlejen, durch welches ihr der
Titel „Königliche Finska Hushallningssälskapet in Abo“ ver:
liehen und jie gnädigen Schuges verfichert wird, wonach ſich jeder,
den es angeht, zu richten habe.“ Unterm 1. September 1798
hatte die Sozietät um die Erlaubniß nadgejudt, eine Diedaille
mit des Königs Bildnik, zum Zwede „höherer“ Belohnung, prägen
laſſen zu dürfen, — „da die Bauern den ertheilten Eilberbedern
nicht genügend Werth beilegten und der Gejellihaft die Mittel
zu fojtbaren Gaben fehlten.“ Das Gejud wird durd einen, an
den derzeitigen Wortführenden, Baron Fabian Wrede, gerichteten,
Brief bewilligt, in welchem der König ihn beauftragt, die Gejellichaft
nochmals feiner, des Königs, gnädigen Gefinnung zu verfichern.
Ein in ähnlihem Anlaije an dem derzeitigen Wortführenden von
Willebrand erlaffener Königliher Brief vom 15. Oftober 1799
enthält die erneute Verſicherung monardiicher Huld und Das
Herabbitten göttliher Allmaht und Gnade auf die Sozietät.
Durd von Willebrand ift für die Sozietät das Recht ausgewirkt
worden, den Beiltand der Verwaltungsbehörden zu el
804 Die Kaiferl. Finländb. Defon. Sozietät.
Abſchlägig war aber auf ein Geſuch der Sozietät vom 1. Oftober
1798 rejolvirt worden, wonach die Zandrenteien hätten beauftragt
werden follen, von den Mitgliedern der Gejellichaft die Jahres:
beiträge einzuziehen.
Zu Anfang war über die vorliegenden Fragen entweder
unmittelbar Beichluß gefaßt, oder mit ihrer Beprüfung waren
zuvor Ausſchüſſe beauftragt worden. Am 1. Mai 1798 aber
ward beichloifen, eine jtändige, aus zehn Perſonen bejtehende,
„Geſchäfts-Vorbereitungs-Kommiſſion“ für je ein halbes Jahr mit
geſchloſſenen Zetteln zu erwählen; ihr waren alle „Tomplizirteren
Gegenftände, welche nicht unmittelbar erledigt werden fonnten,
zur Kritif und Meinungsäußerung (utlatande) zu übergeben”;
ihr Wortführer, der aud die Eigungen zu berufen hatte, war
jedes Mal dasjenige Glied, welches bei der Mahl die meiften
Stimmen auf ſich vereinigt hatte; die Kommiſſion Sollte beſchluß—
fühig fein ohne Nüdjicht auf die Zahl der Anmwefenden. Der
erite Kommiſſionsvorſitzende war Porthan, deſſen Strenge bei
Leitung der akademiſchen Tisputationen befannt war, und der
damals als Rektor der Univerfität fungirte; aus feiner vertraulichen
Korreipondenz geht hervor, daß er ſich mit fteigendem Intereſſe
der Gefellichaftsangelegenheiten annahm. Die Juni-Verfammlung
1798 jeßte auch einen „Defonomie: oder Finanz Ausschuß” nieder,
zu welchen jedes Mal der Gejellichaft Wortführender, Sefretär
und Schagmeilter und außerdem neun auf ein halbes Jahr gewählte
Glieder gehörten. Die Geſchäfte diefes Ausichuffes waren Anfangs
jehr verantwortlidy wegen der damals noch geringen Mittel der
Sozietät.
Schon zeitig iſt beantragt worden, die Eitungsprotofolle
druden zu lalfen und zu vertheilen, um größere Theilnahme zu
erweden und um das Bewußtjein der Zulammengehörigfeit zu
unterhalten. Das aber ward vom Vorbereitungs-Ausſchuß ab—
gelehnt wegen der damit verbundenen Koſten und Verzögerungen ;
ftatt deſſen aber ward befchlofen einen furzen Nahresbericht mit
dem Nachweiſe über die Verwaltung der eingefloffenen Mittel,
und mit einem vollftändigen Mitgliedsverzeichnilfe druden zu laſſen;
nach dem Vorgange verjchiedener anderer Gefellichaften verſprach
man ih davon die Wirkung einer Art Neflame. Cs follte auch
eine regelmäßige „Korreſpondenz“ in Gang gebracht werden, durch
Die Railerl. Finländ. Defon. Sozietät. 305
welche eine Verbindung mit den in den verschiedenen Zandestheilen
verftreuten Mitgliedern erhalten werde; die in Abo wohnhaften
Mitglieder follten jelbit denjenigen Landestheil bezeichnen, wohin
fie zu forreipondiren gedächten. Es wurden derart 16 Korreſpondenz—
Bezirfe gebildet, aber das alles hat fich alsbald als unpraftiich
und rejultatlos ermwiefen. Am Muguft 1798 ward aud ein
„Geräthſchafts Ausſchuß“ niedergelegt mit dem Auftrage, die ein:
gehenden Modelle und Geräthichaften erperimentell zu prüfen und
darüber Gutachten abzugeben.
Wiewohl es Anfangs als jelbjtverjtändlich gegolten hatte,
daß auch das Sefretariat als unbefoldetes Ehrenamt verwaltet
werde, Jo erwies fich doch bald feine Gejchäftsüberlaftung als eine
zu große, namentlich da die in Aussicht genommene „Korreſpondenz“
als unfähig erfannt worden war, den Eefretär genügend zu ent:
laften. Daher erfolgte zur Jahresverjammlung 1798 jeitens des
„Vorbereitungs-Ausſchuſſes“ der Antrag: einen jtändigen Sefretär
anzuftellen mit Jahresgehalt und freier Wohnung beim Gejellichafts-
lofal. Nah Annahme diejes Antrages war Dr. Ruſtröm, der von
1794— 1796 an der Univerfität Demonjtrant der Botanik geweſen,
dann aber nach Schweden übergefiedelt war, für das Amt gewonnen
worden, und er follte es im Frühjahr 1799 antreten, nahm aber
vorher feinen Abichied, weil die „Patriotiſche Geſellſchaft“ ihn zu
ihrem erjten Sefretär erforen hatte. Darauf wurde mit 200
NReichsthalern Gehalt der Provinzialmedifus in Nyland, Aſſeſſor
Johann Friedrid Wallenius durch 44 von 46 Stimmen
erwählt; er trat feinen Dienjt im April 1500 an und hat ihn
bis 1805 verwaltet.
Außer diefen, ihre innere Organijation und Befugniſſe be-
treffenden, Fragen — (wozu noch Verhandlungen über das anzu—
nehmende Wappen und Siegel famen) — hat die Sozietät während
ihrer beiden erjten Jahre Gegenftände behandelt, welche in den
weiteſten Kreiſen das lebhafteite Intereſſe erregten; daher, und
wegen ihres taftvollen Auftretens dabei, das Anfehen, deijen Die
Sozietät von ihren erjten Anfängen an jowohl bei der Regierung
als auch beim Publikum fich erfreut hat.
Im Herbite 1797 waren viele Theile Finlands durch ſchwere
Mikernte heimgefucht worden und drohende Hungersnot jtand vor
ber Thür; der Beihluß der Sozietät vom 1. Februar um
306 Die Kaiferl. Finländ. Oekon. Sozietät.
eine Schrift über „Nothbrod“ herauszugeben, mußte daher
allgemeine Aufmerfiamfeit erregen. Schon der Sitzung vom 1.
März 1798 lag die von Profejjor Pipping im Anſchluſſe an
eine Inftruftion des Collegium medicum vom J. 1784, ver:
faßte und von Profeſſor Guftav Gadolin ins Finniſche über:
fegte Arbeit vor, welche darlegte, wie durch Beimengung von
(„isländiſchem“) Haidemoos und von NRennthiermoos ein gejundes
und wohlſchmeckendes Brod hergejtellt werde, das auch in ge:
wöhnlichen Zeiten als Eparbrod gut zu verwenden jei; fie wurde
zur Öratisvertheilung würdig befunden (1. Auflage in 1000,
2. Auflage in 3000 Eremplaren). Die „Abo:Zeitung” gab dazu
noch Erläuterungen, und auf Biſchof Gadolin’s Antrag wurde die
Heiftlichfeit durch das Domfapitel ermahnt, die Nothbrod-Bemü-
dungen der Cozietät zu unterjftügen. Durch die Gouverneure
wurden Proben von den beiden Moosarten zum Demonftriren auf
Kirchipielsverfammlungen verfendet. Unter analogem Anlafje und
gleihen Bedingungen ward im J. 1799 eine vom Profeſſor
Hellenius verfaßte Schrift über Nothfutter für das ieh
vertbeilt.
Der vielfah geäußerte Wunſch, ein möglichit furzes, aber
zugleich volljtändiges und Teicht faßliches Lehrbuch für den
finniſchen Bauer über die wichtigsten Theile feiner Wirthichaft,
nämlich Wiejenbau, Viehzucht und Aderbau, hergeitellt zu jehen,
hat der Sozietät den Anlaß zur Aufftellung ihrer erjten Preis:
frage gegeben. Gleichzeitig wurde auch am 2. April 1798 eine
zweite Preisfrage aufgejtellt: „Welches find die Hinderniffe,
die des finländischen Landmannes Emfigfeit feſſeln? Und welches
find die fräftigjten und paſſendſten Mittel, ihn zu mehr Eifer
und Umſicht in feiner Landwirthfchaft zu erwecken?“ (Wenn man
fi) der bezüglichen Agitationen des Anders Chydenius erinnert,
jo erhellt, wie umfafjende und weitgehende Fragen hierdurd) an—
geregt wurden.) Die Preisfragen wurden nicht nur von Der
„Abo-Zeitung“ fondern auch vom fchwebiichen „Inland“ ver:
öffentliht. Die „Abo-Zeitung“ erläuterte zugleich die Abfichten
der Sozietät und ermahnte, die Preisichriften mögen der Faſſungs—
gabe des gemeinen Mannes angepaßt werden. Die Einjendungen
wurden bis zum Auguſt 1799 erbeten. Die erite Frage follte
ſchwediſch oder finniſch, die zweite nur ſchwediſch beantwortet
Die Kaiſerl. Finländ. Oekon. Sozietät. 307
werden. Für beide Arbeiten waren Preiſe von je einer Gold—
medaille im Gewichte von zwanzig Dufaten und je zwei Zilber:
medaillen als Afzejjite ausgeworfen. Auf jede der Fragen find
drei Antworten, alle in jchwediicher Sprache eingereicht worden ;
feine von ihnen aber ijt für vollfommen preiswürdig anerfannt
worden; wegen richtiger Gedanken u. ſ. w. it dem Nils von
Törne eine Silbermedaille zuerfannt worden. Die motivirten
UÜrtheile wurden von der „Abo-Zeitung“ veröffentliht. Dieſelben
Preisfragen wurden erneuert.
Am 2. April 1798 iſt aud über eine Dritte ‘Preisfrage:
„Dom Nugen oder Schaden der ESciffahrtsfreiheit der
Bauern“ verhandelt worden — (se. eine Frage, die jchon
mehrfach Gegenſtand der Neichstagsdisfuflionen und der Gejep-
gebung gewejen war). Nach, wie es jcheint, heftiger Debatte ijt
aber dieje Frage zurüdgeftellt worden, weil die Mehrzahl der
Anwejenden der Meinung war, daß es für die Sozietät nicht
räthlich jei, ji) auf Gegenjtände der „oeconomia publica“ ein:
zulajlen, d. h. auf Fragen, welche die öfonomiiche Gejeßgebung
betreffen. (Porthan jchreibt darüber an Galonius am 12. April
1798: „die Frage habe Bedenken erwedt, woher gemeint worden
fei, die Sadye könne noch ruhen.“ Im Jahre 18508 ift aber
diefe Preisfrage doch aufgejtellt worden, jedoch unbeantwortet
geblieben.) ??)
Die auf der Jahresverſammlung von 1798 aufgeitellte
Breisfrage wegen „Stromregulirungen” ijt alsbald zurüd:
gezogen worden, nachdem 1799 die Stromregulirungs:Vireftion
eingefegt worden war. Hinſichtlich der gleichzeitig in Worjchlag
gebraten Preisfrage „Bon der Städte Handarbeit und
Danufaftur” hat der Vorbereitungs-Ausihuß ablehnend jentirt:
„weil von Einzelnen darüber ein generelles Urtheil nicht gefällt
werden fünne, vielmehr die Frage für jede Stadt bejonders gejtellt
werden müſſe“; die Sozietät aber ijt anderer Meinung geweſen.
Eine dritte Preisfrage wurde auf derjelben Sitzung aufgeftellt:
„Weber die Einrichtung von Kirchſpiels-Vorrathsmagazinen.“
Auf die Beantwortung der Preisfrage: die bejte Art, mit
dem geringiten Körnerverluſte das von den Aeckern geerntete
Getreide einzubringen, zu trodnen und zu dreichen, hat die
308 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät.
Sozietät den vom Propft G. W. Nydman in Tornea gejlifteten
Preis von 25 Reichsthalern ausgeworfen.
Da die im Laufe des 18. Jahrhunderts über Kirchſpiels—
Beihreibungen gelieferten „Disputationen“ nicht nad ein:
heitlihem Plane abgefagt worden waren, jo ijt darauf bezüglich)
auf den Antrag des Sefretärs Wibelius am 2. Januar 1798
ein Spezialausshuß eingejept worden, welder am 1. Mai 1798
eine von Profeſſor Bonsdorff angefertigte Injtruftion vorlegte;
diejelbe it mit einem Vorworte des Profeſſor Tengſtröm für
Koſten der Sozietät gedrudt und in 1000 Eremplaren vertheilt
worden. (Porthan bemerft darüber in einem Briefe an Galonius
vom 2. Auguft 1798: es gebe darin mande unbeantivortbare
Fragen; man habe wohl gemeint, superflua non nocent. Cs
find darauf zahlreiche ſolche Beichreibungen eingegangen; Die
meijten davon aber waren zu fragmentariih. Die bejte von
ihnen iſt diejenige des Major Otto Friedrich Wetterhoff,
betreffend Aſikkala-Kapell, welche jpäter in den „Verhandlungen“
der Sozietät abgedrudt worden iſt. Cie enthält den Vorſchlag
zur Niedrigerlegung des Paijänes-Waſſerſpiegels und zu einer
Etadtgründung.
Die Sozietät erhielt die Fönigliche Genehmigung, zur Aus:
zeichnung von Schriften, bezw. deren Verfaller, bejondere Medaillen
mit des Königs Bildniß prägen zu Dürfen. Dieje Diedaille ijt
mit entſprechender Inſchrift (auch in finnischer Sprache) in 13
Größen geprägt worden. Davon ſind zwei goldene Eremplare,
das eine ſchwediſch, das andere finniih, Sr. Majeſtät dem
Könige verliehen und ihm durch eine, vom derzeitigen Wort:
führenden angeführte, Deputation am 15. Januar 1800 übergeben
worden, nebjt einer Verleihungsurfunde; ebenjo auch dem Reichs—
fanzler Rojenblatt, welder in feinem Danfjchreiben bervorhebt:
er habe nichts mehr als jeine Pflicht gethan, wenn er die gemein:
nügige Sozietät unterſtützte. Cs würde zu weit führen, jollten
hier alle die bis zum Schluſſe der erjten zwei Jahre verliehenen,
im Knopfloche zu tragenden Diedaillen, vergoldeten Silberbecer,
Ehrenfetten mit Medaillen, filbernen Hutbänder u. ſ. w. und Geld-
belohnungen, fünfzehn an der Zahl, unter Angabe der jedesmaligen
Berdienjte aufgeführt werden. Es mag nur im allgemeinen bemerft
werden, daß auch hier, wie bei der Preisfragen-Kritif, das Urtheil
Die Kaiſerl. Finländ. Defon. Sozietät. 309
der Sozietät fein allzumildes geweſen iſt — (jo z. B. hat ber
Bauer Johan Matſſon zu Wehinä-by in Lauffas es doch wohl
verdient, für die auf jeinem Gute hergejtellten 70,000 Ellen
(— 40 Wert) Gräben und 9000 Ellen (— 5 Werſt) Zäune
dur Verleihung eines vergoldeten Chrenbehers von 22 Loth
Silbergewicht ausgezeichnet zu werden). Solche Auszeichnungen
und Belohnungen wurden in ganz bejonders feierticher Weiſe ver:
liehen, auf SKirchipielsverjammlungen, mit einer Anſprache des
Seijtlichen.
Andere Einjender von Diemorialen, darunter mandje anonyme,
find dadurd geehrt worden, dal die Sozietät die angeregte Sache
zur ihrigen machte und fie durch ausgiebige Agitation förderte —
jo ift 3. B. zufolge einer anonymen Einſendung ein erfolgreicher
Kampf zu Guniten der Podenimpfung, unter wirkſamer Beihilfe
des Domkapitels und anderer Behörden, und unter Ausjegung
von Prämien an Impfer, in Szene gejegt worden. In ähnlichem
Anlaſſe haben Gratisvertheilungen von Sartoffeljaat, von ver:
bejjerten Bienenförben u. |. w. jtattgefunden. Auc find nüßliche
Erfindungen von der Sozietät angefauft und zu beliebiger Benugung
freigegeben worden.
Anderen Einjendungen ift durch die Sozietät weitreichende
Pubdlizität verliehen worden, nachdem ihr durd) liberales Entgegen:
fommen der Frendell’ichen Druderei die Herausgabe des „Iage:
budyes der K. F. H.“ (Mionatsbeilage zur „Abo: Zeitung”), ihrer
„Verhandlungen“ und kleinerer Schriften zur Gratisvertheilung
ermöglicht worden war. Unter den derart zur Disfujfion gejtellten
Gegenſtänden mögen beiipielsweile folgende genannt werden:
Ankauf eines Kronsgutes zur Einrichtung einer Mufterwirthichaft,
und zum Wiederverfaufe, wobei der Käufer zur Fortführung der
neuen Wirthichaftseinrichtungen zu verpflichten Sei, (in dieſem
Vorſchlage gipfelte eine ganze Neihe von Vorjchlägen zu Wirth-
ihaftsverbejjerungen, und es hat lebhafte Verhandlungen gegeben,
als der Verfaſſer, Wibelius, verlangte, jeine Arbeit jolle anonym
gedrudt werden, da die bezüglichen Gedanken ſchon von Anderen
ausgeſprochen worden feien.) — Anſtellung von Jnjtruftoren für
gewille ländliche Betriebe; — Erridtung einer Waldhüterichule;
— Bekämpfung des Luxus u. A. durd Einführung des Kartoffel:
Kaffee's (hierdurch ijt ein vorübergehendes Fallen des Staffeepreijes
310 Die Kaiferl. Finländ. Delon. Sozietät.
von 40 auf 32 Scillinge hervorgebradht worden). ehr viele
Zufendungen mußten, wegen Mangels an Mitteln zu ihrer Ber:
öffentlihung, einfach ad acta genommen worden.
Auch außer in den bereits angeführten Fällen hat ſich Die
Sozietät während ihrer beiden erjten Jahre mehrfad an Königliche
Majeftät gewandt mit der Bitte um Aenderungen der öfonomijchen
Geſetzgebung, 3. B. hinfidhtli Verlegung des Termins für Die
Dienjtboten-Anmiethung ; wegen Aufhebung des Zunftzwanges für
manche ländliche Gewerbe; wegen Freigebung des Salpeterhandels
u. |. w. Dabei hat es zuweilen, 3. B. in Betreff des leßteren
Gegenjtandes, nicht an Widerjpruch feitens ängitlicher Mitglieder
gefehlt, welche fürdhteten, es könne daraus eine „Staatsaffaire”
entitehen.
Vom Mai 1799 ab find die Verhandlungen der Sozietät,
wegen erfahrungsmäßig nothwendiger Abänderung und Ergänzung
ihres Statuts, zuweilen recht hitzige geweſen, obſchon es fich dabei
um verhältnißmäßig wenig wichtige Fragen gehandelt hat, 3. B.
ob die Strafgelder fürs Ausbleiben von Ausſchußſitzungen fort:
fallen follen? — ob die Verhandlungen des Vorbereitungs-Aus-
ſchuſſes geheim zu bleiben haben? — Das im November 1799
gedruckte neue Statut ift bis 1821 unverändert beibehalten worden.?*)
Damit hatte die Sozietät ihre organifatoriiche Thätigfeit ab—
geichlofien; fie hatte alle öfonomish hervorragenden Kräfte des
Landes um ſich verjammelt; fie war zum Spradrohr für alle
öfonomilchen Intereſſen geworden und hatte den Beiltand der
Seijtlichkeit, der Königlichen Beamten und der Landesbehörden
jur Unterftügung ihrer Bejtrebungen erworben. Sie fonnte mit
den beiten Hoffnungen der Zukunft entgegengehen.
* a *
Daß diefe Hoffnungen nicht getäuscht worden, fondern über:
reichlidy erfüllt worden find, geht aus dem Inhalte der ferneren
zehn Kapiteln der Jubeljchrift hervor, welche der Eozietät Wirk:
jamfeit bis zum Jahre 1897 darlegen. Auf eine aud nur
fragmentariihe Wiedergabe Ddiejes reichen Inhalts müßte bier
ſchon darum verzichtet werden, weil die Heranziehung von Vergleichs:
Daten aus dem Leben der Kaiferlichen Livländiihen Gemeinnügigen
und Oekonomiſchen Sozietät nicht möglidy ift, wegen Fehlens einer
Publikation darüber.
Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 311
Es mag hier nur angeführt werden, daß zum Jahresſchluß
1897 die Kejserliga Finska Hushallningssällskapet 1155 Mit—
glieder bejaß (worunter 24 weibliche), und mit Einfchluß der unter
ihrer Verwaltung jtehenden neun Stiftungsfonds über ein Gejammt:
vermögen im Betrage von 569,384 Marf 44 Penni finländifcher
Währung verfügte.
[Iossoseno uenaypow. Pura, 9. Oxrabpa 1898 r.)
AUnmerfungenm.
I) Unter den gleichen Bedingungen, d. h. bei Unabhängigkeit des Ver:
fafjers, it auch zur ‚eier des hundertjährigen Beſtehens der „Allgemeinen
Zeitung” die Feitichrift erichienen. Der Berichteritatter über legtere bemerkt in
Nr. 296 der „Beilage zur Allg. Ztg.”, dab in anderer Weile, d. h. beim Hinein—
arbeiten mit Aenderungen Seitens des Gejchilderten, eine jo objektive hiſtoriſche
Daritellung nicht herzuitellen geweien wäre, — und „es jei ja auch nicht üblich,
daß ein Jubilar ſich jelbit die Gratulationsrede halte.“ Wenn im Jahre 1890
die K. Livländiſche Gemeinnübige und Dekonomiſche Sozietät zu gleichem Ber
fahren ſich hätte entichließen können, jo würde die Geſchichte ihres hundertjährigen
Beitehens ſchon längit erichienen jein.
2) Dafjelbe fann nicht von Rußland und Livland gejagt werden; freilid)
hatte Peter I. in weit höherem Grade noch als Karl XII. es veritanden, fein
Land zu entvöltern und die Steuerfraft der dezimirten Bewohner zu lähmen;
aber nad) Beters I. Dingange verging mehr als ein Menjchenalter, bevor Wieder:
aufrichtung und iyitematische Ordnung der Verhältnifie des Reiches eruſtlich
angejtrebt wurden. (Bergl. Ernit Freiherr von der Brüggen: „Wie
Rußland europäiich wurde,” Yeipzig 1885, passim.) Wie ungünftig mußten
die verwilderten Zuſtände des Reiches auf das durch den Krieg verwüjtete und
ihm nunmehr angegliederte Yivland zurückwirken!
3, Zu allen den in Schweden jich geltend machenden Beltrebungen für
ſyſtematiſche Hebung der Volfswirthichaft finden jih in Kußland, jeit Peter 1.
mindejtens bis zum Negierungsantritte Katharinas II., faum irgend welche
Analogien.
312 Die Kaiſerl. Finländ. Delon. Sozietät.
% Auch in Rußland war der Aderbau unter dem Regime Peters I.
jeitens der Groggrundbejiger arg vernachläijigt worden, nicht aber weil dieſe zu
dem ruhmreicheren Ariegsdienite ſich mehr bingezogen gefühlt hätten, ſondern
weil fie widerwillig zum bureaufratiihen Staatödienfte und durd Dielen zum
Abjenteismus gezwungen worden waren. In der Folge ift von Mahregeln
jur jtaatlihen Förderung des Aderbaues aus Rußland nichts zu vermelden
geweien, es jei denn daß man die jeit dem Zar Boris Godunow jo häufig
erlafjenen Zäuflingdordnungen dahin rechnen wollte. Nicht nur Gemengelage,
logar Agrarlommunismus der TDorfichaften find in Rußland bis heute beis
behalten worden, und eines der Ichlimmiten Dinderniffe, wodurd die Einführung
einer Dypothefenordnung unmöglid; gemacht wird, bejteht in der Ihatjache, daß
in Rußland die Liegenjchaften gar oft wohldefinirter Beſitzgrenzen ermangeln.
5) Aus jener Epoche iſt von ſolchem merflihen allgemeinen Aufſchwunge
der Landwirthſchaft aus Rußland nichts zu vermelden gewejen.
d, Die phyſiokratiſche Entfeffelung des Gewerbes und Verkehrs und die
Sorge für die Volfswohlfahrt, wie fie ſchon zeitig im 18. Jahrhundert in
Schweden, jowohl in der Yitteratur als aud in Regierungsakten ſich geltend
gemacht haben, mußten bier eingehend erwähnt werden, um den Gegenjaß,
welchen das gleichzeitige Rußland iu diejer Beziehung Ddarbietet, hervorzuheben.
Abgeiehen von den hierher gehörigen, freilich wohlgemeinten, aber durd) ihre
Planloſigkeit und Berfrühung jteril gebliebenen ja desorganijirenden, Mabnaymen
Peters I. ijt, bis auf Katharina II., faum eine einzige nennenswerthe Bejtrebung
der Regierung zu erwähnen. VBollends die ruljiihe „Wiſſenſchaft“ und Litteratur
jener Zeit, welche jogar ihre Sprache aus dem von Peter I. erfundenen Kanzleiftil
erit zu entwideln batie, bieten abjolut garkeine Analogie zu den reichhaltigen
ſchwediſchen Geiftesihöpfungen, es jei denn, daß man die eigenartigen Erzeugnifje
des Aultodidakten Poſſoſchlow ihnen gleichitellen wollte, — ein Umſtand, der
unberechenbar jchwer auf den Geſchicken des in Rußlands Kielmwajjer gerathenen
Yivlands gelajtet bat, deſſen jtrebjamere Söhne ihre Bildung mit gewaltigen
Schwierigkeiten und Opfern aus dem Auslande erwerben mußten. (Bgl. über
dieje Schwierigfeit Julius Edardt: Yivland im 18. Jahrhundert. Yeipzig 1876,
S. 377 ff.)
*) Nicht einmal fo jpärlice jtaatliche Unterſtützung der Induſtrie iſt zu
jener Zeit Livland gewährt worden; ja nicht einmal einiger Schonung hat das
jo entieglich verwüjtete Yand ſich zu erfreuen gehabt. Vielmehr ijt währeud
vieler Jahrzehnte das ohnehin erichöpfte Gebiet aufs Entieglichite gequält worden
durch beitändige Truppendurchzüge, durd Stellung von Fuhren auf große Ents
fernungen, durch Truppeneinquartirungen, durch Lieferungen aller Art für die
Truppen auf hunderte von Werften in erichredlic veratoriicher Weile u. j. m.
(Bl. Julius Edardt: I. ec. ©. 398 ff. und passim, auch Karl Ludwig
Blum: Ein ruſſiſcher Staatsmann ꝛc. Leipzig 1857 u. 1858. IV. ©. 175 ff.)
8) Auch nicht einmal ſolche „platonijche” Fürſorge mittels öfonomijcher
Enquetestommiljionen hat Rußland jemals Livland gewidmet. Was Livland
an Wohlfahrtseinrichtungen befigt, hat es, bis vor Kurzem, einzig und allein
zäher Selbithilfe verdankt, keineswegs ſtaatlichem Beiltande, mit einziger Aus:
Die Kaiferl. Finländ. Oekon. Sozietät. 313
nahme der fat ganz unnüßen, mit dem Lineale projefiirten, und ſchon längit
aufgelafienen Riga-Pleskauer Chauffee. Klagen aber und Bitten, Die liv:
ländiicherjeitö hohen und höchſten Ortes angebracht worden, haben wohl aus:
nahmelos der Abwehr von Hechisfränfungen gegolten und faum jemals materieller
Unterftügung — außer binjichtlih Errichtung des Kreditvereind und der Bauer:
rentenbanf; nicht jelten aber jind Geſuche um die Erlaubniß, ſich ſelbſt helfen
zu dürfen, abichlägig beichieden worden.
9, Zu allen den erfreulichen Anzeichen des Wiedererwachens wirthichaftlichen
und nationalen Yebens, wie jie vom 3. und 4. Dezennium des 18. Jahrhunderis
ab in „Finland aufgetaucht oder befjer: von erleuchteten Patrioten Finlands
hervorgerufen worden find, — von alledem findet ſich in der Geichichte des
gleichzeitigen Yivlands nichts Analoges, abjolut garnidyts. Wir erfahren aus
ihr nur, daß Livland im jener Zeit, zufolge der vorangegangenen Gewaltjamfeiten
Karl XI. von Schweden und jodann der wiederholten Verheerungen durch
den Nordiſchen Krieg, jih im Zuſtande des äußersten wirthichaftlihen und
moraliichen Riederganges befand, — in einem Zuſtande, von welchem wir uns
heute eine anſchauliche VBorjtellung faum zu machen vermögen. Beim gänzlichen
Aufhören von Handel und Wandel in den fajt zeritörten Yanditädten, waren
dieje bei einem Grade der Berarmung angelangt, welcher fie gezwungen hatte,
ihre Vertretung auf den Yandtagen aufzugeben. Selbit der Adel, der jeine
Kinder mit Bertelbriefen ausziehen laſſen mußte und das Leben nur durd)
Verſtärkung des Drudis auf die Hörigen zu friſten wußte, — ſelbſt der Adel
vermochte die Landtage nicht zu beiuchen: er beichiefte fie durch Delegirte, weldye
ſich vergebli mühten, die unabläjjigen Hequifitionen und Erprefiungen für
durchziehende und einquartirte Truppentheile vam Yande abzuwenden. Wchflagen
über dieſe Röthe und über die Bergeblichkeit der Berfuche, die Verwaltung und
Juſtiz des Yandes aufs Neue zu ordnen, jo wie „Düjtere Bilder“ von den
gleichzeitigen agrariichen Zuitänden, — jie allein füllen die Blätter der heimiſchen
Zeitgeſchichte. Nicht mit Unrecht it gejagt worden: die neue Geſchichte Yivlands
gehe fait gänzlich auf in der Geſchichte feiner agraren Entwidelung; dieſe aber
hatte zu der in Rede jtehenden Epoche ihren niederjten Stand erreicht. Selbit
die wärmjten Apologeten, weldye die damaligen Zuftände zu beihönigen juchen,
geben zu, daß die Zeit der „Roſenſchen Deklaration“ des Jahres 1739 davon
— miewohl diefe nur eine „flüchtige HanzleisArbeit” gewejen jei — doch ein
„Düjteres Bild“ gewähre; bat doch auch der ebendamals abgefaßte, und jpäter
oftmals durchgeſehene, „Schrader: Budbergiche Landrechtentwurf“ die livländiichen
Erbbauern mit ihren Familien und Dabjeligfeiten zu den „beweglichen Gütern“
gerechnet, — über welde, fujt wie über das jonjtige lebende Inventar, der Herr
jelbjtveritändlicdy nady Belieben verfügen durfte. (Vergl. von Tranſehe-Roſeneck:
„Gutsherr und Bauer u. j. w.“, Straßburg 1590, ©. 146 u. 147, „Baltiiche
Monatsſchrift“ XXVII, ©. 95 Anm. 1 und ©. 353.) Daß unter joldyen
düjteren Berhältnifjen irgend welche Anzeichen ofonomifchen Wiederauflebens,
wie jie uns gleichzeitig in Finland entgegentreten, ſich nicht haben zeigen fünnen,
muß als jelbjtverjtändlich gelten.
314 Die Kaiſerl. Finländ. Defon. Soyistät.
10, Wenn gefunden wurde, dab während der in Hede jtehenden Periode
der Finländiſchen Kulturgeihichte verhältnißmäßig nur wenige „ökonomiſche“
Schriften in finnischer Sprade erichienen feien, jo muß dem Livländer im
Gegentheile dieſe Litteratur als eine überaus reiche ericheinen; denn von
„weltlichen“ Schriften in den beiden livländiichen Landvolkſprachen werden nod)
am Ende des 18. Jahrhunderts überhaupt nur fünf erwähnt, zwei lettiſche und
drei ehitniihe (Edardt 1. ce, S. 449 u. 450); von legteren it allenfalls eine
als „ökonomiſch“ anzujpredhen, nämlich das, in Dupel’S „Zopographiichen
Nachrichten“ I, S. 567 erwähnte, um 1772 gedrudte ehſtniſche Arzneibuch; Die
anderen beiden find offenbar die von Hupel ebendort II, ©. 89 u. 90 erwähnten
ehſtuiſchen Grammatiken, die erjte v. J. 1637 und die zweite v. 3. 1732, welde
aber beide eigentlich der deutſchen Litteratur angehören. Aljo ijt während der
in Rede jtehenden Periode an ehſtniſchen und lettiihen „weltlichen“ bezw.
„ökonomiſchen“ Schriften nichts, abjolut garnichtS erichienen, und die gleichzeitige
finniſche „ölonomiſche“ Yitteratur muß vergleichsweile als eine überaus reiche
gelten. Dieje totale Armuth iſt leicht erflärlid. Durch die Verwüftungen des
Nordiſchen Krieges waren mit jehr wenigen Ausnahmen alle livländiichen
Pfarren vafant geworden und es hat unfjäglicher, lange fortgejegter Mühen
bedurft, um jie zwedentiprechend wieder zu bejehen. Gbenjo war das Yand
durch den Nordiichen Krieg jeiner Univerjität beraubt worden, und, troß ihrer
fapitulationsmäßig ausbedungenen und wiederholt übernommenen Verpflichtung
zur Wiederheritelung der Yandesuniverjität, hat Die ruſſiſche Regierung Die
zahlreihen Geſuche der Ritlerſchaft um Erfüllung dieſer Berpflicgtung (1730,
1734, 1754, 1757 und 1764, vergl. Jul. Edardt 1. c. S. 299) doch während
des ganzen 18. Jahrhunderts abſchlägig beihieden. Wer hätte wohl unter jolden
beflagenswerthen Umjtänden in Yivland an „ökonomiſche“ Schriften für das
Sandvolf denten fönnen, wie es in Finland geihehen ijt, das eine Univerjität
bejaß und deſſen Pfarren alle, oft durch hervorragende Kräfte, bejegt waren!
11, Alles das in der vorigen Anmerkung vom gänzlichen Fehlen ehſtniſcher
und lettiicher „ofonomilcher” Schriften aus der eriten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Geſagte gilt aud) von Yivlands deutſcher Yitteratur jener Zeit. In Yivland jind
damals nur einige Chronifen und einige rechtshiſtoriſche Abhandlungen nebit
jehr wenigen Schriften religiöjen Inhalts verfaßt worden. Gegenüber dem in
Finland erwachten regen Leben, gegenüber jeinen ſchon zahlreichen und verdienitlichen
ötonomiſchen Schriften hat Yivland zu jener Zeit nichts, abiolut garnichts auf:
zuweilen. Wie jollte es auch amders ſein bei der entjeglichen VBerarmung Des
Landes in Folge lange währender Kriegsnöthe, wiederholter Heimſuchung durd)
die Peit uud andere Seuchen und durch zahlreide Mißwachsjahre, — beim Leer:
jtehen der Pfarren, beim fait vollitändigen Fehlen jeden Unterrichts im Yande,
beim Mangel einer heimiſchen Univerjitüt und bei der — bereits in der Uns
merfung 6 erwähnten — nur bödjit jelten überwundenen Schwierigfeit, aus:
ländijhe Quellen der Bildung aufzuſuchen.
2) Zur Bergleihung iſt hier die Regierungszeit Katharinas LI. heran:
zuzichen. War fie wirklich die große Derricherin, als melde jie in den Augen
Vieler noch gilt, jo hat jie jedenfalls, wie ihr Vorbild Peter J. mehr Größe im
Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 315
Wollen als im Vollbringen bemieien. Bon dem, was fie vollbracht bat, iſt
wohl faum irgend etwas, als von bleibendem Segen begleitet, anzuerkennen.
Wen haben ihre „großen Thaten“, die zur Befriedigung ihrer Eitelfeit und
Herrſchſucht vollbracht wurden: die Siege über die Türkei, die Theilungen Polens
und andere Grenzerweiterungen, — wem hat die Ermwerbung eines überwiegenden
politiichen und diplomatischen Rreitige wirklich genütt? Welcher Einfichtige ſegnet
noch heute alle jene Erfolge, welche weniger durch die Tüchtigfeit ihrer Werkzeuge
erlangt wurden, als vielmehr durch ganz unverhältnißmäßig große Opfer und
durch die Aurzlichtigfeit und Zerfahrenheit der Gegner? Hat etwa die ruſſiſche
Nation für alle dieje entieglich theuren und verhängnigvollen Tanaergeichenfe
KRatharinas II. zu danten? Tie nicht anders erworben werden fonnten, als um
den ſehr hohen Preis der fürchterlichiten wirtbichaftlihen Zerrüttung des Reichs—
haushaltes und vielleicht noch entieglicherer Demoralifation des gefammten Volkes,
— einer Demoralilation, in mwelcder alle die jpäteren Verſchwörungen, größeren
und fleineren Yufitände u. 1. m. und alle die wirthſchaftlichen Nothe der
Gegenwart ihre Quelle haben. Wie anders und wirklich glüdlicher hätte Rußland
fih entwideln können, wenn durch eine hochbegabte aber weniger eitele Herrſcherin
feine Blide vorzugsweiſe nach innen, anjtatt fait ausſchließlich nach außen gelenkt
worden mären!... Was jind denn die Erfolge der angeblid großen Ihaten
Katharinas II. auf dem Gebiete der inneren Politif? Sind es etwa mehr als
großartig inizenirte Anläufe geweien, wie 3. B. die rieſige Moskauer Geſetz—
gebungstommilfion, die Farge! Zur Benrtheilung, bezw. zur Verurtheilung der
wirthichaftlidgen Erfolge Katharinas II. genügt es, einen Blid in die Biographie
des Hervorragenpditen ihrer Werkzeuge auf dieſem Gchiete, des Grafen Jacob
Johann von Sievers, zu werfen. (Marl Ludwig Blum: „Ein rujjiicher
Staatsmann ꝛc.“ Yeipzig u. Heidelberg 1857.) Welche Wohlthaten vollends
bat Livland der Regierung Katharinas II. zu danfen?! ihren Anläufen zur
Aufbefferung der traurigen Yandesverhältniffe, die unter ihrem Szepter feinen
mejentlihen Umihmwung zum Beſſeren erfuhren? Schweden dagegen bat unter
wohlwollenden und meiſt geſchickten Regierungen von 1772 bis 1800 vorberrichend
der inneren Entwidelung gelebt, zu erhöhtem Wohlitande ſich emporarbeitend;
und zu großem Theile dieſem Umſtaände hat Finland feinen jo jehr erfreulichen
Aufſchwung zu verdanfen.
13, Im ftrifteiten Gegenſatze zu Finland bat gleichzeitig Livland nicht
eines einzigen Aftes jtaatlicher Wirkſamkeit ji zu erfreuen gebabt, deſſen die
Nachwelt ſich dankbar hätte erinnern fünnen; irgend eines Aktes, der Zeugnik
dafür abgelegt hätte, dab Rußlands Monarchie dem Beſitze diefer Provinz noch
denjelben Werth beilegte, wie es Peter I. gethan hatte, als er durch Abichliehung
eines bilateralen Kapitulationsvertrages fie unlöslicher mit dem Reiche verband,
ald es durch Waffengemalt und internationale Verträge geichehen konnte; —
Zeugniß dafür, dab Yivlands Auſſchwung mit der bejonderen Aufmerkiamfeit
gefördert worden wäre, wie Gujtav III. und Guſtav IV. Adolph fie Finland
gewidmet haben. Was hat Katharina II. gethan zur Erfüllung der — auch
von ihr jelbit wiederholten! -- feierlihen Verheißung Peters J.: dab durd ihn
und feine Nad,folger Yivlands Gerechtſame nicht mur erhalten, jondern noch
316 Die Kaiferl. Finländ. Dekon, Sozietät.
gemehrt werden follten? Freilich, zur Abitellung der ärgiten agraren Mißſtände
hat Katharina II. im X. 1765 dem Landtage wohl „Rropofitionen” infinuiren
laffen, (vergl. „Baltiſche Monatsichrift“ XVII ©. 439—H2; von
Tranlche:-Rofened: „Gutäherr und Bauer ꝛc.“, Straßburg 1890, S. 168 ff.
Jannau, „Sklaverei“ S. 97 ff.) — aber der Sache feine weitere Aufmerkſamkeit
gewidinet, vielmehr durch den argen, auf die Provinz ausgeübten Drud es
bewirft, dab ums Nahr 1795 dir agraren Zuſtände nicht nur im Wefentlichen
diefelben, wie dreißig Jahre zuvor, geblichen waren, fondern fich jogar in mancher
Beziehung noch verschlechtert hatten tvergl. von Tranfche-Rojencd, 1. c.
©. 170, 175,183 — 2011. Und an Stelle der alten Yandesverfaflung, um deren
organischen Ausbau wiederholt vergeblich petitionirt worden war, hat Katharina II.,
unter Einziehung der Landgüter, welche zur Unterhaltung der Yandesverwaltungs:
Körperlihaft zu dienen hatten, — hat fie die nach theoretiiher Schablone zu:
geſchniltene „Stattbalterichaftsperfajiung” eingelett, welche fih als impotent zum
Guten, und zugleich als gar geeignet zum Zerſtören erweilen mußte.
1, Ron Mahregeln auf dem ökonomiſchen Gebiete, die von der rulfiichen
Staatöverwaltung zur Regierungszeit Katharina II. ergriffen worden, find nur
zwei zu nennen: 1) die ſozuſagen nur platoniihe Norunterfuchung zur Errichtung
einer Ranalverbindung, über Fellin, zmifchen dem Pernauer Hafen und dem
Peipusbecken; und 2) die Gründung der Stadt MWerro, von welcher e8 noch vor
Kurzem hieß, daß ſie „fein Schickſal“ habe, und daß man nicht ohne Wagnik
fie erreichen fonne. Es märe ein arger Irrtum, wollte man das, zu Ende
dieſer Periode jtattgehabte, Steigen der livländiſchen Güterpreile als ein Symptom
wirthichaftlichen Aufſchwunges anſehen; vielmehr ging dieſe Ericheinung mit ber
vollitändigiten Zerrüttung der wirthichaftlichen Verhältniſſe Hand in Band.
Zufolge der Verlodungen zur Hingabe an den militärischen und zivilen Staats:
dient war unter den Gutsbeſihern Yivlands in weitem Maße der Abienteismus
üblih und ihr Luxusbedürfniß zugleich in hohem Grade gefteigert worden.
Diejem leßteren zu genügen, mußten unwirthſchaftliche Erwerbsquellen herhalten,
deren ungeltüme Ausbeutung eine Art von Spefulationsfieber im Güterhandel
hervorrief: Die Waldverwüftung und der Trud auf die Hörigen erreichten noch
nicht dageweſene Höhe; mittels vergrößerter Nödungen ohne Düngung wurde die
Setreideproduftion fünjtlich gefteigert und der ärgite Naubbau betricben; das
erzielte Korn aber wurde — auf primitiofte Weile und bei Meberlaftung der
Banern durch neue Dienſte, namentlid) durch weite Fuhren — zur Produftion
von Branntwein verwendet, welden ins Neichsinnere die Monopolverwaltung zu
hohen Preiien anfaufte. (Rergl. v. Traniche:NRojened J. ec. ©. 173, 175,
183, 185. „Eines Livländiſchen Patrioten Beſchreibung u. ſ. w.“ in
„Sammlung ruſſiſcher Geſchichte des Herrn Kollegienraths Müller in Moscaw“,
2. Aufl., Offenburg 1777, ©. 18, 22. Ueber den dermaligen Verfall der agraren
Zultände auch U. W. Hupel: „Delonomiiches Handbuch zc.”, Riga 1796, ©.
96-99 und ©. Merkel: „Die Yetten ꝛc.“, Leipzig 1797, ©. 35, 143, 151
und 239.)
15), Gegenüber Finlands überaus regem litteräriichen Yeben und der großen
Zahl feiner verdienitlichen Schriftjteller auf dem ökonomiſchen Gebiete, gewährt
Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 317
die gleichzeitige Periode Livlands das Bild der kläglichſten Armuth. Nicht cinen
einzigen Verfaffer hat es damals in Livland gegeben, defjen ökonomiſches Werk
man nocd heute, wie Gadd's „Verſuch ꝛc.“ aus den Nahren 1773 und 1774,
„mit Vergnügen und Nutzen“ leſen könnte. Daß man Wechjelwirtdichaft und
Futterbau überhaupt betreiben könne, fcheint damals in Livland noch Niemandem
überhaupt in den Sinn gelommen zu fein. Offenbar befand man ich bier noch
auf dem Standpunfte, den im J. 1645 Samuel Gubert's „Aderitudent‘
und die übrigen öfonomilden Schriften Yivlands aus dem 17. Jahrhundert
noch vertreten haben, — Schriften, welche der Kaiſerin Anna Ardiater Johann
Bernhard von Fiſcher im J. 1753 auf ©. VIII—X der Vorrede zu jeinem
„Lioländiichen Landwirthſchaftsbuche“ angeführt hat. Denn des Archiaters
öfonomilche Weisheit gipfelt auf S. 15 in Nathichlägen zur Einrichtung von
Dreifelverwirthichaft, se. an Stelle der offenbar noch vorzugsmeile betriebenen
Feuerfultur. Auch in Wilh. Chr. Friebe's „Phyſikaliſch-ökonomiſch-ſtatiſtiſchen
Bemerkungen x.” (Kiga 1794) jucht man vergeblih nad) Andeutungen über
Beitrebungen zu zeitgemäßer Verbeſſerung der Landwirthichaft — ebenfo vergeblich
in A. W. Hupel’s „Oekonomiſchem Handbuch ꝛc.“ (Riga 1796). Wenn ſomit
Livlands ökonomiſche Litteratur mährend des ganzen 18. Nahrhunderts den
trojtlojen Eindrud einer Wüjte hervorbringt, jo iſt dieſe Thatſache micht mur,
und nicht jo jehr, der beflagenswerthen Lage der damaligen agrariichen Ber:
bältniffe zuzuichreiben, welche jeden Gedanken an wirkliche landwirthichaftliche
Verbefferungen als abjolut undenkbar ausichließen mußten, — fondern vielmehr
der Armut) an mittleren Lehranitalten und dem abjoluten ‚Fehlen einer höheren.
Troß, wie gelagt, zahlreichen Geſuchen um Erfüllung der fapitulationsmäßigen
BVerheißung, betreffend die Wiedererrichtung der Landesuniverfität, hat Livland
bis ins 19. Jahrhundert hinein der bildenden Anregungen durchaus entbehrt,
welche Finland in jo reichen Maße während des 18. Jahrhunderts von jeiner
Univerfität und jeitens der auf ihr ausgebiloeten Männer zu Theil geworden jind.*)
16) Wie in Finland der Kegierungsantritt Guſtavs IV. Adolphs, nad
dem von der Bormundjchaftsregisrung ausgeübten Drude, freudig begrüßt worden
it, jo find auc für Livland das Ableben Katharinas Il. und die Thronbejteigung
Kaifer Bauls I. freudige Ereigniffe geweien — (mard dod) dem Lande dadurd
die Wiederherjtellung feiner alten Berfaffung!) — aber in wie anderem Sinne
wurde der Regime-Wechſel für Yivland beveutiam! In Finland war dadurch
erneute und verjtärfte Thätigfeit auf dem öfonomijdien Gebiete eingetreten; —
wer dagegen hätte damals in Livland an ökonomiſche NReuſchöpfungen zu denfen
vermodt, da man jich doc deffen bewußt geworden war, daß es ſich lediglich
darum handle, die Erijtenz zu retten: in den Jahren 1785—1795 waren vie
Baueraufitände bejonders häufig aufgetreten (Baltiiche Monatsſchrift XVIII,
©. 457), und jowohl dadurch, als auch in ‚Folge der Ucherjpefulation im Güler—
*) Im weiteren Sinne gehören freilich) aud die Schriften Merkels und
ber Paſtore Eiſen von Schwargenberg, Jannau und Hupel zu den ölonomiſchen;
jie jollen nicht, unter dem VBorwande ihrer vorwiegend agrarpolüiichen Ziele,
hier übergangen werden; vielmehr wird ihre Erwähnung dem „Anhange“ zu
dieſer Studie vorbehalien.
318 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät.
handel waren zahlreiche Bankerotte eingetreten und noch mehr zu erwarten. Da
erfannte man wohl, dab die Löſung der Bauerfrage eine Eriftenzfrage fei
(iv. Traniche-Rojened |. e. S. 206) aber man vermochte nur jo ungenügende
Konzeilionen zu bewilligen, das die Agrarfrage noch viele Jahre hindurd die
wichtigſte Präoffupation bildeee. Auch für die Negierungsjahre Pauls 1. ift
über eigentlich öfonomijche Errungenihaften für Livland nichts zu vermelden ;
die „Pipländiiche gemeinnügige und ökonomiſche Sozietät” hatte jich noch im
legten Regierungsjahre Katharinas II. fonitituirt (jr. Bienemann: „Georg
Friedrich Parrots Jugendleben,“ St. Petersburg 1597, ©. 751. Die Gründung
der Livländiſchen Adeligen Güter-Kreditſozietät, welche lediglich der Finanznoth
der Gutsbejiger zu ſteuern hatte, und Anfangs faum irgend einem ökonomiſchen
Unternehmen gedient bat, gehört einer jpäteren Zeit an und fällt aus dem
Hahmen der vorliegenden vergleichenden Studie.
1) Für die zweite Hälſte des 18. Jahrhunderts jind an meltlicher
Yitteratur zu nennen im ehſtniſcher Sprache: ein Kochbuch (1751) und Belehrung
über Rettung Erirunfener (1790), und iu leitiiher Sprade: Erzählungen
(17661 weltliche Yieder (1774); Naturlehre (1774), Auszug aus Schubarth v.
Kleefeld's Schriften (1750), ein Kochbuch (1796). Dazu ehitniiche und lettifche
Kalender. Dieje Armuth an ökonomiſchen Schriften für das livländiiche Landvolk
ift leicht erflärlih. War doch zu jelbiger Zeit auch in Ddeuticher Sprache die
öfonomiiche Yitteratur Yivlands von kläglicher Armieligleit (ſ. hier Anm. 15);
dazu famen noch die traurigen agrariihen Zuſtände und die immer dringender
werdende Griitenzfrage für alle Schichten der Gejellihaft (j. vorige Anm.) Bor
allem Anderen aber ijt bier zu berüdjichtigen, daß es damals um den Stand
derjenigen, welche zunächſt Yehrer und Leiter des gemeinen Mannes jein follten,
— daß «3 um den Stand der Yandprediger in der zweiten Hälfte des 18. Jahr:
hunderts in Livland noch gar ſchwach beitellt war. Kaum erit war es unſäglichen
Mühen gelungen, die verwüjteten Pfarren mit einigermaßen taugliden aus»
ländilchen Prediglamtsfandidaten wieder zu bejegen. Beim Mangel einer Yandes:
univerjität it man bis ins 19. Jahrhundert hinein gemöthigt gewejen, die liv—
ländifchen Pfarren fait ausnahmslos mit ausländiihen Paſtoren zu beſetzen, die
als Hauslehrer meijt nur nothdürftig das Lettiſche oder Ehitniiche erlernt hatten;
erit in den dreißiger Jahren des gegenwärtigen Jahrhunderts iſt dieſes Paftoren:
geichlecht ausgeitorben; von ibm hätte cine Bereicherung der lettiſchen und
ehitniichen Yitteratur auf ſpeziell nicgtfirchlichem und nichtpädagogiihem Gebiete
auch unter glüdlicheren Verhältniffen faum erwartet werden Dürfen, — mieviel
auch im Webrigen von diejer Seite ber ums lettiiche und ehitniihe Schriftihfum
Berdienite erworben worden ilt.
Die Gelegenheit darf nicht unbenutt gelafien werden, um gegen bie
Sefinnung, welche durd Treitichfe, in deſſen „hiltoriich-politiihen Aufſätzen“
3. Auflage S. 1-63, gegen Xivland jo ichwere Anklage erhoben hat, noch
entichiedener Proteſt einzulegen, als ed dur Jul. Eckardt, in deſſen „Baltiichen
und ruſſiſchen Kulturjtudien,“ Leipzig 1869, geichehen ift. Der hierauf von
Treitichle nothgedrungen angetretene Rückzug iſt im Grunde nur ein jcheinbarer
geweſen: in der Hauptlache ift die unbegründete Anklage nicht zurüdgenommen
worden.
Die Katferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 819
Mittels Entftelung unbezweifelbarer Thatſachen find Livland fälſchlich
Unterlaſſungsſünden aufgebürdet worden, vielleicht um dadurch preußiſche
Begehungsſünden zu beſchönigen oder gar zu verdecken. Eine der ärgſten
Entſtellungen von Thatſachen iſt es, wenn Treitſchke jagt: „Preußen wurde
germaniſirt, in Livland, Kurland und Ehſtland lagerte ſich nur eine dünne
Schicht deutſchen Elementes über die Maſſen der Urbewohner.“
Der Hiſtoriker hätte wiſſen müſſen und nicht verdunkeln dürfen die
unanfechtbare Thatſache: daß keineswegs durch Einheitlichkeit der Sprache, ſondern
durch ganz Anderes, nationalſtaatliche Gebilde entſtehen und gefeſtigt werden.
Als ob die Begriffe Sprachgebiet und Nationalgebiet ſich decken! Als ob die
Bretonen, Normannen, Pikarden, die Auvergnaten und Provencalen und Bearner,
die ſich alle abſolut nicht unter einander zu verſtändigen vermögen, — als ob
fie alle nicht ſtolz ſind, dem „einigen und untheilbaren“ Frankreich anzugehören!
Als ob die Limuſiner von Katalonien bis Murcia, die Kaſtilianer und die
Basken, wiewohl fie unter einander fich abſolut nicht zu verjtändigen vermögen,
— als ob fie alle fih nicht al8 Spanier fühlen! — Als ob die Gälen Schott»
lands und die Engländer und die feltifhen Wallifer, die mit einander in ihren
Idiomen fich micht zu veritändigen vermögen, — als ob fie alle ſich nicht
rühmen, Bollbürger Großbritanniens zu fein!
Ganz anderer Borbedingungen, als der Sprade, bedarf es, um das
Entitehen einer Nation zu ermöglichen. Gleich gewohnte ökonomiſche Verhältniffe,
gleich gemohntes und liebgemordenes Recht, — fie find es, die den Kitt bilden,
durch welchen Volferfchaften, auch bei Verichiedenheit der Sprache, zu Nationen
vereinigt werben.
Da fragt es fih nun aber doch, ob «3 echt germaniiches Weſen it,
wodurch in Oſtpreußen Latifundien, „Kein Hüſung“, ländliche Soyialdemofratie,
Sachſengängerei u. ſ. w. geichaffen werden? und ob die livländiſchen Zuitände,
welche cin weit paffenderes Verhältniß zwiſchen Groß: und Kleingrundbeſitz auf:
weifen, nicht viel echter germanifch find, als die oftpreußiihen? Es fragt ſich
ferner, ob germaniicher tiefbegründeter Sinn für georonetes Rechlsleben und für
den Sozialen und politiihen Werth auch des gemeinen Mannes in Oſtpreußen
jo unauslöfchlich der Bevölkerung ſich eingeprägt haben, als in Livland? und ob
nicht daher der linländiiche lettiih und ehſtniſch redende Mitbürger viel mehr
moraliih „germanifirt” worden it, als der deutich redende Littauer und Kaffube?
Oder vielmehr, Diele letzte Frage braucht garnicht geitellt zu werden: in dieſer
Beziehung it Livland ohne irgend einen „Zweifel, in moraliihem Sinne,
infommenjurabel höher und tiefer „germanifirt” als Dftpreußen; mit Laternen
würde man vergeblich juchen einen Zelten oder Ehſten, der ſich von feiner Guts—
herrichaft jemals das bieten liche, was alles der oftpreukiiche Landmann von ihr
täglich erträgt. Im Vergleiche zu Letzterem fühlt fich der Lette und Ehſte ala
ein ſelbſtbewußt freier Mann.
Wem in aller eriter Yinie ift diefer Umitand zu danken? Sind auch in
beiden Ländern die eriten Eroberer als gleih rüdjichtslofe Areuzfahrer, als
Tizarros und Gorteze, aufgetreten, jo iſt doch einerjeits in Titpreußen bis heute,
& Ja Treitichfe germanifirend, die herriiche Methode des „Vernichtungskrieges“,
3
820 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät.
der iprachlichen Nustilgung der fremden Raffe, fortgeführt, und ift ein menig
beneidenswerther Zuftand hoffnungsloſen fozialen Unfriedens geichaffen worden;
— während andererjeits in Livland die Urbewohner im Beige ihrer nationalen
Spracdye nie abjichtlich geftört, fondern vielmehr darin gefördert worden find; —
woher denn auc bier, troß befannter tendenziöler Verhetzung, der Lette und
Ehite zu frievlihem Zufammenleben auf gemeinlamem Aulturboden und zu
gedeihlichem Zuſammenwirken mit dem baltiſchen Deutichen viel gemeigter ift,
als der genuine Oſtpreuße mit feinem gleichipradhigen Zwingherrn.
19) Gleichſam „mit Baufen und Trompeten” und bei febhafter allgemeiner
Berheiligung iſt die Finländiſche Oekonomiſche Soyietät ind Leben getreten;
unter bejtändig geiteigerter öffentlicher Theilnahme hat fie ihre Wirkſamkeit ftetig
fortgefegt. Für die Livländifhe Gemeinnügige und Oekonomiſche Sozietät hat
es, vom Vermächtniſſe des Stifters bis zur Konftituirung, unter bdrüdenditen
allgemeinen Berhältniffen, einer Anfubationszeit von fait vollen vier Jahren
bedurft; und während der längiten Zeit ihres Beitehens hat fie, fait im Ver—
borgenen, eine nur beicheidene Eriftenz geführt.
, Welcher Livländer reiferen Alters wird nicht durch diefe beiden Säge
lebhaft an die erbitterten Kämpfe erinnert, die in feiner Heimath von 1845 ab
mit wechlelndem Glüde geführt worden find, und nad) deren Beendigung —
fo wie es um falt hundert Jahre früher am 1. November 1797 in Finland
geichehen ift — geredet werden fonnte „von Stürmen die nun ausgeftürmt.”
Heute, nad) Verlauf eines weiteren Jahrzehntes, find die bezüglichen Streitfragen
objektiver Auffaffung, wie es ſcheint, zugänglicher geworden, und im Anhange
zu diefer Siudie wird auf fie zurüdgefommen werden.
©, Mer nad höherem Werthe nicht ftrebt, als die Ahnen befefien, und
wer noc auf ihre Verdienſte allein jeine Anjprüche gründet, der mag die nad):
ftehende Skizze beachten: fo hat fich unter den Augen noch Lebender Livlands
öfonomilche Entwidelung vollgogen.
Noch zu Anfang der 1840:er Jahre befand ſich der livländifche Aderbau
ziemlich genau auf dem traurigen primitiven Standpunfte, den Lagman Diaf
Wibelius mit wenigen Strichen jo lebensvoll gezeichnet hat. Richt etwa im
Auslande, wie der finländiihe zu Anfang des 18. Jahrhunderts, verzehrte der
livländiiche Gutsherr feine Einnahmen; aber auch ohne die Grenzen der Provinz,
ja ſelbſt ohne diejenigen feines Landgutes zu überfchreiten, war er Abjenterit.
Ob er jid bei Verwandtichaft und Freundſchaft auf der „Wuritfahrt” befand,
oder ob er jelbit der Gaftgeber war, in feiner Wirthichaft ward er fait nie
angetroffen. Nur auf größeren Gütern oder auf Güterlompleren wurden
„Dilponenten” gehalten, die fic alles erlauben durften, auch das unrechtmäßige
Füllen ihrer Taſchen auf Kojten ihrer Herrn, und zum Schaden von defien
Fröhnern. Die Regel war, dab die Frohnwirthſchaft von einem gemwaltiamen
und diebiihen „Aubjas“ oder „Starojt” geführt, und die Vorräthe von cinem
gleich chrenmwerthen „Kletenkerl“ verwaltet wurden; beide fanden ihre Rechnung
in gegenfeitigem Einveritändnifie.
Für einen geichidten und großen Landwirth galt damals, wer es ver
ftanden hatte, Krons- und Majoratsgüter ſich auf Arrende vergeben zu laflen,
Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 821
oder Güterfomplere Fäuflich zu erwerben, und auf ihnen die Frohne „praktiſch“
zu organifiren, d. h. ausgiebig auszubeuten. Dieje praktische Ausbeutung ift
ja wohl in den weitaus meilten Fällen in wohlmollendem und humanem Sinne
angeordnet geweſen. Verhängnißvoll aber mußte es werden, wenn inhumancs
Weſen — nicht geſetzlich, aber doch faktisch — nicht etwa feitend des Gutsherrn,
fondern feitens ihrer habfüchtigen und unfontrollirten Verwalter und Arrendatore
ungeftraft vorfommen fonnte.
Was aber noch damals in dieſer Beziehung, trog 1804 und 1819,
ungeitraft hat vorfommen fönnen, und zu unläglider Schädigung des ganzen
Landes nur zu häufig geduldet worden ift, mag folgender Fall vergegenmwärtigen.
Das Gut Ayakar iſt zu Anfang der 1840:er Jahre mit durchweg „wüſten“
Frohngeſinden gefauft worden: es gab dort nicht einen einzigen Frohnwirth,
der nicht vom Arrendator durch Ertorquiren übermäßiger Leiltungen, namentlich
weiter Fuhren, bankerott gemacht worden wäre; und es hat unſäglicher Mühen
und jummarifcher Strenge feitend des neuen Befigers beburft, um das verarmte
und vermwilderte „Gebiet“ wieder in Ordnung zu bringen; ein Menjchenalter
darauf, als die Ayakarſche Gemeinde längſt wieder die angejehenite und reichſte
der ganzen Umgegend geworden war, haben die vormals jtreng Gemaßregelten,
fie ſelbſt haben ihren verftorbenen jtrengen Wohlthäter gelegnet: „Wir waren zu
Thieren geworden, er hat uns wieder zu Menichen gemacht, täglich danfen wir
es ihm!“ Wie nur iſt es geichehen, eine große wohljituirte Bauerichaft Mann
für Mann an den Bettelftab zu bringen? Sehr einfach. Der Arrendator hatte
jih vom jorglojen PBupillenverwalter der befigenden Erbmaſſe einen Pachtkontrakt
auszumirfen gewußt, nach weldhem er von jedem „belegten“ Hafen oder Thaler
Landes joviel, vom „unbejegt” oder „wüſt“ gewordenen aber garnichts zu zahlen
hatte; felbjtveritändlich lag e8 nun in feinem Intereſſe, jedes „Geſinde“ möglichit
volljtändig „auszulutichen”: was es nun durd feine Cinlieger noch berthat,
mar ja reiner Gewinn.
Aber auch unter ſozuſagen normaleren Verhältniffen lag in dem damaligen
Wirthihaftsigiteme fein Segen. Der alte „reiche Landrath von Wulf, feinerzeit
Befiter der zahlreichiten Landgüter in Livland, ift befanntlich einer der wohl:
wollendjten, intelligenteiten und fleißigiten Landmwirthe feiner Zeit geweſen; aber
bei der großen Zahl feiner Güter konnten die Wirthichaftsbeamten nicht genügend
fontrolirt werden. Mander hat es aus dem Munde jeines Sohnes wiederholt
vernommen: der Vater wäre jicher banferott gejtorben, wenn er nod ein
Dezennium weiter gewirthichaftet hälte; dermaßen waren feine Güter dem Ver:
falle entgegengegangen.
Und was war noch in den fünfziger Jahren das fait allgemein befolgte
Aderbaufyitem? Yu Gunjten verhältniimäßig kleiner, nad Dreifelder: Methode
bebauter, „Brujtäder“, mit deren Düngung es oft kläglich bejtellt war, wurden
ausgedehnte Buſchländer und Außenichläge mittels Rödung und Küttisbrennen,
unter entieglicher VBergeudung der Wrbeitsfraft, ausgeraubt. Die Spiritus:
produktion geſchah noch fait ausichlichlih aus Getreide, mit Meiſtern und
Anechten, die „für Tage” arbeitelen nnd oft gewechſelt wurden, in ber denfbar
primitioften und unfauberjten Weile und mit entjprechendem Ertrage. Von der
3*
822 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät.
damaligen Viehhaltung maht man ſich heute faum eine Borftelung. Noh um
die Mitte der fünfziger Jahre erinnerten ſich ältere Leute des Landwirths, der,
dur Erfindung einer Maſchine zum Heben der „Schwanzfühe”, fih den Ruf
eines „Rationellen“ erworben hatte. Zum Aufzählen der livländiihen Wirth:
Ihaften, die damals Kleebau oder gar Meierei betrieben, hätten wohl die Finger
einer Hand genügt.
Diefes altväteriihe, von den Ahnen überfommene, Wirthſchaftsſyſtem ift
nur ehr allmählich aufgegeben morben. Noch um die Mitte der 70:er Jahre
famen ganz anſehnliche Wirthichaften vor — nomina sunt odiosa — deren
Kühe zum Theil, wegen Schwähe vom Winter her, auf Schlitten von der
Frühjahrsweide heimgebracht werden mußten.
Entſchiedener hat der mirthichaftliche Umſchwung erit nad der Mitte der
60:er Jahre eingelegt, erit nachdem, zufolge Iebhafter Agitation auf den Ver—
fammlungen der Defonomiichen Sozietät, die Beleihung der Bauergüter durch
die Mdelige Güterfredit-Sozietät durchgefeßt, der Verkauf der Bauergüter in Fluß
und Geld in Umlauf gebradjt worden mar.
Anfangs freilich iſt der wirthſchaftliche Umſchwung mehr ein finanzieller
und Storjfift-ähnlicher geweien: das Ausbauen und Arrondiren der Bauer:
gefinde hat zuerit fait alle Krälte in Aniprud genommen; gleichzeitig aber iſt
Manchem der Umitand verhängnikvoll geworden, daß die Güterpreije mit dem
Bauerlandverfaufe und bei hohen Getreidepreifen rapid ftiegen, und daß manches
Gut überzahlt worden iſt. Die darauf folgenden landwirthichaftlihen Kalamitäten
find nit immer allein durd die überfeeilche und fonftige Konkurrenz herbei,
geführt worden.
Erſt unter der Wirfung diefer relativen Noth — welche ja das Gute bat,
dab fie „beten lehrt” — und der verbefferten Verkehrswege iſt im Laufe ber
legten zwei Dezennien ein mirflic allgemeiner Aufihmwung im Betriebe ber
Wirthichaften eingetreten — ob mit ganz befriedigendem Erfolge? — das dürfte
fraglich fein, da allgemein über Schwierigkeiten des Abſatzes und der Beihaffung
von Arbeitskräften geklagt wird.
Sehr erfichtlih aber und verhältniimäßig ſehr rapid ift in Folge der
Arrondirungen und des Bauerlandverfaufes ein totaler Umſchwung zum Beflern
in jeder Hinficht bei den bäuerlichen Wirthichaften eingetreten: Wiejenmelioration,
Kleebau, verbefjerte Vieh: und Pferdehaltung, Meiereiweſen haben bei den Bauern
fajt im Handumdrehen Platz gegriffen.
Das alles haben „die Stürme, die nun ausgeftürmt,” glüdlicher Weiſe
in ihrem Gefolge gehabt; — aber es bleibt noch zu thun übrig — vielleicht das
Schwerſte. Wird man das zu leiten vermögen? Dod nur wenn gewiffe Worte
des unvergeßlichen finländiichen Batrioten Anders Chydenius beachtet fein werden.
21) Im Gegenfage hierzu, wie es ſcheint in Folge eines eingewurzelten
Mihverftändniffes, it nie unternommen worden, das uriprünglicde Statut der
Livländiihen Gemeinnügigen und Oekonomiſchen Sozietät, im Einflange mit
gewonnenen Erfahrungen und mit neuen Bedürfniffen, einer Abänderung oder
Vervollitändigung zu unterziehen.
2) Die voritehenden Daten über die Stiftung der Finländiſchen Dekono—
milchen Sozietät bieten, im Xergleiche zu den durd Blum J. c. und Bienemann
Die Kaijerl. Finländ. Defon. Sozietät. 323
l. c. jedermann zugänglich gewordenen Angaben über die Stiftung der Liv:
ländiſchen Gemeinnügigen und Defonomiichen Sozietät, freilich einige Analogien,
aber dagegen eine viel größere Zahl außerordentlich bedeutiamer Gegenjäge.
Wie jene, fo ift auch diefe das Ergebniß vorangegangener Beſprechungen
geweien: „Seit ein paar Jahren“ ſchreibt Blum 1. ce. IV, 200, „waren mehrere
livländiihe Edelleute übereingefommen, eine jolde (sc. ökonomiſche, gemeinnüßige
Sozietät) auf jährliche Beiträge zu gründen, die Sache hatte Anklang gefunden,
nahm aber erjt Fortgang, als ein reicher Kaufherr in Riga 40,000 Thaler Alb.
dazu verlpradh“, und bei Bienemann 1. c. S. 69 und 70 leſen wir: „daß
Bebürfnig nad einer gemeinnügigen Anjtalt zur Pflege der wirthſchaftlichen
Interefien der Provinz war in Zivland jeit einigen Jahren rege geworden, unter
einzelnen Männern bejprocden, aber jeiner Befriedigung hatte ſich der Mangel
an ausreichenden Mitteln entgegengeitellt; da fpendete im Jahre 1792 einer der
geachtetiten Kaufherrn Riga’ ... 40,000 Albertsthaler zum Stiftungsfapital.”
Aber an Näherem über diefe vorbereitenden „Beſprechungen“ und „Ueber:
einfünfte,“ über die dabei thätigen Perfonen u. |. w. ſcheint man aud in
Livland nichts Beitimmtes zu willen. Für Finland hat fi nachträglich feit:
ftelen lafjen, dab offenbar Profefjor Johann Gadolin bei den Vorbereitungen
die treibende und jammelnde Kraft geweien iſt. Für Livland bleibt man
lediglich auf Vermuthungen angewiejen. Und dieje führen auf den Grafen
Jakob Johann von Sievers-Alt-Ottenhof als auf die bei allen Stiftungsver:
bandlungen thätigite Perjönlichkeit, eng verbündet mit dem Gouvernements:
Marichall Friedrid von Sivers-Ranhzen. Neben diejen beiden dürfen wohl aud)
der Gerichtöhofpräjident Freiherr von Budberg, bei dem die Schenfungsurfunde
niedergelegt worden, und der Kreismarſchall Friedrich Wilfelm von Taube, dem
der Donator jeine „Gedanken“ über die Gejtaltung einer gemeinnüßigen Gejellicaft
übergeben hat, als Eingeweihte gelten.
Doch ſchon in dieſen allererjten Stadien der Stiftung jtoßen wir auf
bemerlenswerthe Gegenläge. In Livland lagen über das Wirken derartiger
Gejellichaften garfeine Erfahrungen vor, während man in Finland die Präcedenz
bed „Aurora:Bundes“ vor ſich hatte. In Finland hat außerdem die ſchwediſche
„Batriotiiche Geſellſchaft“ vorgejchwebt, während für Livland, nad Blum 1. c.,
durch den Grafen Jakob Johann von Sieverd ausdrüdlic) vor den prinzipiellen
Fehlern der St. Peteräburger „Freien Dekonomiſchen Sozietät“ gewarnt worden
it, welche Katharina II., wie mandes andere, alö todtgeborenes Kind in die
Welt gejegt Hatte. Ferner tritt uns bei Stiftung der finländishen Geſellſchaft
enthuſiaſtiſche patriotiiche Hingabe entgegen, während Sieverd darüber geflagt
bat, daß „ieine Landsleute ... im der Sozietätsjache allenthalben Egoismus
zeigten.“ (Blum, 1. c.) Daher wird es begreiflih, daß die Finländer, ohne
anderes Kapital als ihre Gejinnung, an die Stiftung ſich berangewagt haben,
während man in Zivland fich dazu erjt entihloß, als ein Stiftungsfonds dar—
gebracht worden war.
In Finland wurde die Stiftung dur autonome Entihließung der Stifter
ofort, ohne Weiteres, perfeft, und das Entjtehen der Gejellihaft ward in ihrem
Mamen, aljo von ihr jeldit, Sr. Königliden Majejtät, unter Erbittung gnädigen
324 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät.
Beiltandes, lediglich angezeigt. (Der Ausdrud „Geſuch um Autorifation“ in
Porthan's Briefe iſt auf deſſen Unkunde von den Vorgängen zurüdzuführen.)
In Livland dagegen iſt die Nitterihaft mit „Erwirfung der Allerhöchſten Bes
jtätigung” beiraut worden (Bienemann 1. e. ©. 71), und es bat, wie ſchon
beinerft, eines Zeitraumes von fajt vier Jahren, gerechnet von der Schenkung,
bedurft, bis die Gejellichaft im J. 1796 ſich fonjtituiren fonnte. Das Nachſuchen
einer „Allerhöchſten Beitätigung”“ ſcheint nur auf die vorangegangenen monar«
hilchen Vergewaltigungen und Einihüchterungen, nicht aber auf eine gefegliche
Beltimmung zurüdzuführen gewejen zu jein, da Katharina II. rejolvirt hat:
„Die Errichtung dergleichen Geſellſchaften bedürfte feiner bejonderen Bejtätigung,
da ſolche kraft der jedem Stande ertheilten Gerechtſame erlaubt wären”. (Biene
mann ]. c.)
Die jpälteren Stadien der beiden Stiftungen zeigen noch grellere Gegenſätze.
In Finland wurde gleihjam eine „offene” Geſellſchaft gegründet, in welde jeder
patriotiiche Mitbürger, gleichgiltig weldem Stande er angehörte und welche
geſellſchaftliche Stellung er einnahm, aufgenommen werden konnte; und die
Gleichwerthigkeit der Mitglieder it durch das Ausloojen ihrer Reihenfolge im
Mitglieververzeichniffe noch ganz bejonders betont worden. In Livland dagegen
hut man die Ehre der Mitgliedichaft, mit der vom Grafen Sievers beflagten
Engherzigfeit, allein den Gliedern der Ritterſchaft rejerviren wollen.
In Finland beflcideten urjprünglid, dem Geijte der Stiftung gemäß,
die für kurze Zeit erwählten Beamten der Geſellſchaft unbejoldete Ehrenämter.
In Livland jind die Beamien glei) Anfangs auf Xebenszeit gewählt worden,
und dem Sekretär wurde gleich in der erjten Sikung außer freier Dienjtwohnung
ein Gehalt von 500 Alberisihalern, eine damals nicht unbedeutende Summe,
ausgeworfen und alsbald auf 700 Thlr. Alb. erhöht (Bienemann 1. ec. 76, 83,
102). Damit gewann in Livland die Stiftung jofort etwas wie einen Behörden:
charakter, den jie in der Folge immer weiter ausgebildet hat.
In Finland ward ein einheimiicher Sefretär gewählt, der, mit der vater:
ländiihen Geſchichte und mit den lofalen Berhältnifjen wohl vertraut, nicht nur
als Lagman geihäfisfundig war, jondern dazu, als praftijcher Landwirth, Die
derzeitigen öfonomijchen Bedürfniffe aus eigener Erfahrung kannte. Im Livland
dagegen hat man anicheinend feinen Augenblid gehofft, einen geeigneten ins
ländiſchen Kandidaten für das Sekretariat zu finden, und man bat dazu einen
erit vor wenigen Wochen in Xivland angelangten ausländiichen Hauslehrer,
Georg Friedrich Parrot, bejtimmt, der wohl vom 15. bi$ 19. Lebensjahre
mathematijchen und phyjilaliihen Studien obgelegen hatte (Bienemann 1. c. ©. 16),
aber im feiner pädagogiſchen Wirkjamfeit faum Weltkenntniß und praftijche
Fäpigleiten erworben haben konnte, und der, was das Auffälligite, jedem,
namentlid aber dem landwirthichaftlichen, Gewerbe und den örtlichen bäuerliden
Berhältnifien gänzlich fremd war: faum daß er in Alt-Öttenhof und bei Wenden
einige Bauerhöfe von Weiten zu betradpten Gelegenheit gehabt hatte. Als zum
Sefretariat qualifiziert, hat er ſich jelbjt durch eine Schrift: „Ueber eine mögliche
öfonomijche Gejellihaft in und für Livland“ (Riga 1795) vorjtellen und
refommandiren müjjen (Bienemann ]. e. ©. 72 fg.) „Feurigen Schwunges“ iſt
Die Kaiferl. Finländ. Delon. Sozietät. 325
dieje Schrift allerdings, aber nicht minder hohl und jtrogend von allgemeinen
philanthropiichen Phraſen.
Die finländiidhe Sozietät hat jofort für ihr emergiiches und praftifches
Wirken bezeichnende und mahgebende Schritte gethan, welche ihr die Sympathie
und Achtung der Mitbürger erwarben, und fie hat aud) in der nächſten Folge
die ökonomiſche Entwidelung des Landes erfolgreicdy unterjtügt und geleitet;
während nod im Jahre 1827 ein wohlunterrichteter und (wenn auch jcharf, jo
doch) nicht unzutreffend urtheilender Zeitgenofje, Johann Wilhelm Krauſe, über
Parrot’ und der livländiiden Sozietät Wirkjamkeit Folgendes ausjagt: „Die
in der Sozietät „Berhandlungen“ niedergelegten Borichläge feien ohne Erfolg
geblieben bis auf den heutigen Tag.” „Ohne prakliſche Kenntniffe des Ader:
baues, der Viehzucht, des Forſtweſens, der arbeitenden Volksklaſſen und der aus
der Landesverfaffung ſich ergebenden Grundbedingungen, ohne jelbit Hupel's
Topographie gelejen zu haben, ohne mehr als etlihe Bauern: und Hofes—
wirthichaften um Wenden:Salisburg etwas näher zu kennen, ließen ſich nun
vielerlei wohllautende Vorſchläge, Forderungen und Erfolge niederjchreiben. Es
fehlte am Wejentlichiten: am guten Willen der Herren, an Beharrlichleit im
anerfannten Wahren, an Kapital etwas Wirkliches zu begründen, an Kenntnifien
wie es anzufangen und durchzuführen jei, an Zeit und Kraft der durch Uebermaß
erdrüdten Volksklaſſen, und an noch jehr vielen anderen Grundbedingungen.
Parrot, voll Leben und Feuer und Hoffnungen, erwarb ſich Adtung und Ver:
trauen bei einigen Mitgliedern, andere belächelien jeinen Wahn Seine Gr
findungen nahmen ſich als Erperimente gut aus; die Sozietätsfafje bezahlte.
Die Maſchinen verunglüdien faſt alle, leijteten das Verſprochene nicht, waren
im Anſchaffen theuer und bei der Reparatur unerſchwinglich. Es blieb alles
beim Alten.“ (Bienemann 1. ce. S. 56, 87, 88.)
Das und Aehnliches find die thatjählichen Gegenläße, die ſich bei Be:
trachtung der beiden Gejellichaftsitiftungen aufdrängen. Die Fragen: warum in
Livland der unerfreuliche Abjtand? und ob es unter anderen Bedingungen nicht
anders fich hätte gejtalten müjjen? Dieje Fragen jollen im Anhange zu diejer
Studie berührt werden.
23), Miederum begegnen uns, auch bier, die jchärfiten Gegenſätze. In den
eriten Zeiten nad) ihrer Gründung bat ſich die livländiide Sozietät nicht im
mindejten der Deffentlichkeit bedient: feine Proflamation hat fie erlafjen; durch
fein Zeitungsorgan ijt fie vertreten worden, von einer Vermehrung der Mits
gliederzagl konnte ja, ihrem vermeintlichen „Stiftungs“-Charakier im allerengiten
Sinne des Wortes gemäß, feine Rede fein; durd nichts hat jie Anfangs ein
reges Bewußtſein verrathen: im Dienjte der Allgemeinheit zu itehen und ihr
Rechenſchaft jhuldig zu jein. Offenbar hat ſie gemeint, ihrer Aufgabe zu ents
ſprechen und zu genügen, indem fie in ihrem bejchränfteiten Kreife ihr Weſen
trieb, in welches von Außenjtehenden niemand zu bliden und dreinzureden habe.
So jehr iſt Anfangs von der livländiſchen Sozietät ihr angeblich teſta—
mentariiher Stiftungs-Charakter zugeipigt worden, daß bis zum Jahre 1511,
aljo während jechzehn Jahren, die Gemüther ihrer Mitglieder allein durd die
angebliche Prinzipienfrage erregt worden zu jein feinen: ob fic jtatutenmäßig
326 Die Kaiferl. Finläud. Defon. Soizetät.
befugt jei, ihren Sitz von Riga nad Dorpat zu verlegen, wo inzwilchen
atademiiches Leben ſich zu regen beginnen jollte, bezw. begonnen hatte. (Biene:
mann 1. c. 100, 106, 107.)
Wie künſtlich dieſer engberzige, angeblich teftamentariiche, Stiftung:
Charafter fonitruirt worden iſt, und wie wenig Diele künſtliche Konitruftion
fähig geweien ift, den Zeitbedürfnifien gegenüber die Probe zu bejtchen, hat ſich
übrigens ſchon jehr früb, ſchon bei Beginn jelbit der Thätigkeit, erwieſen — und
zwar Durch eine Infraktion in die jtatutariihen Beitimmungen, wie fie jtrifter
und ärger garnicht gedadyt werden fann. Dieje hatten auf Grund der „Gedanken“
des Stifters jelbit wohl die Dinzuziehung von Ghrenmitglicdern in Ausjicht
genommen, aber dieſen ganz ausprüdlih nur beraihende und keineswegs ent:
jcheidende Stimme und aud nicht das Borjchlagärecht zuerfannt. Gleich in der
eriten Sihung aber ijt dieſem „Gedanken“ des Stifters jtrifte zumider dem
jedesmaligen Generalgouverneur und Gouverneur als jolden nicht nur die
Ehrenmitgliedichaft, jondern auch enticeidende Stimme und Vorſchlagrecht bei—
gelegt worden (Bienemann 1. ce. 70, 77), ein klarer Beweis dafür, daß den
„Gedanken“ des Stifters jogar oon denen, Die ihn noch gefannt hatien, an ſich
abjolut fein bindender Werth beigelegt worden ift, jondern daß ein ſolcher nur
injoweit ſittiv fonitruirt, und wohl au guten Ölaubens angenommen worden
ift, als es das Maß der jedesmaligen Engberzigfeit erforderlich ericheinen lieb.
Demgemäp it Denn auch jpäter die Enge des Kreiles der angeblid bindenden
Vorſchriften gradatim immer mehr erweitert worden. Während z. B. bis in
die jechziger Jahre für abjolut unzweifelhaft gegolten hat, daß dem Willen des
Stifiers gemäß zur Lioländiichen Dekonomiſchen Soyielät nur lieder der
Nitterichaft, nicht aber ſolche der Yandichaft, qualifizirt jeien, it dann erfannt
worden, dab aud ein adeliger Yandjafje „livländiicher Edelmann“ jei, und als
jolhyer fähig, der Sozietät als ordentliches Mitglied anzugehören; und es jind
zahlreiche Filialgeſellſchaflen der Sozietät beigefügt worden, obwohl damit ver
Rahmen der angeblid bindenden „Gedanken“ des Stifters unzweifelhaft über
ſchritlen worden iſt u. ſ. w.
Es iſt wohl ſchwer zu leugnen, daß zwiſchen des Stifters „Bedingungen“
und ſeinen „Gedanken“ (Bienemann l. c. S. 70) derart zu unterſcheiden ſei,
daß nur den erſteren durchaus bindende Kraft beiwohne, den zweiten aber, als
nur unmaßgeblichen Vorſchlägen, garfeine, und daß die „Gedanlen“ nur injoweit
pietätvolle Berüdjichtigung beanipruchen können, als die Beachtung der jedes:
maligen Bedürfniffe es erlaubt. Dieje aber, die Beachtung der jedeömaligen
Bedürfniiie — salus rei publiecae summa lex esto — hat vom Stifter offenbar
als bindende Vorſchrift hingeitellt werden jollen, und er hat der Sozietät offenbar
ganz freie Hand laſſen wollen hinjichilich der Art, wie jie meinen werde, Den
Bedürfniſſen am beiten zu entiprecdhen, — woher es ihr auch vollfommen zujteht,
ihr Statut nad reifliher Erwägung und nad freiem Belieben in den aller
weitejten Grenzen abzuändern.
Hervorgehoben zu werden verdient, daß Diele leptere Ueberzeugung ſchon
im Jahre 1800 vom Sekretär Parrot, der mit den Abjichten des Stifters wohl
vertraut jein fonnte, aufs allerbejtimmtejte vertreten worden iſt; und daß dieſer
Die Kaijerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 327
Auffaffung — wie die Weberfiebelung nad Dorpat es beweilet — im Schoße
der Sozietät nicht dauernd widerjprochen werden fonnte. In Parrot's Borichlage,
die Ueberſiedelung beirefiend, heißt es: „Der edle Stifter diejer Gejelichaft nannte
Riga als den Ort der Sigungen, weil damals fein pajlenderer in der Provinz
war. Seht, da eim weit jchidlicherer da ijt, würde er jelbjt dieje Veränderung
vorjchlagen. Auf jeden Fall hat jeine liberale Bejcheidenheit der Sozietät völlige
Freiheit gelafjen, fid einzurichten und an ihren Einrichtungen Veränderungen
vorzunehmen, wie es ihr beliebt. Seine binterlajjenen Ideen gab er
nur als Rathſchläge, nit als Geſetze hin.“ (Bienemann 1. c. 101.)
Gejeßestraft aber, im Sinne eines unantaitbaren Tejtamentes, haben
offenbar nur die beiden einzigen „Bedingungen“, unter welden die Donation
geichehen ijt (Bienemann 1. ce. S. 70): 1) dab der Name deö Darbringers, jo
lange er lebe, verſchwiegen werde; 2) daß die von ihm zur Verfügung geitellten
40,000 Thlr. Alb. „zum Stiftungsfapitale einer livländiichen gemeinnügigen
Sozietät” verwendet werden. Hinſichtlich der Gejtaltung dieſer legteren bat der
Stifter feine „Bedingungen“ bingejtellt, jondern — auch zeitlich und räumlich
getrennt — nur „Gedanken“ zur Verfügung übergeben.
Daß aber der in den „Bedingungen“ vorfommende Begriff einer „liv—
ländiſchen gemeinnüßgigen Sozietät” nicht möglichſt eng, ſondern vielmehr möglichſt
weit zu fallen jei, d. h. jo weit als es den jedesimaligen Bedürfniffen, nad
Meinung der Soyietätsglieder, zu entiprechen jcheine, — das wird wohl aud)
vom Standpuntte rigorojer Rechtsauffaſſung zuzugeben jein.
Somit darf die Erwartung ausgeſprochen werden, dab die Kaiſerliche
Livländiiche Gemeinnügige und Defonomifche Soyietät im wohlverjtandenen und
zeitgemäß aufgefabten nterefje für die ökonomiſche Entwidelung des Yandes,
in immer ausgedehnteren Maße von ihrem Rechte Gebrauch machen werde, ſich
von den Banden zu befreien, durch weldye fie von einer engherzigen Vergangenheit
widerrechtlich hat geſeſſelt werden jollen.
Und es darf jchließlich wohl die Behauptung gewagt werden: dab, ſolches
zu thun, der Kaiſerlichen Lioländiihen Gemeinnügigen und Dekonomiſchen Sozietät
nit nur das Recht zuſtehe, ſondern aud, dem gelammten Lande gegenüber, die
Verpflichtung obliege, da der Stifter jeine Donation ojfenbar zum Beften des
ganzen Landes dargebradıt hat; und des Weiteren: daß mithin jedem um Das
Landeswohl bejorgten Landesangehörigen dad Recht zuſtehe und die Pflicht
obliege, darauf bezügliche wohlbegründete Wünſche, Anträge oder gar Forderungen
öffentlich zu äußern.
24, An inländiſchen Donationen zur Verfügung der Livländiichen Dekono—
mijchen Sozietät hat es bis auf die neuejte Zeit, jo viel befannt, garfeine gegeben.
Die von ihr verwaltete Sped-Siernburgide Stiftung itammt von einem Aus»
länder ber, der die Verhältniſſe nicht kannte.
25) Bienemann’s Erzerpt aus den Protofollen der Livländiſchen Delonos
milden Sozietät für die Zeit des Sefretariatd von Parrot, aljo bis zum April
1300, giebt a. a. O. nicht den mindeiten Anhalt zu der Vermuthung, daB jich
in diejen vier erſten Jahren der Sozietäis:Wirfjamfeit auch nur eine Spur von
ſolchem Geſellſchafis⸗Verkehre und »Zujammenarbeiten gezeigt habe, wie es in
328 Die Kaijerl. Finländ. Defon. Sozietät.
den eriten Jahren der Finska Hushallningssällskapet jo deutlich hervorgetreien
ift. Vielmehr Hagt Parrot in jeinem Nundichreiben vom I. 1800 darüber, daß
wegen des nie ganz zu behebenden „Mangels an häufigen und vollitändigen
Sitzungen“ er in der Sozietät der einzige Wirfende fei (l. c. S. 103). Das
ijt auch jpäter nicht viel anders geworden.
*) Wohl jeher jpät ijt dem „bejtändigen Sekrelär“ der Xivländifchen
Gemeinnügigen und Defonomiichen Sozietät die Auszeichnung geworden, die
Zurechnung zum Stande der Staaisbeamten und die Zutheilung eines Klafjen:
ranges beanipruchen zu dürfen. Erſt zu Anfang der 1860:er Jahre — da unter
dem Präjivium des Herren Alerander von Middendorff freiere Auffafiung ihrer
Zwede und Befugnifje Play zu greifen begonnen hatte — find der Lioländijchen
Sozietät Bortofreiheit und das Prädikat „Kailerliche” verliehen worden. An die
Befugniß, zur Förderung der Zwede der Livländiſchen Defonomilden Sozietät
Verwaltungsbehörden requiriren, geichweige denn Immediatgeſuche an den Monarchen
richten zu dürfen — wie leßtere jeit Anbeginn, eritere ſehr bald, der Finländiſchen
Sozietät zugejtanden hat, — daran ijt wohl niemals auch nur gedadyt worden.
2) Aus Gründen, welde den älteften Gliedern der Livländiihen Dekono—
mijchen Sogietät nicht unbefannt jein fönnen, ift hier auf einen weiteren Gegenſatz
hinzuweiſen, und die Frage aufzuwerfen: ob die Finländiſche Sozietät eine jtrenge
Scheidung der Gegenjtände, weldye der veconumia publica angehören, von den:
jenigen, welche nur die oeconomia privata berühren, im Dinblide auf ihren
Wirkungskreis habe vornehmen wollen, und ob fie an folder Scheidung feſt—
gehalten habe? Weder das Eine noch das Andere ift geichehen, und die oeconomia
publica ift nur zu einem Opportunitätsargumente verwandelt worden; denn ber
befanntlich fonjervativ:vorfichtige PBorthan ſpricht nur von einem „vorläufigen
Ruhenlaſſen,“ nicht von einem definitiven Abjegen der zur veconumia publica
gehörigen Frage, welche denn auch jpäter von der Sozietät unbedenklich auf:
genommen worden iſt. Auch ſchon a priori ijt es flar, 1) dab eine dem Wohle
des ganzen Landes gewidmete Gejellicyaft den Fragen der oeconomia publica
nicht fern bleiben dürfe, jondern fie recht eigentlic) zu ihren wichtigiten Programm:
Punkten rechnen müfje; und 2) daß es aud) rein unmöglich wäre, theoretijd)
und praftiich die Grenze zu bezeichnen, wo die veconomia publica aufhöre und
die oeconomia privata beginne. (Auch in den drei folgenden Preisfragen,
jowie in den gegen Schluß dieſes Heferats erwähnten Jmmediatgejuchen, jind
Gegenjtände berührt worden, welche recht eigentlich der veconomia publica an
gehören.) Somit ermweijet ji, dab Die Frage ſolcher Scheidung garnichts anderes
ift, alS eine Frage jozuiagen der publiken Kourtoifie und eines mehr oder weniger
richtigen publifen Zaftes: Dekonomiſchen Sozietäten und anderen Organen der
Deffentlichkeit jteht offenbar das Recht zu, auf Mängel der ökonomiſchen Gejep-
gebung hinzuweiſen und ihre Abjtellung zu verlangen. Erjt wenn die bezügliche
Frage den Weg der legislatoriichen Verhandlung bereits bejchritten hat, wird es
den gejeßgeberijchen Faktoren erwünſcht jein dürfen, daß die Kreiſe ihrer Ermwä-
gungen nicht weiter durch mehr oder weniger leidenjchaftliche öffentliche Dis:
fufjionen darüber geitört werden, und dann iſt e8 Sadie der Organe der
Oeffentlichkeit, ſolchen Wünjchen der Iegislativen Faktore Rechnung zu tragen
Die KHaiferl. FZinländ. Teflon. Sozietät. 329
oder nicht. Im Gegenſatze hierzu ijt zur Zeit der „Stürme, die nun ausgejtürmt“
in der livländiihen Sozietät nicht nur die Anjicht: dab Fragen, welche Gegenitand
der Gejeßgebung werden fünnten, von ihr, bezw. in ihrem Organe, nicht behandelt
werden dürfen, herrichend geworden; jondern es ijt jogar, ohne irgend einen
Widerſpruch jeitens der Glieder der Sozietät, an ihren Sekretär dad — im jeiner
angeblihen Selbjtverjtändligykeit gar jonderbare, aber ebenjo unwirfjiame — Ans
finnen gejtellt worden: er möge um des Donorares willen gegen feine cigene
Anſicht jchreiben, d. 5. fi zum Lohnichreiber degradiren lajjen.
3) Gegenüber der voritehend bezeichneten aufßerordentlid) reichen, vers
Idjiedenartigen und vielfach gelegneten, bei voller Deffentlichfeit und unter
allgemeiner Theilnahme ausgeübten Wirkſamleit der K. Finska Hushallnings-
sällskapet während der beiden eriten Jahre ihrer Thätigkeit, — dem allen gegen:
über iit der Livländilchen Dekonomiſchen Sozietät fait volljtändige JIſolirtheit
und Thatenlofigfeit während der eriten Jahre ihres Beſtehens ganz bejouders
auffallend; neben der Kreirung einiger Ehrenmitglieder (Bienemann 1. c. ©. 96,
97) ijt der allereinzigite wichtige Gegenjtand, der fie damals beichäftigt hat, die
von Parrot angeregte Ueberjiedelungsfrage geweſen, zu deren Erledigung es fait
voller elf Jahre bedurft hat. Offenbar hat Bienemann, als Biograph Barrot's,
in den Sozietäts-Akten vergebli nad Spuren erſprießlichen Wirkens nad)
geforiht. Die von ihm erwähnten Gegenitände, welche Parrot überhaupt in
jener Zeit beichäftigt haben, jtehen entweder außer alem Zuſammenhange mit
der Sozietät, oder find gar geeignet, Krauſe's abfälliges Uriheil über ihre
damalige Wirkſamkeit zu rechtfertigen.
Anhang.
Comparer, c'est le vrai moyen de comprendre.
Brunetiere.
Woher die, aus Vorjtehendem ſich ergebenden, jo groben
Segenfäge? Woher dort das unabläjlig opferfreudige Zuſammen—
wirfen aller Stände und aller Gejellihaftsflafen, um mittels einer
Stiftung, die von ihnen gemeinfam hervorgerufen worden, des
330 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät.
Landes materielle und geijtige Wohlfahrt zu heben? und woher
bier dagegen, faſt gleichzeitig, lange währende Sfolirtheit einer
analogen „gemeinnügigen“ Stiftung, die aber nur ein Einzelner
ins Zeben gerufen hatte, und ihr indolent dumpfes Beharren in
Engherzigkeit und Unthätigfeit?
Zu einer erichöpfenden Erklärung: warum die beiden Er-
icheinungen fo große Gegenjäge darbieten, bedürfte es nicht nur
einer Wiederholung alles deſſen, was vor bald zwanzig Jahren
über Livlands Vergangenheit Gegenjtand erregter Diskuffionen
gewejen ift; jondern auch Finlands Vorgeſchichte vom 12. Jahr:
hundert ab müßte ebenjo eingehend beiprodyen werden.
Meder zum Einen noch zum Andern reicht der verfügbare
Kaum. Es hätte aud, hinſichtlich Livlands Vergangenheit, feinen
Zwed: renovare dolores; namentlid da jeitdem diejenige Thefis,
welche den Mittelpunkt des ganzen Streites gebildet bat: daß die
Konzejjionen von 1818 nicht freudig jpontane, jondern widerwillige
und erzwungene geweſen find, nachdem dieſe Thejis vom vor:
nehmjten Apologeten der „düſteren Zeit“ mit jeltenem Freimuthe
als richtig anerkannt worden iſt (Baltiihe Monatsfhrift XXVII,
Anm. zu S. 254); und da fomit die jpäteren Verſuche feitens
Anderer, an dem alten Liede, d.h. an ſchönfärberiſcher, mechaniſcher
Geſchichtsauffaſſung, feitzuhalten, heute ſelbſt in den mittleren
Schichten der Gebildeten als Anahronismen erjcheinen, etwa wie
eine „überwundene” altfränkiſche Modetradht, die nur nod vom
Diaskenverleiher auf Lager geführt wird.
Von der, in mancher Beziehung jo abweichenden, Vorgeichichte
Sinlands aber muß hier eine, wenn auch nur ganz gedrängte,
Sfizze gegeben werden,*) weil aus ihr eine Thatſache hervorgeht,
welche vor zwanzig Jahren von feiner Seite gebührend gewürdigt
worden it, obichon jie — in glei hohem Maße wie die damals
jowohl behauptete als auch bejtrittene Verſchuldung — obſchon
dieje Thatjache Livlands Geſchicke verhängnigvoll beeinflußt hat:
*) An der Hand der Werke: Geijer (und Garlfon): „Geſchichte
Schwedens" (Hamburg 1832 u. 1834 und Gotha 1874 u. 1887); Koskinen:
„Finniſche Geichichte von der früheiten Zeit bis in die Gegenwart” (deutic,
Leipzig 1374); und Dr. £. Medelin: „Das Staatsreht des Großfürjtenthums
Finland“ in Heiner. Marquardſon's „Handbuch des öffentlichen Rechtes“ IV
(Freiburg i. Br. 1888).
Die Kaiſerl. Finländ, Defon. Sozietät. 831
mohl faum meniger als die Sieger haben auch die Beftegten in
Livland beigetragen, zu bes Landes Mißgeſchicken den erjten Grund
zu legen; und die Nachkommen der vormals Befiegten follten, ftatt
in müften Träumereien fih zu ergehen und ehrgeizige Streber
unter fi zu dulden, — fie follten enticdhiedener, als es bisher
geichehen ift, Die zur Heritellung des Zandesfriedens gebotene Hand
ergreifen. Thäten fie es freudigen Derzens, fo könnte Livland
deſſen noch theilhaft werden, worin von jeher des „armen“ Finlands
jo großer Reichtum beftanden hat; fo fönnte auch in Livland
erftehen, weſſen es von jeher am fchmerzlichiten entbehrt hat, —
deſſen Mangel am meilten feine Zufunft gefährdet, und aus deſſen
Abweſenheit die vorſtehend dargethanen Gegenfäge fih von ſelbſt
erflären: aus dem Nichtvorhandenfein eines livländiichen Volkes.
Wohl genügend ift von Livlands Leiden geredet worden:
wie von außen her fein MWohlitand wiederholt durch graufame
Verheerungen zerjtört, und mie feine Bevölkerung zu äußerfter
Armuth und PVermilderung wiederholt niedergedrüdt, und mehr
als dezimirt, bis auf geringe Reſte fait ausgetilgt worden ift.
Kaum meniger ift auch Finland durch die Geihel der Kriege heim:
geſucht worden, und es hat viel Aergeres noch erlitten, als Livland:
gänzlich unverjchuldete und mwiderrechtliche, ſyſtematiſche Zurüd:
fegung und Preisgebung. Nie aber und durch nichts ift in
Finland das unbeugfam ftarfe, Alle dDurchdringende, Volksbewußtſein
erjchüttert, noch iſt jemals die unverwüftliche, Allen gemeiniame,
opferfreudige Liebe zur Heimath geihmwächt worden.
Drei Dinge find es, durch die von Anfang an Finlands
Geſchicke ſich günftiger geftaltet haben, als diejenigen Livlands.
Nicht ift zunächſt von Schweden aus in Finland verfucht worden,
ein Recht auf Handelsniederlaffung zu begründen; nicht it dem
Händler der Miffionär auf dem Fuße gefolgt; micht iſt im
„chriſtlichem“ Eifer, zu angeblihem Schuge der Miſſion, ber
Kreuzfahrer rüdfichtslos erobernd vorgegangen; fondern zur Be:
mwahrung feiner Küften vor den Verheerungen durch finnische See-
räuber hat Schweden zuerjt das Schwert nad) Finland getragen;
zu feiner Vertheidigung hat es in Finland feften Fuß gefaßt und
feine Herrihaft dort begründet. Sodann war in Schweden jenes
Lehns- und Feudalſyſtem fremd aeblieben, welches im Abendlande
durch jeine verrufenen Auswüchſe unjägliches Elend über Die
832 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät.
breiten Maſſen des Volfes gebradht hat; mie nirgend fonftwo im
Abendlande hat es in Schweden ſtets einen freien, ftaatlich be-
rechtigten Bauerjtand gegeben. Demgemäß haben die fchwediichen
Heereszüge, namentlid diejenigen von 1157, 1249 und 1293,
welche jchließlich zur dauernden Erwerbung Finlands durch Schweden
führten, eine verhältnikmäßig gütliche Befigergreifung zu Mege
gebracht: „Der Berbreitung jchwediihen Rechtes trat wenig
Widerftand entgegen. Wenigitens find feine Klagen über gemalt:
ſames Nufdrängen fremder Gejege an die Nachwelt überliefert
worden, wie es in manchen anderen Ländern der Fall geweſen ift“.
Drittens endlich ijt die verhältnigmäßig raſche und friedliche Ver:
Ihmelzung der Finnen und Echweden zu einem gemeinjamen, fich
feiner ſelbſt bewußten, finländiichen Volfsthume offenbar begünftigt
und befördert worden durd einen gemwillen Grad von Kultur:
fühigfeit der Finnen, welchen ihre jüdlihen Stammesgenoffen, Die
Ehiten, anscheinend nicht in gleihem Maße bejeilen haben. Denn
zu Zeiten, da in Livland von Bedrüdung wohl faum erſt bie
Nede jein Fonnte, haben dieſe legteren durch jtarrfinnige Auf:
lehnung gegen Anordnungen einer höheren Kultur und dur
wiederholte blutige Aufitände harte Repreſſalien hervorgerufen;
und es iſt wohl nicht ungerecht, zu vermuthen, daß bdergeitalt,
durch ihre hartnäckige Wildheit, die alten Ehiten zu großem Theile
jelbft den Druck herbeigeführt haben, der fpäter auf ihrer Nach—
fommenjchaft gelaftet hat. Das Bewußtſein, auch ihrerjeits nicht
frei zu fein vom Erbe jchlimmer Inftinkte, follte heute zu deren
innerer Bekämpfung, und zur Verſöhnlichkeit im Intereſſe der
Erhaltung der gemeinjamen Güter, geneigt machen.
Kaum waren ſeit Eroberung Finlands zwei Menjchenalter
vergangen, als in dem, durd Lagman Niels Bjelfe und den
Biihof Hemming im Jahre 1362 vom fchwediichen Reiche aus:
geiwirften, Finländifchen Freiheitsbriefe feitgejtellt wurde, daß
neben dem finländiihen Lagman und dem dortigen Klerus zwölf
finländiiche Bauern an der Königswahl theilnehmen ſollten. Seit
jener Zeit, ohne Unterbrechung, jeit fünfeinhalb Jahrhunderten
jteht der finländiiche Bauerſtand politiich vollberedhtigt da, eben:
bürtig neben feinen Mitjtänden über alle Bejteuerungs: und Geſetz—
gebungsfragen mitentjcheidend... Trotz ethnologiſcher Verjchiedenheit
der Bevölkerung hat, von Anfang an, ohne Unterbrehung nod)
Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 333
irgend eine Störung, Finlands Volf das Bewußtſein feiner ge:
ſchloſſenen Einheitlichkeit beſeſſen, — ein Bewußtfein, welches nicht
im mindeften feine jprichwörtlich gewordene Reichstreue beeinträchtigt
noch verringert hat.
Die fetten Jahrhunderte der Zugehörigkeit Finlands zu
Schweden, jeit der Zeit, da Schweden ein michtiger Faktor der
nordilchen Politik wurde, find für das ohnehin färglich ausgejtattete
Land nichts anderes geweſen, als eine ununterbrochene Kette von
Leiden aller Art... Nur ein ganz bejonders charafteriftiiches
Moment der hiſtoriſchen Cigenart Finlands, feine Reichs: und
Königstreue, mag bier hervorgehoben werden... Seit den ältejten
Zeiten iſt Finland ebenbürtiges, vollberechtigtes Glied des ſchwediſchen
Neichsförpers geweſen: wie die übrigen Landichaften Schwedens
betheiligte fich Finland an der Königswahl. Manche Beftimmungen
des allgemeinen Landgeſetzes v. %. 1442 weiſen darauf hin, daß
Finland ein den ſchwediſchen Landichaften ebenbürtiges Glied des
Reiches geworden war... Wielfach heißt es fogar in fpäteren
Geſetzen: „Schweden und Finland”... In Pommern, in den
DOftfeeprovinzen gelangte ſchwediſches Necht nie zu voller Geltung,
wogegen, ſowohl was die Vertretung auf den Reichstagen betrifft,
als auch in den übrigen rechtlichen und politifchen Beziehungen,
Finland mit dem eigentlichen Schweden volltommen gleichjtand;
in Finland war das jchwediiche Hecht fein fremdes Necht, ſondern
ein einheimifches, unter Mitwirfung von Vertretern des Landes
entwideltes und auch bei der finnischen Bevölkerung eingemwurzeltes
Ned... In praftiicher Hinficht aber gewinnt diefe Gegenüber:
jtellung jeit der erwähnten Periode eine tief bedauerliche Bedeutung
injofern, als Finland immer mehr und mehr in die — unverdiente
— Stellung eines vernadjläffigten, ja benachtheiligten Stiefbruders
verjtoßen wird, unverdient in ziwiefacher Hinficht: ſowohl wegen
der Wichtigkeit von Finlands Grenzlandftellung, als auch wegen
der ausnahmelos Forreften Haltung des Landes... Wiederholt
werden Beſchlüſſe gefaßt und Anläufe genommen, Finlands Ber:
theidigungszujtand herzuftellen; immer aber haben angeblich wichtigere
Aufgaben die Aufmerkiamfeit von Finland und deſſen Wehrhaft:
mahung abgelenkt... Erjt nah Brechung der Madt Schwedens
wird an die Befejtigung der Eüdfüfte Finlands gejchritten, wobei
übrigens das Land, wie bisher bejtändig, von Vertheidigungs—
834 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Soyietät.
truppen faft gänzlich entblößt und faft nur auf die improvifirte
MWehrfraft der lofalen Bevölkerung angewiefen blieb... Karl IX.,
Guſtav Adolph und rel Orenitierna haben allerdings Finland
einige Sorgfalt gewidmet; der legtere hat mit Nahdrud bezeugt:
ein gut vermwaltetes Kinland könne Schweden fajt gleichfommen,
nur thatfächlih fei es der ſchwächere Theil; und Peter Brahe der
Jüngere hat nad genauem Studium Finlands im Jahre 1638
befannt: eigentlich ſei Finland ein Feines Königreidh... Wegen
glänzender Zurüdwerfung Joan's IV, des Schredlichen, — deſſelben,
der faft ohne Gegenmehr zu finden, Livland zu einer Einöde gemacht
hat, — mar Finland im J. 1581 durd den König Johann III.
zum „Großfürſtenthum“ erhoben worden... Guſtav Adolph trug
als Thronfolger bei Karl's Krönung die Fahne des „roh:
fürſtenthum Finland“... Nicht feine „Naturreihthümer” haben
ed gethan — unverfiegbare Schäße anderer Art haben jederzeit
des Landes unerichöpflihen, großen Reichthum gebildet: Schäße
des Herzens und der Gefinnung der fernigen Bevölferung. Uner—
Ihöpflih in der That; denn mit nur wenigen und feltenen Aus:
nahmen ift feitens der Regierungen der ſchwediſchen Könige und
der Ndelsherrichaften fait Inftematiich, möchte man jagen, darauf
bingearbeitet worden, Finland abzuftoßen und dem ſchwediſchen
Reiche zu entfremden. Nichtsdejtoweniger hat fich Finland, wiewohl
es in höchiter Ariegsnoth jedes Mal vom Neiche im Stiche gelaflen
worden ijt, allezeit und unausgejegt, jo lange es nicht thatlächlich
aufgegeben und überliefert worden, mie feine andere Landichaft
Schwedens, durch ftandhafte Treue und freudige Opferwilligfeit
ausgezeichnet. An einigen Beilpielen mag das gezeigt werden.
Nah wiederholten Drohungen find im J. 1573 die Schaaren
Joan's IV. in Finland und Ehjtland eingebrochen, melde Land:
ichaften beide ungeſchützt geblieben waren; finländifche Teputationen,
die um Nbhilfe bitten, werden in Schweden nicht beadıtet; in
beiden Küjtengebieten befindet fih 1577 nur noch Reval in
Schwedens Beſitz. Dann aber werden, unter Führung der Fin:
länder Tott, Fleming, De la Gardie und Tawwaſt, einzig und
allein mit in Finland aufgejtellten Truppen und finländiichen
bäuerlihen Bartilanen, in den Jahren 1580 und 1581 die Rufen
aus beiden Küftengebieten wieder vertrieben, und werben auch
Karelien und Kerholm miedergemwonnen. Dafür ward Finland
Die Kaijerl. Finländ. Defon. Sozietät. 335
freilich zum Großfürftenthum erhoben, im Uebrigen aber fchlecht
gelohnt: nad faſt neunjährigen Kriegsnöthen und nad) Brand-
Ihagung durch unbejoldete Eoldaten, iſt Finland als Beute
erpreffungsluftigen ſchwediſchen Beamtenjchaaren, den „Geſetzes—
lefern” u. ſ. w. überliefert worden. Weſentlich ebenſo wird
Finland behandelt, als Boris Godunow’s Mongolenſchwärme ins
unvertheidigt gelaffene Finland einbrachen, welchem dennoch gelingt,
1585 den ehrenvollen Frieden von Teufina zu erfänpfen.
Es folgen dann die ſchwediſchen inneren Mirren, die Kämpfe
jzwiicdhen dem Herzog Karl und dem in Polen abwejenden red)t-
mäßigen König Sigismund; zu dieſem hält Finland in unver:
brüchlicher Treue, troß aller VBeratiomen und troß des vom
föniglihen Statthalter Fleming ausgeübten ungeſetzlichen Drudes;
durch dieſen wird der „Kolbenkrieg“ (1592—-1600) hervorgerufen,
welcher erit durch Sigismunds gelegmäßige Abſetzung zu Ende
geht. Mit alledem verjchränfen fi) die damaligen ſchwediſchen
Religionswirren, in denen das ziwiefach bedrängte Finland eine
doppelt ehrenhafte Stellung bewahrt hat: ſowohl gegen den
ſchwediſchen Rigorismus, gegen die lutherijche Unduldjamfeit, als
auch gegen die von Sigismund in Szene gelepte jejuitiiche Gegen
reformation Front madend, hat Finland unentiwegt die Sahne der
Religionsfreiheit hochgehalten.
Die hierauf erlangten, Schwedens Großmadhtitellung ein:
leitenden Erfolge Karls IX. bis zu dem 1617 geſchloſſenen Frieden
von Stolbowa (1610 die „Errettung” Moskaus, die zweite Ge—
winnung von Kerholm, die Erftürmung und Belegung von Groß:
Nowgorod, Guſtav Adolph's, bezw. feines Bruders Karl Philipp,
Berufung auf den Zarenthron u. f. w.), alles das waren wiederum
Erfolge finländifcher Männer: der Klaus Boije, Arwid Wildeman,
Emwert Horn, Jacob Dela Gardie (diefer geboren in Neval, aber
aufgewachlen und erzogen in Finland), der Führer finländiſcher
Truppen. So ift Schweden recht eigentlich durd; Finland empor:
gehoben worden...
Am unverfennbarjten wird Finlands Werth für Schweden
im Dreißigjährigen Kriege. Won den durch Schweden ins Feld
geitellten dreißig Negimentern find nicht weniger als zwölf, d. 5.
zwei Fünftel der ganzen Heeresmacht, finländifche gewejen. Die
4
336 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozistät.
Kerntruppe der ganzen ſchwediſchen Armee bejtand aus der fin-
ländifchen Neiterei, deren Schlachtruf: „hakka pääle* überallhin
paniſchen Schreden verbreitete...
Durch alles das waren Finlands Kräfte faſt aufgerieben und
erichöpft worden: feine Bevölferung zählte nur noch 250,000 —
300,000 Köpfe, Orenjtjerna bezeugt, daß ganze Gerichtsbezirfe
gänzlich unangebaut waren. Aber nah kurz mwährender Fürjorge
durch diefen erleuchteten Staatsmann beginnt jet die eigentliche
Leidensperiode des nicht nur vernacdläfiigten, ſondern geradezu
gemigbrauchten und mißhandelten Stiefbruders... Es folgen bie
entjeglichen Werjchleuderungen der Königin Chriftine, die nicht
weniger al8 18 Grafidaften, 42 Baronien und 400 Adels—
gefchlechter Freirt Hat; in Finland hatte es nur eine Grafidaft
und zwei Baronien gegeben, nun befißt es 8 Grafichaften und
21 Baronien. Nach Chrijtinens Nüdtritte jah Finland aus wie
ein Haufwerk Ffleiner Fürjtenthümer: zwei Drittheile des Landes
und ein Drittheil der Staatseinnahmen waren an in Schweden
lebende Arijtofraten, meijt Ausländer, vergeben worden. Finland
war zum auszuraubenden PBachtgute von jchwedilchen Vornehmen
geworden.
Während Karl X. mit 20,000 Finländern in Polen einfällt,
fteht Finland im J. 1656 ganz unvertheidigt gegen Die Ruſſen
da, die des vertriebenen Wolenfönigs Johann Kaſimir fih an-
nehmen. Schweden ordnet nun die Aushebung des zehnten waffen:
fähigen Mannes an; die Finländer aber jtellen den achten Dann
und bewilligen unerhörte Kriegsiteuern; 1657 entjegen fie Kerholm;
und von feiner neu aufgebrachten Kriegsmacht giebt Finland Die
Hälfte zur Fortführung des Krieges in Livland ab — und empfängt
als Gegengabe, von Polen her, die Reit...
Es hatte nun allerdings eine Steigerung des Verhältnifjes
von Schweden zu Finland jtattgefunden, in Folge der Großthaten
des legteren: Finlands Treue war ſprichwörtlich geworden, aber
das Werhältnig war nur ein tbeoretiiches und afademilches.
Sobald Schweden feine Grenzen gegen Süden zu erweitern
beginnt, erfaltet jein Intereile für Finland: immer deutlicher und
deutlicher prägt es jid aus, dab Finlands Treue zum Reiche eine
einfeitige, unerwiderte ift... Die vormaligen Berbeilerungen waren
Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 337
hinfällig geworden, und wiederum wird Finland von raubfichtiaen
und bejtechlichen ſchwediſchen Nichtern und Beamten ausgefogen.
Schwedischen Handelsfompagnien und ſchwediſchen Handelsplägen
werden Monopole bewilligt, und Finlands Handel und Gewerbe
dadurch gelähmt. Bier finden Antelligenz und Vegütertheit feine
Verwendung mehr; fie fiedeln nad) Schweden über; Finfand beginnt
fulturlich zu veröden...
Karls XI. Regierung bringt freilich zwanzigjährigen Frieden
und Ordnung der Verwaltung — aber mehr für Schweden als
für Finland; Ddiefes wird immer noch ftiefmütterlicd) behandelt;
1689 werden alle Finländer von den Offizierftellen ausgeichloffen.
In wirthichaftliher Hinjicht aber ift diefe Periode für Finland
fajt die unglüdlichite gewejen. Während fortgeiegter künſtlicher
Lähmung jeines Dandels und Gewerbes wird das Land durd)
eine lange Reihe von Mißwachs- und Hungerjahren und durd)
ſchreckliche Feuersbrünſte heimgejucht.
Bei Karls XII. Regierungsantritt wären Jahrzehnte ſorg—
fältiger Schonung zur Heilung der Schäden erforderlich geweſen,
— Statt deijen andauernde Kriegsnoth, wie fie noch nie erlebt
worden war, — und zwar augenfällig in Kolge gänzlicher Ver:
nachläſſigung und Preisgebung Finlands durch Schweden... Nad)
dem großen Siege bei Narwa, den zu voller Hälfte Finländer
erfämpft hatten, wurde Finland durchaus von Truppen entblößt
und ihm die Aufitellung einer zweiten Armee auferlegt. Allein
während des erjten Kriegsjahres (1700) hat das menichenleere
Land nicht weniger als 20,000 Soldaten geliefert, wovon fein
volles Drittheil genügt hätte, die heimische Scholle zu vertheidigen.
Die Aushebung hatte jchon auf die Hauswirthe und Hofbauern
zurücdgreifen müſſen. Trotz alledem läßt die hartnädige Reichs—
und Königstreue noch außerdem bejtändig bäuerliche ‘Bartifanenzüge
ins Werk jegen!... Das durch vierzehnjährige Kriegsnoth voll:
kommen erjchöpfte Land wird ein drittes Mal zur Beute der
Rufen, welche hier 1714—1721 unumſchränkt haufen und wüjten
. aber mitten unter der ruſſiſchen Herrichaft wird der finländijche
Der Friede zu Nyitadt giebt Finland (außer Wiborg) an
Schweden zurüd, und es beginnt die von Guſtav Cygnaeus ge:
4*
338 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät.
ichilderte Epoche, während welcher Finland, trotz mander Wider-
mwärtigfeiten, aus eigener Initiative und Kraft feine wirthichaftliche
Wiedergeburt angebahnt und bewirkt hat.
* *
*
Mag es auch dahingeſtellt bleiben, ob Livlands oder Finlands
Leiden an ſich größer und ſchrecklicher geweſen ſind; ſo kann doch
nicht beſtritten werden, daß Finland ausnahmelos von unver—
ſchuldetem Mißgeſchicke betroffen worden iſt, und daß es, wiewohl
des gebührenden Schutzes ermangelnd, doch unausgeſetzt in feſtem
innerem Zuſammenſchluſſe ſich aufrecht erhalten und mit eigener
Kraft und Anftrengung fich emporgearbeitet hat; daß gleichzeitig
dagegen Livland... Es ijt ja ſchmerzlich, den Gegeniag hervor:
zubeben, aber doch wohl unerläßlich jener Selbitgenügfamfeit gegen
über, die noch immer fi) rühmt, das Merkmal des Patriotismus
zu fein, — und melde ja wohl auch narkotiſch fchmerzbetäubend
wirken mag, jedoch zugleich lähmend — und daher jicherlich nicht
als heilſam gelten darf.
Während jeiner „angeltammten Periode“ iſt auch Livland,
ſowohl vom Neiche, dem es angehörte, als aud) von den hanſeatiſchen
Genoſſen im Stiche gelaffen worden, am verhängnißvolliten zulegt.
Aber nicht vornehmlih aus diefem Umitande leitet der Verluſt
feiner Selbjtändigfeit ih her: im Beſitze unvergleichlid größerer
materieller Machtmittel würde Livland, wenn es über Finlands
moraliſche Kraft und Einheitlichfeit geboten hätte, — ohne irgend
einen Zweifel hätte es ji dann der Horden Joan's IV. jchleuniger
noch ermwehrt, als Finland es zu thun vermocht hat. Die moraliihe
Untücdhtigfeit feiner „verruchten Zeit”, fie ift es, die das alte
Sejammt-Livland zu Fall gebradht hat; und auf fie, auf jene
moralijche Untüchtigkeit, ift alles nachfolgende Elend zurückzuführen:
die Nachfommen haben jchwer zu büßen gehabt für die Sünden
der Vorfahren, — jo lange fie, anitatt von der böſen Erbichaft
ſich loszufagen, vielmehr zu alter Schuld noch neue Hinzufügten —:
von Polen durfte das Land mit Füßen getreten werden, — von
Schweden mußte es jich ausrauben und mißhandeln lafien, u. ſ. w.
Konnte doch von Abwehr aus innerer Kraft feine Nede fein, wo
die Bevölkerung durch tief reichende Zerflüftung gelähmt war,
Die Katierl. Finländ. Oekon. Sozietät. 339
und der führende Stand immer jchroffer feine Engberzigfeit zur
Schau trug. Mupten da nicht Zuſtände ſich herausbilden, welche
zu Finland Gegenläge hervorgerufen haben, wie fie in den An:
fängen der beiderfeitigen Defonomilchen Sozietäten jo deutlidy zu
Tage getreten find?!
Freilich, mit nicht geringem Etolze darf man im Baltifum
feiner Heimat fi) bewußt fein. Welches andere Land hat in
der furzen Zeitipanne zweier Menjchenalter jich dermaßen verjüngt?
Welch anderes hat unter jo jchwierigen Verhältniffen, gänzlich ohne
jtaatliche Beihilfe, jeine Agrarverhältniffe in jo glüdlider und
jolider Weiſe geordnet, daß die Krönung des Gebäudes jederzeit
erfolgen fönnte? Welch anderes Yand der abendländiichen Welt
hat durch alle Wechjelfälle hindurch jeine Bewohner fo volljtändig
vor PBauperismus und ihnen jo große Selbjtverwaltungstüdhtigfeit
bewahrt, und dazu — vergleidhsweile — jo jtrammes Nüdgrat?
Aber verhängnifvoll wäre der Stolz, wenn er fi nicht
paarte mit heilfamer Selbjterfenntnig. it etwa jchon erreicht
worden, was die Zukunft zu fihern vermöcdhte? Darf das Baltikum
derjelben Zuverficht fich erfreuen, welche Finland belebt? Jit ſchon
jedes, aus „düjterer” Vorzeit überfommene ſchädliche Unkraut
gänzlich vertilgt worden? Ad, nod viel blieb zu thun übrig!
Und die jchlimmen Reſte der Vorzeit — nicht genug fann es betont
werden — gleich einer Schuld lajten fie nody auf der Gegenwart.
Ein tiefer Sinn liegt in den Worten: daß von den Nachkommen
heimgejucht werden joll, was die Voreltern gefehlt haben. Pflicht
und Schuldigfeit ijt es, Kindern und Kindesfindern die Zukunft
zu bereiten. So lange dazu nicht Alle gemeinjam zujammen:
gewirkt haben, jchickt ſich Selbſtgenügſamkeit nicht.
Ganze Berge von dringenden Aufgaben liegen noch vor
und harren der Löſung. Wie wenig befriedigend die Zujtände in
Livland noch find, wird dem blödejten Auge alleın jhon an einem
Merkmale fenntlih: die Volkszahl iſt in Livland eine höchſt unbe-
friedigende geblieben; die Klage über Arbeitermangel ijt allgemein;
der Bevölferungszumvachs iſt beihämend gering (vergl. ©. 36 u. fg.
des Separatabzuges meiner „Landmwirthichaft Finlands“ in „Balt.
Wochenſchrift“ 1897) und, gerade wie in Finland vor 150 Jahren,
ift er gering geblieben zufolge jtarfer Auswanderung. Allerdings
340 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät.
wird dieſe ja auch begünſtigt durch Umſtände, an denen nichts
geändert werden kann: den Leiten und Ehſten werden im Oſten
lodende Stellungen bereitet; nidt nur als Anjiedler, aud als
Wirthichaftsbeamte, als Dandwerker, als Hotelportiers u. |. w.
werden fie mit offenen Armen aufgenommen; aud die Induſtrie
der heimischen Städte raubt dem flachen Lande zahlreihe Arme.
Tas allein aber erklärt nicht genügend Livlands Volfsarmuth.
Genau Ddiejelben Umjtände beeinflulfen ja aud Finlands Volks—
bewegung; und doch jteigt Finlands Volfszahl mehr als doppelt
jo ralch als diejenige Livlands (vergl. ebendort ©. 45), obſchon
bier, zufolge beijerer Naturbedingungen, der natürliche Volks—
zuwachs ein günjtiger it. Aus Livland findet eben ein jtärlerer
Abflug der Bevölferung ftatt, als aus Finland, und nad) Yivland
ift der Nüdjtrom ein geringerer als nad Finland. Wer aus
Finland zum Erwerben fortgezogen war, Fehrt zumeijt mit jeinen
Kindern und mit jeinen Erjparnijjien zurüd und widmet jich daheim
der Landeskultur. Daſſelbe zu thun iſt aber dem auswärts wohl:
habend gewordenen Yetten und Ehſten verwehrt, und zwar durd)
einen Reſt aus der „düſteren“ Vorzeit.
Dan it in Livland übers Ziel binausgeichofien, als man
zum „Dlarimum‘“:Sejege das „Minimum“ binzufügte; und in dem
Irrthume ift man bejtärkt worden dadurd), daR in aberwigiger
Weile die befannten „Schadhbrett:Zandvertheilungen” vorgenommen
wurden, wo jie durch Ffeinerlei Nachfrage hervorgerufen worden
waren und das Üntjtehen von Verbrecher-Kolonien begünjtigen
mußten. Gejunde, weil wirthichaftlich begründete, Nachfrage aber
nad) fieinen Yandjtellen muß, dank dem „Minimum“-Geſetze, zu
allermeijt unbefriedigt bleiben; und dieſer unheilvolle Umjtand ift
jiher eines der wichtigjten, den Bevölkerungszuwachs hindernden,
Diomente. Anders Chydenius hatte Hecht, indem er jagte: der
Menſch jei nicht abzuhalten, er verziehe dauernd dorthin, wo es
ihm leichter wird, eine jelbjtändige Eriftenz ſich zu begründen;
es locke ihn nicht, dorthin zurücdzufchren, wo ihm jelbjtändige
Wirthichaft erjchwert oder gar verjagt wird. Der ländliche Arbeiter:
mangel wird in Livland ganz fiher immer drüdender werden, jo
lange der Kleine Dann nicht, wie in Finland, wo es ihm beliebt
Die Kaijerl, Finländ. Oekon. Sozietät. 341
und wo er dazu Gelegenheit findet, auf eigener Scholle ſich nieder:
laſſen darf.*)
Es würde zu weit führen, jollten bier alle die übrigen
Dinderniffe angedeutet werden, welche in Livland allgemeinem
Aufſchwunge, und namentlich vapidem Anwachſen der Volkszahl,
im Wege jtehen, — Hinderniſſe, welche nur durch freudig ſelbſt—
vertrauende Unternehmungsluft in Volfserziehung, in Sanitätspflege,
Kulturtechnit und Induſtrie bejeitigt werden können.
Wo aber joll das freudig jchaffende Selbitvertrauen her:
fommen, jo lange die Bevölferung noch immer jo wenig Neigung
zeigt, fich zu einem VBolfsganzen zu verichmelzen? jo lange in ihren
breiten Schichten noch nicht die Erfenntniß zu allgemeiner Klarheit
aufgegangen ift, daß fie jeit Dezennien von verblendeten Schwärmern
und ehrgeizigen Streben ſich hat mißleiten lajjen, und fo lange
diefen noch heute möglich wird, Erzeſſe der Verhegung in Szene
zu jeßen?
*) Den Verkretern und Berfechtern des livländiſchen „Minimum“-Geſeges
mögen zur Belchrung und Beherzigung die folgenden Betrachtungen und Angaben
Moritz Nobbe's empfohlen werden, die er in „Preufiiche Jahrbücher“ NUIL
(1898) ©. 233 und fg. gegeben bat, bei Beiprehung der inhaltreihen agrar:
politiihen Schrift: „Die Siedelungsgenojfenichaft. Verſuch einer pofitiven Ueber:
windung des Kommunismus durch Löſung des Genofjenichafisproblems in der
Agrarfrage* von Franz Oppenheimer.
Hiernach unterjcheiden ſich die öfllichen und weitlidien Provinzen Preußens
wejentlid von einander durch die Geſchichte und Entwidelung ihrer agraren
Zuſtände. Die oftdeuticen Befigverhältniffe (wie bis vor wenigen Dezennien
auch die livländiichen es waren) jind das Schlußergebniß einer friegeriichen
Kolonijation, der Deutſchland ... den Befig des Yandes jelbit zu verdanken hat.
Bon den geldbedürftigeu Asfaniern erfauften die Nitter das Yehnsrecht über die
Bauerdörfer, und dieſes urjprünglich jtaatlid) gedachte Grundreht nahm nad)
und nad) den Charalier des Privateigenihums an; ja im 15. Jahrhundert ent:
widelte ji) mehr und mehr die Lehre: die Nitter beſäßen das Bodenregal, und
hieraus leitete ſich (mie auch in Yivland bis zu Anfang diejes Jahrhunderts)
das „Legungsrecht” ab. Run wird die Großgrundwirthichaft fapitalijtiih, ver:
fhuldet ... die Auswanderung jteigert jid) immer mehr und mehr ... Arbeiter:
mangel ftellt jid) ein ... Im Dezennium 19881— 1890 jind aus den Dftprovinzen
Preußens nicht weniger als 521,130 Perjonen ausgewandert, während aus den
agrarifh glüclicher jitwirten und jtärfer bevölferten Wejtprovinzen gleichzeitig
nur 69,365 Berfonen auswanderten.... Das Endrejultat ift, dab die preußiichen
Ditprovingen vor einem agraren Elende jtchen, zu deſſen Abwendung jie vom
Staate unerjhwingliche Opfer auf Kojten der übrigen Bevölferung mehr oder
342 Die Kaiſerl. Finländ. Oekon. Soyietät.
Den wahren und erleuchteten Volksfreunden liegt es ob, die
Heer kalt zu jtellen, und der Ueberzeugung Herrſchaft zu ver:
ſchaffen, daß Schon jeit Jahrzehnten in Livland eine neue Wera
eingeleitet worden ift: eine Wera des Yandfriedens; daß ſchon feit
Sahrzehnten geſchehen it, was überhaupt eine Seltenheit, in
Livland aber bis dahin unerhört gewejen war: die Nachkommen
ber Sieger haben ungejtört bejejlene Vorrechte freiwillig dem
Gemeinwohle zum Opfer gebradt; freiwillig haben fie die Hand
an die Wurzel gelegt, das alte Agrarſyſtem mit Stumpf und
Stiel auszurotten; freiwillig haben fie auf das ausschließliche
Ritterguts Beſitzrecht verzichtet u. |. w.
Und wenn dennody heute noch Erbichuld verhängnißvoll ſich
geltend macht; wenn nod) heute Echranfen trennenden Mißtrauens
ltehen geblieben find; jo haben nun vorzugsweile diejenigen an
die Brujt zu Schlagen, welden es, zufolge Zauheit und Halbheit,
noch nicht gelungen ift, in den Herzen ihrer Volksgenoſſen, in
weniger tumultuariich verlangen. Der Großgrundbejit hat ſich jelbit eine Lohn:
konkurrenz geichaffen, die ihn heule erwürgt, er fieht ſich durch den von den
Vätern verſchuldelen Arbeitermangel gezwungen, jtatt zu höheren Intenfitätsitufen
aufzuiteigen, auf niedere zurüdzufinfen. Die Entvölferung aber des platten
Landes bewirkt den Ruin der kleineren und mittleren Städie, und verjchuldet
durd; die lebervölferung der Großjtädte die Stodungen und Kriſen der Induſtrie,
und damit zugleich das Elend der arbeitenden Klaſſen.
Das „Legungsrecht“ hat Livland glücklicher Weile theoretiſch ſchon ſeit
Beginn dieſes Jahrhunderts aufgegeben, und ſeit einigen Dezennien ſeine Aus—
übung auch prafiijch (durch den „rothen Strich“ und durch das „Marimum“:
Geſetz) ſich verfagt. Durch das gleichzeilige „Minimum“-Geſetz aber ift dabei
nicht nur mißverſtändlich übers Ziel hinausgeſchoſſen, jondern auch, vermeintlid)
zu Gunften der „Gejindes": Inhaber, ein Zujtand geichaffen worden, der, ganz
analog wie in Ojtdeutichland das „Xegungsrecht,“ dem fleinen Mann den Boden:
bejig verfagt, ihn gleichſam heimathlos macht und geneigt zur Auswanderung.
Dieje, die Auswanderung, wird auch keineswegs durch die Agitationen,
welche den „Warmland":Schmwindel, den „Sſamara“-Schwindel u. j. w. hervor
gebracht haben, in Yivlaud verurjacht, nur veranlaßt. Warum ijt in Finland
auch nicht einmal verſucht worden, jolde Agitationen und Scwindeleien zu
injzeniren? Offenbar doch weil es bekannt iſt, daß in ‚Finland der Meine Mann
zu ſeßhaft ift, als dal er für ſolche Schwindeleien und Agitationen zu haben
wäre. Und warum ijt der fleine Wann in Finland jehhaft? Weil er aud
tleine Erjparnifje in Landbeſitz eventuell anlegen und dieſen gelegentlich ver:
größern und arrondiren kann; weil ihm die Erlangung von Grundbejig durch
fein „Minimum“-Geſetz erſchwert oder unmöglich gemacht wird.
Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 343
den Nachlommen der vormals Befiegten, die gleiche Liebe zur
gemeinjamen Heimath zu weden und den ererbten wilden Troß
zu breden.
Ein Schönes tröftendes Wort verheißt vollen Lohn auch denen,
bie erjt in zwölfter Stunde kommen. Um 150 Jahre ipäter als
in Finland hat in Livland rüftige Arbeit zu ökonomiſcher Wieder:
geburt begonnen; wird dieje Arbeit durch freudig einhelliges Zu-
jammenwirfen Aller gefördert, fo fann fie noch — troß alledem —
gleich herrliche Früchte tragen wie dort.
(‚Aoasoseno ueraypow. Upper», 10. Okraöpa 1898. N 1340.)
Corrigenda.
S. 299, 3. 16 v. u. lies: L. St. ftatt Lire.
„30, u Lu u u Hellmann jtatt Felmann.
„30, „ Tann Kapitel jtatt Kapiteln.
„313, „ 16 u. 0 m neuere jtatt neue.
„315, » Po nn Momarhin jtatt Monardjie.
„38 „ Duo m Find Itatt iſt.
Litteräriſche Streiflichter.
Prinz Kraft zu Hohenlohe Ingelfingen, Aus meinem Leben. — Paul
Rohrbach, Durch Turan und Armenien. — Germanieus, Bebel im Lichte
der Bibel. — Joſeph Müller, Philoſophie des Schönen in Natur und Kunſt.
— Heinrih von Stein, Vorlejungen über Neitherit. — ©. Körting, Gedichte
des Iheaterd. — D. Verbed, Einiam (Noman).
Es war früher eine oft vernommene Klage, daß, während
Frankreich und England reich feien an Vlemoiren aller Art, in
Deutichland der empfindlichite Mangel auf diefem für die Geſchichte
344 Litteräriſche Streiflichter.
der Vergangenheit und der Gegenwart jo wichtigen Litteratur:
gebiete berrihe. Das bat ſich feit einem Menſchenalter völlig
verändert. Nicht nur Schriftiteller und Dichter, Geiftlihe und
Parlamentarier, aud Staatsmänner und hohe Militärs haben über
ihre Thätigfeit und ihre Erlebnifje mehr oder weniger umfang:
reiche Aufzeichnungen verfaßt und entweder jelbjt der Derfentlichkeit
übergeben oder zur Veröffentlihung durd ihre Angehörigen hinter:
lajjen; jelbjt von dem größten aller Zeitgenoſſen jtehen ja in
nächſter Friſt Denfwürdigfeiten feines Lebens in Ausſicht, denen
alle Welt mit Spannung entgegenharrt. Wo hervorragende Männer
jelbit feine Memoiren über ihr Leben geichrieben haben, da find
aus den Briefen und Papieren ihres Nachlaſſes ihre Erlebnijje
von naheftehender Seite dargejtellt worden, wie 3. B. in den vor:
trefflihen Denfwürdigfeiten des Feldmarjchalls Albrecht von Roon.
So treten jeßt jedes Jahr mehr oder weniger wichtige Diemoiren-
werfe ans Licht und an Stelle des früheren Mangels herricht
jetzt faſt Ueberfülle. Zu den hervorragenditen Erjcheinungen auf
diefem Gebiet find ohne Frage die Aufzeichnungen des Prinzen
Kraft zu Dohenlohe:Ingelfingen. Aus meinem Leben,
von denen zunächſt der erjte, von 1848-—1856 reichende Band *)
vorliegt, zu rechnen. Prinz Kraft zu Dohenlohe war General der
Artillerie und ift durch die von ihm geleitete Beſchießung von
Baris 1871 allgemein befannt geworden. Obgleih Militär mit
Leib und Seele nahm er, nody im rüftigjten Mannesalter ftehend,
1879 jeinen Abſchied, weil ein jüngerer General als er zum
Seneralinipeftor der Artillerie ernannt worden war, und lebte
jeitdem zurücdgezogen meijt in Dresden, wo er 1892 gejtorben ift.
Die hier veröffentlichten Memoiren hat der Prinz in den Jahren
1581— 1853 niedergelchrieben. Als militärischer Schriftfteller hat
er nicht wenige, von Fachmännern hochgeſchätzte Schriften ver:
öffentlicht, er galt als Autorität auf dem Gebiete des Artillerie:
wejens. Der Herausgeber der Memoiren, der General A. von
Teihman, darakterifirt den Prinzen Kraft als einen Dann ohne
Denichenfurdt, der rüdhaltlos jeine Meinung ausſprach, als einen
unbeugjamen Charafter, der jtets nad) den höchiten Zielen jtrebte.
Die Vlemoiren bejtätigen dieſes Urtheil vollfommen und zeigen
*) Berlin, Ernft Siegfried Mittler & Sohn. EM.
Litteräriiche Streiflühter. 34
außerdem, daß Hohenlohe ein fein gebildeter Mann, ein jcharfer
Beobachter und tiefer Menjchenfenner war. Seine Jugend und
jeine verwidelten NJamilienverhältniffe berührt Prinz Hohenlohe
nur kurz, die ausführlide Erzählung beginnt mit der März
Nevolution von 1848 in Berlin, wo der Prinz jeit 1845 als
Lieutenant der Sardeartillerie fich befand. Schon über die Gährung
in Breußen während des Jahres 1847 berichtet der Prinz mancherlei
jehr Bezeichnendes. Den 18. März und die folgenden Tage, Die
er als Mithandelnder, wenn auch in untergeordneter Stellung,
durchlebt hat, Schildert er eingehend und anſchaulich; mit drama:
tiiher Lebendigkeit jehen wir die für das preußiiche Konigthum
jo traurigen Ereignifje jener Tage an uns vorüberziehen. Des
Prinzen Erzählung gewährt dem Leſer einen tiefen Einblick in die
verzweifelte Stimmung der unbegreiflicher Weile durch Befehl des
Königs zum Verlaſſen der Stadt genöthigten Truppen, da fie eben
überall fiegreih den Aufſtand niedergeichlagen; die Macht der
Disziplin hat jich vielleicht nie jo glänzend als hier bei den vom
Pöbel beichimpften und verhöhnten Offizieren und Soldaten bewährt.
Der Prinz von Preußen war in Dielen dunklen Tagen, da der
König Sich felbjt aufgab, der Hort und Trojt der Armee, wofür
in dieſen Aufzeichnungen charafteriftiiche Zeugniſſe mitgetheilt
werden. Auch über den Wiedereinzug der Truppen unter Wrangel
im November 1848 finden fich bier interefjante Details. Obgleich
einer der ältejten und vornehmjten Familien Deutichlands angehörend
verfügte Prinz Hohenlohe nur über bejchräntte Mittel und lebte
jehr einfach. Weber das Xeben der Offiziere und die inneren
Zujtände der Armee erfahren wir viel Lehrreiches, auch manche
ihr damals anhaftenden Echattenjeiten und Mängel werden nicht
verjchwiegen; viele charakteriftiiche Figuren unter den höheren
Offizieren jener Zeit werden uns vorgeführt. Es iſt bezeidhnend
für den in der preußiichen Armee herrſchenden Geiſt, daß dem
Prinzen feine hohe Abkunft durchaus nicht zu raſcherem Avancement
half, daß er von jeinen Vorgejegten ſogar mancherlei Zurüciegung
und Ungerechtigfeit zu erfahren hatte. Zu feiner weiteren Aus—
bildung bejuchte er die Kriegsichule, von deren Chef und Lehrern
er wieder jehr unichauliche Charaiterbilder zeichnet; angenchm
berührt die danfbare Sefinnung, mit der er mehrerer jeiner Xehrer
gedenkt. Sehr viele Perſonen ziehen in diefen Aufzeihnungen an
346 Litterärifche Streiflichter.
dem Lejer vorüber, furz und flüchtig ericheint auch Bismard.
1854 wurde Prinz Hohenlohe als Berichterjtatter über die wirklichen
Verhältnifie der öfterreichiichen Armee nad Wien abfommandirt
ohne eine bejtimmte Inſtruktion zu erhalten. Sehr interejjant
find nun die Mittheilungen des Prinzen über die Wiener
BZuftände, die wahre Beichaffenheit des öfterreichiihen Heeres,
das jeinem glänzendem Rufe keineswegs entſprach, ergößlic)
und lehrreich zugleid die Darftellung, wie er ſich auf ſchlaue
und gewandte Weile alle erforderliden Auskünfte zu ver:
Ihaffen wußte, obgleih ihm von Seiten der Heeresleitung jede
Diittheilung verweigert wurde. Hohenlohe erkannte, daß ſchon
damals Preußen den Kampf mit Defterreich zuverfichtlich hätte
aufnehmen können, er durchſchaute die feindjelige und perfide Ge—
finnung der öjterreichiichen Heerführer gegen Preußen. Nur
Benedek machte eine Ausnahme, er war ein ehrlicher, aufrichtiger
Charafter und hielt einen Krieg zwiſchen Oeſterreich und Preußen
für das größte Unglüd; ein herbes Verhängniß hat gerade ihn
jpäter zum unglüdliden Führer in ſolchem Kampfe an die Spike
gejtellt. In Italien lernte Hohenlohe auch den damals ſchon
altersihwachen Nadepfi kennen und gewann einen Elaren Einblid
in die Haltung der Bevölkerung Oberitaliens Oeſterreich gegenüber.
Das Rejultat aller feiner Beobadhtungen und Wahrnehmungen war
die Heberzeugung, dab Preußen nicht eher von den Dejterreichern
für voll und gleichberechtigt angejehen werden würde als bis „wir
ihnen einmal die Jade vollgehauen hätten.” 1856 wurde Hohen:
lohe zum Flügeladjutanten des Königs ernannt und verließ darauf
Wien. Damit jchlieht diefer erjte Band. Des Prinzen harflichtiger
Beobadhtung entgeht nicht leicht eine Schwädhe der Menſchen, er
ift ein vortreffliher Erzähler, die Daritellung jtets einfah und
lebendig. Kleine Jrrthümer und Gedächtnißfehler verringern den
Werth des Buches nicht, das eine wahre Bereicherung der Diemoiren-
litteratur iſt und eine ebenjo anziehende wie belehrende Lektüre
gewährt. Ein Bild des Prinzen und eine LXebensjfizze deſſelben
vom Herausgeber, die nur zu ftreng militärisch gehalten ift, find
den Aufzeichnungen vorangejtellt. Mit lebhafter Erwartung jehen
wir dem zweiten Bande diejer Denkwürdigfeiten entgegen.
In mweitentlegene, von Europäern nur jelten bejuchte Ge:
genden Afiens, die aber gerade gegenwärtig vielfach die allgemeine
Litteräriſche Streiflichter. 347
Aufmerkſamkeit auf fih lenfen, führt uns das Bud von Paul
Nohrbad, Durdh Turan und Armenien auf den Pfaden ruf:
fiicher Weltpolitik; *) die darin enthaltenen Reiſeſchilderungen find
Ihon früher in den preußiſchen Jahrbüchern erichienen, werden
bier aber in umgearbeiteter Form dargeboten. Die Abſicht und
das Ziel feiner Reife bezeichnet der Verfaſſer im Titel des Buches
deutlich; der Kaukaſus, Samarkand, Merw und auf der Rüdfahrt
Etſchmiadſin find die Hauptpunfte feiner Darftellung. Rohrbach
giebt theils Neifeeindrüde und landichaftlihe Echilderungen, theils
politiihe Beobachtungen und Wahrnehmungen; er erfennt die
hohe Kulturmilfion Rußlands in Mittelafien volllommen an und
legt eingehend die große gelicherte Machtitellung Nußlands in
Turan dar. Dabei führt er aus, daß die ruffiiche Regierung und
ihre Vertreter es viel beifer als die Engländer verftehen die Orien-
talen zu behandeln und daß daher jene, meiſt Mohammedaner, bei
den gegenwärtigen freundlichen Beziehungen Rußlands zum Padiſchah
und Khalifen ſich die ruſſiſche Herrfchaft, die ihnen Ordnung und
Sicherheit gebracht, willig gefallen laſſen. Der Verfaſſer fieht die Dinge
doch wohl etwas zu optimijtiich an; daß unter den Mohammedanern
auch in Turan nocd immer der alte Hal; gegen die Chrijten im
Verborgenen glimmt und es nur der Aufreizung durch Fanatifer
bedarf, um große Unruhen hervorzurufen, hat noch jünaft die Er:
fahrung gelehrt. Andrerjeits ericheint ihm Englands Anſehen und
Machtſtellung in Mittelafien doch wohl gar zu jehr zurüdgedrängt.
Allerdings hat die englische Bolitif durch ihr jtetes Zurücweichen
vor Rußland und ihre jchwanfende ſchwächliche Haltung viel von
ihrem Preſtige im Drient verloren, aber Englund gebietet immer
noch über überreiche Hilfsmittel und wenn es einmal zum Ent:
icheidungsfampf um den Beſitz Indiens kommt, wird England
alle jeine Kraft und Macht aufbieten und der Sieg wird fein
leichter fein. Man darf nicht vergeilen, daß des Verfaſſers
Aufenthalt in den von ihm geichilderten Gegenden ein zu furzer
war, um die Verhältniffe genau fennen zu lernen und daß er,
was als ein nicht geringer Uebelſtand anzufehen it, die Sprache der
Devölferung der von ihm befuchten Gegenden nicht verftand. Bes
fondere Abenteuer hat Rohrbach auf feiner Reiſe nicht erlebt und
*) Berlin, Verlag von Georg Stille. 3 M.
348 Litterärifche Streiflichter.
manches rein Perſönliche, das er mittheilt, hätte ohne Schaden
wegbleiben können. Nufgefallen ift uns feine Bewunderung des
furchtbaren Menfchenichlächters Timur oder Tamerlan, dieſes echt
orientalifchen Deipoten. Uebrigens find Rohrbachs Schilderungen
recht anſchanlich, ſo namentlich was er von Samarfand und Merm
berichtet. Intereſſanter noch als der erfte ift der zweite Theil
des Buches, der des Verfaſſers Aufenthalt in Armenien, namentlich
in Etichmiadfin beim SKatholifos der Armenier jchildert; befonders
der Nbichnitt über das armenische Wolf und feine Kirche ift ſehr
leſenswerth. Rohrbach beurtheilt die Armenier viel günjtiger als
es allgemein geichieht, er erklärt ihre ſchlechten Eigenichaften nicht
mit Unrecht aus ihrer jahrhundertelangen Unterdrückung und
Nechtlofigkeit und bemerft, daß die Armenier in ihrer Heimath
ganz weſentlich fich von ihren in der fremde lebenden Yandsleuten
unterfcheiden; während diefe nur Handel und Geldgeichäfte treiben,
find jene ein echtes und rechtes Bauernvolk. Die armenilche
Kirche iſt durchaus Nationallirdhe, ihr verdanfen die Armenier,
deren Zahl ſich geaenmärtia auf drei Viillionen beläuft, die Er:
haltung ihrer Volkseinheit, wie der Verfaſſer belehrend ausführt.
Mit vollem Rechte rügt Rohrbach nachdrücklich die Gleichgültigkeit
des chriftlichen Europa geaen die entieglichen Gräuel im türfischen
Armenien, gegen die ſcheußlichen Mißhandlungen von Taufenden von
hriftlihen Männern und rauen; er berichtet von dem Schmerz
und der Klage der Armenier über diefes ſchmähliche Verhalten der
abendländiichen Chriiten. Rohrbach führt dann einleuchtend aus,
warum Rußland aus Gründen der höhern Politif den Armeniern
nicht hilft und nicht helfen kann; allerdings Icheint ‚er uns hier
wie an manchen andern Stellen des Buches etwas gar zu ſicher
und jelbitgewiß in der Darlegung der verichlungenen Fäden der
höhern Bolitif zu fein. Im Übrigen finden fih in Rohrbachs
Nude viele gute Beobachtungen und treffende Urtheile. ine
beigefünte Karte des ruſſiſchen Gebiets zwiſchen dem Schwarzen
Meer und dem Pamir dient in zweckmäßiger Weiſe zur Erläuterung
der Neifeichilderungen. Rohrbachs Mar und einfach aejchriebenes
Buch gewährt eine empfehlenswerthe Lektüre.
Die ſoziale Frage ſteht in Deutschland im Mittelpunft aller
Intereſſen. ft auch die durch Naumann hervorgerufene national:
jojiale Bewegung zum Stillitand gefommen, ift aud) die von ihm
Litterärifche Streiflichter. 349
der Sozialdemokratie weit entgegengeftredte Hand von diefer Schroff
zurüdigewiejen worden, die bei den Anhängern jeiner Richtung
herrichende Neigung das Berechtigte in den Forderungen und
Anſchauungen der Sozialdemokratie hervorzuheben und anzuerfennen,
beiteht noch immer fort. Aus diefer Anſchauung it auch ein eigen:
artiges Buch hervorgegangen, deilen anonymer Verfailer zwar fein
Anhänger Naumanns tft, fich aber doch wohlmwollend zu ihm verhält,
wir meinen die Schrift: Bebel im Lichte der Bibel. Der
Sozialismus und die Frau in Vergangenheit, Gegenwart und
Zufunft von Germanicus.*) Der erjte, zumächit vorliegende Theil
behandelt den Sozialismus überhaupt nad) feiner wirthichaftlichen
und politilchen Seite, der zweite wird dann wohl die Stellung des
Sozialismus zur Frau erörtern. Der Verfailer ijt ein überzeugter
Ehrijt und ein Mann von echt fonfervativer Gefinnung, trogdem
geht er in feinem Bejtreben das Berechtigte im Sozialismus
anzuerfennen, jehr weit; er it ein Bemwunderer und Verehrer
Bismards, troßdem ift er mit deilen Haltung in den fozialen
Fragen vielfach nicht einverjtanden umd ein entjchiedener Gegner
aller Ausnahmegeſetze; er Steht feit auf dem Boden der Bibel
und findet doch in Bebels höchſt unchriftlichem, frivolem Buche
„der Sozialisnus und die Frau” viel fittlichen Ernſt, väumt ihm
überhaupt eine viel zu große Bedeutung ein. Dieje Gegenſätze,
ja Widerjprühe in den Anjchauungen des Verfaſſers finden darin
ihre Erklärung, daß nad) jeiner Neberzeugung die Bibel durch und
durch ſozial ift und im Chrijtenthum alle fozialen Forderungen ver:
wirflicht werden. Die Ehrlichfeit und Aufrichtigfeit, der religiöfe
und fittlidhe Ernjt, die echt patriotische und monarchiſche Sefinnung
des Verfaljers berühren jehr angenehm und der wahrhaft deutiche
ideale Geijt, der in dem Buche weht und in vielen Bemerkungen
und Ausführungen hervortritt, macht einen erfreulichen Eindrud.
Doch erregen viele Stellen der Schrift lebhaftes Kopfihütteln
und wir glauben, daß der Verfaſſer weder bei den Sozialdemo-
fraten noch bei den Sapitaliften und Negierungsmännern Anklang
finden wird. Er behandelt Bebels unbewiejene und willfürlich
aufgeitellte Süße oft als ausgemadte Wahrheiten und fommt
dadurch nicht jelten zu bedenklichen, jehr anfechtbaren Konjequenzen.
*) Yeipzig, A. Deichertiche Berlagsbuchhandlung Nachfolger. 2 M. 60. Pf.
350 Litterärifche Streiflichter.
Uud doch hat der Verfalfer ein klares Bewußtſein von dem Grund:
unterichiede zwiichen feinem und dem fjozialdemofratiichen Stand:
punft, denn er jagt: was uns trennt it, daß die Sozialiften
religiös Atheiften, ethisch Nihiliften, wirthichaftlih Hommuniften,
politifch Nepublifaner find. Das hindert ihn aber nidt in dem
Soztalismus die größte chriftliche Revolution des 19. Jahrhunderts
zu erbliden, mobei er allerdings in der Sozialdemokratie die Ber:
zerrung chrijtlicher Gedanken findet. Sermanicus Grundüberzeugung
faßt fih in dem Satz zufammen: Wer Chrift ift, ift fozial, ein
jedenfalls ſehr anfehtbarer Ausſpruch, denn ficherlich wird er Dod)
nicht allen Chriften, die nicht feinen Standpunft theilen, das
Chriſtenthum abiprechen wollen. Der Verfaſſer richtet viele ernite,
beherzigenswerthe Mahnungen an die Befigenden und Negierenden,
er hebt mit Necht hervor, daß das Bewußtſein der Verantwortlichkeit
gegen Gott und Dienichen in den höhern Kreilen des Volfes ge:
ſchwunden jei und bemerkt ſehr wahr: in refigiöfer Beziehung
denken die höhern Stände nicht viel anders als die Gozialdemo:
fraten. Wir find mit feiner Ausführung nach diejer Eeite, feinen
Marnungen und Klagen ganz einverftanden, aber warum richtet
er fie nur an die Befigenden? Warum wendet er fich nicht ebenfo
entjchieden gegen die Sozialdemokraten, die der nachdrüdlichen
Mahnungen und des ftrengen Tadels doch wahrlich) nicht weniger
bedürfen? Das it eine große Einfeitigfeit, deren ſich die meijten
chriftlichen Sosialiften gegenwärtig ſchuldig machen. Der Verfaſſer
geht in der Anerfennung der Wünfche und Forderungen der Sozial
demofraten viel zu weit, er beruft fich dabei ftets auf die Bibel,
vergißt aber, dab die heilige Schrift ebenſowenig ein Lehrbuch
der Sozialmiljenichaft wie der Naturkunde ift, jondern Gottes
Offenbarung darüber entyält, was dem Menschen zu feiner Bes
fehrung und Seligfeit notthut. Bei allem, was wir ablehnen und
dem wir mwiderjprechen müjlen, folgt man dem Berfafler doch mit
Theilnahme und Intereſſe; er iſt ein Idealiſt und Optimift, aber
ein Dann voll echter Menſchen- und Nädjitenliebe, der herzliches
Erbarmen mit den Armen und Elenden fühlt. Germanicus läßt
nur die harte Wirflichfeit zu oft aus den Augen und vergißt, daß
in diefer Welt der Sünde feine vollftommene Organifation ber
Sejellichaft, feine befriedigende Ausgleihung zwiſchen den Reichen
und Armen möglich ift. Nur wenn der Geijt des ChrijtentHums
Litterärifche Streiflichter. 351
wieder in den Bölfern lebendig werden wird, ift wahre und ge
deihliche Ummandlung dev ſozialen Verhältniffe zu erhoffen. Des
Verfaſſers Darjtellung it feine fireng folgerichtig ſich entwidelnde,
ſondern mehr aphoriftiich, oft vom Thema abjchweifend; er jtellt
feine Gedanfen mehr hin, als daß er fie beweiſt, ijt mehr anregend
als erichöpfend. Aber das Buch enthält viele treffliche Aus:
führungen, tiefe echt chriftlihe Gedanken und zeugt von den
mannigfachen Kenntniſſen des Verfaſſers; es iſt durchaus lejens-
werth, aber mit aufmerfjamer fritifcher Prüfung.
Wieviel iſt nicht Schon über das Schöne in Natur und
Kunft geichrieben worden, wie viel Verjuche find nicht Schon gemacht
worden, das Weſen der Schönheit zu ergründen und zu erklären!
Feder fühlt, was ſchön ift, und doc ift es jo ſchwer das Gefühlte
in Worte zu fallen. Die Aeſthetik ift befonders in Deutjchland
während der Epoche der großen Denkſyſteme als ein wichtiger Theil
der Vhilofophie ausgebildet und entwidelt worden. Ter legte und
größte Vertreter der Spefulativ:philojophiichen Behandlung der
Aeſthetik war Friedrich Viſcher; die ftreng ſcholaſtiſche Form feiner
Lehrjäge hat den ganzen in feinem groben Werfe aufgehäuften
Reichthum von feinen und geiftreichen Beobachtungen und trefflichen
Ausführungen, die ganze Gedanfenfülle des Autors nicht völlig
zur Geltung fommen laſſen. Seitdem find mannigfache Verſuche
gemacht worden der Aeſthetik eine völlig neue Grundlage zu geben,
man hat fie von rein empiriihem Standpunft aus behandelt, fie
induftiv nach naturwiffenichaftlicher Diethode zu begründen unter:
nommen; es find dabei die ſeltſamſten Rejultate herausgefommen,
wahre Karikaturen deſſen, was man früher unter Nefthetit begriff.
Heute liegt uns ein neuer Verſuch einer Aefthetif vor, der ſich von
den Abjtraftionen der alten fpefulativen Aeſthetik ebenjo fern hält
wie von den Verirrungen der eraftempirifchen Methode: Joſeph
Müllers Philoſophie des Schönen in Natur und Kunft.*)
Der Verfaſſer hat fi) ſchon durch ein umfallendes Werf über
Jean Baul als ein verftändnikvoller Berwunderer und Verehrer
des großen Humoriften und als Kenner der Poeſie erwiejen. Sein
neues Buch wendet fi an alle Gebildeten, alle abjtraften willen:
Ichaftlihen Schulausdrüde find darin vermieden, die Norm der
*) Mainz, Franz Kirchheim. 5 M.
or
352 Litteräriſche Streiflichter.
Daritellung iſt Mar und allgemein verftändlihd. Wenn Müller
auch mehr auf empiriichem als Ipefulativem Boden jteht, wenn
feine Nejthetif auch mehr der formalen Richtung ſich anichließt —
das Schöne iſt Form — jo iſt feine Auffaſſung des Schönen doch
auch eine idealiltiihe, die Kunſt macht das Göttliche fichtbar.
Auf eine Kritif von Müllers Grundanihauung müllen wir bier
natürlich verzichten, jeine Stärfe liegt auch nicht fo jehr in dem
ſyſtematiſchen Aufbau und der ftrengen Durchführung eines einheit-
lihen Prinzips als in der Behandlung und Beleuchtung der ein-
zelnen Erſcheinungsfformen des Schönen in Natur und Kunſt.
Wir wollen daher einzelne Abjchnitte hervorheben, die uns bejonders
gelungen ericheinen oder gegen die wir Einwendungen zu machen
haben. Eigenthümlih find gleih Müllers Ausführungen über die
KRunftfehler in den Grundprinzipien d. h. Fehler gegen die Wahrheit
und gegen die Bildhaftigfeit; fie enthalten Fehr viel Richtiges und
Treffendes. Sehr beachtenswerth it ferner der Abſchnitt: das
Schöne und das Gute, worin der Verfaller an vielen Beiipielen
zeigt, wie wenig Einfluß die Kunſt auf die fittliche Veredelung der
Menichen ausgeübt hat und ausübt. Die Darlegungen Müllers
find wohlbegründet, aber etwas zu peilimiftiich jcheint er uns doch
von dem Einfluß der Kunſt zu urtheilen, man denke nur an das,
was die Griechen von der Wirfung, melde der olympilche Zeus
des Phidias auf den Beichauer ausübte, berichten, an die Kriegs:
lieder der Schweizer und an den Einfluß von Schillers Tramen
auf die deutiche Tugend. Sehr gut ftellt Müller das Schöne
in Natur und Kunft in feiner Eigenart gegenüber und jchließt
daran eine gedrängte Lleberficht über die Entwidelung des Natur:
gefühls von der älteften Zeit bis zur Gegenwart; er beflagt
dabei das Fehlen des echten und tiefen Sinnes für die Natur
in der jeigen Zeit, in der, wie alles, jo aud der Natur:
genuß als Sport betrieben werde. In dem Abjchnitt über das
MWunderbare jchränft der Verfaſſer die Rechte der Phantafie etwas
zu jehr ein und verwirft daher vieles in der romantiichen Poefie,
was uns durchaus ftatthaft erjcheint; er vergikt hier wie an
manchen anderen Stellen jeines Buches, daß die Nefthetif der
Kunft nicht die Gefege zu geben jondern fie vielmehr aus den
Schöpfungen der großen Dichter und Künitler zu entnehmen und darzu—
legen hat. Anziehend und lehrreich ijt weiter das Kapitel über
Litterärifche Streiflichter. 358
das Komische, das Lächerliche, den Wit, worin ragen erörtert
werden, die zu den jchwierigiten der Aeſthetik gehören. Weniger
befriedigt haben uns Müllers Auseinanderjegungen über den
Humor, in denen er die jchon früher von ihm in einer eigenen,
von uns feiner Zeit angezeigten Schrift ausgeiprocdhene Anficht
wiedergiebt. Aus jeiner Behandlung der verfchiedenen Dichtungs-
arten jeien des Verfallers treifende Bemerfung über den Noman
„das verwilderte Epos der Gegenwart“ hervorgehoben. In dem
Abſchnitt über das Drama befremdet des Verfaſſers lebhafte Ab-
neigung, beim tragiichen Helden eine fittlihe Schuld anzuerkennen,
er polemifirt heftig gegen eine folche Annahme. Doc) ift es un-
zweifelhaft ein bleibendes Verdienſt Degels dieſe tragiihe Schuld
als Erforderniß der echten Tragödie dargelegt und nachgewiefen
zu haben. Schon die Alten haben eine ſolche Schuld als noth:
wendige Rorausjegung für die ethiihe und äjfthetiiche Wirkung
des Dramas anerkannt; das Leiden und der Untergang eines
vollfommen unjchuldigen Helden fönnte feine äſthetiſche Befriedigung
und Erhebung erzeugen, müßte vielmehr peinlich und niederdrüdend
auf den Zuhörer wirken. Beifpiele aus dem wirflihen Leben
beweifen dagegen nichts, weil wir da Urſache und Wirfung nicht
vollig zu überjchauen vermögen und der Tod der Märtyrer wirft
nicht dramatiih. Es hat uns ſehr gefreut, daß Müller in dem
Abſchnitt über die Muſik entichieden gegen Danslids längere Zeit
berrichende Theorie vom mufifaliih Schönen als allein in dem
MWohllaut des reinen Tones, des bloßen phyſiologiſch wirkenden
Klanges bejtehend ſich erklärt und ihre ideale Bedeutung anerkennt.
Seine Definition, die Mufif ſei Ausdrud des ſeeliſchen Lebens ift
freilich etwas zu allgemein uud nicht begrenzt genug, denn dajjelbe
fonnte man auch von der Lyrik jagen.
Müllers Buch enthält viele originelle Gedanfen und Die
Fülle von angeführten Beilpielen zeugt von der reichen Belejenheit
des Verfallers. Er jchreibt einfach und natürlid, in der Be:
fampfung moderner Verfehrtheiten und falicher Theorien ift er
manchmal etwas derb. Gin außerordentlich reicher Stoff ift bier
in einer Echrift geringen Umfanges durdhgearbeitet und dargeltellt.
Daß Müller Ratholif ift, macht ſich nur felten bemerkbar, jedenfalls
bemeilt jeine Verehrung Göthes und feine Bewunderung Shafe:
Ipeares und Jean Pauls, daß er fein ultramontaner Fanatifer
5*
354 Litterärifche Streiflichter.
ist. Diefe Philofophie des Schönen verdient von allen Freunden
des Idealismus in der Kunft gelefen zu werden.
Einen völlig anderen Charakter als Müllers Buch zeigen die
Vorleſungen über Nefthetif von Heinrid von Stein;*) fie
find von zwei Freunden des früh verftorbenen Verfaſſers nach deſſen
Aufzeihnungen bearbeitet und herausgegeben. 9. von Stein als
eifriger und begeifterter Anhänger Richard Wagners bekannt,
hat ſich viel mit Aeſthetik befhäftigt und mehrmals über fie Bor:
lefungen an der Berliner Univerfität gehalten, die nun hier dar:
geboten werden. Es ilt fein vollftändig ausgearbeitetes Werf, das
wir erhalten, jondern zum Theil aphoriftiicdh gehaltene Auseinander:
jeßungen, die der Verfaffer felbjt gewiß für den Drud ausgeführt
und erweitert hätte. Aber auch fo wie fie find, bieten diefe Vor:
lefungen des Anregenden nicht wenig. Etein hält an der Nefthetif
in ihrem urfpünglihem Sinne als Lehre vom Gefühl feit und
entwicelt daraus ihren Inhalt und ihre Aufgabe. Der fürzere
ſyſtematiſche Theil behandelt zunächit die elementaren Grundbegriffe,
dann die äſthetiſchen Vorftellungsfomplere und Worjtellungsgebiete,
endlich die Kunft jelbit, als deren ſeeliſche Grundthatſache jo mie
des Schönen überhaupt Stein in eigenartiger Weife die Erhebung,
die Verföhnung, die Stimmung und die Mittheilung bezeichnet
und betrachtet. Diejer erfte Theil, vielfah nur Andeutungen
gebend, enthält doch manche feine Bemerfungen. Von allgemeinerem
Intereſſe ijt der zweite hiſtoriſche Theil, der eine Geſchichte der
Aeſthetik und des äjthetiichen Empfindens von der Nenaiffance bis
auf R. Wagner umfaßt. Stein beginnt mit der NRenaillance,
weil diefe erjt die Perſönlichkeit entdedt Hat und in ihr das
bewußte Empfinden des Schönen zuerſt hervortritt. Auch hier ift
vieles nur angedeutet und aphoriltiich gehalten. Zulegt folgt noch
ein lurzer Abjchnitt: Anwendungen, in dem die großen Kunſtwerke
der verichiedenen Zeiten ald Material für eine Geſchichte ausgeführt
werden. Die Gejchichte der Aeſthetik wird Leſern, denen Die
großen MWerfe von R. Zimmermann, M. Schasler und 9. Lotze
zu umfangreich und zu ſchwierig find, viel Belehrendes bieten.
Einen Theil des hier Nusgeführten hat Stein jchon früher in feinem
Buche „Die Entjtehung der neuern Aeſthetik“ eingehend behandelt.
*) Stuttgart, Verlag der J. ©. Cottafchen Buchhandlung Nachfolger. 3 M.
Litterärifche Streiflichter. 355
Driginalität und ernſte Gedanfenarbeit wird man Steins Auffaſſung
und Behandlung der Aeſthetik nicht abiprechen können, doch ift nicht
zu verfennen, daß er fich vielfad von den Anfichten und Theorien
N. Wagners beeinflußt zeigt. Diefe Vorlefungen mit ihren
techniſch wiſſenſchaftlichen Ausdrüden verlangen eine gewiſſe wiſſen—
ſchaftliche Vorbildung und ernſtes Nachdenken; Leſern, die dazu
geneigt ſind, werden ſie eine intereſſante Lektüre bieten.
An Geſchichten des Dramas fehlt es in der deutſchen wie
in anderen europäiſchen Litteraturen nicht, dagegen exiſtirte eine
Geſchichte des Theaters in deutſcher Sprache bisher noch nicht;
R. Prutz's Vorleſungen beziehen ſich nur auf Deutſchland und
ſind längſt veraltet, Eduard Devrients noch immer ſchätzbare
Geſchichte der deutſchen Schauſpielkunſt beſchränkt ſich ebenfalls
auf Deutſchland und behandelt nicht das ganze Theaterweſen. Es
iſt daher ein neues großes Unternehmen, das Guſtav Koerting
in ſeinem auf drei Bände angelegten Werke „Geſchichte des
Theaters in ſeinen Beziehungen zur dramatiſchen Dichtkunſt“
begonnen hat; bisher iſt der erjte Band,*) die Geſchichte des
griechischen und römischen Theaters enthaltend, erjchienen. Koerting's
Buc beruht auf den neueften Forihungen und Unterjuhungen der
Archäologen, doch hat er das reiche weitzerjtreute Material jelb-
ftändig durdharbeitet und bei der Benugung der Vorarbeiten jein
eigenes Urtheil fih bewahrt. Sehr zu bedauern ijt es, daß der
Verfaffer das Theater der under, Chinejen und „Japaner von
feiner Darjtellung ausgejchlofien hat; wenn es auch auf die Ent:
widelung des Theaters im Abendlande ohne jeden Einfluß geblieben
iit, jo wäre eine Darftellung des ganz eigenartig gejtalteten Theater:
wejens diefer Völker der Vergleihung und des Sontrajles wegen
doch von nicht geringem Intereſſe; vielleicht gewährt ihm Koerting
noch nachträglich einen fleinen Raum in feinem Werke. Diejer
erjte Band zerfällt in zwei Theile, der erjte enthält die Geſchichte
des griechiſchen und römischen Theaters in fortlaufender Darjtellung
ohne jede gelehrte Anmerkung; der zweite liefert dann in chrono-
logiihen, lerifaliichen, bibliographiichen Weberfichten und Ber:
zeichnilfen der Realien den gelehrten Apparat zu der vorhergehenden
Schilderung. Es liege fid wohl darüber jtreiten, ob der Ver:
*) Paderborn, Verlag von Ferdinand Schöningh. 9 M.
356 Litteräriſche Streiflichter.
faſſer nicht richtiger gehandelt hätte, Einiges aus diefem zweiten
Theile, namentlich die chronologiſchen Ueberſichten, in den erjten
Theil zu verweben. Wie dem nun aud) jei, Koerting hat jedenfalls
ein Bud) geliefert, das in feinem erjten Theile vollfommen ver:
jtändlicy für jeden Gebildeten, umfajjende Auskunft über das antife
Theater bietet und allen Theaterfreunden eine Quelle reicher
Belehrung erjichließt. Die große Verſchiedenheit des antifen Theaters,
bejonders des griechiichen, von dem modernen in den wejentlichiten
Punkten tritt dem Xejer aus Koerting’s Darjtellung ebenjo flar
entgegen wie andererjeis manche Nehnlichfeit zwiichen beiden.
Während das griechiſche Theater faſt garfeine Einwirkung auf
das der anderen Bölfer geübt hat, iſt dagegen der Einfluß des
römiſchen auf jpätere Zeiten ein mannigfacdher geweſen. Aud die
Verjchiedenheit in der Entjtehung des Theaters bei den beiden
klaſſiſchen Völkern tritt aus Koerting's Darjtellung deutlich hervor
und jo iſt denn auch die Entwidelung des Theaters bei den
Griechen eine ganz andere als bei den Römern. Die gejelljchaftliche
Stellung der Scaufpieler bei den Griechen unterjcheidet ſich
wejentlid; von der bei den Nömern; während fie in Athen eine
wenn auc nicht hochgeachtete, jo doch bürgerlich unangetajtete
Stellung einnahmen, waren jie in Nom veradtet und oft wie
Sklaven behandelt. Sehr injtruftiv ift Koerting's jtete Vergleichung
der antiten Theaterverhältniije mit den modernen. Es zeugt von
dem Ernjte jeiner Auffallung, daß er bei Beſprechung der modernen
Theaterverhältnijie den Hauptgrund der unfichern und angefochtenen
gejellihaftlihen Stellung der Schaufpieler in der in der Theater:
welt herrjchenden laren Moral erblidt und daher vom Theater:
perjonal jtrenge Sittlicyfeit verlangt, eine Forderung übrigens,
die, jo wohl gemeint fie im nterejje der Hebung des Schaujpieler-
jtandes ijt, doch zweifellos eine utopiiche bleiben wird. Munde
uns fvemdartig ericheinende Eigenthümlichleit des griechiſchen
Theaters finden in dem Verfaſſer einen gejchidten Vertheidiger,
jo die Darjtellung der weiblichen Nollen durch Männer und was
er dafür anführt, verdient volle Beachtung. Dan jtaunt über Die
Mannigfaltigkeit und Komplizirtheit der Dlafchinerie bei den Auf:
führungen der griediihen Dramen. Auch zu der vielumftrittenen
Trage nad Geſtalt und Beichaffenheit der Orcheftra nimmt Koerting
klare und bejtimmte Stellung; feine Auffaſſung jcheint uns im
Litteräriiche Streiflichter. 357
Mejentlihen durchaus begründet. Vorausgeſchickt hat der Ver—
faller jeiner Darjtellung eine längere Einleitung. Soweit fid)
dieje auf Wejen, Entitehung, Charakter des Drama bezieht, ift fie
gewiß am Pla; wenn aber Koerting diefen Auseinanderjegungen
eine längere philoſophiſche Betrachtung über den Begriff des
Schönen, Luſt und Unlujtempfindungen vorausgehen läßt, jo hat
er damit des Guten etwas zu viel gethan. Als Vorbemerkungen
zu einer Gejdichte des Dramas könnte man ſolche philojophiiche
Erörterungen noch gelten lajjen aber als Einleitung zu einer
Gedichte des Theaters erjcheinen fie uns durdaus deplazirt;
die meijten Leſer werden fie einfach überjchlagen, einige vielleicht
ſich durch fie von der Lektüre des inhaltreihen Buches abjchreden
laſſen. Eine gewiſſe Breite der Darjtellung madt ji überhaupt
bemerkbar. Des Verfaſſers Urtheil it gejund und wohlüberlegt,
aber nicht jelten etwas nüchtern. In dem zweiten Bande, der
das Theater des Mittelalters behandeln joll, wird Koerting ſich
auf dem Gebiete eigener langjähriger .Studien bewegen, man fann
daher von ihm eine wejentlihe Förderung unferer bisherigen
Kenntnifjfe erwarten. Möge er dem erjten in nicht allzu ferner
Frift folgen. Vollendet wird Koerting’s verdienjtvolles Werk ein
wichtiger Beitrag zur abendländifchen Kultur: und Xitteratur:
geſchichte fein.
Durd fein Novellenbudh: Der erjte Beite und Maria Neander
bat fih DO. Verbeck — wie wir hören, joll fih unter dieſem
Pjeudonym eine Dame verbergen — mit einem Schlage einen
hervorragenden Platz unter den Erzählern der Gegenwart erworben;
das Darjtellungstalent und die Gabe feiner und jcharfer pſycho—
logiſcher Entwidelung ließen Bedeutendes von dem Autor erwarten.
Mit nicht geringer Spannung nahmen wir daher D. Verbed’s
Roman Einjam*) in die Hand. Das Thema des Nomans ift
ein altes, oft ſchon von Dichtern und Nomanjchreibern behandeltes:
die Folgen einer von Seiten der Frau nit aus Neigung und
Liebe geichlojfenen Ehe, es kam aljo alles auf die Motivirung
eines ſolchen Schrittes und die pſychologiſche Entwidelung des
Broblems an. Die Heldin Hanna Wajenius ift die Tochter eines
Berliner Oberlehrers, der fie und ihre kranke Mutter mittellos
*) Leipzig, Fr. Wild. Grunow. 7 M.
358 Litterärifche Streiflichter.
hinterlaifen hat. Wir werden zuerſt in ein freundliches gemüth—
liches Stillleben froher arbeitseifriger Armuth eingeführt. Der
Mittelpunft des Eleinen Kreiſes ift Hanna, zu ihm gehören der
joviale Kantor Günther und der ftille verjchloffene Lehrer Nedten-
bacher, der im Herzen eine tiefe Liebe zu Hanna trägt; aud Hanna
heat innige Neigung für ihn, ohne es jelbjt zu willen. So geht
alles aut, bis die Noth hereinbridht. Der Bankier Thomas, der
der Mutter den Verluſt des Neites ihres Heinen Vermögens mit:
theilt, wird von heftiger Liebe zu Hanna ergriffen und trägt ihr
jeine Hand an. Hanna verlobt fih mit ihm aus Liebe zu ihrer
Mutter, um diejer ein behagliches Dafein zu Ichaffen und dadurch
ihr Leben zu verlängern und um alle Mittel zur Wicderheritellung
der Gejundheit des ihr theuerſten Weſens anmenden zu fönnen.
Im legten Augenblid, als es ſchon zu ſpät ift, fühlt fie, daß fie
eigentlich Nedtenbacher liebt. Tem vielverheißenden Anfang entipricht
nun der Fortgang nicht ganz. Die Mutter jtirbt bald nad der
Heirath, das Opfer iſt alfo umſonſt gebracht, das Ziel verfehlt,
Hanna hat ihr Lebensglück vergeblid Hingegeben. Nun bricht das
Unheil unaufhaltiam herein. Sie iſt zuerjt in verzweifelten
Schmerz wie erjtarrt, denn an das ewige Leben glaubt fie nicht,
bis der Pfarrer, ihr väterlicher Freund, ihr einen Brief der
Mutter bringt, worin dieſe im Gefühl nahenden Todes ihr unter
Anderem jchreibt: fei gegen Deinen Mann von ganzem Herzen
immer jo als ob ih nod da wäre. Das nimmt fie nun zur
Richtſchnur ihres Lebens und Verdaltens, verfucht es, freundlich
und herzlich gegen ihn zu fein, jcheitert aber immer wieder troß
innerer Selbjtüberwindung an Thomas vohem und egoiſtiſchem
Charakter. Er will fie zur Liebe zwingen und hat für ihr ſeeliſches
und geiltiges Leben gar fein Intereſſe und gar fein Verftändniß;
er zeigt ſich ftets launenhaft und brutal und will fie wie eine
ſchöne Puppe nad) feinem Willen lenken, fie joll nur für ihn
leben und er hat doch fein innneres Leben. Hanna bebt unmill:
kürlich vor feinen brutalen Liebfofungen zurüd und Thomas ent:
widelt fih nun immer mehr zu einem modernen Blaubart. Er
ahnt die in ihrem Herzen tief verftedte Liebe zu Nedtenbacher, er
beargwohnt und quält feine Frau aufs Naffinirtejte, hält alle ihre
alten Bekannten von ihr fern, verbietet ihr die Mufif, er nimmt
und entzieht Hanna alles, was ihr das Leben erträglich machen
Litteräriſche Streiflichter. 359
fönnte und verfolgt und peinigt fie fortwährend mit feiner wahn-
finnigen Eiferfuht. Thomas Charakterentiwidelung entipricht nicht
feinem eriten Auftreten, bei dem er als praftiiher nüchterner
Geihäftsmann von alltäglicher Art erjcheint. Hanna erträgt alles
trog der furchtbaren Qualen ihrer Seele. Hier müſſen wir einen
Fehler in der Charakterzeihnung diefer Frau Fonjtatiren. Hanna
wird durchaus nicht als ein janftes, bingebendes, weiches Weſen
geichildert, fie ericheint vielmehr von Anfang an als energiiche,
jelbjtändige, willensfräftige Natur. Wie läht es fi da verftehen,
daß fie dieſes Höllenleben aushält? Was allein ihr Verhalten
erklären würde, fehlt ihr, der chrijtliche Glaube, aus dem jie die
Kraft und die Feitigfeit entnehmen könnte in diefem Elende aus:
zuharren. Ohne ihn aber wäre für eine Frau ihrer Art nur
zweierlei möglich: der jelbjtgewählte Tod oder Flucht und Ent-
fernung von einem ſolchen Menſchen. Daß Danna feines von
beidem thut, jondern bleibt, erjcheint uns pſychologiſch falih. Am
Uebrigen iſt die Schilderung ihrer Seelenfämpfe, ihres immer
wieder ſich Aufraffens und ihrer vergeblidhen Verſuche, doch nod)
eine Harmonie mit ihrem Gatten herzujtellen ausgezeichnet, wenn
fie zuletzt auch peinigend auf den Xejer wirkt. Thomas Tod
bringt die etwas gewaltjam herbeigeführte Löſung des Konflikts.
Hanna hat ihn aufopfernd während feiner Stranfheit gepflegt und
macht fih nun bittere Vorwürfe, daß fie ſich nicht fo gegen ihn
verhalten, wie es ihre Pflicht geweſen wäre. Sie fcheint uns
darin ſich ſelbſt Unrecht zu thun, denn äußerlich bat fie ja alles
geleiftet, nur die Liebe, die fie nicht empfand, hat fie ihm nicht
bezeugt und er hatte wahrlich nichts gethan, dieſe zu erweden.
Sie zieht fih nun in die Cinjamfeit zurüd, licht alle Menjchen
und verbringt ihre Tage in Unthätigfeit und Gelbjtvorwürfen.
Das erinnert ganz an die Gräfin Irma in Auerbachs „Auf der
Höhe,” aber dieje büßt dod) eine wirkliche Schuld. Nedtenbader,
ber joeben Direktor des Gymnaſiums in einer entfernten Stadt
geworden, jucht fie auf und bejchwört fie ihm ihre Hand zu reichen.
Sie lehnt das entichieden ab, obgleich fie ihn liebt, fie dürfe es
nicht thun. Er bittet fie den Entihluß ſich noch zu überlegen, er
werde nad) einiger Zeit wiederfehren. Damit, mit der Perjpeftive
auf die mögliche Aenderung ihrer Enticheidung endet der Noman.
Bei allen Vorzügen im Einzelnen befriedigt er doch nidht. Hannas
360 Litteräriſche Streiflichter.
Charakter ift, wie jchon bemerkt, nicht Far und folgerichtig durch:
geführt, man fann Feine rechte Sympathie mit ihr haben; ihr
jpäteres Verhalten erjcheint geradezu wunderlid und unnatürlid.
Thomas ijt eine rein abjtoßende Gejtalt, die Perſonifikation des
kleinlich Böſen ohne irgend einen menſchlich anmuthenden Zug.
Auch Nedtenbaher ijt in jeiner jteifen Verſchloſſenheit etwas
undeutlic gezeichnet. Unter den NWebenperjonen ijt der Kantor
Günther mit jeiner Ehrlichkeit, feiner weltunfundigen Naivetät,
jeinem Neden jtets zur Unzeit und feinem Leben nur für und in der
Kunft eine treffliche, ergögliche Charakterfigur. Auch Nedtenbachers
Bruder und Schweiter find anziehende Gejftalten. Ganz blaß und
verſchwommen ift dagegen der Pfarrer Erdmann, der wider Willen
Theologe geworden iſt und nichts von einem chrijtlichen Geiftlichen
an fich bat, eine Figur ungefähr wie der Pfarrer in Sudermanns
Heimath. Handlung ift im Ganzen wenig in dem Roman, die
pſychologiſche Entwidelung ijt die Dauptjadhe. Das Leben, das
uns darin vorgeführt wird, ift rein weltlich und irdiſch, ein Leben
ohne Gott. Bei dem großen Talente des Berfaflers iſt Diefe
Auffaſſung und Behandlung des Lebens jehr zu bedauern. Ein
moderner großftädtifcher Geift weht durch das ganze Bud, ihm
entipricht auch die pointirte, manchmal etwas gejuchte Darjtellung,
im übrigen ijt die Form vorzüglid. Die fonjequente Durchführung
des Berliner Jargons, in dem Thomas jtets ſpricht, ijt beivunderns=
würdig; die Darjtellung erhält dadurd etivas lebendig Realiſtiſches.
Zulegt wirft aber diefe Manier zu reden doch ermüdend, man
empfindet bei ihrer jteten Miederfehr in aller Stärfe, weldye Ver:
zerrung der echten Syrache dody in dieſer raffinirten großſtädtiſchen
Redeweiſe liegt. Als Ganzes betrachtet ift der Noman fein Fort:
Schritt gegenüber den Novellen. Leſer wird er genug finden und
mit Recht, denn, was wir aud) an feinem Inhalt auszujegen haben,
über die Maſſe der Durchſchnittsbelletriſtik erhebt er ſich weit.
—*
Aus dem Briefwediel
zwilhen Viltor Hehu und Georg Berkholz.
Neue Folge.
Auch die nachſtehend mitgetheilte neue Neihe von Briefen
der beiden Freunde kann ficherlid auf daſſelbe Intereſſe aller
gebildeten Leſer in unjeren Provinzen rechnen wie die frühern.
V. Hehn iſt der eifrigere und lebhaftere Briefichreiber, was zum
Theil mit der von ihm für die „Balt. Mionatsichrift” gelieferten
Betersburger Korreipondenz zulammenhängt. Berkholz hatte ſich
in dieſer Zeit Schon mehr in Niga eingelebt, doch tritt der frühere
Mißmuth und die ihn oft beherrjchende melancholiiche Stimmung
auch in den folgenden Briefen nod häufig zu Tage. Er berichtet
dem Freunde außer über feine eigenen fitteräriichen Abjichten und
Unternehmungen über die politiſchen Ereigniſſe in den Provinzen
und ſpricht ſich mit Xebhaftigfeit über die damaligen brennenden
Tagesfragen aus, während Hehn von den Vorgängen in der
höheren Gejellihaft und in Negierungsfreifen Nachricht giebt; des
Palais Michel, der Großfürftin Helene und Frl. Edith von
Rahden's wird naturgemäß häufig gedadt. Daneben werden aud)
Fragen gelehrten Charakters zwiſchen den Freunden erörtert.
Die in diejer Zeit eifrig betriebene Berufung Berkholz's an Die
faijerliche öffentliche Bibliothek zerichlug ſich zu jeinem großen
Bedauern; man wird es aber doch als eine glüdlide Fügung
anjehen müjjen, daß er in Riga blieb. Der fosmopolitiiche
Idealismus und der von feinem praftiichen Bedenfen angefochtene
religiöje und politiiche Liberalismus der beiden Areunde tritt
in höchſt bezeichnenden Neußerungen aud hier ganz unverhüllt
zu Tage; jo find dieſe Briefe lebendige Stimmungsbilder der
berrichenden Anſchauung jener Tage.
Außer ein paar rein perlönlihe Dinge betreffenden Stellen
find, abgejehen von einigen nothbwendigen Auslaſſungen jadhlicher
Art, nur einzelne herbe und ungeredhte, aus momentaner Ber:
jtimmung bervorgegangene Urtheile über noch Lebende beim Abdruck
der Briefe fortaelallen worden.
ſe fortgelaſſ H. Diederichs.
*
*
862 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz.
Anfang 1864.
Lieber Freund!
Die dee eines Doppelheftes ijt aufgegeben, und aljo bitte
ih um eine Januar-Correipondenz. Das Heft wird dider als
gewöhnlich werden, aljo auch nicht bejonders frühzeitig erfcheinen
fönnen und jedenfalls warte ich in infinitum auf Deinen Beitrag.
Tür diejes, das Abonnement bejtimmende erjte Heft bin ich deijen
vorzugsweile benöthigt.
Der Landtag it auf den März verichoben. Die beiden
brennenden Fragen hier zu Lande find jegt: 1) das Güterbeſitzrecht,
d. h. entweder die Wiederheritellung des 99-jährigen Pfandredhts
oder ein anderer Modus der Aufhebung des betreffenden Adels:
privilegiums; 2) die Erringung der kirchlichen Parität bei gemifchten
Ehen u. j. w. In legterer Beziehung füngt fid) eine größere
Tapferkeit zu entwideln an, als bisher landesüblich gewejen. Bei
gemifchten Ehen den Kindern eine proteftantiihe Nothtaufe zu
geben, iſt ein ſchon Häufig vorfommendes Ausfunftsmittel. In
den deutichen Gejellihaftsihichten giebt es davon drei Aufſehen
machende Fälle: bei den Bauern fehr viel mehr. Der B.jdhe
Fall ift geritlicd anhängig gemacht worden und wird eine Krifis
herbeiführen. Das Hofgericht wird ſich wahrſcheinlich tapfer dabei
halten und foviel it ficher, daß die Negierung fein Erempel von
harter Beitrafung zu ftatuiren wagen wird. Der mögliche Lärm
in europäijchen Zeitungen ijt ihr zu unbequem.
In Nr. 1 des diesjährigen Dorpater Tageblatts jtand ein
Artikel über die Neligionsfrage, den die hiefige Cenjur der Rig.
Ztg. nicht nachzudrucken erlaubte und auf deſſen weiteren Effekt
— ob er 3. B. nicht dem Tagesblatt jeine Erijtenz koſtet — id)
neugierig bin. Jedenfalls würde oder werde ich in der Monatsichr.
über dieſes Thema jelbjt die verwegenften Dinge druden! Ent:
Ihuldige! über andere Gegenjtände, die ich noch im Rückhalt habe,
find in diefem Moment meine Gedanken nicht flüjfig; ich begnüge
mid aljo mit diefem Brieffragment.
Der Deinige ©. Berfholz.
Briefe von Biltor Hehn und Georg Berfholz. 363
23. Januar 1864.
Lieber Berfholz!
Mein Ianuarelaborat ift nun hoffentlich in Deinen Händen
und nicht allzuiehr unter Deiner Erwartung. Ich bin neugierig,
was Du zu meinen partbhiichen Streifzügen auf das Feld der
Provincialpolitif jagen wirft, und fürchte, Eure feine Taftif und
complicirte Strategif damit zu ftören. Ich ſpreche ja aber als
ein Fremder und aus weiter Ferne; einem foldhen pflegt man
jonderbare und freimüthige Urtheile hingehen zu laſſen. Uebrigens
belebt ſich ja der Ton auch bei Euch merklich; in dem Aufſatz
gegen W. B. in der Rig. Zeitung (von Böttcher?) habe ich zu
meiner freude beiftehende Perfönlichfeiten genug gefunden: das
wird den taumelnden, verworrenen, in die widerjprechenditen
Gedankenfyiteme fich einfpinnenden Mann zur Befinnung bringen.
Schwer miderftand ich der Verſuchung, gegen den eftländifchen
Landtag meinen Zorn und Spott auszufchütten, aber erjtens wußte
ih nicht, wieviel davon unter den localen Verhältniſſen möglich)
und nüglich gewejen wäre, zweitens durfte ich nicht allzufehr aus
der Rolle des Betersburger Correipondenten fallen. Die Herkunft
des im Feuilleton der Nationalztg. befindlichen Artifels über den
in Livland herrichenden Glaubenszwang glaube ich zu errathen.
Mehrere Deiner Briefe liegen vor mir, auf die ich Die
Antwort Schuldig bin. Du jchreibit: „Auf die Wirkung der ver:
einigten November: und Decembercorrejpondenz bin ich ſehr neu:
gierig, jo etwas ift hier zu Yande noch nicht dageweſen.“ Glückliches
Land — für Schriftiteller ein wahres Eldorado —, wo man mit
ein Baar unbedeutenden Journalcorrefpondenzen hoffen fann Auf:
ſehen zu maden und Merger und Freude zu bereiten. Du
Ichmeicheljt mir, alter Freund, oder hältft Dein Journal, da Du
jelbjt drin lebjt und webſt, für gleich wichtig auch in den Augen
aller übrigen Menfchen. Hier in Petersburg habe ich der Gorre:
Ipondenzen auch mit feiner Eilbe nody erwähnen hören, ſelbſt
Sciefner, der Alles herausichnüffelt, weiß von ihrer Eriftenz
nichts. Nur Brevern fagte mir in Bezug auf das Octoberheft:
die Correipondenz ift ja wohl von Ihnen; er fannte fie aber
offenbar nur, meil in demjelben Heft Deine Beurtheilung
Schleidens*) ſtand.
*) Baltiiche Monatsſchrift 1863, S. 365—376.
364 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz.
Für meinen italienischen Aufſatz halte ich Dich beim Wort,
d. h. Tu mußt ihn abdruden. Du haft unvorfichtiger Meife das
Schwein im Sad gefauft. Ich denfe ihn Dir im Sommer zuzu:
jtellen, damit er dann ein Paar Hefte fülle und Du ohne
Manufeript:Sorgen das Seebad brauchen oder eine Reife machen
fannft. Das Ding liegt bis auf einige Kleinigfeiten fertig und
ift Höchit langweilig. Vor einiger Zeit mußte ich bei Fräulein
Rahden in Gegenwart der Prinzeifin Wied*) Stüde draus
vorlefen: Der Abend verlief ganz in der Meife, wie Du fie
kennſt. Man machte mir Complimente über meinen jchönen Stil,
ih nahm fie für das, was fie werth find d. h. für gar nichts.
Die deutsche Prinzeffin, ein Naturfind nach hiefigen Begriffen,
mit recht viel Benfionsbildung, gefiel mir jehr wohl und ich hätte
ihr gern einen Kuß geraubt; daß fie am hiefigen Hofe, wo feiniter
Taft und maliciöfe dialogiſche Epigrammatif Erforderniß find,
gefallen fönne, bezweifle ich. Die deutichen Prinzeifinnen find
immer noch bürgerlicher, als die geringjte franzöfiiche Portiersfrau.
Frl. Nahden ift jo liebenswürdig gemejen, einen im Redaktions—
bureau von Katkoff in Moskau jeit Johren verloren gegangenen
Aufſatz für mich aufiuchen zu laffen und mir wieder zujuftellen;
als ich eines Morgens fie bejuchte, um dafür zu danfen, fragte
fie mid) zum Schluß, ob es mir Vergnügen mache oder nid,
Abends zu ihr eingeladen zu werden? Ich möchte mit freijter
Aufrichtigfeit antworten, ganz die reine Mahrheit jagen. Ich
ftand in der ungeheuerjten Verlegenheit da, war aber doch zu
ſchwach zu antworten: laffen fie mich in Ruh, das gefällt mir
am meiften, und ftotterte allerlei unbeſtimmte Nusflüchte. Vielleicht
hat fie mich verjtanden, denn ich habe jeitdem feine Einladung
erhalten. Oder vielmehr — fie bat mich doch nicht verjtanden.
Mein allergeheimjtes Bemwußtfein jagt: fie follte mich jo lange
mit gewaltiamem SHeranziehen quälen, bis die Sadhe mir bequem,
gewohnt, leicht geworden, dann würde id gern fommen und gewiß
viel Nußen und Vergnügen davon haben. Ich merke es durch,
daß fie ein herzensgutes Gejchöpf iſt, daß ich ihr Freund werden,
daß der Schaß ihrer Erfebniffe und Erfahrungen mich bereichern
*) Die jehige Königin Elifabetb von Rumänien, als Schriftitellerin
unter dem Namen Carmen Syldba allgemein befannt,
Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 365
könnte. Wie würde ein Anderer dieſe gebotene Gelegenheit
ergreifen! Daß id) es unterlaffe, ſpricht ebenjo jehr für mich als
gegen mid).
Ich habe Dir fchon einmal Berg*) zu meinem Nachfolger
vorgeichlagen und weiß nicht, warum Du den Verſuch nicht machen
willft. Ich würde gern den Unterhändler abgeben. itelfeit, der
Heine Geldgewinn, Luft ſich zu verfuchen find ebenjo viel Motive,
die den Mann zur Annahme bejtimmen würden. und, der viel
Befanntichaften in höhern und diplomatischen Girfeln bat, iſt
ſchon jegt Gorreipondent mehrerer Blätter, auch der Augsburger
A. 3. und joll die Feder mit Gemwandtheit führen: ſollte man
nicht auch mit dem ein Erperiment machen, das ja zu weiter
nichts verpflichtet? oder mit Minzloff? Auf meine Mitarbeiterichaft
ift Schwerlich noch lange zu rechnen. Der monatliche Tribut jtört
mich in MWichtigerem und die Vorbereitungen nehmen mir zu viel
Zeit und zerjtreuen mich. Daß Du jelbjt auch garnichts lieferſt
und nicht durch Fleine Beiträge den Anhalt manigfacher madjit,
ift Sträflich, unverzeihlih, Sünde wider den heiligen Geijt. Dein
Griffel ift Scharf, Dein Geift flar, Deine Bildung meit und tief
— warum läjleit Du die Zeit verjtreichen, worüber brüteft Du?
Menn fein anderer Grund, jo follte Did) der Ehrgeiz treiben.
Daß Bötticher Deine Faulheit oder Verzagtheit duldet, wundert
mid; er jollte alle Neizmittel brauchen, die ihm zu Gebote jtehen.
Du willit, was Du machſt, zu aut machen, bedenkſt aber nicht,
wie ephemer ein Nournalheft ift, wie bald es vergeflen wird und
daß daher der Zufall walten muß, der das Gejchriebene einmal
gelingen, ein ander Mal mißlingen läßt. An dem einen und an
dem andern liegt nicht viel — nur die Hände regen, nur Die
Drehorgelmelodie derielben Grundſätze immer wieder aufipielen,
bis fie den Leuten zulegt im Ohre bleibt.
Weiß der treue Eckart von der rig. Zeitung, daß ich der
Gorreipondent bin? Ach erfläre mir aus diefem Umſtand den
Weihrauch, den er mir ftreut.
Verfäume nicht, mir bald zu fchreiben, die Antwort foll in
Zufunft nicht jo lange ausbleiben. Grüße Müller recht herzlich
*) Carl Ernit v. Berg, damals am botanifchen Garten in St. Petersburg
angeitellt.
366 Briefe von Vektor Hehn und Georg Berfholz.
und fage Bod, daß ich jehr beihämt bin, ihm zwei Mal meine
Karte geſchickt zu haben: mein elender Kopf hatte die erite Sendung
total vergeſſen.
In bewährter Freundichaft Dein V. Hehn.
Riga, d. 13. Febr. 1864.
Lieber Hehn!
Jh habe eigentlid, feinen Augenblick geichwanft in meinem
Entihlufe*), aber ich muhte doch einige Tage vergehen laſſen
bis zum Schreiben, um meiner jelbjt durchaus ficher zu fein. Ich
fann nicht von bier wieder abziehn, wenigitens nicht auf den
Sturz, ih bin zu jehr engagirt. Die Monatsjchrift zwar würde
mir wenig Sfrupel verurſachen, dejto mehr aber die Stadtbibliothef.
Ih habe darin die frühere Ordnung, zwar eine ſchlechte und nur
oberflächliche, aber doc) Ordnung, zum Theil aus den Fugen
gebracht und bin mit den neuen Einrichtungen noch zu feinem
relativen Abſchluß gekommen; ich habe für bedeutende Acquifitionen
ınamentlid durd Ankauf der Napierskyichen Bibliothef) gelorgt
und davon noch Vieles nicht einrangirt; vor allem aber habe ich
den von mir in Ausficht gejtellten und in der That notwendigen,
wenn auch nicht jährlid zu miederholenden Bericht noch nicht
geleijtet. Ein Nachfolger würde bei dem jeßigen Stande der
Dinge nicht ganz leicht fich hineinfinden, und würde ich Zeit haben
die Wahl eines Nachfolgers abzuwarten? Soll die Bibliothek unter:
deſſen ganz geſchloſſen werden? Ich würde, wenn id) jegt Niga
verließe, nit mit dem Gefühl des Schmerzes, wie einſt von
Betersburg, Jcheiden, aber mit dem der Scham, der Schuld, der
Niederlage. Damit nun ijt alles gejagt und die übrigen Motive
pro und contra fünnten unerörtert bleiben. Im allgemeinen bin
ich ſoweit, alle großen Hoffnungen und Lebensaufgaben abgedanft
zu haben und nur an zwei Dinge zu denfen: 1) die nächſte Pflicht,
2) das nächſte mäßige, insbejondere Förperlidhe Behagen. In der
zweiten Beziehung ijt nun mein Sinn vor allem auf 6 Wochen
Seebad gerichtet, mit recht viel Sonnenschein, Dünenfand und
Tannenduft; und das wäre bei einer neuen Weberfiedelung doc)
*) Die Aufforderung, an die kaiſerliche öffentliche Bibliothek zurüdzulchren,
abzulehnen.
Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 367
gewiß mieder aufzugeben, jogut wie anno 1861. Ueberhaupt
wäre meine neue Stellung bei Euch zunädjt wieder die eines
BOJBHOTPyARıiÄeH, von dem möglichjt viel Arbeit in möglichit
furzer Zeit verlangt wird, bis man fich eingepauft hat. So
wenigitens für ein Baar Jahre, und ich habe feine Jahre als
bloßes Mittel zuzujegen. An der Großfürjtlihen Stelle bedauerte
ih eben, eine halbe Sinecure leichtfinnig und zum Bejten eines
X aufgegeben zu haben. Bytſchkow hat ganz Recht, von 2000 Nub.
zu ſprechen, denn nur die Höhe des Gehalts lodt mich; aber ich
halte es für eine Yllufion, einem Boabuorpyaamiien doppelt jo
viel als den Oberbibliothefaren (bei bisherigem Etat) auswirken
zu wollen. Morgen jchreibe ich an Bytſchkow ſelbſt. Wenn es
nöthig it, entjchuldige mid) unterdejjen bei ihm. Es ijt jehr
möglih, daß ich einit nicht leichten Herzens zurüddenfen werde
an die von der Hand gewiejenen Diöglichkeiten (3. B. dann, wenn
die legte Stunde der Balt. Monatsichrift gekommen fein wird); aber
jetzt kann ich nicht anders. Ich jchreibe wohl nächſtens noch Einiges
über Diejes Thema, Dir oder Vetterlein. Die Hauptjadhe ift gelagt.
Auf Deine Februar:Eorreipondenz warte ich, jo lange Du
willſt. Ohnehin wird es mit diefem Hefte jpät werden, da einige
ungelegte Eier hineinfommen follen. Falls Dir die Sade im
Moment gar zu unbequem it, jo wünjchte ich lieber, daß Du
einen Monat ausläfjeit, als daß Du fie Dir überhaupt verleidejt.
Wenn etwas die Monatsichrift heben fann, jo find es Deine
Correipondenzen, die allmählih immer mehr Wirkung zu üben
anfangen. Und merkwürdiger Weile, ohne bisher auf irgend eine
Weiſe lauten Zorn hervorzurufen; nicht einmal bei den Dorpater
Theologen, wie id) von jemand höre, der einem ihrer Thee’s bei
Lectüre der November:December:Correipondenz beigewohnt Hat.
Ich wurde durch einen unnügen Beſuch unterbroden und
muß jest eiligjt in die Bibliothef. Fortſetzung folgt.
Der Deinige G. Berkholz.
14. Februar 1864,
Lieber Berkholz!
Wenn Du fommit, jo made Dich darauf gefaßt, daß Dein
Stand nicht jo leicht jein, daß es ohne Anfeindung nicht abgehen
6
368 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz.
wird. Auf jeden Fall fei nicht blöde in Deinen Anſprüchen und
fomme nicht anders als auf ganz bejtimmte jchriftliche Zu—
jiherungen, auf Grundlage jchriftlicher officieller Berufung.
Ich Habe dody noch eine Februarcorreipondenz in Arbeit.
Ein Baar Seiten find ſchon fertig, die mir ganz wohl gefallen.
Le mehr Friſt Du mir läßt, dejto Beſſeres fann ich leiſten.
Schreibe mir doch welches der äußerſte Termin ift. Ich bin von
jo mannigfadhen Dingen in Anſpruch genommen, daß ich zum
Zeitungslefen nicht fomme — das Haupthinderniß. Sieben
Familien, darunter Lingens, Schrends, Grünewaldts, Stundes,
haben ein Leſekränzchen mit Thee, Naſchwerk und Souper gebildet,
lauter liebenswürdige, aber nad meinem Begriff ungelehrte Leute.
Ich habe ſchon zwei Vorträge in diefem Girfel gehalten, bei
Lingen und Schrend und ſoll nächſte Woche wieder bei Stunde
mit einem dritten vorrüden. Sie find jehr dankbar und haben
mich zum Ehrenmitglied ernannt. Mir nimmt die Sache aber
mehr Zeit, als jie werth. it.
Ich warte mit Schmerzen auf einige Zeilen von Dir. Id
ſehe aus Deinem Brief an Soboltihifow, daß Tu wieder in Niga
biſt. Wie jteht es mit Deiner Gejundheit? Die meinige it
diefen Winter unbegreiflicdh gut. Ich jchreibe das dem ungewöhnlich)
milden Wetter zu.
Unveränderlid Dein alter Freund Hehn.
Riga, d. 25. Feb. 1864.
Lieber Hehn!
Beiliegend die Abſchrift eines Aktenſtückes, das Dich interefliren
wird. Soeben hat Tideböhl es mir, Jan upourenin zugeſchickt.
Müller wird es mit gutem Humor aufnehmen. — Mit dem
Februarheft ift ein unerhörtes Malheur gejchehen, das ich Bod
verdanfe. Er Hatte einen Aufſatz über die Vorgeichichte Der
Univerfität Dorpat vor — aus ardivaliihen Quellen beweijend,
daß das Verdienſt diejer Stiftung nicht allein der faijerlichen
Weisheit und Gnade gebühre, wie fejtredneriiche angelſächſiſche
Profeſſore dargejtellt, jondern zum guten Theil aud dem patri:
otifschen Eifer der baltiſchen Ritterſchaften — ihm war, ich weiß
faum warum, jchredlid) viel daran gelegen, daß diejes Opus vor
Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 369
dem Landtage gedrudt werde, obgleich erjt der Anfang, gegen 2
Drudbogen betragend, geichrieben war — auf fein Trängen und
feine Verfiherung, daß er ganz nahe vom Ende fei, gebe id)
nach, laſſe druden, während er weiter jchreibt — aber er fchreibt
und fchreibt — und es werden 51’ Bogen daraus, dazu noch
ohne Ende und mit Vertröftung auf einen zweiten Artikel. In
dem Hefte hätte höchitens noch die Petersburger Gorreip. laß.
Ih fann dem Publikum, das den Schriftiteller W. B. gar nicht
mag, ein jo conjtruirtes Heft unmöglich bieten. Einzige Nettung:
ich laſſe dieſes Mal ein Doppelheft, für Febr. und März zus
fammen, ericheinen. Folglich hat die Correſpondenz noch Zeit,
bis gegen Mitte März ungefähr, bis zum 10. wenigitens. Sch
werde Dir in einigen Tagen, oder fobald ich den Termin etwas
ficherer vorausjehen fann, nochmals darüber jchreiben.
Wann rückſt Du mit Deinem italienischen Aufſatz heraus?
Es ijt gut, daß Du Deinen Humanijten-Aufjaß wieder zurüd hajt;
auch dieſen druden wir einjt. Ich komme nämlich allmählich zu
der lleberzeugung, daß die Monatsichrift, da fie nun einmal faft
nur in den Oſtſeeprovinzen gelefen wird, gut thun wird, Die
jpecielle Landespolitit immer mehr den Zeitungen zu überlaflen
und ihrerjeits den Hebel immer mehr bei allgemeinen Bildungs:
objecten anzuſetzen. Sie würde nur um jo mehr gelefen werden
und nachhaltiger wirken. Wegen unjeres Freundes vom botanischen
Garten (Berg) bin id) Dir die Antwort jchuldig geblieben. Ich
halte ihn für einen jehr Eugen Practicus. Wenn er meine Stelle
bei der Großfürſtin gehabt hätte, was hätte er daraus zu ſchmieden
verstanden! Ferner Halte ich jehr viel von feinen herausgegebenen
Katalogen. Aber für einen Gorreipondenten halte id) ihn gerade
nicht. Indeſſen will ich es eintretenden Falles verjuchen.
Habt Ihr einen Begriff von der Polemik über Schleiden im
Dorpater Tagesblatt und der Dörptſchen Ztg.?
Middendarf fommt zum Landtag, aber ohne Stimme. Auf
die Nejultate diefes Landtages kann man wol geſpannt fein. Die
liberale Geſinnung der Herrn ift eben nicht ungeheuer, aber allerlei
Preifion ijt vorhanden, von oben und unten. Unter Anderm
wird es mehrere Petitionen geben, daß der Landtag eine folenne
Deputation in Toleranzjachen abjende.
Der Deinige G. Berkholz.
870 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz.
1. März 1864.
Lieber Berkholz!
Geſtern ift meine neuefte Sendung an Dich abgegangen.
Du wirft dem Ding anmerfen, daß ich mwidermwillig dran gearbeitet
babe und daß die alten, diesmal nur mechaniſch angewandten
Künfte nicht mehr verfangen wollen. Beim ſchließlichen Durchlefen
fam mir gleich Anfangs die Ironie bei Belpredhung des Pfand:
rechts zu grob vor; die Stelle über den zoologiihen Garten
hält V. für zu feindjelig, das über Finnland Geſagte ift ehr
ſtark und vielleicht fann die Nedaction in einer Anmerkung Hinzu:
fügen, daß, wie die Zeitungen melden, die Todesftrafe bereits ab-
geichafft ift und der förperlichen Züchtigung ein Gleiches bevorjteht;
die Polemik gegen die Nevaliche Zeitung wäre vielleiht am bejten
zu Streichen, da fie Eitelfeit des Verfaſſers zu verrathen jcheint.
Und doch war Eitelfeit nicht das Motiv, ſondern Halden nad)
Gelegenheit zu belujtigen, Furcht den Leſer zu langweilen und
dadurch dieſen flüchtigen Beiträgen ihr Hauptverdienft zu entziehen.
Vebrigens ärgert mich an der Revalſchen Zeitung ihre Bor:
nehmheit, die Miene von Euperiotät, die fie annimmt. Und doch
pajlieren ihr lächerliche Fehler genug. Dies Alles jage ih nur,
um Div zu Gorrefturen, Auslaſſungen, Zulägen u. w. Muth
zu machen und ausdrüdlih das Net zu verleihen. Fremde
Augen jehen Farer als die des Verfailers, der von lauter ent-
gegengelegten Bedenken rechts und links getrieben zulegt ganz den
Compaß verliert. Schreibe mir ein aufrichtiges Wort des Urtheile.
Daß das mitgetheilte Aktenſtück mich intereffirt hat, fannjt Tu
Dir denfen. Ich glaube, daß die Scheinbar Zürnenden, indem fte den
Verweis ertheilten, jelbjt im Herzen gelacht haben. In der Provinz
nimmt man aber jolche Zeichen der Ungnade ernfter auf als bier;
Vermweile gehören bier zum täglichen Brode der Genforen. Damit
will ich nicht fagen, daß Müller der Mann wäre, fih dadurd)
bemüthigen zu laflen, wohl aber z. B. Wilgelm Karlowitich*) und
feine Diener. Die Sache befteht aber gerade darin, mit der Preß—
behörde im täglichen Fleinen Kampf zu liegen, jie durch ewigen
Widerftand und unabläſſige Vertheidigung mürbe zu maden und
jo ſich allmählich freiere Gewohnheiten zu erobern — wie das hier
*) Der Generalgouverneur Baron Wilhelm Lieven.
Briefe von Viktor Hehn und Gcorg Berkholz. 371
zum Theil gelungen ift, — nicht aber nad) dem erjten Verweiſe
gleich die Flügel einziehn. in hieſiger Cenſor würde wahricheinlich
wegen der Ejelsohren reclamirt und jelbjt noch den Ankläger
geipielt haben, was ſich freilich aus der Kerne nicht thun läßt.
Schlimmer ift es dem Moskauer Cenſor mit dem Nunuarheft
des Ruſſkiy MWieftnif gegangen. Dort jtehen aefammelte Gedichte
von Maikoff, darunter eins: „an meinen Freund Ilja Iljitſch.“
Dies wird als Satire auf zwei allerhöchjte Perſonen nedeutet und
der Cenſor ift vorläufig eingefteeft worden. Der Dichter ift ein
franfer Mensch, der ſelbſt nicht wußte, was er mit feinem Gedichte
eigentlich wollte. Die Frage ift, ob Katkoff, aefliffentlih auf
Efandal ausgegangen ift — des Abjages wegen — oder fi
gleichfalls hat täufcheu laſſen: zum Erftern ift er fchlau genug. Er
hat mehr politifches Talent, als die übrigen Alle, ift aber ein ganz
ebenſolcher podletz.
Unſer Protektor Korff, der eine vierzigjährige Hoferfahrung
hat, ijt wieder einmal in fein eigenes Net gefallen, iſt überichlau
geweſen und hat einen tiefen Fall getan. Du weißt, daß er auf
6 Monate ins Ausland reifen ſollte. Damit nun unterdeß fein
Anderer fih auf feiner Stelle fejtjege, wählt er zu feinem Ver:
treter einen jungen 30-jährigen Mann, Namens Solsfy, Sohn
eines hiefigen Arztes, und läßt diefen an einem und demfelben
Tage zum wirf. Staatsraih, zum Staatsfecretär und zu feinem
Gehülfen mit den Rechten eines Miniftercollegen ernennen. Das
erregte gerechtes Aufſehn, alle Miniſter, die hohen arijtofratifchen
Kreife find ummwillig, der wahre Stand der Sache kommt dem
Kaijer zu Ohren. Korff wird plöglich feiner Stelle enthoben und
zum Bräfidenten des Gejegdepartement im Neichsrath ernannt d. 6.
zur Ruhe geſetzt. Dahin ift der perfönliche Doflad beim Kaiſer d.h.
der unmittlbare Verkehr mit ihm. Panin, der Schredliche und
Gefürchtete, ift Chef der zweiten Abtheilung. Er hat den Solsky
nicht einmal empfangen, jondern ihn im Vorzimmer abmweilen lajien,
als Einen, „der ihn nichts angehe.“ Korff ſoll äußerlih ganz
ruhig jein, die neue Yage als mit feinen Wünſchen ganz überein:
ftimmend bezeichnen — aber allgemein in der Stadt und bei Hofe
gilt er jebt als ein verlorener, abgeihaner Diann. Uns, deren
Schickſal an das jeinige gelnüpft ift, fann dabei nicht anders als
bange fein. Tu haft Korff noch vor Thoresihluß Deine Grati-
372 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz.
fication zu verdanfen gehabt. Danfbar müſſen mir ihm beide fein,
jo wenig wir feine Schwächen verfennen. Mein Phlegma ſchützt
mich vor Sorgen und Befürchtungen.
Die Ankunft des Groffürften Konftantin, die für den April
bevorfteht, wird auch als dus Signal zu Perſonen- und Spyitem:
wechjel angelehn. Die Einen fürchten, die Andern hoffen von ihm.
Vielleicht daß Golownins und Neuterns Stellung fich befeftigt.
Daß Tu nicht haft berfommen wollen, bedaure ich perſönlich,
fann Dir aber, Alles wohl erwogen, nicht anders als Recht geben.
Die ganze Berufung war eigentlich nichts als ein Paroli, das
dem Sobolichifoff gebogen wurde. Das Geld ift nod nit da
und wird es überhaupt fommen? Der neue Etat ijt am Ende aud)
nur eine Luftipiegelung — — —
Dein Hehn.
(Schluß folgt.)
Guns vi...
IR —— —— FEN? ER]:
Or
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BZEEZEZZLEZZZE LELTIEEIZEIZZIEEEEZEEZEZZEEZBZBZEZELI END ZU ED EGG m AU et SA:
Ans dem Briefwenjel
zwilhen Viktor Hehn und Georg Berkhol;.
Neue Folge.
(Schluß.)
Riga, d. 1. März 1864.
Lieber Hehn!
Kannft Du nicht in der nächjten Correip. wieder von Midas
ſprechen? — ohne Beziehung auf den Banf:Direftor, aber mit
Auseinanderjegung des Unterfchiedes zwijchen der Gejchichte von
den Efelsohren und der von dem Golde? Das ijt ein Vorichlag,
den ich gejtern im Slofterfeller (einem der vorzüglichiten Inſlitute
Nigas) in Gejellichaft des Cenſors Müller und Tideböhl’s aus:
gehedt habe und den Beide lebhaft approbirten. — Von dem
Doppelheft, das mindeſtens 10 Bogen jtarf werden muß, find
nun 6 jchon gedrudt und der 7. beinahe. Ich möchte aljo Deinen
Beitrag bis jpäteftens den 10. März jchon hier haben. Kannſt
Du noch früher, dejto beijer! Wenn die lumpige Druckerei (bei
der wir doch noch verblieben find) darauf eingehn kann, jo werden
wir bejondere Unfoften nicht jcheuen, um den Drucd mit ver:
jtärkten Kräften möglichjt bejchleunigen zu laſſen. Der Landtag
füngt am 9. an, und ein Aufſatz „über den Pfandbefig” iſt Ipeciell
auf ihn berechnet. In der Güterbefipfrage find — durch die
Rigaſche Zeitung, durch Bocks Elaborate und endlich durd einen
Beihluß der Nigafchen Bürgerjchaft erfter Gilde — alle politifchen
Leidenjchaften in einem bisher unerhörten Grade aufgeregt worden.
In Saden der religiöfen Toleranz und PBarität gegenüber der
874 Briefe von Vektor Hehn und Georg Berfholz.
griechiſchen Kirche giebt es verfchiedene Eingaben und Monſtre—
petitionen an den Landtag, die Beförderung des Bauerlandverfaufs
durch Neorganifation der betreffenden Bodencreditanftalten bildet
eine der ſchwierigſten Aufgaben und eine der am meilten von
unſern Junkern beherzigten, weil damit die Miöglichleit einer
litauifchpolnischen Maßregelung parirt werden fol. Dazu nod
die YJuftizreform und Anderes. Der Löwe Middendorf hat wieder
Etimme und fann mitbrüllen. Cr fommt über Petersburg und
wird am 8. hier eintreffen. Wenn nicht früher, To könnteſt Du
durch ihn die Correſp. ſchicken. Wetterlein jchreibt, daß es Deine
vorlegte iſt. Ich kann nichts Unbilliges verlangen und hoffe
auf Fortfegung im nächſten Winter. Halt Du bemerkt, daß die
Nationalzeitung Deinen Ausfall auf den baltischen Zunftzwang
entlehnt hat? Ich habe immer noch nicht auf Euren Vorjchlag
einer Behandlung baltischer Fragen in einer ruffiihen Zeitung
geantwortet und will es hiemit nachholen. Im vorigen Frühjahr,
als ich in Petersburg war, wurde ih Ichon von zwei Seiten auf
diefe Idee gebracht. 1) durch Profefior Utin, der die Ueberjegung
ins Ruffiihe und die Unterbringung in den ©. II. B. übernehmen
wollte; 2) dur Lyihin in derjelben Weiſe für den Somremennif.
Ich Hatte Luft dazu, bin aber immer nicht zur Ausführung
gefommen, und jet muß man die Entwidelung der ſchwebenden
Dinge abwarten. Ein Hauptgefihtspunft würde mir dabei die
Mitichuld des ruffiichen, Petersburger Bureaufratismus jein, als
welcher nach dem Maaß feiner Kenntnik und in bewußtem oder
unbewußtem Affimilationsbeftreben nur von zwei Ständen, Adel
und Bauern, etwas hat mwiljen wollen, die Kyumpt und mbmane
für eine Abart der Bauern haltend und daher den deutſchen
Bürgerftand, den weſteuropäiſchen tiers-Etat, bei uns nicht auf:
fommen lafiend.
Die abjtract-gelehrten Liebhabereien glimmen bei mir nur
ſchwach fort. Indeſſen möchte ich mir doc) eine betreffende Auskunft
von Dir erbitten. Du weißt wol von der Ehrentafel des Protogenes
(Boeckh Corp. Inse. n. 2058 B. 2, 1, p. 122); mas ift Die
neuejte und ſicherſte Beltimmung über das Zeitalter derjelben?
Hat nicht etwa Köhne*) der Große, als befonderer Kenner der
*) Bernhard v. Köhne, Archäolog, Numismatifer und Heraldifer, geb.
1817 in Berlin, jeit 1844 in Petersburg, 7 1856 in Würzburg.
Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 375
Olbiſchen Dinge, darüber etwas ausgemacht? ch habe feine File
damit, aber gelegentlich Tuche doch nad).
Der Deinige ©. Berkholz.
Gründonnerstag, 16. April 1864.
Lieber Berkholz!
Geftern Abend ift der alte Popoff geftorben. Unſere beiden
Direktoren, Delianoff und Bytichkoff, haben mir die Stelle an-
geboten und ich habe nad einigem Schwanken angenommen.
Mein jegiger Poſten (außeretatmähig) mit 125 R. monatlid wird
aljo frei.
Nun Hat Delianoff, darin ein Schüler der Frl. Rahden,
und ebenjo Bytſchkoff, der Dich perſönlich kennt und nad) Gebühr
mürdigt, die größte Sehnjucht, Dich wieder für die Bibliothek zu
gewinnen. Ich habe alſo officiell Auftrag, Dir die Etelle
anzubieten. Leider konnte ich heute troß wiederholter Verſuche
Fräulein Rahden, die ich in der legten Zeit viel gejehen habe, nicht
zu Daufe finden; aber ich erinnere mich, daß fie mir verfichert
hat, im Falle Deiner Ueberfiedelung hierher jtehe für Dich eine
MWohnung im Palais in bejtimmter Ausficht.
Ich Toll Dich ebenso officiell bitten, im Fall einer bejahenden
Antwort diefe telegraphiſch hierher zu befördern, damit gleich
die nöthigen Schritte beim Minifter und bei Korff gethan werden
fönnen.
Du weißt, welcher Art die angetragene Stelle iſt. Sie
ihwebt in jo fern in der Luft, als alles vom Leben Korffs und
gutwilliger Zahlung des Minijteriums des Hofes abhängt. Aber
Du wirft dennoch viel weniger Gefahr laufen, als ih. Wohnſt
Du im Palais und bleibt Dir die PBroteftion der Großfürſtin oder
auch nur ihrer Hofdamen, jo fann fein Miniſter ſich weigern Dir
Deinen Gehalt auch ferner zu zahlen. Und unterdeß jtirbt wieder
ein Mitglied der Bibliothef oder eins geht mit Penſion ab, mie
ih denn aus Muralts eigenem Diunde weiß, daß er jih um
Benfion bemüht und mit diefer nächjtens in die Schweiz zu ziehen
hofft. Die erjte Vacanz würde Di in den mmmarp bringen. Die
nädjte Arbeit, die Dir aufgetragen werden würde, wäre der
Katalog der Russica, wobei ein Ertra-Stüd Geld abfallen würde.
1*
376 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz.
Die Finanznoth it hier groß, alle Aufmerkſamkeit auf die
auswärtige Politik, wozu ich auch die polniſchen Angelegenheiten
rechne, und auf Heer, Kanonen, Rüftung u. ſ. w. gerichtet. Daß
diefe Politik alle Mittel verichlingt ift natürlich. Unfer neuer Etat
verliert in demjelben Maße an MWahricheinlichfeit des Erfolges.
Der neue Etat für die Univerfität Dorpat war vom Finanzminifter
gebilligt und durch alle Inſtanzen gegangen, da jchreibt gejtern
Reutern an Golownin, es ſei bei Aufnahme des Budgets ein fo
großes Deficit zu Tage gefommen, daß er ſein Wort zurüdziehe
und die 80,000 Rbl. nicht bewilligen könne. Auch die Univerfität
Odeſſa wird ein Entwurf auf dem Papier bleiben. Das Alles
iſt wohl zu bedenfen.
Da id gar fein Wort von Dir befommen habe, jo fete ich
voraus, daß Du Deinen Plan zu Oftern herzukommen aufgegeben
haft. Gleih nah Dftern (Dienstag Abend) reift das Palais
Michel nah Moskau.
Wie Du gefehen haft, ift meine April-Gorreipondenz aus:
geblieben. Das Ding war mir zu jehr zur Laſt geworden. Wielleicht
Ichreibe ih etwas für den Mai — vielleiht, Du fannit mit
fehlen vorläufig auch zufrieden fein. Auf meine Anträge, Dir
einen Stellvertreter zu jchaffen, wenn auch nur verjuchsweile, bift
Du nicht eingegangen. Lebe wohl. Wielleiht machſt Du Did
nad) Empfang dieſes Briefes jelbit hierher auf, jtatt zu fchreiben
oder zu telegraphiren. Unverändert
der Deinige Hehn.
Anfang 1864.
Lieber Hehn!
Den Ueberbringer diejes, Edardt, brauhe ih Dir nicht
weiter zu recommandiren. Er wünſcht aud) einige ruffiiche Größen
fennen zu lernen; daher gebe ich ihm Anweilung auf Beſobraſow
und Kawelin. Ob der Legtere zu Haufe ift und wo er wohnt,
möge Betterlein die Freundlichkeit haben Eckardt wiſſen zu laſſen,
eventuell ihn hinzugeleiten. Beſobraſow's Adreſſe mußt Du jchaffen,
oder Vetterlein bei Kawelins erfragen.
Zum erjten Dial, folang er die Monatsſchr. cenfirt, wurde
Müller bei der legten Gorreip. ängſtlich. Mit einigen unbedeutenden
Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 377
Schwädhungen wird fie doch gedrudt. Der Ausfall auf das Pfand:
recht fam mir wie gerufen, um den Eindrud einer vorausgehenden
Bötticherihen Nbhandlung zu contrabalanceiren. Das Aergſte
babe ich mir bei der Barallele Woſtokows!) mit Miklofih?) und
Dobrowjfy?) erlaubt. Es war genug, diejen Arensburger Ruhm
gegen Jacob Grimm in den Schatten zu Stellen. Mit Miklofich
hält er, alles in allem, doc den Vergleich aus. Erſterer ijt ein
gebildeter, aber faſt mechaniicher Arbeiter in dem von Grimm
gegebenen Rahmen. Woſtokow hatte mehr Genie und das Glüd,
früher geboren zu fein, um den Schmant abzufchöpfen. Zu mehr
nicht Zeit. Der Deinige ©. Berfholz.
Frühling 1864.
Lieber Hehn!
Weil ih Dir einen jehr langen Brief Schreiben wollte, fo habe
ic) feinen gejchrieben. Sept aber muß ich die Hoffnung auf Zeit
und Stimmung erjt recht aufgeben und entichließe mich daher zu
ein Baar nothiwendigen Zeilen. — In mir fieht es ziemlich) ver:
ftimmt aus. Jh mußte aud) etwas gegen die Mosf. Ztg. los:
lajjen, und es war gerade vor Thoresihluß; das Manuſkript
ging fait nah in die Druderei. Die Folge davon iſt, daß ich
dieſes Mal nicht wie ſonſt binterdrein zufrieden mit mir bin,
ſondern allerlei Ungeichielichfeiten bereue. So freilid nur im
Einzelnen, nicht im Ganzen. Aber bei einer jo wichtigen Sadıe
fommt es auch auf jedes Komma an. Scirren iſt in feiner Manier
ins Zeug gegangen; Walujew hat 8:monatlide Suspenjion des
Tagesblattes vorgejchlagen, darauf mit Lindes Abjegung vom
Genjoramt ſich zufrieden jtellen lajien. Aber was hilft’s? Der
neue Genjor (Schwabe) füngt fein Gejchäft damit an, den aller:
ſtärkſten Aufſatz durchzulaſſen. Nun ift von dem um alle Seelen:
1) Alerander Woftofow, eigentlich ein Ehſte Namens Oſtenek, geb. zu
Arensburg 1781, + zu St. Petersburg, Autodidalt, Dichter und Sprachforſcher,
Begründer der wiſſenſchaftlichen ruſſiſchen Grammatit.
2) Franz Mikloſich, der Begründer der vergleichenden Grammatik der
jlawifchen Sprachen nad) dem Mujter und im Geiſte Jakob Grimms.
3, Joſef Dobrowify, geb. 1753 + 1329, der Begründer der jlawilchen
Sprachforſchung, aud) als Hiſtoriker jehr verdient um die Erforschung der älteren
Geſchichte Böhmens.
378 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz.
ruhe, die er jucht, gebrachten Wilhelm Karlowitich alle Polemik
gegen die ruſſiſchen Zeitungen überhaupt verboten worden. Ich
bin ganz einverjtanden damit, denn was fann herausfommen? Die
Holle der Unterdrüdten iſt noch die vortheilhaftejte. Ich glaube,
dab Wilhelm Karlowitſchs Stellung nicht jehr gefichert fein mag.
Dan wird ihm vorwerfen, daß er die Provinzen nicht fejt genug
zu halten verfteht. Walujews alter Lieblingsgedanfe ſoll jein,
daß diejelben überhaupt feines Generalgouverneurs bedürfen; wenn
er das in’s Merk jegen jollte, jo find wir gründlidy ruinirt. Und
doch ijt W. unſer bejter Schuß; was würde unter einem Mini—
jterium Miliutin fein. Mer weiß, was fi) auc jegt Schon für
uns vorbereitet? Zwangsablöfung der Bauern? IyGepuckin
yupesszenis? Alle hiefigen Dinge und Stimmungen zu erzählen
und zu beurtheilen iſt wirklich zu weitläufig. Am beiten wäre es,
wenn Du herfämjt; Deine Kritif fönnte uns in Vielem helfen.
ber freilih will ih Dir das nicht zumuthen. Es iſt natürlic)
daß Tu Deine 4 Wochen in Ruhe zu genießen eilt. Zwar
würden auch hier nicht befondere Ovationen und Gajtereien Did)
beläjtigen; die Menschen find im Sommer aus der Stadt weg-
gejtoben und ich felbjt will vom 1. Juli an in Dubbeln rejidiren.
Je nahdem Du wollteit, wäreft Du entweder dort oder auch in
der verödelen Stadt ziemlich ungeichoren mit mir und Müller
und höchſtens noc einem Paar der Beſſeren. Aber immerhin iſt
es ein Umweg und vermehrte Neifebeichwer und Unruhe. Thue
nach Deiner Bequemlichkeit! Wir jehen uns dod) wol nädjtens
wieder, obgleich ich nicht weiß, wo und wie, An Muralts Stelle
it nicht zu denken; ic) kann nicht ab, und eine Stelle von 1000
Rub. pour tout tripotage ijt in meinen Jahren auch nichts
Bejonderes mehr. In WBetersburg findet ſich wol leichter als
anderwärts irgend ein Ertra, aber auf jo eine Mlöglichkeit zu
jpeculieren müßie doch der unmittelbarjte Zwang fein. Außerdem
— wer weiß, ob id) mich nicht durch die legte „Livl. Correſp.“
für Petersburg mehr oder weniger unmöglid) gemacht habe. Ich
bin nun einmal bier und werde mich an der hiefigen politiichen
Aufgabe, jo Flein fie it, verbrauchen. Selbjt mit meinen zwei
erwähnten Abhandlungen — wer weiß ob id) zu Stande fomme?
Zwar babe id) mid) gerade in den letzten Zeiten in Bezug auf die
eine derjelben ſehr vollaejogen, jo daß ich ganz reif wäre, an Die
Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 379
Ausarbeitung zu gehen. Sie hat größere Dimenfionen angenommen
und würde jet etwa heißen: Beiträge zur Urgeſchichte Ofteuropas.
Aber die nächſte Folge davon ift nur gewejen, daß id) das vorläufig
Aufgefchriebene, bis auf die betreffenden Erxrcerpte, zerrilien und
weggemworfen habe, und wer weiß, wann id) zur neuen Abfaſſung
fomme. Du mußt Div nichts befonders Großes darunter vorjtellen;
namentlich ijt der linguijtiihe Weg, den Du in Bezug auf die
finniſche Urgeichichte andeuteft, viel zu wenig von mir betreten.
Aber was gehört ſich aud) dazu? Wieviel Zeit wenigſtens. Indeſſen
habe id) auch auf meinem engern Pfade einige ausgezeichnete
GColumbuseier gefunden, von denen es mir leid thun würde fie
wieder verloren gehen zu laſſen. Beiläufig! Deine Meinuug, daß
die Ejten nad) Tacitus feine Pferde gehabt, iſt grundlos. Die
Fenni des Tacitus find die Bewohner des hohen jfandinaviichen
Nordens, welches Land von Plinius und Tacitus nach Ojten ver:
ihoben wird. Das ift eine von den Mahrheiten, die die Welt
längjt Schon weiß und immer wieder vergißt. Am genügendften
auseinandergejeßt ijt fie in Lehrbergs*) Unterfuhungen pag. 199
fgg. Ich Fünnte feine Argumente nod) verjtärfen. Ich habe eine
Neihe von Fragen notirt, die Du mir aus Büchern, die ich nicht
habe, beantworten jollit. Für jetzt laſſe ih Did nod in Ruhe,
außer mit einer: was jteht in Kuhn und Schleicher Beitr. 1858,
III, pag. 275, über die Etymologie von bog? Könnteſt Du nicht
das MWejentlichjte davon ausschreiben und mir gelegentlich zuftellen?
Beiliegend eine Anweilung von Kymmel, der fich entichuldigen
läßt, daß er jo lange Dein Schuldner geblieben. Er habe es hin:
gezogen, weil er vermittelft Amwveijung auf einen jeiner Peters:
burger Debitoren habe zahleu wollen und weil bei legteren früher
vielleicht ein Mangel an Bereitwilligfeit zu fürchten gewejen wäre.
Kt nun alles liquidirt?
An Vetterlein auf jeinen heute erhaltenen Brief baldigjt
Antwort! Ihn und Dich herzlid; grüßend
G. Berkholz.
*) Aug. Chr. Lehrberg, geb. 1770 zu Dorpat, * 1813 zu St. Petersburg,
it durch feine trefflichen kritischen Forſchungen in der älteiten Gejdichte ber
innen und Ruſſen befannt.
380 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz.
Niga, d. 20. April 1864.
Lieber Hehn!
Dieſes Dial war der Seelenfampf in dem Maße jdywerer
als im Februar, als der Antrag bejtimmter, das Geld vorhanden
und feine \ntrigue im Spiel war. Aber an den Gründen der
damaligen Ablehnung ijt nichts geändert und ich fann nidht. Ich
fühle — um es romantiidy auszudrüden — meine Ehre verpfändet.
Bei wen? eigentlich bei einem Abjtractum ; denn allerdings fümmern
fih die einzelnen Bürgermeijter, Nathsheren ze. wenig um eine
Bibliothef. Wärs ein Waifenhaus, ein Hoſpital, das läge ihnen
näher am Herzen. ber das Abſtractum, diefe materialijtifche
Handelsjtadt, hat doc, eine erjtaunliche Anjtrengung gemadt, als
fie das Bibliothefargehalt von 150 auf 1000 Rubl. erhöht; ein
MWohledler Nat hat auf mich ?/s Jahre gewartet; er hätte, wenn
ich nicht gefommen — das war wenigitens Müllers Plan — aus
dem Nuslande ein gelehrtes und arbeitiames Zubject bezogen,
das wenigitens in gewiller Hinſicht mehr geleijtet hätte, als ich je
leijten werde. Jetzt denkt niemand an Die Bibliothef, aber bei
meinem Abgange würde dod) die Frage rege werden, was id)
getrieben und ob es lohne, die 1000 Rbl. weiter zu zahlen. Kurz
ih fann nicht weggehn, ehe ich ein gedrudtes Monument meines
Dajeins gejeßt, dadurd das Intereſſe für die Sache genährt und
eine Nichtichnur gezogen habe, von der meine Nachfolger nicht
ohne Motivirung abzugeben befugt fein werden. Von der zu
hinterlajjenden äußern Ordnung ganz zu jchweigen. Es it freilidy
Har, daß die Gelegenheit nicht wiederfehrt. Nun, jo mag jie
nicht wiederfehren; ich habe mich vollfommen drin gefunden. Ich
bin jegt ſogar abergläubijcd in diefem Punkte geworden, ich babe
eine apofalyptiiche ‚eitrechnung für mich gefunden; 9 Jahre und
etwas darüber war ich in der ägyptiichen Sklaverei des Haus:
lehrerdienjtes; ebenfo lange in dem Ganaan der großen Weltjtadt
und dev Hofgunjt; ich glaube, daß id) wiederum 9 Jahre hier
mid) zu mühen habe und 1870 oder 1871 jterben werde, ohne
Benfionsbedürftigfeit. Jedenfalls muß ich mir erft in der Neflerion
zurechtlegen, daß mir die Petersburger Verhältniſſe, jobald ich
mid nur wieder hineingelebt, adäquater fein würden als die
biejigen; mein unmittelbares Gefühl oder das mit dem Alter zu:
nehmende Bequemlichkeitsbedürfniß jagt mir: nicht mehr fid) rühren,
Briefe von Biktor Hehn und Georg Berkholz. 381
nicht wieder ſich jelbjt untreu werden und nebenbei — nicht dus
Seebad in diefem Sommer aufgeben. Ein folches kleines aber
nahliegendes Opfer, wie das legterwähnte, fällt Einem oft ſchwerer
als an fich größere. Ich habe nämlich ſchon ein Haus am Strande
gemiethet, wo id) meine zwei Schwejtern den ganzen Sommer
über wohnen laſſen und jelbjt 4, hoffentlich jogar 6 Moden zu:
bringen will. Ih Hoffe davon viel für meine Gejundheit, die
fih ohnehin gebeilert hat, aber einer ſolchen Nachhülfe doch nicht
unbedürftig ift. Dort am Strande werde id) auch mein zu
dDrudendes „Monument“ aus der Rigaſchen Stadtbibliothef aus:
arbeiten, nachdem ich mir vorher die Materialien zurechtgelegt.
Da Du im nädjiten Sommer doch wohl nad Bernau gehſt, jo
verlange ich von Dir, daß Du die Reiſe diejes Mal über Kiga
madjit und ein Paar Tage bei mir in Dubbeln zubringjt. ‘Ber
Eijenbahn Hierher und von bier nad) Bernau per Dampfidirf.
Noch weniger hängt mein Herz an der Balt. Monatsſchrift, die
ih von heute auf morgen aufzugeben, feinen Anjtand nähme,
obgleich fie mid jegt mehr angenehm als unangenehm be:
Ihäftigt. Die ‘Petersburger Gorrejpondenzen haben ihr etıvas
Schwung und — coppemennoerp [Zeitgemäßheit] gegeben; ich
jelbjt gedenfe die fogenannten „Livländiihen Correſpondenzen“
(ein unglüdlicher Titel, der ſich zufällig gemacht hat und nicht
gut aufzugeben ijt) wieder aufzunehmen und eine Weile lang
allmonatlich fortzuführen. Das Ding macht mir jedes mal viel
Mühe und Efel, aber hinterdrein bin ich gewöhnlich zufrieden
damit und werde wahrjcheinlich immer mehr Leichtigfeit in dieſer
Art Production gewinnen. Die Dauptiadhe it, dab ich weiß was
ih will und das weiß ich bejonders nad dem legten livländiichen
Landtage. ch werde, wie Du es einmal verlangtejt, immer
deutlicher mit der Spradye herausfommen. Pro ordine civico*)
und die bereits gedrudte „Livländiſche Correſpondenz“ im Aprilheft
find noch jehr gemäßigt, obgleih in der Sade aufrichtig gemeint.
Für das Maiheft ſpitze ich jchärfere Pfeile. Ein günftiger Umſtand
für meine Zeitjchrift ift, dag die Nigajche Zeitung durch einige
beflagenswerte Zaftlojigfeiten jich alle Welt zu Feinden gemacht
hat. Sogar ein jo durch und durch liberaler Menſch wie unjer
*) Baltiihe Monatsichrift 1864, S. 264— 274.
382 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz.
Techniker Samjon will nichts mehr mit ihr zu thun haben. Die
Stimme der fonjt gemäßigten und allerlei Börde und Käuze nicht
ausichliegenden Monatsſchrift wird dejto nachdrüdlicher fein. Das
Langweiligſte it, daß ih auf religiöfem Gebiet protejtantiich-
rationaliftiich jein muß. Sch wäre lieber fatholiih! Aus Rüdjicht
auf die abonirenden Pajtore und weil feine Petersburger Corre—
ipondenz da war, habe id; ſogar die Entgegnung auf Deinen
YJudenaufiag im Aprilheft endlih (!) abgedrudt. Der Bajtor
Kauzmann*) war übrigens doch ein Diann von rejpectabler Courage,
wirkliche Tiefe oder Gonjequenz iſt am Ende nicht zu verlangen,
ich bin neugierig, was die von ihm gejichimpften „veactionären
Theologen” dagegen thun werden. Herr Bärens von der Nigajchen
Zeitung vergallopirte fich legtens in religiöfen Dingen, Nr. 79 im
Feuilleton über Nathan den Weilen (falls Did) das nadyzujehen
interejjiren jJollte); num hat er aud die liberalen Theologen gegen
ih. Doch was jollen Dich dieſe Winfelpreffengeidyichten interejfiren,
die auch mich nur interejfiven, weil ich mitten drin bin. Sie find
ungefähr ebenſo unwejentlich als die bei einem Katalog der Ruſſica
zu entfaltende Dlifrologie. Aber in Petersburg genoß ich auch
Schöneres oder Ewigeres, das mir hier mehr und mehr abhanden
kommt. Es war eine jonderbare Thorheit, fortzugehn, aber aus
den angegebenen Gründen kann ich nun einmal nicht zurüd. Es
macht mir das Herz fchwer, dab außer Dir aud Frl. Nahden
(wie beneide ih Dich darum, fie in der legten Zeit, wie Du
Ichreibit, oft gejehen zu haben!) und jogar auch Brevern, durch
Delianoff veranlagt, in diejer Angelegenheit mir geichrieben haben.
Erjtere überjchicfte mir zugleidy ein bezügliches Billet von Delianoff
ſelbſt. Sch habe jchon heute an Frl. Rahden telegraphirt, werde
aud; wegen des jchuldigen Danfes an Delianoff jchreiben. Wie
ih Dir ſchon einmal jchrieb: ich denfe jet im allgemeinen nur
an die nächſte Pflicht und das nächſte Behagen, und ich denke
das ijt ein Standpunkt, den Du zu würdigen weißt.
Yun nod eine Bitte! Möchteft Du nicht diejen Brief,
nachdem Du ihn gelefen und wo gehörig das Nöthige daraus mit:
getheilt, an Fräulein Rahden nad) Moskau ſchicken? Er ift zwar
nachläſſig genug, aber mit einer Breite, geichrieben, die ſchwer
*) M. Kauzmann, Zur Streitfrage über die Entwidelung der Kirche,
Balt. Monatsichrift 1864, S. 194— 218.
Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 383
fofort zu wiederholen iſt und die am beiten meinen Seelenzujtand
und meine Motive überjehen läßt. Ich glaube, es wird ihr jo
recht fein. Unterdeſſen jchreibe ihr direct einen hierauf vermweilenden
Brief. Der Deinige ©. Berkholz.
Beilage.
Vebrigens magjt Du den Brief Frl. Rahden aud) erft zu:
jtellen, wenn fie aus Moskau zurücgefehrt fein wird. Dort hat
fie an Anderes zu denfen.
Tideböhl, der Did) im Klubb zu treffen gedenkt, ift ein
feiner Kopf, auch Verfajfer des von Dir wegen der Form gelobten
Aufjages über die Neallajten.*) — Wann Ididjt Du mir Deinen
italieniichen Aufſatz?
25. April 1864.
Lieber Berkholz!
Ich brauche Dir nicht zu jagen, mit welcher Theilnahme ich
Deinen Brief gelejen babe. Es malt fid) darin der Drang der
Gefühle eines ohnehin elegiicy geftimmten Gemüthes, im Augenblid,
wo ein Scheideweg ſich öffnet und eine alte Sirenenftimme wieder
erklingt. Sch jah Deinen Entihluß voraus, ic) würdige Deine
Motive, und gebe Div ganz und in Allem Recht. Unſerer
Bibliothek anzugehören, ijt in jeßiger Zeit fein Glück. Die Herren
von der Akademie entpuppen ſich immer mehr als gräuliche Bhilijter
und Kaiſ. Ruſſ. Wirkliche Staatsräthe. In der officiellen und
Literaturwelt herricht ausjchließlih Antipolonismus mit Allem,
was damit zujammenhängt. Die frühere breite, von Sfrupeln
freie Wirthihaft, in deren Element es jo angenehm war zu
ihwimmen, iſt eimer bittern Geld: und Finanznoth gewichen.
Rechne dazu das hyperboräiſche Sumpftlima und Du haft das
Petersburger Leben, das Did hier erwartet.
Deine apofalyptiihe Rechnung ift hoffentlid nur geiftreicher
Spaß. Sonderbar, daß ich früher einen ganz ähnlichen Aber:
glauben hegte: nur dal meine Periode fürzer war und fi) auf
5 Jahre belief. Da aber in den Jahren 1856 und 61 garnichts
*) Dir Ariſis der firhlichen Neallaiten, Balt. Mon. 1864, ©. 1-43.
384 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz.
Beſonderes mich betroffen hat, fo habe ich widerjtrebend mid) über:
zeugen müflen, daß das Frühere einfady Zufall gewejen.
Mit freudiger Ueberrafhung empfange id) die goldene
Meldung, daß Dir zwei „zum Theil ſchon geichriebene” Ab:
handlungen vorliegen: zur Urgeichichte der Litauer und Letten
und zur alten Geographie Litauens und Kurlands. Eine dritte
Abhandlung möchte ich mit Dir zufammen jchreiben: „Ur: und
Kulturgeſchichte der Ejten, reſp. Finnen, erjchloffen aus der Sprade
derfelben.” Es ijt merkwürdig, wie ſich die ältejten Berührungen
der Ejten mit Germanen, Slaven, Litauern, die Völkerſtellung
dieſer nordöjtlihen Gegenden in den Namen für Kulturbegriffe
ipiegeln. Es giebt Wörter, Die nach Aſien weiſen und von den
ungetrennten Indogermanen aufgenommen jcheinen, 3. B. Todter,
Schweiter; andere, die germaniich find, aber vor der beutichen
Lautverfchiebung entlehnt, z. B. kana Huhn, kara Haber; andere,
die Jcandinavisches Gepräge tragen; noch andere, die rein jlaviich
find u. ſ. w. Dazu kommt ein jchwerwiegendes, chronologiſch be-
jtimmtes, ausführliches Zeugniß, das des Tacitus, aus dem wir
unter Anderem erjehn, dab die Eſten am Ende des erjten Jahr:
hunderts nad) Chr. den Aderbau, das Pferd u. j. w. nicht Fannten.
Ich habe Manches für diefen interejianten Gegenjtand gejammelt,
aber ein bejonders mächtiger Kultureinfluß war der der benad)-
barten Litauer — deren Sprache mir unbelannt ift, jo daß ich
nicht beurtheilen fann, was im Eſtniſchen lettiſch oder vielleicht
umgefehrt im Lettiſchen eſtniſch iſ. Und da müßteſt Du ein:
treten. Was meinjt Du zu einer jolden Dioskuren-Nrbeit und
lohnt ſichs das Ding weiter zu verfolgen? Jetzt Gloſſen zu einer
andern Stelle Deines Briefes. Ih hatte gejagt, Dein Auflak
pro ordine civieo jei zu gedrängt, und Du fügit hinzu: „Daraus
erjiehft Du meinen mangelnden Beruf zur politiſchen Schriftjtellerei.”
Du haft zu jeder Art Schriftitellerei Beruf und zwar eminenten,
und was Dir fehlt ift nichts als Entichloffenheit. Ich wollte mit
meinem Urtheil feinen Tadel, ſondern gerade das höchſte Lob
ausiprechen. Ich meinte nur: da Du nicht lauter Leſer haft, wie
mich, der ich eine joldhe Behandlung zu genießen weiß, fo ift es
Verſchwendung, Scüjjeln von purem Golde aufzutragen. Ein
Hermerer als Du hätte daraus zwei lange Artikel gemadt. Du
fährjt fort: „Mir fehlen aud allerlei Worbedingungen, ich bin
Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 385
z. B. in der hiftoriichen Literatur ungemein unbelefen.” Wieder
nur Deine Nengitlichkeit! Wer kann Alles lefen! Gebildete Leute
von unjerm Sclage erjegen durch Witterung, was Andere durch
mübjelige Autopfie nicht erreihen. Glaubſt Du, ich hätte das
Alles genau jtudirt, worüber ich mir erlaubte in den Petersburger
Gorreipondenzen ein Urtheil abzugeben? Ich horchte halb hin
und verließ mich auf mein Gefühl. Und wenn auch etwas mit
unterläuft — — die nächſte Welle verjchlingt das Richtige und
das Falſche! Journaliſtik ift emphemer und Deine Kenntnik und
Belejenheit reicht für die baltiſche Monatsfchrift taufendfach aus.
Daß wieder livländiiche Correipondenzen fommen jollen, it
eine zweite höchſt erfreuliche Nachrich.. Warum wäre der Titel
unglüdlih gewählt? Er ijt unbeitimmt genug, um für Alles Raum
zu laffen. Daß Du bei der Production Mühe und Ekel empfindet
und binterdrein zufrieden bit, ift ganz mein all und das Gejek
alles Gebärens. Dein „Monument“ aus der Stadtbibliothek
läßt mich falt. Verſchwende doch nicht zu viel Zeit und Nerven:
ſubſtanz an ſolche Banaufia. Wozu find die Nathsheren anders
da, als um einem Genie, wie Du Brot zu geben? Daß Dir der
Muth fehlt, an die Ausarbeitung gewiſſer philoſophiſcher Themata
zu geben, begreife ih; Du haft ſchon zu lange damit gezögert;
man glaubt den Schak wohl geborgen zu haben, man glaubt fich
Meifter ihn jederzeit zu heben: unterdeß aber wird er immer
leihter und verfinft zugleid immer tiefer und fängt man einmal
zu graben an, jo ift, ehe man noch an das Dietall gelangt, Die
Stunde der Weihe verflogen. Nicht einmal, — zwanzig Mal ijt
es mir jo im Leben gegangen. Werke: Gehe an feine Arbeit
unvorbereitet, aber laſſe auch Feine Idee ſich verliegen. Verdrießlich
ſtimmt mich die Nachricht, daß den Redacteuren der Rig. 3. ge:
kündigt worden. Und von wem? von einem unverſtändigen Buch—
drucker. Taktloſigkeiten habe ich in der Ferne Feine bemerkt; läſtig
war mir umgekehrt das ewige Spiel con sordino. it denn bei
uns folcher Ueberfluß an politischen Talenten und journalijtiichen
Kräften? Eine neue Zeitung gründen, ift ein jchwieriges, weit-
ausſehendes Geichäft, etwa wie einen Obſtbaum pflanzen: erjt nach
zehn Fahren fommen die Früchte. Da aud) Kapital dazu gehört,
wäre es nicht am beiten, die Rig. Zeit. dem jetigen Beſitzer ab:
zufaufen? Rege doc) das Ting an, ftiftet eine Compagnie dazu,
386 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz.
ſchafft Geld herbei. Ein bejtehendes, weitverzweigies Organ darf
eine Partei fih nicht aus Händen gehen laſſen. Dem Hermann
Samjon, mit dem ich bier über die Sache geiprodyen habe, jchienen
feine Angriffe gegen das Blatt leid zu fein, er empfand offenbar
Reue und bat mich zuleßt, Dir über die Idee des Anfaufs zu
Ichreiben, damit Du fie weiter verbreiteft.
Zu Dftern find unendliche Avancements erfolgt. Stieglig
hat die Krone auf feinen Annenjtern befommen, eine winzige
Auszeichnung, die aber die jühlanre Stimmung gegen ihn bezeichnet.
Brantwein wird hier und im ganzen Neich im ungeheuerften Maß
gejoffen, man freut ſich über die unverhoffte Einnahme und bedenft
nicht, daß in nächiter Zukunft alle übrigen Stenerquellen um jo
Ipärlicher fließen müſſen.
Schleiden iſt bier und hat eine Vorlefung gehalten, die Die
Gelehrten trivial gefunden haben, die aber dem Niveau des hiefigen
deutichen Bublifums angepaßt war. Die Alademie der Wiffenichaft
fürchtet, er werde ihr als Mitglied octroyirt werden und feindet
ihn an.
Dein Brief ift an Frl. Rahden nad) Moskau abgegangen.
Schreibe doch recht bald Deinem ®. Hehn
26. April 1864.
Lieber B.!
Da fite ich wieder und jchreibe an Did, nachdem mein
voriger Brief faum troden geworden. Deine Contreordre wegen
der Ueberfendung an Frl. Rahden Fam zu jpät, der Brief war
Ihon nah Moskau abgegangen. Ich fand nichts Anftöhiges darin,
auch wird es ihrem Herzen jchmeicheln, jo ins Vertrauen gezogen
zu werden. Du fragjt mich, ob Delianoff an Deiner Herkunft
wirflih gelegen ſei? Da ihm an garnichts in der Welt ernftlich
gelegen iſt, da er feines Aftekts, Feiner Willensregung fähig ift,
da er in afiatiicher Weife immer nur auf die Vergeblichfeit des
Menſchenlebens überhaupt zurüdfommt, jo war er aud in diefem
Fall nur das Werkzeug der beiden Hoffräulein, deren er vielleicht
einmal zu bedürfen glaubt. Er ift gebildeter als Korff, aber
Ichlaff über alle Vorftellung, ohne eine elaſtiſche Fiber. Er iſt
gutmüthig, d. h. zum Böjen zu ſchwach. Etwas Ehrgeiz und
Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 387
armeniſche Schlauheit ftedt im Hintergrunde. Mie fi) Sobolſch—
tichifoff*) zu Dir verhält, ijt mir ebenjo unklar, als Dir, Deine
wiſſenſchaftliche Neberlegenheit, Deine fittlichen Forderungen müßten
ihm eigentlih unbequem fein; andrerjeits aber fennt er Dich als
einen unfchuldigen, von perfönlichen Motiven freien, in Intriguen
neuen, alſo ungefährlihen Jüngling, der, wie er glaubt, fein
Spiel nicht durdyichaut und feine Kreife nicht ftört.
Dich amüfirt, was Du von Greiffenhagen fchreibit. Wenn
id) einen Einfluß auf die Sache hätte, jo würde ich den Nevaler
Herrn Folgendes vorftellen. Wozu Polemik, wo es fih um feinen
prinzipiellen Gegenfaß, fondern um eine bloße Reibung zum Spaß,
um Nederei handelt? Mache er ein Baar Wise in heiterm Ton
gegen mich, die wird der Cenfor doch durchlafien. Daß der Artikel
geftrihen worden, beweilt, daß Hr. Greiffenhagen die Sache zu
ernithaft genommen hat, — ja welche Sache ceigentlih? Ich weiß
es wahrhaftig nicht. Dieler Herr Cenfor Blagomeichticheniti ift
derjelbe, der in feiner Broichüre „Der Eſte und fein Herr“ fo
liberal that — gegen die Deutichen! — Die Jdee mit ejtländifchen
Gorreipondenzen ift prächtig, das ift die Art die Monatsschrift zu
heben. Empfiehl ihm einen recht lebhaften Ton: mich braucht er
garnicht zu Schonen, wenn es ihm der Mühe werth jcheint, ich
mache mir garnichts daraus.
Mit der gewöhnlichen Bitte, mein jchnelles Gefchmier feiner
Stilfritif zu unterwerfen, vielmehr durch ein gleiches zu erwiedern,
Dein alter Freund ®. Hehn.
Du jchreibft mir nie etwas über Müller — feid Ihr aus:
einander? Grüße ihn herzlichit von mir.
Den 18. Juni 1564.
Lieber Berfholz!
Es ift höchſt ärgerlich, da die Ball. Mon. den Weg von
Niga hierher jo langiam zurücdlegt. Das Aprilheft ift noch immer
das neuefte für uns und ich Tann Dir daher über Teine leßte
Eorreipondenz nichts jagen. Ich bin im Voraus überzeugt, daß fie
vortreftlich — gedanfenreich und metalliih — ausgeprägt — Jein
*) Oberbibliothekar an der K. D. Bibliothek.
388 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz.
wird und daß Dein nachträglicher Kleinmuth aus Hypochondrie
hervorgeht. Schirrens lange Antwort wird von Einigen als
Meifterftüf bewundert, ich finde fie immer noch verfünitelt.
Spaßhaft ift es, daß die Mosf. Zeitung aus den Drafeln des
Tageblatts das eigentliche Syſtem und die wahre Abficht vergeblich
herauszufinden fucht.
Deine Befürchtungen als fönnte Jwangsablöjung der Bauern,
Brovincial- yapesgenin u. ſ. w. bevorjtehen, halte ih für
verfrüht. Die Oſtſeeprovinzen haben erjtens einflußreiche Vertreter,
zweitens iſt doch Fein Aufitand vorangegangen. Aber in der
Nationalität der Bauern wird man fi ein Werkzeug für alle Falle
vorbehalten und daſſelbe ſich nicht entwinden laſſen. Gewiſſens—
freiheit it jeßt in mweiterm Felde als jemals. Ließe der Fana—
tismus fie zu, Politit würde dagegen fein. Auf die Volksſchulen,
glaube ih, wird der Angriff zunächſt gerichtet fein: man wird
verlangen, dab der Unterricht, wie in Littauen, in ruſſiſcher Sprache
gegeben werde, vielleicht daß fortan alle lettii hen Bücher, wie die
littauifchen in Wilna, mit cyrilliichen Lettern gedrudt werden u. |. m.
Die Sprade, fann man jchon jegt lejen, eignet fih als eine
halbſlaviſche vortrefflih dazu, fie hat gleichlam auf das cyrilliſche
Alphabet nur gewartet u. |. w. Neulich fand ich gedrudt Pyccko-
Maxanuckan HapoanoeTps: in dem Gompofitum drückt fich die
im Werf befindliche Schmelzarbeit gut aus.
Zu meiner Nechtfertigung in Betreff der Finnen führe ich
an, dab, da Tacitus die Finnen in einem Athem mit den Sar
maten und Wenden nennt, mir Sfandinavien natürlicher Weiſe
nicht in den Sinn fommen fonnte, zweitens daß aus feiner Nachricht,
die Veneter führten ein Näuberleben in den Wäldern und Bergen
zwiſchen Peucinen (im Südojten in der Karpathen: und Donau:
gegend) und den Finnen, der Schluß erlaubt fchien, feine Finnen
jeien das große Jumala-Volf, das von der Oſtſee quer durch
Rußland bis zur mittlern MWolga und zum Ural von der Jagd
lebte und Pferde, Häuſer und den Gebrauch des Eiſens nicht
fannte. Die von Dir angeführte Stelle Yehrbergs habe ich nad):
gelejen, finde aber dort eigentlich nur den einen Grund, die mira
feritas und foeda paupertas (zu Tacitus Zeit) paſſe nicht zu
dem Kulturjtande der Finnen und Eſten (zu Lehrbergs Zeit).
Und doch Haben beide ihr Wort für Schaf direft aus dem
Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 389
Sothifchen, für Wolle aus dem Xettifchen, für Bett (cubile)
aus dem Altnordilchen; auc) die Nusprüde für Bferd, Kupfer (das
ältejte Metall) und Pflug find des Jndogermanismus verdächtig.
Das Wort für Haus (maja) jtammt aus dem Yettifchen.*) Was
bleibt übrig als mira feritas? und brauchen wir unjere Zuflucht
in den hohen jfandinaviihen Norden zu nehmen, um Tacitus
Schilderung wahr zu finden?
Deine Fragmente über Jtalien ſchicke ih Dir unfehlbar von
Bernau mit dem Dampfboot. Du wirft dann jehen, ob fie ſich
für Dein Blatt eignen. Denn daß Du fie nicht etwa murrend
aufnehmejt, aus Freundichaft oder früheren Verjpredyens wegen,
darum bitte ich ernjtlih. Das Ting ift 1) an ſich langweilig,
2) für die Balt. Mon. fremdartig, 3) halb belletrijtiich, halb
gelehrt, mit lateinischen und griediichen Citaten, alfo nicht Fiſch,
nicht Fleiſch. Zugleih jo lang, daß es durch wenigjtens drei
Nummern geht. Webrigens ijt das Ganze zu jo verjchiedener Zeit,
mit wechlelndem Intereſſe zulammengeftoppelt und dann wieder
durch Ueberarbeitung jo künſtlich zu jcheinbarer Einheit gebracht
worden, daß ich felbit alles fichere Urtheil darüber verloren habe
und Deine Hritif erwarte. — Ueber den mir gemachten Vorjchag,
Neijebegleiter in Jtalien zu fein, fchreibit Du fein Wort — Nbficht
oder Vergeplichkeit? Warum läßt Du mich mit Deinem Rath und
Deiner Erfahrung im Stih? Wahr ift freilid, dab das Neden
bei einer Sache, die ficherlid nicht zu Stande fommt, doch ver:
geblich ift. Lieber wäre es mir natürlid, wenn die dee dort
aufgegeben wird, als wenn ich der Verweigernde bin.
Vorftehendes Blatt hatte ich geitern vollgejchriebeu, da leſe
ich Heute einen Artikel im Denj, der meine Vorausfagungen be:
ftätigt. Es find Klagen eines Eſten über Bedrückung — nicht
politiich bürgerlicher Art, jondern Bedrückung durch Deutichthum,
deutiche Sprache, gewaltſame o6ubmeuenie; lauter freche Lügen
oder perfide Halbwahrheiten, verfaßt wahrjcheinlich von irgend einem
rulfiichen Lehrer oder Beamten in den Oftieeprovinzen. Die Mos—
fauer Zeitung nimmt den Artifel auf und fügt Hinzu, fie habe
*) Zu dem hier Bemerkten ift Thomfens epochemachende Arbeit: Beröringer
mellem de finske og de baltiske Sprog, Kopenhagen 1890 zu vergleichen,
durd die Hehns Annahmen theils berichtigt theils beitätigt werden.
7
⸗
890 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz.
ähnliche Artifel von Letten befommen, fie aber nicht aufgenommen,
um die Verfaller nicht Verfolgungen auszufegen! Jener
Eſte im Denj jagt, wenn fein Volk einmal auf dem Wege einer
fremden Sprache ſich bilden follte, To ſei die ruflifche, die all:
gemeine Reichsſprache, dazu paflender, als die deutſche, u. ſ. w.
Noch niemals war die Yage der baltischen Yänder eine fo
gefahrvolle als jegt! Der Kaukaſus ift unterworfen, Polen gründlich
gebändigt, Finnland arm, hungernd und vorläufig nad Hauſe
geſchickt. Und die Landtage, die nichts oder jo gut wie nichts
gethan haben! Noch immer glaube ich, daß liberale Reformen,
und zwar in kühnem unbejchränfterm Geilte, das befte Mittel
gewejen wären, den Sturm zu beichwören. Die papiernen Frei:
briefe find nur in den Augen von Stubengelehrten, die die Welt
nicht kennen, oder von frommen politiichen Kindern eine Schußwehr,
in Wirklichkeit find fie ein Spielwerf und noch weniger.
Dein Wedel it realifiri und der Erlös mit Vetterlein
getheilt. ch reife zu Johanni nach Pernau, dahin erbitte id)
Deine Antwort. Laſſe fie nicht wieder fo lange ausbleiben.
In alter Freundichaft Dein V. 9.
Bernau, 24. Juli 1864.
Lieber Berkholz!
Beiliegend das verjprochene Mſer. Du wirft über drei
Fragen zu enticheiden haben: 1) der Gegenjtand zu fremdartig
oder nicht? 2) das Ganze zu umfangreich? 3) die Behandlung
zu gelehrt für den Leſerkreis der Balt. M.? Entſchließeſt Du Did)
zu der Aufnahme, jo könnte dreifady getheilt werden: Pr. 1—4,
5—7 und 8. Thu Dir im Uebrigen feinen Zwang an; fannjt Du
das Ding nicht brauchen, jo bleiben mir ja immer nod) Auswege
genug. Cine neunte Nummer ift in der Subſtanz jchon fertig,
aber noch nicht ausgearbeitet; fie betrifft die italieniſche Sprade
und würde halb geiftreih, halb philologiich ausfallen, natürlich
auf dem Grunde von Diez und ‘Bott. Füge ich) dazu noch ein
Nachwort, das ich auch ſchon im Kopfe habe, jo würde das Ganze
ein Bücelchen geben, nicht Ichlechter als jo manches Andere, was
gedrucdt wird. Einen paſſenden Titel will id) mir noch ausdenfen.
Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 891
Deine Antwort erbitie ich mir nad Petersburg — da mein biefiger
Aufenthalt zu Ende läuft —, To wie eben dahin das Manufcript
bei erjter Neife:Selegenheit, im alle es Dir nicht zuſagt. Wie
id) aus einer Inhaltsanzeige in der Nigiichen Zeitung ſehe, haft
Du ja einen neuen Petersburger Correipondenten, ich bin jehr
neugierig auf die Art, in der diefer das Ding angreift; jo wie
darauf, ob ich den Namen des Mannes errathen werde. Deine
Antwort an die Moskauer Zeitung im Maiheft ift ausgezeichnet,
würde: und gedanfenvoll, und zugleich wie far im Vergleich mit
dem gemwundenen und orafelnden Halbdunfel Schirrens im Dorpater
Tagesblatt! Einzelne Stellen freilih mußte id) beim Genuß des
Ganzen bei Seite laſſen 3. B. das Rechenexempel, wonach jo und
jo viel Millionen Köpfe die entiprechende Anzahl Genies geben
müffe, ohne Rückſicht auf die Qualität der Köpfe. Doch vielleicht
waren das nur Ddiplomatilche Gonceffionen und vielleicht gehört
eben dahin die angenehme Ausficht, die Du uns eröffneit, nad)
vier bis fünf Generationen — warum gerade jo viele — moskowitiſch
zu werden? In Summa, das Mihtrauen, mit dem Du in einem
Briefe von diefer Deiner Arbeit ſprachſt, iſt ganz ohne Grund.
Das hätte Keiner beſſer gemadt. Noch hat ſich der veriprochene
Nevaler Correipondent, Greiffenhagen, nicht hören laſſen. In
Neval hörte ich von ihm, er jei ein Schüler Stahls, ein frommer
Ehrift, feudal gelinnt, und der Liberalismus der Nev. Zeit. nur
Stadtbürger-Empfindlichfeit gegen den Adel, alſo gleichfalls ſtändiſchen
Urſprungs.
Von Frl. Rahden habe ich bis auf den heutigen Tag keine
Zeile. Die Zeitungsnachricht, daß die Kaiſerin einen Ausflug nad)
Italien maden werde, läßt mich hoffen, dab die Großfürftin
ihren Reifeplan geändert und ic) aus dem Spiele bleiben werde.
Ich lebe Hier ſybaritiſch, ganz in einem jchönen Garten, unter
Blumen und Bäumen, bin nach Herzenslujt dumm und faul, und
fämen nicht jo viel Falte, regneriiche Tage dazwilchen vor, jo
würde mir garnichts fehlen. Ic hoffe, Dubbeln wird Dich ftärfen
und erfriichen. Als Briefichreiber fann ih Di aber garnicht
mehr loben; zur Zeit als ich noch Monats-Mitarbeiter war, da
erhielt ich zum Lohn häufig ein Blatt von Dir; jetzt läßt Du
mich laufen und vergeblich auf Antwort harren. Auch Vetterlein
in Petersburg ift jtumm und hält jein Wort nicht.
2*
892 Briefe von Beltor Hehn und Georg Berkholz.
Lebe wohl, erjchrid nicht allzufehr vor dem dien Mſer.,
das Du durchftudieren jollit, und jchreibe bald
Deinem alten Freunde V. Hehn.
St. Peteräburg, Mittwoch Abend, d. 12. Auguft 1864.
Lieber Berkholz!
Meine Sendung nebjt Brief haft Du doc wohl erhalten?
Ich warte mit Ungebuld auf Dein Urtheil und irgend eine Ent:
Iheidung. Erjt dann fann ich wieder an eine bejtimmte Arbeit gehen.
Deine Antwort an die Moskauer Zeitung hat, jo weit id)
einfichtsvolle Leute babe urtheilen hören, ungetheilten Beifall
gefunden. Im biefigen Höchjten Divan ijt darüber Berathung
gepflogen worden und man hat bejchloiten, die Genforen anzu:
weiſen, feinerlei Erwähnung oder Widerlegung des Artikels in
ruffiihen Blättern zuzulaſſen. Du weißt, daß die rujfiihe St.
Petersb. Zeitung noch das einzige unabhängige unter den hiefigen
Blättern war und dab es deßhalb unermüdlih von der Genjur
verfolgt wurde. Nun bat man dem Nedacteur Korich (Bruder
der Frau Kawelin) plötzlich unterjagt, die ausländiichen Blätter
cenjurfrei zu beziehen, was doch allen übrigen Nedactionen geitattet
it. Auf feine Beſchwerde hat er zur Antwort erhalten, die
Haltung eines Journals jei mißliebig; wolle er mit der Regierung
gehen, jo werde man ihm dieſen und nod andere Vortheile zu:
geitehn; in Nebenfachen wolle man ihm freie Hand laſſen, aber in
wejentlihen Fragen (Kpynuble Bonpoert) verlange man Überein:
fimmung; jo dürfe er 5. B. in Agrarangelegenheiten nicht gegen
die Mosfauer Zeitung auftreten, die die Anfichten der Regierung
darjtelle u. j. w. Korſch iſt noch ungewiß, was er thun fol. Du
fiehit aber, daß Malujeff das Ding verfteht und daß ihn feine
Sfrupel plagen. Im einem nur ijt jein Regiment ſanft und wohl:
thätig: er hat fi) religiöje Freiheit auf die Fahne gejchrieben
(wie doch Jeder ein Abzeihen haben muß; es hätte aud ein
anderes fein fönnen), freilich nur in Bezug auf die Eecten Rußlands,
aber bei der Nnalogie beider Verhältniffe kommt dies aud) der pro-
teſtantiſchen Kirche und den Djtjeeprovinzen zu Gute. In den
nächſten Tagen joll wieder ein Stüd Toleranz gegen die Rasfolnifs
vor den Reichsrath kommen. — Bon Frl. Rahden iſt mir bis
Briefe von Viltor Hehn und Georg Berkholz. 393
heute feine Nachricht zugefommen. Sch bin überzeugt, daß der
Brief geichrieben worden, aber verirrt ilt. Unmöglid kann fie
nach dem direct formulirten Vorichlag die Sache ſchweigend begraben
und mid) in der Ungewißheit bangen und bangen laſſen wollen.
Von meinem Aufenthalt in Bernau ift garnichts zu melden
— darin liegt das höchjte Lob. Die Nüdreije war durch Sturm
und Regen höchſt peinvoll. Auf jeder Station nnterhielt ich mic)
mit den Poſtkommiſſären, fand aber feine Ideen vor als Anfichten
über Weg, Wetter und Erndte; Nichts von der Juſtizcommiſſion,
vom Delegirtenlandtag oder vom Privilegium Sigismundi Augusti.
In Belgien it gleichzeitig jeder Scinderfneht und Taubjtumme
voll geweſen von dem Kampf der Kirche und des Liberalismus
und dem Benehmen der Hlericalen Deputirten. Bei uns jchläft
noch Alles tief, tief. (a propos Belgien: Dort ift der Katho—
licismus mädtig in den Provinzen mit vlämiicher Bevölkerung,
der Liberalismus überwiegend in den walloniſchen Gegenden; ein
Deputirter ift gewählt worden, bloß weil er Vlame war, troß
abweichender politischer Gefinnung. So hängt der allgemeine
Bincipienfampf mit feinen Wurzeln doch wieder im nationalen
Erdreich und das Zujammenleben von Wölfern verjchiedenen
Blutes und bejonders verjchiedener Kulturberfunft ift und
bleibt ein fchwieriges Problem und nicht immer förderlid. Dod)
darüber wäre viel zu jagen.) In Neval hörte ich wieder
manches Curioſum. Die Stadt iſt wirflid ein Pompeji des
Mittelalters. Sie bauen jept zwei eſtniſche Kirchen gleichzeitig,
beide fich gegenüberliegend, die eine gehört dem Dom, die andere
der Stadt. Beide find arm und man fürdtet, der Bau werde ins
Stoden fommen, aber vereinigen wollen fie ſich nicht, erboßen fid)
vielmehr immer mehr gegen einander. Der Häuferwerth ſinkt
immer mehr. Dir fiel ein, daß es doch fein jchöneres Symbol
und Wahrzeichen für das heutige Neval giebt, als den Duc de
Groir:*) er jcheint lebend, iſt aber todt, er ijt jehr leicht, aber
*) Carl Eugen Herzog von Eroir, geb. 1661, kämpfte zuerſt in Faijerlichen
Dienjten tapfer gegen die Türken, jtand dann 1697 in ſächſiſch-polniſchem Dienite,
fommandirte das ruffiiche Heer in der unglüdlichen Schlacht bei Narwa 1700,
mußte fi den Schweden ergeben und wurde nad Reval gebracht, hier ſtarb er
am 20. Januar 1702 und wurde in der Kapelle der Nikolaifirche beigejeht. Sein
unverwejter Leichnam wurde als Merkwürdigkeit gezeigt, bis ihm der General:
gouverneur Sumorom bejtatten ließ.
394 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz.
nur weil er ganz vertrodnet ift; er trägt nod) Spißen und jeidene
Kleider, aber fie find ganz verichoflen und verjchollen. Reval ift
nur noch Badeort und lebt von den Broden Petersburgs. Waſſili—
Oſtrow ift Neu Reval, bevölfert von Nevalitern, die dort als Hand:
werfer ohne Zünfte und als Kaufleute mitten im Kurs: und
Kreditweſen des neunzehnten Jahrhunderts leben. Einen Fortichritt
habe ich indeß in Neval bemerkt. Es giebt jet eine Landungs—
brüde; früher lief der Petersburger Badegaſt Gefahr, im Angeficht
des Dlai wie Fiescho ins Meer zu fallen.
Ich nehme das neue Blatt bloß um zu ſchließen. Ich habe
mid) wieder verſchwatzt und möchte Deine Kunjt kurzer Briefe
befigen. Schreibe mir bald, damit ich erfahre, wie es Dir gebt,
was Du vorhajt und wie Dir Dubbeln bekommen, insgleichen
was aus dem Manujcript wird
Deines Freundes VB. Hehn.
Zur Baerjtiftung find 6 bis 7000 Rbl. zufammengefommen,
eine lumpige Summe, bejonders wenn man bedenkt, wie unerbört
gebettelt worden ift im ganzen Reich und daß Stieglig allein
taujend Rbl. gegeben hat.
Higa, d. 16. Aug. 1864.
Lieber Dehn!
Dein Opus dankbar erhalten und joeben auch Dein neuejtes
liebenswürdiges Schreiben. Im Bewußtjein meiner Schuld und
gerade heute wegen ungeheurer Verjchnupftheit und wegen eines
chrijtlichen Feiertages zu Haufe figend, eile ih Dir endlich auch
wieder zu jchreiben.
Das Dubbelniche Unternehmen befam mir nicht, d. h. id)
machte die Erfahrung, daß es mit dem Seebad nidhts für mid) ilt.
Es rief den im Sommer jchlummernden Nheumatismus gerade
hervor, jo daß id es aufgab und faum 14 Tage zufammenhängend
am Ztrande gelebt habe. Das falte Bad it für die Jugend, den
Alten geziemt Gaſtein oder Wildbad, vielleiht auch Nemmern.
Im Uebrigen fühle ich mein Thun immer unmejentlicher und
meine Lebenslujt immer jchwäcder werden. So lange man fich
einbilden fann: Das Rechte fommt noch, iſt es ganz etwas Anderes,
als wenn man fih verfichert hat, über lauter inadäquate Beſchäf—
Briefe von Biltor Hehn und Georg Berkholz. 395
tigungen nicht mehr hinausfommen zu fönnen. Tibdeböhl, der
Landmarjchall*) und noch Andere utilifiven mic) oder möchten mid)
utilifiren, immer im Namen des ‘Patriotismus, Ddiejes mir doch
aud) inadäquaten Princips, und unterdeijen häufen ſich die Biblio-
thefarbeiten bergehoh. Nun kommt noch der Tilly Peterſen, der
hier ein Herder-Vionument jegt und, ein Tyrann wie er ift, mid)
nicht losläßt, daß ich die Rede halten joll.**) Das fann idy ja
eigentlich garnicht. Wo haft Du denn das her, dal meine Antwort
an die Mosf. Ztg. im „Divan“ vorgelegen hat? Das wäre das
größte Compliment zu den vielen, die ic) von jehr verjchiedenen
Seiten, aud) von unjern Junfern, zu hören befomme. Nur der
Zandmarjchall bewies mir, daß er ein wirklich gebildeter Menjd)
ift, indem er meinen Aufſatz „Zur Nationalitätenfrage* im Juni-
heft weit über jene „Livländiichen Gorrejpondenzen” ***) jtellte. Denn
wenn man die Umjtände fennt, jo muß man allerdings den erjt:
erwähnten Aufſatz für das Beſte halten, was id) in politieis
geschrieben. Aber dem Gros it dergleichen zu fein. — Ich will
Did) doc) darüber aufklären, warum Du die B. M. jo jpät zu
leſen bekommſt. Es liegt nicht an der Verfendungsart; denn alle
nad) Petersburg gehenden Eremplare werden jofort, jogar vor der
hiefigen Austheilung, per Poſt abgeichidt. Es liegt an der jchechten
Wirthichaft im Klub.
Was nun „Italien“ betrifft, jo beträgt das Ganze nur
4'/4 Bogen in dem Drude der B. M. und ijt aljo feinesiwegs
zu umfangreih. Ich würde es nad) der von Dir angegebenen
Dreitheilung im Uctober, November und December ericheinen
lajjen, den nod in Ausſicht gejtellten Nachtrag, je nachdem, ent:
weder mit dem dritten Stüd zujammen oder in einem der erjten
Hefle des Jahrgangs 1865. Zu fremdartig ijt das Thema mir
nicht, komme ich doch immer mehr zu der Anficht, daß unjerem
Publikum allerlei Prämiſſen fehlen und daher von weitem aus:
geholt werden muß. In der nächſten Zeit wird es aud aus
Genfur: und andern Gründen mit local-baltiichen Aufjägen ziemlid)
ſchwach gehen. In das gegenwärtig in der Mache befindliche Heft
*) Fürſt Paul Lieven.
**) Die vortreffliche, des Gegenſtandes volllommen würdige Rede ilt
abgedrudt in J. v. Siverd Schrift: Herder in Riga, 1569.
**) Balt. Monatsichrift 1864, S. 93— 96.
396 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz.
nehme ich ſogar einen ſehr trivialen Reifebericht aus Egypten und
vom Suezfanal auf, eigentlih nur weil der fich unterfchreibende
Verfaffer ein livländiicher Yandrath und Graf iſt, alfo ſämmtliche
eonfratres mit Neugier darnach greifen werden; wie follte ich denn
einen Aufſatz verichmähen, der von einem im Lande ebenjo populären
Autor kommt und nicht trivial it? Und die Hauptſache ift das
Gift, welches der frommen Denfart ziemlich unbemerkt beigebradht
wird. Hätte man nur mehr dergleidhen. Hätteft Du mir den Aufſatz
nicht ganz geben wollen, jo würde ich Dir vorfchlagen, doch den
Abſchnitt Pro populo Italiano und vielleicht noch den einleitenden in
der B. M. „aus einem nächitens erjcheinenden Buche B. Hehns“
drucden zu fallen; jo aber fchlage ih Tir vor, das Ganze doch
auch als Buch herauszugeben, indem ein paar hundert Separat:
abdrücke auf beiierm Papier und ganz in Buchform gemacht würden.
Vebel ift es dabei freilid, daß das Format der B. M. nicht das
geeignete und die Schrift zu Fein und auch nicht eben ſchön it.
Kleineres Format und größere Schrift würden das Büchlein dider
und eleganter machen. Die often der Separatabdrüde wird
Kymmel Dir natürlich vom Honorar abziehen, aber jo kämeſt Du
doch aucd ins Ausland. Schreibe darüber. — Schreibſt Du nicht
gelegentlich wieder, wenn aud) feine „PBetersb. Gorreip.” mehr,
doch unter anderem Titel etwas VBerwandtes? Man hat freilich
jest weniger Nedefreiheit als zu Deiner Zeit? Der Gouverneur
hat Fürzlich zwei Verweiſe nadeinander vom Miniſter erhalten
wegen der Licenz der biefigen Preife. SKarnifel bat jetzt an-
gefangen. Unter diefe Rubrik von mepacnoaomenie fam aud)
meine neue Petersburger Correſp. zu jtehen, ein fchlagender Beweis,
wie ſehr die Brille fih verändert hat, durch welche man die Dinge
anfieht. — Aeußerlich, d. h. was das Abonnement betrifit, geht es
der B. M. nicht glänzend. Indeſſen haben wir noch c. 1000
Rub. von der urjprünglich aufgebrachten Subvention und damit
deckt fich die Sache wohl für 2 Jahre. Ja, die Rigaſche Ztg. —
die brachte ihrem Eigenthümer jchon vor ein paar Jahren einen
Nettogewinn von 13,000 Rub. und bringt jeßt wahricheinlich noch
mehr. Cage Netto, nad) Abzug der Redactionskfoften, des Papiers,
des Drudes u. ſ. w. Mit Baerens und Edardt ift der Contract
wieder erneuert und die Kündigung bat nur die Folge gehabt,
daß Herr Buchdruder Müller jedem Nedacteur 400 Rbl. hat zu:
Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 397
legen müſſen. Sie erhalten jet jeder 1600. Außerdem ift ein
Eubject da für Veberjegungen aus den ruffiihen Zeitungen, das
mit 700 Rub. gagirt wird, und eines für das jogenannte „Locale“
auf der dritten Seite mit 500 Rub; dazu ein paar ausländiicher
Correipondenten, ein dito Petersburger und endlich die Telegramme,
jo dab die Nedactionsfoften gegen 7000 R. betragen follen.
Wenn id Buchdrucker Diüller wäre, welche Rolle wollte ich ſpielen!
Was den Bürgermeilter Müller betrifft, jo bemuttert er feine
Kinder, jchreibt eifrig Urtheile (eine früher von ihm etwas ver:
nachläffigte Branche) und treibt dafür weniger Politik, läßt auch
Faltin nady Dorpat zur Gentraljuftizceommiffton gehen. Ich glaube,
er hat einen wundervollen Dämon oder Inſtinkt, der ihn nicht
leeres Stroh dreſchen läßt, ſondern für den Moment der Thaten
vefervirt. Letztens hat er in feinem Landvogteigericht eine humo—
rijtiihe Scene aufgeführt. Ein Haufen Struſenruſſen beflagt
ſich über ihren Arbeitgeber, vor den Schranken des Gerichts fallen
die Kerls alle auf die Kniee; Müller ftellt ſich ernithaft Hin und
hält eine förmliche Nede: Ahr alfo jeid das große Volk auf der
Höhe der Civilijation, welches nur mitleidig auf unjere verfommenen
Zuftände herabfieht 2c., alles natürlicd in deutſcher Sprache zu deito
ehrfurchterregenderer Wirkung auf die inieenden. — Ic jehe übrigens
Müller Höchit jelten.
In Deiner Angelegenheit mit der Grokfürjtin weiß ich feinen
Nath. Fräulein Nahden hat mir zweimal geichrieben, ohne Deiner
zu erwähnen. Sch denke nur, dab dieje Pladerei garnichts für
Di wäre.
Mit Tacitus’ Fenni haft Du dennoch Unrecht; ich Schreibe
darüber ein ander Mal. Maja im Eſtniſchen fommt wol nicht von
den Xetten, jondern umgefehrt. Die Littauer haben diejes Wort
nicht. Die den Letten und Littauern gemeinfame Bezeichnung
von Haus namas, vielleiht domus — 1omp x. ©erade der
Anlaut ift im Littauifchelettiichen häufig entartet. Hängt maja
nicht zufammen mit maa oder mois oder beiden?
Von Schedo ijt eine nicht unmerfwürdige Broſchüre über
Bolen*) erſchienen. Dieje erhält der Gouverneur zugeſchickt in
einem Gouvert, worauf gejchrieben: orp Muunerpa Hap. IIpo-
*) Que ferat on de la Pologne? 1864 Berlin.
398 Briefe von Biltor Hehn und Georg Berfholz.
epbimenist; beiliegend ein nicht unterfchriebener Zettel ungefähr
folgenden Inhalts: „Diefe Schrift von Schédo-Ferroti (Baron
Firds) hat folgende Vorzüge: 1) fie zeigt, wie großmüthig die
Abfichten des Staifers in Bezug auf die Polen gewejen find, 2
daß diejenigen ruffifhen Batrioten auf einem ganz faljchen Wege find,
welche die Vernichtung der polnischen Nationalität predigen, 3) fie
giebt denjenigen Perſonen, welche über den Großfürſten Gonjtantin
gerecht zu urtheilen vermögen — und ſolche Perjonen giebt es leider
jehr wenige — Material zur Bildung ihres Urtheils.“ — Es wird
ausführlich gegen die Moskauer Zeitung zu Felde gezogen. Sollte
das nicht der Anfang vom Ende jein? Adieu!
Der Deinige ©. Berfholz.
u
Geheimbände.
(Aus binterlaffenen Papieren.)
Wenn der Zeiten, der Umgebungen Drang, mächtig auf
jtarfe Seelen wirfet, wird in ihnen jede Kraft zur Handlung auf-
gerufen; fie beugen ſich den Umſtänden nimmer, wohl aber be-
berrichen fie ſolche. So war die Zeit, in welder der alte,
jugendlihe Bund entitand. Kein freier Sinn mehr und aljo feine
Achtung fremder Freiheit, Weichlichfeit des Herzens, Härte der
Sitten, wenig Sinn für Wiſſenſchaft, noch weniger für Kunft und
Poefie, das war in jener Zeit der Charakter der Jugend. Ihm
„lich entgegen zu dämmen” unternahm ein Jüngling. Bernhard
Friedrich Echüß, in Pommern geboren, ftudirte jeit 1772 in Halle
mit Geilt und Ernit. Schwächeren Sinnes hätte er dem Unweſen
zugejehen und bloß ſich rein erhalten, er aber ermog, welche
Seheimbünde. 399
Männer ſolche Jünglinge werden mußten und wie ſelbſt manche
Kraft in dem Gemeinen unterging, eines beſſeren Schickſals würdig.
Dem wollte er begegnen dadurch, daß er den Belleren eine Ver:
einigung gab und fie begeijterte mit geſammter Kraft das Gute
zu fördern und werdenden Männern für eine jchönere Zufunft
Hilfe und Freunde zu fein. Er entwarf die Konjtitution des alten
Bundes der Eintracht [Umitas, nicht Concordia).
Den Namen gab er ihm weil er anſpruchslos, doch voll
inniger Bedeutung. In Eintradt jollten die Söhne feines
Bundes das Rechte, das Gute wollen, in ihr ſich jtärfen zu Kampf
wider das Gemeine, zu That für die Menichen. Das Sireuz des
Hlaubens gab er ihnen zum Symbol. Zwei Schwerter kreuzen
ih auf demjelben zu Erinnerung des Hampfes, zu Ermu—
thigung des Kämpfenden. Ein Herz, eine fünfblätterige Roſe
und die heilige Drei follten denn auch nody Symbole jein: das
Herz deutete das innigite Vertrauen, die innigjte Liebe; Die
Roſe die Berfchiwiegenheit, fie mahnt jonder Geräuſch, das Gute
zu thun und nie laut zu werden über den Zwed des Bundes,
weil das Geheimniß inniger bindet und redlicher handelt; die
heilige Drei verfinnlicht das Fundament des Lebens, die Treue.
Allem zur Deutung gab Schü zwei Inſchriften: Unitas Jungit
Amicos Fideles und pour l’unite, auf da in Glaube, Kampf
und Schweigen die Treue bewahrt werde.
Zuerjt forderte die SKonjtitution Glauben und Liebe der
Neligion des Kreuzes; männlichen Einn verlangte der Zweck des
Bundes, darum war die Grundfejte der Konjtitution: Gewöhnung
und Uebung in Selbjtbeherrihung; der Zwed der Sonjtitution
verlangt Achtung für fremde Nechte, daher wurde fittliher Wandel
und Vermeidung jeglicher Rohheit gefordert. Weil der Mann,
wenn feine Jugend ohne Nutzen vorüberging, jelten zu Thaten
fähig, mußte Fleiß geübt werden. Mit zwei von ihm erwählten
Jünglingen, beihwur Schüß unfern der Saale, nahe Naumburg,
den erjten Bund unter der Miorgenröthe des 2. März 1774. Sei
es der winterlichen Morgenröthe Farbe, die hierzu Anlaß gab,
oder, was fajt wahrjceinlicher, die alte ſymboliſche Bedeutung,
Drange ward die Farbe des Bundes.
In zwei Jahren gab es ſchon 19 Bundesbrüder in Halle.
Im Jahre 1776 verließ der Stifter und erjte Senior die Univerfität
400 Gcheimbünde.
und wurde nad wenigen Jahren Prediger in Pajewalf, wo er
im Jahre 1808 gejtorben ift, hochverehrt von feinen Bundes
brüdern. Schütz war ſchon auf der Univerfität jehr religiös. Er
verlangte von jeinen Bundesbrüdern Bejuch der Kirchen und Genuß
des Mahles des Deren. Auch dadurch beurfundete ſich jein Sinn,
daß er bei der feierlihen Aufnahme eines neuen Bruders in den
Bund den Eid der Treue nicht auf die Konjtitution, ſondern auf
das Evangelium ſchwören ließ. Er und die eriten Brüder waren
ſehr arm. Um nun ein Kruzifir bei der Aufnahme zu haben, ab
Schütz jo lange feine warme Speije, bis er fi jo viel erdarbt
hatte, daß er ein bleiernes Bild des Gekreuzigten anichaffen fonnte.
Als Schüß Halle verlaflen hatte, wurde der Bund bald in Leipzig,
Sena, Göttingen, Nojtod, Greifswald, Frankfurt a. d. O. verbreitet.
Zu Königsberg in Preußen hat er fih, wenngleich in veränderter
Hejtalt, doch am längjten und reinften erhalten. Bier wurde er
weniger ein Bund für Jünglinge, mehr für Männer. Da ge:
dachten ſeine Verweſer des Wortes: Viele find berufen, nur wenige
auserwählt. Sie jtifteten einen engeren Bund und einen weiten,
einen erjten Grad und einen zweiten. Zu dem engeren Grade
wurden aus dem zweiten nur die Bemährteften erwählt. Der
zweite Grad war bloß eine Pflanzichule, eine Anjtalt, in welcher
ein VBerjuch zur „Veredelung“ der größeren Menge gemacht wurde;
er wußte nichts von der Exiſtenz des erjien Grades.*) Als Un-
vorjichtigfeiten von Mitgliedern des zweiten Grades die Loge der
Entdeckung nahe gebracht hatten, halfen fid) die des erjten Grades
jo, daß ein Mitglied (Lehmann) unter dem Anicheine des Verraths
alle Papiere des zweiten Grades hinwegnahm, fie aber heimlich
dem erjten Grad übergab. Die Furcht vollendete, was er begonnen,
die Loge des zweiten Grades ging auseinander. In Göttingen
war aufgenommen: Graf Horn und jpäter durch diefen in Greifs—
wald, Ankarſtröm.“) Die Scidjale Beider find befannt. Daß
der Bund fie nicht zu ihren Thaten trieb, willen alle Eingemweihten.
Was fie in jpäterer Zeit thaten, als fie, wahricheinlid, des Bundes
*) Das iſt Etwas, was in der Gejchichte der Geheimbünde ſich wiederholt.
Es liegt darin eine Folgerichtigfeit und Nemejis. Auch die Glieder des eriten
Grades werden fi nicht ficher gefühlt haben, ob wicht unter ihnen Glieder eines
nod höheren, erflufiveren Grades gemwejen find.
**, Mörder Guftavs III. von Schweden (+ 16. März 1792).
Geheimbünde. 401
wie er damals war, längſt vergeſſen, kann ihm nicht zur Laſt
gelegt werden. Schlözer, der berühmte Göttinger Profeſſor, ſagte
einſt in einer öffentlichen Vorleſung: Nicht Freimaurer oder
Illuminaten ſind zu fürchten, wohl aber die Peſt, welche im Finſtern
ſchleicht, die Unitiſten; ſie brüten Königsmörder aus. Schütz vergieb
ihm! er wußte nicht, was er ſprach.
Bei dem ſchnellen Wechſel der Glieder des Bundes war der
Sinn des Stifters bald untergegangen. Entartet zu einem Verein
trogiger Jünglinge, die unter der Aegide eines engen Bundes nur
nad) der Präpotenz unter ihren Jugendgenoſſen jtrebten, war jein
wahrer Zweck vergeiien. Das Geheimniß war verichwunden, das
Gelübde des Schweigens gebrochen. Da konnte es nicht fehlen,
daß die Obrigfeiten ihn mit den Studentenorden alltäglicher Art
in eine Klaſſe werfend, gegen ihn alle Maßregeln ergriffen, welche
diefe trafen. Die Urkunden des wahren Bundes famen hierbei
abhanden. Yon nun an ift der Bund an feinem Orte dauernd.
Nicht zu leugnen ift es, daß auch in diefer böjen Zeit Männer
aus dem Bunde hervorgingen, die ihm Ehre machten. Dabelow
(ipäter Profeſſor in Dorpat), Green, Neil (ſpäter Profeſſor in
Berlin) find Namen, die allgemein geachtet werden. „Was aber
den Unwerth des Bundes jo wie er damals war,. am deutlichjten
beurfundet, iſt die Schlechte Meinung von ihm, welche jene Männer
dadurch auffallend äußerten, daß fie, faft alle, zu den Sreimaurern
übertraten.” Alle Verbindung zwilchen den Logen hatte aufgehört,
obwohl fie einen Namen, ein gemeinfchaftliches Zeichen hatten.
Damals hatte falt jede Loge ihre eigenen willfürlichen Geſetze, den
übrigen fremd, oft unvernünftig, wie das fchöne Geſetz, daß wenn
Jemand in dem Bunde nicht zufrieden war und aus demjelben
treten wollte, es nicht anders als nad einem Duell mit mehreren
Bundesbrüdern geſchehen folle. In Jena war diefe Thorheit nicht,
wohl aber in Roſtock, Frankfurt, Greifswald. Darauf aber lief
damals der Zinn aller Logen hinaus, daß man einträchtiglich bei
einander wohnen, jedem Studentenorden die Spige bieten oder
wenn das nicht allein vollbracht werden fönne, durch Verbindung
mit einem anderen jchwächeren Orden (mie es der Bund mit den
Amiziften war) jene demüthigen müjle.
In Halle jelbjt war unterdeifen der Bund untergegangen
und waren die Weberrejte ihrer Schriften und der Apparat um
402 Geheimbünde.
ein Stüd Geld einem Gaftwirth bis zur Cinlölung verpfändet
worden. Diefe Dinge, beitcehend in einigen Rezeptions-Reden,
ſonſt gar feinen Schriften, einem Schwarzen Zimmerbehang, Schwarzer
Dede, einigen Bundeszeichen, einem Bundespofal, löſte die Loge in
Jena im Jahre 1797 für fich ein.
Um das Jahr 1790 fam eine beilere Zeit und zwar in
Jena.“) Es waren dort in den Bund getreten Dahl, der Däne,
und ein Jahr fpäter Seinrih Dahl aus Livland. Männlichen
Geiſt hatte der Däne, tiefes Gefühl und hohe Beſonnenheit; er
gab dem damaligen Bunde eine andere Richtung, nicht Die
urſprüngliche, fondern die feiner Zeit und feinen Genoſſen zu:
Jagende. „Zu inniger Freundichaft follten die Brüder fich einigen.
Dieſem Logenmeilter folgte Heinrich Dahl, voll überichwenglicher
Kraft und Heldenfinn, feine Bundesgenofjen waren ihm feiner gleich.
Nicht den Bund allein, jondern die Schaar aller Fünglinge feines
Ortes, feiner Zeit umfaßte jein Streben, Heldenmuth, Ausdauer
und Freiheitsdurſt wollte er ihnen geben; vergaß aber die Herzen
und das ungleiche Maß der Kräfte. Er wirfte für den Bund
als deal ſelbſt, an dem fich die jugendlichen Streber Begeilterung
fuchten, nicht der Bund wurde der Zwed. Seine Wirkung auf
das innere des Bundes felbit war eine geringe, Seit dem Auszug
von 1792,**) an deiien Spige er ftand, fieht man ihn, nicht mehr
*) In der Geſchichte des Jenaiſchen Studentenlebens von Nidyard und Robert
Keil, 1858, heilt es, nad) einer Nachricht aus dem Ende der achtziger Jahre des
vorigen sace., von den damaligen Unitiſten: fie zeichnen ſich durd gute Kleidung
vor den anderen aus und jtreben mit auffallendem Eifer dahin, möglich viele
reiche und angeichene Leute an ich zu feſſeln, wahrscheinlich um durch dielelben
einen deito größeren Einfluß im Staatölchen zu erlangen. (©. 185.)
**) Der große Auszug endete mit feierlicher Einholung der Ausgezogenen
und ihrem Siege. Es war am 19. Juli 1792, Morgens 3 Uhr, als ſich die
Sandsmannidaften mit ihren Fahnen im Paradies verjammelten. Der liv:
ländiſchen Yandsmannichaft ließ man, da ihr Anführer Dahl („der Ancht Dahl
aus dem Lande der Liven“), zugleich der Dauptanführer des großen Zuges war,
den Bortritt, mehrere Feine Landsmannſchaften ſchlugen ſich zur Fahne einer
größeren. Voran die Yivländer, Kurländer, Polen und Danziger mit weißer
Fahne — u. ſ. mw. jo zogen fie etwa 500 Mann ſtark mit klingendem Spiel und
fliegender Fahne über den Marft nach Weimar zu. (Geidyichte des Jenaiſchen
Studentenlebens von Kichard und Robert Heil 1858, S. 270.) — Nach J. Eckardt,
Erzählungen meincs Großvater 1883, S. 39, war Heinrih Dahl ein 1770
zu Goldenbeck in Ehſtland geborener Predigersiohn, der unter Kaiſer Paul zum
Geheimbünde. 408
über den Bund vorzüglich, fondern über die gefammte Anzahl der
Jenenſer wachen, forgfältig ihre Nechte, die er erjwang, gegen
Senat und Herzog ſchirmen. Seit jener Zeit war er Vater aller
Studirenden und hatte zu wenig Muße für den Bund.
Mit ihm und nad ihm war in dem Bund Theodor Beder
aus Roſtock ein fleißiger, qutmüthiger Menſch. Das Wejen des
damaligen Bundes erichien diefem jo Hein, daß er eine gänzliche
Umſchaffung dejjelben unternahm, nicht aber in dem alten, großen
Sinne, fondern zu einem litteräriich-moralischen Inftitut ihn prägend.
Er entwarf eine weitichichtige Konftitution. Den Zweck des Bundes
fuchte er in der vollfommenjten litteräriichen Ausbildung Der
Brüder; daher die jtrengen Gejege für den Privatfleiß und Die
ganze nachgebildete Akademie mit allen ihren Fakultäten. Sittlicher
Wandel follte erzwungen werden durch die ftrengite Zenfur und
durch Beamte, welche die Bundesglieder in guter Zucht erhielten.
Beders Konftitution wurde angenommen. Beder war der Mann
nicht, welcher fie geliebt machen fonnte. Er war damals auch
fein Jüngling mehr, ſondern hielt ſchon Vorlefungen und jtand
daher nicht mehr im ftudentifchen Leben. Den litterärifchen Arbeiten
entzogen ſich Viele, fobald jie nur Fonnten, die jtrenge Inſpektion
der Zenforen drüdte die Fröhlichen und daher meijtens Bejten,
vorzüglid. Dft wurden fie im Genuß unfchuldiger Freuden aus:
einandergedrückt, weil der Zenfor anfagte: es jei Zeit zum Fleiß.
Beder der jüngere erhielt dieſe Konjtitution noch aufrecht, als er
geschieden hörte fie auf. War vorher jchon ein jeltjames Gewirre
vorhanden, jo wurde es jeßt noch ſeltſamer. Was den Bund vor
jeinem Untergange in Jena noch damals rettete, war das glüdliche
BZufammentreffen mehrerer trefflicden Herzen in demjelben.
Im das Jahr 1794 war in den Bund getreten Zewenhagen,
mit Allem ausgerüjtet, was den gewaltigen Menſchen verfündet,
gemeinen Soldaten degradirt, als Feldjäger nad Omsk geihidt wurde und 1807
jih) das Leben nahın. Nach einem Bricfe in den „hinterlaffenen Papieren” vom
Oktober 1801 (7 Monate nach dem Tode Hailer Bauls) meldet ein Bundesbruder
dem andern, daß Heinrich Dahl, der im Jägerkorps angeitellt geweien war, jetzt
in Wittenberg ſei und nächſtens nad Ehſtland zurüdtchren werde. Der Brief:
fchreiber fügt hinzu: Soviel von den Daähl's (von dem jüngeren Bruder wird
erzählt, dab er Chirurgus bei einem Regiment in Polen ſei). Obgleich ich nod)
jchr Vieles hinzufügen könnte und möchte, jo darf ich es doch nicht dem Papiere
anvertrauen,
404 Geheimbünde.
Adolf Herrlich aus Meklenburg, ein Charakter voll Kraft und Feuer,
mit unendlicher Herzensgüte, ſpäter Guſtav Ambroſius Wilhelm
Bergmann (aus Livland, in St. Petersburg im Anfang des neuen
Jahrhunderts), ein redlicher, tüchtiger Menſch, den jpätere Unfälle
nicht brachen, nur beugten. Karl Chriftian Dahl (fpäter ruſſiſcher
Militärarzt), Heinrichs jüngerer Bruder, ein eherner Menſch voll
Hüte und Treue, voll Glut und Liebe, aber verſchloſſen wie das
Grab; Karl Beterjen (der befannte livländiiche Dichter) „mit
fräftigem Gemüth und großen Anlagen, damals noch fämpfend
mit Yeidenschaft und Ueberfülle, wie fpäter diefes Meer fich jtillete
jahen wir”; Karl Saß (aus Kurland) der Genannten werth.*)
Zu feltener Liebe und Treue vereinten fi) mit ihnen die
neuen Brüder. Unvergeßlich bleibe folgender Zug: Schröder aus
Mecklenburg fam an den Tod, fein Arzt war Succow (mohl
Wilhelm Karl Friedrich, Ipäter Profeſſor in Jena), auch Bundes
bruder aus früherer Zeit: des Sterbens Angſt drüdte den
Sceidenden, da ſagte er mit legter Manneskraft zu feinem Arzte:
„Nicht wahr, Gott verläßt Feinen Unitiften in feiner Todesnoth?“
„immer“ jprady der Arzt; Thränen erjtidten jeine Worte.
Das Jahr 1795 gab dem Bunde Wilhelm Wolter aus
Kurland, damals Schon Mann im eigentlichen Sinne des Wortes,
Wilpert (Später Prediger in Kurland) aus gleihem Vaterland, voll
zarten, attiihen Sinnes, weich ohne Schwäche, treu und gut.
Wolter, Wilpert und Dahl verabredeten einft, daß, wenn fie heim:
gekehrt fein würden in ihr Vaterland, dort eine Zivil:Zoge zu
errichten. Sie luden hierzu aud) Dumpf (Ipäter Kreisarzt in Fellin)
ein. Das Schidjal wollte es anders. In einigen Jahren ftarben
Wolter und Wilpert an gebrocddenen Herzen; Dahl’s Leben oder
Tod ijt völlig ungewiß (im J. 1808), doch mehr Wahrſcheinlichkeit
dafür, daß auch er ſchon ruhet. Die Eidesformel für die Auf:
genommenen lautete in Jena damals dahin: 1) Eid der Treue
dem Bunde, 2) Gebot der Ehrfurdt gegen die Kreuzesreligion,
3) Gebot fittlihen Wandels, 4) Gebot des Fleiges. Zeitgenoſſen
willen, wie jchlecht e8 mit Einhaltung von Punkt 2 und 3 jtand.
Es herrihte eine große Konfufion. Man müfje bei dem Alten
*) Zu dem Bunde gehörten aud) nod (der ältere) Zangenbed, ſpäter
Kreisarzt in Lemſal, Schön aus Kurland, Thiel in Riga.
Geheimbünde. 405
bleiben, war das Gefchrei jeder VBerfammlung, aber Keiner fannte
das Alte, ja Niemand las die wenigen nod) vorhandenen Papiere.
1796 trat in den Bund Karl Ewald Halfing aus Wenden in
Livland (vgl. über ihn J. Edardt, Erzählungen meines Großvaters
©. 120). hm hatte die Natur die glänzenditen Talente und ein
Feuerherz gegeben, das aud den Kalten in jeine Glut viß; wer
fi) ihm nicht freiwillig gab, den erjtürmte er; Anüpfer (fpäter
Prediger in Ehitland) in anjpruchslofer Tugend, ehrwürdig; Martin
Herold, fein Wejen ift Güte. — Göttingen wurde von Neuem belebt
durch die Brüder aus Jena: Dahl, Saß und Lenz. Es traten in
Jena in den Bund: Johann Herrenschwand von Murten, Echmidter
von Warburg, 3. Schmuziger von Yarau, J. A. Pflüger von
Solothurn, Johann Gugelmann von Wietlisbad, alle Schweizer,
Seelen von Kraft und Treue. Dem Bunde war dieles Jahr fonft
nicht günftig. Innere Barteiungen entitanden. Dahl, Zogenmeifter,
war zwar von allen jehr geachtet, aber den meiften, fajt allen
fremd. Sein Nachfolger war Langenbed d. j. Die Auswahl
neuer Bundesbrüder geſchah jept ohne Wahl und Vorficht. Das
Ende nahte, aud wenig Scharflichtigen Augen ſichtbar mit Eile.
Im Ballhaufe, wo Abends nur Unitiften zufammenfamen, hielt
ein ganzes Jahr lang Nieben, ein Bundesbruder, eine Pharao-
Bank und Böfendahl, ein anderer Bundesbruder, war fein Ktroupier;
ihr Erwerb betrug 450 Thaler; alles dieſes Geld war ihren ohnehin
armen Brüdern abgenommen.
Im Anfang des Jahres 1798 war Haffing Logenmeiſter
geworden. Er wecdte neue Hoffnungen, weil die bejleren, ſowie
die minder guten Brüder alle mit gleicher Liebe an ihn gefettet
waren. Ihm aber fehlte damals nod) Beſonnenheit und Die
ununterbrochen fortwirfende Energie, durch welde allein Wer:
beiferungen herbeigeführt und dauernd gemacht werden. Sein
feuriger Geijt entbrannte ſchnell und unbezwinglich, aber feine
Phantaſie riß ihn über die Schwelle der Vorficht hin und leitete
ihn ab von dem vorgelegten Ziele. Weberdieß war er nicht lange
Logenmeijter und fein Nachfolger Andrei aus Kurland, ein jehr
begrenzter Mensch, ihm durchaus unähnlid. Einige Zeit vorher
war in den Bund aufgenoimmen Herrlich der jüngere, ein eitler,
aufgeblajener Menſch, der durch den Namen feines edlen Bruders
und eine jtarfe Stimme fih unter den Schwachen des SANDER
406 Geheimbünde.
eine zahlreiche Partei gemacht hatte. Herrlich ließ ſich durch feine
Partei zum Logenmeifter wählen, nachdem es ihm gelungen ben
liebenswürdigen Schröder verhaßt zu machen, deſſen Anfehen und
Charakter ihn ſonſt überwogen hätte. Der Bund war nun ganz
entartet, fein Vertrauen, feine Treue mehr unter feinen Gliedern.
Da ſetzte Herrlich feiner Schledhtigfeit die Krone auf, er verrieth
den Bund und feine Brüder um jchnöden Lohn.
Herrlich war durd den Geheimrath Loder (Prof. der Anatomie
und Chirurgie, Leibarzt), welcher feiner Eitelkeit fchmeichelnd, ihn
zum Doctor juris zu maden veriprad), überredet worden und
hatte die jämmtlichen Schriften und den ganzen Apparat der
Loge Loder überliefert. Hierauf wurden an einem Tage alle
Bundesbrüder verwiejen und die von ihnen, welche Lanbesfinder
waren (deren Aufnahme übrigens ein Geſetz der Loge verboten
hatte) zu Soldaten gemadht.
In der kläglichen Zeit vor diefem Verrath hatte man das
Kruzifir, zwei und einen halben Schub hoch, das Schüg unter fo
viel Entbehrungen erworben und das dann nad Jena gekommen
war, dort im Jahre 1798 verfauft und das Geld, weldes dafür
gelöft wurde, für eine Flaſche Wein zur Aufnahme eines Bruders
ausgegeben. —
Die Geſchichte des alten Bundes ift nun geendigt. Wie
fih nad) dem Jahre 1800 die Logen an anderen Orten weiter
entwidelten, darüber fehlen Mittheilungen.*) In Leipzig war von
Jena ber durch Wagner aus Kurland eine Loge um das Jahr
1798 wieder errichtet worden. In Halle hatte die neubegründete
Loge ſich erhalten und foll fih durd einen jchönen Geijt aus:
gezeichnet haben. Es ijt zu vermuthen, daß fie dem Geifte des
Stifters ſich wieder genähert habe. iner ihrer vorzüglichiten
Männer war Jahn, der jih in Greifswald Frig nannte.**)
*) Nach der zitirten Gefchichte des Jenaiſchen Studentenlebens find in
Jena um 1809 die geheimen Orden durd die Yandsmannicaften verdrängt (8.321).
**) Friedrich Ludwig Jahn (der Turnvater) jtudirte in Halle 1796 bis
1800 Theologie. Wegen feiner Berfeindung mit den Yandsmannicafien lebte
er zeitweile in einer Höhle bei Giebichenftein, ſpäter ftudirte er in Greifswald.
Jahn bezeichnet man vor Allen als den eigentlichen geiftigen Urheber der Burjchenichaft
(vgl. auch Geichichte des Jenaiſchen Studentenlebens S. 358). Er war es, der
das Schwarz⸗Roth-Gold als deutsche Farben hervorgeiucht hatte.
Geheimbünbe. 407
Befonders unbefriedigt durch den in den legten Jahren des
Bundes in Nena herrichenden Geiſt hatten ſich die Echmweizer
gefühlt. In Geſprächen mit Dumpf (dem jpäteren Felliner Hreisarzt)
waren fie auf den Gedanken gefommen, eine Zivil-Zoge nad den
alten Schütz'ſchen Grundfägen in der Schweiz zu gründen. Tumpf
warf dabei den Gedanfen hin, daß mit der Schüß’schen Konftitution
fih auch eine politiiche Tendenz vereinigen ließe. Das ergriffen
die Schweizer, ſämmtlich Demokraten, und fajt alle von unter:
thänigen Orten, mit Feuer und übertrugen Dumpf den Entwurf.
Die Grundzüge waren: Männliches Streben zum höchſten Ziel —
tendre à la perfeetion sans jamais s’y pretendre (Malebranche)
— Einigkeit, Freiheit, Gleichheit. Weil die meijten Schweizer der
franzöfiihen Sprache mächtiger waren, als der deutjchen, jo wurde
die Konftitution ihres Vereins franzöfiich abgefaht. Dumpfs Entwurf
wurde einmüthig angenommen und jchon am 9. April 1798 jchwuren
in den Räumen der Xobedaburg für Dielen Bund die Schweizer
Schmidter, Schmußiger, ‘Pflüger, Joh. Derrenihwand aus Murten
und Gugelmann. Die Schweizer eilten bald in ihr Vaterland.
In diefer Zeit war die alte Schweiz untergegangen. Sobald der
Kampf wieder anhub, jchaarten fi die Bundesbrüder unter Die
Fahne der alten Freiheit, fie mußten gegen eigene Bürger kämpfen.
Zürih ging über. Von Herrenſchwand, vorher Generalcdirurgus,
nun Oberjt, wurde die Kapitulation geſchloſſen. Da fam der
geäßliche Tag in Grauholz. Gugelmann und %. U. Pflüger aus
Solothurn janfen in Todeswunden hart an dem Banner von
Schwyz. Sie jtarben den Heldentod, begeiftert ihr Leben dem
Vaterlande, dem Bundesſchwur opfernd. Auch Bern fiel, von
Herrenihwand wurde die Kapitulation abgeſchloſſen.“,“ Cs wurde
*) Hier liegen verichiedene Jrrthümer vor. Nach Eintragungen in ein
vorliegendes Stammbuch ijt der Bund in der That am 9, April 1798 auf ber
Lobedaburg geſchloſſen. Am 5. März 1795 wurden aber ſchon vor dem Graubolz
die Braven, die die alte Schweizer Waftenchre reiteten, durch die Franzoſen
unter Brune und Schauenburg geichlagen. Am 5. März 1798 iſt die Kapitulation
von Bern, gezeichnet von Friſching, abgeſchloſſen und weder bier, noch
viel weniger bei der Kapitulation von Zürich die Rede von Herrenſchwand; Die
Herrenihwands find eine Patrizierfamilic von Murten geweſen; der berühmteite
diejes Namens Koh. Friedr. Herrenihwand (1715-1798) war Yeibarjt des
Königs von Polen und jeit 1793 Bürger von Bern, der Bundesbruder in Jena
Herrenichwand wird daher wohl jein Sohn gewejen fein. Anton Pflüger von
3*
408 Geheimbünbe.
dem Blutvergießen durch höhere Hand geiteuert. Die Söhne alter
Freiheit wurden geächtet, mit ihm Herrenihwand und Schmidter.
So war dieſer Bund zerftört, den Jugendgluth geichloffen.
Des neuen Bundes Urjprung.
In den ruſſiſchen Oftfeeprovinzen fammelten fich jeit 1794
der Brüder viele, von denen die meilten dem Bunde in Liebe
zugethan blieben. Große Entfernungen und der Geiſt des Miß—
trauens einer vorübergegangenen Regierung (Kaiſer Pauls) hinderten
Unternehmungen für den Bund. Doch entitand endlid in Neval
die erite Loge, geitiftet von Herold, deſſen Name früher ſchon
genannt worden. Cie hat die Konftitution der jpäter geftifteten
Xoge der Hyaden*) angenommen. Am 2./14. März 1803 wurde
in St. Petersburg die Loge zu den Hyaden des Bundes der
Eintracht eröffnet. Haſſing war Logenmeifter. Stifter maren
außer ihm, die früher ebenfalls genannten Bergmann und Dumpf.
Aufgenommen in den Bund wurden Lenz, Dornburg, Kaubert und
Scheilin. Ueber die Grundfäge des Entwurfes der Konititution
hatte man fich fchnell geeinigt, des alten Bundes Formen blieben;
den Nitus der Aufnahme und der Eidesformeln hatte Halfing
entworfen. Schütz hatte, foviel von feiner Konftitution befannt
geworden, nie den Namen feines Zweckes ausgelproden, wohl
aber durd feine Fundamentalgeſetze deutlih genug ihn bezeichnet.
Eintracht fonnte der Zweck des Bundes nicht fein, weil dieſe bloß
Mittel fein fann zum Zwed zu gelangen. Nun entjtand in St.
PVetersburg die Frage: welchen Namen der Zwed erhalten jolle?
ihn fühlte jeder beftimmt. Er wurde bezeichnet: mit Vollendung.
Nein ſprach Halling, foviel können wir nicht verfprechen, genug,
wenn wir danach jtreben; und jo einigte man fi ohne Streit zu
dem Begriff: Vervolllommnung.
Solothurn, der von 1779—1858 Iebte, Hat in Jena Naturmwiffenichaft ftudirt,
in Solothurn eine Apotheke gekauft, und it ein in der Schweiz befannter
Naturforicher. Höchſt mwahricheinlic ift er identifch mit dem obengenannten
J. 9. Pflüger aus Solothurn, der in Jena 1798 Pharmazie ftudirte. Nur
fann dann vom Heldentod nicht die Rede fein; bei Grauholz ift weder ein
Gugelmann noch ein Pflüger gefallen, wie aus der Feitichrift: die Märztage des
Jahres 1798, von Dr. 9. Palner, Bern 1898, S. 127—132 hervorgeht (nad)
freundlichen Mittheilungen von ſchweizeriſcher Seite).
*) Hyaden (Töchter des Atlas) die Sterne am Kopfe des Stiers.
Geheimbünde. 409
Im Jahre 1806 wurde dann durd K. Peterfen (den Dichter)
und Päßler (jpäter Paſtor in Tarwaft), denen fih Schumann
(Advofat in Dorpat) und ©. Peterſen (jpäter livländ. Gouvernem.:
PBrofureur) zugejellten, in Dorpat die Loge der Eintracht zum
Drion errichtet, die im Jahre 1808 alternirend nad) Hallift Baftorat
(28 Werft von Fellin), wo damald Berg Paſtor war (jpäter
Seneralfuperintendent), und Tarwalt:PBaftorat (25 Werft von Fellin),
wo Päßler Paſtor geworden war, verlegt wurde, weil in Dorpat
eine Ueberwahung von K. Peterſen jtattfand, über den Die
Univerfitätsobrigfeit erfahren Hatte, daß er Logenmeiſter fei.
Dr. Lohmann aus Woiſeck wurde jetzt Logenmeiſter. Nad)
der Konjtitution der Logen der Eintracht zu den Hyaden und zum
Drion war ihre Aufgabe: „Kultur und gegenjeitige moralijche, phyſiſche
und äfthetiiche Hilfe und Unterſtützung.“ Während des fonjtitutions-
mäßigen PBrüfungsjahres wird ein Mitglied zur Beobadhtung und
Prüfung der Kandidaten bejtimmt, welches ein gewillenhaftes
Journal über den Charakter und die Handlungen dejjelben zu
führen hat.
„Die jchönen Zwede des Bundes fonnen getrojt das Auge
der ganzen Menjchheit ertragen. Da wir aber noch in Zeiten
leben, in denen das Gute und Schöne an und für fi von jo
wenigen geſucht und von jo vielen angefeindet wird, jo iſt es
eine unverlegliche Pflicht, die jtrengite Verichwiegenheit zu beobachten
und das Dajein des Bundes in die dunkle Nacht des Geheimniſſes
zu büllen. Verſchwiegenheit jei aljo die heilige Pflicht jedes
Bruders.” „Kultur erfordert Aufhellung des Geiftes und Erwärmung
der bejjeren Gefühle. Zu dem Ende jei es ein Grundgeſetz: daß
jeder Bruder am Schluſſe des Bierteljahres von feiner Erijtenz,
feinen Handlungen in Betreff des Bundes, genaue Nachricht gebe,
und, wenn es jeine Zage erlaubt, eine Abhandlung über einen
beliebigen Gegenjtand, die gewiſſermaßen der jprechende Beweis
feiner Thätigkeit jei. Da nun imoralüche Kultur nur durch eine
hohe äjthetiihe Bildung in den jogenannten beſſeren Ständen
erreicht wird, jo ſoll jeder Bruder dieje, ſoweit jeine Kräfte reichen,
erringen und wenigitens feine Mutterſprache zum Gegenjtand
feiner Bemühung wählen. In feinem ganzen Wirkungsfreije fol
er diejen Zwed vor Augen haben. Alle Abenteuerlicjfeit der
410 Geheimbünde.
Sitte und Außenſeite werde vermieden, weil ſie abſtößt. Jede
Unſittlichkeit iſt ohnehin unterſagt.
Das Direktorium ſoll über jedes einzelne Mitglied ſeine
Bemerkungen in einem geheimen Buche niederſchreiben, welches
der Tribun (der Vertreter der nicht zum Direktorium gehörenden
Brüder) in jeder Seſſion durchfieht und unterjchreibt. Jedoch
wird, bei Strafe der augenblidlichen Abſetzung verboten irgend
einen bitteren oder jatyriihen Ausdrud zu gebrauchen, ſondern
die facta müſſen kurz, ohne Bemerkungen und mit triftigen
Gründen und Zeugniſſen beglaubigt und regiftrirt werden. Menn
ein Mitglied ſich DVergehungen zu Schulden kommen läßt,
jo joll das Direktorium dem genauejten Freunde des Inkulpaten
den geheimen Auftrag geben, ihn zu warnen. Hilft das Nichte,
jo kommt die Sache vor das Direktorium und endlid) in die Loge,
wenn die Erinnerung des Direktoriums Nichts fruchtete. Jeder
Streit zwiiden Brüdern wird innerhalb des Bundes gejchlichtet.
Jeder Bruder in Noth hat fih an feine Mitbrüder zu wenden,
die ihm zu helfen verpflichtet find.
Bei der Aufnahme eines neuen Mitgliedes erjcheinen Die
Brüder ohne Kleid, dem Unterjchied der Stände, nur bis auf den
Gürtel weiß gefleidet, mit dem Bundeszeichen auf der Bruft.
Das Zimmer ift nad der alten Sitte deforirt (wohl ſchwarz aus-
geichlagen). Erjt ſchwört der Kandidat den Eid der Verfchiwiegenheit,
dann, nachdem ihm die Grundgeſetze der Verbindung vorgelejen
find und er ihre Annahme bejaht Hat, ſchwört er über zwei ſich
freuzenden Klingen den Eid der Treue, des Gehorfams und wieder
der Verjchwiegenheit. Darauf ertheilt der Yogenmeilter das Bundes:
zeichen, läßt den Bundesbecher umgehen und jchließt darauf mit
einer Schlußrede. Der zu einem Amt Gewählte hat einen Amtseid
zu ſchwören. —
Die Bundesbrüder der Loge der „Eintracht” zum Orion,
die in großer Freundichaft zu einander fanden, waren um das
Jahr 1808 wohl Alle (mit Ausnahme K. Beterjen’s) dreißig oder
mehr Jahre alte Leute. In ihren Arbeiten werden Fragen über
Geheimbünde, fittlihe Einwirkung auf die Brüder, über „Ver:
edelung” der Dienjchheit zwar in ſchwungvollen Worten, doch in
jo allgemeinen Betrachtungen behandelt, wie fie jeßt wohl Niemand
mehr macht oder lieſt. Unter den Brüdern regte ſich indeß die
Geheimbünde. 411
Erfenntniß, daß es ſpeziellerer Arbeiten bedürfe, um Förderung
zu erfahren. Es wird vorgeichlagen, dab das Direktorium Jedem
aufgeben ſoll, womit er ſich beichäftigen müjje, damit er wahre
Förderung erfahre und an feinem Theil Nutzen den Brüdern und
der Welt bringe. [Einem joldhen Auftrage iſt die Geſchichte der
Unitas zu verdanfen, aus der im Vorſtehenden der mefentliche
Inhalt wiedergegeben war.) Auch jolle ein Anfang mit dem
Seheimbuhe gemacht werden. Zwei Mal im Jahre jollten Die
allgemeinen Zufammenfünfte in Dalliit oder Tarwaſt ftattfinden.
Auf einer Neife nach Hallift, um unter Anderem vermuthlich
auch einer Zogenjigung beizwvohnen, brach dann am 23. Dezember
1822 8. Beterjen ins Eis des Wirkjeriws, was feinen Tod herbei:
führte. Es jcheint, als ob mit K. Peterſens Tode der „Orion“
aufhörte oder ſich verwandelte.
Zum Schluß jtehe bier noch ein unter den „binterlaflenen
Bapieren” erhaltenes Bundeslied, das von K. Peterſen gedichtet
it, wie aus deſſen poetiſchem Nachlaß (S. 152) hervorgeht. Im
Zufanmenhang mit dem Bunde der „Eintracht“ iſt es eigentlich
erſt zu verftehen. In dem poetiichen Nachlaß folgt e8 mit der
Ueberſchrift „Bundeslied“ dem Verzeichniß der Mitglieder des
„Winkel-Clubb“ bei Volkmann (1814), der, wie es in der Ein-
leitung heißt (S. XV), feinen Kreis nur durch einjtimmige Wahl
erweiterte. Ob diejer „Elubb“ eine Loge der „Eintracht“ bildete,
geht aus den hinterlaſſenen Papieren nicht hervor. Jedenfalls
waren mehrere jeiner Mitglieder Unitijten. Charafteriftiih für
den Abdruf im poetischen Nachlaß ift es, daß dort der Chor
wieder ſingt: „Ichwärmender Brüder beim Becherkflang”, jtatt
„Inniggeweihter beim Becerflang”, was als Abänderung von
dem gewohnten Nefrain des „Hoch vom Olymp“ bejonders hätte
auffallen müſſen. Das Lied lautet nach der in den „hinterlailenen
Bapieren” befindlichen Handſchrift:
Bei diefer Schönen Stunde laßt uns Ichwören:
Der Eintraht Bund ſoll ewig jtehn,
Wir wollen unirer Brüder Schwäche ehren
Und ihre Tugenden erhöhn.
Chor: Feierlich ſchalle der Jubelgefang
Inniggeweihter beim Becherklang!
412 Geheimbünde.
Wir wollen ihren Pfad mit Blüthen ſchmücken!
Gern unire Freuden ihnen mweihn!
Und ihre treue Liebe, ihr Entzüden
Soll unſre ſchönſte Freude fein.
Chor: Feierlich jchalle der Jubelgejang
Juniggeweihter beim Becherflang!
Drauf geh’ der Bundesbecher in die Runde!
Wenn je ein Zwiſt die Eintradht jtört
Dann denft an dieſe feierliche Stunde
Und jeid des Bundes wieder werth!
Laßt brüderli uns Arm in Arme jchmiegen!
Wenn Unfall unirem Bunde drobt:
Dann wollen wir durd feite Eintradt fiegen
Und fcheuen nicht für fie ben Tod.
Solo:
Sei mir willfommen! Tod für meine Brüder!
Du meiner Wünjche höchſtes Ziel!
ich preifen nicht der Nachwelt hohe Lieder
Mid) preift ein brüderlich Gefühl!
Chor: Heil dem Geweihten! Er fliegt im den Tod,
Spottend des Sturmes, der der Eintracht droht.
S.
Ar
— \en
Die Verfaſſung der Stadt Kiga im eriten Jahrhnudert
der Stadt.
Auguft von Bulmerincq: Die Verfafjung der Stadt Niga im
eriten Jahrhundert der Stadt. Ein Beitrag zur Gefchichte
der deutichen Stadtverfaffung. Peipzig 1898. 8%, 144 ©.
Nie das Erjcheinen des Buches „Der Urſprung der Stadt:
verfaſſung Rigas“ von Bulmerincq im J. 1894 als ein hervor:
ragendes wiljenichaftliches Ereigniß begrüßt wurde, jo darf aud
die vorliegende Arbeit, die Fortiegung der früheren, als Die
Die Berfaffung der Stadt Riga. 413
bebeutendjte willenichaftliche Leiftung betrachtet werden, um welde
das verflofene Jahr den baltischen Büchermarkt bereichert hat.
Zwar hat der Verfaſſer das Wort „Fortiegung“ im Titel ver:
mieden, auc die Abficht uns im Laufe der Zeit eine vollftändige
Verfaffungsgeihichte Rigas zu bieten, an feiner Stelle ausgeſprochen.
Mir dürfen aber wohl der Hoffnung Ausdrud geben, daß er es
nicht auf einen Torfo abgejehen hat und uns feine Anſicht von
der weiteren Entwicelung der Verfaſſung Rigas nicht vorenthalten
wird. Die Unterwerfung Rigas unter den Orden im Jahre 1330,
mit der diejes Buch jchließt, it allerdings ein für die Gefchichte
Rigas wichtiges Ereigniß, bildet aber verfaſſungsrechtlich nur für
das Verhältniß der Stadt zu ihrer Herrichaft einen wirklichen
Abſchnitt.
Die Vorzüge der erſten Arbeit, welche von allen Seiten
bereitwillig anerkannt wurden, zeichnen auch die vorliegende in
hohem Grade aus. Scharfe Durchdringung und Gliederung des
Stoffes, vollſtändige Beherrſchung des Quellenmaterial® und der
einschlägigen rechtsgeihichtlichen Litteratur, ſowohl der baltijchen
wie der allgemeinen, Unabhängigfeit von allen bisher geltenden,
vorgefaßten Meinungen ſind auch diefem Buche nachzurühmen.
Ueberall ſieht B. auf eigenen Füßen und, wo der Boden nicht
ganz ſicher ift, da hat er ihn ſich doch wenigitens ſelbſt bereitet.
Er behandelt nicht nur Dinge, welche ſchon früher der Gegenjtand
willenjchaftlicher Arbeit gewejen find, fondern er leuchtet mit
feiner fritiihen Fackel auch in manche dunfele, halbvergefiene Ede
feines Forichungsgebietes hinein und zwingt zur Etellungnahme
oder zum Nachdenken in Fragen, die vorher faum aufgeworfen
waren. Wo er nicht überzeugt, regt er wenigitens an. Unter
anderen erfahren die Fragen nad) dem Charakter der Stadtmark
und den auswärtigen Beligungen der Stadt hier zum erjten Dial
eine gründliche fyftematische Behandlung. Um noch einige andere
Forichungsrejultate anzudeuten, weile ich darauf Hin, daß hier
auch, joweit ich che, das Amt des Vogtes zum erjten Mal all:
jeitig unterfucht worden iſt. DB. liebt es gleichſam im Vorbeigehen
einige landläufige Dleinungen zu forrigiren. In Bezug auf den
Vogt zeigt er, daß die freilich erſt einer ſpäteren Zeit angehörende
Bezeichnung „Erzvogt“ nicht in begrifflihdem Zuſammenhange mit
„Erzbiichof” oder „Erzbisthum“ ftehe, jondern unter ihm nur der
414 Die Berfaffung der Stadt Riga.
erſte Stadtrichter im Unterjchiede vom zweiten oder jeinem Stell—
vertreter veritanden werde. — Weber den Rath der Stadt, feine
Wahl und Zujammenfegung iſt ſchon früher wiederholt gearbeitet
worden. Diejen Fragen widmet natürlich auch B. die eingehendjte
Aufmerfiamkeit. Er fommt zu dem Ergebniß, daß der Rigaſche
Rath aus zwölf, jpäter ſechzehn auf ein Jahr gewählten Perſonen
beftanden hat und daß Bunge’s Hnpotheje von dem jährlichen
Wechſel eines alten und jungen Nathes, deſſen Mitglieder auf
Lebenszeit gewählt waren, nicht haltbar jei. Die Zuläffigfeit der
Wiederwahl derielben Perſonen führte dann, auch nad) B., allerdings
allmählich dazu, dal die einmal Gewählten zeitlebens im Amte
blieben. Die Wahl erfolgte Anfangs in der Bürgerverjammlung,
ging aber bald ganz auf den Rath über. Nur vudimentär waren
Ipäter die ehemaligen Befugniſſe des Naths in der Buriprafe
erfennbar, in der die Bürgerjchaft die Veittheilung von der ohne
ihr Zuthun erfolgten Wahl entgegen nahm. Ebenſo verhielt es
jih mit der Wahl des Stadtridhters, des Vogtes. DB. betont,
daß in der von ihm behandelten Zeit der Vogt, obwohl vom
Nath gewählt, dody nicht als Beamter oder Mitglied dejjelben zu
betrachten ift. Er jtand ihm vielmehr als bejonderes Organ der
Stadt zur Seite. Erſt jpäter wurde das Wogteigeriht in den
Organismus der Rechtsverfaſſung eingegliedert. Als drittes Organ
der Stadt gilt B. die Bürgerverfammlung. Ueber fie ijt nur jehr
wenig befannt, da ihre wichtigiten Befugnifle jehr bald auf den
Math übergingen und jeit dem 14. Jahrhundert an ihre Stelle
die Verfammlungen der Großen und Sleinen Gilde traten.
Bürger der Stadt war nad B. jeder, der über Jahr und Tag
in ihr Kaufmannichaft in weiterem Sinne, d. h. Handel und
Gewerbe, trieb. An den Erwerb von Grundbefig war das Bürger:
recht nicht gebunden.
Die Dispofition des Buches ijt Far und überfihtlihd. Es
beginnt und jchließt mit der Erörterung der geichichtlichen Ereigniſſe,
die am Anfange und Ende des behandelten Zeitraumes jtehen, der
Verträge von 1225/26, welde die Freiheit der Stadt zur An-
erfennung bradten, und des Friedens von 1330, durch den Riga
dem Orden unterworfen wurde. Die Diitte nimmt der ſyſtematiſche
Theil ein, der in vier Abtheilungen von den Grundlagen, den
Organen und der Verwaltung der Stadt handelt. Dak im Ganzen
Die Verfafjung der Stadt Riga. 415
mehr der Juriſt als der Hijtorifer zum Worte fommt, ift natürlich
und joll an ſich nicht beanftandet werden. Doch will e8 mir
jcheinen, daß die Syftematifirung oder Scheimatifirung an einzelnen
Stellen zu weit getrieben iſt, indem dazwiſchen Untericheidungen
gemacht und Begriffe definirt werden, die den Bewohnern Alt-
Rigas thatjächlich fremd waren und die, nur logiſch im Geiſte
des denfenden Verfaſſers erzeugt, jenen alten Verhältniſſen applizirt
werden.
Wenn id) im Folgenden einige Punkte berühre, welde zu
begründeten Bedenken Veranlaflung geben, jo bemerfe ih von
vornherein, daß nur Einzelheiten beanjtandet werden, deren Kritik
dem Eingangs geäußerten Urtheil, daß wir es mit einer bedeutenden
wijfenschaftlihen Leiftung zu thun haben, nichts von feiner Geltung
nimmt. Da B. von den Ergebnijjen und Hypotheſen feiner erjten
Arbeit ausgeht und fich wiederholt auf fie bezieht, jo werde aud)
ich gelegentlid auf fie zurücgreifen müjlen.
Der verwundbarjte Punft der Bulmerincg’ichen Darjtellung
bleibt die jchon im „Urjprung der Stadtverfaſſung“ behauptete
Verihwörung der Nigaer vom Jahre 1221 gegen den Bilchof
Albert, deren Frucht die jtädtifche Freiheit Nigas gemwejen fein
fol. B. erhält diefe Behauptung jeinen Angreifern gegenüber,
unter denen bier Hollander an erjter Stelle zu nennen ijt, in
vollem Umfange aufrecht. Er geht dabei von der formell unbe-
wiejenen und jachlih unmotivirten Vorausfegung aus, daß Albert
in jeiner Politif dem Könige Waldenar von Dänemark gegenüber
weniger der Noth als dem eigenen Triebe gehorchte, ſodaß er an
dem VBertrage mit dem Könige auch dann noch feithielt, als gar
feine Nöthigung mehr vorlag und das ganze Land mit Ausnahme
des Schwertbrüderordens fich gegen die dänische Herrſchaft erklärt
hatte. Mit diejer vorgefaßten Meinung tritt er an die Chronif
Heinrihs heran und thut ihr, ergänzend und deutend, Gewalt an.
Es ijt nicht meine Abſicht hier die ganze Streitfrage noch einmal
aufzurollen. Ich weile nur darauf hin, wie DB. ſich den that:
jächlichen Verlauf des Ueberganges der biichöflichen Herrichaft auf
die Organe der Stadt denkt. Bekanntlich wurde der von Waldemar
nad Riga geſchickte dänische Vogt vertrieben. Wie das geichah,
ijt nicht überliefert. B. behauptet nun, es fünne feinem Zweifel
unterliegen, „daß im Einklang mit Biichof Alberts Verzicht auf
416 Die Verfaffung der Stadt Riga.
die mweltlihe Gewalt über Riga der bifchöflihe Vogt, advocatus
de Riga, vor dem angefommenen föniglihen Vogte wird zurück—
getreten fein. Denn erjt damit, daß der königliche Vogt die mit
der Vogtei über Riga verbundenen Obliegenheiten auszuüben ver:
judhte, war für die rigajhen Bürger der Anlaß zu feiner Ver:
treibung gegeben. Nachdem aber die rigaſchen Bürger durd) Ver:
treibung des föniglichen Vogtes der Herrichaft König Waldemars
über fie ihre Anerkennung verjagt hatten, waren fie thatjächlich
ohne Herren... Denn Biſchof Albert fonnte auf fein Herrenrecht
in Riga Anjprud erheben, da er ja auf jeine weltliche Macht—
jtellung zu Gunjten König Waldemars verzichtet hatte...“ So
wurden nad) Bulmerincqg die Bürger ihre eigenen Herren. Das
ift doch reine Phantaſie! Nirgends ift berichtet, daß der bijchöfliche
Vogt jeine Befugniſſe dem dänischen formell abgetreten oder jein
Amt niedergelegt habe, nirgends daß die Bürger diejen feierlichen
Akt erſt abwarteten, bevor fie den verhaßten Fremdling vertrieben.
War denn der bloße Anſpruch auf die Uebernahme des Stadt:
vegiments für die erregte Bürgerjchaft nicht ſchon ein genügender
Grund, ihm die Thür zu weifen? Dab aber der bifchöfliche Vogt
freiwillig dem Dänen feinen Platz eingeräumt haben ſoll, wird
nur unter der eben noch unbewiejenen Vorausſetzung denkbar, daß
Biſchof Albert auch jegt nod) an dem Bertrage fejthielt, wo er
der thatkräftigen Hilfe ganz Livlands ſicher war und die Dänen
jelbjt die Undurchführbarfeit des Vertrages erfannt hatten.*) Der
von B. fonjtruirte Dioment der Herrenlofigfeit, in dem die Freiheit
Nigas geboren wurde, als nämlich der bijchöfliche Vogt zurüd-
getreten und der dänische vertrieben war, hat nie erijtirt oder ift
durd) nichts erwiejen. Wie die freie Verfaſſung Nigas entjtanden
ift, willen wir einfach nicht. Feſt ſteht doch nur, daß die that:
ſächliche Macht der Nigaer jo jehr erjtarft war, daß der Bilchof
in der Zeit zwilchen 1221 und 1225 auf die Ausübung feiner
früheren Rechte Verzicht leiften mußte und daß Riga in Diejer
Zeit aus einem Ort ohne fommunale Selbjtändigfeit zu einer
Stadt mit vollfommener kommunaler Autonomie wurde. Ohne
Zerwürfnifje und Spannungen wird es dabei nicht bergegangen
*) Ich denke dabei an das Verſprechen des Erzbiichofs von Lund, Livland
zur früheren Freiheit zu verhelfen. 8.8 Behauptung, dab Riga in diejes Ver:
Iprechen nicht einbegriffen mar, hat Dollander widerlegt.
Die Verfaffung der Stadt Riga. 417
fein. Das giebt uns aber noch lange nicht das Necht die Ver:
faffungsänderung auf einen Aufſtand zurüdzuführen. Nun ftügt
fih B. auch darauf, daß 1225 zwiſchen Biſchof und Stadt Friede
geichloffen wurde. Bier kommt einiges auf die lateiniichen Aus—
drüde in unferen Quellen an. Compositio et transactio nennen
die Urfunden jenen „Frieden“, discordia nennt der Chronift
Heinrich den vorausgehenden Streit. Sch halte diefe Worte für
jo allgemein, daß fi aus ihnen nichts für den Charakter des
Friedens und Streites entnehmen läßt. DB. aber deutet die Worte
durch ſchärfere Afzentuirung und eine willfürliche Begrenzung ihres
Sinnes fo um, dab er erhält, was er braudt. Nachdem er die
Ausdrüde compositio und transaectio angeführt hat, fährt er fort:
„Die Stadt ſpricht alfo von einem Frieden, einem Vergleich. Ein
Friede hat aber einen vorausgegangenen Kampf zur Borausjegung.
[Ein Vergleih auch? Diejer Kampf, Zwift, discordia, wie ihn
der Chroniſt Heinrich nennt, fann aber nur in dem Aufitande der
Nigaer geliehen werden...“
Nach Bulmerincq beitand die Gründung Rigas in der An:
legung eines Diarftes und der Anfiedelung von Kaufleuten an
demjelben. Ich Halte mich nicht für fompetent in Bezug auf die
Marfttheorie eine jelbjtändige Meinung zu äußern. Nehmen wir
aljo an, dab das den Anfiedlern verliehene gotländiiche Necht ein
Marktrecht, daß der rigafche Vogt ein Marftrichter war, und jehen
wir ganz davon ab, da die deutihe Sprache unter Markt ent:
weder ganz allgemein ein Abjaggebiet oder in lofaler Begrenzung
des Begriffes einen Verfaufsplag in einer Ortichaft verfteht, daß
mithin nad bisherigem Sprachgebraude die Worte „Marktrecht,
«gericht, polizei, verwaltung” einen viel begrenzteren Sinn haben,
als den, welchen B. ihnen beilegt. B. verfteht unter Markt
offenbar nicht einen Verfaufsplag fondern eine Ortichaft, in welcher
nur oder vorzugsweife Handel und Gewerbe getrieben werden.*)
Diefer Marktcharafter erſchöpft aber doch die Gründung Biichof
Alberts und die Abfichten, weldye er mit ihr bezwedte, keineswegs.
Riga ſollte doch feine Nefidenz, nicht nur der Fommerzielle, Jondern
auch der firchliche, politiiche und militärische Stütz- und Mittelpunft
der ganzen Kolonie fein. Kirchen und Klöfter, die Kurie des
*) Auffallend it, dab B. fein einziges Beiſpiel zitirt, in dem Kiga
„Markt“ oder „forum“ genannt wird.
418 Die Verfaffung der Stadt Riga.
Biſchofs, das Schloß der Schwertbrüder ꝛc., — fie bildeten zugleich
mit dem Marftplag und den Häujern der „am Markt” Angefiedelten
die neue Ortichaft. Ach verfenne nicht, dak es B. in erjter Linie
darauf ankommt, die Entwicdelung der bürgerlichen Bevölkerung
Nigas zu einer Stadtgemeinde darzulegen, daß er unter dieſem
Sefichtspunfte schreibt und feine Ausdrüde wählt. Immerhin
bedürfen mehrere ganz allgemein gehaltene Süße, wie 3. B. im
„Urſprung“ S. 12 die Zerlegung des Gründungsaftes in drei
nur auf den „Markt“ bezüglihe Handlungen einer jolhen Er:
gänzung, wie ich fie vorhin andentete, da fie in ihrer präzifen
Faſſung alle anderen Gefichtspunfte als die rein fommerziellen
ausschließen.
Die „am Marfte” angefiedelten Kaufleute [und Handwerker]
haben nach B. eine Gilde gebildet, an deren Spike die Seniores
ftanden. Als Riga fi gegen den Biſchof empörte und fich
herrenlos jah, wurde die Gilde zur Bürgerichaft; die Seniores
verwandelten fih in den Nath.*) Durch die 1225/26 von dem
Legaten Wilhelm von Modena zwiſchen der Stadt und dem Bilchof
vermittelten Verträge erhielt diejer Zuftand der Dinge feine formelle
Anerkennung.
Das Vorhandenfein einer alle bürgerlihen Elemente der
eriten Anſiedler in Niga umfaffenden Kaufmannsgilde läßt ſich
urfundlich nicht nachweilen. Erijtirte fie aber und umfaßte fie
alle Handwerker und Kaufleute, fo fielen auch die Intereſſen des
tigafchen Gemeinweſens und der rigafchen Kaufmannsgilde völlig
zulammen. Hatten doch die Vorjteher der Gilde, die seniores
Rigensium, aud nad) Bulmerincg's Darlegungen, wenn auch nur
in beichränftem Maße Theil an der Kommunalverwaltung, waren
fte doch vermuthlich Beiliger im Gericht des Vogtes und jeine
GSehilfen in der Kontrole über den Marktverfehr. Kurz dieſe
*) „Uriprung“ 3.58: „Die universitas eivium Rirensium bejtand aber
aus den burzenses in Kiga manentes. Cives RKigenses waren die in Riga
anjälfigen mercatores. Die rigaihe Kaufmannicaft übernahm aber nidyt die
Verrichtungen der Bürgerſchaft; vielmehr erwies ſich die neue Bildung wegen
des größeren Umfangs und der höheren Bedeutung ihrer Befugnifie als jtärfer.
Dieſer Say iſt mir ganz unverftändlich und mwiderjpricht dem folgenden. Indem
die Gilde der Kaufleute jich zur Vürgerichaft umgejtaltete, übernahm jie dod)
gerade die Verrichtungen einer ſolchen. So geſchah es denn, daß die Gilde der
rigafchen Kaufleute in die rigafche Bürgerfchaft aufging...”
Die Verfaffung der Stadt Riga. 419
Vertreter eines privaten Vereins übten als folche öffentlich-rechtliche
Sunftionen aus. Wodurch kann ſich in folchem Falle die Gilde
der Kaufleute überhaupt noch von einer politischen Gemeinde der
Bürger unterjchieden haben? Meiner Anficht nach ijt daher die
Frage, ob die rigafche Stadtverfaffung aus einer Gildenverfaſſung
hervorging von untergeordneter Bedeutung. Die Hauptjahe war,
daß die bürgerliche Bevölferung organifirt war und durch ihre
Vertreter an der Kommunalvermwaltung theilnahm. ch ſehe darum
in den unbefannten Vorgängen zwiichen den Jahren 1221 und
1225 auch keineswegs eine Bejeitigung der bisherigen Ordnung
und den revolutionären Anfang einer neuen Verfallung, fondern
eine ftetige, organische Weiterbildung der früheren Zuftände. Läßt
man eine Kaufmannsgilde im Sinne B.'s gelten, jo ift man dod)
in feiner Weiſe genöthigt, eine formelle Auflöfung derjelben und
eine beiondere Beſchlußfaſſung der Gilde und ihrer Seniores an-
zunehmen, daß fie von jekt ab Bürgerfchaft und Rathmannen fein
wollten. Es fpricht, wenn man die Hypotheſe von dem Aufitande
der Nigaichen verwirft, nichts gegen die Vermuthung, daß Biſchof
Albert, wenn auch widerjtrebend, dem Freiheitsdrange der Rigaſchen
nachgebend und den wirklichen Machtverhältnifien Rechnung tragend,
eine Erweiterung der mageren fommunalen Rechte der Einwohner
bis zu voller ſtädtiſcher Autonomie gewährte oder geichehen lich,
wie jo mande weile Fürften in anderen deutichen Städten es
auch gethan gethan. Ich wiederhole, daß es dabei gewiß viel
„discordia“ gab und über mande Fragen eine Einigung nicht
eher zu erzielen war, als bis der Yegat Wilhelm als Nermittler
auftrat. Streit und Zerwürfniffe schließen die Möglichkeit in
feiner MWeife aus, daß die Sontinuität der Nechtsentwidelung
gewahrt murde. So betrachte ich Riga als einen Flecken, eine
Ortſchaft oder meinethalben einen „Markt“, deifen Bewohnern oder
Bürgern Anfangs nur jehr geringe politiihe Rechte zuftanden.
Diefe wurden im Laufe der Zeit erweitert,*) bis das aufitrebende
Gemeinweſen, deilen Glieder 1221 einen jo Fraftvollen Bürger:
und Freiheitsiinn an den Tag gelegt hatten, endlich das volle,
uneingeichrünfte Selbjtbejtimmungsrecht gewann. B. madıt ©. 21
felbjt die Bemerkung, dab durch die VBerfaflungsänderung in den
+, Es iſt Doch wohl anzunehmen, dab die von B. den Seniores der
Gilde zuerfannten Befugniffe gleichfalls allmählid erworben fein werden.
420 Die Verfaffung der Stadt Riga.
thatfächlihen Verhältniifen faum ein großer Umſchwung äußerlich
hervorgetreten jein werde; dertelbe werde viel mehr auf das Gebiet
des Rechts zu verlegen fein. Den rechtlich ſehr bedeutenden
Unterfchied zwifchen der unter dem Regiment des Biſchofs ftehenden
und mit fehr geringen Befugniffen ausgeftatteten Kommune vor
1221 und der Verfaſſung Nigas im Jahre 1225, das jest von
einem gewählten Rath regiert wurde, verfenne ich natürlich nicht.
Ich gebe aber nicht zu, daß durch die Berfalfungsänderung überhaupt
erit eine Kommune, eine Bürgerjchaft, ein politisches Gemeinweſen
geihaften worden ift. In diefer Beziehung iſt meinem Dafürhalten
nad) der Unterſchied der Verhältniffe vor und nad) 1221 mehr ein
gradueller als prinzipieller geweſen.
Seine Anficht ſucht B. durch mehrere andere Behauptungen
zu ftüßen, denen ich gleichfalls widerfprehen muß. Nach ihm
hießen die Mitglieder der Gilde burgenses in Riga manentes;
erft als fie eine politifche Gemeinde geworden find, erhalten fie
die Bezeichnung eives Rigenses, zum erjten Mal in einer Urfunde
von 1226, deren Siegel aber noch die Umjchrift sigillum bur-
gensium in Riga maneneium trägt. Es iſt flar, daß ber
legtere Umſtand für mich Ipricht, daß bier zwiichen burgenses ꝛc.
und cives Rigenses gar fein Unterfchied gemacht wird. Nahmen
aber die eives feinen Anftoß daran, ſich offiziell noch 120 Jahre
lang burgenses in Riga manentes zu nennen, jo vermuthe ich,
daß fie fih auc früher ohne Bedenken eives Rigenses genannt
haben werden. Bon Anderen wurden fie jedenfalls fo bezeichnet.
Der Chroniſt Heinrich nennt ſchon die erjten Ankömmlinge in Riga
primieives, Worte, die B. freilich meift mit Anführungszeichen
wiedergiebt; ©. 27 zitirt aber B. jelbjt den im J. 1209 urkundlich
bezeugten Ausdrud ceives für die dem Vogt unterjtellten Bewohner
Nigas. Als Beweis dafür, daß die Bürger jeit 1221 ſich deſſen
bewußt waren, „dal die Stadt ſelbſt Perlon jei, Nechtsperfönlichkeit
befige,” führt B. an, daß die Stadt ein Siegel hat! Wenn damit
mehr als etwas Selbjtverjtändliches gelagt werden joll, jo fann
nur gemeint fein, dab dem, was jett die Stadt war, die Rechts—
perjönlichfeit früher fehlte. Es handelt fi) aber um genau daſſelbe
Siegel, das nah B. ſchon die Kaufmannsgilde vorher führte.
Der Umftand, daß dieſelben Perfonen dajfelbe Siegel nad) wie
vor führen, kann doch nicht als Beweis dafür herangezogen werden,
Die Verfaffung der Stadt Riga. 421
daß der Charakter ihrer Gemeinschaft fi geändert hat, daß aus
der privaten Kaufmannsgilde eine politische Bürgergemeinde geworden
ift. Biel näher liegt der andere Schluß, daß, da doch auch der
frühere Inhaber des Siegels Nechtsperfönlichkeit beſaß, die beiden
Gemeinſchaften, die ſich ein und deffelben Siegels bedienten, identisch
waren. Schließlich ift B. der Anficht, die Umwandlung des
Marktes in eine Stadt zeige fich auch darin, daß jener namenlos
geweſen jei, diefe aber den Namen Niga erhalten habe. Sowohl
im „Uriprung ꝛc.“, wie in der vorliegenden Nrbeit ſpricht fih B.
darüber aus, ohne aber etwas Beweisfräftiges anzuführen. Er
jagt nun, der Markt jei allerdings nad) dem Flüßchen Nighe
benannt worden, deutſch, „tho der Righe, van der Righe“,
lateinijch einfah „Riga“. Mit diefem Namen wurden aber nur
der Ort, nicht Bewohner und Ort zugleich bezeichnet. Das Letztere
trat erjt ein, als Riga Stadt wurde. Dieſer Spisfindigfeit vermag
ih faum zu folgen. Cinen Beweis dafür, daß vor 1221 das
Wort Riga nur auf den Ort bezogen wird, führt übrigens B.
nit an. Er hat vermuthlih den Umſtand im Auge, dab Riga,
jo lange es unter biichöflihem Negimente ftand, in den Urkunden
nicht als handelndes Nechtsfubjelt nah außen auftritt. Wie fann
man ihm aber desiwegen den Beliß feines Namens beftreiten!
Hätte man denn bei einer Wendung wie etwa: Riga wurde von
einem jchweren Unglüd betroffen — nur an den Ort und nidt
an die Bewohner denfen dürfen? „Eine jo nahe lebendige Beziehung
zwilchen dem Orte und feinen Bewohnern, daß fie als ein Ganzes
erichienen“, muß aud für den „Markt“ und die zu dauerndem
Aufenthalt auf ihm Angefiedelten angenommen werden. Moher
weiß aber B., daß Bilchof Albert feiner Gründung nicht den
Namen Riga gegeben hat, fondern daß fie nur fo genannt wurde?
Eine Unterfheidung, auf die übrigens jehr wenig anfommt, da
jedenfalls auch das fpätere Niga feinen Namen nicht durch einen
bejonderen Akt erhalten Hat, jondern ebenfalls nur fo genannt
wurde. Aus B.’s Ausführungen ift nicht zu erjehen, ob er aud)
den Dinmweis auf die Bezeihnung stat tho der Righe als Beweis
dafür verwerthen will, daß der Drt einen eigenen Namen nicht
gehabt hat, fondern damit nur feine Belegenheit bei dem Nighebache
angegeben werden ſollte. Jedenfalls ift es nicht zu ermweilen, daß
„tho der Righe* am Righebach bedeuten foll. Vielmehr Bea
422 Die Verfaffung der Stadt Riga.
nur an bie auch B. gewiß befannte Thatfache erinnert zu werden,
dat die Norddeutichen und Romanen bei Ortsbezeichnungen das
Appellativum vom Proprium durch eine Präpofition zu trennen
pflegen (la eitta di Roma, la ville de Paris, stat tho der
Righe). Aus dem weiblichen Artifel an fich ift ebenjowenig auf
einen Flußnamen zu ſchließen. Mehrere nieberdeutihe Städte
führten ihn regelmäßig, jo 3. B. die Narve, die Mitau, Die
MWismer (noch heute gebräudhli). Stat tho der Righe heißt
alfo foviel wie Niga und es bleibt dabei, daß Riga jeinen Namen
von vornherein gehabt hat.
Angefihts der fehr minutiöfen, ins Einzelne gehenden
Scheidung und SKlaffifizirung der verfaſſungsrechtlichen Begriffe,
welche B. in feinem Werfe unterfucht, ift es mir aufgefallen, daß
feinem Syſteme der rigafhen Stadtverfaffung gleihlam der Kopf
fehlt. Dem Verhältniß der Stadt zu den ihr übergeordneten
Gewalten ijt in dem Syſtem fein befonderer Paragraph eingeräumt
worden und der Leſer fieht ſich hierfür auf feine eigenen Schluß:
folgerungen aus den hiftorischen Partien des Buches angemwielen.
Es fehlt an einem beftimmten terminus, aus dem zu erjehen
wäre, zu welcher Klaſſe deuticher Städte der Verfaſſer Riga im
13. Jahrhundert rechnet. War Riga eine ganz freie Stadt, Die
nur eine übergeordnete Gewalt, die des Königs, über fich aner-
fannte, oder blichb es eine bifchöfliche Stadt, die in ihrem Bijchof
troß der thatſächlichen Befeitigung aller realen Macdtbefugniife
deſſelben doch noch wenigitens theoretiich ihren Landesherrn jehen
mußte? Wäre ein Angriff der Stadt Niga auf ihren Bilchof
Empörung oder nur Vertragsbruch geweſen? B.'s hierher gehörige
Neußerungen laſſen feine Meinung nicht Far erfennen. ©. 10
jagt er, die Anerkennung der Münzhoheit und Gerichtshoheit des
Biihofs waren Zugeftändniffe nur äußerer Natur und fonnten
nicht als Einjchränfung der Freiheit der Stadt angejehen werden.
©. 12 heißt es: „Die Stadt Riga und der Orden ſahen aljo in
dem Biſchof von Riga nicht ihren weltlichen Herrn, fondern nur
ihren geiftlihen Vater, wie fie die rigaſche Kirche als ihre geiitliche
Mutter verehrten.” *) Rigas Selbjtändigfeit war mithin nad)
*) Das iſt aber feine genaue Interpretation der von B. jelbjt angeführten
Urfundenitelle: „... boni sint et fideles episcopo Rigensi tanquam domino
et spirituali patri item Rigensi ecclesie tanquam domine et spirituali matri.“
Die Verfaffung der Stadt Riga. 423
Bulmerincq eine vollftändige, d. h. die Stadt hatte feinen Landes:
herren. „Yon einer Unterordnung Rigas oder des Ordens unter
den Biſchof von Niga findet ſich aud nicht die geringite Ans
deutung” (S. 14). Andererfeits giebt B. ©. 89 zu, daß das
Recht der Anvejtitur des Stadbtvogtes durch den Biſchof nicht nur
eine äußerliche Anerfennung der Gerichtshoheit des legteren in
ſich Schloß, Tondern auch von großer fachlicher Bedeutung hätte
fein fünnen, wenn fraftvolle Bischöfe es unternommen hätten, durch
die Drohung mit Verweigerung der Inveſtitur fi einen Einfluß
auf die Bejegung des wichtigen Stadtrichterpoftens zu verichaffen.*)
Erft ganz am Ende des Buches in dem Abjchnitt über die Aus-
gaben der Stadt findet jih der Sag „dem Stadtherren war Riga
auf Grund des Friedens zu Niga zu feinen Leiftungen verpflichtet.”
Da aber an diefer Stelle auf den Ausdruf „Stadtherr” Fein
Nachdruck gelegt, derjelbe vielmehr beiläufig oder zufällig gebraucht
it, und auch feine Folgerungen aus ihm gezogen werden, jo bleibt
es zweifelhaft, wie der Verfaſſer über diefen Punkt denkt. Die
Frage gewinnt ein bejonderes Intereſſe im Binblid auf die 1330
erfolgende Unterwerfung der Stadt durch den Orden, durch melde,
ſoweit ich jehe, ihr VBerhältniß zum Erzbiichof gar feine Ver:
änderung erfuhr. Ich habe mich Schon früher einmal dahin aus:
geiprodhen,““) dab Riga jeit 1330 vechtlih unter zwei Herren
jtand, deren Befugniſſe freilih ihrem Umfang und Wejen nad)
jehr verjchieden geartet waren. Es wäre mit Dank zu begrüßen,
wenn B. fich zu diefer Frage äußern wollte.
Auf eine Neihe anderer nicht einwandfreier Stellen lenke
ih noch in aller Kürze die Aufmerkſamkeit. ©. 11 und S. 13
finde ich einen offenbaren Wideriprud in den Aeußerungen des
Verfalfers über die Berechtigung der Ordensglieder zur Nutznug
der rigaſchen Stadtmarf. Dort heit es, ihnen jei jeder Antheil
an der Mark abgejprochen worden, hier dagegen, dem Orden ſei
Antheil an der Nukung der Mark zugeiprochen worden.
Alſo: Dem Herrn und geiftliden Bater ... und der Herrin und geiltlichen
Mutter. Während einer Sedisvafanz z. B. gewann auch die Herrichaft der Kirche
praftifche Bedeutung.
*) An einer anderen Stelle, ©. 10, heit es allerdings, dab der Biſchof
die Inveſtitur nicht verweigern dürfte.
**) In der Anzeige von Mettigs Geſchichte der Stadt Riga, Baltiiche
Monatsicrift 1897, S. 3495 — 347. 2
424 Die Berfaffung der Stadt Riga.
©. 89 heißt es: „Nach der Unterwerfung Rigas unter den
Orden im Jahre 1330 ift von der Inveſtitur des Etadtvogts
dur den Erzbiichof nicht mehr die Nede. Erft 1376 wird fie
wieder vorgenommen, gerieth aber wiederum in Vergeſſenheit.“
Von der Inveſtitur iſt jedoch 1342 die Nede geweſen, als der
Nath auf die Frage des Ordensmeilters, welche Rechte der Erz
biichof in der Stadt habe, bezeugte, daß er den gewählten Vogt
dem Erzbiihof „zur Beſtätigung“ (presentare ab eo confir-
mandum) vorzuitellen habe (LUB. Nr. 821). Desgleihen im
Jahre 1356 (Index missivarum 3. J. 1356, Mitth. XIIL, von
Bulmerincqg jelbit S. 88 angeführt). Sollte B. aber mit jenem
Sap gemeint haben, der Erzbiichof habe in diefem Zeitraum Die
Inveftitur nicht ausgeübt, jo wäre das eine unbewiejene Be:
hauptung. Die Art wie des nvejtiturrehts an den genannten
Stellen und feiner Ausübung im J. 1376 (gleichfalls Index missi-
varum) Erwähnung geſchieht, ſpricht vielmehr dafür, daß die
Inveſtitur noch nicht außer Gebrauch gefommen war. Daß nur
aus dem J. 1376 die Inveſtitur eines Vogtes durd den Erzbiſchof
urfundli bezeugt ift, bemweilt natürlich nicht, daß eine folche nicht
auch vor und nad dieſem Jahre jtattgefunden hat.
Auf S. 135 wird von den ſtädtiſchen Gelandten gehandelt,
die, wenn fie aud für Gejandte der Stadt galten, dody nur im
Auftrage des Raths handelten, Beglaubigungsbriefe und beim
Abſchluß von Verträgen das Siegel der Stadt mit fidy führten.
Ganz unklar ift der auf dieſe Auseinanderjfegung folgende Sap:
„Wenn es nun auch jo zwei Formen von Beglaubigungen und
zwei Arten von Gelandten gab, fo wurde doch dieje Unterfcheidung
in Riga nicht gemacht.” Wenn diefe Interjcheidnng in Niga nit
gemacht wurde, jo ijt fie wohl aud an diejer Stelle müſſig, ganz
abgejehen davon, daß nicht klar wird, welche zwei Arten von
Geſandten gemeint find.
Der legte nur drei Seiten umfallende Abfchnitt des Buches
„Der Friede am Mühlgraben” ift für das Viele, das er zu jagen
unternimmt, fichtlih zu kurz ausgefallen. Er hätte dur eine
etwas eingehendere Behandlung der Materie ſehr gewinnen fünnen.
Wie im „Uriprung 20.” die Geſchichte der Stadt fo eingehend
behandelt wird, als es für das Verftändnik der Rechtsfragen
erforderlich ift, jo war auch hier eine verftändliche, nüchterne Er:
Die Verfaffung der Stadt Riga. 425
örterung der den Ieflerionen und Echlußfolgerungen des Verfaſſers
zu Grunde liegenden Thatjahen am Pla. Wie diefer legte Ab:
ſchnitt jeßt vor uns liegt, mit feinem etwas gejuchten Stil und
feinen feltfamen, theils unbewiejenen theils übertreibenden Behaup—
tungen, madt er den Eindrud eines entbehrlihen Anhanges,
der zu dem mwerthvollen Inhalt und dem ernten wiljenichaftlichen
Charakter des Buches in einem merkwürdigen Gegenjage fteht.
Wir begrüßen ihn aber troßdem und laſſen ihn gelten als einen
Ausblid in die fpätere Zeit der Verfaſſungsentwickelung Nigas,
welde in Bulmerincq hoffentlich einen ebenſo fundigen, erfolg:
reichen Bearbeiter finden wird, wie er es für das erjte Jahr:
hundert gewejen ijt.
Dr. W. Bergengrün.
Hene Helletrikit,
Dit freudiger Genugthuung werden die baltiichen Lande die
Kunde vernehmen, daß die Berlagsbuchhandlung von Belhagen
und Klaſing eine Gejammtausgabe von Theodor Hermann
Bantenius’ Romanen veranjtaltet.*) Kennen wir doch in ihm
ſchon lange den unbejtritten größten Erzähler, den unſere Heimat)
hervorgebradht, den meilterhaften Scilderer insbejondere der
furiihen Verhältniffe, einen Dichter von ungewöhnlicher Ge:
jtaltungsfraft, der Schon längſt auch in Deutichland fid einen
hochangeſehenen Namen erworben hat. Ein jchöneres Weihnachts—
geſchenk Fonnte der deutjche Buchhandel dem baltiihen Lande faum
machen.
Als erjter in der Neihe ericheint der allbefannte vorzügliche
Noman „Allein und Frei.” Da treten fie wieder vor uns, Die
jo wunderbar charakterijtiichen, marfigen Geſtalten der Familie
Eichenftamm, des wilden Otto von Schweinsberg, des prächtigen
treuen Dieners Weinthal und jo vieler Anderer, denen allen man
*) Th. 9. Bantenius, Gefammelte Romane in 9 Bänden, Berlag von
Velhagen & Klafing in Bielefeld u. Leipzig. Bd. Lu. IL, 1893, Allein und Frei.
426 Neue Belletriftik.
es anjieht, daß der Dichter fie aus dem Leben gegriffen hat, fo
durchaus wahr und echt und überzeugend find fie gezeichnet. Es
find echte Menſchen, in ihren Fehlern wie in ihren Vorzügen,
weder von einem falichen Sdealismus verichönert, noch nad) moderner
Art Grau in Grau gemalt. Darum leben wir mit ihnen und
verfolgen ihre Geſchicke mit dem tiefjten inneren Antheil. Wohl:
thuend berührt aud) das fchlichte, durchaus nicht aufdringlid hervor:
tretende Chriftenthum, das die Welt: und Lebensanjhauung des
Verfaſſers, des chemaligen Theologen, charakterifirt. Es wirft
dajielbe um jo eindringlicder, je weniger es aufdringlich iſt, je
mehr es nur als die ganz natürliche Baſis diejes abgeflärten,
verjöhnten Urtheils über Welt und Menjchen erjcheint. Möge die
baltiihe Deimath, die diefen Dichter mit Stolz den Ihren nennen
fann, der Sejammtausgabe feiner Werke eine warme Aufnahme
bereiten. Sie follten in feinem baltiidhen Hauſe fehlen. Iſt doch
Bantenius der klaſſiſche Erzähler des Baltenlandes.
Heben dieſen Mkeijterwerfen nehmen fih Victor von
Andrejanoffs „Pater Johannes und andere Novellen” *)
allerdings vecht mager aus. Die Daupterzählung „Pater Johannes“
leidet an jtarfen Unwahricheinlichfeiten und wirft nichts weniger
als überzeugend. Auch die beiden anderen Erzählungen des
Bändchens, „Mehr Liebe“ und „Im Banne der Nacht” Tonnen
nur mäßig befriedigen. In ihnen allen fehlt es nicht an einzelnen
Schönheiten, als Ganzes find fie faum von bleibendem Werth.
Andrejanoff iſt durchaus mehr Lyriker als erzählender Dichter.
Das allgemein anerfannte große Erzählertalent der Nuten
offenbart fih in glänzender Weile auch in Anton Tſchechoffs
„Starter Tobaf und andere Novellen,” die Wladimir Czumikow
trefflih ins Deutjche überjegt hat.**) Der Titel „Starker Tobaf”
fonnte unrichtige Vermuthungen weden, weswegen id) nicht unter:
lalfen will zu bemerken, daß es ſich dabei um eine durchaus
harmloſe, höchſt ergögliche Gejchichte handelt. Zu Anfang ebenjo
ergöglich, dann aber tragiſch endend ift die Geſchichte „Tragikomiſch“.
*), Bater Johannes und andere Novellen von Victor von Andres
janoff, Yeipzig, Philipp Heclams Univerjalbibliothef Nr. 3840.
**) Anton Lihehoff, Starker Tobaf und andere Rovellen. Autorijirte
Ueberjegung aus dem Ruſſiſchen von Wladimir Gzumifom. Paris, Yeipzig,
Münden, Verlag von Albert Yangen (Kleine Biblisihef Yangen Bd. XVII).
Neue Belletriftik. 427
Für bejonders gelungen halte ich zwei Erzählungen, die uns in
die Kinderwelt führen, welche der Verfaſſer meijterhaft jchildert:
„Ein Ereigniß” und „Die Kinder”. Von tiefer Tragik ijt die
Geſchichte „Auftern”, aud) „Das rothe Haus“. Die den Rufen
eigene, erbarmungslos realiſtiſche Ecdilderung verrotteter Zuſtände,
gejunfener Menſchen madt fid in einer ganzen Reihe von Er:
zählungen geltend. So wie fie uns hier entgegentritt, mit über:
jeugender, erjchütternder LYebenswahrheit, kann fie nicht verlegen.
Ich erwähne die meijterhafte Skizze „Im Alter.“ Auch wo der
Verfaſſer heifle Gebiete berührt, wie in „Ein Verhängnik,“
„Mnemotechnik“ u. A. hält er ſich in angemejjenen Schranfen.
Wir können nur wiünjcen, von diefem Dichter bald noch weitere
Darbringungen zu erhalten.
Mit Clara Viebig it ein Erzählertalent erjten Nanges
auf den Plan getreten. Mit jeltener Einmüthigfeit haben die
Blätter der verſchiedenſten Nichtungen gleich die erjten poetijchen
Gaben der geijtvollen Frau freudig begrüßt und warm anerkannt,
und das Intereſſe an ihren Schöpfungen iſt in der Folge jtetig
gewachien. Diejer große und in jeiner Widerjprucdhslofigfeit ganz
außergewöhnliche Erfolg muß als ein vollberedhtigter rüdhaltlos
anerfannt werden. Wir bewundern an Clara Viebig die jcharfe
und klare Beobadhtung des menschlichen Lebens in jehr verichiedenen
Negionen, in den Hütten der Eifelbauern jo gut wie in den
Salons der Großjtadt; wir bewundern die Kraft ihrer Gejtaltung,
die Feinheit der Charakteriftif, die Tiefe der piychologiichen Analyie.
Wir freuen uns an ihrem verjtändnißvollen, tiefen Blid in die
Schönheit der Natur, in die Neize wie in die Schauer des Werdens
und Vergehens, und nicht zum mindeften an der maßvollen, edlen
Art, wie fie Alles zu behandeln pflegt. Man könnte die Künſtlerin
ebenjowohl realijtiich wie idealiftiih nennen. Sie ift das Erjtere
in der treuen Schilderung der Wirklichkeit, das Leptere in ihrem
Glauben an die ſiegreiche Macht des Guten und Wahren. Heiklen
Sragen gegenüber ijt fie von vollendeter Decenz ohne Prüderie.
Führt fie uns im Ganzen mehr düſtere als jonnige Bilder des
Lebens vor, jo dürfen wir darum mit ihr nicht rechten. Die
Urt, wie fie es thut, it die Art einer edlen, einer vollendeten
Künſtlerin.
428 Neue Belletriftik.
In das Volfsleben der Eifel führte uns die meilterhaft
geichriebene Novellenfammlung „Kinder der Eifel“,*) durd
welche die Verfaſſerin uns ein in der Litteratur Faum noch hervor:
getretenes Gebiet Deutichlands geradezu neu erſchloß, — ein Gebiet,
das jo ſehr werth iſt, gefannt zu werden, ſowohl um jeiner Be-
mwohner, wie um feiner eigenartigen Naturichönheit willen. In
fraftvollen, immer charakteriſtiſchen Schilderungen treten uns Die
Gejtalten der Eifelbauern, ihren eigenartigen Dialekt redend, ent:
gegen. Meiſt find es dunkle, oft erjchütternd tragiiche Bilder, die
an uns vorüberziehen, nur „Margareths Wallfahrt” ijt jonniger
gehalten. Ueberall hat man den Eindrud der Lebenswahrheit.
Durd dies Bud ebenjo wie dur den Roman „Rheinlands—
töchter” **) eroberte fih Clara Viebig faſt über Nacht die Gunft
des Publikums wie der Kritif. Der Roman ijt in feiner Art
nicht weniger bedeutend als die Bauernnovellen und er liegt den
Intereflen der Gegenwart naturgemäß näher. Vor Allen werden
wir aufs Lebhaftejte gefejjelt durd die Gejtalt der Heldin, Nelda
Dallmer, eines Mädchens aus guter Familie, das durd ſchwierige
Verhältniſſe und Konflikte aller Art mit ungewöhnlid) viel Charakter
fi) durchringt und aud die Fehler, die fie begeht, durch die große
Ehrlichkeit, Wahrheit und Treue ihrer Natur zu jühnen weiß.
Wer wollte fie nicht lieb gewinnen, dieje gute, tapfere, flare und
wahre Nelda? wer gönnte ihr nicht nad) jo vielem Leid Die
Ausfiht auf das endlich ſich anbahnende volle Lebensglüd? Auch
in der reihen Fülle der Nebenperfonen bewährt die Verfaſſerin
ihr fünftleriiches Vermögen, die Kraft ihrer Charafterijtif, wenn
auch einige derjelben — wie die Oberfonfijtorialräthin Zänglein
und die höhere Töchterſchulvorſteherin Frl. Amalie Planfe — an
das Karrifaturenhafte jtreifen. Alles in Allem iſt es ein vor:
trefflicher, tief angelegter, gehaltvoller Roman.
Yun bat Clara Viebig den genannten zwei weitere Werfe
von hervorragender Bedeutung folgen laſſen: die Novellenfammlung
„Bor Tau und Tag” und den Roman „Dilettanten des
Lebens“.“*) Bor Tau und Tag führt uns in drei Erzählungen
Kinder der Eifel, Novelle von E. Biebig, Berlin 1897, 3. Sontane& Co.
**) Berlin 1807, 5. Fontane & Go,
***x) Bor Tau und Tag, Novellen von E. Viebig, Berlin 1398, 5.
Fontane u. Go. Dilettanten des Lebens, Roman von E. Viebig, Berlin
1808, F. Rontan’ u. En.
Neue Belletrijtit. 429
junge, liebedürftende Srauenherzen vor, die verlangend ausichauen
nad) der Lebensjonne, im grauen Morgennebel — ob fie wohl
fommen wird, die Eonne der Liebe? An den erjten beiden Er:
zühlungen harren fie vergebens, — Trennung und Tod zerjtören
das Glück, ehe es wirflid gefommen. In der dritten bricht die
Sonne durd den Wolfenjchleier mit herrlichem Glanz, aber erit
nad) langem, ſchwerem Dangen und Bangen, nad) furdtbaren,
verzweifelten Kämpfen mit der Finſterniß. Die erjte, Ipeziell „Vor
Tau und Tag” betitelte Novelle halte ich für die vollendetite.
Sie iſt ein Mieifterftüf von erichütternder Tragif. Die dritte,
„Seipenjter” betitelt, behandelt mit großer Decenz ein ſchwieriges,
etiwas heifles Problem. Auch fie verdient hohes Lob. Am wenigiten
will mir die mittlere Erzählung „Wen die Götter lieben” gefallen,
doch zeigt fih das große Talent der Verfaſſerin aud hier, wie
mid) dünft freilid mehr in der Zeichnung der Nebenfiguren; und
feſſelnd und interejlant ift Schließlich jede Gejchichte aus der Feder
diefer DVichterin. Als ein Meijterwerf erjten Ranges aber möchte
ih den Roman „Dilettanten des Lebens“ bezeichnen. Vor
Allem von dem erjten Augenblid, wo Xena und Richard Breden:
hofer ſich im Eifenbahnwaggon treffen, bis zum erjchütternden
Abſchluß ihres Furzen, nur zu jehr getrübten Eheglücks verfolgt
man die mit unabweisbarer Folgerichtigfeit jich entiwidelnde Handlung
mit geipanntem Intereſſe, mit wachlender Theilnahme und Er:
griffenheit. Sie find beide Dilettanten der Kunſt wie des Lebens,
dieſe Yena und diejer Richard, er in noch höherem Grade wie fie,
— und an der mangelnden Straft, das Leben zu regieren, mehr
nod) als an dem unzureichenden Talente, gehen fie zu Grunde.
Aber unjere tiefite Theilnahme begleitet fie. Sie find beide jo
gute, liebenswerthe Menſchen, voll der beiten Intentionen, voll
begeijterten, idealen Strebens, und in ihrer gegenjeitigen Liebe
echt und treu, — nur unflug, unpraftiich im Leben, unfräftig in
ihren Leiſtungen, — und das läßt fie erliegen im rauhen Kampf
ums Dajein. Sind es Typen jpeziell unjerer Zeit der Schwäche,
der Kraftlofigfeit, der Dekadence, — wie wohl gejagt worden iſt?
Ich weiß es nicht, — ich meine, es find Typen von größerer,
allgemeinerer Bedeutung, als einer nur temporären. Die Tragödie
des Dilettantismus gehört nicht bloß unſerer Zeit an, fie hat ſich
ichon oft vorher abaeipielt und wird fich leider nod oft abipielen.
430 Neue Belletriftik.
Ihr einen klaſſiſchen Ausdrud gegeben zu haben, ift Clara Viebigs
hohes Verdienft. Auch die Nebenfigquren diejes Nomans find faft
durchweg vorzüglich gezeichnet: der alte bärbeißige Onfel Herrmann
mit der guten ängjtlihen Tante Hannchen; Richards nervöfe, jelbit-
ſüchtige Schweiter Eufanne, die Berliner Salondame mit ihrem
Manne; Yenas Mutter; der reiche Dilettant Doftor Reuter, ber
mit jeinem enthufiaftiichen Urtheil dem armen Richard nur gründlid)
ſchadet u. a. m. Es ijt zweifellos einer der beiten Nomane, die
wir befißen, und mit Spannung muß man den weiteren Schöpfungen
Clara Viebigs entgegenjehen. Nur Eins ſei noch zum Schluß
bemerkt. Es ericheint bedauerlich und nicht ganz gerecht, daj Die
Vichterin das Chrijtentbum und feine Vertreter jtets in wenig
günftigem Lichte ericheinen läßt. Sie hat hier offenbar eine aus:
geiprochene Abneigung. Da fie indejien hier wie in Allem maßvoll
iſt, dieſer Punkt auch mehr flüchtig, vorübergehend berührt wird,
wenn auch faum mihverjtändlich, fo haben wir zu Vorwürfen fein
Recht. Aber bedauern darf man es doch, daß der DVichterin, wie
es ſcheint, aus chriſtlichen Streifen wenig Erfreulidhes entgegen:
getreten ift.
Neben die Dorfgeihichten aus der Eifel tritt aus einem
anderen deutſchen Sau „Madlene” von 3. 9. Löffler, eine
Erzählung aus dem oberfränfischen Volksleben, die uns der treifliche
Verlag von Fr. Wild. Grunow Ddarbietet.”) Es ijt ein merk—
würdiges Bud. Der Ton der Erzählung hat etwas Altmodiſches,
flingt bier und da an Jean Paul an, ijt wohl aud nicht ganz
frei von Geſuchtheit. Dennoch iſt es ein treffliches Bud, das
uns mitten hineinſchauen läßt in das oberfränfiiche Bauernleben.
Die Charaktere find fein und liebevoll gezeichnet, an dem Derzens-
roman der Heldin nehmen wir mit warmem Intereſſe Anteil und
freuen uns jeines glüdlichen Ausganges. Es jtedt Poeſie und
Charakter in dem Buch und darum gewiß auch in dem talentvollen
Verfaſſer.
Eine Dichtung im idealen Stile iſt „Laskaris“ von Arthur
Pfungſt.“) Der Verfaſſer iſt als lyriſcher Dichter durch ſeine
*) Madlene, Erzählung aus dem oberfränkiſchen Volksleben von J. H.
Löffler, Leipzig 1898, Fr. Wilh. Grunow.
**) Laskaris, eine Dichtung vou Arthur Pfungſt. dritte Auflage
(Bolfsausgabe). Berlin 1898, Ferd. Dümmler's Verlagsbuchhandlung.
Neue Belletriftit. 431
„Lolen Blätter” und „Neuen Gedichte” vortheilhaft befannt;
ebenfo durch ſeine deutiche Ueberſetzung von Edwin Arnold's
„Leuchte Ajiens“ (Light of Asia), einer epilhen Berherrlichung
Buddhas. eine Weltanſchauung iſt eine entichieden pejjimiftische
und feine Hinneigung zu den Lehren des großen indischen Neligions-
jtifters eine ausgeiprochene. Das tritt auch in der durchaus edel:
gehaltenen, gedanfenreichen epiichen Versdichtung „Laskaris“ deutlich)
hervor. Wie viel Anklang diejelbe gefunden, das bezeugen nicht
nur die Kritiken, jondern ebenjo der Umjtand, daß fie bereits in
dritter Auflage, und zwar in einer Vollsausgabe, erjchienen iſt.
Der Held ift ein junger Grieche, in deſſen Brujt ein weiler Greis,
fein väterliher Freund Bhilaleth, chen früh den Samen peſſi—
mijtiicher Weisheit geftreut hat. Das Yeben bringt ihm nochmals
vecht bewegte, ja abenteuerlihde Echidjale, es Führt ihn an den
Hof Augujts des Starken nah Sachſen, dann zum Schwedenfönig
Karl XI. nad) Grodno, nad) Schoonen, endlich nad Griechenland
zurüd, doch nur damit er hier Angejichts des heimathlichen Geſtades
im Meere jeinen Tod findet. Er hat in jeinem Leben eine lange
Reihe jchwerfter Leiden und Enttäufchungen durchzumachen, die ihn
endlich zu der legten Weisheit führen: Das Leben ijt nicht werth
gelebt zu werden!
Es ijt eine trübe Weisheit, doch wer hätte das Necht, dem
Dichter jeine Weltanichauung jtreitig zu machen! zumal er diejelbe
mit jo manchem hervorragenden Denker und Dichter theilt. Die
edle Haltung des Sedichtes berührt gerade in unjerer Zeit durchaus
wohlthuend.
Baul Heyſe, der alte Meifter der Novelle, der wie ein
ewig Junger noch immer vüftig weiter jchafft, hat joeben zwei
Novellen, „Medea” und „Er joll Dein Herr jein“ ericheinen
lajfen.*) Es iſt ein elegant ausgejtattetes Büchlein mit hübjchen
Illuſtrationen. Die Erzählungen zeigen die reife Kunſt des Meiſters,
jeine vollendete Form, die uns jchmeichelnd beftrict, feine feine
Pſychologie. Medea ijt feine Lektüre für junge Mädchen; reifen
Lejern wird fie zu denfen geben.
Auf einem Gebiete, das ihm ſonſt fernliegt, bewegt ſich
Beter Nojegger in feiner neuejten Veröffentlichung: „Das
Wedea. Er ſoll Deiu Herr fein. Zwei Novellen von Paul
Heyſe. Illuſtrirt von Rene Reinike. Stuttgart, Verlag von Carl Grabbe,
432 Reue Belletriftik.
ewig Weibliche“.“) Es find Jugendarbeiten, die nad dem
eigenen Geſtändniß des Verfallers aus einer Zeit ſtammen, „in
der der ganze Menſch nod) eitel Nomantif if,” — zwei Erzäh-
lungen, die uns in vergangene Jahrhunderte zurüdführen. Die
erjte der beiden, „Das ewig Weibliche”, ſpielt zur Zeit der Bauern-
friege im 16. Jahrhundert. Sie ift friih und hübſch erzählt und
lieſt fi recht angenehm. Dean ijt überrafdht, das Talent des
Dichters auch auf diefem Gebiete fi) bewähren zu jehen, und
freut fi auch hier an feinem gejunden Humor. Iſt es eine
Jugendarbeit, jo darf fie eine jehr rejpeftable genannt werden.
Die zweite Erzählung, „Die Königsjucher”, iſt bedeutend ſchwächer,
vor Allem etwas zerfahren, ohne rechte Einheit, vermag daher
auch nur mäßig zu felleln.
W. H. Niehl hat jeinerzeit viele Freunde in den Ditjee-
provinzen gehabt. Es dürfte Manchen interejfiren, daß eine
Sejfammtausgabe der gediegenen, vom beiten Geiſte erfüllten
Geſchichten und Novellen des kürzlich verjtorbenen Kulturhiftorifers
und Dichters im Erſcheinen begriffen ijt.**) Die erjte Lieferung
bringt die hübjche, gehaltvolle Erzählung „Der Stadtpfeiffer.”
Sie muthet uns an wie ein Klang aus alter Zeit, — aber vielleicht
gerade darum wird fie und was ihr folgt Manchem nicht unwill-
fommen jein.
Zwei elegant erzählte, graziöje Novellen „Ein Akkord“ und
„Die Libelle“ bietet uns NW. von Berfall in einem fchlanfen
Bändchen dar.*"*) Sie find fejlelnd gejchrieben und entbehren des
poetiichen Neizes nicht. Die vorgeführten Lebensſchickſale find in
beiden Fällen tragiih. Hinter dem jonnigen Bilde des Lebens
taucht die dunkle Gejtalt des Todes auf. Im „Akkord“ wirft
verheimlichte alte Schuld ihren Schatten über das Todtenbett, in
der „Libelle” fällt aus vergangenen Tagen übermüthiger Luft
ein mwehmüthig zitternder Sonnenftrahl in die trübe, jchmwere
Todesitunde.
*) Das ewig Weiblide. Die Königsjuder von Peter Ro:
jegger. IUuftrirt von 3. Klein. Stuttgart, Verlag von Carl Grabbe.
++, W. H. Riehls Geſchichten und Novellen. Gejammtausgabe. Verlag
der J. ©. Gottaihen Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart.
***) Gin Alford. Die Libelle Novellen von 4. von Berfall,
Berlin, Rich. Editein Nachf. (H. Krüger).
Neue Belletriftif. 433
Leicht, bisweilen allzuleicht ift die Art, wie Maria Janitſchek
erzählt. Sie gehört zu den Modernen und ift nicht prüde. Ihre
Novelle „Ueberm Thal”,!) die im Thale des Inn, in Georgen:
berg, Schwaz und Innsbruck ſpielt, lieſt ih ganz angenehm, wenn
fie aud tieferen Werth nicht beanspruchen kann. Die Verfafferin
bewegt fich hier auf einem Boden, der ihr augenscheinlich wohl—
befannt iſt. Geradezu abftohend finde ich dagegen „Raoul und
Irene” ?) dur die ſchwüle Sinnlichkeit, die darin waltet und
mit einer an rivolität grenzenden Ungenirtheit zu Tage tritt.
Daß eine Dame derartiges fchreibt, kann den unangenehmen Eindrud
natürlich nur erhöhen.
Da ift man bei Hans Hoffmann dod in harmlojerer und
beſſerer Gejellihaft. Seine Fleinen Gejchichten „Aus der
Sommerfrifche“ ?) find freifih von ungleihem Werthe, aber
dafür läßt fi von der erſten derjelben, „Auf nie erftiegenem
Gipfel”, rühmen, daß fie mit wirklich köſtlichem, kerngeſundem
Humor geichrieben ift. Wer fie lieft, darf einer heiteren Stunde
gewiß fein und wird die grotesfe Sejtalt der wirklich imponirenden
Schwiegermutter Wittwe Päsfe fchwerlich vergeflen. „Die Sänfte“
ift ebenfalls eine hübſche Feine humoriſtiſche Geſchichte und auch
„Die Zaunrübe” it ganz nett. Weniger gelungen finde id) den
etwas outrirten „Kommiſſär“ und die ernite Erzählung „Das
[lebende Muttergottesbild”, auffallend ſchwach aber die ebenfalls
ernjte Erzählung „Im Vaterhaufe”. Sie leidet an großen Kompo—
fitionsfehlern, die Far am Tage liegen, und ermwedt nur ſehr
mäßiges Intereſſe.
Freunde echten quten Humors will ich bei diefer Gelegenheit
auf ein paar Bücher aufmerfiam machen, die zwar fchon vor einigen
Fahren herausgefommen, aber, wie id) glaube, in den Oſtſee—
provinzen nur wenig befannt find und doch in weiteren Kreiſen
befannt zu werden verdienen, — Bücher, die uns in das Tiroler
Volksleben bineinführen. ch meine vor Allem die köſtlichen, in
I) Ueberm Thal. Novelle von Maria Janitſchek, Breslau 1898,
S. Scottländer.
2) Raoul und Irene von Maria Janitjichef, Berlin 1897, Verlag
von ©. Fiſcher.
3), Aus der Sommerfrifche, Kleine Gefchichten von Hans Hoff:
mann, Berlin 1898, Verlag von Gebrüder Paetel (Elwin Pactel).
434 Neue Belletriftik.
ihrer Art geradezu unübertrefflihen „Geſchichten aus Tirol“
von Karl Wolf.) Man darf fie mit den beiten vollsthümlichen
Sachen von Rofegger auf eine Stufe jtellen. Der berühmte jteirifche
Dichter hat ihnen ein Vorwort auf den Weg gegeben, in welchem
er von den MWolfichen GSefchichten jagt: „Ach wäre ftols darauf,
fie geichrieben zu haben.” Und in der That, es find höchſt
gelungene, in ihrer Art klaſſiſche Sachen, von einem Humor, dem
der ärgite Hypochonder faum wird wideritcehen fönnen. Und fie
find zugleich von hohem Intereſſe als getreuefter Spiegel des
Ziroler Volkes in feinem intimften Leben, Denfen und Empfinden.
Geſchichten wie „'s Wallfaprer Lenerl,“ „Der Protzenwirth,“
„Wie der Knecht den Bauer kurirt,“ „Wie 's Michele horcht, wos
's Vieh redet in der heiligen Nacht,” „Der Sirt und der Hartl
gehn in die Etadt zur Kumedi“ u. a. m. dürften wohl nur bei
MWenigen ihre Wirkung verfehlen. Wolf gilt jest wohl mit Recht
als der beſte Kenner des Tiroler Volkes. Und wie verfteht er
von ihm zu erzählen! — Den Wolfichen Geſchichten ftellen fich
würdig an die Seite „Allerhand Kreutzköpf'“ von Karl
Schönherr.*) Auch er bietet Eaffische kleine Gefchichten aus
dem Tiroler Bolföleben, von den beiten Humor, wie z. B. „Der
Pfannenflider Naz” und Aehnliches. Wolf und Schönherr find
beide Meifter der Charafteriftift und führen uns in bunter Reihe
eine Menge Scharf umriffener Seftalten aus den Tiroler Bergen
vor die Augen. Mögen diefe meine neuen Landsleute den lieben
alten Yandsleuten am Oſtſeeſtrande recht viel Freude bereiten!
L. v. Schroeder.
Innsbrud.
*) Sejhichten aus Tirol von Karl Wolf. Mit einem Vorwort
von J. K. Hofegger, Innsbrud 1592, A. Edlingers Berl. IV. Samml. 1898.
**) Berlin 1505, Verlag von Haeſſel.
a re
Daltifhe Chronik
1897198.
Berihtigung.
In der Baltiihen Chronif unter dem 9. Mai 1808, ©. 115 muß es heißen:
Kommandanten des Kaiſerl. Konvoi's jtatt Kaijerl, Hauptquarticrs.
Baltiſche Chronik
1897/98.
—
Baltiſche Chronif.
1897.
1. Oktober. Die Baltiſche Bratſtwo feiert in Petersburg den
Jahrestag ihres 15-jährigen Beſtehens. Es präſidirt M. N.
Galkin-Wraſſki, unter den anweſenden Ehrenmitgliedern
befinden ſich Erzbiſchof Arſſenij, W. K. Sabler, Gehilfe des
Oberprokurators des heil. Synods, und E. N. Skalon,
Gouverneur von Ehſtland. Gleichlautende Berichte über dieſe
Sitzung ſind im Regierungsanzeiger (Nr. 216) vom 3. Okt.
und in der Eparchialzeitung (Nr. 20) vom 15. Oft. c.
abgedrudt. Der Präfident berichtet über die Verhältniffe der
Orthodorie in den Djtieeprovinzen, wie fie ihm bei einer
vor Kurzem unternommenen Revifionsreije vor Augen getreten
find (Balt. Chr. I, 115). Auf feine Mittheilung, daß Die
Friedrichjtädtiiche orthodore Gemeinde um die Errichtung
einer Bratjtwo : Abtheilung in Friedrichjtadt petitionire,
bejchlieft die Verſammlung, dem Gejud zu entiprechen.
Ferner theilt er mit, daß die Rigaſche weibliche Gemeinschaft
jur heil. Dreieinigfeit mit der Errichtung eines Frauen:
Klofters zur Verklärung Chriſti bei Mitau bejchäftigt ſei,
wobei fie einem Bittgejuche der örtlichen orthodoren Arbeiter:
Bevölkerung nadfomme; die Bratjtwo habe der Nigajchen
Gemeinschaft zu diefem Zwecke bereits verjchiedene Firchliche
Gegenitände gejendet. Der Präjident erklärt, daß Die
Bratjtwo die Herausgabe einer neuen Auflage der „Unter:
weilung im Rechten Glauben“ zu bejchließen habe, da die
I
legte Auflage von 10,000 Gremplaren verariffen ſei.
Erzbiſchof Arſſenij fordert zu weiterer Unterjtügung ber
orthodoren baltiihen Gemeinden auf, bejonders jei eine
bedeutende Verbeſſerung der materiellen Lage der orthodoren
Volfsichullehrer nothwendig. Der Gouverneur Sfalon ver:
bindet mit dem Danfe für die Ernennung zum Chren-
mitgliede die Erklärung, daß er ftets bereit jein werde, bei
der Ausführung aller Nufgaben, die die Bratſtwo ſich ftellt,
mitzumwirfen.
Die „Nomoje Wremja” referirt, daß Galkin-Wraſſki fih in feiner
Nede auch über die Fortichritte der Orthodorie in den Oſtſeeprovinzeu
geäußert und gemeint habe, dal bie Orthodoxie dort zwar nicht ſchnell,
aber muthig und feit Boden faſſe. Am 8. Uftober erfucht darauf der
Geheimrath Galkin-Wraſſki die deutiche „St. Petersb. Ztg.“ mitzutheilen,
dad Die Baltiiche Bratitwo feinerlei milftonirende Beſtrebungen verfolge,
ſondern nur beitrebt jei, die in den Oſtſeeprovinzen bereits beitehenden
orthodoren Gemeinden zu unterjtügen. (Vgl. Seite 24 der 2. Beilage zur
Balt. Chr. vom 1. Januar ce.)
1. Oft. Die „Aurl. Gouv.Ztg.“ theilt mit, daß auf Anitiative
"
der Frau Staatsjefretär Manſſurow ein Frauenflofter bei
Wolgund in der Nähe von Mitau errichtet werden ſoll und
die Krone dazu bereils$ ein real von 150 Dejlätinen
angemiejen hat.
„ Das bei der Haijerlich livländiihen gemeinnügigen und
ökonomiſchen Sozietät in Jurjew (Dorpat) errichtete „Liv-
Ehftländiiche Bureau für Yandesfultur” eröffnet feine Thätigfeit.
Landesfulturinipeftor iſt B. Roſenſtand-Wöldicke. (Balt. Chr.
L, 5 und 19.) Ebenſo iſt die landwirthichaftliche Verſuchs—
jtation mit einem entiprechenden Yaboratorium unter Zeitung
von K. Sponholz dajelbjt in Thätigfeit getreten. Beide
Anftalten find weſentlich aus Mitteln der Nitterfchaften von
Livland und Ehitland mit Hülfe privater Beiträge ins
Leben gerufen.
„ Das Minilterium der Vollsaufflärung bat beſchloſſen,
daß alle lutherischen Kirchen:Clementarfchulen hinfichtlich ihrer
Verwaltung und der Auflicht je nah den Grenzen ihres
Schulkurſus entweder den zweiflaffigen oder den einklaffigen
orthodoren Gemeindeichulen gleichzuftellen find, wobei aber
der lutheriſchen Geiitlichfeit das Recht erhalten bleibt, den
Religionsunterricht in diefen Schulen zu überwachen. —
Bekanntlich gehören die orthodoren Kirchenſchulen zum Reſſort des heil.
Synods, während die lutheriichen Kirchenſchulen nicht mehr unter firdhlicher
Verwaltung (beim Miniiterium des Innern) stehen, jondern dem Minis
fterium der Volfsaufflärung übergeben find. (Balt. Chr. L, 16.)
1. DOM. KRortichritte der Etaatsfirche in Livland: dem livländ.
evangeliich-[utheriichen Konfiitorium find aus dem Jahre 1896
482 Webertritte vom Lutherthum zur Staatskirche befannt
geworden. Die Zahl der in demielben Jahre in Livland
geichloffenen Chen zwiſchen Orthodoren und Lutheranern
betrug 574. — 1896 wurden 17 livländiiche Pajtoren darauf
verflagt, daß fie an von der orthodoren Kirche reflamirten
Perſonen Amtshandlungen vollzogen hätten. Eine in
Petersburg zur Begutachtung folcher Klagen niedergeſetzte
Kommilfion, zu deren Beitande auch der Oberprofurator des
heil. Synods gehört, hat es für möglich befunden, Die
Verfolgung diejer Klagen zu unterfagen. In diefem Jahre
find 14 neue Klagen gegen livländische Paſtoren erhoben
worden; die Enticheidung der Petersburger Kommijfion hat
das Scidjal diejer Klagen noch nicht bejtimmt.
”„ „ Sn Petersburg wird Die jtädtiiche Feiertagsordnung
(Balt. Chr. I, 110) von den meijten Händlern nicht beachtet,
nachdem ein friedensrichterliches Urtheil erflärt hat, daß dieſe
Ordnung feine geſetzlich zwingende Kraft habe, weil ihre
Faſſung von der Negierungsbehörde für jtädt. Angelegenheiten
einfeitig abgeändert worden ſei.
3. „In Wilna findet die feierlihe Grundfteinlegung zu
einem Denkmal des Grafen M. N. Muramjem ftatt, der
1863—65 als General-Souverneur den Aufſtand unter:
drüdte und die Ruhe wieder heritellte.
„ Seit dem 25. Sept. hält fi) der livländ. Gouverneur
auf der nel Oeſel auf, um dort entjtandene Unordnungen
in den bäuerlichen Verhältniſſen zu jchlichten.
29. Sept. — 4. DE. In Berlin tagt eine internationale medizinische
Zeprafonferenz, an der aud) die baltischen Lepra-Spezialiſten
mehrfach vertreten find. Die Schluß-Nelolution der Konferenz
erklärt die Iſolation der Kranken für das bejte Dlittel, um
die Verbreitung der Seuche zu verhindern, und empfiehlt
I*
3.
——
allen Nationen mit autonomen Gemeinden: und einer hin—
länglihen Zahl von Merzten das norwegiſche Syitem Der
obligatoriihen Anmeldung, der Ueberwahung und der
Holation. — Der Bericht der deutichen Beamten, die im
April e. die baltiichen Lepraaſyle befuchten, fpricht in Aus:
drüden der höchiten Anerfennung von der freien Thätigkeit,
die die balt. Vereine und Privatperjonen zur Belämpfung
der Lepra entwidelt haben.
5. Of. Das Finanzminifterium hat verfügt, daß in Kurland
6.
alle Fabritanlagen, deren Arbeiterbeitand 16 Perjonen über:
fteigt und zu deren Betrieb Dampf: oder Waſſer-Motore
angewandt werden, durch beiondere Schäßungsfommilfionen,
die aus den Steuerinjpeftoren und ſachverſtändigen Technifern
beitehen, umgeſchätzt werden jollen.
» Nigafche Stadtverordneten-Verjammlung: Es werden
„Ergänzungsregeln zu den Ortsitatuten über den Viehhandel,
die Viehſchlachtung und die Fleifchbeihau” einftimmig an-
genommen; die Mittel für die Poſten von einem Revier:
aufieher und ſechs Schupleuten im Schlahthaufe und Vieh—
hofe werden ebenjo bewilligt. Abgelehnt wird mit großer
Majorität ein Geſuch von 26 Fleifchermeiltern um Erridtung
eines zweiten jtädtiihen Schlahthaufes in der Mitauer
Vorftadt. — Der Kurator des Lehrbezirks fragt durd das
ſtädtiſche Schulfollegium an, ob die aus dem Budget von
1897 zur Gröffnung neuer ſtädtiſcher Clementarjchulen
bewilligten 5000 Rbl. auch für die Zukunft budgetmäßig
feitgejegt jeien. Die Stadtverordneten halten fih nicht für
befugt, die Stadtverwaltung für alle Zeiten zu verpflichten,
und beicdhließen, daß die Bewilligung der 5000 Rbl. den:
jenigen Beichlüffen gleichgeftellt werden ſoll, auf Grund deren
alljährlih die Ausgabepoften für die übrigen ſtädtiſchen
Elementarichulen in das ftädt. Budget eingeftellt werden.
„ Der „Rühiti Weſtnik“ verlangt die fofortige Einführung
des Ruſſiſchen als ausschließlicher Geichäftsiprahe in allen
Gemeindegerichten. Die Gerichtsreform von 1889 habe in
den ($emeindegerichten und für deren Verkehr mit den
DOberbauergerichten als Gerichtsiprache außer dem Ruſſiſchen
zeitweilig, bis zur Herausgabe bejonderer Regeln,
a
auch das Lettiiche, Ehſtniſche und Schwediiche zugelaflen,
d. h. dasjenige örtliche Idiom, das von der Mehrzahl der
ländlichen Bevölkerung im Bezirk des Gemeindegerichts oder
des Oberbauergerichts geiprocdhen werde. Trotzdem dieſe
zeitweilige Regel nun ſchon acht Jahre eriltire, ſei Doch
bei der Strömung zur Abfonderung, die in der frembd-
ftämmigen Bevölferung herriche, die definitive Einführung
der rufliichen Gerichtsiprahe nur zu erwarten, wenn Die
Regierung fie rückſichtslos dekretire. Man müſſe ſich an das
Wort erinnern, das der verjtorbene Juftizminijter Manaſſein
an die in das Gebiet neu berufenen ruſſiſchen Kräfte richtete:
„Sie, meine Herren, verftehen freilich nicht die lettifche oder
die ehſtniſche Sprade; aber das iſt vortrefflid — mögen
jene rujjisch lernen.” Das jei das einzig Richtige: „ihre
perjönlichen und materiellen Intereſſen werden die Fremd:
jftämmigen ſchon veranlaflen, ruſſiſch zu lernen, wenn fie
eben auf feine andere Weile beim Gericht Hilfe und Ver:
jtändniß finden.” Erjt wenn Seriht und Schule von jedem
unbedingt die Kenntniß der rujfiihen Sprache forderten,
würde ſich die örtlihe Bevölkerung mit dem Vaterlande
vereinen. In den littauiichen und ſhmudiſchen Gemeinde:
gerichten habe man jchon längjt die ruſſiſche Gerichtsiprache
eingeführt, und trogdem es dort noch immer Orte gebe, wo
die Bevölferung das Nujfische nicht verjtehe, leide die Sache
darunter ganz und gar nicht.
7. Oft. Die Soldbedihe Gemeinde des Walkſchen Kreiſes hat
den Vorſchlag ihres Bauerkommiſſars angenommen und
petitionirt um Die Umwandlung ihrer Gemeindejchule in
eine zweiflajjige minijterielle Schule. — Der Negierungs:
anzeiger (Nr. 219) giebt eine Befchreibung von der Ein:
weihung des neuen Echulgebäudes der zweiflajfigen mini:
jteriellen Schule in Bolderaa, die jet 170 Lernende zählt.
Den Grund und Boden für diejelbe jchenfte die Baroneije
Burhöwden, unter den Geldjpendenden ragt ein Kaufmann
Kleinberg mit 3000 Rbl. hervor.
„ Eine Mittheilung des Miniſteriums der VBolfsaufflärung
erklärt, daß jeit der bei diefem Dlinifterium im Febr. 1893
erfolgten Errihtung einer bejonderen Abtheilung zur Leitung
—
der Gewerbeſchulen die techniſche und profeſſionelle Bildung
ſich in Rußland bedeutend entwickele. Anfang 1897 gab es
50 Gewerbeſchulen, und in dieſem Jahre werden noch 14
eröffnet. Ferner ſtehen unter der Leitung des Miniſteriums
5 höhere Spezialanſtalten, 60 verſchiedenartige techniſche
Schulen und über 450 Handwerksklaſſen. Es hat ſich gezeigt,
daß es unmöglich ift, die Bezirks- und Volksſchul-Inſpektoren
mit der Beaufjihtigung aller diejer Schulen zu betrauen.
Daher will das Vlinifterium auf legislativem Wege mit dem
1. Januar 1898 zwei bejondere Jnjpeftorenämter für dieſe
Schulen freiren.
7. Ott. Der Dirigirende Senat hat entichieden, daß in Blanco
10,
cedirte Hupothefariihe Obligationen auch vom Schuldner
jelbft zur Ingroſſation vorgeftellt werden dürfen. Die Felliner
Hnpothefen-Abtheilung und das Friedensrichter- Plenum hatten
die Frage verneint. Es bleibt aljo bei der alten Praris.
„ Die „Kurländ. Gouvern.Ztg.“ (Nr. 81) konftatirt, daß
in Kurland die Zahl der Landfrüge jehr bedeutend ab-
genommen bat: während 1890 noch 1177 erijtirten, gab es
1896 nur 682 Landfrüge.
„ Die Neichsfontrolle hat dem Neichsrath den Rechenſchafts—
bericht über die Ausführung des Budgets für das Jahr 1896
vorgejtellt. Der „Wejtnik Finanzow“ giebt dazu Erläuterungen,
die das Jahr 1896 als eins der glänzenditen und erfolg:
reichjten Jahre in der ruffiichen Finanzentwidelung erfennen
laſſen follen. Die gewaltige Höhe der Budgetpojten muß
gewiß Staunen hervorrufen, wenn man ſich erinnert, daß
nod) vor faum zehn Jahren die Ziffern des ruffiichen Budgets
zweimal fleiner waren. Bei einem Vergleiche des realifirten
Yudgets mit jeinem Voranjchlage zeigt ih, daß fait in
allen Berwaltungsgebieten die angewiejenen Ausgabe- Summen
überjchritten werden mußten. Nur in den Reſſorts der
Volfsaufflärung und der Landwirthichaft lag dieſe Noth-
wendigfeit nidyt vor. — Mit Bezug auf die in der Balt. Chronif
Seite 62 aufgenommenen ungenauen Ziffern ijt zu bemerfen, dab das
Defizit des Gejammtbudgeis 72,, Million Rbl. beträgt, Die aus den jo
reihlic) vorhandenen Baarmitteln gededt wurden. Auch ſind dajelbit
fälſchlich die Poſten der Losfaufszahlungen, der Branntweins und der
— —
Zucker-Akziſe als Mindereinnahmen ergebend aufgeführt. Dieſe Einnahme:
poſten ergaben im Gegentheil eine Steigerung um ca. 18 Mill. Rbl.
10.—15. Oft. [Livländiiche Provinzial-Synode zuMWenden.]
Unter den vorgelegten wiitenjchaftlichen Arbeiten und gehaltenen
Vorträgen jeien erwähnt: Ueber die Nothiwendigfeit und die
Mittel, das evangeliich-lutheriihe Gemeindebewußtiein zu
jtärfen; Bibliihe Gedächtnißmittel im Neligionsunterricht;
Ueber die Abendmahlslehre; Die Pädagogik in den evangel.:
lutherischen Volksichulen während der legten zehn Jahre. Die
fettiiche Bibelemendation ift beendet, und die Trudlegung
der neuen Bibel joll demnächſt beginnen. Dieje große Arbeit
haben ausgeführt die Baftoren: Auning, Bernewig-Neuenburg,
Dr. Bielenftein, Kundfin:-Smilten, Neuland Wolmar. Der
lettiiche Tert der neuen Kirchenagende wird gleichfalls demnächſt
fertiggeftellt fein.
15. Oft. Ein Ufas des heiligjten Synodes giebt dem Rigaſchen
orthodoren Konfijtorium zu willen: Der Herr und Kaiſer hat
am 4. Oft. d. J. eine allerunterthänigjte Unterlegung des
heil. Synodes Allerhöchit beftätigt, wonach Arjjenij, bisheriger
Erzbiichof von Riga und Mitau, zum Erzbiichof von Kaſan
und Swijalhif und Agathangel, bisheriger Biſchof von Tobolsf,
zum Bilchof von Riga und Mitau ernannt ift.
» Die Rigajche Eparchialzeitung (Nr. 20) veröffentlicht einen
vom 21. April d. J. datirten Kaiſerlichen Ukas aus dem
heil. Synod an den Erzbiichof Arhjenij: Der bochwürdige
Erzbiſchof Arjienij hat darum nachgeſucht, daß für Die
Rigaſche Epardie der 8. Januar zu einem nach dem Uſtaw
für große Feittage zu feiernden Feſttage beitimmt werde —
zum Andenfen an den heiligen Märtyrer Iſidor und Die
72 Märtyrer, die mit ihm zujammen in Jurjew den Tod
erlitten. Daraufhin bat der heil. Synod befohlen: Die von
dem bochwürdigen Sergius, Erzbiihof von Wladimir, zu—
jammengejtellte Bejchreibung von dem Leiden des heiligen
Märtyrers Iſidor und feiner 72 Mitmärtyrer, die 1472 in
Jurjew für den orthodoren Glauben jtarben, joll ebenjo wie
der für dieſe Märtyrer von demjelben hochwürdigen Sergius
regulirte „Kirchendienjt” dem Drud übergeben werden, und
die eier des Andenkens der genannten Märtyrer hat am
BR
8. Januar in der Nigafchen Eparchie jtattzufinden. — Zu
diefem Ukas gab der Erzbiichof Arſſenij am 20. Auguft die
Nejolution: „Gelobt jei Gott! In der ganzen Eparchie ijt
am Vorabend des 8. Januar 1898 ein Abendgottesdienit
und am 8. Januar ſelbſt eine Liturgie und ein Gebets—
gottesdienjt mit einer angemejjenen Predigt abzuhalten.“
15. Oft. Die „Nowoje Wremja” theilt mit, daß die Ausdehnung
18.
der Thätigfeit der Baueragrarbanf auf die Baltiſchen Gou—
vernements von den Miniftern des Innern umd der Finanzen
im Prinzip fejt beichlojien jei; die Gouverneure von Ehſt—
und Livland hätten fich ftrift dahin ausgeiprochen, daß Diele
Ausdehnung durchaus nothwendig jei. Es ſei zunächſt ein
Beamter zur Sammlung von Daten in die ‘Provinzen ab-
delegirt. Die ruffiihe Baueragrarbanf werde die Beziehungen
der Bauern zu den Gutsbeſitzern jchleunigft zu liquidiren
und den landlojen baltiihen Bauern beim Ankauf von Land:
parzellen behilflich zu fein haben.
„ Der „Rihifi Weſtnik“ (Nr. 231) veröffentlicht den Brief
eines angeblichen „lettiichen lutherischen Paſtors.“ Der
Verfaſſer verjuht die Nothwendigfeit der Gründung von
„nationalen“ theologiichen Profeſſuren durch die ſchamloſeſten
Lügen zu begründen. Nachdem er die deutich:baltiiche ‘Breite
geſchmäht Hat, bezeichnet er die gegemwärtige theologiſche
Safultät als einen „Nijtplag” zur Germanifirung der Yetten
und Ehjten; dort werde nur für deutidj-nationale Bedürfniſſe
gejorgt, die deutſchen Paſtoren verjtänden deshalb mit wenigen
fümmerlidhen Ausnahmen garnichts von der Eprade ihrer
Gemeinden; die Konſiſtorien eraminirten ihre Schüßlinge nur
pro forma, die lettiihen Theologen dagegen hielten jie von
den baltischen Paſtoraten möglichit fern, ließen ſie nad)
Eibirien und in die Kolonien gehen u. j. w.
„ Der Dirig. Senat hat zu den gejeglichen Bejtimmungen
über das Recht der Stadtverordneten-Verſammlungen, ver:
bindlide Verordnungen zu erlajfen, Erläuterungen gegeben.
Danach haben die Stadtverordneten nicht das Recht, in
ihre Verordnungen Bejtimmungen über die kriminelle Ver:
antwortlichfeit der ‘Berjonen, die dieſe Verordnungen verlegen,
und über die den Charakter einer Ergänzungsitrafe tragende
——
Konfiskation des Vermögens ebenderſelben aufzunehmen; die
Feſtſetzung des Grades der Verantwortlichkeit und des Um—
fanges der Geldſtrafe für eine Verletzung der verbindlichen
Verordnungen der Stadtverordneten-Verſammlung ſteht nur
dem Gericht zu. — Der Miniſter des Innern erläutert durch
ein Zirkular den Modus der Beſchwerdeführung über die
Gouvernements-Behörden für ſtädtiſche und landſchaftliche
Angelegenheiten. Wenn es ſich um Verfügungen handelt,
die die gen. Behörden in ihrer Eigenſchaft als Reviſions—
inſtanzen bezüglich der ihnen zur Prüfung überwieſenen
Beſchlüſſe der Stadtverordneten- und Landſchafts-Ver—
ſammlungen getroffen haben, ſo müſſen die Beſchwerden an
den Dirig. Senat durch das Miniſterium des Innern
gehen; dagegen find die Beſchwerden direkt an den Dirig.
Senat zu rihten in allen den Fällen, wo die gen. Behörden
als anordnende Ndminijtrativorgane gehandelt haben, 3. B.
bei Feſtſetzung des Gehaltes der ſtädtiſchen oder landjchaftlichen
Beamten und überhaupt bei allen ungerechtfertigt erjcheinenden
Verfügungen adminijtrativer Natur.
19. Oft. Reformationsfeſt. Das 15. Flugblatt der Unterjtügungs:
fajje für die evangelijcdy-Iutheriichen Gemeinden Rußlands
theilt mit, daß die Kalle an Kolleften, Beiträgen, Ver:
mächtniſſen und Darlehns-Rüdzahlungen 83,920 bl. ein:
genommen bat und an Unterftügungen 81,301 Rbl. aus:
gezahlt hat. Damit fonnten aber viele dringende Bedürfnifie
noch lange nicht genügend berüdjichtigt werden. — Die Auf:
hebung von 11 Militärpredigerſtellen (Balt. Chr. L, 31) hat
die Ausgaben der Unterſtützungskaſſe erhöht. Eine Anzahl
von Pfarren fann ohne den Erjag des Ausfalls der bis-
herigen Militärprediger-Gagen nicht bejtehen und die Unter:
ſtützungskaſſe muß diefen Eriaß aus ihren Mitteln hergeben.
— Die meijten Unterjtügungen erhielt der Konfijtorialbezirf
Moskau; in den Djtjeeprovinzen hat Kurland nicht einmal
die im eigenen Gebiet nothiwendigen Unterjtügungen volljtändig
aufgebradht, während das fleine Chftland (ganz bejonders
hervorragend und jogar Riga jtarf übertreffend Neval) bei
2! Mal größere Einnahmen einen bedeutenden Ueberſchuß
erzielte.
20. Oft. In Wolmar wird das 200-jährige Beitehen der Wolmarjchen
23.
evangelifch-tutheriichen Gemeindeichule gefeiert. Aus dieſer
Schule war. einjt das jegt eingegangene livländische Schul—
lehrerjeminar, das jogen. Ziemjeiche, hervorgegangen.
» In der Betri:, Dom- und Gertrudkirche zu Niga findet
eine Gedenkfeier der Antrittspredigt jtatt, die vor 375 Jahren
an diefem Tage Andreas Knopken, der erfte lutherijche Prediger
Livlands, in der Petrikirche hielt.
„» Stadtverordnetenverfammlung zu Jurjew (Dorpat): Zwei
furatoriihe Schreiben theilen der Berfammlung die Kopien
von zwei inhaltlich gleichen Anordnungen mit, die der Minijter
der Vollsauflflärung im Mai d. J. getroffen hat. Danach
jind zwei bisher der Stadt Jurjew (Dorpat) gehörige Kapitale
— die Pereiraihe Stiftung von 2000 Rbl. und die von
U. Wulffius gemachte Schenkung von 1000 Rbl. — in das
Eigenthum der Jurjewſchen (Dörptichen) Regierungs: und
Stadtihulen überzuführen und die Zinjen diefer Summen
in Zufunft von dem Schulfollegium im Einvernehmen mit
dem örtlichen Volksſchulinſpektor zu vertheilen. Die Ver:
jammlung beichließt daraufhin einftimmig, über dieſe vom
Minifter verfügte Abänderung einer Stiftungs- und einer
Scenfungsurfunde beim Dirig. Senat Beſchwerde zu führen
(vgl. die gleichen Fälle in Pernau und Walf, Balt. Chr. L,
112 und 124). Ferner liegt ein Zirfular aus dem Miniſterium
des Innern vor. In ihm wird die Anjtellung von Polizei—
Herzten für jehr wünjchenswerth erflärt und angefragt, in
welchem Maße ſich die Koften eines ſolchen Amtes aus der
ftädtiichen Mitteln bejtreiten ließen. Die Verjammlung
bejchließt zu antworten: Da der Polizeiarzt von der Negierung
und nicht von der Stadtverwaltung eingefegt werden joll,
hält legtere es für unmöglid, aud nur einen Theil der
Koften von fih aus aufzubringen. — Die Felliner Stabt-
verordnneten haben am 10. Dftober auf Ddiefelbe Anfrage
geantwortet: In Fellin jei ein Polizeiarzt völlig überflüſſig,
da der Studtarzt dort ohne jede Schwierigkeit alle Pflichten
eines ſolchen erfülle; falls aber die Negierung durchaus eine
ſolche Charge freiren wolle, werde die Stadt von ſich aus
eine Jahresgage von 221 Rbl. zu dieſem Zweck bewilligen.
24
to
25.
IL
Sy)
27.
tt
=]
——
. Oft. Ein Allerh. Befehl bewilligt zur Vollendung des Baues
der Nevaler Kathedrale 75,000 Rbl. aus den Summen der
Neichsrentei und verfügt, daß zu demjelben Zweck eine gleiche
Summe in das Budget des heil. Synods von 1899 ein-
geitellt werde.
„ An der Warjcauer Univerjität fommen Unordnungen unter den
Studenten vor (Demonjtrationen gegen das Muramjew:Denfmal). 244
Studenten werden zur Verantwortung gezogen. Die Strafen werden
aber jpäter im Einvernehmen mit dem Öeneralgouverneur gemildert, jo
daß nur 30 Studenten die Univerjität verlaffen müſſen.
5. Oft. Der Dirig. Senat hat in Veranlajjung eines fonfreten
Falles eine Nechtserklärung gegeben, die für die rechtlichen
Beziehungen zum Auslande von großer praftiicher Bedeutung
it. Es lag die Frage vor, ob die irrige Auslegung aus:
ländiſcher Geſetze durch ruſſiſche Gerichte zu Geſuchen um
Verwerfung von Gerichtsurtheilen auf dem Kaſſationswege
berechtige. Der Senat hat dieſe Frage bejaht, indem er
erklärte: Das ruſſiſche Geſetz (Art. 707 u. 708 der Krim.:
Ger.-D.) jchreibt vor, daß im Auslande abgejchloffene Verträge
und Alte auf Grund der Gejeke des betreffenden Staates,
in dem fie abgejchlojfen wurden, zu behandeln find, und
giebt damit für jolde Fälle den ausländischen Geſetzen die
gleiche Rechtskraft wie den einheimischen; eo ipso hat deshalb
das ruſſiſche Geſetz auch die Möglichkeit einer irrigen Aus:
legung ausländiicher Gejege durch ruſſiſche Nichter im Auge
gehabt.
„ Erzbiichof Arſſenij vollzieht die Einweihung eines Platzes
zum Bau einer athedrale (cobopuaro xpama) für die Rigaſche
weibliche Gemeinſchaft zur heil. Dreieinigfeit.
„ In der ruſſiſchen Preſſe werden die Angriffe der nationalijtiichen
Organe gegen die „Peterburgsfija Wedomoſti“ und den Fürften Uchtomski
immer heftiger und leidenichaftlicher, wobei es ſich in erjter Linie um
polnijcye Berhältnijie handelt. Ter „Smjet” bezeichnet es als ein höchſt
jonderbares Faktum, Daß in einem der Negierung gehörigen Blatte eine
Politif getrieben werde, die der Einheit des Staates jtrift feindlich jei.
. Oft. Aus dem Zirkular für den Rigaſchen Lehrbezirk (Nr. 8,
vom 1. Auguit datirt, erſt jegt erichienen): Ein am 24. Dlärz
d. J. Allerhöchſt bejtätigtes Neichsrathsgutachten lautet: 1.
Die am 22. Mai 1862 Allerh. bejtätigten Anjchlags-Negeln
(für das Staatsbudget) jind durd folgende Bejtimmungen
1 .—
zu ergänzen: 1) Die vorfommenden Geldjpenden zu bejtimmten
Zweden, die in der feitgejegten Ordnung genehmigt find,
werden den Epezialmitteln desjenigen Reſſorts zugezählt, zu
deſſen Dispofition dieje Spenden gejtellt find, ohne daß dazu
ein Allerh. Befehl auf gejeßgeberiihem Wege zu erportiren
ift. Die betreff. Reſſorts haben von allen derartigen Spenden
der Gtaats-Kontrole unverzüglid Mittheilung zu maden.
2) Die erwähnten Summen werden in die Anjchläge ein-
getragen, die die betreff. Reſſorts dem Neichsrath vorzuftellen
haben. II. Die vorjtehenden Regeln find auf alle Spenden
anzumenden, die unter die Depofiten gezählt werden und nod)
nicht in die Anjchläge der Spezialmittel eingetragen find. —
Ein Allerh. Befehl vom 30. Juni d. J. verfügt, daß der
Lümmadaſchen Gemeindeſchule (vgl. oben zum 3. Dftober,
minijterielle Schule) fünf Jahre hindurch jährlid 29 Kubik—
faden Brennholz aus den SKronswäldern unentgeltlich zu
liefern find. — Der Miniſter der Volfsaufflärung hat auf
ein Geſuch der Gemeindeverjammlung von Tihorna im
Jurjewichen (Dörptiden) Kreiſe die Gründung einer zwei-
Elajfigen minifteriellen Schule in Tſchorna verfügt und zum
Bau des Schulgebäudes 2000 bl. angewiejen. — Der
Kurator des Lehrbezirts hat die Schließung der pädagogijchen
Ergänzungsklajje (zur Ausbildung von Gemeindejchullehrern )
bei der Goldingenichen zweiflaffigen minijteriellen Schule
verfügt und die Eröffnung einer ſolchen Klaſſe bei der zwei:
klaſſigen minijteriellen Volksſchule zu Yohowes im Jurjewſchen
(Dörptſchen) Kreiſe angeordnet. (In Goldingen befindet ſich
bekanntlich ein frequentirtes ruſſiſches Volkslehrerſeminar.) —
Dem Miniſter der Volksaufklärung iſt vom Miniſterkomité
bekannt gegeben: in dem allerunterthänigſten Bericht über
den Zuſtand des kurländiſchen Gouvernements im Jahre 1895
iſt zu der Erklärung des Gouverneurs, daß die ruſſiſche
Sprache immer mehr auf friedlichem Wege den ihr im
Gebiet gebührenden Platz einnehme, folgende Allerhöchſte
Bemerkung erfolgt: „Das iſt eine ſtarke Bürgſchaft für die
Einigung mit den übrigen Gebieten Rußlands.“
28. Okt. Ernannt werden: der Gehilfe des Finanzminiſters Senator
Iwaſchtſchenkow zum Gehilfen des Reichskontroleurs, der
Gehilfe des Minifters des Innern Fürſt Obolenifi und der
Dirigirende der Reichs-Adelsagrarbank Fürſt Lieven zu
Mitgliedern der Bejondern Konferenz in Sachen des Adels-
ſtandes.
29. Okt. Auf den Konferenzen der Volksſchullehrer des St. Peters—
30.
burger Gouvernements iſt als durchaus nothwendig erkannt
worden, in den Schulen der im Gouvernement anſäſſigen
Fremdvölker, der lutheriſchen Ehſten und Finnen ebenſo wie
der orthodoxen Iſhoren, möglichſt ſchnell und vollſtändig die
Mutterſprache dieſer Fremdvölker durch die ruſſiſche Sprache
zu erſetzen. Dagegen ſchreibt das geiſtliche Reſſort den
Schulkonſeils der Eparchialſchulen vor, an den Schulen der
Fremdvölker das Lehramt, wenn irgend möglich, nur ſolchen
Perſonen zu übertragen, die die betreff. Fremdſprache gut
beherrichen und gegebenen Falls auch den Neligionsunterricht
in dieſer Sprache ertheilen können.
„ Für die Beamten des Minifteriums der VBolfsaufflärung
it eine neue Uniform Allerh. bejtätigt worden. Obligatoriſch
wird das Tragen derielben am 1. Januar 1900.
„ An der Jurjewſchen Univerfität find populär-willen-
Ichaftliche Vorträge eröffnet worden. Cs follen regelmäßige
Kurje in den einzelnen Disziplinen zunächſt der phyſiko—
mathematilchen Fakultät fein. Damit joll etwas in der Art
der jebt viel beiprochenen und jehr verichieden beurtheilten
„Volks-Hochſchulen“ geichaffen werden. An der alten Univerfität
Dorpat wurden von jeher populär-wiljenichaftliche Vorträge
gehalten; jie erfreuten jich (als „Aulavorträge”) beim Bublitum
einer lebhaften Sympathie. Es handelte ſich dabei aber um
frei gewählte, von einander unabhängige Themata. — An der
gen. Univerfität iſt jet auch eine ruſſiſche „gelehrte litterariſche
Sejellichaft” gegründet worden.
„ Zum weltlichen Mitgliede des evangeliſch-lutheriſchen
General-Konſiſtoriums für das laufende Triennium iſt der
Staatsrath von Aderkaß, Nanzleidireftor der Verwaltung der
Kinderaiyle bei den Anjtalten der Kaiſerin Maria, ernannt
worden.
„ Im „xiſhſki Weſtnik“ wird lebhaft darüber geflagt, daß
die Abiturienten der ruſſiſchen Lehrerſeminare im baltiſchen
—
Gebiet bei der Beſetzung der Volkslehrerſtellen noch immer
viel zu wenig berückſichtigt würden. Die Regierung müſſe
durchaus noch ſtärker den örtlichen Einflüſſen entgegentreten,
die der Anſtellung ruſſiſcher Volkslehrer feindlich geſinnt ſeien.
30. Oft. Zu den Verurtheilungen wegen des Tragens von Kor—
31.
porationsfarben und Schmüdung der Häufer während der
Subiläumstage der Livonia (Balt. Chr. L, 145) ift noch eine
ganze Reihe von weiteren Fällen binzugefommen, und alle
Berurtheilten haben appellirt. Neun Fälle werden jest in
zweiter Inſtanz vor dem riedensrichterplenum verhandelt.
Vergebens weilt der vertheidigende Advokat nah, daß eine
ganze Reihe von Senatsenticheidungen der Polizei aus:
drüdlich das Recht abipricht, „zur Aufrechterhaltung der
öffentlichen Ordnung und zum Schutze des Publikums“
Forderungen zu ftellen, die nicht durch ein pofitives Geſetz
geftattet find und die zugleich die perjönlichen Rechte von
Privatperfonen oder deren Tispofitionsrechte über ihr
Vermögen beichränfen. Sämmtliche friedensrichterliche Ver—
urtheilungen werden bejtätigt.
„Drer Libauſche Polizeimeiſter Konkewitſch wird als Beamter
zu beſonderen Aufträgen ins Reſſort des Finanzminiſteriums
übergeführt. — Der Dirigirende des ehſtländiſchen Kameral—
hofes M. V. Simin wird in der gleichen Stellung nach
Penſa verſetzt; ſtellvertretend tritt an ſeine Stelle der Chef
der I. Abtheilung A. Armſen. — Der ehſtländ. Medizinal—
Inſpektor Dr. med. M. W. Sſaweljew iſt in gleicher
Stellung nad) Jekaterinoſſlaw übergeführt, und der bisherige
Jekaterinoſſlſawſche Mtedizinalinipeftor Dr. med. Lipski wird
fein Nachfolger in Ehitland.
„» Der Negierungsanzeiger lenkt häufig und ausführlich Die
Aufmerkſamkeit feiner Zeier auf die Gründung neuer und
die Umbildung alter Volksſchulen in den Djtjeeprovinzen.
So erzählt er (Nr. 238) von der am 17. Oftober c. voll-
zogenen Einweihung eines neuen Schulgebäudes in Echwedthof
bei Mitau, das 160 Lernende aufnehmen fönne und der
Gemeinde mehr als 8000 Rol. gefoftet habe, troßdem Die
Krone alles zum Bau nöthige Holz unentgeltlich hergegeben
15 —
habe. Noch mehr, heißt es etwas ſpäter (Nr. 240), hätten
die Bauern zu Kerſel im Jurjewſchen Kreiſe für den Bau
eines Gebäudes aufgebracht, das eine zweiklaſſige miniſterielle
Schule aufgenommen habe. Am 5. Oft. fei es feierlich in
Gegenwart von Negierungsbeamten und Profeſſoren der
Jurjewſchen Univerfität eingeweiht worden. Zum Zuftande-
fommen diejes IWerfes habe die eifrige Thätigfeit des Bauer:
kommiſſars und des Volksſchulinſpektors jenes Bezirkes viel
beigetragen. Die beiden neuernannten Lehrer, Tutherifche
Ehiten, jeien Zöglinge aus den legten Yahrgängen des
Surjewichen und Walkſchen Lehrerfeminars. — Verſchiedene
Erjcheinungen laſſen erfennen, dab die Abjicht vorliegt,
möglichit viele evangel.lutheriiche Volksschulen in minifterielle
Schulen umzumandeln, die man jegt auch als „konfeſſionsloſe“
zu bezeichnen pflegt. Schon im Auguſt e. hat der furländ.
Gouverneur, einem Wunſche des Kurators entjprechend, die
furländifchen Bauerkommiſſare angewieſen, alle ihnen unter:
jtehenden &emeindeverwaltungen zur Ummandlung der
Gemeindeichulen in minifterielle aufzufordern. Diejen Auf:
forderungen haben bereits mehrere Gemeinden zu entiprechen
begonnen, obgleih ſie nicht verfennen, daß dadurch Die
Gemeindekaſſen, ungeachtet der von der Krone zugejagten
Subvention, mehr als früher belajtet werden und die Schule
der Einflußiphäre der Semeindeverwaltung dabei noch mehr
entzogen wird. Auch in Yivland hat der Kurator die Bauer-
fommilfare aufgefordert, für die Gründung minifterieller
Schulen zu wirfen tebenfo in Ehjtland, Balt. Chr. J, 103).
Der „Riſhſki Weſtnik“ weiß zu berichten, daß bereits viele
Geſuche von Gemeinden zur Umwandlung ihrer Schulen
vorliegen; nad ihm erklären die Gemeinden, daß fie gern
die höhern Kojten tragen wollen. Ehſtniſche Blätter berichten,
daß man im MWejenbergichen Kreiſe in jedem SKirchipiel
1--3 minifterielle Schulen zu eröffnen beabfichtige; dadurch
werde man dort den vielen geheimen Schulen ein Ende
bereiten, die meijt von den alten, wegen „Unfähigfeit” von
ihrem Amt entfernten Lehrern unterhalten werden. — Nach
dem „Riſhſki Weſtnik“ hat ſich die Rigaſche Yehrbezirks:
Verwaltung, da die miniteriellen Schulen fid jo vortreftlich
— 16
bewährten, an das Miniſterium um Aſſignirung größerer
Geldmittel zur Vermehrung ſolcher Schulen gewandt.
1. November. Der „Riihifi Weſtnik“ führt wieder einmal aus, daß die Studenten:
"
Korporationen in Jurjew (Dorpat) Produkte eines rein deuiichen Geistes
feien, deshalb bei den Ehiten und Letten nie Sympatbien gefunden
hätten und jih auch nie dem ruffiichen Geiſte anpafjen könnten. Jetzt
hätten verschiedene Einwohner Aurjems (Dorpats) bei der Regierung
dringend um definitive Aufhebung dieſer Korporationen nachgeſucht, da
diefelben die gewohnheitsmäßige Ordnung und den regelmäßigen Lauf
des ſtädtiſchen Lebens zeritörten. — Dafjelbe Organ verfichert, daß die
Sache der „nationalen“ Profeffuren in Petersburg lebhaft betrieben werde
und einen fehr günitigen Verlauf nchme.
„ Aus dem Rechenjchaftsbericht der Geſellſchaft zur Ver:
breitung der Bildung unter den Juden in Rußland iſt zu
entnehmen, daß von diejer Gejellichaft im 9. 1896 für ihre
Zwede 138,806 Rbl. verausgabt wurden. Davon fielen
auf die Dftfeeprovinzen, wo die Gefellichaft 59 Mitglieder
bat, 5148 Rbl.
„ &s wird fonftatirt, daß der Dirig. Senat in den legten
zwei Jahren über 87°/o der Verfügungen und Verordnungen
der Gouvernements-Behörden, gegen die die Landichafts-
verfammlungen flagbar geworden waren, aufgehoben hat.
Außerdem wurde noch eine ganze Neihe von Verordnungen
der Souverneure und von Verfügungen der Gouv. Behörden,
über die der Senat Erflärungen allgemeinen Charakters abgab,
von ihm als nicht fompetent befunden. — Der Senat hat
entichieden, daß die Stadtverordnetenverfammlungen beredtigt
find, ſtändige Nevilionsfommilfionen zu wählen oder Die
Kommillfionen zur Prüfung der Hechenfchaftsberichte in
ftändige zu verwandeln, wobei die betreffenden Kommiffionen
aber nur einen fontrolivenden Charakter haben follen und
fih in die anordnende Thätigfeit der Stadtämter nicht ein:
mijchen Dürfen.
„ Ein Mlerhöchit bejtätigtes Neichsrathsgutachten hat ent-
ichieden, daß die Seemannsſchulen wieder dem Reſſort des
Ninanzminijteriums unterzuordnnen feien. Die Organijation
diefer Schulen fand im J. 1867 unter dem Finanzminijterium
ftatt. Als 1881 die Durchführung des Prinzipes der „Ein:
heitlichfeit im Unterrichtswejen” begann, gingen fie mit
andern unter demjelben Miniſterium jtehenden Lehranjtalten
— —
an das Miniſterium der Volksaufklärung über und kamen
unter die Auflicht der Wolfsichulinipeftoren. Von dem nun-
mehr eintretenden äußerſt unbefriedigenden Gange der
Seemannsbildung legten bald zahlreiche Klagen und Eingaben
der Vertreter der Handelsichiffahrt und der Kaufmannicaft
in den Eeeftädten Zeugniß ab. Das Minifterium der Volfs-
aufflärung war troßdem der Anficht, daß die Beitimmungen
von 1881 aufrecht erhalten werden mühten; das Finanz:
minijterium aber erflärte es fir nothwendig, die Seemanns—
Ihulen wieder in feine eigene Verwaltung zu nehmen.
Demgemäß hat nun der Neichsrath entjchieden und zugleich
dem Finanzminifterium anheimgeftellt, eine Vorlage zur
Reform des gegenwärtigen Standes der feemännifchen Aus:
bildung auszuarbeiten.
1. Rov. Lettiiche Zeitungen ſprechen von einem den Landgemeinden zus
ftchenden Nechte, ihre Lehrer felbjt zu mählen. Dem gegenüber wird
darauf hingemwicien, dat bie „temporären Regeln vom 17. Mai 1887"
ein Wahl: oder auch nur ein Vorſchlagsrecht der Landgemeinden nicht
erwähnen. De facto hängt es von dem guten Willen der Volksſchul—
inipeftoren ab, ob und wie die Gemeinden ihre Wünſche in Betreff der
Lehreranftellung äußern dürfen. Die Inſpektoren haben jedenfalld das
Recht, von ſich aus die Lehrer zu entlaffen und durd nur ihnen geeignet
ericheinende Perfönlichfeiten nach Belieben „proviloriich“ zu erſetzen.
2. Nov. In Neval findet die feierliche Weihe und Aufrichtung
des Kreuzes auf der Hauptfuppel der neuen Nlerander:
Nemwjfi-Hathedrale vor dem Schloß auf dem Domberge jtatt.
„ Der Negierungsanzeiger (Nr. 240) meldet: „Der Herr
und SKailer genehmigte die Entlaſſung des hochwürdigen
Arjienij, Erzbiihofs von Kaſan, in feine Eparchie und Die
Berufung des hochw. Theognoſt, Erzbischofs von Nomgorod,
jowie des hochw. Dimitri, Biſchofs von Twer, nad) Petersburg
zur Theilnahme am heiligiten Synod.“ Erzbiſchof Arjjenij
gehörte bisher zu den refidirenden, d. h. auf bejtimmte Zeit
berufenen Mitgliedern des heil. Synodes.
5 Rejidenzblätter melden, dai das Finanzminiſterium im Verein mit
dem Kriegsminiſterium und dem Minifterium der Landwirthichaft eine
Enquete der deutſchen Kolonilation im Wejtgebiete veranitalten werde;
dabei werde auch erforicht werden, aus welchen Gründen eine Ausjicdelung
der rulfiihen Bauern aus diejem Gebiet ftattfinde.
II
3. Nov. Megen des Morgengebetes in den Schulen (Allerh. Befehl nom
25. Juni c., Balt. Chr. I, 140) fommt es in der ruffiihen Prefie fort:
gelegt zu den lebhafteſten Erörterungen. Man erfährt, daß der Minifter
der Bolksauffl. im Juli den betreff. Schulverwaltungen mitgetheilt habe:
da die ‚frage nicht geflärt jei, in welcher Sprache das Gebet abzuhalten
fei, folle man fih in dieſer Beziehung auch fürderhin nad ben
beſtehenden, hierauf bezüglichen Berfügungen richten. Man lieſt ferner,
daß in einigen Schulen das Morgengebet „bis zum Eintreffen betaillirter
Initruftionen” völlig aufgehoben jei, in andern nur noch von den
orthodoren Schülern abgehalten werde.
5. Nov. Die im Gauvernement Stamwropol eriftirenden deutſchen
Kolonien find offiziell folgendermaßen umbenannt worden:
Martinsfeld in Martynowkla, Bethel in Iwaſchtſchenkowa,
Friedrichsfeld in Solotarewfa und Johannesdorf in
Molotichnaja.
5. Nov. Der Miniſter der Wolfsaufflärung hat gejtattet, in der
Illuxtſchen Stadtichule als Ergänzungsfad den Unterricht in
der deutſchen Spradye zuzulaſſen, und zwar barf bderjelbe
wöchentlid in drei Stunden während der jchulfreien Zeit
denjenigen Schülern der oberen Klaſſen ertheilt werden, Die
ihn wünſchen und ein jährliches Ertra:Honorar von 2 Rbl.
bezahlen fönnen. — Die rujfiihen Stadtichulen traten
befanntlich mit dem völligen Ausihluß der deutichen Sprache
an die Stelle der Kreisichulen, in denen Die deutſche
Unterrichtsiprache herrichte.
4. u. 5. Nov. Auf dem Finniichen Meerbuſen herrſcht ein jehr
ftarfer und anhaltender Sturm, der aud in den Wäldern
Ehjtlands bedeutenden Schaden anriditet. In Petersburg
begleitet den Sturm eine Ueberſchwemmung, die nad) ihrer
Höhe im laufenden Jahrhundert die dritte Stelle einnimmt
(die Höhe von 8 Fuß 1 Zoll über der mittleren Norm wurde
nur im November 1824 und im Auguſt 1890 überjchritten).
6. Nov. Die Ehſtländiſche Gouvernementszeitung (Nr. 44) ver:
öffentlicht eine Allerhöchit bejtätigte Nejolution des Minijter:
fomites, durch die der ehjtländifche gegenfeitige Feuer:
verjicherungsverein das Recht erhält, alle den Bauern
gehörigen Gebäude zur vollen verficherungsfähigen Summe
zur Verficherung anzunehmen, ohne daß dieſe Gebäude, wie
bisher, vorher mit dem gejeglichen Minimalwerthe bei der
— ——
Gouvernementsverſicherung verſichert zu ſein brauchen. Eine
Bedingung iſt dabei, daß jede Erhöhung des in der Geſellſchaft
für dieſe Gebäude geltenden Prämienſatzes nur mit bejonderer
Genehmigung des Minifters des Innern beſchloſſen werden darf.
7. Nov. Erzbiſchof Arſſenij verläßt Niga, um ſich nach feiner
neuen Mirfungsftätte Kaſan zu begeben, Bei feiner Abreije
wie an den vorhergehenden Tagen werden ihm von dem
Klerus der Nigafchen Epardie, von den Xertretern aller
Regierungsrefforts und von der in den Oſtſeeprovinzen
weilenden ruffiihen Gejellihaft überaus zahlreiche Chren-
bezeugungen dargebradt. — Auf einem ihm am 30. Oftober
gegebenen Abichiedsbanfett feierte den Erzbiſchof unter vielen andern auch
ber Rektor Budilomwitich in einer Rebe, deren Wortlaut der „Riſhſti
Weſtnik“ veröffentlicht: Der Name des Erzbiichofs ſei für immer untrennbar
verbunden mit den Reformen im biefigen Grenzgebiet, die thatlächlich bier
die Grundlage des religiöjen, jtaatlihen und überhaupt des ganzen Kultur;
lebend verändert hätten. In Jurjem jeien noch vor zehm Jahren Die
Spuren deö Ordens, der Nitterzeit, der Hanſa jehr lebendig geweſen;
noch vor fo furzer Zeit habe dort auf dem Dome Jaroſlaws eine Inſti—
tution beitehen können, Die ſich nach ihrem Geifte, ihren Aufgaben und
Hielen fait durch nichts von den ähnlichen Inſtituten in Königsberg,
Roſtock, Kiel unterichieden habe. Nunmehr jei man aber dort endlich
von dem Vermächtniſſe Guſtav Adolfs befreit; mit dem Kamen Jurjew
jeien dort auch die Traditionen Jaroſlaws auferjtanden. Als ein
Mittelpunft ruffiicher Kulturarbeit müſſe die Jurjewſche Univerſität in
enger Verbindung mit den übrigen Faktoren der rufftichen Bildung jtchen,
insbejondere mit der orthodoren Kirdye. Er babe die Zuverſicht, daß
das jittliche Band zwilhen dem Erzbiichof und der Univerfitätsgemeinde
auch in Zukunft beftchen bleiben werde; denn nur in der fittlichen
Semeinichaft mit den beiten rufjiichen Männern der That könne bie
Jurjewſche Univerfität die Kräfte zu würdiger Erfüllung ihrer biftoriichen
Aufgabe ſchöpfen und ein Herd rujfticher Bildung fein auf der Grenz—
Ichjeide der Welt des Oſtens und des Weſtens, des Slawenthums und
des Germanenthums. — Der Erzbiichof jelbit hob in jeiner Rede beionders
die enge Verbindung hervor, in der er mit den Vertretern des baltilchen
Schulreſſorts geitanden; nachdem Hapuftin und Speſchkow, dieſe von ihm
hochverehrten rujjiihen Männer der That, abberufen jeien, habe Gott ihn
und das Gebiet doppelt belohnt, indem er Yawromifi, dieſe auf dem
Gebiet der Bolfsbildung ganz unjichägbare Kraft, bergeiandt habe, —
Durch alle Reden, die von der Eparchialzeitung (Nr. 22) ſämmtlich ver—
öffentlicht find, klingt die ſoziale und politiihe Bedeutung des Erz:
biſchoſs durch. — Am 2. November volljog derſelbe in der Rigaſchen
Kathedrale einen feierlichen Abſchieds-Gottesdienſt, wobei er in feiner Hede
II*
— 20 —
u. A. ausſprach, die letzten zehn Jahre ſeien in der That für das baltiſche
orthodoxe Leben eine Zeit der wahrhaften religiöſen Erweckung geweſen
und er könne nur wünſchen, daß dieſe Erweckung nicht ſchwinde, ſondern
mit ihr die Zahl der rechtgläubigen Kirchen und Bekenner ſtetig im
baltiſchen Gebiet wachſe.
7. Rov. In Anlaß der Reviſion der Bauerverordnungen wird in der Peters:
burger öfonomiichen Gejellichaft über „das perjönliche Prinzip in der
Struftur des bäuerlichen Lebens“ verhandelt. Der Bortragende (A. P.
Nifolsfy) ſucht nachzuweiſen, daß die gegenwärtige ruffiihe Gemeinde:
organilation und die folidariiche Daft der Bauern meilt Zuftände herbei:
geführt babe, die nicht beffer feien als die frühere Leibeigenichaft. Jede
Entwidelung der Bauern zu befieren ökonomiſchen Verhältniffen fei völlig
gchemmt. Es fei daher unbedingt nothwendig dic gegenwärtige Gemeinde:
organijation abzuichaffen und vor allem den Gemeindebefi in volles
Eigenthum umzuwandeln. — Dieſe im inneren Heiche jchr verbreitete
Auffaffung ftcht in cinem ſeltſamen Kontraſt zu den NAgitationen der
„Männer der That“ im baltischen Gebiet, vgl. 3. B. die Hede des Profeſſors
Kriwzow, Balt. Chr. L, 36.
8. Nov. Das Minifterium der Volfsaufflärung Hat entichieden,
11:
daß die Normirung des Prozentjages jüdischer Schüler fid)
nur auf Lehranftalten für das männliche Geichlecht bezieht
und in ſämmtlichen weiblichen Lehranftalten die Aufnahme
von Jüdinnen unbeſchränkt ift.
„ Tas Minifterium des Innern hat den Gouvernements:
und Kreislandichaftsämtern geftattet, die Situngsberichte der
Verfammlungen ohne die vorherige Zenfur der Gouverneure
zu druden. Die Vorfigenden der Aemter haben die Ver:
antwortung für diefe Berichte zu tragen.
„» Der Negierungsanzeiger berichtet über den Nechenfchafts-
bericht der Kommilfion für ruſſiſche Volksvorleſungen in Riga.
Es fanden im legten Jahr in Niga 42 folder Vorlefungen
ftatt, die von 9557 Perſonen bejucht wurden. Gelejen
wurden Broſchüren religiöien, hiſtoriſchen, litterärischen u. |. w.
Inhaltes. Die Kommilfion unterftüßte außerdem die in
verjchiedenen Yehranftalten Rigas abgehaltenen religiös:
fittlihen Unterhaltungen, die meiſt jehr gut beiucht waren,
und ebenfo die ruſſiſchen Vorlefungen in Wenden, MWerro,
Dapfal und Pernau.
„ Eröffnung des Verfehrs auf der neuerbauten Bahn
Pſkow-Bologoje. Damit ift der Fürzejte Eifenbahnweg zwiſchen
Rybinsk und Riga hergeftellt, 174 Werft fürzer als der
— 21 —
bisherige Weg über Gatſchino. Das Getreide, das bisher
den Winter über bis zum Beginn der Navigation aus
Petersburg in Rybinsk lagerte, wird jetzt, wie man annimmt,
ohne Aufenthalt zum Export nach Riga und anderen balt.
Häfen gebracht werden.
12. Nov. Der livländiſche Verein zur Verpflegung von Epileptikern
14.
und Idioten eröffnet das Aſyl „Marienhof” bei Fellin, das
zunächſt Raum für 20 Pfleglinge bietet.
» Der Konjeil der Jurjewſchen Univerfität wählt den Finanz—
minijter Witte zum Chrenmitgliede der Univerfität.
„ Eine Senatsentjcheidung bat fejtgejtellt, was bisher nicht
beachtet wurde, dab der VBermögenszenjus für das Necht der
Betheiligung an den ruſſiſchen Adelsverjammlungen nad) dem
Semjtwogeleß von 1890 zu bejtimmen ijt. Dana) muß fid)
der Beltand der Ndelsverfammlungen bedeutend erweitern.
Einerjeits werden viele Edelleute, die bisher als Kleingrund-
bejiger galten, jetzt zu jtimmberechtigten Theilnehmern der
Adelsverſammlungen, andererjeits wird auch die Zahl der
Delegirten des adeligen Kleingrundbejiges eine viel größere.
Die „Ruſſkija Wjed.“ meinen, daß danad die Wahlbeamten
des Adels bald mehr als Vertreter des kleineren Grund:
befißes erjcheinen werden.
„ Ein Allerh. Erlaß an den Finanzminifter bejtätigt eine
Vorlage deijelben über die Prägung und Inverkehrſetzung
einer neuen fünfrubeligen Goldmünze im Werthe des dritten
TIheiles eines Imperiales. — Ein zweiter Aller). Erlaß an
den Finanzminiſter beftätigt eine Vorlage dejjelben über die
Aenderung des Wortlautes der Aufichriften auf den Staats-
Ktreditbilleten. Es hat dajelbit von nun an zu beißen:
„Die Staatsbant wechjelt Streditbillete gegen Goldmünze
in unbejchränftem Betrage um“ (bisher in Silber:
oder Goldmünze); dem entiprechend jagen die folgenden
Aufichriften, daß die Umwechſelung gegen Goldmünze durd)
das gejammte Staatseigenthum fichergeftellt iſt und Die
Kreditbillete im ganzen Reich ebenio wie die Goldmünze
verfehren. — Damit hat die Goldwährung als Grundvaluta
des ruſſiſchen Neiches die endgiltige Sanftion erhalten.
— 22 —
15. Nov. Den Reſidenzblättern iſt mitgetheilt worden: „In Ausführung des
2. Punktes im Allerh. Befehl vom 25. Juni ec. bat der Miniſter der
Vollsaufklärung im Einvernehmen mit dem Warjchauer Öeneralgouverneur
durd Vorlagen vom 2. und 15. Oftober ©. für den Warjchauer Lehr:
bezirf folgende Ordnung des Gebetes vor und nad dem Unierricht
verfügt: Alle orthodoren Schüler einerjeitsS und alle Schüler eines anderen
chriſtlichen Befenninifjes andererjeits haben ſich vor Beginn und, joweit
fie noch in der Schule anmwejend find, aud nah Schluß des Unterrichtes
in verichiedenen Räumen zu verjammeln und jollen dann das Gebet
nach) den Regeln eines jeden Belenninijfes verrichten und zwar Die
orthodoren Schüler in ruſſiſcher Sprade, die katholiſchen in polnilcher
oder, wenn jie littauisch zu beten pflegen, in littauiſcher, die Broteitanten
in Ddeuticher oder in ruljiiher Sprade. In den Elementarſchulen, wo
wegen Raummangels beim Gebet eine Trennung der Schüler nad Kon:
fellionen nicht durchführbar ijt, werden die Gebete der Reihe nad von
den Yernenden der verſchiedenen Konfeſſionen abgehalten — zuerſt von
den Orthodoren, darauf von den Katholiken und Protejtanten.” — Anders
it dieſe Sache für die Katholifen der neun Gouvernements des nördlichen
und ſüdweſtlichen Gebietes geregelt worden. Hier theilt ein Zirkular Des
Minijters den Schyulverwaltungen mit, dad Minijterium ſei nad) Vereins
barung mit dem fatholiiheu Metropoliten zu dem Schluffe gelangt, daß
die fatholiihen Schüler das Gebet in lateinijher Sprade abhalten
fönnten, und zwar fünnten jie, da das Bild Chriſti von Katholiten und
Orihodoren in gleicher Weije verehrt werde, ihre Gebete vor diejem Bilde
verrichten , widerjehe fich aber der betreffende Priejter letzterem, jo habe
das Minijterium auch nichts dagegen, wenn ein fatholiidyes Deiligenbild
aufgehängt werde.
15. Nov. Der „St. Petersburger Zeitung“ wird vom Miniſter
des Innern der Drud von Brivatannoncen unterjagt. Diefelbe
Maßregel trifft auch drei in ruſſiſcher Sprache erfcheinende
Refidenzblätter. Sie erfolgt wegen Wiederabdrudes eines
„untergeichobenen Aufrufes verbrecheriichen Inhaltes,“ den
ber „Swjet“ wenige Stunden vorher veröffentlicht. Dem
„Swjet” wird dafür die erjte Verwarnung ertheilt. (Der
Aufruf enthält den Proteſt der Warjchauer polnischen
Etudenten gegen die Betheiligung von jede Warjchauer
Profeſſoren an der Grundfteinlegung zum Wilnaer Murawjew—
TDenfmal.)
» Nachdem der Dinifter der Landwirthichaft das Reglement
für die IV. baltiſche landwirthichaftliche Zentralausjtellung
im Jahre 1899 zu Niga bejtätigt hat, wird in Riga ein
Erefutiv:fomite der Ausitellung gemwählt.
17
19,
— ., —
. Nov. Die neue Bahnlinie Wologda-Arhangelsf wird eröffnet.
Damit haben nun aud die Ujtjeeprovinzen eine Bahn:
verbindung mit dem Weißen Meer.
» Nigafche Stadtverordnetenverijammlung: Es wird be:
ſchloſſen, Plätze anzumweiien zum Bau eines Ergänzungs
gebäudes für das Polytechnikum, eines ruſſiſchen Stadttheater
und eines jtädtiichen Kunftmufeums, aud ein Haus anzu—
faufen für zwei neue Elementaridyulen, die in der Moskauer
Vorjtadt eröffnet werden jollen. Die der livländiichen
Gejellihaft der Korrektions-Aſyle und Aderbau:Kolonien
gezahlte Subfidie wird von 1000 auf 2000 Rbl., die Unter:
ftügung des Rig. Vereins gegen den Bettel von 6000 auf
10,000 Rbol. erhöht.
» Die bisher in Dwinsk (Dünaburg) jtehende Feltungs-
Sappeur-Hompagnie ijt als ſtändige Sarnijon nad) der Feſtung
Zibau übergeführt worden. Dwinsk (Dünaburg) iſt nicht
mehr Sejtung, jondern Feſtungs Depot.
„ Unter den vielen vom Livonia- Jubiläum ber Verklagten
und vom Friedensrichter Verurtbeilten werden ſechs vom
Sriedensrichterplenum freigeſprochen; aber der Profureur
übergiebt aud) diefe Sachen dem Senat.
» Die vom Miniſterium des Innern im Nordiweftgebiet
niedergejeßten Spezialftommijfionen, die die Frage der Ein:
führung der Landjchaftsinftitutionen beraten jollten, haben
dem Dkinijterium ihre Gutachten eingejandt. Die Wilnajche
Kommilfion hat fih für die Einführung ausgeiprocen, aber
zugleich vorgeichlagen, den Adel von jeder aktiven Theilnahme
an den Landichafts: Angelegenheiten auszuichließen. Die
Grodnoſche Kommiſſion ift gegen die Einführung der Semjtwo
und wünjcht nur einige Neformen der gegemwärtigen Admini—
jtration. Dagegen bat jich die Kownoſche Kommiſſion für
die Semjtwo ohne jede Einjchränfung und Modifikation aus:
geſprochen.
Erzbiſchof Arſſenij weiht in Kaſan eine neue Kirche für getaufte
Tataren, nachdem er vorher eine tatariihe Familie getauft bat. Beim
Gottesdienit fingen zwei Chöre von Tataren in tatariicher Sprade, ein
dritter Chor aus Tichumwalchen, Ticyeremifjen, Wotjafen und Mordwinen
in firhenjlavonijcher Sprade.
— 24 —
19. Nov. Die „Moskowſkija Wed.” laſſen ſich aus Jurjew (Dorpat) ſchreiben,
daß die finanziellen Berhältniffe der ruſſiſchen Studenten Jurjews,
namentlich der 180 Seminariiten, äußerit traurige jeien. Früher habe
es hier einen Ucberihuß an vermögenden Siudenten gegeben, die einen
bedeutenden Theil der Hoften des Unterhaltes der Lehrkräfte und Yehr:
mittel getragen hätten, jest fünnten die meilten ohne fremde Hilfe die
Univerjitätsiteuer und die Kollegiengelder nicht bezahlen, ja überhaupt
nicht exiſtiren. Stipendien feien für die rufjiichen Studenten ſehr wenig
vorhanden, denn die Privaritipendien, die ſich allerdings auf 190,000 Rbl.
beliefen, jeien größtentheil® für Cingeborene und jogar für Protejtanten
beitimmt. Auch die Stiftung des ruffiihen Kaufmanns Schamajew
(200,000 Rbl.) werde nicht von der Univerfität, fondern von einem
Speziallomite des Waijengerichts verwaltet und käme nur zur Hälfte
Orthodoren aus dem Kleinbürgeritande, zur anderen Hälfte aber Prote:
ſtanten und einem Juden zu Gute. Dabei jeien die deutichen Studenten
an und für jich wohlhabend und betheiligten ji an den Slorporationen,
die die Bedürftigen auf jede Weile unterjtügten. Ter Korreſpondent
richtet einen Appell an die Wohlihäter Moslaus und geht dann zu
Beihuldigungen und Berdächtigungen der „Sorporanten“ über.
20. Nov. Libauſche Stadtverordnetenverfammlung: Das Etadthaupt
theilt mit Bezugnahme auf einen Beichluß der Verfammlung
vom 27. Januar 1897 mit, daß ſein allerunterthänigites
Geſuch in Angelegenheiten der Umwandlung der Stabt-
Töchterſchule in ein Mädchengymnaſium ohne Verfolg gelaſſen
worden ſei. In Folge deſſen beſchließt die Verſammlung
mit 35 gegen 11 Stimmen: Die Libauſche ſtädt. Töchterſchule
it in ein Mädchengymnaſium umzumandeln nad) dem Statut
vom 24. Mai 1870 und unter der vom Miniſter des Innern
in jeinem Reſkript vom 22. Januar 1897 zugejtandenen
Bedingung, daß von den jechs Gliedern des Echulfollegiums
drei von der ib. Stadtverordnetenverfammlung gewählt
werden dürfen. Die Stadt zahlt zum Unterhalte des Mädchen-
Gymnaſiums jährlih 3000 Rbl. und überweiſt demjelben
das Gebäude der bisherigen Stadttöchterichule zur Nutzung,
wahrt ſich aber ihr volles Eigenthumsrecdht an dem Grundſtück
und dem Gebäude. — Dazu jchreiben die „Libawſtkija Now.“:
„Wir fönnen diefen Beihluß der Verfammlung nur will
fonımen heißen; die Stadtverordneten haben noch einmal
ihr breites Verftändnik für die ſich vollziehenden Thatſachen
offenbart. Wir können dabei nicht umbin, die aftive Wolle
des Direktors des Anabengumnafiums zu erwähnen, deſſen
— 25 —
perſönlicher Einfluß viel dazu beigetragen hat, um den
Gedanken des ſchon längſt herangereiften Bedürfniſſes nach
der Eröffnung eines Mädchengymnaſiums zu realiſiren.“
Gemeint iſt der Direktor Albert von Wohlgemuth. — Die
Libauſche Stadtverordnetenverſammlung hatte an den Miniſter
der Volksaufklärung das Geſuch gerichtet, der Miniſter möge
geſtatten, daß die Lib. Stadttöchterſchule in ein Mädchen—
Gymnaſium umgewandelt werde und daß das Recht zur
Wahl der Direftrice der Stadtverordnetenverfammlung, das
Recht zur Wahl der Lehrkräfte dem Schulfollegium zuftehe.
Der Minifter verfügte aber, daß dies Geſuch ohne Folge zu
lajien jei. Darauf reidhte das Libauſche Stadthaupt im
Auftrage der Stadtverordnetenverfammlung eine Bittjchrift
auf den Allerh. Namen ein, die eine Beichwerde gegen die
Verfügung des Minifters in ſich ſchloß. Am 23. Dftober c.
wurde dann Allerh. befohlen, dieje Beichwerde ſowie das
Geſuch des Fib. Stadthauptes überhaupt ohne Folge zu laſſen.
20. Nov. In Nömme bei Reval wird von der ehjtländiichen
Sejellihaft zur Errichtung von Handwerfsafylen und land-
wirthichaftlichen Kolonien für minderjährige Verbrecher ein
ſolches Aſyl eröffnet.
”» „Die evangeliſch-lutheriſche Kirche Kurlands erleidet einen
großen Verluſt durch den Tod ihres Seneralfuperintendenten
Julius Böttcher. Sein Amt wird vorläufig durch den
Konſiſtorialrath Band-Viejohten vertreten.
21. „ Im Birkular für den Rigaſchen Lehrbezirk (Nr. 9), das
vom 1. Sept. Datirt ift, wird nunmehr der Allerh. Befehl
vom 25. Juni e., betreffend die Ordnung des Diorgengebetes
in den Schulen, veröffentlicht.
19.— 22. Nov. In Petersburg tagt eine auf Veranlaſſung der
baltiichen Landwirthe (Balt. Chr. 1,145) vom Finanzminifter
berufene Kommijfion, um über die Zölle auf Düngemittel
zu berathen. Die in ihr vertretenen Zandwirthe beantragen
eine Aufhebung diejer Zölle, weil diejelben die ſchon ohnehin
bedrängte Landwirthichaft ganz niederdrüden ; Dagegen wünjchen
die gleichfalls vertretenen ruſſiſchen Fabrikanten Fünftlicher
Düngemittel dringend die Verdoppelung des Zolles auf Super:
phosphate und pulverijirte Thomasſchlacken und halten eine
21
*
tw
s
— 26 —
Aufhebung des Zolles nur bei ſolchen Düngſtoffen für möglich,
die in Rußland überhaupt nicht produzirt werden. Cine
Einigung kommt nicht zu Stande. Das Verhalten der
Negierungsvertreter zeigt, daß die Landwirthe wejentlidhe
Erleichterungen nur dort erreichen fünnen, wo ihre Intereſſen
mit denen der Induſtrie nicht follidiren. Thatjählic find
freilich, wie in der Kommijfion aud geäußert wurde, einjt-
weilen die Oftfeeprovinzen und die wejtlichen Gebiete Rußlands
faft die einzigen Konjumenten von künſtlichen Düngemitteln.
— Das Nigajhe Börjenfomite befürwortet die allmähliche
Aufhebung der betreffenden Importzölle.
. Nov. Die vom Ministerium der Wegefommunifationen im
Pernauſchen Hafen vorgenommenen Arbeiten haben, wie der
Negierungsanzeiger mittheilt, das Fahrwaſſer von der Rhede
bis zum Dafen auf eine Tiefe von 16 Fuß gebradt.
„» Das Ingenieurfonjeil beim Dlinifterium der Wege:
fommunifationen bat den Ausbau des Windauſchen Dafens
näher bejtimmt. Danach jollen Schiffe von einem Tiefgange
bis zu 22 Fuß zu jeder Zeit vollfommen gefahrlos in den
Dafen einlaufen und in ihm manövriren fünnen. Für bie
Arbeiten des Jahres 1898 find von dem zum Ausbau des
Hafens für die nächiten fünf Jahre allignirten Kredit von
3,390,000 Rbl. 800,000 Rol. bejtimmt.
ö Baltiſche Zeitungen halten es für nöthig, weil in weiteren Kreiſen
nod) immer Zweifel über die Konjequenzen der in den Jahren 1865— 1835
vorhandenen Befreiung der Miſchehen vom Neverlalzwange bejtehen, an
eine Senatsenticheidung vom Jahre 1893 zu erinnern. Durch Ddiejelbe
wurde fonjtatirt, daß in der Seit, wo der Allerhödyite Befehl von 1865
zu Kraft beitand, bei Ehen zwilchen Cvangeliichen und Orthodoren fein
Heverjal über die orthodore Kindererziehung verlangt werden durfte und
diejenigen Neverjale, die damals dennod) ausgejtellt find, auch jetzt nad
Wiedereinführung des Neverjalzgwanges feine rechtliche Bedeutung haben,
mithin ihre Nichtbefolgung feine Strafe nach ſich ziehen fann.
„ Die Infel Oeſel, die bisher als Akziſebezirk der ehſt—
ländijchen Akzijeverwaltung unterjtellt war, ijt nunmehr dem
Reſſort der livländiichen Gouvernements- Azifeverwaltung
einverleibt worden.
u Ter „St. Peteröburger Herold“ veröffentlicht einen hiſtoriſchen
Nüdblid auf die Entſtehung der ausſchließlichen Krugsberehtigung der
Nittergüter in den baltiidhen Gouvernements. Der Verfafler fonitatirt
— 27 —
die befannte Thatſache, daß die Krugsberechtigung ein Realrecht der betreff.
Güter darſtellt und mit dem Stande der Gutsbeſitzer garnichts zu thun
hat. Er weit darauf hin, daß dies Recht durchaus feine Ipezielle
Eigenthümlichfeit der Oſtſeeprovinzen jei, ſondern aud anderweitig Jahr:
hunderte lang bejtanden habe und erjt im letter Zeit durch jtaatliche
Erpropriation bejeitigt ſei. Kine ſolche Erpropriation ſei durch die alls
gemeinen Reichsgeſetze und das baltiſche Privatrecht näher bejtimmt. Es
fünne garnicht daran gezweifelt werden, daß auch bei der Einführung
des jtaatlichen Vranntıweinmonopols in den Ditjeeprovinzen für die Aufs
hebung der Krugsberechtigung eine volljtändige Entihädigung geleiitet
werden würde, ıwie eine jolche durd den Art. 863 im dritten Bande des
Privatrechtes garantirt jei. — Der Verfaſſer plaidirt dann dafür, den
baltiihen Rittergütern bei Ablöjung ihres Schank- und Arugredites das
Het des Branntweinbrennens zu lajjen, da eine Aufhebung des legtern
wieder eine empfindliche Schädigung der baltiihen Landwirthſchaft bedeuten
würde — troß aller gejeglihen Entſchädigungen.
24. Nov. Das Diinifterium der Yandwirthichaft hat, wie der
25.
„Riſhſti W.“ mittheilt, im Jahre 1896 der Rigajchen redht:
gläubigen Dreifaltigfeits-Gemeinshaft zur Vermehrung ihrer
materiellen Mittel 108 Dejlätinen Heuſchläge bei Riga
foitenlos abgetreten.
" Tie „Mostowjfija Wed.” bringen einen „ein Ehſte“ unterzeichneten
Artifel, in dem verlangt wird, dag an der theologiichen Fakultät der
Jurjewſchen Univerjität nur noch ſolche Profefjoren angejtellt würden,
die in ruſſiſcher Sprache leſen. Die neue ehjtniiche Kirchenſprache jei
vollfommen unnüg, denn fie werde ſchon gegenwärtig von den Bauern
garnicht veritanden und in Zukunft werde erjt recht fein Publikum für
ſie exiſtiren. Dan müfje num dod) endlich begreifen, daß die Ehſten bei
fortichreitender Bildung ihre Nationalität nicht aufrecht erhalten fünnten:
für jie jei nichts anderes möglidy, als mit einem jtarfen und fultivirten
Volke zu verihmelzen, und das könne natürlich nur das ruſſiſche jein.
Die Ehjten jelbjt jeien aud) davon bereits überzeugt. — Der Artikel ijt
durchwoben mit Xügen von der bisherigen Germanijirung,von der Knechtung
der Volksjcdyullehrer durch Gutsbejiger und Pajtoren u. j. w.
„ An MWeißenitein hatte die lutheriſche Kirchenſchule ein:
gehen müſſen; den Kindern der unbemittelten lutheriſchen
Einwohner fehlte jeitdem jeder Unterricht. Nunmehr ijt eine
ruſſiſche zweiklaſſige Elementarſchule eröffnet worden, in die
zunächſt 22 Kinder eingetreten find.
„ Ver Dirigirende Senat hat verfügt, daß ein Zirkular
des Miniſters dev Bolfsaufllärung vom 10. November 1879
an die Lehrbezirfs:-Kuratoren im Negierungsanzeiger (Nr. 258)
wieder zur allgemeinen Kenntnig gebracht werde. Danad)
— 28 —
dürfen alle Lehrämter in den Lehranſtalten des Miniſteriums
der Volfsaufflärung nur mit folchen Perſonen beſetzt werden,
deren moraliihe Cigenichaften und politiihe Zuverläfligfeit
vom örtlidhen Gouverneur atteftirt ift. Bon derſelben
Bedingung ijt die Ertheilung von Dauslehrerdiplomen und
Konzeifionen zur Eröffnung von Privat-Lehranitalten abhängig.
28. Nov. Die livländiihde Oberlandichulbehörde madt in Der
„Livl. Gouv. Ztg.“ (Nr. 122) befannt, daß zur Zulammen:
jtellung der vom Minifter der Volfsaufflärung verlangten
Daten über den Beitand der evangeliich-lutheriihen Bolfs-
ſchulen die meltlihen und geiftlichen Kreis-Schulrevidenten
in nädjter Zeit Nevifionen der Volksſchulen ausführen
würden, wobei ihnen nad) dem Geſetz das Recht zuftebe,
für ihre Nevifionsfahrten Schießpferde zu verlangen. —
Die Oberlandichulfommilfionen in Kur- und Ehitland find
dur das Gefeg vom 25. April 1875 verpflichtet, dem
Dlinijterium der Volksaufflärung jührlide Rechenſchaften über
den Zuſtand der Volksschulen vorzujtellen; für die livländ.
Oberlandſchulbehörde lag ſolch eine Verpflichtung bis 1896
nicht vor, jondern hier ftellte die livländ. Ritterſchaft ihrerjeits
auf Grund der Kechenichaften, die fie von der Oberland:
ichulbehörde empfing, dem Minifterium der Volfsaufflärung
jährliche Berichte über das Volksichulweien vor. Als aber
das Geſetz vom 17. Mai 1887 die direkte Verwaltung
jämmtlicher Volkoſchulen den von der Negierung ernannten
Volksichuldireftoren und -inipeftoren übertragen hatte, fehlten
der livländ. Oberlandſchulbehörde die erforderlichen Daten,
um die bisherigen Berichte an die Nitterichaft fortzujegen,
und in Folge deſſen Konnte auch die Nitterichaft dem
Dinifterium feine Nechenjchaftsberidhte mehr vorstellen. Ein
Antrag des Minifters der Volksaufklärung, den livländiichen
Zandmarichall zu weiteren Berichten über die livländ. Volks—
ichulen zu veranlafen, wurde vom Minifter des Innern ab-
gelehnt. Darauf verfügte der Dlinijter der Volfsaufflärung
am 22. Dezember 1896, daß die livländ. Oberlandſchul—
behörde ſolche NHechenichaftsberichte in Zukunft jährlich der
Verwaltung des Nig. Lehrbezirks einzujenden habe. In Folge
deſſen bejchloß die Oberlandichulbehörde am 3. Mai c., ihre
er
Kreisichulrevidenten mit der Nornahme von Lofalrevifionen
Jämmtlicher evangelifch-Tutheriicher Parochial- und Gemeinde:
Ihulen zu beauftragen und die örtlichen Volksſchulinſpektoren
durch den Nigafchen Volksſchuldirektor, der ſelbſt ein Glied
der Oberlandichulbehörde ift, zur Theilnahme an Dielen
Nevifionen auffordern zu laſſen. Die Nevifion ſoll ſich auf
die Geſammtzahl der im ſchulpflichtigen Alter jtehenden Kinder,
auf die Zahl der thatjächlich die Schulen bejuchenden Kinder,
auf den Kenntnißſtand derjelben, auf die Qualififation der
Lehrer und auf die Unterhaltungskoften der Schulen beziehen.
29. Nov. Der Minister de8 Innern gejtattet der „St. Pebersb. Ztg.”" wie den
drei von derielben Strafe betroffenen ruffiischen Preßorganen wieder den
Drud von privaten Anjeraten.
30. Nov. Nah den vom Minifterium der Landwirthichaft ge
jammelten Daten ift die Getreideernte des europäilchen
Rußlands im laufenden Jahr ſtark unter Mittel ausgefallen.
Das Gefammtdefizit in allen Getreidearten wird im Vergleich
mit einer mittleren Ernte auf ca. 70 Millionen Tichetwert
beziffert. In 24 Gouvernements fteht man wieder der
Gefahr einer Hungersnoth gegenüber. In vielen Gegenden
des inneren Rußlands wird über den völligen Niedergang
der bäuerlichen Wirthichaften geflagt; die Bauern verkaufen
ihr Vieh in großen Mengen, und die Zahl der Höfe ohne
jedes Arbeitsvieh jteigt erichredend. Der Negierungsanzeiger
(Nr. 259) theilt mit, daß an Wintergetreide die baltischen
Gouvernements die beiten Erfolge des Neiches aufwieſen,
indem fie 26,4°/n mehr ernteten, als die allgemeine ruſſiſche
Durdichnittsernte der legten fünf Jahre betragen hätte. In
den Djtjeeprovinzen ſelbſt bezeichnet man aber die Geſammt—
ernte dieſes Jahres als eine durchaus nicht befriedigende.
Geklagt wird bejonders über die Mifernte der Kartoffeln.
Eine jolche hat auch in den weitlichen Gouvernements jtatt:
gefunden, und man erwartet daher nur einen jehr geringen
Spirituserport aus den baltischen Däfen.
1. Dezember. In Abweichung von der Negel der direkten Er:
nennung der Profeſſoren durch das Minifterium der Wolf:
aufflärung iſt in letzter Zeit einige Mal Fakultäten ver:
ſchiedener Univerfitäten erlaubt worden, von id aus dem
— 80 —
Miniſterium Kandidaten für vakante Profeſſuren vorzuſtellen.
Im vorigen Semeſter war auch der medizinischen Fakultät
der Jurjewſchen Univerſität erlaubt worden, einen Kandidaten
für die vakante Profeſſur der Gynäkologie und Geburtshilfe
vorzuſchlagen. Die Fakultät ſchrieb darauf eine Konkurrenz
aus, und es meldeten ſich einige Privatdozenten von der
Moskauer Univerſität und von der Petersburger mediko—
chirurgiſchen Alademie. Unter ihnen hat jetzt ein langjähriger
Moskauer Privatdozent, Dr. Muratow, die Mehrzahl der
Stimmen der Fafultätsglieder erhalten.
2. Dez. Nad amtlichen Angaben find in den legten 15 Jahren
im Ganzen 25,000 Perſonen ins Amurgebiet übergejiedelt.
Gegenwärtig jcheint die Meberfiedelung dorthin wenig lodend
zu fein, da im vorigen Jahr nur 93 Perfonen ſich zu
ihr entichlojfen, während 1894 die Zahl der dorthin Aus:
gewanderten 6000 betrug.
» Die Nevifion der livländischen Volksſchulen wird im
Kirchipiel Nanden begonnen.
„ Stabtverordnetenwahlen in Libau: Von 395 Wählern
(gegen 50°; der Wahlberechtigten) werden 55 Stadtverordnete
gewählt. Von den 51 bisherigen Stadtverordneten hatten
2 auf die Wiederwahl verzichtet, die übrigen werden ſämmtlich
wiedergewählt. Die Gejammtzahl ift um 4 gejtiegen. Alle
Gewählten gehören der Liſte einer Partei an. Die Oppo:
fitionspartei hat auch bei der Wahl der 11 Kandidaten feinen
Erfolg.
„ Mit dem Uebergange der Seemannsichulen zum Finanz-
minifterium (Balt. Chr. Il, 16) wird von leßterem eine
befondere Inſpektion diefer Schulen begründet, die das
Material zu den äußerſt nothwendigen Neformen zuſammen—
jtellen fol. — Das Finanzminifterium gründet zugleich zur
Hebung der rulfiihen Handelsichiffahrt: a) einen Seeſchiffahrts—
Konjeil, der aus Beamten und Grperten bejtehbt und den
Finanzminiſter zum Präſidenten hat; b) eine bejondere Ab:
theilung für Seeichiffahrt mit fünf Unterabtheilungen und
19 Beamten. Dafür find jährlich 60,120 Rbl. ausgemworfen.
— Bisher it die ruſſiſche Dandelsflotte eine äußerft geringe
gewejen. Am 1. Januar 1897 gab es in allen ruſſiſchen
——
Meeren zuſammen nur 377 ruſſiſche Dampfer, von denen
faſt die Hälfte Kronsfahrzeuge waren und nur 37 ſich zu
ausländiichen Reifen eigneten. Nur 5% aller rulfiichen
Dampfer waren in Rußland gebaut. Von den 1684 Segel:
Ihiffen waren mehr als zwei Drittel Feine Küftenfahrzeuge.
5. Dez. Durch einen Allerh. Ukas wird eine Vorlage des Finanz—
”
”
1
2]
minifters bejtätigt, wonad) folgende 4'/2’o und 5"/o Eijen:
bahnobligationen in 4°’ Papiere fonvertirt werden: Die
41/29/ Obligationen der Emiſſion vom Jahre 1858 der
ehemaligen Großen Ruſſ. Eifenbahn-Gelellichaft und die 5°
Obligationen der Mosfau:Smolensfer und der Trans:
faufafiichen Eifenbahn. Alle diefe Bahnen find gegenwärtig
verjtaatlicht. — Dies ift die erjte ruſſiſche Konverfion, die
ohne Konverfionsprämie volljogen wird.
„ Ein Mllerh. Ukas ernennt den Kommandirenden des
Wilnaſchen Militärbezirts, den Generaladjutanten Trozfi,
zum Öeneralgouverneur von Wilna, Kowno und Grobno
unter Belafjung in feiner gegenwärtigen Stellung. — Tamit
it eine in der Preffe vielerörterte Frage entichieden. Während in der
polniichen Preffe nach dem Tode des Generalgouverneurs Orihewifi viel
von der gänzlichen Aufhebung dieſes General-Gouvernements die Rede
war, jehen jetzt rufftiiche Blätter der Ernennung Trozki's und in ber
Vereinigung der Militär: und Zivilgewalt einen neuen Beweis für die
fonlequente Fortſetzung der bewährten Grenzmarfenpolitif,
„ Die „Beterb. Wed.“ theilen mit, daß für die Oſtſee—
provinzen mehrere orthodore Miiftonärpojten freirt werden
follen und zwar ſowohl für die Altgläubigen wie für die
ehſtniſchen und lettiichen Sekten.
„ In Libau werden rufliiche Volksvorlefungen eröffnet; in
Mitau ift ihre Eröffnung gleichfalls bejtimmt. Der „Riſhſki
Weſtnik“ fpricht feine Freude darüber aus, daß der ruſſiſche
Rultureinfluß und die Erfolge der ruſſiſchen Vereine und
Sejellichaften fich jo fräftig entwidelten.
» Der Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wol—
hynien, Graf A. P. Ignatjew, wird auf jein Anjuchen feiner
Stellung enthoben, bleibt aber Mitglied des Keichsrathes.
. Nov. — 8. Dez In Petersburg findet die dritte Seſſion
des Konſeils beim Miniſterium der Landwirthſchaft jtatt.
Beſchloſſen wird das Projekt eines neuen Geſetzes für Die
— Me
Benusung des Waſſers zur Trodenlegung und Bewäſſerung
von Yändereien. Am Konfeil nehmen 18 Landwirthe aus
den verichiedenjten Theilen Rußlands theil, darunter aus den
baltiihen Provinzen v. Eſſen Kaſter. — In der Blenarfigung
des Konfeils vom 2. Dezember wurde einftimmig angenommen:
Die baltischen Gouvernements unterliegen nur ſoweit diejem
Waſſergeſetz, als es die örtlihe Sonderheit geitattet (d. i.
in Bezug auf rechtliche und wirthichaftliche Verhältniſſe).
In den Ditiecprovinzen find feit dem Jahre 1845 von privater Seite,
von der öfonomilchen Sozietät und von den Nilterichaften mwicderholt
Projefte eines allgemeinen baltischen Waſſergeſetzes ausgearbeitet worden,
fie mußten aber in Ausficht eines allgemeinen Reichsgeſetzes ſtets zurüd:
geftellt werden. Mit dem PBaucrlandverfauf entitand eine neue Kom—
plifation der Grenzverhältniffe, die den Fortichritt der fulturtechniichen
Arbeiten oft erichwerte und die mwafferrechtlihen Beltimmungen des
Provinzialrechted immer ungenügender machte. An Folge deſſen theilte
1879 die furländiiche Ritterfchaft den Nitterichaften Liv: und Ehſtlands
ein ausgearbeitetes Wafferrehtsprojeft mit und proponirtce eine gemeinſame
Vorſtellung an die Regierung. In Pivland murde das Furländiiche
Projeft in den Jahren 1879— 1882 von einer Ritterichafts:Kommiljton
durchgearbeitet und theilmeile abgeändert, aber megen der bevoritchenden
Herausgabe eines Neichsgefches der Regierung nicht vorgelegt. Die von
Kurland und Ehitland vorgeitellten Brojefte wurden im Minijterium
feiner Durchſicht unterzogen, da gegenüber dem vorhandenen Projefte
eines Reichsgeſetzes Fein Grund vorliege, mit den baltiſchen Provinzen
eine Ausnahme zu machen. Aber das Reichd:Waffergeieh fand nicht die
Billigung des Reichsrathes, und erit nach der Krcirung eines Minifteriums
der Yandwirthichaft wurde die Waflerrechtsfrage als nothwendigite Vor:
bedingung der landwirthichaftlichen Melioration mit mehr Energie auf:
genommen. Im Sommer d. %. beendete eine Kommiſſion des gen.
Minifteriums ihre Arbeiten, die nun dem landwirthfchaftlichen Konſeil
vorgelegt werden fonnten. Das Projeft war vom Miniiter der livländ.
öfonom. Sozietät mit der Aufforderung überjandt worden, in Anbetracht
der Eigenart der Provinzen etwa vorhandene Wünſche zum Ausdrud zu
bringen. Troß der ſehr furzen Zeit war es der Sozietät möglid, das
Projekt zu prüfen und ſehr weientliche Aenderungsvorichläge zu machen,
die dank dem Bejtchen des kulturtechnifchen Burcaus mit gutem technilchen
Material begründet werden fonnten. Im landwirthichaftlihen Konſeil
wurden Diele Vorichläge darauf mit dem beiten Erfolg von dem Bize—
präjidenten der livländ. Sozietät, Baron ®. Stadelberg, vertreten, nachdem
der Miniiter denfelben eingeladen hatte, an den Berathungen dieſer
Seſſion theilzunchmen. Wenn nun aber auch die Abitimmungsreiultate
im landwirthichaftlichen Konieil die provinziellen Intereſſen durdaus
gewahrt ericheinen laſſen, fo ift doch nicht ausgeichlofien, daß das gegen:
— 3—
wärtige Projekt in den Miniſterien des Innern und der Juſtiz und zuletzt
im Reichsrath ſehr großen Veränderungen unterworfen wird.
8. Dez. In der ruſſiſchen Preſſe wird ein ſtatiſtiſches Werk von ©. J.
Preobraihenjfi über die orthodox-griechiſche Kirche in den Jahren 1840 —
1890 beſprochen. Nach P. iſt die Zahl der Bisthümer, Klöſter und Kirchen
ſowie die der Geiſtlichen in den 50 Jahren zwar recht ſtark gewachſen,
ſteht aber immer noch nicht in dem richtigen Verhältniß zum Wachsthum
der orthodoxen Bevölkerung. Lebtere hat in dieſer Zeit um 28 Millionen
Seelen zugenommen. Davon wurden durch die Milfion 1,172,758 Seelen
gewonnen und zwar 311,279 Raskolniki, 250,812 Unierte, 166,625
Proteitanten, 162,587 Katholiten, 2930 Armenier, 46,795 Juden, 65,891
Muhamedaner und 155,186 Heiden. — Intereffant ijt die große Zunahme
der Klöjter in den Jahren 18850—1890 (um 110. In dieſer Beziehung
jtcht, wie P. meint, dies Dezennium in der ganzen ruſſiſchen Geſchichte
einzig da. Er jchreibt dieſe Zunahme der Klöjter ausſchließlich der in
jenem Zeitraum erfolgten Hebung des religiöien Gefühls zu. Die „Nomoje
Wremja” ijt jedoch der Anficht, daß hier auch dic Verarmung der
Bevölterung Zentralrußlands eine Nolle ſpiele.
9. Dez. Die Lettifch-litteräriihe Gefellichaft halt in Mitau ihre
69. Jahresverfammlung ab. Der Präfident betont in der
Eröffnungsrede, daß die Gejellihaft Männer der mannig-
fachiten Berufe und verichiedener Nationalität vereinige und
allen, die zu der gelunden geijtigen Entwidelung des Letten—
volfes beitragen wollten, offen jtehe; gejchieden jei man blos
von denen, die in nationaliftiihem Treiben nur niederriſſen,
aber nicht bauten. Er nimmt auch zu der vielventilirten
Frage der nationalen Profeſſuren Stellung: man mülle
Sprade und Theologie, praftiihe Anforderungen des Lebens
und wiljenichaftlihe Aufgaben der Hochſchule auseinander:
halten; der Zehrjtuhl für praktiſche Theologie könne ſich nicht
mit Spradjlehre abgeben; unbejtreitbar jei, daß das Fach
der praktischen Theologie mit unvergleichlich größerem Erfolge
in der Sprade gelehrt werden fönne, der immenje Quellen
zu Gebote jtänden, als in der, der legtere fait gänzlich
fehlten. „Wollte man aber etwa das lettiihe und ehſtniſche
Lektorat der theologiihen Fakultät aggregiren, die ſprachlichen
Vorlefungen noch weiter ausbauen, für die Theologen obli:
gatoriih machen, praftiidhe Uebungen in der Sprade ein:
ridhten, jo würde das eine Sache fein, über die fih alle
und unſere Gejellichaft erjt recht freuen würden.” — Nad
den in der Verſammlung gegebenen Berichten über die lettifche
II
——
Litteratur des vergangenen Jahres gab es in derſelben, wie
naturgemäß auch in früheren Jahren, wenige Originale,
dagegen recht viele Ueberſetzungen, Referate und Kritiken;
die lettiſchen Zeitungen erweitern ſich immer mehr und
nehmen viele Schriftſteller ganz in Anſpruch. Hervorgehoben
wurden als litterariſche Ereigniſſe des letzten Jahres die in
Paris erſchienene franzöſiſche Ueberſetzung des Lautenbachſchen
Epos „Needriſchu Widwuds“ von Wiſſendorff, der erſte Band
der großen Volksliederſammlung Barons „Latwiju dainas“
und die Ueberſetzung der beiden Theile des Goetheſchen Fauſt
von Aſpaſija und Rainis.
10. Dez. Die ehſtländiſche Gouvernementsbehörde für Fabrikſachen
ſchreibt vor, daß der ehſtniſche Tert der in privaten Typo—
graphien gedrudten Arbeitsbücder von dem vereidigten Trans:
lateur der Gouvernements Typographie beglaubigt fein muß,
dab aber für die Enticheidung von Mißverſtändniſſen und
Zweifeln bei der Benugung diefer Bücher nur der Sinn und
der Mortlaut des ruſſiſchen Tertes maßgebend ift.
„ Die „Dünazeitung” (Nr. 268) brachte an leitender Stelle
ein Referat über Verhandlungen auf einem Disfutirabend
des Nig. Kaufmänniſchen Vereins. Danach war dort unter
allgemeiner Zuſtimmung ausgelproden morden, daß Die
Qualität des furländiichen Getreides fich feit den achtziger
Jahren ganz auffallend von Jahr zu Jahr verichlechtere und
tief unter der Qualität des rujfiichen Getreides jtehe; dagegen
jei der livländiiche Getreidebau ſeit Eröffnung der Riga:
Pilower Bahn qualitativ und quantitativ geitiegen. Offenbar
beginne in Kurland der Boden ſich zu verichlehtern oder
das dortige Korn degenerire. An das Referat waren in
der „Dünazeitung“ Betradhtungen gefnüpft, die die Furiiche
Landwirthſchaft zu größeren Anftrengungen mahnten. Diele
Mahnungen werden nun ebenjo wie die Ausführungen auf
dem Disfutirabend von fompetenter kurländiſcher Seite ſcharf
zurüdgemiejen und als aus völliger Unfenntnig der Ver—
hältniſſe Kurlands und des Getreidehandels dajelbjt hervor:
gegangen bezeichnet. Cs wird Fonjtatirt, daß in Kurland
für die Verbejlerung des Bodens gerade jekt in den Noth—
jahren der Zandwirthichaft mehr denn je zuvor geichehe und
BE —
daß man es dort an Saatwechſel und Einführung neuer,
empfehlenswerther Getreidevarietäten durdhaus nicht fehlen
laſſe. Wenn das nad Riga gebrachte „Eurische” Getreide
von Schlechter Qualität fei, jo ſeien daran nur die jüdiſchen
Zwilchenhändler jchuld, deren fich alle Rig. Getreidefirmen
zu bedienen pflegten. Von den Zwiſchenhändlern werde das
gute Getreide ganz ſyſtematiſch mit der billigiten Schundwaare
vermiſcht. Wergebens hätten die kurländiſchen Landwirthe
direfte Beziehungen zu den Nig. Getreidefirmen anzuknüpfen
geſucht; die letzteren hielten es immer für vortheilhafter
große Bolten von duch Juden zufammengefauften Getreide
auf einmal zu beziehen, als mit den einzelnen Yandwirthen
direft zu verhandeln oder eigene Agenturen in den kleinen
Städten zu etabliren. Anders jtehe es in Libau: dort hielten
es die Großhändler nicht unter ihrer Würde, direft von den
Produzenten zu faufen, und daher fei dort von einer fintenden
Qualität des kuriſchen Getreides gar feine Rede. — Die
„Düngzeitung“ erflärt darauf, daß fie die Fortichritte der
furiichen Landwirthſchaft durchaus anerfenne und die Schlünje
ihres Referenten bedauere.
12. Dez. Die Jurjewiche Univerfität feiert den „95. Stiftungstag
der Univerfität” durch einen Kejtaltus. Nach dem Gelange
eines Kirchenchores und nad der Feſtrede des Profeſſors
Filippow verlieft der Rektor den Jahresbericht und theilt
mit, daß nunmehr betreffs der Lehrprogramme fein wejentlicher
Unterichied zwiſchen der Jurjewichen Univerfität und anderen
ruſſiſchen Univerſitäten beſtehe. Aus dem Jahresbericht jei
erwähnt, daß der Profeſſor Kriwzow von dem Lehrjtuhl für
das in Liv:, Kur, Ehjtland geltende Provinzialvecht zu dem
Lehrituhl des römischen Rechts übergeführt ift, aber den
Auftrag hat, zugleich Vorlefungen im Provinzialrecht zu
halten; außerdem bejichäftigt ji) noch ein Dozent mit dem
legteren. Die Zahl der Studenten wird auf 1026 angegeben
(darunter 22 in der hiftorifch-philologiichen Fakultät. Abjtrahirt
man von den 180 Seminariften, jo ergiebt fi, daß die
Frequenz feit Anfang des Schuljahres 1896/97 um 86, jeit
1890/11 aber um 818 abgenommen hat). — Vor diejer Feier
in der Jurjewichen Aula hatte man den Tag in der a
lutheriſchen Univerfitätsfirche mit einem Gottesdienſt begangen.
Prof. F. Hörichelmann hielt eine Feitpredigt über Matthäus
21, 13, und fennzeichnete den Tag als einen ernjten Gedenktag,
der dem Gefühl der Dankbarkeit für die Vergangenheit
und der Einfehr in fich jelbft geweiht fei.
12. Dez. Die 4/0 ruffiiche Staatsrente überfchreitet den Parifurs,
eine Erjcheinung, die für den ruffiichen Gtaatsfredit große
Bedeutung hat. — Die Emiſſion diefer Rente wurde 1894
für ein Nominal-Kapital von 1120 Mill. Rbl. zum Kurje
von 9212 —93/ eröffnet, um die 5°/o inneren Anleihen
auszufaufen. 1895 begann dann aud die Verwandlung
der 4°/o inneren Anleihen in den Nententypus.
» Mgathangel, Biſchof von Riga und Mitau (geb. 1856,
1881 cand. theol. der Mosfauer Afademie, Lehrer an einer
geiftlihen Schule, 1885 Mönch, bald darauf Abt und Inſpektor
des Tomsfer Seminars, dann Rektor des Seminars zu Irkutsk,
1889 Vikar-Biſchof in Kirensf, 1891 bei der Anmejenheit
©. 8. 9. des damaligen Thronfolgers in Irkutsk befonders
ausgezeichnet, 1893 Bilchof von Tobolsf), trifft in Riga ein
und mwird von den Spigen der ruſſ. Sejellichaft empfangen.
— Der „Riſhſti Weſtnik“ (Nr. 275) begrüßt den zum Dienſt für die
Rechtgläubigfeit auf einen jo mühevollen Schauplatz Berufenen. Biel jei
zwar von feinem Vorgänger zur Befeitigung der Orthodorie im Grenz«
lande gethan worden, dennoch jtänden noch viele Sorgen und Müben
bevor, um das große Werk zu vollenden. Der erjprieiterliche Dienit fei
ſchon in den redhtgläubigen Gegenden Rußlands cin fchwieriger, ſehr viel
mehr aber hier, wo die indigene Bevölkerung erjt jeit relativ furzer Zeit
die rechtgläubige Predigt gehört habe, mo die Orthodoren von einer Maſſe
Fremdgläubiger umringt jeien und mo eine andersgläubige Kirche noch
nicht der Verfuchung entiagt babe, eine berrichende Stellung einnehmen
zu mollen... Obgleich das Gebiet in Bezug auf die äußere Bildung
der Bevölferung unter den übrigen Theilen Rußlands einen anichnlichen
Platz einnehme, gebe es doch in ihm für die Sache der Aufllärung der
Volksmaſſe — und zwar einer Aufflärung im Geiite der Orthodoxie —
noch jehr viel zu thun. Bei diefer Aufklärung könne es ſich nicht nur
darum handeln, die rechtgläubigen Jndigenen definitiv in der Wahrheit
zu befejtigen, jondern es handle fi darum, überhaupt den religiöfen
Durſt zu stillen, unter dem die Maffe der örtlichen Bevölkerung leide
und der jet, weil er eben nicht geitillt werde, einerfeits zum Seftirertfum,
andererfeitS zu religiöiem ndifferentismus, ja Sogar zu Atheismus
führe... Die Hingebung des Biſchofs an einen jolden Dienjt werde
— 87 —
nicht nur bei der ganzen orihodoren Geiftlichkeit der Rigaſchen Epardhie,
fondern auch in der ganzen ruſſiſch-orthodoxen Geſellſchaft des Gebietes
einen vollen Widerhall finden. Diele Geſellſchaft jei bereits daran gewöhnt,
nicht nur in Worten, jondern in Thaten ihre Theilnahme an den Arbeiten
ihres Erzpriefterd zu beweilen und zum Nuten der Urthodorie und gerade
deshalb auch zum Nuten des ruffiichen Staates und der ruf. Nationalität
mitzumirfen.
4.—13. Dez. Beſchlüſſe des livländiihen Adelsfonventes]:
Der Adelsfonvent erklärt feine Webereinjtimmung mit den
Schritten, Die der Kandmarjchall zur Ausführung des Konvents-
beichluffes vom Mai e. in Saden der Volksſchulen gethan
bat (Balt. Ehr. I, 107 und II, 44). — Es werden nad):
träglid die Maßnahmen ratihabirt, die von der Nefidirung
im Einvernehmen mit dem Landmarſchall für die Vornahme
einer Revifion der Volksſchulen durch die weltlichen und
geiftlihen Schulrevidenten getroffen find. Dies geichieht
unter der Borausjegung, daß dieſe Nevifion eine einmalige
zu jein Hat und dab folches durch eine Verhandlung mit
der Verwaltung des Lehrbezirfs Flargeftellt wird; daß ferner
die Zulälfigfeit der Wahl der zur Durdführung der Revifion
erforderlichen Suppleanten jowie der Anwendung der lettiichen
und ehftniichen Sprache bei den Prüfungen von den Organen
der ſtaatlichen Schulobrigfeit anerfannt wird und daß, wenn
legteres nicht zu erlangen fein follte, die Enquète jchon in
ihrem gegenwärtigen Anfangsftadium fofort definitiv zu ſiſtiren
it. (In einem Schreiben aus der Verwaltung des Lehr:
bezirt8 vom 12. Dezember werden darauf die genannten
Bedingungen für unannehmbar erklärt. (Balt. Chr. IL, 42 f.)
In Betreff der von der Ritterſchaft jubventionirten Privat:
penfionate in Niga und Jurjew (Dorpat) wird beſchloſſen:
Einem bevorjtehenden Landtage ijt eine Abänderung Des
bisherigen Subventionirungsmodus vorzubehalten, und um
demjelben eine nad) jeder Richtung freie Dispofition in diejer
Sache zu ermöglichen, find die gegemwärtig gezahlten Sub-
ventionen zum Auguſt 1898 zu fündigen. — Der Bräfident
der Kommillion für die Vorbereitung einer Grundſteuer—
reform berichtet über die Beendigung der Arbeiten diejer
Kommiifion. Der Ndelsfonvent beichließt in Folge deſſen,
um die Öenehmigung zur Einberufung eines außerordentlichen
— 88 —
Landtages nachzuſuchen und für deſſen Einberufung den
kommenden Märzmonat in Ausſicht zu nehmen. — Der
Gouvernementsverwaltung war eine Vorſtellung gemacht
worden, nad) der die Delegirten vereinigter Gemeinden in
die Kirchen- und Schulkonvente von bejonderen, den früher
jelbftändigen Gemeinden entjprechenden Wahlförpern gewählt
werden jollten. Diele VBorjtellung wurde am 8. November c.
abgelehnt. Der Adelsfonvent fonftatirt, daß die Intereſſen
der einzelnen mit einander vereinigten Gemeinden an den
auf den gen. Konventen verhandelten Angelegenheiten oft
jehr verichiedenartige find, und erſucht deshalb die Nejidirung,
bei der Gouvernementsverwaltung dahin zu wirken, daß die
betreffenden Gemeinden foviel Delegirte in die Kirchen: und
Schulkonvente zu wählen haben, als früher jelbjtändige
Hemeinden zu ihrem Bejtande gehören, und daß dabei jede
diejer früheren Gemeinden durch einen zu ihr gehörenden
Delegirten repräfentirt werde. (Balt. Chr. L, 151.) —
Die Kommiljion für die Ausarbeitung von Vorſchlägen zur
Negelung des Fideikommißweſens wird vom Adelskonvent
erſucht, ihre Arbeit dem nächſten ordentlichen Landtage zur
Beſchlußfaſſung vorzulegen, wobei ihre urjprüngliche Arbeits:
direftive eriweitert wird. Der Bericht, den die Kommiſſion
für die Ausarbeitung des Projektes zu einem Anerbenredht
für den Großgrundbeſitz vorgejtellt hat, joll nody von einem
praftiihen Juriſten begutadhtet werden und darauf dem
bevorjtehenden Yandtage zur Beſchlußfaſſung vorgelegt werden.
— Der Adelstonvent nimmt Kenntniß von den Verhandlungen
zur Ausarbeitung eines Gejeßesprojeltes zur Negelung des
Waſſerrechts (Balt. Chr. IL, 32) und erſucht die Nefidirung
und den Yandmarjchall, den weiteren Verlauf der VBerhand-
lungen im Auge zu behalten und nad) Möglichkeit dahin
zu wirfen, daß die einschlägigen Beſtimmungen des provinziellen
Privatrechtes nicht verändert werden, bevor die ritterichaftliche
Vertretung Gelegenheit gehabt hat, ſich geeigneten Ortes zur
Sache zu äußern. — Ein Schreiben des Gouverneurs wegen
Suboventionivung der meteorologijchen Station der Kaiſerl.
Doslauer landwirthichaftl. Gejellihaft und wegen Namhaft—
madhung von PBerfonen, die bereit wären, für die Geſellſchaft
— 39 —
meteorologiſche Unterſuchungen anzuſtellen, ſoll in ablehnendem
Sinne erwidert werden. Dem entſpricht ein Gutachten der
Kaiſerl. livländ. gemeinn. und öfonom. Sozietät, wonach die
Beobadhtungsreiultate der unter Zeitung der Sozietät jtehenden
Stationen in Livland der Mosfauer Gejellihaft zur Ver:
fügung jtehen, den Zwecken der livländiihen Landwirthichaft
aber durch die von der Cozietät geleiteten Beobachtungen
genügt wird. (Balt. Chr. L, 152.) — Ein anderes Schreiben
des Gouverneurs wegen Bewilligung einer Unterfiüßung aus
der Landeskaſſe für die ehſtniſche Aleranderjchule bei deren
Einrihtung zu einer mittleren Ackerbauſchule wird gleichfalls
abgelehnt, weil der Adelsfonvent der Ueberzeugung iſt, daß
nicht ſowohl mittlere als vielmehr zunächſt niedere Ackerbau—
ſchulen nöthig find. Zugleich wird beſchloſſen, ſich über die
einleitenden Echritte zu informiren, die von der Kaiſerl.
livländ. gemeinn. und öfonom. Sozietät zur Begründung
niederer Ackerbauſchulen gethan find, und darüber dem nächjten
Landtage zu berichten. (Balt. Chr. IL, 40.) Cbenjo wird
abgelehnt ein vom Gouverneur mitgetheilter Antrag auf
Subventionirung einer bei Plesfau zu begründenden der:
bauſchule. — Zur Förderung der IV. baltiidhen Zentral:
ausjtellung im Juni 1899 bejchließt der Ndelsfonvent: 1)
ber gemeinn. und öfonom. Sozietät zum gen. Zwede aus
der Nitterfajfe einmalig 2000 Rbl. zu bewilligen und für
Nechnung derjelben Hajje eine Sarantiefunme von 8000 Rbl.
zu zeichnen; 2) den livländ. Zandmarjchall als Delegirten in
den Ausjtellungsfomite zu wählen. — Zur Eubventionivung
der projeftirten Zufuhrbahn Reval Sellin jollen nad) ein-
geholter Genehmigung der Gouvernementsobrigfeit aus den
Mitteln der Poſtkaſſe 500 Aktien der I. Zufuhrbahngejellichaft
angefauft werden. — Die übrigen Verhandlungen betrejfen
Mabregeln zur Debung der Pferdezucht, zur Chauffirung von
Zufuhrwegen, zur Schiffbarmadhung livländijcher Flüſſe, zur
Regelung der Holzflögung auf öffentlichen Flüſſen, u. a.;
endlich eine Neihe von Geldwilligungen aus den verjchiedenen
Kaſſen.
13. Dez. Ein Allerh. Erlaß an den Dirig. Senat verleiht dem
Gehilfen des Chefs der Gendarmen die Rechte eines Miniſter—
sh.
gehilfen mit dem Sig im Neichsrath, Minifterfomite und
Dirig. Senat zur Vertretung des Viinijters des Innern in
Angelegenheiten, die das Gendarmenkorps betreffen.
15.—16. Dez. Sitzungen des ehſtländiſchen ritterfchaftl.
Ausihujjes]: Der ehitländifche Gouverneur hat beantragt, die
ehitländ. Ritterſchaft möge der ehſtniſchen Nleranderichule in
Oberpablen bei ihrer Umwandlung in eine landwirthichaftliche
Schule eine einmalige Eubvention gewähren. Der Antrag
wird abgewiejen: die Bewilligung einer jolhen Subvention
erjcheine zur Zeit verfrüht, da die Leitungen der Schule
abzuwarten ſeien und andererjeits in Betracht zu ziehen
fei, daß die Schule vorausfichtlih in erjter Linie von der
ländlichen Bevölkerung Livlands befucht werden würde. —
Das Stadthaupt von Arensburg juht um eine Subvention
für die Seemannsichule zu Arensburg nad. Der Ausſchuß
weilt das Geſuch ab, weil in Ehitland jelbjt zwei Seemanns—
ſchulen bejtehen und die eine von ihnen bereits eine Sub—
vention aus Zandesmitteln erhält. — Es wird beichlojien, in
Folge praftiiher Schwierigkeiten von der Vornahme einer
Enquete in Betreff des Zechstel-Yandes abzujehen. (Balt.
Chr. I, 152.) — Es wird Kenniniß genommen von einem
Schreiben des ehitländ. Gouverneurs, der mittheilt, daß das
Minifterium des Innern es abgelehnt habe, das Projeft der
Ehrengeridhtsordnung zur Beltätigung vorzuftellen. (Balt.
Chr. 1, 92.) — In Anlaß einer Anfrage der Landesjteuer-
kommiſſion wird beichlojfen: Der Verkauf von Dofsaderland
auf Gütern, die den im Art. 601 des Ill. Theiles des
Provinzialrechts für ein Rittergut bejtimmten Umfang von
150 Deflätinen Aderland nicht haben, kann in dem alle
geitattet werden, wenn foviel Ader, als verfauft wird, neu
aufgenommen wird und das nadhbleibende Areal an Wieſe
und Weide noch dem Ackerareal entipridt. — Dem Aus:
jtellungsfomite des ehitländiihen landwirtbichaftl. Vereins
werden für die nächſtjährige Austellung 500 Rbl. zu Preiſen
bewilligt.
17. Dez. In Reval konſtituirt ſich eine Sejellichaft zur Fürjorge
für Geijtesfranfe im Gouvernement Chjtland.
— 41 —
17. Dez. Das Zirkular für den Rigaſchen Lehrbezirk (Nr. 10, vom
18.
1. Oft. datirt) enthält u. A. jehr ausführliche Vorjchriften
für eine Allerh. betätigte Uniform der Gewerbeihüler und
Studenten höherer technifcher Zehranftalten, ferner das Verbot
Scüleruniformen im Auslande zu tragen. — Der Minifter
der Volksaufklärung hat beichloffen, die Zahl der wöchentlichen
Unterrichtsftunden für evangeliſch-lutheriſche Neligion in der
I. und II. Klaſſe des baltischen Lehrerjeminars (zu Goldingen)
bis auf drei zu vermehren.
» Rigafche Stadtverordnetenverfammlung: Das von dem
Stadtamt für das Jahr 1898 vorgejtellte Budget wird mit
einigen von der Budget Kommiſſion vorgejchlagenen unmwejent:
lihen Abänderungen angenommen. Es balancirt mit ca.
2,725,000 Rbl. (der vom Stadtamt vorgejehene Ueberſchuß
von ca. 13,000 Rbl. ift auf ca. 1000 Rbl. reduzirt worden).
Damit ijt das Budget des Jahres 1897 (Balt. Chr. L, 13)
um mehr als 400,000 Rol. überjchritten, eine Thatſache,
die das rapide Wahsthum Nigas deutlich kennzeichnet. —
Das realifirte Budget von 1896 zeigt die bei der Budget:
Aufftellung in Riga übliche Vorſicht: die ordentlichen Ein:
nahmen ergaben ein Blus von 138,018 Nbl., die ordentlichen
Ausgaben ein Minus von 18,831 Nbl., der Gejammt:
Ueberſchuß betrug 87,567 Rbl. Die Vermögensbilany erhöhte
fid) im Jahre 1896 um faft eine Million Rbl., und zwar
traten werthvolle Objekte gemeinnügigen und theilweiſe
eminent produftiven Charakters zum Vermögen der Stadt
hinzu. — Es ift nicht zu verfennen, daß die Refultate der
Rig. Finanzverwaltung erfreuliche find und einen großen
Gegenſatz zu den Finanzreſultaten jehr vieler Städte im
Reiche bilden. Trotzdem iſt die finanzielle Vorficht der Nig.
Stadtverwaltung oft Angriffen und Vorwürfen ausgejegt:
einerjeits richten ſich nationaliftiich-deftruftive Tendenzen mit
Vorliebe auch gegen fie, andererjeits treten gutgemeinte
Wünſche nad einem jchnelleven Tempo in der Entwidelung
der Mohlfahrtseinrichtungen hervor.
19. Dez. Die Unficherheit der Lage des Brennereigewerbes, die
durch die einjchneidenden Veränderungen ber ruſſiſchen Steuer:
gejeßgebung bedingt iſt, hat ſchon feit längerer Zeit einen
— 42 —
großen Theil der baltiſchen Landwirthe in eine äußerſt
bedrängte Lage gebracht. Bei dem völligen Preisniedergange
der Körnerfrüchte war man dort, wo der Boden den Flachsbau
nicht geſtattete, vor allem auf den Kartoffelbau für die
Spiritusproduktion angewieſen. Nun hat aber der Niedergang
der Spirituspreije aud) den Kartoffelpreis um mehr als die
Hälfte herabgedrüdt. Die jtaatlihen Einnahmen aus ber
Spiritusinduftrie find dabei im Gegenſatz zu den Berluften
der Landwirthichaft ungeheuer gejtiegen. Das veranlaßte
im Juni 1896 die Saijerl. livländ. gemeinn. und öfonom.
Sozietät, durch ihren Präfidenten dem Minijter der Land—
wirthichaft eine Denkichrift überreichen zu laſſen, in der auch
ein an den Finanzminiſter zu richtendes Geſuch enthalten
war. Letzteres ijt am 31. Oktober 1897 vom Finanzminijter
beantwortet worden, und die „Balt. Wochenſchrift“ ver:
öffentliht nun das ganze Material. Der Finanzminijier
fehnt — ſoweit nicht mittlerweile Theile des Geſuches durch
die Gejeggebung jchon beantwortet find — das Gejud in
feinen wejentlihen Punkten ab: in Bezug auf Erhöhung
der Erportprämie, auf Einführung eines zwedmäßigen
Denaturicungsgejeges, auf wirfamen Schutz der landwirth:
ihaftlihen Brennereien gegen die induftriellen und auf
günjtigere Eijenbahntarife.
20. Dez. Wendenſche Stadtverordnetenverjammlung: Der Gou—
verneur hat die Berwendung ftädtiicher Mittel zur Gründung
und Unterhaltung landwirthichaftliher und techniicher Schulen
beantragt. Es wird beichlojfen, diefen Antrag nit in
Erwägung zu ziehen, bevor Diejenigen Bolten aus dem
jtädtiichen Ausgabe-Budget von 1897 bejtätigt find, Die jich
auf die Unterftügung von Privatichulen in der Stadt Wenden
beziehen.
» Die begonnene Reviſion der livländiichen evangel.-luth.
Vollsſchulen durch die livländ. Oberlandſchulbehörde (Balt.
Chr. 11, 28,30) muß eingeftellt werden. Die Verwaltung
des Lehrbezirts hat die vom livländ. Adelskonvent als noth-
wendige VBorausjegungen firirten Bedingungen, die Zuläffigfeit
der Wahl der zur Durdführung der Nevilion erforderlichen
Suppleanten der Kreisichulrevidenten und die Anwendung
PER vun Ta
EN —
der lettiſchen und ehſtniſchen Sprache bei den Prüfungen,
und damit überhaupt die Yegalität der Nevifion bejtritten.
Vergeblich it dagegen geltend gemacht, daß die Euppleanten
in früheren Fällen unbeanjtandet gewählt und thatſächlich
in Funktion gewejen find, daß ohne diejelben eine Reviſion
der ca. 1200 Landſchulen uno actu ganz unmöglich iſt und
daß das Gejeg für die von den 16 etatmäßigen Kreis—
ichulvevidenten auszjuführenden gewöhnlichen Nevifionen einen
Zeitraum von 3—6 Jahren bejtimmt. In einem Antwort:
ichreiben auf dieſe Darlegungen der Oberlandichulbehörde
erflärt der Kurator des Lehrbezivks, daß die Suppleanten
gegenwärtig zur Nevilion nicht zugelajien werden fönnten,
für die Zukunft aber ihre Zulaſſung möglich fei, wenn ber
Miniſter fie genehmige. Zugleich erflärt er, dab in allen
Fächern, in denen bereits ruſſiſch unterrichtet werde, Die
Srageftellung der Nevidenten nur ruſſiſch jtattzufinden habe.
Damit iſt die Fortjegung der Reviſion unmöglich gemadıt.
Die Oberlandſchulbehörde jtellt das in einem Schreiben an
den Miniſter der VBolfsaufflärung far. — Wereinzelte
Nevifionsberichte liegen aber doc) bereit$ vor. Sie find
außerordentlih injtrultiv. Im Tarwaſtſchen Kirchſpiel
fonnte 3. B. die Reviſion zu Ende geführt werden, und Die
Nevidenten berichteten dem Kirchen- und Sculfonvent in
Hegenwart aller Lehrer des Kirchſpiels über die Nejultate:
in der Religion und im Gejange von Chorälen waren Die
Yeiltungen ausgezeichnete, im ebjiniichen Leſen gute, in
ehſtniſcher Orthographie und in der Kalligraphie jchledhte, in
der Arithmetik jehr jchlechte, in der allgemeinen und in der
ruſſiſchen Gejchichte ungenügende; Dlelodien von Volksliedern
fannten die Kinder nur wenig; Die ruſſiſche Sprade fiel
ihnen jchwer, und wenn fie aud) allenfalls erträglich lafen,
jo konnten jie doch den Sinn des Gelejenen nicht angeben.
Symptomatiih war die lebhafte Freude, mit der das Wieder:
erjheinen der Schulrevidenten vom Volk begrüßt murde.
Sie ließ deutlich erlennen, daß die frühere Thätigfeit der
ritterichaftlihen Schulverwaltung troß aller VBerhegungen
weiten Schichten der Vevölferung in Ddanfbarer Erinnerung
geblieben ijt.
— 4 —
20. Dez. Entſcheidung über eine Supplik der livländ. Ritterſchaft:
Der livländiiche Adelsfonvent hatte im Mai d. 3. den livl.
Landmarichall erfuht, in Betreff des livl. Volksſchulweſens
eine Supplif einzureichen. (Balt. Chr. 1,107.) Dieje Supplif
fonnte exit im November d. J. eingereicht werden. ie
enthielt nad) einer Schilderung der gegenwärtigen Volks—
ichulverhältniiie die Bitte um die Erſetzung der temporären
Negeln vom 9. 1887 durch ein definitives Geſetz, das eine
religiös-fittliche Erziehung des Volkes ficherjtele, mit Berüd-
fihtigung folgender Grundlagen: 1) des Fonfelfionellen
Charakters der Volksſchule; 2) der örtlichen Mutterfprachen
als Unterrichtsipradye bei gleichzeitiger Erlernung der Reichs—
ſprache in den Grenzen der Möglichkeit; 3) der nußbringenden
Theilnahme der Selbjtverwaltungsorgane an der Volksſchul—
verwaltung. Damit war die Erklärung verbunden, daß die
gegenwärtig geltenden temporären Negeln vom J. 1887 die
religiös-fittliche Erziehung des Volkes nicht ficherftellen und
die livländ. Nitterichaft der Möglichkeit berauben, an ber
Verwaltung der Volksſchule theilzunehmen. Am 28. Nov.
wurde dem livl. Landmarſchall über den Inhalt der Supplif
Gehör gewährt. Durd ein Schreiben des Dirigirenden der
Bittichriften-Hanzlei vom 10. Dez. d. J. wurde darauf dem
Landmarjchall die Entiheidung vom 4. Dez. mitgetheilt:
„Das Geſuch um Erjegung der temporären Negeln über die
Verwaltung der Elementarichulen in den balt. Souvernements
vom 17. Mai 1887, die gegemwärtig in die im Jahre 1893
emanirte Sammlung der Berordnungen über die gelehrten
Inftitutionen und Zehranitalten des Nefjorts des Minifteriums
der Volksaufklärung (Reichögeleg Bd. XL, Th. 1) aufgenommen
und in den Artifeln 3568— 3641 der gen. Sammlung ent:
halten find, — durch ein neues Geſetz, ſowie um Ertheilung
des Unterrichts in den Landſchulen des livl. Gouvernements
nicht in ruffiicher, ſondern in der örtlichen lettiichen oder
ehſtniſchen Sprade, — it ohne Folge zu laſſen.“
22, Dez Gemäß einer Vorftellung des Finanzminifters wird durch
ein Allerh. bejtätigtes Neichsrathsgutachten der Ausfuhrzoll
auf Kreditbillete aufgehoben.
45 —
23. Dez. Der Jurjewſche Univerfitätsfonfeil wählt zu Ehren—
24.
29.
mitgliedern der Univerfität Jurjew den Oberprofurator des
heil. Synods K. B. Pobjedonoszew (mit 23 gegen 13 Stimmen)
und den Senator Semenow und beichließt, die Annahıne
der Ehrenmitgliedfchaft von ©. 8. 9. dem Großfürften
Mladimir Alerandrowitich zu erbitten.
„Dreſn ruſſiſchen gelellichaftlichen Vereinen zu Riga, Reval,
Mitau und Jurjew (Dorpat) wird die ftaatlihe Subvention
für weitere drei Jahre bewilligt und zwar den drei erſt—
genannten in der Höhe von 3000 Rol. jührlih, dem legten
500 Rbl. jährlih. — Der „Riſhſki W.“ plaidirt dafür, daß
man diefe Subfidien lieber den ruffiichen Vereinen in den
fleinen Städten zumende; in Riga aber verdiene nicht Die
„O6mnecTBennoe coöpanie“, jondern viel eher die „Cemeiinoe
co6panie*, deren Mitglieder arın feien, eine jtaatliche Unter:
ftügung. — In Niga erijtiren feit einigen Jahren drei
ruffiiche Klubs.
„ Der Bräfident des Nig. Bezirksgerihts Marimomitich
wird zum Departements: Bräfidenten des Betersburger Gerichts:
bofes ernannt, an feine Stelle in Niga tritt der ‘Präfident
des Mitauer Bezirksgerichtes Valerian Fedorowitich v. Klugen
und an deilen Stelle in Mitau der Gehilfe des Chefs der
Gefängniß-Hauptverwaltung Kowalenſti.
» In Folge der Vermehrung der Schul-Auffichtsbeamten
(Balt. Chr. I, 80) werden auch die Inſpektions-Rayons neu
beftimmt: für Yivland 9, für Kurland 4, für EChitland 3,
mit durchichnittlih 160-200 Schulen pro Nayon. Volks:
Ichuldireftor für Yivland bleibt der nad Ausdienung von
30 Jahren auf weitere 5 Jahre bejtätigte Sſomtſchewſki,
für Ehitland iſt ftatt des zurüdtretenden Blagoweſchtſchenſki
der Pſkowſche Volksſchulinſpektor Pawlow ernannt, für Kurland
it der bisherige Lehrer an der Wilnafchen Realſchule
Brjanzew (ein Bruder des Erzbiihofs Arſſenij von Kajan)
defignirt.
„ Graf %. D. Deljanow, Minifter der Volfsaufflärung,
jtirbt zu Betersbnrg im 80. Lebensjahre. Er war Minifter
der Volfsaufflärung jeit dem 16. März 1882. Unter jeiner
——
Aegide iſt die Reorganiſation aller baltiſchen Lehranſtalten
vollzogen worden.
31. „ Ein Allerh. Reſkript gewährt dem Generaladjutanten
Obrutſchew feine Bitte um Enthebung vom Amte eines Chefs
des Generalftabes wegen zerrütteter Gejundheit, beläkt ihn
aber als Mitglied des Neichsrathes.
Berihtigung.
Der Feſtpredigt des Prof. F. Hörlchelmann am 12. Dezember 1897
(vgl. oben ©. 35) lag als Zert nicht Matthäus 21, 13 jondern Matthäus 21, 14
zu Grunde.
Subifriptionseinladung.
Der „Berein zur Kunde Oeſels“ hat auf feiner Sitzung vom
9. März c. beichlojlen, die Herausgabe des im Manujfript voll:
endeten 2. Bandes von „Dejel einit und jetzt“ von dem
Verfafler der „Baujteine zu einer Geſchichte Oeſels“ M. K. in
die Hand zu nehmen. Es ergeht daher an alle Diejenigen, Die
diefes Unternehmen fördern wollen, die Einladung, an der eröffneten
Subſkription Antheil zu nehmen. Der Subjfriptionspreis ijt auf
2 Rubel feitgejegt worden und werden Subjkriptionsanmeldungen
von oben genanntem Verein (unter dev Adreſſe: d. 3. Sekretär
des V. 5. 8. O. Oberlehrer E. Wilde, Arensburg, Schloßſtraße
Nr. 6) und der Nedaftion des „Arensburger Wochenblattes” (unter
der Adreſſe: Arensburg, Kaufitraße Nr. 17) entgegengenommen.
Aus der unten folgenden Inhaltsangabe it erfichtlich, welche Fülle
interefjanten Stoffes diefer 2. Band enthält und es darf der
Verein wohl annehmen, daß das Intereſſe für dieſes Merk, welches
Ihon durdy den 1. Band in hohem Grade gewedt worden ift, in
diefem 2. Bande nad allen Seiten die gewünschte Befriedigung
finden wird. An die Redaktionen der baltiichen Blätter ergeht
die Bitte, durch Veröffentlichung diefer Zubjkriptionseinladung
ihrerjeits an der Förderung diejes Unternehmens ſich betheiligen
zu wollen.
Nrensburg, den 16. März 1898.
Prajes U. v. Güldenjtubbe.
Sekretär C. Wilde.
Oeſel einſt nnd jet.
Zweiter Band.
Land und Leute. Die Stirchipiele Muſtel, Kielkond, Anfefüll,
SJamma, Wolde und Pyha
von dem Verfaſſer der „Baufteine zu einer Gefchichte Oeſels“ M. K.
Inhalt.
Yand und Yente.
I. Das Kirchipiel Muſtel.
1. Allgemeines. 2. Die Annenfirhe. 3. Der Libanon. 4. Der Pant.
5. Die beiden Strudel. 6. Die Eijenerzgruben bei Wöhma. 7. Der Hafen von
Mujtel. 8. Ein Meteorjtein. 9. Volksſagen. a. Der Pank, b. Die Geldhögle.
10. Generalmajor Georg Wilgelm von Dilmar.
II. Das Kirchſpiel Kielfonbd.
1. Allgemeines. 2. Die Michaelisfire. 3. Das Nonnenklofter zu Katvel.
4. Eine verſchwundene Stadt. 5. Ein Berg. 6. Bolfsiagen. a. Ein großer
Schatz, b. Die Stirhenglode, e. Schwarz oder weiß, d. Todesitrafe zu heidniſcher
Zeit, e. Die Duellenngmphe, f. Die Waldnymphe, g. Die fleinen MWaldgeiiter,
h. Die feltfjame Tanne, i. Der bedeutjame Steinhaufe, k. Der Schat im Meere,
l. Die Trauerebene, m. Der lud der ſchönen Els. 7. Tas Mädchen von
Marienburg. 8. Ein Familiendofument v. 3. 1752. 9. Ein ungewöhnliches
Raturereignib. 10. Strandung und Bergung. 11. Grenzwache und Schmuggel.
12. Admiral Fabian von Bellinghaufen.
III. Das Kirchſpiel Anſeküll.
1. Allgemeines. 2. Die Marienfirche. 3. Der Meeresitrand von Jerwe.
4. Die Inſel Abro. 5. Das Goldſchiff. 6. Eine Brautichaft vor 200 Jahren.
7. Das erite ehſtniſche weltliche Konzert 1862. 8. Der Zauberer. 9. Ein jeltiamer
Wahnglaube. 10. Die große Dürre und Hungersnoth. 11. Das erſte ehſtniſche
Sängerfeft. 12. Rollsjagen. a. Entitehung der Schworbe, b. Die Meerfühe,
e. Der Froſch auf der Hochzeit. 13. Der öfeliche Nationalheld. 14. Während
des Arimkrieges.
IV. Das Kirdipiel Jamma.
1. Allgemeines. 2. Die Trinitatisfirhe. 3. Die Ruine in Zerel. 4.
Der Popenbaum. 5. Der Eibenbuum. 6. Der Epheu. 7. Bolfsjagen. a. u. b.
Der Zereliche Riff, c. Das Geldfeuer, d. Der Deimgänger. 8. Ein „Denkbuch“
von 1699. 9. Eine Kriminalgeichichte.
V. Das Kirchſpiel Wolde.
1. Allgemeines. 2. Die Martinsfirhe. 3. Der Bauerberg (in Wolde).
4. Eijenerjlager. 5. PBollsiagen. a. Der Fiſcher, b. Die Wolfsipeijung vom
Himmel, c. Der Imverbefferliche, d. Die Wahl der Stätte zur Kirche, e. Die
verjunfene Sirchenglode. 6. Eine Beerdigungsfeier von 1771.
VI Das Kirchſpiel Pyha.
1. Allgemeines. 2. Die Jakobifiche. 3. Der Krater von Sall. 4.
Eine Gemäldefammlung. 5. Das Ende der Frau von Gahlen. Der Mord in
Sall. 6. Eine jeltene Feier. 7. Um ein Rind. 8. Cine Volfsjage. 9. Ein
Ahnenjaal. 10. Zwei Männer: Dr. Artyur v. Saß und Generalmajor Wilhelm
v. Nolcken.
— Sr .
Herausgeber und Redakteur: Arnold v. Tideböhl.
Aoasoneno menaypow. Pura, 30. Mapra 1898 r.
Druderei der „Baltiſchen Monatsichrifi”, Riga.
1898.
. Januar. Ein Allerhöchſtes Reſkript gewährt dem General:
abjutanten, General der nfanterie Mannowffi auf feine
Bitte wegen volljtändig zerrütteter Gejundheit den Abjchied
vom Amte eines Kriegsminifters und ernennt ihn gleichzeitig
zum Mitglied des Neichsraths. Zum Verweſer des Kriegs—
minijteriums wird der Generallieutenant Kuropatfin, Chef
des Transfafpigebietes, ernannt.
. Geheimrath Anitſchkow, Gehilfe des Mlinifters der
Volfsaufflärung, wird zum zeitweiligen Verweſer des Mini:
fteriums der Vollsaufflärung ernannt.
” Generaladjutant, General der Infanterie Dragomirom,
Kommandirender der Truppen des Kiewſchen Militärbezirks,
wird zum Generalgouverneur von Kiew, Podolien und
Wolhynien ernannt unter Belaſſung in feinem bisherigen
Amte.
fr Nah dem Neichsbudget für 1898 balanciren die
Staats-Einnahmen und Ausgaben dieſes Jahres mit
1,474,049,923 Rbl. Der Ueberfhuß der ordentlichen Ein-
nahmen über die ordentlichen Ausgaben beträgt 14,373,004
Rbl. Zu außerordentlichen Ausgaben find 123,964,710
Rbl. und zwar für Eifenbahnbauten bejtimmt, die gedeckt
werden jollen durch im Budget veranichlagte 3,300,000 Rbl.
außerordentliher Cinnahmen, durch den Ueberſchuß von
14,373,004 Rbl. aus den ordentlichen Einnahmen und durd)
106,291,706 Rbl. aus dem freien Baarbeitande der Reichs—
ventei. Durch Kreditoperationen wird alſo wieder ein Defizit
von 106,3 Millionen gededt. Wie im Jahre vorher giebt
der Sinanzminifter über den Zujtand des Geldweiens im
Reiche eingehende Aufſchlüſſe und erörtert einige Moda—
litäten der Staats: und Finanzverwaltung, die für die
Sicherjtellung dev Währung vor zukünftigen Schwankungen
feiner Meinung nad) von Bedeutung find. Durd) die Aller:
höchſten Befehle v. 3. Jan., v. 29. Aug. u. 14. Nov. 1897
(ef. Balt. Chronik, unter diefen Daten) jei die Werthbejtimmung
— IV
—
der neuen Goldmünze und ihrer Repräſentanten, der Kredit—
billete, in Rubeln zu 1/5 des Imperials feſtgeſetzt und dadurch
der Rubel mit einem Feingehalt von 17,424 Doli Gold als
ruſſiſche Münzeinheit erflärt worden. Somit fei der Rubel
aus einer umbejtimmten, ſchwankenden Größe zu einem
feften Wertbe geworden, gleih dem engliihen Pfund
Sterling und den Miünzeinheiten der übrigen Staaten mit
normaler Währung. Damit fcheint der Uebergang zu einer
Kreditwährung mit obligatoriicher Cinlösbarfeit der Noten
in Gold in der That durchgeführt. Der Finanzminijter
erachtet es aber für durdaus erforderlich, daß das Metallgeld
thatlächlich in den Verkehr eindringe und um dies zu erreichen
betont er die Nothwendigfeit einer weiteren Reduzirung der
Kreditbillete, namentlich der fleineren Werthe. Die Gold—
beftände des Neiches waren zu Ende des Jahres 1897 auf
1315 Millionen (gegen 1206 Millionen zu Ende 1896)
angewachſen, die Kreditbillete bis auf 999 Millionen (gegen
1121, Millionen zu Ende 1896) verringert worden. Der
Silbermünze joll in Zufunft nur die Eigenschaft als Hilfs—
geld vindizirt werden. Als Ziel des Finanzminijters ericheint
ſomit die effeftive Goldwährung für das Reich. — Die ruſſiſche
Preſſe rühmt im allgemeinen den Scharfjinn und die Vorficht des Finanz«
miniſters bei Aufitellung des Budgeis pro 1898. Bemerkenswerth ift,
daß wie die „Ruſſk. Wed.” zutreffend ausrechnen, das Steigen der
ordentlichen Cinnahmen im WBergleih zum Vorjahr faftiih auf nicht
mehr ald 3 Millionen für das geſammte Reich veranschlagt wird. Diejes
geringe Plus will der Finanzminiſter Durch die Mikernte im Jahre 1897
und durch die Befürchtungen, die für Die fünftige Ernte gehegt werden,
erffären. In Anbetracht vieler Thatſachen hat der Finanzminiſter in
Erfenninii des „innigen Zuſammenhanges — mie es im Allerunter-
thänigiten Bericht deffelben lautet — zwiſchen dem Gedeigen der Finanzen
und den reichen Ernten” nicht umhin können, „dem Reichsrath eine
Bedenken in Bezug auf die Möglichkeit einer Störung oder fogar eines
Rüdganges im inflichen der Abgaben und ciniger indirefter Steuern
darzulegen.“ — Hinſichtlich der Müngreform ift nicht zu vergefien, daß
durch die dauernde Feſtlegung des Areditrubels zu 1/,, des Imperials
(Allerh. Befehl v. 14. Nov. 1897) die Einlöfung der ruffiichen Noten zu
2/, ihres Merthes im Inlande in Permanenz erflärt worden iſt, mas
für alle Beſitzer ruffticher Kreditbillete den definitiven Berluft von 1/,
ihres Beſitzes bedeutet.
——
1. Jan. Auf den allerunterthänigſten Bericht des Gehilfen des
#
Minijters der Wolksaufflärung über das am 29. Dezember
erfolgte Ableben des Minijters der Volfsaufflärung, Staats-
jefretärs Grafen Deljanom, geruht Se. Majeſtät der Kaiſer
Höchſteigenhändig zu bemerken: „Fin unerfeglicher Verluſt.“
— Die ruſſiſche Preffe hebt hervor, daß die Hauptthätigfeit des Grafen
Deljanow ſich auf die „Reform der Schulen der Grenzmarken“ und ihre
„Unterwerfung unter die Aufſicht und Verwaltung der Regierung“
beichränfte (Now. Wrem.) Dieje Ihätigfeit des veritorbenen Miniſters
it zur Genüge befannt, und auch darüber, wie weit fie einen kulturellen
Fortſchritt bedeutet, dürften feine Zweifel mehr obmwalten. Bemerkenswert)
iſt das Eingeitänonik der „Nomoje Wr.“ daß die Sorge des Minifters
um Die jtaatlihe Stellung des Interrichts in den Orenzmarfen die
„bedeutenditen organilatoriichen Kräfte des Unterrichtsreſſorts abgelenft hat
und dadurch die Sache der Rolfsjchulen in Kernrußland im dieler Zeit
eigentlich nur Schr wenig vorwärts gelommen it," obgleich dem Grafen
fomohl wie jeinen nächiten Rathgebern belannt gemejen wäre, „wie gering
das Budget der großruſſiſchen Bolfsichule ift, wie ungeheuer groß dagegen
der Prozentjat der Analphabeten in den großruffiichen Gouvernements.“
In Sechzehn Jahren jei das Budget des Miniiteriums der Volksaufklärung
unter dem Grafen Deljanow um beinahe 71/, Millionen geitiegen, d. h.
jährlid um meniger als eine halbe Million. Bei einem jo geringen
Budget fonnte für die Volfsichulen Kernrußlands nur wenig geicheben.
— Die „Most. Med." laſſen nicht undeutlich durchbliden, daß fie einen
Bruch mit dem bisherigen Schuligitem befürchten.
R Dem Rektor der Kaiferl. Univerfität Jurjew Budi—
lomwitih wird der St. Annenorden I. Klalie, dem Tireftor
des Libaufhen Gymnaſiums Albert von Wolgemuth der
St. Wladimirorden III. Klaſſe (Balt. Chr. I, 69, 70 u. IL,
24, 25), dem befannten Profeſſor der medizinischen Fakulät
an der Univerſität Jurjew Wafftljem der St. Annenorden
II. Klaſſe verliehen.
a; Die Navigationsichulen des Rigaſchen Lehrbezirks find
mit dem 1. Jan. d. %. dem Reſſort der Volfsaufflärung
entzogen und dem Finanzminiſterium unterjtellt worden (Balt.
Chr. IL, 16 u. 30); man hofft, daß damit ihrem Rückgange
ein Ziel gejegt ift. Im Dandels: und Dianufakturdepartement
wird für dieſe Schulen das Amt zweier Inſpektoren mit
einem Gehalt von 4000 Rbl. und den nöthigen Inſpektions—
reifegeldern errichtet werden.
Iy*
——
1. Jan. Zum Jahresſchluß erinnert die „Balſs“ in einem
längeren Artikel daran, daß mit dem Jahre 1897 hundert
Jahre ſeit dem Erſcheinen der erſten lettiſchen Zeitſchrift
vergangen ſind. Dieſe Zeitſchrift führte den Titel „Latwiſka
gada grahmata” (Lettiſches Jahrbuchj und wurde von dem
Predigtsamtkandidaten Matthias Stobbe, einem Freunde des
Paſtors Stender, des Begründers der lettiichen Litteratur,
herausgegeben. Etobbe war ebenjo wie Stender ein Deuticer.
ä Ueber den von der Aurländiichen Hitterichaft dem Minifter des
Innern vorgejtellten „Entwurf der Grundzüge zu einer Umgejtaltung der
Präjtanden:Berwaltung im furländiichen Gouvernement” (Balt. Chr. IL,
87—M) regiftrirt die „Now. Wr.“ das Gerücht (! der Entwurf iit
bisher nicht publizirt worden): „So viel befannt, iſt das Projeft im
baltiihen Geiſte abgefaßt und joll den Cindrud nicht nur äußeriter
Einjeitigfeit, Sondern auch volllommener Unbrauchbarleit gemacht haben...“
z In Fellin unterblieb die Herrihtung eines Weihnahtsbaumes für
die Gefangenen des Kronsgefängnifies in Folge Verbote aud im Jahre
1897. Tas Berbot jtüht ſich darauf, daß nach dem Geſetz „Belus
ftigungen” (es Handelt fih um eine von einem evangeliſch-lutheriſchen
Geiſtlichen mit Geſang und Gebet geleitete Weihnachtsbaumfeier) innerhalb
der Gefängnißräume ausgeichloffen ſeien. In Riga dagegen wurde für
das Meihnachtsfeit 1897 die Aufhebung des Verbotes erlangt.
" Ter heil. Synod hat von der Epardial:Geiftlichleit Gutachten
eingefordert, welche Mahregeln zu ergreifen find, um möglichit viele
Kinder der Seftirer in die Kirchen-Gemeindeichulen heranzuziehen, da
eine ſolche Mafjregel als das beite Mittel erfannt worden jei, der Aus»
breitung des Sektirerthums entgegenzuwirfen.
m Se. Majeftät der Kaifer geruhte Allerhödhit, am 5.
Dezember 1897 auf den allerunterthänigiten Bericht des
Minifters der Wegefonmunifationen den Herren v. Schubert,
9. v. Wahl und v. Keußler zu geftatten, im Laufe eines
Jahres vom Tage der erfolgten Genehmigung die Linien
der breitipurigen Cijenbahnen: 1) Riga-Bauske-Poneweſh—
Kowno, 2) Poneweih:Wilfomir:Kowno und 3) Poneweſh—
Wilna abjteden zu lajjen.
" Der „Eeiti Roftimees” hebt in jeiner Neujahrsbetradhtung jene
Verfügung des Minijters der Volksaufklärung vom 6. Dez. 1896 (Balt.
Chr. I, 13) hervor, nad; der in den Volksichulen der Dftieegounernements
in den beiden eriten Schuljahren neben der Mutteriprache auch die ruſſiſche
angewandt werden foll und zwar zur allmählichen Vorbereitung der
Schüler für das dritte Schuljahr, in dem alle Fächer — ausgenommen
die Neligion und die Mutteriprahe — ausſchließlich ruſſiſch zu ertheilen
— —
find. Das Blatt meint, aus der Verfügung ginge hervor, wicht die
ruffiihe Sprache ſei während der beiden erjten Schuljahre die Haupt;
unterrichtäipracdhe, jondern die ehſtniſche. „In wie weit man — heißt
es dann weiter — in unjerer Heimath nad) Ddiejer Verfügung gegangen
ift, willen wohl am beiten die Schullehrer; wir haben hierüber feine
näheren Nachrichten erhalten. Zu wünjchen wäre aber, daß Diele Vers
fügung ſorgfältig erfüllt würde, denn daraus fann den Sculfindern
nur Bortheil erwachlen.“
1. Jan. In den Libaufchen Hafen liefen im Jahre 1897 ein:
.« U.
1017 Dampfer und 246 Segler mit 253,834 Laften vom
Auslande und 252 Dampfer und 483 Segler mit 37,794
Laſten als inländiiche Küftenfahrer. Das bedeutet gegen das
Vorjahr einen Nüdgang um 189 Dampfer und 39,509
Laſten aus dem Auslande, um 12 Dampfer, 10 Segler
und 4956 Xajten aus dem Inlande.
In Bernau verbietet der Kreischef M. U. Fadejew
das Blajen eines Chorals vom Kirchthurm in der Sylveſter—
nacht, wie jolches dort früher Braud war.
N Die Zahl der in Riga im Jahre 1897 im Bauamt
eingereihten Geſuche um Bejtätigung der Baupläne beträgt
1695, während im Sahre 1896 1458 eingereidht waren.
— Jurjew (Dorpat) führt die oſteuropäiſche (St. Peters:
burger) Zeit als Normalzeit ein. Weißenſtein hat dies bereits
einige Tage früher gethan. Der Unterjchied zwiſchen der
Jurjewer (Dorpater) Lokalzeit und der oſteuropäiſchen beträgt
14 Minuten.
5. Jan. Fuhrmanns«Droſchlenkutſcher-ſtrike in Riga. Veranlaßt wurde
der Strike durch das vom Polizeimeiſter erlaſſene Verbot vom 1. Jan.
ab ungeſtempelle d. h. von der Polizei ausrangirte Equipagen zu benugen
und durch die gleichfalls vom Polizeimeiſter getroffene Verfügung,
fämmtliche dejjen bedürftige Drojchten bis zum 1. Januar neu ladiren
zu Safjen. Im Folge des ſchneeloſen Winters waren die Fuhrleute
thatjählid; außer Stande geweſen, den polizeilichen Anordnungen an
ihren Sommerfuhrwerfen nadzufommen. Der livländiiche Gouverneur
bezeichnet in einer an den Strabeneden angeichlagenen Berfügung den
Strife als ein „verbredyeriiches Komplott“ und befiehlt den Fuhrleuten
unter Androhung von Strafe bi$ zum 6. Jan., 9 Uhr früh, ihr Gewerbe
wieder aufjunchmen. Die Bekanntmachung theilt jedody zugleich mit,
daß der Gouverneur dem Polizeimeiſter anheimgegeben habe, den von
legterem bereitö bis zum 1. März verlängerten Termin zur Einführung
der polizeilichen Vorſchriften noch weiter bis zum 1. Mai auszubehnen.
Daraufhin beginnen die Zuhrleute am 6. Jan. wieder mit ihren Fahrten.
—- 52 —
6. Jan. Der „Praw. Wejtn.“ publizirt das vom Finanzminiſter
|
“
bejtätigte Neglement für die Erponenten dev rulfiichen Ab—
theilung der Pariſer Weltausftellung des Jahres 1900. Die
ruſſiſche Abtheilung ift einem bejonderen Kommiſſar (Kanzlei
in Petersburg) und deſſen Gehilfen übertragen. Finnland
hat einen eigenen Agenten.
* Die Zeitungen berichten über ein von einer Kommiljion
aus Lehrern der Petersburger Gymnaſien auf Veranlaſſung
des Kurators Kapujtin ausgearbeitetes und im Petersburger
Lehrbezirf verſuchsweiſe angewandtes vereinfadhtes Gymnaſial—
programm. Ein vom Wlinifterium der VBollsaufflärung ein:
gelebte Kommiſſion bereitet gegenwärtig die Einführung
dDiejes Programms in die übrigen Lehrbezirfe vor. Nach
ihm joll der grammatiiche Unterricht in den alten Sprachen
und die allgemeine Geſchichte noch mehr als bisher ein:
geichränft werden.
“ In Mitan tagt eine auf Anordnung des Miniſteriums
des ‚Innern fonjtituirte Kommilfion, die Maßregeln gegen
die Verbreitung der Snphilis vorschlagen joll. Der Kom:
miſſion präfidirt der Wizegouverneur Murawjew, während
zu ihrem Bejtande gehören: Kreismarſchall Baron M. v. d.
Kopp, das bejtändige Mitglied der Behörde für Bauer:
angelegenheiten Baron Meyendorff, die Stadthäupter von
Ditau und Libau, die Aerzte Waſſiljew, Boettcher, Otto,
Schulz und Beljajew und der Gouvernements Medizinal:
injpeftor Woizechowſki. Es wird fejtgejtellt, daß in Kurland
in den legten vier Jahren gegen 5000 Fälle diejer Krankheit
regiftrirt wurden.
— Auf Verfügung des heil. Synods iſt der Gehilfe des
Oberprokureurs des heil. Synods W. K. Sabler „in An—
betracht ſeiner Verdienſte um die Volksbildung“ als Ehren—
Kurator der Kirchen-Gemeindeſchulen und der Leſe- und
Schreibejhulen beftätigt worden.
i; In Jurjew (Dorpat) findet zum erjten Dial die vom
heil. Synod alljährlich für diefen Tag angeordnete griechiſch—
orthodore Kirchenfeier zum Gedächtniß des Presbyters Iſidor
und der anderen 72 Dlärtyrer ftatt (Balt. Chr. 1,70, 71,80,
— 583 —
129). An der Feier, die aus einem Gottesdienſt in der
Uſpenſki-Kathedrale, einer Prozeſſion durch die Hauptſtraßen
der Stadt und einem darauf folgenden Diner beſtand,
nahmen u. U. Theil der Biſchof von Niga und Mitau
Agathangel, der livländ. Gouverneur, Generalmajor W. D.
Sjurowzew, der Korpsfommandeur Generallieutenant L. I.
Adamowitſch, der Profureur des Rigaſchen Bezirksgerichts
Pojarfow und Vertreter der Jurjewſchen Univerfität. Das
Stadthaupt von Jurjew (Dorpat), fein Stellvertreter, der
Stadtjefretär und der Aeltermann Freymuth ſind beim Diner
anweſend.
Der Rektor Budilowiſch erklärt in einer Rede auf dem Diner, daß
der hiſtoriſche Vorgang der gefeierten Heldenthat dunkel ſei; wenn darüber
lofale Aufzeichnungen vorhanden geweſen, jo ſeien fie — zufällig oder
abſichtlich — wie die Gebeine der herrlichen Märtyrer zu Grunde gegangen.
Um jo mehr jei dem Monde des 16. Jahrhunderis zu danken, der Die
Heldenthat überliefert habe. Nach ihm haben im Jahre 1472 73 Anhänger
der griechiſchen Kirche, unter ihnen der Presbyier Iſidor, der zwangs—
weilen Belehrung zur fatholiichen Kirche Durch den Bilchof von Dorpat
den Märtyrertod im Embach vorgezogen. Cine in ruſſiſcher und ehſt—
niiher Sprade in Riga 1892 publizirte Flugſchrift ſchildert den ans
geblihen Vorgang und jagt dann: „So verfuhr man mit ihnen, wie
mit Böjewichten, für ihren orihodoren chriſtlichen Glauben und die
heilige ruſſiſche Kirche; es waren außer dem Yehrer Jjidor 72 Märtyrer,
weldye alle ihre veinen Seelen in Die Hände des lebendigen Gottes
legten und mit unverwelflichen Kränzen gekrönt wurden.“ Weiter heißt
es dann im Bericht: „Unter ihnen wurde auch eine junge Mutter mit
einem dreijährigen Kinde auf dem Arme herbeigeführt. Die ruchloſen
Deutſchen entrijjen ihr das Kind und warfen jie in den Fluß. Als das
Kind die Mutter mit den gejegneten Märtyrern ertränfen ſah, begann «8
in den Armen der Peiniger zu webhllagen, und wie man es aud zu
beruhigen ſuchte, es entriß fid ihren Händen, indem es ihnen die
Gejichter zerfragte. Da warfen es die graujamen Peiniger neben ein
Eisloch und jahen, was aus ihm würde. Tas Kind aber kroch
zum Eisloch, befreuzigte ſich drei Mal und jagte, jich zu dem ums
itehenden Volle wendend: „Auch ich bin ein Chrift, glaube an den Deren
und will ebenjo jterben, wie unjer Lehrer Iſidor und meine Mutter.”
Nachdem es Dies gejagt hatte, jtürgte es fi) unters Eis...“ — „Der
Frühling brach an und der angeichwollene Fluß Omowſha (Embadh) Irat
über jeine Ufer; da erſchienen auch alle Körper der chriſtlichen Bekenner,
drei Werft von der Stadt Jurjew, oberhalb des Fluſſes, unter einem
Baume am Berge, in feiner Weije bejhädigt, als ob jie von Menſchenhand
hingelegt worden wären: jo verherrlichte Gott jeine heiligen Gerechten.
= u
Tann nahmen die orthodoren Gäfte (Kaufleute) der Stadt Nurjew die
Gebeine der Märtyrer und begruben ſie mit allen Ehren in derjelben
Stadt, bei der Kirdye des Wunderthäterd Nifolai, wo fie ruhen werden
bis zur zweiten Wiederkehr Chrifti, wo uns Alle Gott auferjtchen läßt.“
— Yuf dem Diner wurde bejonders der frühere Bilhof von Riga und
Milau Arfieni, jegt Erzbiihof in Kajan, gefeiert, dem die Ginführung der
Feier hauptſächlich zu danken wäre. Generallieutenant Adamowitſch gab der
Ucberzeugung Ausdrud, „daß die Yicbe der orthodoren Kirche die Anders:
gläubigen diejes Gebietes mit der Orthodorie ebenjo vereinen werde, wie
durch Dieje Kraft (die Liebe) auch die gegenwärtigen Erfolge der Urthodorie
in unjerem Gebiet erreicht worden jind.“ Profeſſor Dr. Pujtorufjlew,
Dekan der juriſtiſchen FJafultät, wünjcdte in dem ‚seit die Bedeutung
einer Feier zu Ehren der hohen Ideale der Menſchheit zu erbliden und
feierte alle diejenigen Ruſſen, welche ſich mit Selbitverleugnung in den
Dienſt der Ideale höherer Ordnung jtellen: der Ideale des Glaubens,
der Pilicht, des Guten, der Geredhtigfeit, der Wahrheit; er erhob jein
Glas darauf, „dab es ſolcher Bertreier hoher Ideale bei uns mögligit
viele geben möge.“
8. Jan. Die Stadtverordnetenverjammlung von Hapſal wählt
[4
”
zum Stadthaupt Graf Ewald Ungern-Sternberg-Linden, zum
Vorjigenden der Stadtverordnetenverfanmlung für die im
Art. 120 der Stüdteordnung vorgejehenen Fälle den berjt
N. Sjofolow.
“ Das Miniſterium der Volfsaufflärung hat in letzter
Zeit angefangen, PBerjonen, welde die Realſchulen abjolvirt
haben, zu gejtatten, an klaſſiſchen Oymnafien Ergänzungs:
eramina in den alten Spraden abzulegen behufs Erlangung
des Rechts zum Eintritt in die Univerfitäten. Gegenwärtig
joll beim genannten Dlinijterium eine bejondere Konferenz
zujammentreten, um dieſe Frage geſetzlich zu regeln.
— Das Departement der Volksaufklärung hat allen Volks—
Ihuldireftoren vorgejchrieben, genaue Daten über die Anzahl
der Schulen, die Zahl der Yehrer und den Betrag der Sagen
einzuziehen und dem genannten Departement zuzujenden.
Dieje Maßnahme hängt nad) den „Ruſſk. Wed.“ mit der
geplanten Gründung einer allgemeinen Eremitalkaſſe für
Xehrer und Xehrerinnen der von der Negierung unterhaltenen
oder unterjtügten Volksſchulen zujammen.
= Die Gejellihaft der Süd-Oſtbahnen hat die minijterielle
Erlaubniß zur Errichtung jtädtiiher Stationen in Riga und
— 55 —
Libau erhalten und beabſichtigt demnächſt ihre Operationen
in den genannten Städten aufzunehmen. Dieſe ſtädtiſchen
Stationen werden Frachten empfangen und Diejelben nad)
allen Stationen des ruſſiſchen Eifenbahnnepes befördern,
wenn jie das Nep der Süd-Oſtbahnen zu pailiren haben.
Außerdem wird die Sejellihaft umfangreiche Niederlagen zur
Aufbewahrung von Frachten anlegen, wird Vorſchüſſe auf
Waaren ertheilen, und jede Slarirung, MWeiterbeförderung
von Waaren u. j. w. übernehmen.
8. Jan. In Jurjew (Dorpat) trifft die endgiltige Genehmigung
der Feier des 75-jährigen Jubiläums der „Fraternitas
Rigenſis“ gemäß dem Minifterium der Wolfsaufflärung
vorgejtellten Programm ein. Cs hatte wiederholter Jnter:
vention in Petersburg bedurft, bis es gelang alle Hinderniſſe
zu bejeitigen. Die Genehmigung enthält die Bedingung,
daß die Feier einen internen Charakter trage. In Anlaß
zahlreicher, in dieſer Sache ergangener Anfragen wird die
Redaktion der „Nordlivländ. Ztg.“ erſucht, alle diejenigen,
weldye die Abficht gehabt haben, ihre Häujer zur Feier zu
Ihmüden, auf dieſe Bedingung aufmerffam zu machen und
an jie die Bitte zu richten, von einem jegliden Schmücken
der Hänfer, und ſei es aud nur mit Grünwerk und eins
fahen Guirlanden im Intereſſe des Jubiläums Abjtand zu
nehmen.
— Bon den großen Faſten an werden, wie die „Now.
Wremja“ berichtet, fait in allen orthodoren Kirchſpielen des
baltiihen Gebiets außergottesdienftlidye religiöſe Geſpräche
abgehalten werden.
” Auf Verwendung des Moskauer evangeliich-Lutheriichen
Seneralfonfiftoriums beim Kurator des Moskauer Lehrbezirks
hat Letzterer den Mittelichulen jeines Amtsbezirks die Auf:
forderung zufommen fafjen, lutheriſchen Neligionsunterricht
einzuführen, wo die Zahl der lutheriichen Zöglinge es er:
forderlih macht, und den lutheriſchen Neligionslehrer nad)
Möglichkeit aus den Spezialinitteln der Schule zu gagiren. Cs
ijt leider nichts über die Zahl der Yutheraner in einer Lehr:
anjtalt gejagt, welche zur Einführung des lutheriihen Religions:
10.
11.
— 56 —
unterrichts zwingend wäre, oder aber über den Prozentſatz
der Lutheraner zur Gejammtzahl der Schüler, da nur
hierdurch jubjeftiven Auffaſſungen der betreffenden Lehrer:
fonferenzen, denen eine weitere Belajtung der jogenannten
Spezialmittel im Prinzip niemals genehm ift, vorgebeugt
werden fann. So haben einige Schulen die Einführung
des lutheriichen Religionsunterrichts bei drei bis vier Prozent
Lutheranern als unnöthig abgelehnt.
u In Heljingford it das Konfiitorium Akademikum beim Kanzler
der Univerfität um die Cinrichtung einer neuen Profefjur für ſlaviſche
Philologie vorjtellig geworden. Gegenwärtig ijt die ruſſiſche Sprache und
Litteratur an der Helſingforſer Univerjität durch einen Profejjor und einen
Lektor vertreten.
R Das Finanzminijterium bat die Verfügung getroffen,
daß der Bau für die Kronsbranntweinniederlagen mit dem
fommenden Frühjahr in Liv-, Kur: und Ehftland in Angriff
genommen werde, damit die 16 Bauten zum Termin ber
Einführung des Monopols, den 1. Juli 1900, in allen
Theilen fertiggejtellt jeien.
= In Sachen des Prozejles, den die Herren v. Dettingen
gegen die Univerfität Jurjew wegen der Statue des „Vater
Rhein“ angejtrengt hatten (Balt. Chr. J, 35), ijt vom
Petersburger Gerichtshofe die Enticheidung des Nigalchen
Bezirksgerichts bejtätigt worden.
r Ter Inſpektor an der deutichen St. Petrikirchenſchule zu Petersburg
Eduard von Collins feiert jein vierzigjähriges Jubiläum. Bei diejer
Gelegenheit preift Oberlehrer Ed. Koerber unter dem Beifall der An:
wejenden die Traditionen der ehemaligen Perrijchüler, zu Denen nad
dem zutreffenden Wort eines Aufjen vor allem die „Fosmopolitijche
Geradlinigfeit” (Kkocwonoautuueckas upawoanneinoerh) gehöre,
F In Folge „leichſinniger und ſchädlicher Tendenz“ der Zeitung
„Mirowije Otgoloski,“ welche ſich in einem am 7. Januar c. veröffent⸗—
lichten Artikel manifeſtirt hat, der von Ergänzungs-Bauerland-Antheilen
handelt und in dem der Autor nachzuweiſen ſucht, daß die einzige gerechte
und fundamentale Entſcheidung in der Sache der Bauerorganijation Die
jwangsweije vorjunehmende Erpropriation der Xändereien des Privat:
bejiges jei, um Ddiejelben ergänzend den Bauern zuzutheilen, — wird auf
Befehl des Minijters des Innern der genannten Zeitung, rejp. dem
Herausgeber und Redakteur Konjtantin Trubnikow der erſte Verweis
ertheilt.
— 57 —
11. Jan. In ſeinem Januarheft tritt der „Weſtnik Jewropy“ für ſtudentiſche
Verbindungen an ruſſiſchen Univerſitäten ein. Anerkanntermaßen hätten
dieſe ſehr viele gute Seiten aufzuweiſen und ſeien in Rußland nur
deshalb von ihrer urſprünglichen Aufgabe abgewichen, weil ſie nur im
Geheimen eriitiren fonnten. Wenn man gegen die Yandömannicaften
einwende, daß die Mitglieder durch die Bertrebungen materiellen
Charakters von wijjenichaftlihen Intereſſen abgelenft und anderen,
nicht wünichenswerthen Einflüſſen ausgeſetzt ſeien, jo beruhe dieſer
Einwand auf einem Mißverſtändniß. Gerade dadurd) dab die Glieder
der Landsmannſchaften einen Iheil ihrer Zeit den Intereſſen ihrer Ber:
bindung opfern müjjen, würden jie verjhiedenen „unerwünjdten” Ein:
flüſſen entzogen.
. Die baltiſche orthodore Bratſtwo wählte auf ihrer am
11. Januar abgehaltenen Generalverfammlung den Gouverneur
von Livland, Generalmajor Sſurowzew, und den Bijchof
von Riga und Mitau, Agathangel, zu Ehrenmitgliedern.
. Ueber folgende Maßnahme der Schulobrigfeit berichtet der „Nilhegor.
Liſtok“: Dieſer Tage iſt den Lehrern der Landidaftsicyule im Kirchdorfe
Jurino der mündliche Befehl des Präjes des Schulkonſeils zugegangen,
alle Kinder von Seftirern, welche die kirchlichen Gebräuche nicht verrichten
wollen, aus der Schule auszjujcließen. Dieſer Befehl jol zum großen
Zeidivejen der Mololanen ausgeführt werden, welche jich darüber beflagen,
dab ihnen auf diefe Weile die Elementarbildung nicht zugänglid) jei.
— Im Halliſtſchen Kirchſpiel in Livland wird eine Parochial—
mädchenſchule eröffnet.
” Die Geſellſchaft zur Unterjtügung der ruſſiſchen Induſtrie
und des ruljiihen Handels hat unter dem Vorſitz des Grafen
Ignatjew bejchlojjen, beim Miniſter der Landwirthſchaft
darum zu petitioniren, daß Mahregeln zur Verminderung
der Zahl von ausländischen Technifern und deren Erjeßung
durch ruſſiſche in der metallurgiichen und Gifenindujtrie
getroffen würden.
u [Stadtverordnetenverjammlung zu Niga.] Der
Gouverneur hatte beantragt, beim Stadtkranfenhauje je eine
Abtheilung für Männer und Weiber zu eröffnen, die an
Syphilis und venerijhen Krankheiten leiden, wobei unent:
geltliche Behandlung nicht nur den zur Nigajchen Gemeinde
angejchriebenen Perſonen, jondern aud anderen bejtändigen
Einwohnern der Stadt Niga zu Theil werden jollte, die zur
armen Bevölferungsflajie gehören. Dem Antrag des Stadt:
amts gemäß wird bejchlojien, beim Stadtfranfenhauje eine
— 58 —
Syphilis-Abtheilung für Männer, die zur Rigaſchen Steuer:
gemeinde gehören, einzurichten, dagegen aber den Antrag
auf unentgeltliche Unterbringung der nicht zu Riga gehörigen
Kranfen abzulehnen, da die Stadt geſetzlich dazu nicht ver:
pflichtet jei. Ebenjo wird auf Vorſchlag des Stadtamts
der vom Militärrefiort ausgehende Antrag des Gouverneurs
abgelehnt, den Offizieren des 115. Wjasmaichen Infanterie:
vegiments die Quartiergelder aus Stadtmitteln um 45—50°/o
zu erhöhen, weil die Stadt 1896 bei Bewilligung der
Quartiergelder ausdrüdlich erklärt habe, daß ihr daraus
feinerlei Verpflichtungen über das einmal geſetzte Maß
erwachjen dürften. Nach Anficht des Stadtamtes wäre eben
der von der Krone angewiejene Betrag der Offiziers-
Quartiergelder zu erhöhen, zumal die Stadt ohnehin über
die ihr von der Krone gezahlte Subfidie hinaus aus eigenen
Mitteln gegen 50,000 Rbl. jährlid für die Militäreinquar—
tirung zu leiten habe. — Die Verjammlung verhandelt
weiter über die Vorjchläge der Pferdebahngefellichaft in Riga
wegen Umbaues einiger ihr gehörigen Linien in eleftriiche
und Anlage zweier neuen eleftriichen Linien durd fie. Die
Vorichläge der Gejellihaft werden einjtimmig abgelehnt und
neue Verhandlungen mit ihr bejchlojfen.
12. Jan. Der zur Hilfeleiftung in die von Hungersnoth heimgeſuchten
Kalmüdeniteppe abtommandirte Staatsrath Anjalew iſt am 7. Januar
nad Petersburg zurüdgefehrt. Er vertheilte von 50,000 bewilligten Rbl.
37,000. Der Reſt joll demnädit zur Vertheilung fonmen. Wohl:
thätigkeitsgeſellſchaften und Privatperjonen haben gleichfalls große Summen
geipendet. Trogdem it die Noth jo groß, daß ihr faum mit Dundert:
taujenden abzuhelfen ijt. Ebenjo trübe ijt das Bild in anderen Gegenden
des Innern. Im Drelichen Gouvernement arbeiten die Bauern mit
eigenen Pferd für 20 Kop. Tagelohn, und in zahlreihen Gemeinden
betragen die Abgabenrüditände bis zu 50,000 Rbl.
13. Jan. Anfang Januar gelangte die neue Agende für Die
evangeliich-lutherifchen Gemeinden im ruſſiſchen Neich zur
Verjendung an die einzelnen Gemeinden. Sie wurde am
19. März 1897 vom Miniſter des Innern bejtätigt. Zu
Grunde liegt ihr ein vielfady umgearbeiteter und approbirter
Entwurf eines von der livländ. Synode mit dieſer Arbeit
betrauten Komites aus dem Jahre 1887. Die alte Agende
jtammte aus dem Jahre 1832.
— —
13. Ian. Ueber die Feſtſtellung allgemeiner Regeln für die
Hundeſteuer in den Städten veröffentlicht der „Pram. Weſtn.“
ein Allerhöchſt beftätigtes Neichsrathsgutahten. Die Ein-
führung einer Dundejteuer zum Beſten der Städte hangt
von den Stabtverordnetenverfammlungen ab. Die Jahres:
jteuer pro Hund joll aber ohne bejondere Genehmigung des
Minifters drei Nbl. nicht überfteigen.
Pe Der Gejegesfammlung zufolge, hat der Minijter der
MWegefommunifation am 13. September v. 3. das von ihm
betätigte Neglement über das Flößen des Holzes auf der
MWindau dem Dirigirenden Senat zur Veröffentlihung vor:
geftellt. Bisher fand das Flöffen auf der Windau ohne jede
Kontrole jtatt. Das neue Reglement tritt im Frühjahr a. e.
in Kraft.
— Zum Unterhalt der orthodoxen ſtädtiſchen und Land—
geiftlichfeit find einem Allerhöchſt bejtätigten Reichsraths—
Gutachten vom 17. November v. J. zufolge, in Ergänzung
der bisher alfignirten Summen, vom 11. Januar c. weitere
500,000 Rbl. jährlich aus Staatsmitteln angemwiejen worden.
Ebenfo fommen vom 1. Januar 1898 alljährlid weitere
150,000 Rbl. zum Unterhalt der geijtlichen Lehranftalten
zur Auszahlung.
13.—15. Ian. In Jurjew werden die Sigungen der Kaiſerl.
livländ. ökonomiſchen Sozietät und die Generalverfammlungen
der mit der Sozietät in Verbindung ſtehenden Vereine ab:
gehalten. Die Betheiligung it ſehr zahlreih. Auch die
landwirthichaftlichen Vereine Kurlands und Chjtlands find
vertreten. Außerdem nehmen zwei Gäſte aus Dänemarf,
Hofjägermeifter v. Tesdorpf als Delegirter der königlich
dänischen Gejellihaft für Landwirthichaft und Jujtizrath
Friis, an den Sikungen theil. Der Jahresbericht des
Präfidenten erweilt, daß die Thätigfeit der Sozietät ſich
nad) den mannigfaltigiten Nichtungen erftredt hat, um die
baltiiche Landwirthſchaft in ihrer ſchwierigen Yage zu fördern.
Zu einem Gefuh in Sachen des Branntweinmonopols hat
fih der Finanzminijter ablehnend verhalten, cbenjo konnte
eine Herabjegung des Zolls auf fünjtlihe Düngemittel im
Sinanzminifterium nicht erwirft werden. Dagegen wurde
—60 —
ein von Juriſten und Technikern im Auftrage der Sozietät
ausgearbeitetes Gutachten zu dem Entwurf eines im Ackerbau—
Minifterium fertiggeftellten Waſſergeſetzes von diefem Mini:
fterium mit Mohlwollen aufgenommen. Die frage ber
Aderbauichulen hat die Eozietät lebhaft in Anipruch ge-
nommen. Bei Prüfung der Normalitatuten hat fie fih nur
für Schulen niederiten Grades enticheiden fönnen, die den
Kleingrundbefiger jeiner Scholle nicht entfremden. Cs handelt
fih jetzt um die Beichaffung der erforderlichen Mittel und
die Erlangung eines günftigen Neglements. — Die Bildung
von Genoſſenſchaften wird dadurch weſentlich erichwert, daß
die Normaljtatuten nur eine jehr beichränfte Haftpflicht zu—
laſſen. — Das im legten Jahr ins Leben gerufene fultur-
technische Bureau und die damit verbundene Verjuchsitation
haben bereits gute Dienjte geleiltet.
14. Ian. Das kurländiſche Getreide (Balt. Chr. IL, 34 u. 35)
iſt in den rigischen Blättern fortgeſetzt der Gegenitand einer
Polemik zwiichen kuriſchen Yandwirthen und rigiichen Kauf—
leuten. Auf einem Disfutirabend des Nig. Kaufmänniſchen
Vereins, an dem auch einige furiihe Landwirthe theilnehmen,
wird aufs neue fonitatirt, dab die Hauptichuld an der
Ichlechteren Qualität des auf den Markt gebrachten fur-
ländischen Getreides die Zwiſchenhändler hätten, die gute
MWaare mit schlechter vermiichen. Uneinig bleibt man
darüber, wie der Kalamität abzuhelfen fei. Die Landmwirthe
verlangen, dab die Rigaſche Börfenfaufmannicdhaft durch
Verweigerung der Annahme minderwerthigen Getreides den
Manipulationen dev Zwiſchenhändler ein Ende mache, die
Kaufleute führen aus, daß Verſuche ehrenwerther Firmen
in den jtebziger Jahren durch entlandte Kommiſſionäre fur:
ländiiches Getreide direft zu beziehen in Folge der Konkurrenz
der Zwiſchenhändler mißglückt feien, daß cs Somit Sache
der Yandwirthe ſei, die Zwiſchenhändler fernzuhalten, indem
fie fi) zu einer Genoſſenſchaft zufammenthun und für eigene
Lagerräume in den Bafenftädten ſorgen oder ganze Silos
des Clevators miethen.
ps Das MVeterinär-Inftitut in Jurjew (Dorpat) begeht
jein fünfzigjähriges Jubiläum. Die Anftalt verdankt ihre
ne —
Bedeutung und ihren hervorragenden Ruf im Neich dem
Umjtande, daß fie unter dem wiſſenſchaftlichen Einfluß der alten
Dorpater Univerfität jtand. Sie wurde in der Zeit ihres
Beitehens von 1330 Studirende bejucht, von denen 664 den
Kurfus beendigten. Das TDorpater Veterinär-Inſtitut war
das erjte und lange Zeit das einzige im Reich. In den
achtziger Jahren wurde es ruflifizirt. Gegenwärtig zählt
das Inſtitut 260 Etudirende — darunter 169 griechiſch—
orthodore, 57 römisch-fatholiihe und nur 29 evangeliichen
Bekenntniſſes, während der Reſt auf andere Konfeljionen
kommt. Don 80 im Laufe des Jahres 1897 Cintretenden
famen 19 aus griechiich:orthodoren Priefterfeminaren.
14. Yan. Mittels Allerhöchiten Befehls im Reſſort des Juſtiz—
minifteriums vom 9. Januar ijt der Profureursgehilfe des
Rigaſchen Bezirfsgerihts Kollegienralh Moſhewitinow zum
Vorſitzenden des Friedensrichter-Plenums des Oeſelſchen
Bezirks ernannt.
a Hinfichtlih des Zolles auf Edhiffe, die im Auslande
erworben werden, hat die beim Finanzminiſterium nieder:
geiegte Spezialfommilfion im Prinzip dahin entichieden, dab
zwiſchen Schiffen der inneren und ausländiichen Fahrt jtreng
zu untericheiden ſei, wobei vorgeſchlagen wird, Ceeichifte,
d. h. alio für Auslandfahrten bejtimmte, gänzlich” von der
Zollerlegung zu befreien, nicht aber die Fahrzeuge, die für
die inneren Flüſſe, Seen und Deere bejtimmt find. Schiwierig-
feiten verurfadht nur der Ladoga-See, deſſen weitliches Ufer
zu Finnland gehört, wo ein Zoll auf Schiffe fait garnicht
erijtirt und die Konkurrenz der Finnländer ſich bejonders
fühlbar macht.
£ In Libau wird eine Gefellichaft zur Verbreitung und
Einfuhr holländiicher Viehracen in Rußland gegründet. Die
Statuten derjelben jind vom Minijter der Landwirthſchaft,
nad; Uebereinkunft mit dem Miniſter des Innern, am 17.
Dezember v. J. bejtätigt. Die Gelellihaft hat ſich zum
Ziele geſetzt: 1) die örtliche Viehzucht durd Import und
Vermehrung holländiiher und oitfriefiiher Wiehracen zu
fördern; 2) ihren Mitgliedern den An: und Verkauf von
Nacevieh zu erleihtern und 3) die Verbreitung holländiſcher
und oitfriefiiher Viehracen durch Veranitaltung von Aus—
ftellungen, Gründung von Farmen, Erpertije der Mtolferei-
produfte und Führung von Stammbücdern nad) Möglichkeit
zu befördern. Gründer der Geſellſchaft find: der furländiiche
Landesbevollmäcdhtigte Graf Keylerling, Graf Pahlen-Groß
Aug, Graf Medem-Stockmannshof, Baron Medem-Berghof
und Baron Bahn-Finden.
14. 5 In der „Livl. Gouv.Ztg.“ wird ein vom livländiichen
Gouverneur erlaflenes neues „Ortsjtatut über das öffentliche
Fuhrweſen in Riga“ publizirt, das mit dem 14. Febr. a. c.
in Kraft treten ſoll.
15. Jan. Die Zeichen: und Malichule des Fräul. E. v. Jung-Stilling begeht
den 25. Gedenktag ihres Beltchens.
15. Jan. Die „Rig. Stadtblätter” veröffentlihen den Jahres:
bericht über die Hauptkaſſe der Litterärifch-praktiichen Bürger:
verbindung für die Zeit vom 1. Dez. 1896 bis 1. Dez. 1897.
Es wurden im Necdnungsjahre 15,060 Rbl. 3 Hop. ver:
einnahmt und 14,166 Nbl. 14 Kop. verausgabt; ſomit betrug
der Ueberihuß der Einnahmen 893 Rbl. 89 Hop. Das
Kapital der Verbindung bezifferte fi zum 1. Dez. 1897
auf 112,302 Nbl. 35 Kop.; hierzu fommen nod) die Kapi-
talien, deren Jinsertrag der Verbindung zufteht, im Betrage
von 34,207 Rbl. 86 Kop. Unabhängig von diejen Kapitalien
werden in der Hauptkaſſe Ziwedlapitalien verwaltet, die zu:
fammen 247,392 Rbl. 30 Kop. betragen.
16. Jan. — 13. Febr. Bericht des Nigiichen Stadtpropjtes über
den Zujtand der evangeliſch-lutheriſchen Gemeinden und Kirchen
Kigas für die Zeit vom 1. Oft. 1896 bis 30. Sept. 1897.
Das Schnelle äußere Wachsthum der Gemeinden erweilt fich
aus der Zunahme der Täuflinge (5071 gegen 4679 im
Jahre vorher). Für das lebendige kirchliche Bewußtſein
Iprechen die jteigende Kommunifantenziffer (2500 Theilnehmer
mehr als im Vorjahr), der befriedigende Kirchenbeſuch und
das gute Kejultat der Firchlichen Kolleften und Beifteuern
zu Kirchenzweden. Schr zu denfen giebt, was der Bericht
über den Konfirmandenunterricht mittheilt. Die Kollifion
mit dem Schulunterricht macht ſich jehr empfindlid) bemerkbar.
Auch bei den Schülern aus den bejjeren Klaſſen trat vielfach
—
überraſchende Unkenntniß zu Tage. Noch beſorgnißerregender
wäre dieſe bei den Kindern aus den unteren Schichten der
Bevölkerung, namentlich lettiſcher Gemeinden. Der Grund
ſei in dem Umſtande zu ſuchen, daß dieſelben häufig garfeine
Schule beſucht hatten. Die Kirchenichulen jeien überfüllt,
die übrigen Schulen für viele zu theuer. Es drohe ein
Proletariat heranzuwachſen, das den heilfamen Einfluß der
Schulzucht und die fittlich-religiöfe Einwirkung des Religions:
unterrichts nie erfahren habe. Manche entzögen ſich überhaupt
dem Konfirmandenunterriht, um dann zu anderen Kirchen
überzutreten, wo auf religiöfe Kenntniſſe feine Anjprüche
gemacht werden, oder als halbe Heiden dahinzuleben. Din:
fichtlich der projeftirten Kirchen: und Paſtoratsbauten Fonjtatirt
der Bericht, daß man den in Ausficht genommenen Zielen
erfreulich näher gerüdt ſei. Miſchehen mit Katholiken wurden
69 (gegen 87 im Vorjahr), dagegen mit griediidj:orthodoren
137 (gegen 121 im Vorjahr) geſchloſſen. Aus Miſchehen
mit Orthodoren wurden nur noch 16 Kinder evangelifch-
lutheriſch getauft.
16. Jan. Das in Tiflis in armeniſcher Sprade erjcheinende
Blatt „Ardſagank“ ijt jeiner Schädlichen Richtung wegen vom
Zivil-Landeschef auf acht Monate juspendirt worden.
16. Ian. jtirbt der Profeſſor für Arzneimittellehre und der Leiter
des pharmafologiichen Inſtituts an der Univerfität zu Heidel—
berg Dr. Woldemar v. Schroeder. Er war ein Sohn des
Dorpater Gymnafialdireftors Julius v. Schroeder und hatte
in Dorpat Anfangs Medizin, dann Chemie jtudirt und hier
den Kandidatengrad und ſpäter in Leipzig den Doktortitel
erworben. Die „Münchener Allg. Ztg.” ehrt den Verjtorbenen
durch einen ausführliden Nachruf in ihrer wiljenichaftlichen
Beilage.
18. Jan. jtirbt in Dago-Kertell Robert Baron Ungern-Sternberg,
der Begründer und Direftor der Dago-Kertellſchen Tuchfabrif.
Diefe Fabrik ift eine der ältejten der baltischen Provinzen.
Sie zeihnet ſich nicht nur durd ihre trefflihen Fabrikate
aus, Jondern auch dadurd), daß fie für die Bedürfnifie ihrer
Arbeiter in der umfaſſendſten Weile Sorge trägt. Baron
Ungern:Sternberg hat fie jechzig Jahre hindurd) geleien
— —
18. Jan. Der Miniſter des Innern verfügt auf Grund des Zenſur-Preßgeſetzes,
der Zeitung „Sibir* in der Perjon ihres Herausgeberd und Redakteurs
Kollegien⸗Aſſeſſors Konſtantin Michailom die dritte Verwarnung zu ertheilen
und auf fie die Anmerkung zum Art. 144 des genannten Geſetzes anzu—
menden.
» Desgleihen verfügte der Miniiter des Innern auf Grund dejielben
Gefehes, dem „Graſhdanin“ den Drud privater Annoncen zu verbieten.
18. Ian. Die „Zirfuläre für den Rigaer Lehrbezirk“ (Nr. 11 v.
1. Nov. 1897) veröffentlichen eine Allerhöchite Enticheidung,
durch welche die Unterlegung des Minijters der Wolfe:
aufflärung vom 18. September 1897 bejtätigt und der Ver:
mwaltungsrath des polytechniichen Inſtituts zu Riga beauftragt
wird, neue Gebäude für die chemiſchen und phyſikaliſchen
Laboratorien, für Auditorien und Zeichenfäle zu errichten.
Die für die Neubauten erforderlidien Geldmittel find dem
am 8. Auguſt 1897 auf Allerhöchſten Befehl angemwiejenen
Kredit im Betrage von 200,000 Rbl. zu entnehmen. Weiter
werden mehrere minijterielle Verfügungen über die Einführung
von Lehrſtunden der deutichen Sprache in Stadtichulen publizirt.
Wie in den bisherigen Füllen, wo die minifterielle Geneh—
migung zur Cinführung deutfcher Stunden in einzelnen
Schulen ertheilt wurde, bildet die deutiche Sprache nur einen
fafultativen Unterrichtsgegenjtand. Der deutihe Sprad-
unterricht ift in der nicht durch den Stundenplan in Aniprud
genommenen Zeit zu ertheilen und die Schüler, die fich be
theiligen wollen, haben eine Ertrazahlung von 2 Rbt. jährlich
zu entrichten. Der Unterricht, der in zwei Stunden wöchentlich
ertheilt wird, darf erit beginnen in der II. Klaſſe, in der
Mejenbergihen Stadtichule erit in der älteren Abtheilung
der II. Klaſſe. Die vorliegenden Verfügungen beziehen fich
auf die Peter: Bauls-Schule in Riga und die MWejenbergiche
und Haſenpothſche Stadtichule. Ueber die Abhaltung der
Morgenandachten für römiſch fatholiihe Schüler in lateinischer
Sprache auf Grund des Allerhöchiten Befehls vom 25. Juni
1897 mwird eine minilterielle Verfügung v. 18. Oft. 1897
publizirt, die im Anſchluß den vom Erzbiſchof von Mohilew
feitgelegten Wortlaut des Gebetes in lateiniiher Sprade
befannt giebt.
— —
20. Jan. Der „Praw. Weſtn.“ bringt einen längeren Artikel
über „das fiskaliſche Branntwein-Monopol,“ in dem dargelegt
wird, von welchen Grundſätzen die Regierung ſich bei Ein—
führung deſſelben habe leiten laſſen. Das Finanzminiſterium
ſei zu der Anſicht gelangt, daß das i. J. 1863 eingeführte
Akziſeſyſtem mit ſeinem Prinzip des freien Spirituoſendetail—
bandels Moral und Gejundheit des Volkes ſchädige; außerdem
hätte bei dieſem Syitem die von dem Fisfus aus Der
Branntwein:Afziie bezogene Cinnahme bei weitem nicht den
Ausgaben der Bevölkerung für den Branntwein entiproden,
wenn man die hohen Preiſe im Detailhandel, den dem Volke
theuer zu jtehen fommenden Branntweinfredit, ſowie den
Ihädlihen Einfluß der Trunffuht auf die Wolfswirthichaft
in Betracht zöge. Aus Dielen Gründen habe das Finanz—
minijterium die Einführung des fisfalifchen Branntweinverfaufs
für geboten eradtet. Da dem Fisfus aber die Errichtung
von Etablijjements mit Verfauf zum Trinfen am Orte, in
denen den Bejuchern Speilen, ein Unterfommen für Reilende
und Futter für die Pferde geboten wird, zu große Schwierig-
feiten bereitet hätte und andererjeits ſolche Etablifjements
nicht zu entbehren find, beſchloß das Finanzminijterium den
Verkauf zum Trinken an Ort und Stelle unter gewiſſen
Bedingungen Privatperfonen zu überlaflen, den Verfauf der
Spirituojen zum Forttragen dagegen allein dem Fiskus
vorzubehalten. Der Branntweinbrand bleibt vollitändig den
Händen privater Perfonen überlailen, der ganze von den
Brennern erzeugte Spiritus aber, falls er nicht über Die
Grenzen des fisfaliichen Monopol:Rayons ausgeführt wird,
muß dem Fiskus zu einem vorher bejtimmten ‘Preile oder
auf dem Wege des Ausgebots überliefert werden.
” Nah den von der jtatijtiichen Abtheilung des Zoll
Departements über Rußlands auswärtigen Handel im Jahre
1897 gezogenen Totalfummen erreichte der ruſſiſche Erport
die Werthziffer von 745,205 Mill. Rbl. gegen 688,185 Mill.
Rbl. im Jahre 1896 und 689,1. Mill. Rbl. im Jahre
1895, demnach hat ſich der Erport bei Vergleichung mit
dem Jahre 1896 um 56,12 Mill. Rbl. oder 8,20 und bei
Vergleichung mit dem Jahre 1895 um 56,183 ——
oder 8,1 °/o geiteigert. Der Import des Jahres 1897 befief
ih auf 572,102 Mill. Rbl. gegen 589,210 Mill. Rbl. im
Jahre 1896 und 537,108 Mill. Nbl. im Jahre 1895. Der
Import des Jahres 1897 iſt gegen 1896 um 16,0: Mill.
Rbl. oder 2,5 "/o zurüdgegangen, während er gegen 1895
um 35,03 Mill. Rbl. oder 6,5 %/o gewachſen ift. Beim Ziehen
der Bilanz; pro 1897 ergiebt jich, daß der Erport den Import
um 172,23 Mill. Rbl. übertroffen hat. Im Jahre 1896
überjtieg dev Erport den Import nur um 99,145 Mil. Rbl.
und im Jahre 1895 um 151,orı Mill. Rbl. — Aus der
Hanbelsbilanz eines Landes darf durdaus nicht ohne weiteres
auf den öfonomijchen Zujtand des Landes geichloffen werden.
Ein folder Rüdihluß ift nur dann zulällig, wenn man die
Art der ein: und ausgehenden Güter genau berüdfichtigen
fann. Gerade die reichiten Staaten Europas — England,
Deutihland, Frankreich — haben jchon lange paflive Handels-
bilanzen.
21. Ian. Generallieutenant Sſacharow, Stabschef des Odeſſaer
Militärbezirfs ift zum Chef des Generaljtabs ernannt worden.
„ Wie die Refidenzblätter wieder einmal wiſſen wollen,
wird der Entwurf zur Einführung der Zandichaftsinititutionen
in den Oſtſeeprovinzen vom Minifterium des Innern in
diefem Frühjahr ausgearbeitet werden, jo daß er im Herbſt
an den Reichsrath gelangen Fönnte.
” Rufftiche Sprachkurſe werden, wie die „Nowoſti“ melden, in diefem
Sommer in Finnland an verichiedenen Orten für die Volksſchullehrer
abgehalten werden.
„ Am 28. Dezember v. %. wurde in der Korreftions-
Kolonie für minderjährige Verbreder in Nodenpois bei Riga
eine aus Privatipenden erbaute Kirche des heil. Wunder:
thäters Nifolai vom Bilchof Agathangel von Riga und Mitau
eingeweiht.
„ In der Petersburger Duma macht der Stabtverorbnete Krüger eine
Eingabe wegen eines unter dem Titel „Quousque tandem, o Catilina!,
im „Graihdanin“ erichienenen Artifels, in dem die Kommunalverwaltung
der eriten Reſidenz- und SDauptitadt ganz unverhohlen des Diebitahls
geziehen wird. Krüger beantragt gerichtliche Verfolgung des „Graſhdanin“.
Der Stadtverordnnete Kedrin führt aus, daß die Angriffe ihrer Form wegen
allerdings nicht zu vertheidigen jcien, ibrem Inhalt nadı aber viel Richtige,
enthielten. Wit allen gegen drei Stimmen beihloß die Duma, die Ein:
Pa, 0
gabe Krügers ohne Folgen zu laſſen, da jie über ſolche Vorwürfe
erhaben jei. „Politiſch, meint die „St. Petersburger Ztg.“, mag dieſe
Handlungsweiſe jein, von Korpägeiit und fommunalem Stolz zeigt fie
nicht.“
21. Jan. Nach einem Bericht des Kalugaſchen Gouvernements-Landſchaftsamt
an die Gouvernementslandihaftsverfammlung erijtiren gegenwärtig im
Kalugaihen Gouvernement 697 Schulen, und zwar 13 minijterielle,
414 Landſchafts-, 265 Kirdhengemeinde-Schulen und 5 Privatidulen.
Eine Schule emtfält auf 28, Quadratwerſt bevölferten Flächen—
raumes, auf 5, Drtichaften und auf 1585 Bewohner beiderlei
Geſchlechts. Die Zahl der Kinder im fchulpflichtigen Alter beläuft
jih auf 41,142 Knaben und 48,617 Mädden. Bon 571 Scdulen,
über melde Daten vorliegen, jind 366 überfüllt, in 78 iſt die
Normalzahl erreiht und 127 Schulen find ſchwach beſucht. Nach
Erachten des Gouornements:Landicdaftsamtes liege ein dringendes Be:
dürfniß vor, noch 219 neue Schulen zu eröffnen, worauf im Gou—
vernement eine Scuie auf 1102 Bewohner beiderlei Geſchlechts und auf
20 Quadratiwerjt entfallen würde. Ferner weilt dad Landſchaftsamt auf
zwei jehr fühlbare Mebeljtände im Schulweſen des Gouvernements hin,
die der Abſtellung dringend bedürfen, nämlich auf den unbefriedigenden
Zujtand der Schulgebäude und auf das niedrige Bildungsniveau der
Lehrenden. Bergleid;e mit den Ojtjeeprovinzen, wo auf ca. 500 Seelen
eine Elementarichule fällt, jind injtruftiv.
— Anfang des Jahres wird in polniſcher Sprache der Proſpekt eines
demnächſt ericheinenden evangeliihen Kirchenblattes „Zwiajtun ewangelicany“
(Evangeliicher Bote) veröffentliht. Schon vor Jahren wurde ein joldes
von Baitor Otto herausgegeben, hörte dann aber mit jeinem Tode zu
erjcheinen auf. Nach fünfzehnjähriger Unterbrediung erfolgt jegt unter
der Redaktion des Paitors Julius Burjche Die Fortſetzung. Begründet
wird im Brojpeft das Bedürfniß nach einem evangeliichen Kirdyenblatt
in polnilcher Sprache durd den Hinweis, wie auffallend ſchnell die deutſch—
evangeliichen Familienkreife im Königreich Polen, und bejonders in
Warſchau, ihre angejtammte Spracde und Eigenart abjtreifen und ji
für echte Polen ausgeben, oder vielmehr re vera im echte Polen ſich
verwandeln, viel jchneller und allgemeiner, als Ihresgleichen in anderen
fremden Ländern deren Sprache und Sitten ſich anzueignen pflegen.
„Die Kinder jolher Eltern,“ heißt es im Projpeft, „die deutſch reden
halten oftmals dieje Sprache nicht mehr für die ihrige, jondern fühlen
ſich eins mit unjerem Lande und denfen und reden polniſch.“
21. Jan. Der befannte Profejjor Jlowaijfi veröifentlicht in jeinem in Moskau
21.
ericheinenden Blatt „Kreml“ eine Träumerei über den großen „Zufunfis:
krieg“ zwiſchen Rußland und Oefterreich Deutichland, in der er jeinem
Hab gegen alles Germanenthum unzmweideutigiten Ausdrud verleiht.
„Die ſtädtiſche Jmmobilienjteuer pro 1898 ijt nad) einem
im „Bram. Weſtn.“ veröffentlichten, Allerhöchit bejtätigten
— 66—
Reichsrathsgutachten auf die baltiſchen Provinzen wie folgt
vertheilt: Yivland partizipirt mit 328,000 Nbl., Kurland
mit 94,000 Rbl., Ehſtland mit 63,000 Rbl. In der Reihe
der die höchſte Immobilienjteuer leiftenden Gouvernements
nimmt Livland die fünfte Stelle ein. Außer den beiden
Rejtdenzgouvernements geben ihm nur noch das Cherſſonſche
Souvernement (Odeſſa) mit 650,000 Rbl. und das Kiewiche
mit 367,000 Rbl. voraus, Für das ganze Neich beträgt Die
ſtädtiſche Immobilienſteuer pro 1898 — 8,444,000 Rbl.
21. Jan. Der Sinanzminijter giebt durd den Dirigirenden Senat
21.
befannt, daß bei Zollzahlungen ein Eilberrubel (aud) in
Kreditbilleten oder Scheidemünze) gleich 66°; Kop. Gold gilt.
„ Zum “Bolizeimeifter von Libau it der ältere Gehilfe
des Wolmarjchen Streischefs, Hofrat Eugen von Nadedi,
ernannt worden.
" Die afademiihe Studentenverbindung „Fraternitas
Rigenſis“ begeht zu Jurjew (Dorpat) ihr fünfundjiebzigjähriges
Jubiläum. Die Theilnahme an diefem Felt iſt eine ſehr
große. Das bezeugen die überaus zahlreihen Sympathie—
fundgebungen, die der Nubilarin aus Niga, den Lftjees
provinzen, dem Neicdhsinnern und dem Nuslande zugehen.
Die Felttheilnehmer erneuern das Gelöbniß, getreu Den
alten Traditionen der „Fraternitas,“ auch in Zufunft allzeit
feitzuhalten an den geiftigen und jittlihen Gütern der
Heimath. In einem Telegramm bitten fie den Mlinifter
des Innern, Seiner Majejtät dem Kaiſer den Ausdrud ihrer
unbegrenzten Treue und Grgebenheit zu Füßen legen zu
wollen. Ein Telegramm gleihen Inhalts wird von den an
dem Feſte theilnehmenden Tamen Rigas an Ihre Majeſtät
die Kaiſerin entjandt.
„ In vielen Däufern Rigas find zu Ehren des Jubiläums
der „Fraternitas“ die Fenjter illuminirt. Auf Befehl des
rigaichen Polizeimeijters jchreiten die Polizeihargen ein und
fordern Mbjtellung der llumination. inige Bewohner
weigern jich, dies zu thun, weil die Polizei zu ſolch einem
Verlangen nicht berechtigt wäre, und ihre Wohnungen bleiben
troß des Einſpruchs beleuchtet.
u ——
22. Jan. In einem Tagesbefehl macht der Bolizeimeijter Nigas
nadhträglidy die Priſtawe darauf aufmerfiam, daß fie am
21. Jan. „in jedem Fall verpflichtet waren, in ihren Bezirfen
Maßnahmen zur Einitellung der Jllumination zu ergreifen
und den Einwohnern deren unrichtige Dandlungsweile aus:
einanderzujegen.“ Der Bolizeimeijter jchreibt vor, letzteres
auch am 22. Jan. genau zu erfüllen. Von einer Anfangs
in Ausjicht genommenen gerichtlichen Belangung der Nenitenten
wird Abjtand genommen, da fi die Berechtigung der Polizei
zum Einjchreiten nachträglich als höchſt zweifelhaft erweiſt.
= Die Statuten der livländiichen Gejellichaft zur Unter:
weijung und Ausbildung taubjtummer Kinder der evangelilch-
lutherifchen Kirchipiele Yivlands find, wie der „Praw. Wejtn.“
befannt giebt, am 19. Dezember v. %. vom Miniſter des
Innern bejtätigt worden.
" An diefem Tage jtellen fih die Beamten ſämmtlicher
Reijoris dem neuen Generalgouverneur von Wilna, Kowno
und Grodno und Kommandirenden der Truppen des Wilnajchen
Militärbezirks, Generaladjutanten W. N. Trozfi vor. Die
nichtorthodore Geijtlichkeit apojtrophirt Trozfi mit folgenden
Worten: „Denken Sie daran, daß wir einen Gott haben,
zu dem wir beten, einen Haren, dem wir Dienen, ein
gemeinjames Vaterland, für deiien Wohl wir Alle arbeiten.
Haben Sie, meine Herren, den Zinn dejjen, was id) Ihnen
jagte, verjtanden?“ Nachdem er eine zujtimmende Antwort
erhalten, fuhr der Generalgouverneur fort: — „Jetzt habe
id eine Bitte an Sie: beten Sie für mid) zu Gott, dab er
mir Kraft und Verftand verleihe, um das Vertrauen unjeres
Kaijers zu rechtfertigen, mit Seftigfeit Seine guten Weiſungen
zu verwirfliden und mit Nutzen für das Wohl unjeres
gemeinjamen iheuren Vaterlandes zu wirken.“ Zu jämmtlichen
zur Vorjtellung erjchienenen Beamten gewandt, jagte der
Seneralgouverneur: „Alles Ehrliche, Gute, aufrihtig Wahre
und wahrhaft Ruſſiſche wird in mir Sympathie, Unterjtügung,
Rüdhalt, Vertheidigung und Schutz finden. Es verjteht ſich
von jelbjt, daß das Gegentheil die entgegengejegte Handlungs-
weije herausfordern wird. Sch danfe Ihnen, meine Herren,
für die Begrüßung; ich wünjche Ihnen Gejundheit und Kraft
— 70 —
zu einer nützlichen Thätigkeit für das Wohl unſeres theuren
Vaterlandes. Bei der weiteren gemeinſamen Arbeit werden
wir uns näher fennen lernen; bis dahin — auf Wiederjehn!“
Ron Dielen Worten des neuen Generalgouverneurd meint der offiziöle
„Wilenifi Weſtnik,“ jie müßten dem rufftichen Arbeiter Muth einflößen, ihm
eine klare, beitimmte Anſicht von den Tingen geben und ihn vor Trägbeit
und Unichlüfligfeit bewahren, die oft durd die Furcht hervorgerufen
worden jeien, ein Opfer der Intrigue und verleumderiicher und meiſtens
anonymer Denunziationen zu werden, wie joldye eine nicht jeltene Erſcheinung
in der Gejellihaft wären. Die „Now. Wr.” begrüßt die Rede des General:
gouverneurd im Namen der patriotiichen ruſſiſchen Gejellichaft auf das
freudigite und giebt aud) die Anjprache des Erzbiſchofs Jeronim von Wilna
an den Generalgouverneur und defien Antwort nad den „Yitow. Epard).
Wedom.“ wieder. In diefer erzbiichöflichen Anſprache wird der
Zuverfiht Ausdrud gegeben, daß die griechiich-orthodore Kirche
in „dieſem altrulfiihen griechiidy-orthodoren Gebiet“ in der
Perſon Trozfi’s einen zuverläſſigen Beſchützer ihrer heiligen
Intereſſen finden werde, einen Förderer aud) der griechijch-
orthodoren Kirchenſchulen des Gebiets, in welchen „alle, ohne
Unterschied des Glaubens und der Nationalität, in brüderlicher
Liebe und im Geiſt der driftlichen Lehre“ vereinigt werden
fönnten. In feiner Antwort betont Trozfi, daß das Ziel
feiner Thätigfeit als Chef „diejes altruffiichen, von jeher
griechiſch orlhodoren Gebiets” die vollfommene Löſung der
Aufgaben fei, die ihm durd das hohe Vertrauen des Kaijers
und durch die Hoffnungen und Sympathien der Ruſſen geitellt
wären. Zu der Antrittsrede Trozki's jchreibt der „Swet“: „Durch dieje
Rede ijt der Nebel, der dur eine \ntrique über unfere inneren Staats:
angelegenheiten gebreitet worden war, endlich zeritreut worden. Die Ber:
leumder waren bereit nahe daran, ein gejondertes Königthum Polen zu
bilden und das Weichielgebiet von Rußland zu trennen; die Feinde
Rußlands verbreiteten unmahricheinliche Erfindungen über den Triumph
des römiſchen Katholizismus und über das heimliche Katholiichiverden
mächtiger Perſonen; die Feinde Rußlands ſprachen lärmend von neuen
Richtungen, bei denen das ruſſiſche Neich bereits nicht mehr ruſſiſch jein
werde! .„..? Slleine Neuerungen, die augeniceinlich keinerlei Rolle jpielen
follten und jpielen fonnten, wurden für Borboten eincs kommenden
radifalen Umichwunges ausgegeben... So redt daran glauben fonnte
man allerding$ nicht, aber Alle waren erregt: jest iſt dieſe ganze trügerijche
sinjterniß wie ein Hauch zergangen. Ein Yichtitrahl, und die Finſterniß
Ihwand. In der Form ift die Rede N. W. Trozki's recht ungewöhnlid.
Sie iſt ganz eigenartig und läßt den Charakter des neuen Regenten
— yes
erkennen. Ihrem Lakonismus fommt nur ihre machtvolle Logik gleich.
Daher ihre Kraft und Bedeutung. Wir aber müflen uns über das
Ereigniß doppelt freuen. Die Klärung ijt nicht nur in Wilna, jondern
in der ganzen weitlihen Grenzmark vor ich gegangen. Die Ernennung
M. J. Dragomirow's, dieſes durd Geiſt, Talente, dienitliche Verdienite,
Scharfjinn und richtige Anichauungen über Rußlands hiſtoriſche Aufgaben
befannten Mannes, zum Generalgouverneur von Kiew hat auch dieſe
Örenzmarf vom Albdrud befreit. Allen ift es befannt, daß General
Dragomirow und General Trozfi eines Sinnes find. Das jtaatliche
Programm iſt einheitlich, und was am Njemen und am Dujepr geichieht,
das geichieht augenicheinlich auch an der Weichiel oder muß dort geichehen.
Bei der Auffafjung des jtaatlichen Programmes und der jtaatlihen Auf;
gaben an der Weichiel fonnten bis jegt Mikverftändnifie, und zwar nur
zeitweilige, vorfommen, neue Abjichten fonnten aber nicht vorhanden jein.“
24. Jan. Das Warlchauer geiſtliche Blatt „Przegloud Katolicki“ bringt einen
24.
Artifel „Tas Lahr 1897 im Leben der Satholifen unter ruſſiſchem
Szepter,“ in dem nochmals die Allerhöchiten Gnadenerweiſe, die den
Katholiken im Jahre 1897 zu Theil wurden, aufgezählt werden. Das
Blatt nennt: Tie Erlaubnig zur Rejtaurirung alter Heiligthümer und
zur Errichtung neuer; die Erlaubniß, das Schulgebet in der Mutterſprache
der Schüler abzuhalten, die nichtorthodoren Schülern ertheilte Erlaubnis,
vom orthodoren Gottesdienit an den hohen Feiertagen fernbleiben zu
dürfen, die Erlaubnii zur Eröffnung des geiitlihen Seminars in Kielce
und die Beſetzung der Bisthümer. „Alles das — jagt das Blatt —
verpflichtet und ſowohl als Geijtliche, wie ald Bewohner des Yandes,
Laßt uns durch unjer Betragen beweijen, daß die Anfläger, welche den
fatholiichen Klerus als ein unruhiges und aufrühreriſches Element bins
itellen, ji irren oder faliches Zeugniß reden. Der fatholiihe Klerus
it Fih wohl bewußt, was im irdischen Yeben die Dauptaufgabe der
Geiſtlichkeit ſein muß: die Yeidenichaften zu beruhigen, Liebe und Frieden
in die Herzen der Menichen zu bringen.“ Die polnische Preſſe legt dieſer
Friedens: und Berjöhnungsfundgebung in dem geiltlicden Blatt eine
„ungeheure Wichtigkeit“ („Hurjer Polski“) bei.
— Der in Kiew erſcheinende „Kiewljanin“ giebt in ſeiner Wr. 20
bekannt, daß der Miniſter des Innern am 10. Jan. ihm die Erlaubniß
zum Erjcheinen ohne Präventivgenjur ertheilt habe, Damit wird zum
eriten Mal eine politische Provinzialzeitung des europäiſchen Rußlands
von der Präventivzenſur befreit.
„ Von 11 in Rußland überhaupt erijtirenden Taub—
ſtummenſchulen fommen allein 7, wie die „Nowoſti“ hervor:
heben, auf Finnland und die Oftjeeprovinzen. Letztere haben
5 ſolche Anjtalten, nämlich Kurland eine zu Mitau, Yivland 4,
in Strasdenhof bei Riga, zu Wolmar, Fennern und Pölwe.
Alle werdeno hne jede materielle Beihilfe des Staates unterhalten.
70
— —
24. Jan. Der Miniſter des Innern bat auf das Geſuch des Gouverneurs
von Taurien, den Yandichaftsämtern den Trud ihrer Berichte ohne
Präventivgenjur unter der Verantwortung der VBorfigenden zu geitatten,
erwidert, daß dieſes zunädit geichehen fünne, da die Berichte ja nicht
zu allgemeiner Kenntniß gelangten. Er geitatte den Drud der Berichte
ohne Präventivgenjur aber nur jo lange, als die Rückkehr zur früheren
Ordnung nicht möthig gemacht werde,
”" » In der Dritten Abteilung des Kriminal-Kaſſations—
Departements des Senats gelangen 21 Kajlationsjachen der
wegen Schmüdens ihrer Häuſer und Sarbentragens bei ber
eier des Tä-jährigen Jubiläums der Livonia (Balt. Chr. J,
137, 145, IL, 14, 23) Verurtheilten reſp. Freigeſprochenen
zur Verhandlung. Sämmtlihe Angeklagten werden vom
Senat freigejprodhen, und zwar weil, wie der Oberprofureurs-
gehilfe ausführt und der Senat anerkennt, nur eine Aus—
Ihmüdung der Häufer mit Flaggen der polizeilihen Erlaubniß
bedürfe, jede jonjtige ohne Cinholung irgend welder Er:
laubniß zuläſſig jei, und weil feine Bolizeivorjchrift eriltire,
die Nichtjtudenten (Bhiliftern, um joldhe handelte es ſich) das
Tragen von Farben verbiete; in beiden Füllen läge jomit
in den einzelnen Klagejadhen fein Thatbejtand und aljo auch
nichts Straffälliges vor.
ni Einem Zentralverein zur Ausbreitung der ruſſiſchen
Kultur in den baltiihen Gouvernements, nad) dem Mujter
der in Deutichland und Oeſterreich bejtehenden Allgemeinen
deutichen Schulvereine, vedet der „Riſhſki Wejtnif” an leitender
Stelle das Wort. Das Blatt denft ſich die Zentralverwaltung
des Vereins in Petersburg und berichtet, daß vor Jahren
bereits der Sedanfe von ihm angeregt und von vielen Ver:
tretern der ruſſiſchen Sache jympathiichh aufgenommen worden
jei. „Aus ihrer Zahl erwähnen wir die unvergehlichen Nik.
Awkſenkewitſch Manaſſein und Fürſten Wlad. Andrejewitich
Schachowſkoi. Schon war ein lebhafter Meinungsaustauſch
eingeleitet, als der umerbittlide Tod Dieje denfwürdigen
rulliichen Arbeiter abberief und die Sache auf günjtigere
Zeiten vertagt werden mußte.“ Der „Riſhſti Wejtnif“ hält
jegt den Augenblid für gefommen.
24. Jan. Die „Nom. Wr.“ weiſt auf den hohen Gewinn hin, den nad dem
Rechenichaftsbericht pro 1896/97 die Geſellſchaft der Weitfäliihen Tuch—
— 78 —
induſtrie in Niga erzielte und klagt dabei in beweglichen Tönen über
die „armielige Lage“ der rufjiichen Technit und „das Weraltete und
Berwahrlofte der techniichen Bildungsiache” im Reich. „Aus Mangel an
Kenntniſſen it unjer Unternehmungsgeift Sahmgelegt und kann ſich jelbit
unter dem Schuß des hohen Zolltarifs nicht, wie erforderlid), entwickeln.“
25. Jan. Wie befannt wird, hat das gelehrte Komité des
26.
„
Minifteriums der Bolfsaufflärung ſchließlich ſich mit der
vom Kurator des Petersburger Lehrbezirks Kapuſtin verjuchs:
weile durchgeführten Neform des Gymnaſialprogramms doc)
nicht einverjtanden erflärt und überhaupt jeinen Bedenken
Ausdrud verliehen, die Nothwendigfeit einer Einſchränkung
des bejtehenden Programms gelten zu fallen. Indirekt giebt
das Miniſterium der Volfsaufflärung das Bedürfniß nad)
einer Reform doch wieder zu, indem es jein gelehrtes Komite
betraut hat, die Neformjache weiter zu verfolgen. In der
„Beterb. Wed.” führt ein Herr R. Stworzow unter Berufung auf deutſche
Scyulautoritäten aus, der Grund für den empfundenen Mangel jei nicht
jowohl in den fehlerhaften Programmen, als vielmehr in den jchlechten
Lehrkräften zu ſuchen. Hier aljo hätte eine Reform einzujchen.
iR Die „Nedelja“ flagt über das Sinken des Petersburger Getreide:
erporthandels. Den erſten Schlag bättedem Petersburger Dandel der
Bau jener Linien, die das Wolga: und Hama:Gebiet und die Schwarz:
erdregionen uuter Beileitelafjung der Reſidenz Ddireft mit der Oſtſee
verbanden, zugefügt. Jetzt folge der Bau der Bologoje:Plestauer
und der Arhangeler Bahu. Würde dieje nicht nach Petersburg, jondern
nad; dem Knotenpunkt Toſſno geführt, jo wäre der Endpunft für
die Frachten wieder das für den Export bequemere Reval, und
Petersburg ginge wieder leer aus. „Werden die Getreidefrahten endgiltig
von Petersburg abgezogen, jo ift die Bedeutung des Petersburger Ausfuhr:
hafens dahin und alle Neueinrichtungen — der Clevator, welcher Dem
Fiskus jo fabelhaft viel fojtete, und der neue Hafen — jind überflüjjig.
Es wird eben nichts zu verladen jein.‘
» Der „Weſtnik Finanzow“ beipricht den Ausbau des
Windaufhen Hafens. Bei Aufwendung eines verhältniß:
mäßig geringen Kapitals fünne er eine ungeheure Erport-
fähigfeit entwideln. Sümmtlihe Anlagen jeien mit 5—6
Millionen Rbl. zu bejtreiten und die Gejellichaft der Rybinſker
Eijenbahn habe jich zur Uebernahme aller Koften bereit erklärt.
„Die Regierung aber, heißt es dann in dem Artikel, hielt
es nicht für geeignet, dieſe Angelegenheit einem Privat:
Unternehmer zu übergeben, weil ſie bejorgte, die Staats:
— 74 —
intereſſen möchten hierbei vor den Intereſſen dieſes einzelnen
Unternehmers in den Hintergrund treten.“
26. Jan. Der Miniſter des Innern hat verfügt, den Druck von Privat:
30.
31.
Annoncen in der Zeitichrift „Srafhdanin“, der am 18. Januar ec. ver:
boten wurde, wieder zu gejtatten.
= Ein Alerhödhiter Ukas iſt publizirt worden, betreffend
die Konverfion der 4!/2-prozentigen Pfandbriefe der Reichs—
Adels-Agrarbanf im Nominalbetrage von 172,785,200 Rbl.
und die zweite Emilfion 3/2-prozent. Pfandbriefe dieier Banf.
„ Ges findet in Niga unter Vorſitz des wirfl. Staatsraths
Ingenieurs PB. v. Goette eine Berathung über das Projekt
der Anlage eines Zentral-Güterbahnhofes jtatt. An der
Sitzung betheiligen ſich die Spigen der Riga-Oreler Eijen-
bahnverwaltung, das Stadthaupt von Niga und Vertreter
des Rigaer Börjenfomites. Werhandelt wurde über die Anlage
der Hafenerportitation am Andreasdamm, die zunädjt zur
Ausführung gelangen joll, da fie für den rigiſchen Handel
ein dringendes Bedürfniß ift. Der Andreasholm joll, dem
Wunſche der Stadtverwaltung entipreddend, unverfürzt be—
jtehen bleiben, jo dab das erjte Hafenbaſſin um 140 Faden
weiter jtromabwärts verlegt wird, als urjprünglich projeftirt
war. Der Andreashafen wird foweit verjchüttet, daß er in
einer Breite von 50—60 Faden beitehen bleibt. (Balt.
Chr. I, 125.)
1. Februar. Der „Bram. Weſtn.“ publizirt die Ernennung des
bisherigen Wolfsichulendireftors des Pleskauſchen Gouver-
nements Staatsraths Pawlow zum Volfsichulendireftor Des
Souvernements Ehjtland.
& Die Summe von 75,000 Nbl., die zur Vollendung
des Baues der Nevalichen Kathedrale für das Jahr 1898
ausgejeßt worden ijt, wird, den „Peterb. Wed.“ zufolge,
aud für das Jahr 1899 erforderlich jein.
u Zur Statiftif der ſemitiſchen Bevölkerung Rigas theilt
das „Rig. Tgbl.“ mit, daß im Jahre 1897 die Zahl der
Juden, die in Niga ihren bejtändigen Wohnfig hatten,
18,817 (gegen 17,915 im Jahre 1896) betrug. Geboren
wurden 1897 641, es jtarben 315 und ließen fid) neu nieder
576 Juden.
— —
3. Febr. Auf Grundlage des Preßgeſetzes verfügte der Miniſter des Innern,
„
”
"
der Zeitung „Glaſſnoſtj“ den Einzelverfauf der Nummern zu unterlagen.
„ Zum fommandirenden des abgetheilten Gendarmerieforps
it der bisherige Gehilfe des Gendarmeriehefs General:
lieutenant Pantelejew ernannt worden.
„ Die Statuten eines „Walfichen ruſſiſchen Mäßigkeits—
vereins“ find, nad dem „Malf. Anz.“, unterm 18. Nov.
1897 vom Minijterium bejtätigt worden.
be In der ruffiichen Prefic wird eine Reihe von Vorträgen, die General
von Wenndrich während des Januars in Petersburg über das
ruſſiſche Eiſenbahnweſen hielt, mit lebhaften Anterefie beiprodyen. General
v. Wenndrih it aus dem Nothjahr 1892 befaunt. Tamald wurde er
zum Generalinipeftor der Kijenbahnen mit faſt unumschränften Voll»
machten ernannt. Die „Diktatur Wenndrich“ dedte Damals, wie der
„Herold“ ſagt, die abiolute Stagnation im ruſſiſchen Eilenbahnmeien
auf; das ftaunende große Publikum gewann den eriten Einblick in die
von periönlihem Behagen jtrogenden Mpiterien des Verkehrsweſens, das
im Laufe der Jahre die Bedeutung einer durch Tradition erworbenen
Sinefure für cine feit geichweißte und ſchwer anyugreifende Koterie erlangt
hatte. Routine und oder Aanzleiformalismus, jo führte v. Wenndrich
aus, hielten die Eifenbahnen jo feit in ihrem Bann, daß nur die An—
wendung außerordentlich meitgehender Mahregeln dem hungernden Bolt
die Zufuhr von Lebensmitteln fichern Fonnte. Dieſelbe ſouveräne
Verachtung aller Staatsintereffen bewieſen die Konzelfionäre und ihre
Scyleppenträger, die Ingenieure, während des ruſſiſch-türkiſchen Krieges,
wo die jaloppe Leitung der Eilenbahnangelegenheiten in den offupirten
Rayons Rußland enorme Berlufte an Menschenleben und Geld zufügte.
Hätten damals die Gebietiger des Eilenbahnmweiens weniger Apathie und
mehr Thatkraft bewieien, jo würde vielleicht der Berliner Kongrek unnothig
geweſen jein. (Balt. Chr. I, 64.)
„ In Walk wird das bisherige Stadthaupt Woldemar
von Dahl wiedergewählt.
2 In Bernau wird das bisherige Stadthaupt Oskar
Bradmann wiedergewählt.
» IIn Libau wird das bisherige Stadthaupt Hermann
Adolphi wiedergewählt.
„Mittels Allerhöchiten Befehls im Rejlort des Minifteriums
der Wolfsaufflärung vom 31. Januar iſt der Lehrer der
Wilnafhen Realſchule Staatsrath Brjanzew zum Direktor
der Volksichulen in Kurland ernannt worden.
» Inder Jurjewer ( Dorpater) Stadtverordnetenverfammlung
berichtet der Stadtjefretär über die Arbeiten einer im März
— 76 —
1896 niedergeſetzten Kommiſſion zur Umtaration der ſtädtiſchen
Immobilien. Danach giebt es in der Stadt im Ganzen
1750 jteuerbare Immobilien, deren Werth insgefammt auf
7,133,060 Rbl. gegen 7,218,260 Rbl. bei der früheren
Taration, aljo um 85,200 Rbl. weniger als früher geihäßt wurde.
5. Febr. Das Zentralitatiftiiche Komité hat mit der Veröffent:
=]
*
lihung der Details der Volkszählung von 1897 begonnen.
Die vom Komite publizirten Daten ericheinen als das
Reſultat der jorgfältig revidirten und verbeflerten Zählungs:
fiften, während die im April 1897 herausgegebenen Daten
auf vorläufiger Benugung der Liſten beruhten. Nach diejen
genaueren eititellungen des Komités beträgt die Bevölkerung
des ganzen ruſſiſchen Reichs mit Einihluß der rulfiichen
Bevölferung Finnlands, Chiwas und Budaras und der
Darine-Offiziere und Soldaten, die jih im Auslande be-
finden, 126,411,000 Berjonen, davon 63,253,000 Männer
und 63,158,000 rauen. Von der Gejammtheit fommen
auf die Städte 16,289,000 d. h. 13°. Vergleicht man
die Bevölferungszahl mit dem Flächenraum, jo ergeben die
MWeichjelgouvernements die größte Dichtigfeit der Bevölferung,
davon Betrifau mit 130,7 pro Quadratwerft, dann folgen
die zentralen Gouvernements, an deren Spite Moskau mit
83,2 ſteht. Yivland hat 32,, Kurland 28,3, Chitland 23,8
Bewohner pro Quadratwerit.
e An der Univerfität zu Charkow wird ein neuer Lehrſtuhl
für ojtieeprovinzielles Recht eröffnet; die Abjolventen dieſes
Faches werden beim TDienjte in den Üftfeeprovinzen den
Vorzug genießen.
„ Für das rigaſche Polytechniftum find vom Mtinifter der
Volfsaufflärung auf vier Jahre (gerechnet v. 8. Oft. 1897)
bejtätigt worden: Profeſſor Benedikt v. Wodzinjfi als Gehilfe
des Direktors und ferner als Defane: der Architekten-Ab—
theilung Profeſſor Johann Koch, der Angenieur-Abtheilung
Profeſſor Heinrich Malcher, der chemiſchen Abtheilung Pro—
feſſor Maximilian Glaſenapp, der mechaniſchen Abtheilung
Profeſſor Karl Lovis, der landwirthſchaftlichen Abtheilung
Profeſſor Dr. George Thoms und der Handels Abtheilung
Profeſſor-Adjunkt Auguſt Lieventhal.
277 —
7. Febr. Der Miniſter der Landwirthſchaft und der Reichs—
10,
domänen theilt in einem Schreiben vom 23. Januar der
Kaiſerlich livländischen gemeinnüsigen Sozietät mit, Seine
Majeität der Kaiſer habe zu gejtatten geruht, daß Seine
Kaiferlihe Hoheit der Großfürſt AM ladimir Nlerandrowitich
die von der Gefellichaft im Sommer 1899 in der Stadt
Riga zu veranftaltende IV. baltiihe landwirtbichaftliche
Zentral: Ausstellung unter Seinen Hohen Schuß nehme.
Zugleich wird die Sozietät benachrichtigt, daß Seine Kaiſerl.
Hoheit jeine Zuftimmung zum Beluche der Ausitellung ertheilt
habe.
" Der Miniiter des Innern juspendirt Die Ausgabe der Zeitung
„Niſhegorodſki Liſtok“ auf acht Monate.
Pr Der livländiihe Gouverneur bejtätigt den Arzt Iſidor
Michelſohn für das Triennium 1898--1900 im Amte eines
rigaichen Stadt:Rabbiners. Tie Obliegenheiten eines „gelehrten
Hebräers“, der im Iivländiichen und furländiichen Gouvernement, dem
moſaiſchen Ritus gemäß, die verſchiedenen kirchlichen Gebräude und
Handlungen zu vollziehen hat, die eine bejondere Kenntniß des mojaiichen
Glaubens und des Talmuds erfordern, wird nad) wie vor der bisherige
Rigaſche Stadt-Nabbiner, der „gelehrte Hebräer” Herr Salomon Pucher
veriehen.
— Der Miniſter des Innern verbietet der Zeitung „Ruſſki Trud“ den
Berfauf einzelner Nummern und juspendirt die Zeitung „Arymifi Weſtnik“
auf acht Monate.
= Der Kurator des Mosfauichen Lehrbezirks Geheimrath
Bogoljepow iſt zum Verweſer des Miinijteriums der Wolfe:
aufflärung ernannt worden. Bogoljepomw iſt Juriit und war,
ehe er Kurator wurde, Profeſſor und Nektor an der Moskauer
Univerfität. Die ruſſiſche Preſſe giebt ihrer Befriedigung
über die Ernennung Ausdrud, Die „Most. Med." heben hervor,
daß mit Bogoljepom zum eriten Mal aus der Zahl der ruffiichen Gelehrten
der Minijter der Volfsaufflärung erwählt wird, und hofft, daf er in den
Bahnen des Grafen Teljanow wandeln werde. Die „Birihew. Wed.”
ichen die Hauptaufgabe des neuen Miniſters in der ‚Förderung der
Elementarbildung. Nur die Aufklärung des Volkes könne Rußland von
der Ichweren Kriſis befreien, weldye es durchmache.
rt Eine den Kameralhöfen zugegangene Anordnung des
Sinanzminifteriums fordert die gänzliche Einftellung der Aus-
gabe von Ein: und Dreirubelicheinen und außerdem eine
>
—
13.
—
möglichſte Zurückhaltung in der Ausgabe von Fünf- und
Zehnrubelſcheinen.
Febr. Das Zirknlär des Kurators des Rigaſchen Lehrbezirks
vom 1. Dez. 1897 veröffentlicht einen Allerhöchſten Befehl,
dem zufolge Seine Majejtät der Kaiſer gerubt hat, eine in
Vollmadt der Libauichen Stadtverordnetenverfammlung vom
Stadthaupt Adolphi eingereichte Bittichrift, die eine Beichwerde
über eine Verfügung des Minijteriums der Bolfsaufflärung
in ſich Schloß, ohne Folge zu laſſen. Jene Verfügung des
Miniteriums der Wolfsaufflärung betraf die Ablehnung
eines Geluches der Libauſchen Stadtfommune, die örtliche
ſtädtiſche Mädchenſchule 2. Ordn. in ein Mädchengymnafium
umzuwandeln und dabei der Stadtverordnetenverfammlung
das Hecht der Wahl der Direftrice und dem Vermwaltungsrath
das Recht der Wahl des Perjonalbeitandes des Gymnafiums
zu gewähren.
— Das ehſtniſche Blatt „Sakkala“ und der „Riſhſki W.“
äußern ſich ſehr befriedigt über das Reſultat der im Februar
vollzogenen Stadtverordnetenwahlen zu Fellin. Nach dem
„Riſhſti W.“ gehören von den gewählten 23 Stadtver—
ordneten 15 zu der Zahl der Anhänger der neuen Ordnung
der Dinge im Gebiet und nur 8 zu den „vor-reorganiſa—
toriſchen“ Elementen.
„ Zum Bau von griechiſch-orthodoxen Kirchen in der
Rigaſchen Eparchie jollen, wie Petersburger Blätter zu melden
willen, bis zum Jahre 1906 aus der Sronsrentei jährlich
50,000 Rbl. ausgezahlt werden.
Br In Petersburg tagt der ſlawiſche Wohlthätigkeitsverein.
Der Vorſitzende Graf Ignatjew verlieft den Rechenſchafts—
bericht, dem zufolge die Mitgliederzahl 587 (gegen 2000 in
den fiebziger Jahren) beträgt. Graf Ignatjew madt ber
ruffiichen Sntelligenz den Vorwurf, daß ihr Intereſſe an der
ruſſiſch-ſlawiſchen dee ſtark erfaltet fei. Das Ehrenmitglied
der Gejellihaft A. S. Budilowitih, Rektor der Nurjewer
Univerfität, hält einen Vortrag über den Untergang des
baltiihen Slawenthums, das einit bis zur Elbe gereicht
habe, wofür die Legende von der im Meer verfunfenen
ſlawiſchen Stadt Vineta vollgiltiges Zeugniß ablege.
—70 —
16. Febr. In Wenden wird das bisherige Stadthaupt G. Trampedach
19.
"
20.
21.
wiedergewählt.
„ In Jurjew (Dorpat) findet die Wahl der Stadtver:
ordnneten jtatt. Der frühere Stadtverordnete und Nedafteur
des „Olewik“ A. Grenzitein hatte in feinem Blatt heftig
gegen die Wahl von deutichen Vertretern agitirt. „Sort
mit dem deutichen Schulmeijter!” war die von ihm für die
Ehjten ausgegebene Lofung. Bon 60 Stadtverordnetenfigen
beanjprudht der „Olewik“ 53 für die ehftniiche Bevölkerung,
6 werden den Nullen, ein einziger den Deutichen zugeftanden.
Troß dieſer Agitation wurden die Kandidaten des allgemeinen
Wahlfomites mit großer Majorität gewählt.
Mr Der „Weſtnik Finanzow“ veröffentlicht die Verfügung
des vereinigten Dinifterfomites über die Baufonzeifion einer
Sefundärbahn von der Station Swenziany der Petersburg:
Warſchauer Bahn nah der Station Boneweih der Libau-
Romnyer Bahn mit einer Zweiglinie nad) Wilfomir. Aus
der Verfügung geht hervor, daß der eriten Gejellichaft zum
Bau von Sefundärbahnen in Rußland, eine Konzeſſion zum
Meiterbau diefer Linie nach Kowno, Wilna und Riga nicht
ertheilt werden wird.
w Die „Now. Wr.” weiſt auf das Beilpiel des Rigaſchen Polytechnifums
bin, das feit längerer Zeit durd freiwillige Beiträge und geringe Gagen—
abzüge ein beträchtlidyes Hilfskapital angeſammelt habe, welches zur Aus:
zahlung von Penfionen für die Angejtellten des Anftituts und für deren
Wittwen und Wailen und zur PVejtreitung für einige Stipendien verwandt
würde. Die „Now. Wr.” empfichlt dies Beiſpiel zur Nachahmung für
die ſonſtigen Lehranitalten, da an ihnen für die Wittwen und Waijen
der Lehrer feine Fürſorge getroffen ſei.
r In MWerro wird das bisherige Stadthaupt Alerander
von Moeller wiedergewählt.
— Der Miniſter des Innern gejtattet der Zeitung „Glaſſnoſtj“ wieder
den Einzelverkauf.
— Die lettiſche Zeitung „Deenas Lapa“, die am 23. Juni 1897 auf
acht Monate ſuspendirt worden war, erſcheint ſeit dieſem Tage wieder.
„ Im Ingenieur-Konſeil des Kommunikations Miniſteriums
gelangt das Projekt der Erweiterung des Windauer Hafens
zur Prüfung. Nach den „Peterb. Wed.“ ging der Befund
des Konſeils dahin, daß die fortlaufenden Hafenbauten mit
VI
— 80 —
der Berechnung auszuführen ſeien, daß die Möglichkeit nicht
ausgeſchloſſen bliebe, den Hafen hinkünftig auf 26 Fuß zu
vertiefen, welche Tiefe auch alle Anlegeitellen zu erreichen
haben würden. Zugleich wurde beichlojien, den Hafen aud)
mit einem eigenen Eisbrecher zu verjehen.
26. Febr. Ueber die Thätigfeit der kurländiſchen Landſchulen im
Jahre 1895/96 veröffentlicht die kurländiſche Oberlandſchul—
fommilfion einen Bericht, nad) dem in Kurland 1895/96
347 Schulen (eine mehr als im Vorjahr) vorhanden waren.
Die Zahl aller Schüler und Schülerinnen betrug 21,080,
von welchen im erjten inter 8067, im zweiten 7083 und
im dritten nur 5930 die Schule bejuchten. Gegen das
Sahr 1894 hat fih die Zahl derjenigen Schüler, die, wie
vorgeichrieben it, drei Winter die Schule befuchten um 367
verringert. Vergleicht man die Zahl der Schüler, welche im
Jahre 1894 im zweiten Winter die Schule befuchten mit
der, welche im Jahre 1895 im dritten in der Schule ſich
befanden, jo ergiebt fich, daß 1338 Schüler den obligatorischen
dreiminterlichen Schulbejuch nicht abfolvirt haben. Im dritten
Winter wird befanntlich der Unteriht in ruffiiher Sprade
ertbeilt.
„ Kin Prozeß anläßlich des Jubiläums der afademilchen
Verbindung „Livonia” findet vor dem Friedensrichterplenum
in Wenden feinen Abjchluß. Der Ehrenfriedensridhter Edgar
v. Nüder war in Jurjew (Dorpat) wegen Tragens eines
Sarbendedels zu 40 Rbl. Strafe, wegen Beleidigung eines
Sorodomois zu fünf Tagen Arrejt verurtheilt worden und
hatte gegen diejes Urtheil Beihwerde erhoben. — Der Senat
hatte die Sache dem Menden: Walfichen Plenum übermwiefen.
In feiner Vertheidigungsrede führte der Angeflagte u. N.
aus, daß der Senat ſchon am 24. Januar erläutert hätte,
daß dans Verbot des Farbentragens fih nur auf Studirende
beziehe. Er hätte gern eine Kopie einer der Genatsurtheile
vorgejtellt, aber der Präſes des biefigen Plenums babe dem
Bellagten, reip. dem Advofaten die Herausgabe der Kopien
vom Genatsurtheil mit der Miotivirung verweigert, daB der
Ufas des Senats an das Plenum, nicht aber an die An-
geflagten ergangen ſei. — Der Brofureursgehilfe Danilemjfi
— —
gab ſein Gutachten dahin ab, daß die Anklage wegen Ver—
letzung des Art. 29 nicht aufrechterhalten werden könne, da
das Verbot des Farbentragens ſich nur auf immatrikulirte
Studenten beziehe und Verfügungen des Minijters der Volks—
aufflärung nur für die zu diefem Reſſort gehörigen Perionen
verbindlich feien. Die Anklage wegen Beleidigung eines
Gorodowois (Art. 31) dagegen hielt der Profureursgehilfe
aufrecht, beantragte aber die Arreftitrafe, die im gegebenen
Falle dem Thatbeitande nicht entipreche, in eine Geldjtrafe
zu verwandeln. Tas Plenum entichied dem entipredhend und
verurtheilte den Fıiedensrichter Edgar v. Nüder wegen Ver:
letzung des Art. 31 zu zehn Rbl. Strafe.
27. Febr. Ein anderer Prozeß in ähnlichem Anlaß wie der vorige
gelangt im Friedensrichter- Plenum in Jurjew (Dorpat) zum
Abſchluß. Angeklagt war der Arzt Friedrich Maurach wegen
Tragens eines Farbendedels während des Jubiläums der
„LZivonia”. Der Friedensrichter hatte den Angeflagten auf
Grund des Art. 29 zu 15 Rbl. reſp. drei Tagen Arreſt
verurtheilt. — Nach einem ausführlichen Aftenreferat des
Vorſitzenden gab der Vertreter der Prokuratur feine Meinung
dahin ab, daß im vorliegenden Falle eine Uebertretung des
Art. 29 nicht vorliege und da das Verfahren auf Grund
des Art. 1 des Strafprozeffes und des Art. 1 des Straf:
gejegbuches zu kaſſiren ſei. Das Plenum ſchloß ſich dieſer
Anſicht an und ſchlug die Sache mit allen Folgen nieder.
„Auf der Generalverſammlung des „Mitauer landwirth—
ſchaftlichen Vereins“ wird befannt gegeben, daß die Geſellſchaft
ihren Mitgliedern, die keine Landarbeiter haben auftreiben
können, 200 Arbeiter aus den Gouvernements Kowno und
Wilna gedungen habe. Auch Nichtmitgliedern können Arbeiter,
an denen in Kurland großer Mangel herrſcht, beſchafft werden.
1. März. In den letzten Tagen des Februar haben ſich außer
dem livländiſchen Gouverneur noch in Dienjtangelegenheiten
nach “Petersburg begeben: der Profureur des Rigaſchen
Bezirfsgerichts, der Chef der Livländiichen Gendarmerie:
Verwaltung, der Dirigirende der baltischen Domänen
Verwaltung und der ältere livländiiche Fabrikinſpektor. —
VI
Dies wird mit der Merhaftung mehrerer Fabrifarbeiter
wegen fozialiftiicher Umtriebe in Niga in Zulammenhang
gebradt.
1. März. WVerabichiedet wird auf eigenes Erſuchen Odinzow,
Dirigirender des furländischen Kameralhofes, wegen Krankheit.
„ Der „Regierungs-Anzeiger” theilt mit, daß die Gründung
eines Rigaſchen Vereins zur gegenjeitigen Verfiderung von
Sabrifanten und Gemwerbetreibenden gegen Unfälle ihrer
Arbeiter und Angeftellten am 30. Januar c. Allerhödjit
genehmigt worden iſt, wobei es dem Dlinifter des Innern
überlafjen fei, im Einverftändniß mit dem Finanzminijter,
aud in Zukunft ähnliche Statuten nad) dem Mujter des
Rigaſchen Vereins zu bejtätigen.
» Tagesbefehl Sr. Kailerl. Hoheit des General-Admirals
an das Marine-Reſſort, demzufolge Seine Majeftät der Kailer
durch Allerhöchjten namentlichen Erlaß an den Finanzminijter
vom 24. Febr. d. J. zu befehlen geruht hat: Abgejehen von
der Erhöhung des Anmweilungsbetrages der gemöhnlidhen
Ausgaben des Miarine-Minijteriums im Laufe der Jahre
1898— 1904 gegenwärtig aus dem freien Baarfonds der
Staatsrentei 90 Millionen Rbl. für die Erfordernifie des
Schiffsbaues zu verabfolgen.
„ Die „Beterb. Gaſ.“ meldet, daß eine neue ehjtnifche
orthodore Bruderschaft auf den Namen des Märtyrers
dor von Jurjew demnächſt ihre Thätigkeit eröffnen wird.
Die neue Gejellihaft will die religiöfe Pflege der in der
Reſidenz lebenden orthodoren Ehſten ausüben. Die Mittel
der Gelellichaft werden fich aus den Vlitgliedsbeiträgen, Die
auf 1 bl. jährlich oder 25 Rbl. einmalig feitgelegt find
und freiwilligen Spenden zuſammenſetzen. Auch jollen an
den Kirchen Sammelbüchſen ausgeftellt werden. In eriter
Neihe will die Gejellichaft fi bemühen, die Mittel zum
Bau einer ebitnischen orthodoren Kirche aufzubringen. Am
1. März hatten fich die „Bratichifi” zum erjten Mal ver:
jammelt.
2. März. Zur Einführung der rujfiihen Sprache in Finland bringt die letzte
Sammlung der Senatsbeftimmungen des Großfürſtenthums „Finland
folgende Verfügung: „Die Polizeimeifter, Polizeiaufeher und Polizei:
ei
jefretäre müſſen ruſſiſch veritehen. Bei der Ernennung der Polizei—
fommiffare, der Oberfonitabler und Konitabler wird den Perjonen der
Vorzug gegeben, die ruljiich veritehen. Die Oberfonjtabler und Konjtabler
werden außerdem in der Weile ernannt, daß die Polizei ſtets über die
nothivendige Anzahl von rufjiich veritehenden Konftablern verfügen kann.
Die Sammlung der Bolizeivorichriften wird in ſchwediſcher, finniſcher
und ruſſiſcher Sprache gedrudt und zu geringen Preiſen an das Publikum
verfauft.“
2. März. Das neue Statut der ehitländiichen adeligen Kredit:
Kalle ift am 16. Februar d. J. Allerhöchſt bejtätigt worden.
3. März. Der offizielle „Ueberblid über die Thätigkeit des
Minifteriums der Landwirthſchaft und der Reichsdomänen
im Jahre 1897“ führt u. A. an, dab zur Förderung der
ruffiihen Fiichzuht und zur Negulirung des Fiſchfanges
im vorigen Jahre Schritte gethan worden find. In Jurjew
(Dorpat) und an der Mündung der Luga ſind Fiſchzucht—
anftalten eröffnet worden und demnächſt ſollen auch an ver:
Ihiedenen anderen Stellen des Reichs ſolche eingerichtet
werden.
» Die Nevaler Blätter melden, dab der Protohierei ©.
%. Bopow diejer Tage unter allgemeiner Theilnahme der
Autoritäten und der orthodoren Sejellichaftsfreiie jein fünfzig:
jähriges Amtsjubiläum gefeiert bat. In diefem Anla wurde
dem Jubilar durch den ebitläudilchen Gouverneur eine Adreſſe
feiner Verehrer überreicht, die folgenden Paſſus enthält:
Als es nun Gott dem Herrn genehm war, feine Diener
zur Berpflanzung der Nechtgläubigen Kirche in das baltifche
Gebiet zu entjenden und der hochwürdigſte Platon ewigen
Andenfens, nahmals der große Hierard) der Kirche Rußlands,
Sie vor 48 Jahre zum Dienſte der Beil. Kirche unter der
ehitnischen Bevölkerung berief, da verwandten Sie all Ihren
flammenden Glaubeu und Ihr ganzes heißes Streben auf
den Dienft an den neuerworbenen Sliedern der vechtgläubigen
Kirche und wurden ein treuer Mitarbeiter und Gehilfe nicht
nur für den Erzhirten, der Sie berief, jondern auch für die
jehs würdigen Nachfolger feines apoftoliichen Amtes.“
„ Die „Beterb. Wed.” jchreiben: Die deutichen Kofoniften
evangelifch-lutherifcher Konfeſſion petitioniven um die Konzeſſion
zur Erridtung von Xehrerjeminaren, aus denen tüchtig vor:
— 84 —
bereitete und geſchulte Lehrer hervorgehen könnten, die an
die Stelle der heutigen ihrem Beruf nicht gewachſenen Schul—
meiſter treten ſollten.
5. März. Die „Erſte Zufuhrbahnen-Geſellſchaft“ übernimmt den
"
”
6.
Bau und die Grploitation der Bahn Fellin-Heval. Die
Hegierung hat fich zu einer Subfidie verjtanden, die örtlichen
Hutsbejiger haben Aktien und Obligationen im Betrage
von 900,000 Rbl. erworben. Die Hauptlinie und Zweig:
linie zujammen haben eine Länge von 158 Werft. Die
Cijenbahnlinie acht durd drei Kreiſe, den Fellinſchen,
Weißenſteinſchen und Nevalichen, und berührt 13 jehr dicht
bevölferte Kirchſpiele.
» Der Minifter der Landwirthichaft und der Reichsdomänen
bejtätigt nadı Uebereinfunft mit dem Miniſter des Innern,
die Statuten der neugegründeten landwirthichaftlichen Vereine
zu Soldingen und Rappel.
„Der „Rijſhſki Weſtnik“ läßt fih aus Jurjew (Dorpat)
berichten, daß der Rektor Budilowitih am 27. Febr. e. zum
Beſten bedürftiger Studenten in der Aula einen Vortrag
„Weber die Bedeutung der Schlacht bei Tannenberg (1410)
für die ſlaviſche Gejchichte” gehalten hat. Der Neferent des
„Riſhſti W.“ jagt über den Anhalt diejes Vortrages u. A.:
„Die Bedeutung derjelben (d. h. der gen. Schlacht) iſt
wirflid) enorm. Sie hat gezeigt, daß das Zentrum der
Schwere und der Straft in den Ddemofratiidhen nationalen
Elementen liegt. Sie bewies den Slaven die Möglichkeit
des Kampfes und Sieges über den, wie es jchien, allmächligen
Orden. Sie zerftörte im Keim und in der Wurzel Die
Möglichkeit eines lateinischen Reiches an der baltischen Küſte.“
— Die „Slaven,“ die bei Tannenberg fiegten, waren befanntlid Polen
und Yiltauer unter Jagello, einem Fatholiichen König, und die Polen
und Yittauer wurden und blieben die Verfechter des römiich-fatholiichen
(lateinifchen) Prinzips.
= Die landwirtbichaftlihen Vereine Nuplands haben ein
Normaljtatut erhalten, das ihnen gewiſſe Vergünftigungen
gewährt. So wird ihnen u. A. unter Verantwortlichkeit
des Vereinspräfidenten der zenſurloſe Drud von Rechenſchafts—
— 85 —
berichten, Programmen, landwirthſchaftlichen periodiſchen
Blättern u. ſ. w. freigegeben.
6. März. Der ſtellvertr. Architekt und Dozent der Elemente der
Baukunſt an der Univerjität Jurjew, Reinhold Guleke, iſt
ſeiner Bitte gemäß, entlaſſen worden.
— Der „Reg.Anz.“ veröffentlicht den am 28. Nov. 1897
Allerhöchſt bejtätigten MiniſterkomitéBeſchluß, dem zufolge
der Stadt Niga gejtattet wird, eine Obligationen-Anleihe
von 500,000 Rbl. zur Erweiterung und Verbeſſerung des
ſtädtiſchen Wajferwerfs abzujchließen.
a Bei der Kurländiichen Oekonomiſchen GSejellihaft wird
eine bejondere Sektion für Pferdezucht begründet. Es melden
fih 51 Perſonen zu Vlitgliedern.
6. März. Die Bevorzugung, die im letzter Zeit der Induſtrie in mancherlei
Dinfiht zu Theil wird, veranlaßt die „Nomwoje Wremja“ im einem
Artikel über „Schule und Fabrik” die Frage zu unterfuchen, welche von
diejen beiden Anjtalten die Kulturentwidelung eines Volkes mehr fürdert.
Das Blatt fommt zu dem Schluß, dab das heutige Fabrikweſen Rußlands
auf das Schulweſen und die Kultur der Bevölferung nacdhtheilig ein:
wirfe, da die Arbeiter ihre Hinder der Schule entziehen und jie Des
Verdienjtes halber möglichit früh im die Fabrik ſchicken. Die Fabrik:
bejiter huldigten aber dem Grundjag: einerlei, wie e8 mit dem Menfchens
material bejtellt ijt, wenn nur das Gejchäft blüht. Daher jehe man,
daß in den Gegenden, wo die Großindujtrie erblüht jei, es mit der
Voltsbildung ſchlecht bejtellt jei. Die „Now. Wr.“ ſchließt ihre Bes
trachtungen mit den Worten: „So iſt denn in unjeren Tagen die Fabrik
eine Feindin der Schule. Mit ihrem eiiernen Finger entzieht fie eine
große Anzahl Kinder dem erzicehenden Cinflufje derjelben und degradirt
eine Menge Menihen zu medaniichen Werkzeugen, die ihr zu dienen
haben. Solche aber, die aufmachen in der Finiternig, deren Geiſt und
Herz in feinerlei Weiſe ausgebildet werden, find auch moraliſch untüchtig
und werden nicht jelten Glieder der Gejellichaft, die ſchädlich und zu
fürdten find.“
u Die „Balt. Wochenjchrift” veferirt über einen Bericht,
den der Präfident der Livl. ökonomiſchen Sozietät auf der
Eikung am 12. Januar zur Frage der Zölle auf land:
wirthichaftlihe Maſchinen und fünjtlihe Düngemittel ab:
geftattet hatte. Ueber dieſe Frage jei auf Anjuchen der
Landwirthe in verichiedenen, bei den Minifterien beftehenden
Kommiljionen berathen worden, aber man gewinne aus den
Verhandlungen den Eindrud, daß die Intereſſen der Induſtrie,
— 6 —
denen das Finanzminifterium Gewicht verleihe, viel einfluß—
reiher als die Intereſſen der Landwirtbichaft, die vom
Aderbauminifterium vertreten werden, feien. Unter folchen
Verhältnifien habe die Landwirthichaft Feine Ausficht dort
Gehör zu finden, wo ihre Intereſſen zu denen der Induſtrie
in Gegenſatz treten.
7. März. Der „Siew. Weftn.“ knüpft an die Ernennung des ehemaligen
—
Profeſſors R. P. Bogolepow, eines gelehrten Juriſten und Spezialiſten
auf dem Gebiete des römiſchen Rechts, zum Verweſer des Miniſteriums
der Volksaufklärung an und plaidirt für eine Reform des juriſtiſchen
Studiums. Die Zeitichrift tritt namentlich für eine Derabießung ber
dem römischen Hecht gewidmeten Stundenzahl ein und beruft fich dabei
auf „ketzeriſche“ Stimmen in Deutichland, die für die dortigen Verhältnifie
dafjelbe verlangen. Tie „St. Bet. Ztg.” meint, hier gelte das Wort:
Si duo faeiunt idem, non est dem. Daß in Rußland das Studium
des römischen Rechts trog der großen Stundenzahl feine hohe Stufe
erreicht habe, beweiſe die Thatjache, daß es in den achtziger Jahren noth—
wendig wurde, an einer deutichen Univerfität — in Berlin — für an»
gehende ruſſiſche Profefforen ein romaniftiiches Inſtitut zu gründen.
» Die Sommerferien der Yehrerinititute werden, nad den „Pet. Wed.“,
auf Verfügung des Minifters der VollSaufflärung von nun an nid
mehr wie bisher ſechs Wochen dauern, jondern zwei Monate.
7. März. In Jurjew (Dorpat) finden die Wahlen der Stadt:
verordneten Suppleanten ftatt, bei denen die Partei Des
radifalen jungehſtniſchen Blattes „Olewik“ volljtändig unter-
liegt.
e Der „Weſtnik Jewropy“ jpricht der Niſhninowgoroder Adelsver:
jammlung jeine Anerfennung dafür aus, dal fie offen und mutbig für
eine Neform der mittleren Zehranjtalten eingetreten jei. Die Zeitichrift
ift zwar mit manchem in dem Programm des Nilhninowgoroder Adels
nicht einverjtanden, jo 3. B. nicht mit dem völligen Ausſchluß der
griechiihen Spradje, fie erblidt jedod den Vorzug des Programms darin,
dab die Frage von der Unzulänglichfeit des bejtehenden Syſtems der
Mittelichulbildung in gerader, offener und weitgehender Weile aufgeworfen
wurde. Der Adel behandle dieſe Frage nicht zum eriten Mal und habe
dafür bereits früher ein wahres Gewitter von der reaftionären Preſſe
über ſich ergehen lafien müſſen. Und jet werde man wahriceinlich
neue Wariationen über das Thema: „Schufter bleib bei deinen Leiſten“
hören, die jedesmal ertönen, jobald der Adel es wagt, nicht nad dem
Ukas zu verfahren, den Katfoı verfündet hat.
— Der Miniſter des Innern verfügt, das Erſcheinen der Zeitungen
„Odeſſki Liſtol“ und „Odeſſkija Nowoſti“ auf einen Monat und der
Zeitung „Donſkaja Retſch“ auf zwei Monate zu verbieten.
— 87 —
7. März. Außerordentliche Stadtverordneten-Verſammlung in
Sellin: Die Sitzung iſt von 23 Stadtverordneten und dem
Vertreter des griechiichsorthodoren geiftlihen Nejjorts bejucht.
Die Gage des Stadthauptes wird von 500 Rbl. auf 400
Rbl., die des Stadtjefretärs von 1200 Rbl. auf 1000 Rbl.
herabgejegt. Bei der Wahl des Stadthauptes erhält der
fonfervative Kandidat Baron Otto Engelhardt 12 Stimmen
und fein Gegenfandidat Herr A. A. Nofenberg gleichfalls
12 Stimmen, jo daß das Loos zwilchen ihnen enticheiden
muß. Bei der Beltimmung der Dienjtzeit des Stadtjefretärs
werden 12 (fonjervative) Stimmen für vierjährige und 12
(radifale) Stimmen für einjährige (!) Amtsdauer abgegeben.
Der Vertreter des griechiich:orthodoren geiſtlichen Reſſorts
ftimmt mit den Radikalen. Der Vorſitzende giebt den
Ausschlag und enticheidet für vierjährige Amtsdauer. Der
bisherige Stadtjefretär A. Kühn reicht jeinen Abjchied ein.
BB: In der lutheriichen Kirche in Oberpahlen wird der
Baltor beim Deraustreten aus der Safrijtei von vier Weibern
— die bereits wegen Unfugs in der Kirche vorbeitraft find —
angefallen, wobei ihm der Talar zerriiien wird. Der Gottes:
dienjt wird fortgejeßt. Vor der Polizei erflärt eins der
Weiber mit dürren Worten, der Unfug ſei aus Rache verübt
worden. Sie wille, welche Strafe ihrer harre, denn fie
habe ſich erjt aus dem Gejegbuch darüber unterrichten lafjen,
doch das jchrede fie nicht, fie werde mit dem „Kronsbrode”
ganz zufrieden fein.
9%. „ [Stadtverordnetenverjammlung in Riga.) Der
Kurator beantragt durch den Gouverneur die Abänderung
des Statuts. und Lehrplans der Stadttöchterichule.. Nach
Verlefung des jehr umfangreichen Gutachtens des Stadtamts
bemerkt das Stadthaupt, daß die StadtverordnetenverJammlung
bereits wiederholt auf diesbezügliche Anträge des Kurators
des Rigaſchen Lehrbezirks in Berathung der Frage getreten
it, ob nidt eine Anwendung des allgemeinen Statuts
der Mädchengymnafien auf die Nigajche Stadttöchterichule
wünſchenswerth jei. Jedes Mal habe die Stadtverordneten-
verjammlung es abgelehnt, von dem bisherigen Statut,
weldes die Allerhöchſte Sanktion jeinerzeit erhalten babe,
— 88 —
und welches gewiſſe Vorzüge vor dem allgemeinen Statut
aufweiſe, abzugehen. Obgleich der Kurator nur von einer
Abänderung des bisherigen Statuts in redaftioneller Hinſicht
ipreche und das projektirte neue Statut als an das alte
ſich anlehnend bezeichne, jo fküme dod die Annahme des
Antrags des Kurators gleich einer Aufgabe des bisherigen
Statuts, da das neue Projeft jehr weſentliche Abweihungen
enthalte. Die Verſammlung beichließt, das vom Kurator
durch den Gouverneur vorgelegte Projeft der Abänderung
des Statuts und Lehrplans der Stadttöchterichule abzulehnen
und das Gutachten des Stadtamts dem Gouverneur vorzu:
jtellen.
9. März. Cine Rigaſche Korreipondenz der „Now, Mr.“ klagt
11.
über die geringen Erfolge der ruſſiſchen Sache: „Die rujfiihen
gejellichaftlihen Elemente, die einjt trog ihrer geringen Zahl
viel für den Triumph der neuen Prinzipien im Gebiete
gethan haben, in den legten Jahren der Verwaltung des
verjtorbenen Generals Sinowjew aber in ſich uneins und
geſchwächt wurden, haben ſich jeitdem nicht vereinigt, find
nicht erjtarft und lafjen feine Männer der Aktion hervortreten.
Die Organe der Negierung verlieren aber viel, wenn fie
die Unterftügung der genannten Elemente, dieſer erfahrenen
gejellihhaftlihen Xotien, denen das Fahrwaſſer der baltischen
Bolitif, alle ihre Klippen und Ausgänge, wohl bekannt find,
nicht befigen. Die ruffiihe Sache macht feine neuen fittlichen
und fulturellen Eroberungen im Gebiet, ja fie büßt jogar
von dem bereits Errungenen mandes ein. Die Gegner der
Neformen jchlummern nicht, gönnen ſich feine Ruhe. Die
Balten willen jeden Tag auszunugen. Als Beweis fann
die Thatjache dienen, daß die Stadtverordnnetenwahlen in
den baltiichen Städten überall mit dem Triumph der Partei
geendigt haben, die auch vor der Neform in der ſtädtiſchen
Verwaltung die Herrichaft hatte. Wieviel Jahre angejtrengter
Bemühungen — und feine greifbaren Nefultate!”
„ Ein Neidsrathsgutachten verfügt die Umwandlung der
in Walt bejtehenden Einnahme: und Ausgabekaſſe in eine
Kreisrentei.
—80
11. März. Stadtverordneten-Verſammlung in Reval: Der Gou—
verneur theilt in einem Schreiben mit, daß er auf Grund
der Senatsentjcheidung vom 12. Dez. 1895 es nidt für
möglih hält, den am 14. Jan. d. J. zum Stadtrat) ge:
wählten Herrn Roman von Antropoff in diefem Amt zu
bejtätigen.
— Der „Prib. Liſt.“ meldet: Im Pernauſchen Kreiſe fand
unlängſt eine Reviſion ſämmtlicher Gemeindeſchulen durch
den Volksſchulinſpektor ſtatt. Im Allgemeinen waren Die
Schulen in befriedigendem Zuſtande, nur der Unterricht in
der rujliichen Sprade war, nad) Vieinung des Inſpektors,
nicht vollfommen genügend.
”„ nv». Zum Dirigirenden des Kurländiichen Kameralhofs wird
Hofrath Baron Wlerander von Tiejenhaujen, bisher Ab—
theilungschef dieſes Kameralhofs, ernannt.
4.—7. und 10.—12. März. Sitzungen des ehſtländiſchen
ritterijhaftliden Ausſchuſſes.) Der ritterichaftliche
Ausihuß nimmt zur Kenntniß ein Schreiben des ehit:
ländiſchen Gouverneurs vom 28. Febr. a. ec. sub Nr. 73,
in dem mitgetheilt wird, daß der Miniſter des Innern den
Souverneur davon benachrichtigt Habe, dag im Hinblid auf
den engen Zuſammenhang der Stirchipielsordnung mit der
allgemeinen Frage der Neform der Landſchaftsverfaſſung
in den baltischen Gouvernements eine gejonderte Prüfung
des Projekts der Kirchipielsordnung nicht zweckmäßig erjcheine,
jowie daß dieſes Projekt deshalb zur Zeit feinen weiteren
Fortgang haben, jondern bei der Prüfung der allgemeinen
Frage der Landichaftsreform in den Gouvernements Ehjtland
und Livland werde in Erwägung gezogen werden. (Balt.
Chr. 1, 93— 96.) — 2) ein Edhreiben des ehitländischen
Souverneurs v. 7. Febr. a. c. sub Wr. 46 und der diejem
Schreiben beigefügte Ukas des Dirigivenden Senats vom
20. San. a. c. sub Nr. 377 betreffend den Unterhalt der
Harriichen Kreis Wehrpflichtsfommilfion. Der Gouverneur
hatte zum Unterhalt bejagter Kommillion aus der Ritter:
ſchaftskaſſe außer der bisher gezahlten Summe eine weitere
von 549 Rol. verlangt, die der ritterichaftlihe Ausschuß
mit der Begründung, daß aud die Stadt Neval zu dieſem
— 90 —
Zweck beiſteuern müßte, verweigert hatte. Der Senat hat
dahin entſchieden, daß bis zur Emanirung eines Geſetzes,
nach dem auch die Stadt Reval herangezogen werden könne,
die ehſtländ. Ritter- und Landſchaft 255 Rbl. jährlich zu
leiſten habe, während der Reſt von der Krone gezahlt werden
folle. — Der ritterichaftl. Ausichluß bejchließt die Arbeiten
der Kommiſſion zur Wusarbeitung eines Entwurfs einer
Wege: und Brüdenbau-Ordnung dem nächſten ordentlichen
Landtage vorzulegen. — Der ritterihaftlihe Ausſchuß über:
nimmt auf Antrag der Kaiſerl. Livl. Defon. Sozietät eine
Sarantiefumme von 3000 Rbl. für die IV. baltifche land-
wirthichaftlihe Zentral-Ausftellung in Riga, erjudht den
Nitterfchaftshauptmann, die ehitländijche Ritter: und Landſchaft
im Ausjtellungsrath zu vertreten, und jtiftet für Die Rindvieh—
Abtheilung der Ausftellung einen Ehrenpreis von 500 Rbl.
(Balt. Chr. I, 79 u. IL, 39.) — Der Ausschuß befchließt
das noch brauchbare Diaterial der Gebäude des ehemaligen
Lehrerfeminars in der Nuckoe zu verfaufen. — Abgelehnt
wird ein Geſuch des griehiich:orthodoren Priefters zu Kuimetz,
außer dem von der Ritterſchaft dem griechiich-orthodoreu
Konfiftorium abgetretenen Grundſtück von fünf Defjätinen
noch eine Landparzelle zur Anlage eines bei der griechiſch—
orthodoren Schule in Kuimeg einzurichtenden Muftergartens
für Obſt- und Gemüſebau und Bienenzucht diefer Schule
zu überlaffen.
12. März. Die „Kurl. Gouv.Ztg.“ berichtet: Der Neichrath Hat
verfügt, zur Unterjtügung der ruſſiſchen Vereine im baltiichen
Gebiet 28,500 Rbl. aus der Neichsrentei abzulaffen, mit
der Beſtimmung, daß dieſe Unterjtüßung auf drei Jahre
vertheilt werde, wobei den Rigaſchen, Revalichen und Mitaufchen
Vereinen jährlich 3000 Rbl. und dem Jurjewichen Lehrer—
verein „Rodnik“ jährlid 500 Rbl. auszufehren find. ©. Mai.
der Kailer hat dieſe Verfügung am 16. Februar 1898 zu
bejtätigen gerubt.
R Im Rigaſchen Gewerbeverein hält Direftor emer, ©.
Schweder einen Vortrag über die „Nothwendigfeit,” die
Petersburger Lokalzeit in den Djtjeeprovinzen einzuführen.
13. März. Der frühere Rigaſche Polizeimeiiter Oberft Wlaſſowſki, der Ipäter
13.
14.
Oberpolizeimeijter in Moskau war und gelegentlich der Unterjuchung der
Urſachen der Kataftrophe auf dem Chodinſki-Felde aus dem Dienſt ent
lafjen wurde, wird wieder in Dienjt geitellt — und zwar bei der Kavallerie,
unter Zuzählung zum Minijterium des Innern.
„Als weltliche Beifiger des ehitländifchen evangeliſch—
lutheriihen Konfiftoriums find Baron Roſen und Graf
Sgelitröm betätigt worden.
= Ein Ortsftatut über die Ordnung an den Babdeorten
am Rigaſchen Strande wird vom livländiichen Gouverneur
erlaffen und in der Nr. 28 der „Livl. Gouv..Ztg.” publizirt.
. Die Nigafchen Blätter veröffentlichen ein Gutachten
des Geheimen Bauraths Hobrecht aus Berlin über das
vom Stadt-Oberingenieur A. Agthe aufgeftellte und in
Technikerkreiſen vielfah abfällig beurtheilte Kanalijations-
Projekt für die Stadt Riga. Baurath Hobrecht billigt das
Brojeft.
» Das Januarheft der „Zirf. für den Rig. Lehrbez.”
enthält die Eintheilung des Lehrbezirts in Volksichulrayons.
Danad) zerfällt Livland mit Oeſel in 9, Kurland in + und
Ehjtland in 3 Volfsichulrayons mit dem Sitz der Volksſchul—
injpeftoren in Riga, Walf, Jurjew (Dorpat), Bernau und
Arensburg; — Mitau, Libau; — Reval und Mefenberg.
. März. Eine Zufchrift an die „Nordlivl. Ztg.“ „Ueber die
baltiſchen Mädchenichulen und die Ausbildung deutjcher Er:
zieherinnen” weiſt darauf hin, daß in Folge der Nuffifizirung
der Schulen unfere Provinzen bald nicht mehr in der Lage
fein werden, der aus dem Innern des Reichs kommenden
und fi) immer mehr fteigernden Nachfrage nad) deutjchen
Gouvernanten, Erzieherinnen und Bonnen zu genügen. Denn
die wenigen beutichen Spracjftunden, die in den heutigen
Schulen vielfah nicht einmal obligatorisch find, vermögen
nicht die nöthige Vorbildung für eine deutiche Lehrerin zu geben.
„Laut Allerhöchſt beitätigtem Beſchluß des Neichsraths
wird Die Penfionsberechtigung der Lehrer an den Stadt:
Ihulen im Rigaſchen Lehrbezirt der der Kreisfchullehrer
gleichgeftellt. Die Hilfslehrer an den Stadtichulen des Neichs
jollen im Fall ihrer Benfionirung 200 Rol. Jahrespenjion
erhalten.
—82 —
14. März. Die livländiſche Gouvernementsbehörde für ſtädtiſche
Angelegenheiten weiſt eine Beſchwerde der Jurjewſchen
(Dörptſchen) Wähler A. Grenzſtein (Redakteur des „Olewik“)
C. Müller und Genoſſen wegen angeblicher Ordnungs—
widrigkeiten bei den Stadtverordneten-Wahlen in Jurjew
(Dorpat) als unbegründet zurück. Der Gouverneur beſtätigt
die Wahlen vom 19. Febr. und die Ergänzungswahlen vom
6. März.
15: .z In Jurjew (Dorpat) ftirbt der Senateur Baron Aler.
Stadelberg, der in verschiedenen Reſſorts den größten Theil
feiner Thätigfeit den Ditfeeprovinzen gewidmet hat und in
den Jahren 1880 —1854 Kurator des TDVörptichen Lehr:
bezirfs war.
16. „ Der Minifter der Landwirthichaft und der Neichs-
domänen theilt der Direktion des Rigaſchen Gartenbauvereins
unterm 22. Febr. mit, daß ©. Maj. der Kaifer am 16.
Febr. c. zu genehmigen geruht hat, daß Ihre Kaiſ. Hoheit
die Großfürjtin Maria Pawlowna den Rigaſchen Gartenbaus
verein unter ihre hohe Proteftion nehme.
17... 5 Das Minijterium der Bolfsaufflärung hat die Erflärung
erlaifen, daß die Anipeftoren der Gymnaſien und Realichulen
fein Recht haben, Penfionäre zu halten.
„ An die'em Teoge vor fünfzig Jahren hielt Fürſt
Suworow feinen Einzug als Generalgouverneur in Riga.
Die Nigaichen Blätter bringen zur Erinnerung an jenes
Ereigniß, das den böfen Tagen der Dranglale (Chanykowſche
Kommilfion) ein Ende bereitete, warme Gedenfartifel. Alle
feiern den loyalen Zinn des Fürften, der fih nie eine Ein-
miſchung in verfallungsmähige Autonomien erlaubte, höhere
Bevormundung abzuwehren verjtand, die berechtigten und
verbürgten Intereſſen der ihm unterjiellten ‘Provinzen zu
wahren bedacht war und der Brutalität jeiner Gegner immer
den Standpunkt des Nechts entgegenjegte, ohne ſich jemals
unter irgend welche, in Kanzleien und Nedaftionsjtuben
ausgehedte, doftrinäre „Ideen“ von Staat und Reich zu
beugen. Das Geheimniß jeiner jegensreihen Thätigkeit
bejtand in feinem feinfinnigen Verſtändniß für die hiſtoriſch
entiwicelte Eigenart der Provinzen, in feiner Fähigkeit, Die
18.
=
Initiative der Stände und der Geſellſchaft zu mweden, und
nicht zuleßt in feiner forglamen Pflege höherer Güter, —
mochte es fich dabei um Forderung auf dem Gebiete der
Armenfürforge, um die Begründung eines Polytechnifums,
um den Neubau eines Theaters handeln oder um Die
Freiheit des Gewillens und des Wortes. Die baltiiche Preſſe
verdankt dem Fürften Suworow die Befreiung von drücdenden
und einengenden Beſchränkungen. Unter feiner Aegide ift
auch die „Baltifche Mronatsichrift” begründet worden, ev hat
ihr die Mege geebnet. Sumorow hat in dieſen Provinzen
gewaltet nicht wie ein Eatrap, wohl aber wie ein Fürft.
19. März. Es ift 3000 Duchoborzen „erlaubt” worden binnen Monatsfrift nach
20
”
21.
23.
Amerifa auszumandern.
. März. Die Stadtverordneten:VBerfammlung in Jurjew (Dorpat)
wählt den bisherigen Stadtiefretär Viktor v. Grewingk zum
Stadthaupt.
" Der Minifter der Landmwirthichaft und der Reichs—
Domänen bejtätigt die Statuten der im Serbit 1897 ge:
gründeten „Erfteu Ehſtländiſchen landmwirthichaftlihen Ge:
noſſenſchaft.“
„ Stadtverordneten-⸗Verſammlung in Fellin: Zum Stadt—
haupt wird Otto Baron Engelhardt gewählt. Die Wahl
vom 7. Mär; war vom Gonverneur kaſſirt worden.
* Die neubegründete franzöſiſche Wohlthätigkeits-Geſellſchaft in Riga
hält ihre erſte Generalverſammlung ab. Der livländiſche Gouverneur
Generalmajor Sſurowzew wird zum Präſidenten gewählt.
— Eine Allerhöchſt beſtätigte Reſolution des Miniſter—
Komités erlaubt der evangeliichen Brüder-Gemeinde den
Verkauf ihrer Immobilien in Liv: und Ehjtland.
12.— 24. März. [Mußerordentlicher livländifcher Landtag.)
Die VBorichläge der vom Landtage des Jahres 1896 ernannten
Kommiſſion zur Reform der Grundjteuern werben im Großen
und Ganzen angenommen und Jollen auf Grund der Beſchlüſſe
des Landtages und des dem Landtage folgenden Adels:
fonvents, jofern leßterem die Erledigung einzelner Detail:
fragen vom Landtage übertragen worden war, der Staats:
regierung als Geſetzesvorſchlag zur Beltätigung auf legis-
lativem Wege vorgeftellt werden. — Der Landtag ſpricht feine
volle Zuſtimmung zu den von der Ritterſchaftsrepräſentation
— 04 —
in Sachen der Volksſchule gethanen Schritte aus (B. Chr.
I, 107 u. IL, 44). Der Landtag erſucht darauf den Land—
marjchall, die einleitenden Schritte zum Zweck der Befreiung
der Nitterichaft von der Verwaltung der Wolfsichulen zu
thun (Balt. Chr. I, 107). Die Plenarverfjammlung des
Adelsfonvents wird bevollmächtigt, alles weiter Erforderliche
wahrzunehmen. Weiter wird beichloffen, die Oberfirchen:
vorjteher und Kirchenvorſteher aufjufordern, fih im Verein
mit der Geiltlichfeit um die Förderung des Haus: und
Konfirmationsunterrichts in jeder Meile zu bemühen, und
zu diefem Zweck an das livl. evang. luth. Konfiltorium das
Erſuchen zu richten, wenn möglich bereits zum Herbjtfonvent
a.c., behufs weiterer Bearbeitung für den nächſten ordinären
Landtag, ein Gutachten darüber einzureichen, in welcher
Weile der den Kindern der bäuerlichen Bevölferung zu
ertheilende Hausunterricht durch die im Gelege vorgejehene
gemeiniame Thätigkeit der Kirchenvorfteher und Prediger,
ſowie auch der Konfirmationsunterriht in wirffamer Weiſe
gefördert werden könnte. — Es wird eine zehngliederige
Kommilfion (Stipendienkollegium) erwählt, die mit der Ver—
wendung des zu Schulzwecken ausgeworfenen und weiterhin
noch zu bemilligenden Kredits betraut wird. Die Plenar:
verlammlung des Noelsfonvents und dieſes Etipendien=
follegium werden autorifirt, ſowohl in der Provinz als
außerhalb bderjelben, jedes mit den bejtehenden geſetzlichen
Vorſchriften im Einklang jtehende Unternehmen zu fördern,
das dazu dient, dem Unterricht in der Mutterjprache ſowohl
in Zehranjtalten, als in Benfionaten und im Dausunterricht,
weitere Ausdehnung zu geben. Die vom Adelsfonvent im
Dezember v. I. dem Landtage überiwiejenen Anträge auf
Abänderung der Bellimmungen über die Subventionirung
von Privatpenfionaten werden dem Stipendienfollegium behufs
Borlage an den Ndelsfonvent überwieſen (Balt. Chr. IL, 27).
— Nach Kenntnignahme des Berichts über die Demarden
der Nitterichaftsrepräjentation in Beziehung auf die Beſetzung
der Aronsbeamtenjtellen in Yivland wird beſchloſſen in Betreff
diefer Angelegenheit Feine weiteren Maßnahmen zu ergreifen
(Ball. Chr. I, 100). — Der Landtag erklärt fi) mit dem
— 5 —
von einer Kommillion ausgearbeiteten Entwurf eines An—
erbenrechts für Nittergüter in Livland im Prinzip einver:
jtanden und beauftragt den Adelskonvent, die leitenden
Geſichtspunkte für einen ſolchen Entwurf feitzujtellen und
die Kommilfion dur die Mahl eines zu den Arbeiten der
Kommilfton heranzuziehenden Juriſten zu verftärfen. Die
Kommiljion wird beauftragt, den Entwurf nochmals durch—
zuarbeiten und ihn dem nächiten ordentlidden Yandtag vor:
zulegen. Die Oeſelſche Nitterfchaft joll erjudht werden an
den SKommijlionsarbeiten durch einen Delegirten theilzu-
nehmen. — Es wird ein Antrag angenommen, der dahin
geht, die Regeln über ein Anerbenrecht für den Kleingrund—
bejig auf das Gehorchsland zu beichränfen, ohne Rückſicht
auf die Standeszugehörigfeit der betreffenden Grundbefiger,
und demgemäß eine ergänzende Vorjtellung an die Staats—
regierung zu maden. (Der Entwurf eines bäuerlihden An:
erbenrechts für Livland, vom Streisdepulirten von Richter
ausgearbeitet und vom Adelskonvent angenommen, wurde
bereits im Dezember 1895 behufs Erwirfung der Bejtätigung
dem livländiihen Gouverneur vorgeftellt; die Bejtätigung
jteht jedoch bisher nod aus.) — Ter Landtag beichließt für
Dtto v. Mengden zur Erinnerung an die Wiederaufrichtung
des livländiſchen Landesjtaates im Nefidirlofal an geeigneter
Stelle eine Gedenktafel anzubringen. — Der Landtag trifit
Beitimmungen über das Berfahren in Beziehung auf die
Ausſchließung von Edelleuten aus der Matrifel im Falle
ihrer Zugehörigkeit nicht nur zur ritterjchaftlichen Korporation
ihrer Heimathprovinz, ſondern auch noch zu den Matrifeln
anderer baltiicher Nitterichaften und erjucht die Ritterfchafts-
vepräjentation mit den Vertretungen der anderen Ritterjchaften
behufs eines auf Grund diejer Beſtimmungen abzujchließenden
Kartells in Verhandlung zu treten. — Es wird bejchlojien,
den Verhandlungen wegen UWebertragung der Gejchäfte der
Bauerrentenbant auf die adelige Güterfreditjozietät zur Zeit
feinen weiteren Fortgang zu geben (Balt. Chr. I, 107). —
Der Landtag heißt die Begründung von Aderbaufchulen,
namentlich foldher niederer Ordnung, gut und bejchließt, die
Livländ. Gemeinn. und Oekon. Sozietät zu era Du
Verhandlungen wegen Begründung einer jolden Schule
thunlichit zu bejchleunigen und diejelben jedenfalls fo weit
zu fördern, daß der bevorjtehende ordinäre Landtag in diejer
Angelegenheit auf Grund feiter Programme und Kojten:
anſchläge Beſchluß zu fallen in der Lage iſt (B. Chr. IL, 38).
— Hinſichtlich des von der Livländ. Gemeinn. und Oekonom.
Sozietät ausgearbeiteten Entwurfs eines Waſſerrechts bejchließt
der Landtag, die Kejidirung und den Landmarjchall zu er:
juchen, fi dafür zu verwenden, daß das Provinzialredt nur
in foweit abgeändert werde, als ſolches im Intereſſe des
Yandes geboten und mit den Grundlagen des Brovinzialredyts
vereinbar erſcheint (B. Chr. II, 32 u. 35). — Der Livländ.
Gemeinn. und Tefon. Sozietät wird in Genehmigung einer
vom Dezember:Stonvent 1896 ertbeilten Erlaubniß gejtattet
die zum Beten der Fulturtechniichen Bureaus freditweile
von der Nitterichaft bewilligte Summe von 5000 Rol. aud)
für die Zwede der VBerfudsitation zu verwenden. — Der
Landtag genehmigt die vom Dezember:ftonvent 1897 der
Lioländiſchen Gemeinn. und Oekonom. Sozietät bemwilligten
Summen zur Förderung der IV. baltiichen YZentral-Aus-
jtellung und die Wahl des Landmarichalls zum Delegirten
im Wusjlellungsratd (B. Chr. IL, 39). — Dem XLivländ.
Herztetage wird zur Ausbildung von Wärtern für die Haus—
pflege Geijtesfranfer eine Jahresjubvention von 400 Rol.
aus der Landeskaſſe Dis zum nächſten ordinären Yandtage
jowie zur Herausgabe eines Yehrbudyes für das Warteperjonal
und kurzer Anmweilungen für die Angehörigen der Kranken
eine einmalige Zahlung von 50 Rol. bewilligt (B. Chr. L, 34).
— In Folge eines Antrages des Präfidenten des livländ.
Verztetages wegen Ausbildung von Landhebammen bejchließt
dev Zandtag, zur gutachtlichen Weberarbeitung des Antrages
eine Kommiſſion zu ernennen, die aus zwei Delegirten der
Hitterichaft und aus zwei Vertretern des Vereins livländ.
Herzte beſtehen jol. Außerdem jollen die Stadt Riga
und die ehſtländiſche und öſelſche Ritterſchaft aufgefordert
werden, an dem Unternehmen theilzunehmen und für die
Kommiſſion gleichfalls Delegirte zu ernennen. — In Betreff
der Verhandlungen in Sachen des Kronsbranntweinmonopols
— —
und der Krügereiberechtigung (Balt. Chr. J, 108) wird
beſchloſſen, die Aktion fortzuſetzen. — Gemäß dem von dem
Landtage des Jahres 1890 in Bezug auf die Regulirung
der Landrolle gefaßten Beſchluſſe, wurde beliebt, unter
Berüdjichtigung der feit dem Jahre 1891 regijtrirten Ver:
änderungen des Natafters eine neue Dafenrolle anzufertigen,
zu publiziven und nad) derjelben die Nepartition der in
Geld zu erhebenden Grundjteuern zu bewerkitelligen. — Zur
"Negiftrirung des jogenannten ſchwediſchen Archivs der Gou-
vernementsregierung werden der Gejellihaft fir Gedichte
und Alterthumsfunde der Djtieeprovinzen 800 Rol. jährlic)
für die Dauer von drei Jahren bewilligt. — Unter den
Eummen, die der Landtag zu gemeinnüßgigen Zweden aus
der Ritterſchaftskaſſe bewilligt find zu nennen: 150 bl.
jährlich zum Beſten des Konfirmandenvorbereitungsunterrichts
für ehjtnifche Kinder in Werro; 1000 Rbol. einmalig
zum Baufonds des Marien:Diafonijienhaufes in Riga;
1000 Rbl. einmalig zum Bau einer lettiſchen Kirche vor
der Aleranderpforte bei Niga; 2000 Rol. jährlich für den
Verein zur Verpflegung von Cpileptifern und Idioten;
1000 Rbl. jährlich zur Forderung des theologischen Studiums
an der Univerfität Jurjew (Dorpat); 1000 Rol. jährlich für
das Marien-Diakoniijenhaus in Riga; 1500 Rol. jährlich
für das Seminar des Fräul. Marie Girgenjohn in Jurjew
(Dorpat) zur Ausbildung von Yehrerinnen der deutjchen
Sprache; 5000 bl. für die Zeit vom 1. Juli 1808 bis zum
1. Juli 1899 für die Zeddelmannſche Privatichule in Jurjew
(Dorpat); 1000 Rol. jährlid), zulagsweije, für die Eltz'ſche
Brivatichule in Riga; 300 Rol. jährlih für die Schüler—
werfitatt unter Zeitung des Oberlehrers Goertz in Jurjew
(Dorpat); 720 Rbl. jährlich zur Herausgabe altlivländijcher
‘Privaturfunden und der erforderliche Kredit für eine zu
diejem Zweck zu unternehmende Reiſe nad) Moskau; 1200
Rbl. für drei Ehrenzeihen von je 400 Rbl. und 200 Rbl.
jur Herjtellung von Medaillen für die IV. baltiſche Zentral:
Austellung; 200 NbL. jährlid) für den VBorbereitungsunterricht
der Konfirmanden in Jurjew (Dorpat).
VII*
—
23. März. Der Beſchluß des livländiſchen Landtages, im Ritterhauſe eine
Gedenktafel für den einftigen Landmarichall und Landrath Otto von
Mengden anzubringen, findet dic Anerkennung der „Aurl. Gouv.⸗Zig.“
Sie preift das Gefühl der „Pietät“ — „für melden Begriff es
in der ruſſiſchen Sprache nicht einmal ein Wort giebt, wahrſcheinlich
deshalb, weil ein ſolches Gefühl in der Geſellſchaft nicht eriftirt... Man
fann nicht umbin, ein ſolches lebendiges hiftoriiches Gefühl zu achten,
da8 in den übrigen Theilen unſeres Vaterlandes leider noch jo ſchwach
vertreten iſt.“ Auch der „Riſhſti Weſtnik“ bezeichnet den Landtags»
Beihluß „würdig der Nahahmung.“
24. März. Aus dem Nechenfchaftsbericht der livländiſchen adeligen
Güter Kreditſozietät für das Jahr 1897 geht hervor, daß
diefes Jahr injofern von großer Bedeutung für die Livländijche
Kreditjozietät geweſen ift, als die lange erfehnte Herabjegung
des Zinsfußes der 5/0 Pfandbriefihulden auf 4'/2°/o während
deſſelben ftattgefunden hat und die Konverfion der 5°%/ Pfand:
briefe in 4'/2°/ im Februarmonat durchgeführt worden it.
Sleichzeitig mit diejer Herabſetzung des Zinsfußes und der
Konverfion der Pfandbriefe wurden die bisher für Die
Pfandbriefihulden angefammelten Tilgungsfonds für dis—
ponibel erflärt und find im Laufe des Jahres 1897, Die
Tilgungsfonds von 358 Nittergütern im Betrage von
1,333,965 Rbl. 77 SKop. und von 6267 Gefinden im
Betrage von 2,591,894 Rbl. 63 Kop., in Summa im
Betrage von 3,925,860 Nbl. 40 Kop. ausgezahlt worden.
Ferner iſt noch hervorzuheben, daß im Jahre 1897 die
Pfandbriefichuldner präziier ihre terminlidden Zahlungen
geleiftet haben, als in den leßtverfloffenen Jahren; Die
Reſtanz derjelben hat fih vom 1. Januar 1897 bis zum
1. Januar 1898 um 162,752 bl. 91 Kop. vermindert;
am 1. Januar 1897 betrug diejelbe 538,997 Nbl. 52 Kop.,
am 1. Januar 1898 dagegen 376,244 Rbl. 61 Kop. Das
der Cozietät verpfündete Arcal an Nittergütern beträgt
1,441,714 Deijätinen bei einem Schätzungswerth von
40,428,000 Rbl. und einer Pfandbriefihuld von 13,420,000
Rbl.; vom Gefindearcal find verpfändet 1,260,842 Dejjätinen
im Schätzungswerth von 48,595,000 Rbl. mit einer Schuld
von 28,237,700 Rbl.
25. u. 26. März Beſchlüſſe des Adelsfonvents.)] In Er:
füllung der Bejchlüffe des Landtages vom März c. megen
—
Feſtſtellung leitender Grundſätze für die Kommiſſion zur Aus—
arbeitung eines Anerbenrechts für die Rittergüter beſchließt
der Konvent, daß die Kommiſſion von folgenden Geſichts—
punkten auszugehen hätte: a. das Anerbenrecht iſt fafultativ
neben dem Rechtsinſtitut der Erbgüter mit möglichſter Be—
ſchränkung aller Formalitäten einzuführen; b. die Integrität
des Beſtandes eines Anerbengutes iſt möglichſt zu wahren;
e. die Sukzeſſion in Anerbengüter iſt feſt zu regeln, unter
Bevorzugung der männlichen Erben; d. dem Anerben ijt ein
Voraus zu gewähren und außerdem durch Befrijtung der
Auszahlung der Antheile feiner Miterben am Anerbengut
die gedeihliche Fortführung der Gutswirthichaft ficherzuftellen.
Weitere Abänderungen des Privatrechts follen hierdurd nicht
abgefchnitten fein. — In Folge des ablehnenden Antwort:
Ichreibens des livländiichen Gouverneurs auf die wiederholte
Vorftellung in Betreff der Wahl der Delegirten vereinigter
Gemeinden für die Kirchenfonvente wird beſchloſſen, nochmals
Ichriftliche und eventuell auch mündliche Vorjtellung im Sinne
des Konventsbeichluffes vom Dezember 1897 (B. Chr. II, 38)
und unter befonderem Hinweis darauf zu maden, daß die
Antereifen der Höfe und der denjelben entiprechenden Bauer:
Ichaften an den Angelegenheiten der Kirchenfonvente derartig
eng mit einander verbunden find, daß die Möglichkeit korre—
pondirenden Handelns diejer Höfe und Bauerfchaften auf
den Konventen unbedingt geichaffen werden muß. Für den
Fall, daß dieje Vorftellungen feinen Erfolg haben, find die
Nefidirung und der Landmarſchall zu erjuchen, bei dem
Minifterium des Innern eine dahin gehende Anordnung zu
erwirfen. — Zur Unterftügung der von mehreren Predigern
des ehftniichen Theiles von Livland herauszugebenden
riftlihen Wolksichriften wird die Summe von 600 Rbl.
als einmalige Zahlung aus der Nitterichaftsfajfe bewilligt.
26. März. An der „Pet. Gaſ.“ stellt Frau Luchmanowa die preußiſche Volks—
ſchule als Muster dar, dem die ruſſiſche folgen müſſe, falls fie überhaupt
proſperiren wolle.
27. März Das Miniſterium der Vollsaufflärung hält es, wie
die „Pet. Med.“ berichten, für möglich, daß Perſonen, Die
in einer mittieren LYehranftalt das Eramen bejtanden haben,
— 100 —
wegen Raummangels aber in dieſe Anſtalt nicht aufgenommen
werden können, auf Grund eines Atteſtates der Eintritt in
eine andere Anſtalt ohne neue Prüfung gewährt wird.
27. Mär. Die „Now. Wremja“ berichtet über den livländiſchen
Landtag und bemerft zu der Bewilligung von 500,000 Abl.
für eine Natafterrevifion folgendes: „Was würden die Zeitungen
eines gewiſſen Lagers Jagen, wenn irgend eine von unferen
Semſtwos Summen bis zu 500,000 Nbl. für ftatijtiiche
und Meilungsarbeiten afligniren würde? Weld ein Weh—
geheul würde über die „zeritörende” Semſtwoſtatiſtik erhoben
werden? Die bultiichen Edelleute aber alligniren eine jo
wichtige Summe ohne Weiteres, ohne aucd nur mit ber
Wimper zu zucken.“
Es wird ein Allerhöchſter namentlicher Erlaß an den
Finanzminiſter publizirt, der befiehlt: „1) bei der Emiſſion
von Silbermünze darauf zu achten, daß die Geſammtmenge
dieſer Münze, ſowohl der vollwerthigen (Rubel, Halbrubel,
Viertelrubet), als auch der Scheidemünze (zu zwaänzig, fünfzehn,
zehn und fünf Kopefen) im Umlauf, eine Eumme nicht über:
jteige, die dreimal größer ift, als die Bejammtzahl ver Be:
völlerung des Reichs; 2) die obligatorische Annahme von
vollwerthiger Silbermünze im Privatverfehr bis zu 25 Rubel
bei jeglider Zahlung feitzuießen, während die Nenteien und
Regierungskaſſen dieſe Münze zu jeglicher Summe bei allen
Zahlungen anzunehmen haben, mit Ausnahme der Zolljteuer
und der leid) diejer in Bold zu erhebenden Steuern, deren
Entrihtung in Silbermünze bis zu einem Betrage unter
fünf Nubel (ein Drittel Imperial) bei jeder Zahlung zu
geftatten ift, und 3) alle hinfort in Silberrubeln zu machenden
Berechnungen, Eingänge, Ausgaben, Zahlungen und jegliche
Beträge in Geldrechnungen, Alten und allen Geſchäfte
überhaupt in Rubel, die gleich find einem fünfzehntel
Imperial, zu bewerfitelligen.” Durch dieſen Erlaß wird
aljo das zuläffige Quantum des Eilbers als Hilfsmünze
genau feſtgeſetzt (circa 390 Millionen), die Annahme der
vollwertbigen Silbermünze im ‘Privatverfehr geregelt und
der „Zilberrubel” von 4 Solotnik 21 Doli reinen Silbers
durch den dem fünfzehnten Theil eines Goldimperials ent:
— 101 —
fprechenden „Nubel” als Münzeinheit des ruſſiſchen Neiches
erjeßt. Was die Scheidemünze betrifft, jo bleibt die alte
Hegel beſtehen, nad) der von Privatperjonen nicht mehr als
drei Rbl. diejes Geldes entgegengenommen zu werden braud)t.
Mit dem Erlaß ericheint die Valutareform in ihrem auf
das Münzſyſtem bezüglichen Theil vollendet. Nicht endgiltig
entschieden iſt zunächſt die Frage der Emifjionstechnif, d. h.
wie die verſchiedenen Geldzeichen zu emittiren ſind, und wie
man dieſe Operation zu kontroliren bat.
28. März. Ein Allerhöchjter Ukas verfügt die Enteignung von
5160 Deſſätinen zum Bau der Strede, die auf dem fürzejten
Wege Moskau über Welifije Luki mit Stockmannshof oder
einer anderen Station der Riga-Oreler Bahn zu verbinden hat.
— — Die in Berlin erſcheinende „Tägliche Rundſchau“ beklagt den Rückgang
der deutlichen Sprache in Petersburg und die ſchnelle Verrufjung der dort
lebenden Deutjchen.
29., Vor der Kirche zu Oppekaln (im Walkſchen Kreiſe)
fommt es zu einem großen Erzeß bei der Introduktion des
Bajtors Osfar Treu, der zum Amtsnachfolger feines ver:
jtorbenen Vaters gewählt worden war. Als der Introduzent
mit dem SKirchenvorjteher Baron Delwig bei der Kirche
vorfährt, wird beiden Herren der Eingang ins Gotteshaus
verwehrt und die vor der Kirche zahlreid) verſammelte lettische
Gemeinde drängt fie gewaltfjam zurück. Der Propſt und ein
alfijtirender ‘Baltor halten Diahnreden an das lärmende Volk,
doch ohne Erfolg, und die Paſtoren wie die deutichen Ein:
aepfarrten müſſen von den Durrabrufen des Volfes begleitet,
unverrichteter Sache die Kirche verlajlen. Die ‘Polizei, die
verhältnißmäßig zahlreich vertreten war, vermag der Menge
gegenüber nichts auszurichten. Der örtlide Propft inftallirt
jedoh Herrn Treu als Paſtor zu Oppelaln, welcder ver:
pflicdhtet wird, alle nothiwendigen Amtshandlungen im Kirchſpiel
zu vollziehen, während die Kirche zunächſt geichloiien bleibt.
Bi, :% Vor dem Friedensrichter in Oberpablen kommt der
Ueberfall des Paſtors Wittrod in der Oberpahlenjchen Kirche
(B. Chr. . J prozerfualiich zur Verhandlung. Leber den
Sachverhalt hatte die Polizei ein Protokoll aufgenommen.
Die Polizei war der Anſicht geweien, daß Störung des
— 102 —
Sottesdienftes in der Kirche vorlag und die Angelegenheit
deshalb vor das Bezirksgericht fompetirt; fie hatte darum
die Angelegenheit dem Unterjuchungsrichter übergeben. Diejer
jedoh fand, daß der Gottesdienjt noch nicht angefangen
hatte, weil der Paſtor die Kirche noch nicht hatte betreten
fünnen, obwohl die Gemeinde bereits das Eingangslied jang.
Daher fünne jeiner Meinung nah nur auf Grund des $ 35
des Gejeges über die von den Friedensrichtern zu ver:
hängenden trafen eine Anklage erhoben werden. Auch
Paſtor Wittrod Hatte wegen Ehrverlegung eine Klage an-
gejtrengt und verlangt, dab die Sache nicht vor dem Friedens:
richter, jondern vor dem Bezirksgericht abgeurtheilt werde.
Der Unterfuhungsrichter ließ jedoch dieſe Forderung un:
berückſichtigt. Im Friedensgericht waren 18 Perſonen vor:
geladen; Paſtor Wittrod erihien nit. Die Angeflagten
befennen jich nicht für jchuldig (!), doch wird ihre Schuld
von den Zeugen dargethan. Nach den Ausjagen des jüngeren
Kreischefgehilfen hatten die Weiber ihr Werk in der Abjicht
gethan, um von dem Prediger loszufommen, denn fie hätten
gehört, ein Pastor könne nicht mehr im Amte bleiben, wenn
ihm während des Gottesdienjtes die Bäffchen abgeriſſen
werden. Gleich nad dieſem Vorfall jei denn aud beim
Konfiftorium eine mit mehreren Unterfchriften verjehene
Petition eingereiht worden, Paſtor Wittrod feines Amtes
zu entheben, da ihm die Bäffchen in Fetzen gerilfen worden
jeien. Der riedensrichter verurtheilt auf Grund des S 35
des Gejepes über die von den Friedensrichtern zu ver:
hängenden Strafen die Angeklagten zu einen Monat Arreit;
die Klage des Paſtors Wittrod aber jchlägt er in Folge
des Nichtericheinens des Klägers nieder. Paſtor Wittrod
hat gegen die Enticheidung des Unterfuhungsrichters und
des Friedensrichters eine Beichwerde angejtrengt. Nach evan-
geliiher Anichauung wird der Goltesdienſt durd die Gemeinde, nicht
dur den Paſtor eingeleitet, und da die Störung in einer evangeliichen
Kirche itattfand, jo kann natürlich nur die evangeliſche Auffafiung gelten.
Die Polizei hat aljo mit ihrer Auffaffung durdhaus Recht. Außerdem
liegt aber noch ein Gemwaltaft gegen eine Amtsperſon vor.
—
31. März. In der Preſſe wird darauf hingewieſen, daß die Ver—
31.
waltung des Rigaſchen Lehrbezirks Perſonen aus dem Lehrer—
ſtande die aktive Betheiligung an der freiwilligen Feuerwehr
verboten habe.
„ In MWMarien-Magdalenen in Ehſtland kaſſiren die Gemeinde—
Verwaltungen auf Befehl des Gouverneurs die Strafgelder
für die Verſäumniſſe der Schulfinder ein. Solches geichieht
zum erjten Mal, bisher blieb es nur bei der Drohung.
" Im „Graſhdanin“ tritt ein alter Pädagog gegen die Beſchuldigung
der Hergenshärtigfeit feiner Kollegen auf. Seiner Meinung nad ijt das
Spymnafialftatut vom Jahre 1871 an Allem ſchuld. Es habe die Herz»
lichfeit und Wärme im Verfehr zwiichen Lehrern und Schülern aufgehoben
und fordere von den Lehrern nur Die offiziellen Beziehungen zu den
Schülern, wodurch der fittliche Einfluß der Lehrer volllommen paralyjirt
und an der Wurzel abgejchnitten werde. „Den Gnmnafien wurde jede
Initiative in der Leitung ihrer Angelegenheiten genommen; Alles Täuft
auf erafte Erfüllung der vorgeichriebenen Regeln, die in verichiedenen
Verordnungen und Verfügungen feitgefegt find, heraus. Iſt es dann
gu vermundern, daß mande Pädagogen fih in Burcaufraten verwandelt
haben?”
A In Friedrichftadt wird von der Stadtverordneten-Xer-
fammlung das bisherige Stadthaupt Dr. Adolf Bienemann
wiedergewählt.
1. April. Aus Anlaß der Mihernte des verfloſſenen Jahres, die
”
beionders die Gouvernements Woroneſh, Kaluga, Kursf,
Drel, Rjafan, Stawropol, Tambow und Tula betroffen hat,
erläßt das Nothe Kreuz und das Unterjtügungsfomite der
Kaiferl. Freien Defon. Gefellichaft einen dringenden Aufruf
um jchleunige Hilfe.
” Die Revaler Blätter berichten, daß feit einigen Tagen
mit den Arbeiten am Bau der Kathedrale auf dem Dom:
berge wieder begonnen worden jei.
1. April. Der Minifter des Innern verbietet den Einzelnummernverfauf der
Zeitung „Glasnoſtj“.
2. April. Das Februarheft der Zirfuläre des Nigaichen Lehr:
bezirfs veröffentlicht folgende Allerhöchſte Enticheidung: „Der
furländifche Zandesbevollmächtigte, Graf Keylerling, hat im
Namen der furl. Ritterichaft ein allerunterthänigites Geſuch
eingereicht, der ebenerwähnten Nitterfchaft die Erlaubniß zu
ertheilen, mit ihren eigenen Mitteln ein Gymnafium auf
voI
— 104 —
folgender Grundlage errichten und unterhalten zu Dürfen:
1) Zur Erziehung und Bildung der Kinder der Edelleute
wird ein Gymnaſium ausjchlieglih mit den Mitteln der
furländiichen Ritterfchaft errichtet, das auf Koften derjelben
Nitterfchaft unterhalten werden foll. 2) Das Gymnaſium
wird in zwei Abtheilungen getheilt, in eine Flaffifche und
eine reale. 3) Auf die Zögnlinge beider Nbtheilungen des
Gymnafiums werden die Nechte ausgedehnt, die die Zöglinge
der entiprechenden mittleren Sronslehranitalten des Mini:
fteriums der Volfsaufflärung befigen. 4) Die Nitterichaft
wählt die Kandidaten auf die Poften des Direktors und der
Lehrer des Gymnaſiums und ftellt die erwähnten Kandidaten
dem Minifterium der Bolfsaufflärung zur Beitätigung vor.
5) Da durd die Erfahrung bemwielen ift, daß der Unterricht
in einigen Lehrfächern nur in dem Falle völlig erfolgreich
fein fann, wenn er in einer Sprade ertheilt wird, die den
Schülern völlig verjtändlich ift, fo wird im Gymnaſium der
Unterriht in der deutichen Spradhe in dem Umfange zu:
gelafien, in melden Die deutſche Unterrichtsiprache in
den Gymnaſien bei den evangelifch-futheriichen Kirchen in
Petersburg angewandt wird. 6) Beim Gymnaſium mird
eine Penſion errichtet, in welcher den Benfionszöglingen die
Möglichkeit einer praftiichen Hebung in der ruffiichen Sprache
zur vollen Aneignung derjelben geboten wird. Das Geſuch
des Grafen Keyſerling murde von dem Oberdirigirenden
der Kanzlei Seiner Kaiſerlichen Majeftät zum Empfang der
auf den Allerhöchiten Namen eingehenden Bittichriften am
20. Dezember 1897 Seiner Kailerlihen Majeſtät gemeldet
und der Kaiſerliche Herrſcher geruhte Allerhöchſt zu befehlen:
das bejagte Geſuch abzuichlagen, den Grafen Keyſerling
davon zu benachrichtigen und es zur Kenntniß des Minifters
der Volfsaufflärung zu bringen. — Demſelben Zirkulär
zufolge hat Seine Majejtät am 22. Nanuar 1898 gerubt,
Seine Kaiferlihe Hoheit den Großfürften Wladimir Aleran:
dromwitih als Ehrenmitglied der Jurjewer Univerfität zu
beſtätigen. — Das Februarzirfulär publizirt weiter, daß
der derzeitige Verweſer des Miniſteriums der Volfsaufflärung
in der Felliner dreiklaſſigen Stadtichule fakultativ deutichen
— 105 —
Spradunterricht zugelalfen habe und zwar für die beiden
oberften Klaſſen zu je zwei Stunden wöchentlich, die außer
der gewöhnlichen Ilnterrichtszeit bei einem Ertrahonorar von
2 Rbl. im Jahr für jeden Theilnehmer zu ertheilen find. —
Der Kurator beftätigt, wie das Zirfulär mittheilt, ſechs
einflaffige Elementarfchulen Nigas in zweiklaſſige zu ver:
wandeln und in der Moskauſchen NWorftadt zwei neue ein:
klaſſige Elementarſchulen auf Koften der Stadt zu eröffnen.
4. April. Die Ablehnung der Gefuche der Liv» und kurländiſchen Nitterichaft
aus eigenen Mitteln Gnmnafien zu errichten und zu unterhalten (ſ. oben),
wird von einem Theil der ruffiichen Preffe mit Genugtbunng begrüßt.
In einem Artifel des „Smwet“, der auf den „Riſhſki Weſtnik“ zurüdgebt,
heißt es: „Wir glauben, dab dieſe beiden mifiglüdten Verſuche, den
ruſſiſchen Staatsgedanfen vom gefunden und richtigen Wege abzulenfen,
die nimmer raftenden örtlihen Separatijten endlid davon überzeugen
werben, die Regierung ſei feit entichloffen, das Werf der Bereinheitlichung
der baltiſchen Grenzmarf mit dem übrigen Rufiland unentwegt fortzus
jegen, und dab fie den baltischen Trotz brechen werden, der immer noch
die Hoffnung begt, den vereinheitlichenden Reformen eine rüdläufige
Bewegung zu geben.“ — Die „Most. Wed.” erklären, fie hätten von
den Balten eine beffere Meinung gehabt. „Wir glaubten, daß die Spikr
führer der alten feparatiftifchen Clique im baltiichen Gebiet vernünftiger
wären und die Bedeutung der Regierungspolitif richtiger (als die Polen
und Kaukaſier) zu ſchätzen verftänden. Wie es ſich herausitellt, haben
wir uns geirrt und den Baltomanen mehr Vernunft zugeichricben, als
fie wirflich beſitzen.“
pr Der „Graſhdanin“ beipricht die „Typen unſerer Ruffififatoren”,
veranlaßt durch die vom Generaludjutanten Dragomirow anbefohlene
Mahregelung eines derfelben im Südweſtgebiet. Bejagter „Ruffififator”
hatte nad dem „Graſhdanin“ den Verſuch gemacht, ſich mit beigetricbenen
Gemeindegeldern ein Gut von 400,000 Rbl. zu erwerben. Der „Graſh—
danin” führt aus: „Wieviel Papier, Zeit und Worte find bei ber
Behandlung der Frage verichwendet worden, was wir in unjeren wejtlichen
Grenzmarten, was im Zarthum Polen machen follten, wieviel Galle und
Leidenichaft ift durch die Polemik zwiſchen den Anhängern ciner Monſtre⸗
Auffifizirung und denen, melde gewiſſe Rechte der Nationalität und des
Glaubens vertheidigten, wachgerufen worden.... Alles das war unnüte
Mühe. Nothivendig war nur eines: dasjenige, was der Generaladjutant
Dragomirow mit dem Friedensvermittler gethan hat: raſch die Sadje zu
unterjuchen und den Beamten jofort zu entfernen, wenn er fich fchuldig
erwied.... Weiter iſt nichts nothwendig! Sonderbarer Weiſe iſt aber
in unferen wejtlihen Grenzmarfen und im Zarthum Polen gerade von
diejem midtigiten nnd vielleicht einzig richtigen Mittel zur Beruhigung
VIII*
Bu —
des Landes und zu feiner Verſchmelzung mit Rukland ein bischen wenig
zu bören.” Bon den „Ruffififatoren“ feien die Einen beitechlich, bie
Andern ließen ſich polonifiren, die Dritten mären gegen die Aufgabe der
Regierung und die ruffiiche Idee vollkommen gleichgiltig. Trotzdem aber
fei fein Beamter wegen Beitechlichleit weggejagt, feiner wegen ſchlechten
Betragens gebeten worden, fid zu entfernen. (Balt. Chr. IL, 88.)
4. April. Nah dem SJahres:Beriht der Taubjtummenanftalt
Karolinenhof bei Mitau pro 1897 zählte am Schluß des
Berichtsjahres die deutiche Abtheilung 16 Zöglinge in 3
Klaſſen, die lettiiche Abtheilung 58 Zöglinge in 6 Klaſſen,
beide Abtheilungen zujammen hatten alfo 9 Klaſſen mit
74 Zöglingen. Der Konfeifion nad find 68 Yutheraner und
6 Andersgläubige.
6. „ Der bisherige Verwefer des Minifteriums des Kaiſerlichen
Hofes Baron Freederidsz ift zum Minijter des Kaiferlichen
Hofes und der Apanagen und Kanzler der Kaiſerlich Ruſſiſchen
und Zariichen Orden, unter Belaffung in der Stallmeiiter:
und General-Adjutanten-Würde ernannt worden.
D.. An diefem Tage vor 100 Jahren wurde von Kaijer
Paul I. die Neubegründung einer baltischen Zandesuniverfität
angeordnet. Schon Peter der Große hatte bei der 1710
erfolgten Kapitulation von Pernau, wohin in Folge der
Kriegesjtürme die von Guſtav Adolph 1632 in Dorpat
begründete Univerfität 1690 verlegt worden war, der liv-
ländiſchen Ritterihaft die Erhaltung der Landesuniverfität
zugefagt. Der Punft 4 der Kapitulation lautete: „Die
Univerfität in Liefland, weiln fie mit zureihlihen Einfommen
und Gütern fundiret ift, wird beybehalten, und allezeit mit
tüchtigen Profeſſoren der Evangeliich:Lutheriichen Religion
zugethan, bejfeget, auch zur commodite der Adelichen Jugend
mit Sprachen und Erercitien:Dieijtern verjehen.“ Troßdem
mußte Livland fajt 100 Jahre auf die Erfüllung der Zujage
warten. Am 9. April 1798 erfolgte der namentliche Ufas
Kaifer Pauls und am 21. April 1802 wurde, nachdem man
lange zwiſchen Mitau und Dorpat geichwanft hatte, die
Univerfität endlich zu Dorpat (Befehl Kaifer Aleranders 1.
v. 12, April 1801) eröffnet, und zwar als „ritterfchaftliche”.
Durd einen Kaiſerlichen Befehl v. 12. Dez. 1802 wurde Die
Anftalt dann der Verwaltung der Ritterſchaften entzogen
— 107 —
und als „Kaiferlihe” dem Dlinifterium der Volksaufklärung
unterſtellt. Der Adel Kurlands hatte ſich ‚Schon vor der
Eröffnung der Hochſchule von dem Unternehinen zurück—
gezogen. Livland hat bis zum Uebergang der Univerfität
an die Regierung im Ganzen 45,431 Nbl. 60 Kop. und
Ehitland 36,002 Rbl. 32 Kop. beigejtenert, Kurland nur
etwa 2000 Rbl.
10. April. Zur Illuſtration der Nothlage der Petersburger Studentenſchaft
führt die „Now. Wr.” folgende Daten an: An den Verein zur Unter:
ftügung unbemittelter Studenten der Petersburger Univerjität laufen
ungefähr in jedem Semejter 80V Gejuche um Unterftügung ein, während
der Verein zu dieſem Zwecke höchſtens über 5—6000 Rbl. verfügt, jo
daß, wenn alle Gejuche erfüllt würden, etwa 10 Rbl. auf jeden Bittjteller
entfichen.
„ Die „Mosf. Wed.“ greifen das Amt des Minilter-Staatsjefretärs
von Finland heftig an. Diejes Amt ſei überhaupt überflüfjig, werde
aber noch ganz bejonderd dadurch ſchädlich, daß ftatt ruſſiſcher Staats»
männer nur Finländer zu demjelben erwählt würden.
14. April. Der Generalgouverneur des Amurgebietes Duchowſki
15.
richtete an die Souverneure von Livland, Kurland und Ehjtland
das Erjuchen, auf Leute hinzuweiſen, die eventuell geneigt
wären, im Frühling des Jahres 1898 als Kundjchafter ins
Amurgebiet zu fommen. Nah den Nücdäußerungen der
Souverneure haben jidy aus Livland fünf Kundjchafter bereit
erklärt, an Ort und Stelle die Bedingungen der Anfiedelung
livländifcher Küjtenbewohner im Uſſuri-Gebiet fennen zu
lernen. Ebenjo rechnet man aud auf Kundſchafter aus
Ehftland. Nur in Kurland hat fi fein Kundſchafter auf:
finden laſſen.
r Der „Wejtn. Jew.“ Eonjtatirt eine erichredende Apathie der ruffiichen
GSejellihaft gegenüber den von der Mihernte betroffenen Gouvernements
und führt diejelbe auf die Einjicht in die Vergeblichkeit aller Verjuche,
zu helfen („da8 Danaidenfaß zu füllen”) zurüd.
m Der Vorſchlag des Generalgouverneurs von Warichau, den polnilchen
Sprachunterricht in den Mittelihulen der Weichjelgouvernements zu er:
weitern, ijt von Der Negierung in Peteräburg nicht genehmigt worden.”
u Der meitverbreitete Nothitand im Schmwarzerderayon giebt Herrn
Golowin den Anlaß, auf die Schäden der ruſſiſchen Agrarverfaffung
hinzuweiſen. Golowin plaidirt energiich für den Uebergang vom Gemeinde;
bejig zu erblichem nicht parziellirbarem Einzelbejig und tritt damit für
diefelbe Agrarverfafjung ein, die in den baltiihen Provinzen bereits
beitegt und dort jo häufig den Angriffen der rufliichen Preſſe ausgejegt
16
*
te
14
*
”
IV
— 108 —
iſt. Der „Graſhdanin“ zweifelt nicht daran, daß die landwirthſchaftlichen
Verhältniſſe in den Oſtſeeprovinzen im Vergleich zu den innerruſſiſchen
ein „Eldorado“ jeien und als Wujter dienen fönnten, meint aber das
wichtigite fünne man aus dem Oſtſeegebiet doch erft auf Zentralrußland
übertragen, nämlich „die geiftige Welt jener gefegneten Gebiete.“
. April. Der Minifter des Innern beftätigt die Statuten eines
Edwahlenihen (Ediwahlen in Kurland) Vereins zur gegen:
jeitigen Dilfeleiftung bei Pferdediebjtählen.
2 Die Kurländiiche Gouvern.-Sejfion für ftädtiiche An-
gelegenheiten kaſſirt den Beſchluß der Libauſchen Stadt:
verordnetenverſammlung v. 26. Febr. c. betr. die Garantie:
zeichnung von 1000 bl. für die IV. Baltiiche Zentral:
Ausjtellung in Niga.
r In Mitau findet die Schlußfteinlegung für das neue
Gebäude des Kurländiſchen Provinzialmujeums jtatt.
„ In Lodz wird das Amt eines Predigers an der derzeitigen evangeliihen
Gemeinde vafant. Der „Zwiajtan evangieliezny“ theilt mit, daß Der
Kirchenratb von den fich bewerbenden Kandidaten die genaue Kenntniß
der polniichen Sprache verlange und der Superintendent erſucht werden
jolle, daß die Probepredigten der Kandidaten nicht nur im deutſcher,
jondern auch in polnischer Sprade gehalten werden. Das genannie Blatt
wünjcht dringend, daß der Beſchluß des Kirchenrathes ſich verwirfliche.
Tie evangeliiche Gemeinde in Lodz ift in der überwiegenden Mehrzahl
deuticher Nationalität. Wird von dem zukünftigen Prediger die Kenniniß
der polnijchen Sprache in der That verlangt, jo wäre aljo in einer Der
Mehrzahl nach deutſchen Gemeinde die Wahl Deutſcher jo gut wie auss
geſchloſſen, da dieſe micht polniſch verjtehen, wohl aber die polniſchen
Kandidaten meiſt deutſch.
u In Bernau hatte der Volksihulinjpeftor verlangt, Die
„Konfirmanden VBorbereitungs-Anjtalt“ der Elijabethgemeinde
entweder zu jchließen oder in eine Clementarjchule zu ver:
wandeln, weil in ihr angeblid neben der Religion aud in
anderen Fächern unterrichtet worden wäre, Der Prediger
der genannten Gemeinde, Bajtor Hajjelblatt, erklärt in einer
Zuſchrift an die „Norblivl. Ztg.”, die Anftalt babe den
Zwed, den Kindern der ärmeren Bevölkerung die Möglichkeit
zu geben, daß jie wenigitens die für die Annahme zur Kon:
firmandenlehre nothiwendigen Kenntniffe erlangen, während
andernfalls viele von den augenblidlih die Anjtalt be:
ſuchenden Kindern ganz ungejchult blieben, da die Kontrole
des Schulbejudyes einer jtädtiichen Bevölferung unmöglich ift ;
I
ihrem Zweck entſprechend, heiße die Anjtalt „Konfirmanden:
Vorbereitungs-Anjtalt”. Es jei eine unmwahre Behauptung,
daß in der Anjtalt, außer in den Religionsfächern, aud in
anderen Unterrichtsgegenjtänden unterrichtet werde.
23. April. Der Minifter des Innern ertheilt der Zeitung „Ruſſkija Wedomojti“
die dritte Berwarnung und verbietet das Erjdeinen des Blattes auf
jwei Monate.
24. April. Die Libaufhe Stadtverwaltung Hatte die Gründung
”
eines Gemwerbeamtes bejdhlojjen, das nad) dem Muſter der
in Riga unter der Verwaltung des Gouverneurs Sinowjew
unbeanjtandet ins Leben gerufenen njtitution organifirt
werden jollte. Diefer Beſchluß ift von der kurländiſchen
Souvernementsbehörde für jtädtiiche Angelegenheiten kaſſirt
und die Kajjation durd den Dirigirenden Senat mit der
Motivirung bejtätigt worden, daß die Errichtung von Gewerbe:
ämtern in der Stüdteordnung nicht vorgejehen ſei. Ein
gleihes Schickſal hat die bez. Beſchlüſſe der Mitauer und
Windauer Stadtverordneten-Verjammlung betroffen.
M Die Walkſche Stadtverordnetenverjammlung lehnt die
vom Kurator beantragte Errichtung einer Nealichule als die
ſtädtiſchen Mittel überfchreitend ab.
1. Mai. Sämmtliche Schulmeiſter des Oberpahlenſchen Kirchipiels
erhielten vom Volksſchulinſpektor die Weiſung, im Sommer
in Pernau an den Kurſen in der ruſſiſchen Sprache theil—
zunehmen. Zugleich wurde ihnen befohlen die ruſſiſche
Gartenbau⸗Zeitſchrift „Plodowodſtwo“ zu abonniren.
— Der „Riſhſki Weſtnik“ expektorirt ſich über die Anſtellung von
Balten im Staatsdienſt im baltiſchen Gebiet. Mit Einführung der
Reformen jei die Regierung oft genöthigt geweien, die Ernennung von
örtlichen Alteingejejfenen zu Regierungspojten zu vermeiden, weil fid) bei
diejen in vielen Fällen ein Mangel an Sympathie zur reformirenden
Thätigfeit der Regierung gezeigt habe und jie nicht eifrig genug ihre
Anmweilungen haben vollitreden wollen. Würden fie aber nun mit dem:
jelben Eifer dienen und auf die Anjichten der Regierung eingehen, mie
die den Stammgebieten des Reiches Entjprofienen, „lo wird natürlich
niemand etwas gegen ihre Ernennung zu Kegierungsämtern im Lande
haben.”
2. Mai. Als Volksichulinipeftoren jollen fortan, wie einige rufjiiche Blätter
zu berichten wiſſen, nur PBerjonen mit höherer Bildung angejtellt werden,
an denen jegt fein Mangel mehr jein ſoll.
— 110 —
2. Mai. Das Minifterium der Vollsaufflärung hat vorgeichrieben,
daß Gejuche um Eröffnung von Gewerbeſchulen und technijchen
Schulen nit mehr von den Kuratoren der Lehrbezirke zu
enticheiden, jondern an die „Zentralverwaltung des Mini:
jteriums zu richten find. — Das wird die Eröffnung joldher
Schulen zweifelsohne erleichtern, und ihre Betätigung vielleicht
unter ſachlichere Gejichtspunfte rüden. (Balt. Chr. IL, 5.)
„ Kine griedijch:orthodore Sprengels-Synode beſchloß
Brojhüren religiöien und hiſtoriſchen Inhalts in ruſſiſcher,
ehſtniſcher, fettiicher und deutſcher Sprache zum reife von
1—2 Kop. herauszugeben. Der „Riſhſki Weſtnik“ ſchlägt
vor, fie mit doppeltem Texte, ruſſiſch und zugleich in einer
der anderen Spraden zu druden, was „dem immer jtärfer
fühlbar werdenden Bedürfnig” des Volfes nad) ruffiicher
Zeftüre zu gute fommen werde.
„ Die Introduftion des Bajtors in Oppefaln muß unter:
bleiben. Das in großer Zahl bei der Kirche verjammelte
Yandvolf hatte zu beiden Zeiten der Kirchenthür Spalier
gebildet und ließ die zur Feier eintreffenden deutſchen Ein:
gepfarrten unbehindert in die Kirde. Als jedod Die
Paſtoren mit dem Stirchenvorjteher und örtliden Kreischef
an der Epige erjchienen, Schloß ſich das Spalier zu einer
didhtgedrängten Volksmaſſe zulammen, wodurch zum zweiten
Dale die kirchliche Introduktion verhindert wurde. (Balt.
Chr. IL, 101.)
Pr Das neue Haus der Kinderbewahranitalt „Krippe“ in Riga wird
durch den Erzbiihof von Kiga und Witau nad griehiidem Ritus und
darauf durd) eine Nede des Überpajtors Keller eingeweiht.
£ In den „Peierb. Wedom.“ wird die ‚jrage der vielen Gramina in
den mittleren Lehranjtalten erörtert. Der Verfajjer des Arıifels äußert
zum Schluß: „Unter gemijjen beitehenden Bedingungen verliert die
Prozedur der Eramina jo ſehr ihre raison d’etre, daß jie aufhört ernit
zu fein.“
„ Die Plenarverjammlung des erften und Kaſſations—
Departements des Senats entſcheidet die Frage betreffend
das Recht des Minifteriums des Innern, in Gerichtsiachen
der Stadtverwaltungen mit Kajjationsanträgen an den Senat
zu gehen, in politivem Sinne.
— 111 —
4. Mai. Die Zahl der Unterrichtsftunden in ber ruſſiſchen Sprache
wird im PBernaufchen Gymnaſium um eine Stunde wöchentlich,
in der MWerrojhen Stadtichule in der erjten Klaſſe von 8
auf 11 und in der zweiten von 6 auf 8 Stunden wöchentlich
erhöht.
> Die Violfhe Gemeinde im MWejenbergichen Kreije
beichloß die Eröffnung einer zweiflajjigen minijteriellen Schule.
Die örtliche Preſſe fonjtatirt, daß die Bauergemeinden in letzter Zeit
häufig über die Errichtung minijterieller Vollsſchulen verhandeln. (Balt.
Ghr. II, 14.)
”„ „ Der Senat hatte am 30. März (Zirk. d. Rig. Lehrbez.
Ar. 5, herausgeg. 9. Juli 1898) die Klage des Stadthauptes
von Goldingen Armin Adolphi gegen die Verfügung des
Minijters der Volksaufllärung betreffend die Wiedereröffnung
der ſtädtiſchen Töchterſchule in Soldingen dahin entichieden,
daß die Klage ohne Folgen zu laſſen jei, weil die Stadt
laut Senatsulas vom 29. Nov. 1897 verpflichtet Sei, die
Schule zu unterhalten, die nur in Folge fünjtliher Maß—
regeln der Stadtverwaltung geſchloſſen worden ſei. Daraufhin
beichließt die Stadtverordnetenverjammlung dem Miniſter die
Bitte zu unterbreiten, die Stadt vom Unterhalt der jeche:
flajjigen Töchterſchule ſo lange zu befreien, bis in Goldingen
wieder ein öffentliches oder privates Gymnaſium eröffnet
worden ijt, und zugleich die Bemühungen um die Erlangung
eines ſolchen fortzujegen.
" "Das bisherige Stadthaupt von Goldingen Armin Adolphi
wird wiedergewählt.
4.—6. Dai. [Berihtsverhandlung in Arensburg in Saden
betr. die Unordnungen in Lümmada.] Der Thatbeitand
war folgender. Im Oftober 1894 beſchloß die Gemeinde:
ältejtenverfammlung von Lümmada auf Dejel um die Er-
richtung einer zweiflajjigen minijteriellen Volksſchule zu bitten,
indem fie ji) dabei verpflichtete den Bau und den Unterhalt
ber Schule auf Gemeindefoften zu übernehmen, wenn Die
Regierung eine jährliche Unterftügung von 1000 Rbl. gewähre.
Lepteres, ſowie die unentgeltliche Ueberlaſſung eines Grund:
jtüdes und Bau: und Brennholz aus den Kronswäldern
wurde bewilligt. Die bejiglojen Bauern jollten nun das
— 112 —
Holz fällen, die Gefindewirthe es anführen. Allmählich
erregte der projeftirte Schulbau Unwillen unter den Bauern
und als die Gemeindedeputirtenverfammlung jeden Geſinde—
wirth zu verpflichten beichloß, je drei Balken aus dem Walde
zum Bauplag anzuführen, reichten die Einwohner dreier
Dörfer am 7. Mär; 1896 dem Gemeindeältejten eine
Kollektivanzeige ein, in der fie jih von jeder Theilnahme
am Schulbau losjagten. In Folge deilen murden bie
Arbeiten auf ihre Kojten von gemietheten Leuten ausgeführt.
Aber die Beitreibung dieſer fih allmählih anhäufenden
Gelder verurſachte Schwierigkeiten, denn die Bauern leijteten
gewöhnlich hartnädigen Widerjtand. Der mit der Beitreibung
im Dorfe Auftel beauftragte Bauerfommijjar mußte ſchließlich
den Kreischef um Beijtand erſuchen. Am 23. Auguſt 1897
begab ſich daher der Kreischef perjönlid mit einer Begleitung
von ca. 30 Mann ins Dorf Aujtel, deſſen Einwohner jedod)
mit Steinwürfen und Flintenſchüſſen offenen Widerftand
leilteten, jo daß der Kreischef umzufehren genöthigt war.
Das Gericht verurtheilte nun von den Angeflagten ſechs
als Anjtifter der Unruhen und Rädelsführer und zwar vier
von ihnen zur Entziehung aller Rechte und Abgabe in
Arrejtantenabtheilungen auf 2 reip. 1 Jahr und zwei zur
Gefängnikhaft auf ein Jahr; zehn weitere Angeklagte
männlichen und weiblihen Gejchlehts zu dreimonatlicher
Sefängnißhaft, reſp. zu Arrejt von einer Woche bis zu zwei
Dionaten. Zwei wurden freigeiproden. Die Vertheidigung
hatte hervorgehoben, daß die Bauern ſich wirklich in der
drüdenditen Lage befänden, jo daß die Aufbringung der
rücjtändigen Abgaben, ca. 10 Nbl., für fie fait ans Un—
mögliche grenze. (Balt. Chr. IL, 3.)
6. Mai. Die „Sakala“ jchreibt (Nr. 18): „Der örtliche Kirchen:
fonvent wählte am 21. April den Adjunften der Peters:
burger Johannisgemeinde, Herrn G. Nofenberg, mit einer
Diajorität von drei Stimmen zum Paſtor von Groß-St.
Sohannis. „Seht, jo etwas ijt die uns angebotene ehſtniſch—
deutiche Freundjichaft! In die Numpelfammer mit ihr, die
ihre Zeit ausgelebt hat!“
— 113 —
7. April. Der Souverneur von Livland richtet an die Bauer:
fommillare ein Jirkularichreiben (Livl. Gouv.:Ztg. Nr. 49),
in dem es beißt: „Bei der Durdficht von Sachen in den
verichiedenen Behörden wird es jehr häufig bemerft, daß
die livländifchen Bauern orthodorer Konfejlion in den ihnen
aus den Gemeindeverwaltungen ausgelieferten Dokumenten,
ebenjo wie in den Gemeindeverzeichnifien mit Namen bezeichnet
werden, die in der orthodoren Kirche überhaupt nicht eriftiren.
Es ermweilt ih, daß der ihnen bei der Taufe oder ihrem
Hebertritt zur orthodoren Kirche gegebene Name in den
Semeindeverzeichniiien oft in Anpaſſung an die Namen, Die
bei den örtlichen lutherischen Bauern gebräudlid find, ab-
geändert wird. So wird Mlerander unter dem Namen
„Ado“ angeichrieben, jtatt „Gawril's“ jchreibt man „Karl“,
ftatt „Georgi“ „Jurri“ u. ſ. w.“ Daher beauftragt der
Gouverneur die Bauerfommijlare, Maßregeln zur Bejeitigung
einer ſolchen Unordnung zu ergreifen.
„ Der „Rufifi Weſtnik“ bringt eine ausführliche Abhandlung
über das Yandespräjtandenwejen und die Yandichaftsverfaffung
der Dftieeprovinzen, die ſich unter Nichtberüdjichtigung der
Brojhüre des Gouverneurs Sinowjew über dafjelbe Thema
auf Angaben eines ſ. 3. nah Ehſtland „ablommandirten
Tſchinowniks“ Rutſchenko jtügt. Der anonyme Verfaſſer
gelangt zum Schluß, daß eine alljtändiiche Semjtwo in den
Djtjeeprovinzen nicht eingeführt werden könne, weil es jeiner
Anjiht nad) an dem Material dazu, den jelbjtändigen Yand-
ftänden, dort völlig fehle. Höchſtens im Gouvernement Kur:
land, wo die Bolitifajterei auf dem Gebiete der öfonomilchen
Landesverwaltung fremd jei (in Kurland gilt die Landes—
präjtandenordnung von 1851), fünne ohne Gefahr die all:
ſtändiſche Landichaftsverfaifung eingeführt werden, Livland
und Ehjtland aber müßten dur die Schule einer jtreng
geihäftsmäßigen Kandichaftsverwaltung gehen, die ji) freihält
von aller Tendenziofität, um es fid) abzugewöhnen, in den
Sragen der Xandeswirthichaft den erjten Pla nicht den
Bedürfnijien der Mehrzahl der Steuerzahler, jondern den
Velleitäten der allem Ruſſiſchen feindlichen Kaſte einzuräumen,
— 114 —
8. Mai. Der Minijter des Innern geftattet das Wiederericheinen des im
Februar fijtirten „Niſhegorodſti Liſtok“.
8. Mai. Bei einer Gerichtsverhandlung in Jurjew (Dorpat)
”
erklärt der Vorfigende, daß er auf Grund einer Zirkular:
vorihrift bei Vereidigung der Zeugen die Berlejung der
Eidesformel nur in ruſſiſcher Sprache gejtatten könne, worauf
gebotenen Falls der Translateur fie in die örtlihe Sprache
zu überjegen habe.
— In ruſſiſchen Blättern findet eine Polemik über die Rechte der
Preſſe ſtatt. Der „Weſtn. Jewr.“ hatte geäußert: „Da der Schriftiteller:
verband das Recht erhalten bat, in den auf die litterarifche Thätigkeit
bezüglicden Angelegenheiten bei der Regierung zu petitioniren, jo fann er
nicht anders, als dieſes Redt ausnugen, um ben Berjud zu maden,
den auf der Prefie lajtenden Drud zu verringern.” Cine allgemeine
Revifion der Preßgeſetzgebung wird gerade deshalb für nothwendig
gehalten, weil dieſe Geſezggebung der Preſſe fein einziges Recht giebt,
das nicht dur einen Alt adminijtrativen Gutdünfens paralyjirt oder
beieitigt werden fönnte.“ Die Preſſe muB deshalb „die Freiheit nicht
ald ein Monopol, nit als ein Privilegium, fondern als cin Recht
wünſchen und erjtreben.“ Die „Most. Wed.” verwahren ſich gegen Die
Infinuation, daß jie mit der Lage unſerer Prefje zufrieden wären, vers
fteigen fi dagegen aber zu der Behauptung, daß feinesiwegs die Lage
irgend eines bejonderen Organs oder der ganzen Prefie überhaupt mit
dem Worte „Drud“ bezeichnet werden dürfe. Wenn der „Wejtn. Jewr.“
und der „Schriftitellerverband” einen Rechts zuſtand der Prefie berbeis
wünſchten, jo feien diefe Wünſche, folgern die „Most. Wed.“, bei einem
felbjtherrlichen Regiment unerfüllbar. Ein allgemeines Recht zum Heraus:
geben und Redigiren von Zeitungen und ZBeitfchriften könne bei uns
nicht zugelafjen werden. „Leuten, welde ihren geijtigen und fitttlichen
Qualitäten nad) vorbereitet und fähig find, die redaktionellen Obliegen«
heiten zum allgemeinen Nugen auszuüben, fann und muß die Freiheit
des gedrudten Wortes gegeben werden, denn natürlicher Weile fordert
das gedrudte Wort Freiheit und Unabhängigkeit. Den Leuten aber,
welche den zur nüglichen Zeitung eines Organs der Preſſe nothwendigen
BVorbedingungen nicht genügen — muB Diejes völlig verboten werben.“
Unter diejer Bedingung fann und muß nad der Anjicht der „Most. Wed.“
um Preßfreibeit petitionirt werden.
» Auf ein bez. Geſuch der Usmaitenihen Gemeinde wird
ihre evangeliich-lutheriiche Gemeindeihule vom 1. Juli 1898
ab in eine einflajlige minijterielle Volksſchule verwandelt
mit einem jährliden Zuſchuß von 226 Nbl. aus den Mitteln
des DMinifteriums. Es ijt die vierzehnte derartige Schule in
- 15 —
Kurland. (Minift. Verfügung v. 27. Jan., Zirfulär für den
Nig. Lehrbez. Nr. 3.)
8. Mai. In der erften Klaſſe des Alerandergymnafiums in Reval
10.
wird die Zahl ber Unterrichtsftunden in der ruffiichen Sprache
um eine Stunde wöchentlich vermehrt (Minijt. Verfügung v.
25. Jan., Zirfular des Rig. Lehrbez. Nr. 3), desgleichen in
der Vorbereitungsflafle der Realfchule in Jurjew (Dorpat)
um zwei Stunden. (Minijt. Verf. v. 10. März. Ebenda Nr. 4.)
»„ Bei der Gemeindeihule in — (? ruffüd Peitteran
BOLOCTB im Yurjewichen [Dorpater] Kreife) wird eine öffentliche
Bibliothek eröffnet. (Minilt. Verf. v. 5. Febr., Zirf. des Rig.
Lehrbez. Nr. 3.)
„» Der Chef der Kanzlei des Kaiſerlichen Dauptquartiers
Generalmajor Baron Meyendorff ift zum Kommandanten
des Kaiferlihen Hauptquartiers ernannt worden.
»„ Die „Kurl. Goub.Ztg.“ (Nr. 37) theilt mit, daß dieſer
Tage folgende Privatichulen in Kurland geſchloſſen wurden:
die jüdifhe von Iſak Schloßberg und die von Senriette
Berlau in Zabeln, die von Jaunbirs in Paulshafen, die von
Anna Kleinenberg in Libau.
— Der „Rühſti Weſtnik“ ſpricht in einem Leitartikel über die
700:jährige Jubelfeier der Stadt Riga im Jahre 1901. Allerlei Feier—
lichfeiten würden in Ausjicht genommen, die alle aus der Mitte der
deutichen Gejellichaft hervorgehen würden. Da erhebe ſich die Frage, ob
nicht auch die ruſſiſche Gejellichaft in irgend einer Meile am Jubiläum
der Stadt fich betheiligen müſſe, derart nämlich, dab diele ‚Feier gewiſſer—
maßen die Summe zöge „der ruffiihen Kulturthätigkeit“ und „ber
Fortſchritte der ruſſiſchen Sache in unferer Stadt und unferem Gebiet.”
Wie das zu bemwerfitelligen jei, bleibe allerdings näherer Ueberlegung
vorbehalten. Doh fkonne das Nubiläum 3. B. vor allem dur eine
rechtgläubige kirchliche Feier, Gottesdienite, Prozeifionen u. dergl. begangen
werden. Dem fonnten ſich anschließen Feitvoritellungen im ruffiichen
Theater, Volfsvoritellungen und »-Borlefungen, Konzerte, Feſtſitzungen der
Geiellichaft zur Förderung der ruſſiſchen Aufflärung in den baltiichen
Gouvernements u. f. wm. — Der Redakteur der „Safala”, U. Reet,
proponirt dagegen „im Namen einiger Chorleiter in der Umgegend
von Fellin“, ein großes „Trauer-Muſikfeſt“ zu veranitalten „zur
Erinnerung an die Ankunft Biſchof Bertholds vor 700 Jahren.“
" Die Blätter berichten nah dem „Neg.:Anz.”, daß zu Beginn der
Rarigation dieſes Jahres der Verſuch gemacht wurde, mit einem 125 Fuß
langen Tampfer eine Fahrt von Jurjew (Dorpat) bi$ nad) Narıwa zu
machen, der volllommen gelang.
13.
13.
14.
— 116 —
. Mai. In Narıva wird Beter Pankow zum Stadthaupt gewählt.
„ Nach der „Livl. Gouv.Z3tg.“ (Nr. 47) hat der Minijter
der Landwirthichaft folgende landwirthichaftlihen Vereine
beitätigt: den Verein für Bienenzucht in Nitau am 26. Febr.,
den landwirthichaftlichen Verein „Emujärw“ in den Kirch:
Ipielen Randen, Raweledht und Ningen am 26. Febr., den
Koöfthofichen Molfereiverband am 26. Febr., die landwirth-
Ihaftlihen Vereine in Lubahn und Laudohn am 15. März.
" Der Minijter des Innern verbietet den Einzelverfauf der „Peter
burgifija Wedomoſti.“
„ In ihrer legten Sitzung beichloß die orthodore „Bratſtwo“
in Libau einen ruſſiſchen Leſeſaal nebjt Bibliothef zu be-
gründen. Der „Rühifi Weſtnik“ begrüßt dieſen Fortichritt
„der ruffiichen Kulturſache“ im baltiihen Gebiet und bemerft
wiederholt, daß das Bedürfnig der örtlichen Bevölferung
nach ruſſiſcher Lektüre beftändig im Wachſen jei.
= Der „Riſhſki MWejtnif” weiſt darauf bin, daß Ende 1897 von den
25,355 Bauergefinden in Livland 20,300 verfauft maren (ſ. unt. 20. Mai)
und der Haufichilling Dafür, abgelehen von den An: und Abzahlungen
und der Areditigitemsichuld, im Betrage von ca. 15 Millionen Rbl. durd)
Obligationen jichergeitellt jei. Er plaidirt unter Zuftimmung der „Rig.
Rundicau” für Ablöjung diefer Schuld durch die Baueragrarbanf, denn
diefe Obligationen ſeien ſowohl für die Bauern, wie für die Gutsbefiger
ſehr drückend.
„ Die Revalſche Stadtverordneten-Verſammlung vom 22.
April (Ehſtl. Gouv. Ztg. Nr. 69) beſchließt, durch das
Stadthaupt eine Klage beim Senat einreichen zu laſſen
gegen die Entſcheidung der vom ehſtländiſchen Gouverneur
niedergeſetzten beſonderen Kommiſſion, die den Anſpruch der
Stadt auf Entſchädigung für den Schaden auf Stadtland,
den das Militär durch eigenmächtiges Strauchſchneiden ver—
urſacht, zurückgewieſen hatte.
„Eitzung der Kommiſſion zur Durchſicht von Projekten
für neue Eiſenbahnen beim Eiſenbahndepartement.) Es wird
das Projekt der „Livländischen Zufuhrbahngeſellſchaft“ geprüft,
die zwei Linien erbauen will: von Walf bis Marienburg
und von Alt-:Schwaneburg bis Stodmannshof. Die auf
eigenes Riſiko der örtlihen Gutsbeſitzer aufzubringenden
Baufoften find auf 3'/. Millionen Rbl. veranjchlagt, welde
15.
— 117 —
Summe durd Emilfion von durch die Krone nicht garantirten
Aktien (ein Viertel der ganzen Summe) und Obligationen
realifirt werden fol. Die zu erwartenden Frachten werden
auf 4! Mill. Pud, die Gefammteinnahme auf ca. Ye Mill.
Rbl. veranichlagt. Die Kommiſſion fand feinerlei Dindernille
für die Verwirklichung dieſes Projefts.
. Mai. In Wefenberg werden die ruffiichen Bolfsvorlefungen
feierlih eröffnet. Die Stadtverwaltung hat das Unter:
nehmen durch unentgeltliche Ueberlaſſung eines Lokals ge:
fördert.
„ Tuch Verfügung der livländiihen Gouvernements-
Bauerbehörde vom 20. April (Livländ. Gouv.:Ztg. Nr. 49)
werden die Verfüllihe und Turfalnfche Gemeinde in eine,
unter dem Namen llerfülliche, verfchmolzen (B. Chr. 1, 151).
„ Eine GemeindeälteitenKonferenz (die erjte derartige
Konferenz), die in Fellin mit Genehmigung des Kreischefs
zufammentritt, bejchließt, bei der Negierung um die Er:
tihtung einer Zwangsarbeitsitätte in Fellin für diejenigen
Gemeindeglieder, die ihre Abgaben nicht bezahlen, zu
petitioniren.
„» Die „Rig. Epardial:ztg.” Nr. 10 veröffentlicht die am
25. April ec. vom Erzbiichof Agathangel von Riga und Mitau
bejtätigten „Regeln über Einrihtung und Einführung von
religiös-fittlihen Vorlefungen für das Volt an Sonn: und
Feiertagen in den Sprengeln der Rigafchen Eparchie.“ Diefe
Regeln umfaſſen 10 Punkte. Die Erlaubniß zu Wolfe:
vorlejungen hat der Erzbiihof zu ertheilen. Cie dürfen
nur in den firchlichen und Schulgebäuden jtattfinden, eventuell
auch in den minifteriellen Volksſchulen. Ihre Leitung liegt
in den Händen der Prieſter unter der Kontrole der Pröpſte.
Zur Vorlefung dürfen nur vom Gelehrten-Komite des Mini—
jteriums der Volfsaufflärung oder dem Heil. Synod gebilligte
Werfe gelangen. Dieſe müſſen ohne jegliche Abänderungen
oder Ergänzungen verlefen werden, Doch dürfen einzelne den
Hörern nnverjtändliche Worte erklärt werden. Nebelbilder,
die vornehmlich religiös-fittlihen und hiftoriihen Inhalts
fein follen, dürfen mündlich erflärt werden, doc ohne alle
willfürlichen Wbjchweifungen. Als Vorleſer dürfen Die
- 18 —
Geiftlihen und die Lehrer und Lehrerinnen der Gemeinde:
Kirchenſchulen fungiren; von anderen Laien nur ſolche, deren
Zuverläjfigfeit von der zuftändigen Behörde beftätigt wurde.
Der Inhalt der Vorlefungen nebft der Anzahl der Bejucher
muß in ein bejonderes Journal eingetragen werden. Bei
Verlegung Ddiefer Regeln wird die Fortiegung der Vor:
lefungen jofort fiftirt.
15. Mai. Nach dem Nechenichaftsbericht über die rechtgläubigen
18.
19.
19.
”
20.
Landvolfsichulen des baltischen Gebiets für das Jahr 1897
(Rig. Epardial-Ztg. Nr. 10) balancirten die Ausgaben und
Einnahmen mit 32,390 Rol.
„ An Meißenftein lehnt das Stadtamt das Geſuch des
Inſpektors der jtädtiichen Kronsſchule ab, einen Theil der
Koften für die Nemonte des Schulgebäudes aus ftädtilchen
Mitteln zu bewilligen.
" Der „Zerfown. Weſtn.“ redroduzirt einen im „Internationalen
theologischen Journal“ veröffentlichten Brief K. PB. Pobedonoſſzew's an
Profeffor Michaud, betreffend die zufünftige Vereinigung der Kirchen.
Dem Profeffor hatte aus den Schriften Pobedonoſſzew's geichienen, als
ob der Synodaloberprofureur an die Möglichkeit einer Vereinigung Der
Kirchen nicht glaube. Dagegen verwahrt fi Konitantin Petromitich,
indem er Sagt: „Weit entfernt, an dieſe Möglichkeit nicht zu glauben,
fehe ich fie in weiter ‚Ferne, wie das gelobte Land.”
„ Der Reval:Weikenfteinihe Volksſchulinſpektor hat Die
Verordnung erlaflen, dab das Gehalt der Schulmeijter,
welches bisher nicht regelmäßig bezahlt worden ift, nicht
niedriger als 100 Rbl. bemeſſen fein darf, die in drei Raten
auszuzahlen find.
„ Die Kuddingiche Gemeinde im Kſp. Marien: Magdalenen
hat die Errichtung einer minijteriellen Volksſchule beſchloſſen.
er Der „Graihdanin” erflärt im Gegenjab zur „Nomwoje Wremja”
wiederholt bei Grörterung der Frage, ob das ruſſiſche Volk verpflegt
werben oder jich jelbit verpflegen foll, die Inſtitution der Gemeinde jei
eine Illuſion. Tie Gemeinde werde nichts weniger vermögen, al3 vor
dem Proletariat zu ſchützen. „Da aber in Folge der Ausmergelung des
Landes, auf weldem die Illuſion der Gemeinde beruht, die Mißernten
immer häufiger werden, jo fann man mit Fug und Recht annehmen,
daß bald eine Zeit eintreten wird, wo ein Jahr, in dem alle getreidelojen
und arbeitsunfluftigen Bauern umjonjt ernährt werden, für normal gilt.”
» Der Sinanzminifter und der Minifter des Innern haben
eine Eubvention von 4300 Rol. als Unterftügung für Die
— 119 —
ruffiichen Bibliotheken in Kiew, Shitomir, Grodno, Pologf
und Jurjew (Dorpat) ausaewirkt.
20. Mai. Cine Vertheilung der Einnahmen und Ausgaben des Staats nad
"„
Rayons ergiebt, wie aus einer offiziellen Quellen entnommenen Mit:
theilung der „Nom. Wr.” zu eriehen, folgendes Bild: es bringen an
direften und indirekten Steuern mehr ein, als fie foiten: 1) Groß:
Rußland (außer dem St Petersburger Gouvernement) 168,281,000 Rbl.
oder 3 Nbl. 22 Kop. pro Kopf der Bevölkerung, 2) das Südweitgebiet
29,470,000 Rbl. reip. 3 Rbl. 8 Kop., 3) die Tifticeprovinzen 5,501,000
Rbl. reip. 2 Rbl. 30 Kop., 4 Hleinrußland 17,252,000 Abt. reip. 2 Rbl.
26 Kop., 5) Meihrußland &S41L,000 Rbl. reip. DO Kop. und 6) Neu:
Rußland mit der Krim 6,206,000 Rbl. reip. 76 Kop. Tagegen bean:
Ipruchen einen Zuſchuß aus der Staatstafje folgende Gebiete: 1) Das
Weichjelgebiet 6,560,000 Rbl. reip. 69 Kop., 2) Finland 3,076,000 Rbl.
rejp. 1 Rbl. 22 Kop., 3) Litthauen 7,698,000 Rbl. reip. 1 RbIl. 62 Kop.,
4) Kaufajus und Transfaipien 10,775,000 Rbl. reip. 1 Rbl. 5 Kop.,
5) Turfeitan 4,875,000 Rbl. reip. 1 Nbl. 27 Kop., 6) MWeitjibirien
19,773,000 bl. reip. 2 Rbl. 14 Kop., ZI Tftjibirien 24,719,000 Xbl-
refp. 18 Nbl. 83 Hop. Zu bemerken ijt, daß bier dic Ausgaben für
das Militär nicht berüdjichtigt zu ſein ſcheinen, ſowie daß die Zoll: und
andere Einnahmen der Dafenpläge und Grenzorte unter der Einnahme
der betreffenden Gebiete nicht figuriren.
„ uUeber den Bauerlandverfauf in Livland publizirt das
jtatiftiiche Bureau der livländ. Nitterfchaft (in der Düna-tg.)
folgende Zujammenftellung nad den neuejten Daten. Auf
dem Feſtlande Yivlands giebt es 25,355 VBauerlandgefinde
der Privat, Nitterichafts: und Stadtgüter, die 1,231,453
Dejjätinen umfallen. Von diejen waren bis zum L Januar
1898: 20,913 Gefinde mit 1,030,566 Deffätinen verkauft
worden, jo daß zur Zeit bloß 4442 Gefinde mit 200,887
Dejlätinen unverfauft find. Es find mithin 84° vom
Arealumfange und fat 83 %o von der Anzahl der Gefinde
verfauft. In den einzelnen Kreifen jtellt fih das Verhältniß
wie folgt. Der Anzahl nad) find verkauft: im Rigaſchen Kreije
74 °/o der Bauerlandgefinde, im Jurjewichen (Dörptichen) 75,
im MWalfichen 75, im Bernauschen 79, im Wolmarjchen 87,
im Mendenjchen 88, im Werroſchen 89, im Fellinichen 26.
In Wirklichkeit iſt aber das Verhältni der verkauften zu
den unverfauften Gefinden ein erheblich günftigeres; denn
hier find nur die forroborirten Verkäufe gerechnet, während
eine nicht geringe Anzahl Verkäufe bereits abgejchloffen,
IX
aber noch nicht zur Korroboration gelangt ift. Unter den
jenigen Nittergutsbefigern, die nod garnicht oder nur zum
Theil mit dem Bauerlandverfauf begonnen haben, befinden
fi vielfach Nutznießer von Fideilommißgütern. Wenngleich
auch auf folhen Gütern der Bauerlandverfauf rechtlich möglid
it, fo gilt es doch, dort formelle Schwierigfeiten zu über:
winden, die den Gang der Ablöjungsoperation verzögern.
Zu den verfauften 20,913 Banerlandgefinden im Areal:
umfange von 1,030,566 Deilätinen fommen noch hinzu:
2774 verfaufte Hofs- und Quotengefinde mit 127,732
Deflätinen, fo daß fih im Eigenthum der Kleingrundbefiger
im Ganzen 23,687 Gefinde mit 1,158,298 Deflätinen be:
finden. Dieje Ziffer giebt bloß die Größe des Eigenthums
der Kleingrundbeliger an, bezeichnet aber nicht den geſammten
Kleingrumdbefig. Im deifen Größe veranichaulichen zu können,
müßte der geſammte bäuerliche Pachtbeſitz binzugerechnet
werden, was zur Zeit nicht möglich ift, weil neuere Daten
über die Verpachtung von Dofslandparzellen nicht vorliegen.
Der Kaufpreis aller Hofs-, Quoten: und Bauerlandgefinde
beläuft fih auf 771% Millionen Rubel, was durhichnittlich
67 Rbl. pro Deffätine ausmacht. Hiervon entfallen 69,250,000
Rbl. aufs Bauerland und 8,250,000 Rbl. auf das Hofs:
und Quotenland. Für den Thaler Bauerlandes (421,971
Thaler) find durchſchnittlich 164 Rbl. gezahlt worden.
21. Mai. Die „Livl. Gouv.“Ztg.“ (Nr. 36) hat eine Verordnung
veröffentlicht, die weientliche Nenderungen und Formalitäten
im Betriebe der livländiichen Kirchipielspoft einführt.
— Nachdem ſchon die „Nordlivl. Ztg.“ auf die Verminderung der Zahl
deutſcher Erzieherinnen, die bisher unſere Töchterſchulen Rußland geliefert
haben, als eine nicht gerade beabſichtigte, aber unausbleibliche Wirkung
der Reorganiſation unſeres Schulweſens hingewieſen hatte (B. Chr. IL, 91),
zeigt ein Artikel des „Narod“, daß man dieſen Ausfall dort ſchon jetzt
zu empfinden ſcheint. Er beklagt die nothgedrungene Heranziehung von
Ausländerinnen, betont, daß der Unterricht in den fremden Sprachen.
wie er in den meiblihen Inſtituten und Oymnajien betrieben werde,
nicht die Möglichkeit gewähre, dieje Sprachen auch praftiic zu erlernen,
und wünſcht für diefen Zweck die Errichtung einer mweibliden höheren
Epsgialanitalt. An Anfnüpfung an den Artikel des „Narod“ äußert die
„Rordlivl. tg.“ den frommen Wunſch einer mehr ſachgemäßen Berüd:
fihtigung der deutichen Sprache im Unterrichtsplan der baltiichen Mädchen:
— 121 —
ſchulen und giebt fich ferner die unnütze Mühe auch in der frage nadı
der Beihaffung fachwiſſenſchaftlich ausgebildeter Lehrer der deutlichen
Sprache für Rußland vernünftige Vorschläge zu machen.
23. Mai. Die „Rev. Ztg.“ berichtet über den Seehandel Nevals
27.
im Jahre 1897. Darnach betrug der Werth des Gejammt:
umjaßes 90,132 Mill. Rbl., während der Durchichnitt in
den legten 18 Jahren von 1880-1897 bloß 74,30, Mill.
Rbl. betrug. Der Erport beitrug 22,96 Mill. Pud im Werthe von
33, Mill. Rbl. (dagegen der Durchichnitt 1850 —1897: 13, Mill. Pud
im Werthe von 18,,, Mill. Abk.) Der Import beitrug 8, Mill. Pud
im Werthe von 56,, Mill. Rbl. (dagegen der Durchichnitt 1880 — 1897:
I, Mil. Bud im Werthe von 56,,; Mill. Rbl.; höchſter Stand 1887
mit 57,4 Mill. Rbl.)
» Im „Grafhdanin” urtheilt Fürft Meſchtſcherſki über die
Glieder der ruffiichen Intelligenz. Er nennt fie niedriger
und schlechter, als fie es irgendwo in Europa wären und
behauptet, fie bejtänden eigentlih nur aus “Proletariern,
Die Intelligenz refrutire fih natürlid aus den Studenten
der ruſſiſchen Univerfitäten. Dieje aber bejtänden, jehr im
Gegenſatz zu den deutſchen und engliichen Studenten, über:
wiegend aus ganz urmen “Wroletarierjöhnen (Kyxapknuuu
CIHKH), die nur durch Unterftügungen leben und jtudiren
fönnten. Das aber jollte wieder dem Stolz der Armen
widerjprechen, der ein ſehr achtbares, leider aber in den
niederen Schichten Rußlands nur felten zu findendes Gefühl
wäre. Mas käme auch aus Ddiefen Proletarier:Studenten,
die aus Noth und Sorge zu Allem fähig wären, heraus!
Im beiten Falle lappige, charakterloſe Perfönlichfeiten, im
Ichlimmeren ganz nichtsnugige und höchjt bejtechliche Leute.
(Balt. Chr. I, 49.)
» In Jakobſtadt werden Sommerkurſe in der ruffiichen
Sprade für die Lehrer der evangeliſch-lutheriſchen Volks—
Schulen des Bausfeichen Kreiies angeordnet. Ebenſo in
Neval, Weißenftein und Arensburg für die Volksſchullehrer
jener Bezirke.
„ Situngen des Konvents der livländischen Ritterichaft in
Riga. Die Beichlüffe betreffen nur Bewilligungen zu Wege:
reparaturen, Subventionirung der Zeitichrift „Pöllumees“,
Unterjtügung der von der Mißernte betroffenen Gouver:
nements 2c. IX*
N. —
27. Mat. Die Miniiter des Innern und der Juſtiz, der Verweſer des Mini:
28.
29.
31.
jteriums der Volfsaufflärung und der Oberprofureur des heiligen Synod
haben die Verfügung getroffen, die Herausgabe der in Tiflis in armenilcher
Sprache ericheinenden Zeitung „Ardſagank“ völlig zu verbieten.
„ Die Gemeinde von Berrift, Kirchipiel Pölwe, hat be
ſchloſſen, eine zweiflaffige minifterielle Volksſchule zu begründen.
„ Inm Jurjewer (Dorpater) Kreije find bisher 7 minijterielle
Volfsichulen eröffnet: in Uddern, Arrohof, Ropkoi, Kerjel,
Tochelfer (nur für Mädchen), Lohholun und Tichorna. In
legter Zeit haben auch die Gemeinden von Alt-Kuſthof,
Ellijtfer, Kawaſt, Kudding (f. 0.) und Koffora die Eröffnung
folder beichlojjen.
„ In Weſenberg wird das bisherige Stadthaupt E. Weberg
wiedergewählt.
„ Der „MWalgus” erwähnt zur Charakteriftif der ehſtniſchen
Blätter, daß der „aufrichtige, zum Staat und zum Wolfe
baltende Geift gegenwärtig in jeder des Volkes Leben be:
rührenden Sache” ſich zeige. Zuerſt habe er Diele gute
Wendung beim „Olewik“, der „Sakala“ und dem „Wirma:
line” bemerkt. In legter Zeit ift auch der „Poſtimees“
namentlih in der Agrarfrage, in der er ſich früher fehr
fill verhielt, dem „Olewik“ und der „Sakala“ nachgefolgt.
„Bott gebe, daß ein derartig friedliches Streben zum wahr:
haften Nugen des Staates und des Volkes in den ehjtnijchen
Blättern fortdauern und feines der tüchtigften ehſtniſchen
Blätter feine Segel jemals mehr vom baltischen Winde
ſchwellen liebe.“
» Zum GStabtälteften in Baltiihport wird der Kaufmann
G. Heinrichſon ermwählt.
„Dem Miniſter-Staatsſekretär von Finland wird auf fein
Geſuch der Abjchied bewilligt.
“ Der Minifter des Innern hat der Zeitung „Rufffi Trud“ den ihr
am 8. Februar entzogenen Einzelverfauf wieder geitattet. Dagegen ift
den Zeitungen „Birihewija Wedomoſti“ und „Beterb. Gajeta” das Hecht
des Einzelverfaufs entzogen worden.
Eröffnung der Oeſelſchen Predigerfynode in Arensburg.
"
1. Juni. Die ſchmalſpurige Zufuhrbahn Fellin-Reval wird Allerhöchſt
bejtätigt. Die Erfte Gejellichaft für Zufuhrbahnen in Livland,
die Erbauerin der Bahn, erhält in den erjten zehn Betriebs:
_ 133 —
jahren aus der Neichsrentei als unverzinsliches Darlehen,
im erften Jahre 30,000 Rbl. und in jedem folgenden je
3000 Rbl. weniger, das nad Ablauf von zwölf Jahren durd)
Emifjion von Ergänzungs:Obligationen zurüdzuerjtatten ift.
1. Juni. Die Gemeinden Dudershof und Kofenhof im MWolmarjchen
Kreiſe werden in eine unter dem Namen Sofenhofiche zu:
jammengezogen. Desgl. die Gemeinden Neu:Laigen und
Oppefaln unter dem Namen NeuLaitzenſche. Desgl. die
Gemeinden Meyershof, Jürgenshof und Dubinsfy bei Wenden
in eine unter dem Namen „Liveniche“ (2? Ingencras).
(Livl. Gouv.:Ztg. Nr. 62, 63, 64.)
„ Die Gemeindeverfammlung in Woiſek, Kreis Yellin,
beichließt, eine zweiklaſſige minijterielle Bolfsfchule, im
Fellinichen Kreife die erjte, zu gründen.
r Zur Frage der Namensfalamität äußert fi) der „Poſtimees“ (Balt.
Chr. IL, 1131: „Nach dem Zirfular des livländiichen Gouverneurs könnte man
glauben, dab die griechiſch-orthodoxen Ehſten ihre bei der Taufe
empfangenen Namen willfürli gegen neue umtauſchen oder abändern.
Mit der Sache verhält es ſich aber etwas anders. Die Namensänderung
fommt daher, daß die griechiſch-orthodoxen Ehjten die orthodoren Namen
nicht fennen, jondern die lutheriſchen chitniichen Namen gebrauden, die
ihre Eltern und Voreltern vor dem Uebergang zur Urthodorie getragen
haben. Die Eltern, weldye jet ihre Kinder zum orthodoren Priejter zur
Taufe bringen, verlangen für ihre Kinder die unter den Yutheranern
üblichen Namen. Der Prieiter aber ijt Anfangs natürlich dagegen und
wünscht einen orthodoren, ruffiihen Namen; die Eltern aber bejtehen jo
lange auf ihrem Wunſch, bis der Priejter äußerlid) nachgiebt. So fommt
es denn, dal der Priejter das Kind Ado tauft, ins Kirchenbuch aber den
orthodoren Namen (Alerei oder Alerander) einträgt. Der Vater giebt
num feines Erachtens einen ganz richtigen Namen für die Gemeindelijte
auf, während doc im Kirchenbuch ein ganz anderer Name verzeichnet ſteht.
— Die Einnahmen der Tudum:Taljeniden orthodoxen
„Bratſtwo“ im Jahre 1897 betrugen 2712,16 Rol., die
Ausgaben 1006,33 Rbl. (Kurl. Gouv.jtg. Nr. 44.)
”» Die Stadtverordnetenverlfammlung in Walt vom 18.
April beichloß, in Beantwortung der Korderung des Kurators:
da es doc unmöglich it, den ganzen Unterhalt einer Krons-
Nealjchule auf Stadtkojten zu übernehmen, um eine ſolche
auch nicht weiter zu petitioniren, jondern jtatt deſſen für
eine private Schule zweiter Ordnung 1350 bl. jährlich zu
alligniren.
= 1005
3. Juni. Der Aurator des kaukaſiſchen Lehrbezirks Janowifi weiſt in der
„Ruſſtaja Schkola“ auf die mangelhafte Urganijation der ruffiichen
Univerfitäten hin. Die ruffiihen Studenten hätten nicht die Möglichkeit,
ji in irgend ein Univerſitätsfach fo recht zu vertiefen. Sie mübten in
einer Unmenge von Fächern Eramina ablegen, aber mit jedem Fach
befaßten jie ſich bloß oberflählid. Dadurch würde ihmen wiederum
überhaupt Cherflädylichkeit für das ganze Leben eingeprägt. Das Nejultat
aber wäre eine allgemein bemerfbare Unfähigkeit des rufjiihen Studenten
zu jelbitändiger wilfenichaftlicher Arbeit. — Auch die „Nomoje Wremja“
fonitatirt, da Die rufjiichen Umiverfitäten nicht den Charafter einer
Universitas litterarum haben. Hierin liege die Grundurſache der wifien:
ſchaftlichen Schwäche unjerer Univerfitäten und ihrer Armuth an Spezialiiten
für die verfchiedenen Zweige des Wifjens. Die Univerjität ſei zur Ber:
leiherin von Patenten auf das Hecht der einen oder anderen Karriere,
vorzüglich aber des Staatsdienites, geworden. Dieje Vejonderheit unjerer
Univerjitäten jei ſogar recht kraß ausgedrüdt in jeinem Privileg, durch
welches der Empfänger eines Univerjitäts:Diploms gleichzeitig das Hecht
auf die 10. oder 12. Rangklaſſe beim Eintritt in den Dienſt erwirbt;
aljo das Abjolviren der Umiverjität werde gewifjermaßen dem Staatsdienit
angepaßt und als eine Art Verdienit angeichen.
a Die Stadtverordnetenverjammlung von Reval beſchließt
die Einführung der ojteuropäiichen Zeit als Normalzeit vom
1. Januar 1899 an.
ri Die furländiihe Gouvernementsbehörde für ſtädtiſche
Angelegenheiten hatte den Antrag geitellt, die Herren €.
Dielville, Präſes des Viitaufchen Stadt-Schulfollegiums, ſowie
vereid. Nechtsanwalt J. Schiemann, Glied eben diejer Be:
hörde, wegen ihrer Thätigfeit bei Gelegenheit der Um—
wandlung der jtädtiihen St. Trinitatis-Töchterſchule in ein
Mädchen-Gymnaſium dem Gericht zu übergeben. Nachdem die
Stadt über dieje Verfügung beim Eenat Klage geführt, zog
fih die Sache einige Jahre hin. Nunmehr hat der Senat
entichieden, die obengenannte Verfügung der Gouvernements-
behörde für ftädtiiche Angelegenheiten aufzuheben, da Glieder
des Stadtichulfollegiums nicht Beamte ſeien, mithin aud)
nicht nad) Maßgabe der auf Dienftvergehen bezüglichen Be-
jiimmungen dem Gericht übergeben werden könnten.
» In der zweiten Sigung des Landwirthichaftlichen Konjeils
wurde die Frage, ob das neue Geſetz über die Annahme
von Feldarbeitern die Bedeutung eines für ganz Rußland
giltigen Geſetzes erhalten jolle mit 11 gegen 8 Stimmen
— 125 —
bejaht, dabei jedoch feitgejtellt, daß es ſich auf die Oſtſee—
provinzen (ſowie das Zarthum Polen) nicht zu erjtrecden brauche.
5. Juni. Bei der ftaatlihen Nepartitions-Steuer von den Gilden:
Etabliffements nimmt Livland die fünfte Stelle unter allen
Souvernements und Gebieten des Neiches ein, indem es
200,000 Rbl. pro 1898 für diefen Zwed aufzubringen hat
und nur von den Gouvernements Moskau, St. Petersburg,
Cherſſon (Odeſſa) und Warſchau in Bezug auf die Höhe
der Steuerfumme überragt wird. Faßt man die drei fleinen
Ditjeeprovinzen zulammen — Surland hat 75,500 Rbl. und
Ehitland 25,000 Rbl. zu verjteuern — jo rüden die Ditiee-
provinzen an die dritte Stelle, indem fie mit ihren 282,500
Rbl. Nepartitionsjteuer auch das Gouvernement Cherjion
(256,750 Rbl.) überflügeln. Da der gejammte Betrag der
Repartitionsfteuer von den Gilden-Etablifjements fi pro
1898 auf 5,627,400 Rbl. beläuft, haben die Ojftieeprovinzen
rund den 20. Theil des Gejammtbetrages beizujteuern.
Außerdem haben Ne nichtgildiichen Etablijjements an Nepar:
titiong-Steuer zu prältiren: in Livland 30,000 Rbl., in
Kurland 16,000 Rbl. und in Ehitland 5500 Rol.; endlid)
fteuern zur Nepartitions:Steuer bei die zu Alzifer- Zahlungen
verpflichteten Fabriken und Anjtalten: in Livland 33,200
Rbl., in Kurland 10,900 Rol. und in Ehjtland 24,100 Nbl.
» Der Nedafteur des „Olewik“, Grenzjtein, jtellt ein
„Programm“ feines Blattes auf. Nah Meinung des
Grenzitein, ftehen dem ehitniihen Volt im Streben nad)
feinem zufünftigen Wohlergehen drei Wege offen: die ehſtniſch—
deutiche Freundfchaft, die nationale Entwidelung der Ehjten
und endlich die Befolgung der Weifungen der Regierung.
Der erjte Weg führt nad feiner Anficht in den Sumpf,
der zweite zu einem jchredlichen Konflikt, der dritte zum
Voltswohl. — Bon den 24 Programmpunften lautet jehr
gut der 11.: „Erweiterung des Horizontes des gebildeten
Theils der ehſtniſchen Bevölkerung.”
r Nah dem „Nechenichaftsbericht des Vereins zur Be:
fämpfung der Zepra in Kurland für das Jahr 1897” betrug
die Einnahme 10,377,05, die Ausgabe 6845,17. Das Ver:
mögen 12715,75 Kop.
.
8.
9.
— 16 —
7. Juni. Auf Anjuchen des Vereins für Ausbildung taubjtummer
Kinder der evangeliich-Iutheriihen Gemeinden Livlands wird
mit Genehmigung des Minifters des Innern für die Taub-
jftummenanftalt in Wolmar ein Hauspaſtor, Cand. Karl
Wehmann, angejtellt und vom Generaljuperintendenten ordinirt.
u Der Erzbifchof Agathangel von Niga und Mitau weiht
in Neval die Sloden für die neue orthodore Alexander-Newſti
Kathedrale ein.
u In Riga beginnen die Eommerfurje in der ruffiichen
Sprache (nebſt Methodik und Didaktif) für die Lehrer der
evangelijch = [utherifchen WBolfsjchulen des Rigaſchen und
Wendenjchen Nayons.
” Rigas Import zur See hat ſich vom Jahre 1895 von
30,747,310 bl. auf 42,081,397 Rbl. im Jahre 1896
gehoben; der Erport zur See bat fi um den unbedeutenden
Betrag von etwa 500,000 Rol. vermindert, er beträgt rund
64,890,000 Rbl. (Beitrag z. Statijtif des Rig. Dandels im
J. 1896, Th. 1.) *
— Zur Frage der projeftirten lettiſchehſtniſchen Profeſſuren
an der theologischen Fakultät berichtet der „Prib. Liſtok.“
Nachdem die Fakultät, mit alleiniger Ausnahme des Pro—
feſſors Kwaczala ſich gegen das Projelt ausgeſprochen, jei
die Angelegenheit an das Miniſterium der Volksaufklärung
gelangt. Dieſes habe ſich mit dem Miniſterium des Innern
in Relation gelegt und letzteres habe ein Gutachten des
evangeliich:lutheriichen General: Konfiftoriums eingefordert,
welches jich gleichfalls und zwar entjchieden gegen die lettijch-
ehſtniſchen Profeſſuren ausgeſprochen habe. Das General:
Konfitorium habe erklärt, daß durch die Kreirung der pro:
jeftirten ‘Brofeffuren weder eine Entlaftung irgend einer der
bereits bejtehenden Profeſſuren, noch eine zwedmäßigere
Bertheilung des Lehrftoffes oder überhaupt irgend ein Nugen
erzielt werden würde. Der Gedanke jei feinesivegs einem
wirklich vorhandenen Bedürfniß entiprungen und die wider
die Paſtoren deutjcher Abjtammung erhobenen Broteite, welche
in einigen Fällen zu höchſt beflagenswerthen Kollijionen
geführt, fänden ihre Erflärung durchaus nicht in der
ungenügenden Beherrſchung der nationalen Sprade jeitens
— 127 —
der betreffenden Prediger, welde die Sprache vollflommen
beherrichen, Jondern in modernen Strömungen. Der Vortrag
theologiiher Fächer in den örtlichen Sprachen werde jehr
Ihwierig jein und richtiger und weit nothwendiger wäre Die
Errihtung neuer Katheder, als die Errichtung neuer Pro:
fejluren für bereits beftehende Katheder. Dieſes Gutachten
des Seneral-Konfiftoriums jei dem Minifterium der Volks—
aufflärung übermittelt worden, letteres jedoch habe dafjelbe
als unzulänglid) begründet und wenig überzeugend erachtet
und jei nunmehr mit der Sammlung weiteren Materials
in dieſer Angelegenheit bejchäftigt.
10. Juni. Am 10. Juni jollte in Werro laut Zirfulär des Volks:
11.
13.
Ichulinjpeftors der ruſſiſche Sprachkurſus für Volfsjchullehrer
beginnen. Da fi aber zur Betheiligung an dem Kurjus
nur acht Lehrer angemeldet hatten, unterbleibt die Abhaltung
des Sprachkurſus in diefem Jahre gänzlich).
— Der im Jahre 1870 eröffnete ehſtniſche landwirth—
ſchaftliche Verein in der Stadt Pernau hat ſeine Thätigkeit
eingeſtellt. (Livl. Gouv. ZItg.)
— Als Stadthaupt von Jakobſtadt iſt Karl Oſterhof wieder—
gewählt und beſtätigt worden.
„Der „Walgus“ tritt lebhaft für die Gründung einer
ehſtniſchen mittleren landwirthichaftlihen Schule ein und
meint, die deutſchen Kreiſe träten dem entgegen, „weil die
Intereſſen der Großgrundbeſitzer denen der bäuerlichen Be-
völferung diametral entgegengejept ſeien.“ „Wir fennen fie
gut und erwarten von ihnen feine Hilfe, jondern jeßen alle
unjere Hoffnung auf die Negierung, die immer dem Volfe hilft.“
»„ Dem Kommandirenden des Kaiſerlichen Hauptquartiers
Seneraladjutanten Otto von Nichter wird auf fein Geſuch
der Abſchied bewilligt.
— Ein Allerhöchſter Kaiſerlicher Befehl ordnet an, daß den kommerziellen
Aktien-BVanken und Geſellſchaften gegenſeitigen Kredils geftattet werde,
Darlehen auf Solawechſel, die durch landwirthſchaftlichen Beſitz ſicher—
geſtellt ſind, zu ertheilen.
„ Eröffnung der Ausſtellung des ebfinifehen landwirtb-
ſchaftlichen Vereins in Jurjew (Dorpat).
* Der Weißenſteinſche Mäßigkeitsverein ging mit dem Plane um,
am 14. Juni d. J. in Weißenſtein ein Konzert des Jerwenſchen Kreiſes
— 18 —
zu arrangiren. Das Konzert muß unterbleiben, weil der ehitländijche
Gouverneur die Genehmigung dazu nicht ertheilt hat.
14. Juni. Das Ilmjärw'ſche orthodore Kirchipiel (Kreis Jurjew
"
[Dorpat]) feiert jein fünfzigjähriges Jubiläum. Es ijt eins
der an Seelenzahl größten in der ganzen Rigaſchen Eparchie.
- In einem Artikel „Eine ernjte Angelegenheit” bejprad)
die „Düna-Ztg.“ die Erjcheinungen, wie fie bei der Oppe—
kalnſchen Affaire (Balt. Chr. IL, 101) u. a. a. D. zu Tage
traten. Dagegen erhebt der „Riſhſti Weſtnik“ namentlich in einem
längeren, „Latyſch“ unterzeichneten, Artikel (Nr. 129—132)
jeine befannten lügenhaften Anjchuldigungen gegen Die
deutichen PBaftoren, die allein an allem ſchuld jeien. Die
Letten und Ehiten hofiten, daß die Negierung ihre Auf:
merfjamfeit auf die „traurige Lage der lutheriihen Kirch:
jpiele im Baltiſchen Gebiet” lenken werde. Erjt dann würden
die Zwijtigfeiten aufhören und „die lutheriihe Kirche nicht
politiichen Intereſſen, jondern der Religion dienen.“
F In der „Eparchial⸗Ztg.“ beſpricht der griechiſch-orthodoxe
Prieſter Tiſik die Entſtehung und Bedeutung des Kloſters
zu Püchtitz in Ehſtland, das 1891 dort erbaut wurde, wo
einſt ein wunderthätiges Bild der Mutter Gottes erſchien.
„Dieſe Erſcheinung des Bildes der Mutter Gottes auf dem Vüchlitzſchen
Berge gehört jener entlegenen Zeit an, als im Baltiſchen Gebiet Die
Deutſchen herrichten, die die Nechtgläubigen unterdrüdten, ihre Kirchen
jeritörten und verbrannten und fie felbit fogar marterten, 3. B. im
Embad) den Priejter Iſidor und 72 feiner Pfarrfinder ertränften (Balt.
Chr. II, 52). Die Ericheinung der Mutter Gotted wurde zuerjt einem
ehitniichen Dirten zu theil, dann erbauten die Rufien dort eine Kapelle,
und jpäter in Syreneß eine Kirche, in der das Bild jeit 1818 aufbewahrt
wurde und ſich bald auch jeine Wunderthätigfeit herausitellte. 1885
wurde das Püchtitzſche Kirchipiel gegründet und bald auf Betreiben des
ehitländiichen Gouverneurs Schadowiloi das Kloſter. Diefer gewann den
Püchtitzſchen Mutter-Gottes:Berg jo lieb, dab er dort begraben jein wollte.
Das iſt dann auch geſchehen. „So ericheint Püchtig als Bindeglied
zwiichen zwei Nationen, die bier im Oſten Ehitlands wohnen. Unter
dem Schatten der früheren Kapelle, jetzt des Klofterd geht der Prozeß
des Zuſammenwachſens in ein Ganzes des ſlawiſchen und finntichen
Stammes vor ſich unter dem Schutze der Orthodorie, wie er fih aud
in den übrigen Theilen unjerer Deimath vollzogen bat.“ Daher bat das
Püchtitzſche Nonnen-Klojter eine große hiftoriiche Aufgabe. „Wenn die
örtliche Bevölferung im Kloiter die Heiligkeit des Lebens, die Chrbarkeit,
— 19 —
die Arbeit, das Gebet, die chriſtliche Wohlthätigkeit und den Gottesdienit
jehen wird, dann wird jie von ſelbſt fommen, um im Klojter geiftlichen
Troſt und Frieden zu ſuchen.“
15. Juni. In Reval wird vom Paſtor Helle ein ehitnischer
Jünglings-Verein nad dem Muſter des bereits beftehenden
deutichen Sünglings-VBereins gegründet.
— — Der „Riſhſki Weſtnik“ konſtatirt, daß in letter Zeit die deutſchen
Gutsbefiger in Folge von Meinungsverichiedenheiten häufig fid) vom
Präjidium in den ehſtniſchen landwirthichaftlichen Bereinen losjagen, das
ihnen, „als die Predigt von der deutichschitniichen Freundſchaft begann“,
oftmals übertragen wurde.
5 Im Ludeſchen KHirdipiel in Livland werden Sommer:
Kurfe in der ruſſiſchen Sprade und Pädagogik für die Volfs-
ichullehrer eröffnet und für die praftiichen Mebungen dazu
eine zweiklaſſige Muſterſchule.
„„ Inder „Eparchial-Ztg.“ erörtert der griechiſch-orthodore
Prieſter Poska die Einwände gegen die konfeſſionelle niedere
Volksſchule und gelangt zu dem Reſultat, daß alle dieſe
Einwände hinfällig jeien und die Fonfejlionelle Volksschule
den Vorzug vor der nichtkonfeffionellen verdiene.
10.—16. Juni. [Ehitländijche Provinzialfynode in Reval.) Die
meilten Gegenitände der Verhandlungen betrafen wiljen-
Ichaftliche oder rein vreligiöje Nragen. Einen Bericht über
die jog. Krippen, Aſyle, die zur Aufnahme Eleiner Kinder
während der Arbeit der Eltern dienen, ftattete Paſtor Rall—
Meißenjtein ab. Im Intereſſe der erfolgreichen Wirkſamkeit
diejer njtitute wäre es erwünjcht, wenn die MWohlthätigfeit
bei uns zu Lande der Entwidelung diefer Art Fürforge für
die Bevölferung eine noch erhöhte Aufmerfiamfeit zuwenden
wollte. — Mit Bezug auf die wandernden Borlejer, Die
auf geießliher Grundlage auf dem Lande ihre Thätigkeit
ausüben, wurde in Ausficht genommen, fie zur Armenpflege
heranzuziehen und als Gehilfen in der Bedienung der Ge:
meinde zu verwenden.
17. Juni. Das Miniſterium der VBolfsaufflärung hat dem Rigaſchen
Lehrbezirke vorgeichrieben, die Führung der Schüler an den
örtlihen Gymnaſien und Nealichulen während der Sommer:
ferien unabläffig zu überwachen. In Folge deſſen ift von
dem Lehrbezirt an den Rigajchen Strand einer der Rigaſchen
— 180 —
Pädagogen abdelegirt worden, dem die Aufgabe zu Theil
geworden iſt, die Führung der am Strande ſich aufhaltenden
Schüler zu beaufſichtigen; in gleicher Weiſe ſoll auch die
Aufſicht über die Führung der Schüler in der Stadt Riga
verftärtt werden. Namentlid) joll darauf gejehen werden,
daß fie die vorgejfchriebene Uniform regelmäßig tragen.
17. Juni. Nah einem im „Post.“ erjtatteten Bericht haben die Sammlungen
18.
für ein Dr. Wesfe-Orabdenfmal den ftattlihen Betrag von 1200 Rbl.
ergeben.
” In Mitau beſchließt die Stadtverordnetenverfammlung
auf Antrag des Stadtamtes auf drei Jahre eine jtädtijche
Volksſchule zu gründen, deren Verwaltung dem Stadtamt
unter Dinzuziehung des Predigers der ſtädtiſchen lettiſchen
evangelijch-[utheriichen Gemeinde unterfteht; ferner das vom
Stadtamt vorgeitellte Projeft der Negeln für die Gründung
einer evangeliich-lutheriichen jtädtiichen Volksſchule zu ge:
nehmigen und die erforderlihen Mittel auf drei Jahre zu
bemwilligen jowie das Stadtamt zu ermächtigen, ſolche Mittel
für das laufende Jahr 1898 im Betrage von 1000 Rol.
aus dem jtädtiichen Nejervefapital anzuleihen, und hierzu
die Genehmigung des Gouverneurs, ſowie die des Kurators
des Rigaſchen Lehrbezirks zur Eröffnung dieſer ſtädtiſchen Volks—
ſchule in Grundlage des vom Stadtamte vorgeſtellten Pro:
jektes zu erwirken.
J Der Baltiſchen Orthodoxen Bratjtwo hat Frau J. P.
Leſſnikow eine Spende von 10,000 Rbl. gemacht. Die Zinſen
dieſer Summe ſollen zur Veröffentlichung von Büchern und
Broſchüren religiöſen und moraliichen Inhalts in ehſtniſcher
und fettiicher Sprade verwandt werden.
2 Die Wejenbergiche Stadtverordnetenverfammlung nimmt
einftimmig den Antrag auf Einführung der ojteuropäiichen
Zeit an.
— Beginn der Arbeit am Bau der Reval-Felliner
Zufuhrbahn.
19. Juni. [Beichlüffe des ehſtländiſchen Ritterſchaftlichen
Ausſchuſſes.) Es wird die Mittheilung des Verweſers des
Miniſteriums der Volfsaufflärung vom 15. März zur
Kenntniß genommen, daß es nicht für möglich befunden
— 131 —
worden, der Eingabe des Nitterfchaftshauptmannes vom
29. Oft. 1897 betreffend die Qualifikation der Volksſchul—
Ichrer Folge zu geben (Balt. Chr. I, 93, 107; IL, 37, 44).
— Nachdem der ehitländifche Gouverneur im Auftrage des
Minifteriums des Innern zur Aufklärung der Entjtehung
des Sechſtels die Bejchlüffe des Landtages vom Jahre 1849
einverlangt hatte, autorifirt der Nitterichaftlihe Ausschuß
den Nitterfchaftshauptmann, die Beſchlüſſe des Landtages
von 1849 fowie des von 1847, weil dieje für das Sechſtel
bejonders maßgebend find, nebſt einer erläuternden Denkſchrift
einzujenden (Balt. Ehr. L, 152; IL, 40). — Es wird be-
Ichlofien, den Antrag des ehitländiichen Gouverneurs, in
Grundlage des II. Abichnitts des am 16. Febr. c. Allerhöchit
bejtätigten Neichsrathsgutachtens über die Beltätigung des
Statuts des Ehjtländiichen Ndeligen Güter-Kreditvereins, über
die Frage der Ulmgeftaltung reip. Schliefung der Ehftländ.
Vorſchußkaſſe in Verhandlung zu treten, dem nächjten ordent:
lihen Yandtage vorzulegen. — Der Nitterichaftshauptmann
wird autorifirt mit dem Bevollmächtigten des griechiſch—
orthodoren Konftitoriums den Kauffontraft über die zum
Bau einer orthodoren Kirche vom ritterfchaftlichen Gute
Kuimeg abgetretenen fünf Defjätinen abzuſchließen (Balt.
Chr. II, 90). — In Anlaß der Frage, ob die chitländiiche
Ritterſchaft fih an der von der livländischen in Aussicht
genommenen Gründung eines Landhebammeninftituts (Balt.
Chr. IL, 96) betheiligen jolle, wurde in VBerüdfichtigung des
in dieſer Dinficht in Ehſtland beitehenden Nothſtandes be:
ſchloſſen, ein Projekt zu einem bejonderen ehſtländiſchen
Hebammeninftitut als Vorlage für den nächſten Landtag
ausarbeiten zu lajlen.
18. u. 19. Juni. Sitzungen des Kuratoriums der ehſtniſchen
Aleranderjchule in Oberpahlen zur Berathung über Die
Einrichtung der Fünftigen ehſtniſchen landwirtbichaftlichen
Aleranderichule.. Nachdem die Wünſche der landwirth:
Ihaftlichen Vereine und des Volkes geprüft, wird bejchlojien,
die Statuten und andere nothwendige Fragen baldmöglichit
der Staatsregierung zur Bejtätigung vorzuftellen, damit Die
geplante Aderbaufchule ihre Thätigkeit in Kurzem beginnen
— 132 —
fonne. An Spenden find bereits gegen 8000 Rbl. bei-
jammen und einige hundert Sammelbücher befänden ſich
noch in den Bänden der SKollefteure. Die Glieder des
Kuratoriums haben bereits das Gut Wolmarshof bejehen,
das man von der Regierung für die Alerander:Nderbaujchule
zu erbitten beabfichtigt. —— Der „Olewit“ plaidirt dafür, die Schule
in dem drei Werft von Jurjew (Dorpt) am Embad gelegenen Kronsgute
Timmofer zu eröffnen.
20. Juni. Den Gütern Wennefer, Baitfer, Ladigfer, Mohrenhof,
Rachküll, Rocht, Meyris, Poidifer, Helenenhof, Amandus,
Dttenfüll, Simonis, Tammid, Sall, Koil, Laſſinorm und
Yamasfüll in Ehitland ift von der Hauptpojtverwaltung Die
Konzeifion ertheilt worden, fih mit der Station Kaffe
telephonisch zu verbinden.
”» » [$eneralverfammlung des Ehjtländiichen Adeligen Güter:
freditvereins]. Es wurde beichloiien, die 5"/o Obligationen
in 4”o zu fonvertiren, und die Kallenverwaltung wurde
beauftragt, das Konverfionsgeichäft mit einem Banfhauje
abzufchliefen. Am allmählic ganz zum Zinsfuß von 4°
überzugehen, wurde beichloiien, nah Durchführung der Kon:
verfion der 5°0-Obligationen auch die 4/2: prozentigen
fündbaren landichaftlichen Obligationen und die 41’. ";o-
Zinſeszins Reverſe durch 4" 0-MWerthe zu erjegen, ferner
Jämmtlihe neuen Darlehen zu 4 Prozent zu vergeben und
zugleich Y,2 "/o für den Tilgunsfond und !/s 9% Etatbeitrag
zu erheben. Darauf wurde ein vom Ninanzminifterium ver:
langter Liquidationsplan für die bisherigen Bankgeſchäfte
der KHreditfajle, die nach dem neuen Statut aufhören (Spar:
falje und Kontoforrent) vorgelegt und in der Form, wie
er dem Finanzminiſter unterbreitet werden Soll, afzeptirt.
Ferner wurde ein von dem Verwaltungs: und dem Auffichts-
rath ausgearbeitetes Tarations-Reglement, das dem Finanz:
minijter vorzuftellen it, vorgelegt, in welchem die Beſtim—
mungen über die Beleihbung des Waldes und Klaffinfation
der Meiden wejentli abgeändert worden find.
21. uni. Ueber die orthodoren Volksſchulen in den baltiihen Provinzen jchreiben
die „Most, Wed.“: Agathangel, Biſchof von Kiga und Mitau, ſoll die
Abjicht haben, den orthodoren Vollksſchulen der drei baltischen Provinzen,
deren Zuſtand viel zu wünſchen übrig läht, bejondere Aufmerkſamkeit zu
— 133 —
widmen. „Diefe Schulen find materiell Schwach verlorgt, brauchen gute
Räumlichkeiten, Schulmöbel und Lehrutenjilien, gehörig vorgebildete Lehrer
und endlich die gehörige Aufficht. Zu jeiger Zeit gehören die orthodoren
Volksſchulen (ſowohl die Kirchipielsichulen, als die Gemeinde: oder Hilfs:
ſchulen) de jure zum Wirfungsfreife der Bollsichulinipeftoren, werden
aber thatſächlich nur jelten und oberflählich revidirt, da die Volksſchul—
Inſpektoren ſich wahriheinlic nicht in die Angelegenheiten eines anderen
Reſſorts einmiſchen wollen. Das Konjeil für die Angelegenheiten der
baltischen orthodoren Volksſchulen hat wiederum feine jpeziellen Jnipeftoren
zu feiner Berfügung und betraut die Blagotichinny (natürlich unentgeltlic))
mit der Beauffichtigung der genannten Schulen. Tiefe haben jedoch ſchon
mit ihren unmittelbaren Angelegenheiten jchr viel zu thun, und man
fann ſich daher nicht wundern, daß die Blagotichinng nur die Kirdjipiels:
ſchulen — und auch dieſe nur jelten — beſuchen, in die Gemeindeichulen
aber beinahe garnicht hineinſehen. Aus diejem Grunde hat Agathangel
in Anregung gebracht, in der Eparchie die Pojten von Inſpekloren der
orthodoren Schulen zu Ichaffen, und dieje Frage wird, wie man hoffen
muß, günftig entichieden werden.”
22. Juni. Die Rigaſche Stadtverordnetenveriammlung beichließt,
”
23.
das in der Kanzlei des livländiſchen Gouverneurs aus:
gearbeitete Projekt eines neuen um 122,974 Rol. erhöhten
Etats der Nigafchen Stadtpolizei nicht zu genehmigen, fondern
den Antrag des Stadtamts zu bejtätigen, wonach die Mehr:
foiten des WBolizeietats bloß 87,934 Rbl. betragen würden,
jo daß der ganze Etat fih auf 281,144 Rol. beläuft.
„ In Reval wird die III. ehſtländiſche landwirthichaftliche
Ausjtellung eröffnet.
“ Die Gagirung der Volksſchul-Inſpektoren, die bisher
als eine Mppertinenz des Volfsichulweiens zu Laſten der für
dieſes bejtimmten fommunalen Mittel erfolgte, joll, wie die
„St. Bet. Wjed.” erfahren haben, gemäß einem, im Mini:
jterium der Volfsaufflärung ventilirten Projekt, fünftig auf
Staatsfojten übernommen werden. Dergeltalt würden nicht
unbeträcdtliche Summen für das Volksſchulweſen frei werden.
„ Der „Regier. Anz.” (Nr. 132) veröffentlicht das Normal:
Statut für lofale landwirthichaftliche Vereine.
»„ Der „Dlewif” und der „Walgus” ergreifen beide das
Wort in Anlaß einer trefflichen energiichen Antwort des jtell-
vertretenden Redakteurs der „Düna-Itg.“ K. St. an die Adreſſe
des „Riſhſki Weſtnik“ in Sachen der lutherischen Zandesfirche.
Sie ſprechen jih dahin aus, daß es fich bei ſolchen Erjchei:
—184 —
nungen, wie in Oppekaln u. ſ. w. keineswegs um Auf—
hetzereien einiger nationaler Agitatoren handele. Die Wurzeln
des Uebels lägen tiefer u. ſ. w.
23. Juni. Der Goldinger lettiihe landwirthichaftlihe Verein ift
to
=.
betätigt worden.
= Die „Kurl. Gouv. Itg.“ (Nr. 45, 48-—51) veröffentlicht
ausführliche Daten über die Seemannsichulen in den
baltijhen Brovinzen. Von den 40 Schulen des Neiches
entfallen auf Chitland 2 (in Baltifchport und Kasperwiek),
auf Lioland 4 (in Hainaſch, Riga, Magnushof und Arens:
burg), auf Kurland 6 (in Felirberg, Libau, Windau, Ton:
dangen, Lubb Eſſern und Angern), im Ganzen 12. Die
Ausgaben aller diefer Ecemannsichulen betragen 30,000 Rbl.
bei einer Sefammtzahl von 600 Schülern. Die meijten von
ihnen find auf Anſuchen der örtlihen Stadt: und Land:
fommunen begründet worden. Das überwiegende Kontingent
der Schüler vefrutirt jich aus den örtlichen Bauern. Der
Unterricht dauert vom Dftober bis zum April. Die Zahl
der alljährlich aus diefen Schulen hervorgehenden Schiffer
und Steuerleute ijt größer als der lofale Bedarf, jo daß
viele fi) auswärts nach Arbeit umfehen müjlen.
" Der Miniſter des Innern bat den Einzelverfauf der Rummern der
„Beterburgifaja Gaſeta“ wieder gejtattet und das Erjcheinen der Zeitung
„Belfarabez“ auf einen Monat juspendirt.
5. Juni. Auf Anordnung des Finanzminifteriums wird zur
Kenntniß gebracht, dal mit dem 1. Juli d. J. das Akzife:
wejen der Inſel Oeſel aus der Leitung der ehitländifchen
in die der livländifchen Afziieverwaltung überzugehen hat.
„ Hünfundzwanzigjähriger Gedenktag des erjten lettiichen
Sängerfeftes in Riga.
— Eröffnung der Wendenſchen landwirthſchaftlichen Aus—
ſtellung.
— Die „Ruſſkija Wedomoſti“, deren Erſcheinen von der Oberpreß—
verwaltung auf zwei Monate ſiſtirt war, dürfen wieder erſcheinen.
r Verhandlung des Friedensrichter: Plenums in Fellin über
den Borfall in der Kirche zu Oberpahlen am 8. März (Balt.
Ehr. II, 87). Das Gericht hatte hierbei zu der Kontroverſe
Etellung zu nehmen, ob der Vorfall, wie die Polizei von
Anfang an angenommen hatte, als Störung des Gottes:
185 —
dienſtes in der Kirche, oder, wie der Unterſuchungsrichter
die Rechtsanſchauung vertrat, als ein nach dem Friedens—
richtergeſetz zu beahndender injuriöſer Vorgang gegen den
Paſtor aufzufaſſen ſei. Das livländiſche Konſiſtorium hatte
ſich gutachtlich dahin ausgeſprochen, daß nach evangeliſchem
Grundſatz der Anfang des Gottesdienſtes nicht durch den
Paſtor, ſondern durch die Gemeinde geſchieht, welche in casu
das Eingangslied bereits angejtimmt hatte, hiernach habe
die Polizei ganz Necht gehabt, in dem in der Safrijtei
erfolgten Ueberfall des Baltors eine Störung des Gottes:
dienftes zu erbliden. Die Profuratur erklärte fih nun für
die Auffaflung des Konfiftoriums, während das Gericht für
angezeigt erachtete, zunächſt noch ein Nechtsgutachten des
evangeliich-Iutheriichen Generalkonfiitoriums einzuziehen.
26. Juni. Die Nr. 76 der Geſetzesſammlung veröffentlicht das
29.
30.
neue Reichs-Gewerbeſteuer-Geſetz.
„ Die Gouvernementsbehörde für Städteſachen in Riga
rejolvirte, daß der Beichluß der Rigaſchen Stadtverordneten-
verfammlung vom 26. Diärz 1898, durd welchen der Entwurf
einer mit der Wferdebahngefellichaft abzujchließenden Ber:
einbarung, betreffend die Anlage eleftriicher Straßenbahnen,
beftätigt worden, in der in Art. 86 der Städteordnung
feftgelegten Ordnung aufzuheben ift.
„ Zur Frage der Führung der protejtantiichen Kirchenbücher
in ruſſiſcher Sprache hat eine bejondere bei der Kailerlichen
Akademie der Willenichaften gebildete und aus den Aka—
demifern A. N. Weſſelowſti, U. A. Schachmatow und A.
N. Kunik, dem Privatdozenten der Helſingforſer Univerfität
Dr. Miftol, dem Paſtor Dr. Hurt und dem Yrivatdozenten
der Petersburger Univerjität, Wolter, bejtehende Kommiſſion
ihr Gutachten über die Feftitellung einer einheitlichen und
regelrechten Führung der protejtantifchen Kirchenbüdher in
ruffiiher Spradye abgegebeu. Diejes Gutachten ift von der
Akademie gebilligt und dem Minijtereum des Innern über:
geben worden.
— Das ehſtniſche Blatt „Saarlane“ äußert ſich über den bisherigen
Oeſelſchen, nun nad) Wolmar verießten Bauerkommiſſar Babanow:
„Beim Volke hatte er ſich allgemeine Achtung erworben, weil er Jeder—
X
— 156 —
mann mwohlwollte. Außerdem war es für das Wolf cine große Er:
leichterung, dab er mit Jedem ſprechen konnte, ohne daß ein Dolmeticher
nöthig geweien wäre. Herr Babanoıw beherrichte vollfommen das Ehſtniſche.“
1. Juli. Nach dem am 8. Juni d. 3. beftätigten und am 27. Juni
"
"
„
publizirten neuen Staats-Sewerbejteuergeieg gehören in den
baltiichen Provinzen zu den Ortichaften der erjten Steuer:
klaſſe: Riga, der zweiten: Libau und Nepal, der dritten:
die Kreile Wejenberg, Weißenjtein, Walf, Wenden,
Werro, Molmar, Bernau, Niga, Fellin, Jurjemw
(Dorpat) und die Städte Mindau und Mitau.
„ Die telegraphiiche Kommunikation zwilchen Arensburg
und Swalferort it jeit dem 9. Juni durd eine telephonische
erjegt worden. (Livl. Gouv.:Ztg.)
* Der neuernannte Dirigirende des Livländiſchen Kameral:
hofs, Waſſiljew, tritt ſein Amt an.
Der Miniſter des Innern beſtätigt die Statuten der
Küſter-Hilfskaſſe des Oeſelſchen Bropitbezirfs.
* Das am 13. Mai d. 9. beftätigte Normalftatut der
Konfumvereine wird veröffentlicht. (Kurl. Gouv.:Ztg.)
Pr Der „Poſtimees“ mweilt darauf bin, daß von der chitniichen Be:
völferung die ehſtniſchen Straßenangaben auf den Strakenichildern in
Jurjew (Dorpat) und in Reval empfindlih vermißt würden, weil fie
dadurch oft zu mweitläufigem Sichdurchfragen genöthigt feien. Der „Revaler
Beobachter” macht hierzu die Bemerfung, dak die „Ehitl. Gouv.: tg.” vor
mehreren Jahren eine Beltimmung publizirte, nad) der die Strafen:
bezeichnungen in drei Sprachen angebradht werden jollten, daß aber nichts:
deitomweniger diefe Verfügung „in Folge anderer Anordnungen“ nicht zur
Ausführung gelangt iſt. Der „Rilhifi Weſtnik“ fpricht Dagegen dem
Wunſche des „Poſtimees“ natürlich jegliche Berechtigung ab.
„ Die Stadtverordnetenverjammlung in Wefenberg bejchloß
in ihrer Sitzung vom 18. Juni, in der ftädtiichen Elementar:
ſchule unentgeltlich einen Raum zur Errichtung einer tempo-
rären orthodoren Kirche abzutreten.
„ In Oberpahlen wird auf Anregung des Predigers, ein
Armenhaus erbaut, in dem die der Hilfe bedürftigiten Armen
des Gebietes und Fledens Oberpahlen — vor Allem ehitnijche,
aber auch deutiche Armen — Aufnahme finden jollen. Der
Bau des Haujes wird dur freiwillige Spenden beftritten,
zu denen auch die Gutsbeſitzer ihre Beifteuern liefern.
u Die „Yatw, Awiſes“ weiſen darauf bin, dab ſich der Hausunterridht
in Zivland legter Zeit in bemerfenswertger Weife zu entwideln begonnen bat.
6.
— 137 —
. Juli. Bei der Theilung der feitherigen Rigafchen Tireltion
der Molfsichulen in eine livländische und eine furländifche
wurde der Rigaſche Volfsichuldireftor zum Gliede der fur:
ländiichen und der Mitaufche zum Gliede der livländiichen
Schulkommiſſion ernannt.
— Der Zeitung „Ruſſj“ wird wegen eines von ihr —
Artikels des Grafen Yeo Tolſtoi „Hunger und nicht Hunger“ eine erſte
Verwarnung ertheilt.
* Im Miniſterium der Volksaufklärung wird wiederum
die Frage einer Verſchärfung der Regierungsaufſicht über die
Privatlehranſtalten in den Provinzialſtädten angeregt. Vom
künftigen Lehrjahre an ſollen die Eramina an dieſen Schulen
in Gegenwart von Lehrern der Kronslehranitalten vorge:
nommen werden.
» In Riga langt das neue jtählerne Schwimmdock von
2350 Tons Tragkraft an.
„ Die Baltifche Orthodore Bratitwo hat ein Geſchenk von
9000 Abt. erhalten mit der Bejtimmung, daß von den Zinſen
alljährlich Volkslefebücher geiftlihen Inhalts in lettiicher und
ehitnischer Sprache herausgegeben werden.
» Die beitehenden Kataloge für Volfsbibliothefen werden
vom Minifterium der Volksaufklärung durch Verzeichniſſe der
verbotenen Bücher erjeßt werden.
„ Die Güter Galisburg, Pürfeln, Breslau, Orgishof,
Puikeln, Podſem, Hochrojen, Daugeln und Alt-Wrangelshof
in Zivland werden telephonifch miteinander verbunden.
„ Die Stadtverordneten:VBerfammlung in Arensburg am
3. Juni beſchloß: 1) bezüglich der Vorlage des livländischen
Houverneurs über das Statut und den Etat des Arens—
burgihen Gymnaſiums, den Wunſch zu verlautbaren, daß
das Stadthaupt oder eine beionders dazu erwählte Perſon
als Glied dem Schulfollegium zugezählt werde; 2) der
Dejelihen Orthodoren Bratjtwo auf ihr Geſuch unentgeltlich
einen Platz zur Erbauung eines Yelepavillons anzumeiien ;
3) dem Mädchen-Gymnaſium in Nrensburg eine jährliche
Eubfidie von 750 Rbl. und unentgeltlich ein Lokal im Stadt:
hauſe zu bemwilligen.
X*
— 188 —
9. Juli. In einem Feuilleton der „Nomwoje Wremja” unter dem Titel „Bei
fich felbit zu Gaſt“ bejchreibt ein Herr Mordwin feine Eindrüde von
Riga. Die Kultur, jagt er, ift Hier durchaus nicht bedeutend; die häusliche
und öffentlide Wohlfahrt ſteht nicht auf der Höhe und das intellektuelle
Leben ift nicht befonders entwidelt. „Die biefigen Deutichen haben
teinerlei Grund mit ihrer Kultur vor uns zu prahlen. Verderben fünnen
wir bier abſolut garnichts, aber viel Gutes könnten wir leicht einführen
und werden es auch ficher thun.“ Die ruſſiſche Spradye müßte bier die
weiteſte Verbreitung finden u. ſ. m.
„ Die Stadtverwaltung von Arensburg hatte die Regeln, nad denen
vom 1. Juli ab die Hundefteuer erhoben wird, in ruffiiher und ehſtniſcher
Sprache publizirt. Da die Publifation nicht auch in deuticher Sprache
erfolgt war und „es doch manche Hundebejiter hier geben wird, die Deutich
reden”, ficht das „Arensb. Wochenbl.“ ſich veranlaft, die Rublifation
ihrem wejentlichen Inhalt nad) auch deutich wiederzugeben.
9. Juli. Die Bauern der Gemeinde MWorrofüll im Fellinſchen
10.
Kreife bemühen fi) um die Umwandlung der Gemeindeichule
in eine zweiklaſſige minijterielle Volksſchule.
J Die „Nowoſti“ berichten über das griechiſch-orthodoxe
Schulweſen in den Oſtſeeprovinzen im Jahre 1896/97. Aus
diefem Bericht iſt erfichtlich, daß es bier im Ganzen 483
orthodore Schulen gab, von denen 368 auf das livländiiche,
46 auf das furländiiche und 69 auf das ehitländiiche Gou-
vernement entfallen. Davon find 194 einflaffige Gemeinde:
ſchulen, 239 Hilfsichulen (Benomorareasuns), 22 Mädchen:
ſchulen und 28 zweiklaffige Schulen (in Städten und Fleden).
„In den Schulen befinden fih 713 Lehrer beiderlei Geſchlechts,
die 17,434 Kinder unterrichten: 11,230 Knaben und 6204
Mädchen. Unter den Schülern giebt es 4038 Lutheraner,
231 Katholifen, 136 Altgläubige, 54 Hebräer und 49
Baptiſten und andere Seftirer. Im verfloffenen Schuljahre
beendigten den Schulfurfus 2047 Schüler. In 13 Schulen
befinden fih Bibliothefen, die Bücher vorzugsmeile fitten-
befehrenden (mpapoyunteisnaro) Charakters enthalten. In
der Hapfalfchen, Werrofchen und zwei anderen Gemeinde:
Ihulen wurden Volfsvorlefungen mit der Vorführung von
Nebelbildern veranjtaltet, zu denen, außer den Schülern fich
immer auch eine große Maſſe von Andersgläubigen ver:
jammelte. Es werden Bücher und Brojhüren gelefen, vor:
zugsweiſe geiftlichen, hiſtoriſchen und beichreibenden Inhalts.
— 139 —
Zum Unterhalt der orthodoren Volksſchulen des baltischen
Gebiets befommt das Konfeil vom Minijterium der Volks—
aufflärung 32,190 Rbl. und vom heiligen Synod 10,000
Rbl., im Ganzen 42,190 bl. jährlid, d. h. durchſchnittlich
für jede Schule blos 87 Rbl. In diefer unanjehnlichen
Summe find auch die Gehälter der Lehrer und die Aus:
gaben zur Miethe eines Schulgebäudes oder zum Unterhalt
eines eigenen Haufes, für Beheizung, Beleuchtung und viele
andere Bedürfniſſe mit inbegriffen. Für 87 Rbl. kann man
freilich nicht einmal einen LZehrer im Jahre unterhalten und
die Schulen werden daher von Stadtverwaltungen, Privat:
perjonen, den Prozenten von Dazu geopferten Sapitalien
u. ſ. mw. unterjtüßt. Der Mangel an Mitteln jchadet dem
ruſſiſchen Schulweien in unserem Grenzgebiete ſehr: man
muß Lehrer mit bejchränkftem Bildungszenfus mieten — in
145 Schulen haben die Lehrer jelbit nur in den Gemeinde:
ſchulen ihre Bildung erhalten u. ſ. w. In 188 Ortichaften
des Gebiets werden die Schulen in dumpfen und unge:
nügenden Miethlotalen untergebradt. Während deſſen find
die lutheriſchen Schulen des Gebiets faft überall in guter
Verfallung (mperpaeno oödcraBıensı) und haben bequeme
und geräumige Lokale. Ein folder Vorzug der lutherischen
Schulen erregt den Neid der orthodoren Bauern, die nicht
jelten ihre Kinder in die lutheriichen Schulen abgeben. Aber
außer den kärglichen materiellen Mitteln ſchadet dem Erfolge
des orthodoren Schulwejens in unjerem Gebiet nicht wenig
auch der Mangel einer Vorjchrift betreffs der Verpflichtung
der orthodoren Kinder im jchulfähigen Alter zum obligatoriichen
Schulbeſuch, dankt welchem Umftande alljährlich fait der vierte
Theil diefer Kinder ohne Unterricht bleibt.“
11. Juli. Die Blätter melden, es ſei die Erflärung erfolgt, daß
orthodore Kinder nur in dem Full in die Schulen der Anders:
gläubigen, d. h. in die lutherischen Gemeindeſchulen Aufnahme
finden dürfen, wenn der Zehrer an diefer Schule ein Ruſſe
oder dod) orthodorer Konfeſſion ift.
J Der „Graſhdanin“ urtheilt über die deutſchen Kirchenſchulen in
Petersburg, namentlich die Annenſchule und weiſt beſonders auf das
Band des Vertrauens hin, das alle Schüler mit dem Direktor und den
12.
13.
”
14.
15.
— 140 —
Lehrern verknüpfte. „Darin beſteht,“ ſchließt der Artikel, „die ganze Kraft
einer ſolchen Schule und im Fehlen dieſes Vertrauens beſteht der ganze
Bankerott jo vieler Schulen.
Juli. Im Badeort Sillamäggi in Ehjtland wird eine neue
orthodore Kirche eingeweiht.
5 Eine bejondere Inſpektion für die Schifffahrt auf dem
‘Beipus wird im Petersburger Kommunifationsbezirf gebildet.
* Zum Stadthaupt in Windau wird das bisherige Stadt—
haupt A. Kupffer wiedergewählt.
„ Die Gründung einer Abteilung der Kaiſerlich-Ruſſiſchen
Muſikaliſchen Gejellihaft in Riga wird genehmigt.
— Der „Riſhſki Weſtnik“ weiſt auf die in Polen beabſichtigte Gründung
einer großen deutichen Bibliothek zum Andenken an Kailer Wilhelm 1.,
die „ein Zentrum des geijtigen Lebens in den öjtlichen Grenzmarken“
werden fol. Daran fnüpfi er den Wunſch, daß die zum Andenken an
Kaiſer Alexander III, der fo viel zur geiltigen Vereinheitlihung des
baltiichen Gebiets mit dem eich gethan, in Riga projeftirte, aber aus
irgend welden formalen Gründen aufgeihobene Begründung einer mit
einem Bolfsauditorium verbundenen rujjiichen öffentlichen Bibliothek, nun
endlich doch verwirklicht werde.
en Eine Zuichrift an den „Riſhſti Weſtnik“ betont, daß in den Volls—
vorlejungen oft ſehr ſchlecht und ausdrudsios vorgelejen werde, jo daß
man die Zuhörer oft gelangweilt ehe.
„ Die Sejellihaft zur Befämpfung der Lepra in Livland
bat von der Krone eine Subfidie von 20,000 Rbl. erhalten
und den Bau eines weiteren Yeprojoriums auf einem Landjtüd
des Kronsgutes Earamois im Tarmajtichen Kirchſpiel in
Angriff genommen.
- An einem Artikel über die ruffiichen Orenzmarfen in der „Nomwoje
Wremja“ jagt der Verfajjer, der Philojoph Roſanow: „Die Ruffifizirung
fann von verichiedener Art fein. Jene „Ruſſifizirungs“-Politik, deren
Programm die „Moſk. Wed.“ formulirt haben, ijt eigentlich eine Politik
der Entzichung der nationalen Perlönlichkeit, der Denationalifirung der
Volksſtämme, feine Politit der univerjellen, nationalen Bereinigung...
Arm an ruſſiſchem Bewußtſein und ruſſiſchem Gefühl, jelbit „ohne Per:
lönlicyfeit”, find wir nur bemüht, Anderen ihre Individualität zu nehmen
und nennen das „Nuffifizirungs- Politik.“ Das Programm Ddiejer Politif
it im Grunde genommen das der Nepublif Polen, welches wohl in
Litauen, nicht aber in Klein-Rußland durchgeführt werden konnte, es iſt
das Programm, deſſen Durchführung Preußen eben gelingt, Oeſterreich
aber im 11. und 19. Jahrhundert mißlungen iſt. ‘jedenfalls iſt es nicht
das Programm des Kiewſchen und Moskauſchen Rußland, nit einmal
das Programm des mweltbeherrich mon Nom.“ Roſanomw ftellt dann feit,
— 141 —
dak die Pelten, die Finnen, die Polen, Armenier, Nuthenen, Tichechen
u. ſ. w. für die Bewahrung ihrer Nationalität einſtänden und legt jich
ipäter die ‚frage vor, ob ein Necht zum Kampfe gegen die Individualität
vorliege. Someit das Streben jener Völker auf eine „politiiche Wieder:
geburt“ hinauslaufe, wäre es nicht zu rechtfertigen, wahr und freudig zu
begrüßen aber jei es, ſoweit es die Erhaltung der eigenen Kultur, des
eigenen Glaubens betreffe. „Ah weiß «8, daß meine Gedanken viele
Protejte hervorrufen werden, id) gebe ja aber fein Programm, fondern
beinahe eine Träumere. „Daß Rußland nur nicht geipalten werde,“
lagen diejenigen, welche es faktiſch im furzfichtiger Weile ſpalten, ich aber
füge zum politischen Zement auch den moraliihen hinzu: „wenn Du
Allen dienſt, wird Tir aud) gedient werden.“ — In einem jpäteren
„Eingelandt”“ der „Rowoje Wremja” wendet fid jodann ein Herr W.
Si—lo—witich gegen Roſanow's Ausführungen, indem er unter Anderem
fagt: „Im Dftieegebiete haben wir die Sitten, die Sprache, die Religion
nicht nur nicht angetaftet, jondern haben ohne Entichuldigungen und
Knire feinen Schritt thun können.“
16. Juli. Veranlaßt durch ein Geſuch des Kurators des Rigaſchen
Lehrbezirts hat der Miniſter der VBollsaufflärung die Kollegien-
gelder am Rigaſchen Bolytehnifum für die aus den Oſtſee—
provinzen jtammenden Studirenden auf 150 Rbol., für Die
übrigen auf 160 Rol. jährlich erhöht.
19. „ In Halenpoth findet die Grundjteinlegung einer griechiich-
orthodoren Kirche jtatt.
un In Kerjel wird die neuerbaute griechiſch orthodore Kirche
eingeweiht.
21. „ Gerichtliche Verhandlung in Walf vor der 11. Kriminal-
abtheilung des Rigaſchen Bezirfsgerichts gegen die Unruhe:
jtifter in Oppefaln (Balt. Chr. IL, 110). Der Brofureur
bezeichnet namentlich zwei von ihnen als eriwiejene Rädels—
führer der ganzen bereits vorher verabredeten Widerjtands-
bewegung und empfiehlt fie in Anbetracht deſſen, daß fie
„ungebildete Leute aus dem Volke” jeien, dem milden Urtheil
der Richter. Zwölf von ihnen werden zum Arreſt auf
der Bolizeiwache auf einen Monat, einer auf 10 Tage ver:
urtheilt, drei werden freigeſprochen.
— 5 Nach einem Aufſatz im „Herold“ über die landwirth—
ſchaftliche Bildung der baltischen Kleingrundbejiger werden bie
Djtjeeprovinzen binnen Kurzem über fünf landwirtbichaftliche
Schulen, davon vier im lettiihen Theil, verfügen.
— 12 —
21. Juli. Nach den vom Departement für Handel und Manufaktur
herausgegebenen „WDtaterialien zur Handels- und Gewerbe:
jtatiftif” beftanden im Jahre 1885 in den Oſtſeeprovinzen
4126 gildiſche und 8977 nichtgildiſche geichäftlihe Unter—
nehmungen, die einen Geljammtumjag von 257,760,000 Rbl.
mit einem Gewinn von 11,017,000 Rbl. hatten. Im
Jahre 1895 dagegen 5769 gildifche und 9162 nichtgildijche
Sejchäfte, deren Geſammtumſatz 522,927,000 bl. und
Gewinn 19,379,000 Rbl. betrug. Das heißt in 10 Jahren
hat fi) der Umjag um 265,197,000 Rbl., der erzielte Gewinn
um 8,300,000 Rbl. vergrößert. Davon entfällt auf Kurland
ein Umjag von rund 136, Mill. und ein Gewinn von 9,5
Dil. Rbl.; auf Livland ein Umjag von 360, Mill. und
ein Gewinn von 8 Diill. Rbl.; auf Chitland ein Umſatz
von 33,, Mill. und ein Gewinn von 1,647,000 Rbl.
a Tie Wr. 87 der Geſetzſammlung enthält das am
2. Juni Allerhöchſt bejtätigte Neichsrathsgutachten über Die
Bedingungen für das Meiterbejtehen des evangeliſch-lutheriſchen
Volfsichullehrer: Seminars zu Irmlau in Sturland. Dieje
bejtehen im wejentlihen in Folgendem: Das auf Kojten
der furländiichen Nitterichaft unterhaltene Seminar iſt un-
mittelbar dem Kurator des Nigaihen Lehrbezirks unterftellt
und alle Lehrgegenftände, mit Ausnahme der Neligion evan—
gelifch:tutheriichen Bekenntniſſes, der lettiichen und deutjchen
Spradie werden von nun an rujfüch gelehrt. Das Seminar
und ebenjo die bei demjelben für die praftiichen Uebungen
der Zöglinge im Unterrichten bejtehende zweikaſſige Elementar-
ichule, jtehen unter der unmittelbaren Verwaltung des
Seminardireftors, der in jeinem Amt beftätigt und vom Dienjt
entlajlen wird durch das Minifterium der Vollsaufflärung,
während die wirthichaftlihe Verwaltung des Eeminars einem
bejonderen Kuratorium übertragen iſt, deſſen Präfidium der
jeweilige Xandesbevollmächtigte von Kurland einnimmt.
Diejem Kuratorium jteht das Recht zu, Kandidaten für das
Amt eines Direftors der Anjtalt aus den Perſonen evan-
geliſch-lutheriſchen Befenntniffes, die eine höhere Bildung er:
halten Haben, ſowie der willenjchaftlihen und Epradjlehrer,
ebenfalls aus Perſonen deffelben Bekenntniſſes und Bildungs:
— 148 —
grades vorzuſtellen, welche letzteren (d. h. die Lehrer) in ihren
Aemtern beſtätigt und vom Dienſt entlaſſen werden durch
den Kurator des Rigaſchen Lehrbezirks. Der Direktor der
bei dem Seminar beſtehenden zweiklaſſigen Elementarſchule,
der vom Kuratorium gewählt wird, wird vom furländiichen
Volksſchulinſpektor amtlich bejtätigt reſp. entlaflen. Der
Ehrenfurator des Eeminars wird vom kurländiſchen Landtag
auf drei Jahre gewählt und in feinem Amte vom Miinifter
der Volfsaufflärung beftätigt. Die Abjolventen des Ce:
minars erhalten den Namen eines Volfsichullchrers, genießen
jedoch feine Nechte in Bezug auf den Zivildienjt, während
fie in Bezug auf die Ableiftung der Wehrpflicht den Ab—
folventen der Lehranſtalt zweiter Kategorie gleichgejtellt
werden. Als Zwed der Anjtalt wird noch jpeziell genannt
die theoretiiche und praftiihe Ausbildung von Lehrern,
welche Schulen leiten und in ihnen im Geifte des chriftlichen
Slaubens und der Sittlichfeit unterichten fünnen und ebenfo
fähig find, falls erforderlich, die Cbliegenheiten der Küjter
und Organijten in den lutherischen Kirchen auszuüben. (cf.
Balt. Dion. 1898, Bd. XLV, ©. 245 ff.)
23. Juli. Nach dem offiziellen Organ der Kaiferlih Ruffiichen
Sefellichaft zur Rettung auf dem Waſſer haben in diejem
Fahre fünf Bezirfsverwaltungen dieſer Geſellſchaft: die Liv-
ländiſche, Kurländiſche und Chitländiiche, die Archangeliche
und Nifolajewiche das Jubiläum ihres 25- jährigen Beftchens
feiern fünnen. Am meijten habe fich die Liobländiſche durch
die große Zahl ihrer Stationen und ihren ausgezeichneten
Zuſtand hervorgethan. Diele erhielt daher die große goldene
Medaille der GSejellichaft zuerkannt.
* Der „Sſwet“ hatte ſich in einem Artikel über die Proteſtanten
folgende Sätze auszuſprechen erdreiſtet: „Die in der letzten Zeit von „prote—
ſtantiſchen Paſtoren“ unternommene Deutung der Heiligen Schrift, welche
das Chriſtentihum zu einer modernen philoſophiſchen Lehre degradirt, iſt
nicht nur ein religiöfes, fondern aud) ein politiiches Werk. Das beweiit
die offenbare Betheiligung der „protejtantiichen Welt“ — dieler chrijtlichen
Vhilojophen, die mit den Juden gern Hand in Hand gehen — mit der
Treyfuß-Affaire in Frankreich. Wir Rufien haben in unferen deutichen
Sutheranern, in den Stundilten und Toljtojanern, in Zufunft gleichfalls
ſolche Feinde der Staatsordnung.” Tem tritt in einer längeren Er:
widerung der ruſſiſche Publiziſt Wladimir Holmſtröm in den „Peter:
— 144 —
burgifija Wedomojti” entgegen, in der es von dem befannten Redakteur
des „Sſwet“, Komarow, heiht: „Ihn, Komarow, kümmere nicht das
religiöje Gewiſſen und die Gefühle der von ihm Beleidigten, ihm iſt
Nichts heilig — nicht einmal die eigene Neligion, da er ſich jonit fürchten
würde, als Antwort eine gleiche Beleidigung feiner Religion zu hören.
Er adter den fremden Glauben nicht, iſt alfo nicht im Stande zu
begreifen, welchen Plat die Religion im Leben des Menſchen einnimmt
nnd wie theuer jie ihm iſt, und indem er den Fremdgläubigen beleidigt,
liefert er den Beweis dafür, wie formell er ſich zu feinem eigenen Glauben
befennt. Ihn, Komarow, kümmert Rußland nicht, weldyes als eine ganze
Welt von verichiedenartigen Intereſſen erſcheint. Die Publiziften einer
ſolchen Kategorie find nicht im Stande, dieje Intereſſen mit dem gemein:
ſamen ‚deal auf dem Wege zur harmoniſchen Entwidelung in Einklang
zu bringen. Ihn kümmert nicht der Staat, deſſen Diener er in ihren
heiligiten Gefühlen, in ihrer Neligion, beleidigt, die er „Feinde der
Staatsordnung“ zu nennen wagt.“
24. Juli. Im Hapſalſchen Kreiſe haben fih mehrere Gemeinden
auf Initiative des Bauerkommiſſars entichlichen müſſen,
zweiklaſſige minijterielle Volksſchulen zu eröffnen.
235. . Der „Riſhſti Weſtnik“ glaubt fonftatiren zu fünnen, daß in ver:
ichiedenen Gegenden die Yandbevölferung „ſich micht nur in die neuen
Reformen eingelebt hat, ſondern auch troß der mandherlei feindieligen
Intriguen immer mehr von Sympathie für die neue Ordnung der Dinge
durchdrungen wird.‘
6. „ In Wejenberg wird der Grumdjtein zu einer neuen
griechijch-orthodoren Kirche gelegt.
”„ „Als Meltefter der Stadt Baltiichport wird T. O. Fabian
bejtätigt.
2. u Die „Most. Wedom.“ äußert ihre Befriedigung darüber, daß Die
Scyulreform in den Djtieeprovinzen danf dem energiichen und konſequenten
Borgehen der Leiter überaus erfolgreich durchgeführt worden jei. Man könne
jet mit gutem Grunde jagen: die baltiiche Schule jei eine ruſſiſche Schule.
= — Der „Riſhſti Weſtnik“ beklagt, dab ruſſiſche Elemente in den
fommerziellen und indultriellen Unternehmungen Rigas jo wenig hervor:
treten; man verlange von ihnen die Beherrichung der deutichen Sprache.
Dagegen muß nah dem Vorſchlage des Blattes jo vorgegangen werden,
dab man den Fabrikanten, Banquiers, Aktiengeſellſchaflen, Komptoiren,
Agenturen und dem Börſenkomité von jtaatswegen befiehlt, das Ruſſiſche
als Geſchäfts- und Storreipondenzipradde nicht nur im Berfehr mit
Hegierungsinftitutionen, wie bisher, ſondern überhaupt anzuwenden.
29, „ Die Organifirung einer livländifchen Gejellichaft zur
Regulirung der livländiichen Dauptflußläufe wird beftätigt.
— — Die Petersburger Eparchialobrigkeit hat die Statuten
30
"
—
— 146 —
einer Petersburger orthodoren ehſtniſchen Brüderſchaft auf
den Namen des heil. Miärtyrers Iſidor von Jurjew (Dorpat)
betätigt (Balt. Chr. IL, 52). Ihre erſte Verſammlung bielt
die Bratjtwo am 28. Juni ab.
. Juli. Der Negierungsanzeiger veröffentlicht die am 29. Mai
erfolgte Allerhöchite Bejtätigung der kurländiſchen Gejellichaft
zur Erridtung von Sorreftionsanftalten und landwirth:
Ihaftlidhen Kolonien für Minderjährige.
R Das ehſtniſche lutheriiche Blatt „Riſti rahwa pühapäewa
leht“ (Chriftl. Sonntagsblatt) berichtet über die Abficht, in
Goldenbeck in Ehitland eine zweiklaſſige minifterielle Volks—
ſchule zu gründen, „was jehr nüglich und erwünſcht wäre.”
— Der „Riſhſti Weſtnik“ erwartet zum Herbſt eine beſonders lebhafte
Entwidelung der Volfsvorlefungen, die überall „einen enormen Erfolg“
gehabt hätten.
‚ Muguft. Das Komité zur Neubearbeitung des ehjtnijchen
Sejangbuches hat jeine Arbeiten beendet.
F Der Miniſter des Innern hat die weitere Drucklegung der von der
Chriſtlichen Vereinigung für Mäßigkeit und Enthaltſamkeit im Gouvern.
Kursk herausgegebenen und von der Zenſur gejtatteten Schrift: „Zum
Schutze der Mäßigfeit und des Lichts“, jowie einiger anderer, gleichfalls
von der Zenſur geitatteter Volfsichriften verboten.
„ Die Gemeinden in Alt-Fennern und Neu-Fennern im
Pernaufchen Kreife haben beſchloſſen je eine zweiklaſſige
Minifterichule zu eröffnen. Desgleihen die Gemeinde Woiſek
im Kirchſpiel Klein-St. Johannis.
„ Mehrfach haben ſich Volfsichullehrer an die Gemeinde-
verjammlungen mit der Bitte gewandt, ihnen zum Bejuche
der ruſſiſchen Ferienfurje eine Unterftügung zu bewilligen,
jedoch fein Gehör gefunden.
„ Ter Minifter der Landwirthſchaft hat fih mit einem
Rundſchreiben an die Oouvernements-Adelsmarichälle gewandt,
in dem er die Hoffnung ausſpricht, dab die Schaffung des
Normaljtatuts für landwirthichaftliche Vereine das landwirth—
Ichaftliche Vereinsiwejen Rußlands zu größerer Blüthe bringen
werde. „Das Beilpiel unjeres baltischen Gebietes,” heißt
es in dem Schreiben, „beweilt überzeugend, welche großen
Verdienjte ein weitausgedehntes Ne von Fleineren land:
wirthichaftlichen Wereinen fih um die Landwirthſchaft eines
I
Gebietes erwerben fann. — Im „Grafhdanin“ äußert dazu
Fürſt Meichticherffi: „Wenn die Gouvernements-Ndelsforpo-
rationen ebenjo wie in dem baltiichen Gebiet an Leib und
Seele feltgefügte, ſolidariſche und gleidhgefinnte Gemeinschaften
mit der Devie „Alle für einen” bildeten, jo hätte das
Leben jelbit ſchon längit in jedem Gouvernement landwirth—
Ihaftlihe Vereine geihaften, der Minifter der Landwirthſchaft
aber würde fie dann nicht erjt ins Leben zu rufen brauden,
ſondern fie bloß fördern und regeln.“
8. Aug. Tie Zeitung „Ruſſj“ Ipendet den ins Pleskauſche übergefiedelten
Ketten großes Yob, indem fie ihre tüchlige Arbeitiamfeit bervorhebt, mit
der die dortigen ruſſiſchen Bauern nicht fonfurriren fönnten, „In dieſen
kleinen beicheidenen Gegenden,“ heilt es weiter, „die am falten baltischen
Meere liegen, arbeitet man auf einem jehr unfreundlichen Boven hartnädig,
viel, fonjequent und fröhlid. Sieben oder adıt Völker bewohnen die
Gejtade der Djtiee... Sie find alle durd eine gemeinjame Kultur, Die
alte protejtantilche, geeint. Bloß die Sprache unterscheidet den Ehſten
vom Yetten oder Dänen... Bis auf den heutigen Tag leben dieſe
winzigen Völker bei ihrer Eigenart jehr wohlhabend; von ihrer Bildung
wollen wir bier garnicht jprechen. Wie aber auch ihr Lebensgepräge ſei,
das Nefultat liegt auf der Hand: die baltiihen Provinzen find unjere
alferfultivirtejten.” (Balt. Chr. II, 138.)
9. . Die vornehmite ruſſiſche juridiſche Fachzeitſchrift, die „Gerichts:
zeitung” bringt eine Darjtellung der Vorgänge in Dppefaln (Balt. Chr.
II, 110), die ſachlich nichts neues bietet und nicht einmal den Verſuch
macht, eine fahmwifjenichaftliche Erklärung darüber zu geben, weshalb vom
urtheilenden Gericht die betreffende „offene Auflehnung gegen die von der
Regierung eingelegten Gewalten“ nicht unter dem entſprechenden Art. 273
des Strafgeſetzbuches, auf den die Klage ſich berief, jubjumirt, jondern
bloß nach Artitel 33 des Friedensrichterreglements als „Unfug an einem
öffentlichen Orte“ aufgefaßt und demgemäß bejtraft worden war. Haupt:
ſächlich befaßt der Artikel fi mit unbegründeten Inveftiven gegen den
frügeren verjtorbenen Pajtor von Oppekaln, Bruno Treu. — Kine Be-
jprehung des Artifels in der „St. Petersb. Itg.“ weiſt die Anjchuldi-
gungen zurüd und wundert ji, daß „ein ſolches Gewäld ohne irgend
welchen Anſtand Aufnahme in den Spalten eines Fachblattes gefunden
hat.” „Eine Kritit des gerichtlichen Urtheils in Saden des beflagens:
werthen Oppekalnſchen Kirchenifandals zu geben,“ jagt der Berfaffer zum
Schluß, „beabjihtige ich nicht. Mir kam es bloß darauf an, einen
jurijtiichjournaliftiihen Wechielbalg als jolhen gebührend zu kennzeichnen
und zugleid das Andenken eines verjtorbenen Ehrenmannes vor leicht:
fertiger Berunglimpfung zu ſchützen.“
10. Aug. Von Tudum nah Windau (Entfernung 104 Werft) ift
— 147 —
längs der Bahnlinie eine Telephonverbindung hergeftellt, die
aber erſt nad Eröffnung der Bahn allgemeinem Gebraud)
zugänglich; gemacht werden wird.
10. Aug. Die Libauer Lofalabtheilung der Kaiferlih ruſſiſchen
13:
techniſchen Gefellfchaft hat die Erlaubnik erhalten, Abend:
und Sonntagsfurfe im Zeichnen und in der Clementar-
arithmetif für erwachſene Arbeiter und Handwerker einzus
richten.
— Ein Artikel der „Nordlivl. Ztg.“ beſpricht abermals (B. Chr. IL, 120)
den drohenden Mangel an einheimiſchen Lehrkräften und die bemerkbar
werdende Zerſetzung der Mutterſprache, die er neben den veränderten
Univerſitätsverhältniſſen auch auf den Verluſt idealen Strebens auf dem
Gebiete der Wiſſenſchaft und der Erziehung zurückführen will. — Der
„Riſhſti Weſtnik“ erklärt dagegen den Rückgang der Lehrerzahl aus
baltiichen Kreifen einfah aus dem Umftande, daß die baltiichen Lehrer
fich früher pefuniär viel beffer gejtanden, da ſie immer verjtanden hätten,
ſich unrechtmäßige Nebeneinkünfte zu verichaffen.
» Die zweiklaffigen minilteriellen Volfsichulen hatten bisher
fein geregeltes Programm für den Iutheriichen Neligions-
unterriht. Das ehitländische evang.-tutheriiche Konftjtorium
hat daher zur Ausarbeitung eines ſolchen eine beiondere
Kommilfion konſtituirt.
— Der „Walgus“ führt die angeblich zum Herbſt bevorſtehende
Schließung einer Schule in Maeks im Kirchſpiel Koſch in Ehſtland wider
befjeres Wiffen lediglih auf den Umſtand zurüd, daß „der Gutsbeſitzer
für nothmwendig erachtet habe, das Schulgebäude zur Knechtswohnung zu
machen.”
„» Die Einnahmen und Ausgaben der Stadt Neval im
Jahre 1897 balancirten mit 452,560 Rbl. 57 Kop.
„ Der Verwejer des Unterrichtsminifteriums Hat für den
Moskauer Lehrbezirt neue Beſtimmungen über die Klajjen-
verfegungen der Schüler ohne Examen auf die Dauer der
nächjten drei Jahre genehmigt. Danad) wird der Lehrer:
fonferenz anheimgejtellt, diejenigen Schüler, welche im Durd):
jchnitt in jedem Unterrichtsfad nicht weniger als eine Drei
und in drei Hauptfähern (Ruſſiſch, Lateiniſch und Griechiſch)
nicht weniger als eine Vier im Jahre erhalten haben, ohne
Eramen zu verjegen. Damit ift man hier, wenn auch einſt—
weilen nur temporär, auf ein Syitem zurüdgelommen, das
lange Zeit 3. B. in den Oſtſeeprovinzen Geltung hatte und
— 18 —
ſich bewährte, hier aber als gänzlid unbrauchbar aufgehoben
wurde.
15. Aug. In Riga wird nad) einem vom Arhimandriten Inno—
"
16.
"
18.
19.
20.—
fentij geleiteten orthodoren Gottesdienit der Grundjtein zur
Krons:Branntweins-Kektififations-Niederlage gelegt.
„ Zum Wolizeimeijter von Riga wird der Bezirkspriftam
der Moskauer Stadtpolizei Kollegienrath Gertif ernannt.
„ Gröffnung der IV. Nusitellung des Wiefihen land:
wirthichaftlihen Vereins in Hapſal.
„Bei Gelegenheit der Gedenkfeier ihres 250-jährigen
Beitehens wird in der Kirche zu Talfhof eine neue Orgel
eingeweiht.
„ In MWindau findet die Grundfteinlegung des neu zu
erbauenden Glevators jtatt.
„ Der Oberprofureur des heil. Synods Konjtantin Petro:
witich Pobedonoszew erhält mitteljt Allerhöchiten Reſkripts
den Orden des heil. Andreas des Erjtberufenen.
„» Der „Negier.:Anzeiger“ (Nr. 177) veröffentlicht die am
16. Juni erfolgte Beftätigung des Etatuts der Yivländiichen
Yufuhrbahngefellichaft, wobei die Bedingung gejtellt wurde,
daß die Erpropriation der Grundjtüde in der Weile erfolge,
da die Strede zwiſchen Alt-Schwaneburg und Stodmannshof
jederzeit auf Koſten der Krone aus einer jchmalfpurigen in
eine breitipurige Bahn verwandelt werden könne.
„ Die „Deenas Lapa“ weilt darauf hin, dab gegenwärtig
in Kurland bereits zwölf Bienenzüchtereien bejtehen, von
welchen jede 30-50 Vtitglieder zählt.
„Der „Riſhſki Weſtnik“, das Organ der Nigafchen Lehr:
bezirfsverwaltung, Eonftatirt, daß jest auch Nichtruſſen an:
fangen Mitglieder der ruſſiſchen gejelligen Vereine in den
baltiſchen ‘Provinzen zu werden.
„ In Slemmingshof im Jurjewſchen (Dorpatichen) Kreife
wird eine zweillajlige minifterielle Mädchen-Volksſchule ein:
geweiht. Es ift die zweite derartige ehſtniſche Schule; die
erjte wurde in Karfus im Pernaufchen Kreiſe eröffnet.
22. Aug. Tagung des X. livländ. Verztetages in Wolmar.
Allgemeines Intereſſe beanſprucht das Neferat des Präſidenten
der „Selellichaft zur Bekämpfung der Lepra,” Prof. Dehio;
— 149 —
darnach hatte die Sefellichaft im Jahre 1897 eine Einnahme
von 34,564 Rbl. 86 Kop. und eine Ausgabe von 21,372
Rbl. 38 Kop. (Balt. Chr. II, 3.) Nach dem auf dem
legten Landtage gefaßten Beichluß der livländiſchen Ritterſchaft
werden für jeden zu einer livländiichen Bauergemeinde an—
geichriebenen Ausſätzigen, welcher in einem der livländijchen
Leproſorien verpflegt wird, 8 Rbl. monatlicd) aus der Yandes-
kaſſe gezahlt. Die livländischen Städte haben für die zu
ihren Steuergemeinden gehörigen Lepröjen dieſelbe Leijtung
anf fich genommen. Somit find die Bauergemeinden Livlands
von allen Zahlungen für ihre Lepröfen befreit. — Die bisher
zwei Dial in Wolmar, vier Dial in Wenden und je ein
Mal in Walt, AJurjew und Bernau ftattgehabten neun
Merztetage wurden durdhichnittlih von S6 (Minimum 47,
Marimum 136) Aerzten befucht und insgefammt haben ſich
95 Merzte mit Vorträgen an denjelben betheiligt. Davon
waren aus Jurjew (Dorpat) 28 Vortragende mit 78 Vor:
trägen, aus Riga 37 Aerzte mit 71 Vorträgen, aus den
fleinen Städten und vom Yande 15 Aerzte mit 30 Vorträgen.
Aus Kurland waren 5 Nerzte mit 7, aus Ehſtland ein Arzt
mit 3, aus St. Petersburg 8 Nerzte mit 16 und aus
Deutjchland ein Arzt mit zwei Vorträgen vertreten.
23. Aug. In Friedrichitadt wird eine neuerbaute griechiich:orthodore
Kirche eingeweiht.
„» Bernau führt die ofteuropäiiche Zeit ein.
“ Die Zeitung „Ruſſj“ erhält für ihren Artikel „Bilfeleiftung oder
drüdende Belaſtung“ die zweite Verwarnung durch den Minifter des Innern.
„ Ter „Jerfoonyg Weſtnik“ publizivt den Rechenſchafts—
beriht des Dberprofureurs des heiligen Synods für Die
Jahre 1894 und 1895. (Den Abjchnitt über die Lage der
griehiich:orthodoren Kirche in den baltischen Provinzen ſiehe
im Anhang.)
19.— 24. Aug. Tagung der Livländiichen Provinzialfynode in
Bernau.
24. Aug. Der Miniſter der Volfsaufflärung hat nach den „Zir—
fulären für den Rigaſchen Lehrbezirk“ die Erklärung erlaſſen,
dab die Verwaltung aller lutheriſchen Parochialichulen, die
gemäß dem Allerhöchſten Befehl vom 22. November 1890
der Leitung des Dlinijteriums der Volksaufklärung unterjtellt
26.
150 ⸗
worden, unter Anlehnung an das Statut vom 8. Dezember
1828 eingerichtet werden muß, daß jedoch die erwähnten
Schulen den Parochialſchulen nach dieſem Statut nicht gleich—
geſtellt werden können in Bezug auf ihre Rechte und auf
die Dienſtvorrechte der Lehrer.
.Aug. Es iſt eine neue nichtoffizielle Ausgabe der „Sammlung
der Geſetzesbeſtimmungen über die Bauern der baltiſchen Gou—
vernements“ erſchienen, bearbeitet vom weil. Geheimrath
B. E. von Neutern, chemaligen (F 7. Febr. 1897) älteren
Beamten der Kodififationsabtheilung des Reichsraths.
» Wie mit dem Beginn jeden neuen Lehrjahres in legter
Zeit Hagt der „Riſhſti Weſtnik“, das Organ der Rigaſchen
Lehrbezirfsverwaltung, aud) Diesmal wieder über das Studenten
elend in Jurjew. (Balt. Chr. I, 49).
„ Die „Beterb. Med.“ fonjtatiren, daß eine außergewöhnlich
große Zahl ehſtniſcher und lettiicher Schüler in die Lehr—
anftalten der Nefidenz eintreten.
»„ Den TDireftoren und Inſpektoren der Volksſchulen iſt
das Necht zugeftanden worden, im Bedarfsfalle Lehrer der
Kirchſpiels- und Volksschulen zu Sehilfendienjten heranzuziehen.
„» Gedädtnißtag des 25-jährigen Beftehens der Nigaer
Stadt:Kealichule.
„ Eröffnung der nordlivländiichen landwirthichaftlichen und
der V. livländischen Gewerbe:Ausitellung in Jurjew (Dorpat).
„ Eine Verfammlung der Telephonvereine des Jurjewichen
(Dorpatichen), Werrojhen und Walkſchen Kreijes beräth über
die Verbindung der einzelnen Telephonnepe.
r Der Naturforicher-Kongreß in Kiew hat fi auch mit dem Stande
der Volksbildung in Rußland beichäftigt. ES finden jich bier immer
noch unter 1000 Nefruten 639 Analphabsten. (In Deutichland famen
1895/96 auf 1000 Rekruten 1,,, in Frankreich 55, in Defterreih 281
in Italien 389 Analphabeten. )
„ Einheimifche Blätter fonjtatiren wiederholt den Rückgang
der Kreisjtädte des baltischen Gebiets in Folge der tief ein:
greifenden Veränderungen der Rechtsverhältniſſe und des
Verwaltungswejens.
„ Die Libaufche orthodore Bratjtwo Hatte im legten Jahre
eine Einnahme von 2782 Nbl. 3 Kop. und eine Ausgabe
von 2213 Rbl. 15 Kop.
Auhaug.
Aus dem Rechenſchaftsbericht des Oberprokureurs des
Heiligen Synods K. P. Pobedonoſſzew, für die Jahre
1894 und 1895.
Die erleuchtende Thätigkeit der orthodoren Kirche in der
Nigafchen Epardie begegnet vielen Hemmniſſen und Dindernifjen
von Seiten der Andersgläubigen, die im baltiihen Gebiet das
vorherrichende Element bilden. Beſonders viel Schaden fügen der
orthodoren Kirche die lutherischen Bajtoren zu, die auf alle mögliche
Weiſe ein feindliches Verhalten zu ihr der örtlichen Bevölkerung
einzuimpfen juchen. Muf die orthodoren Prieſter ſehen fie mit
Hab wie auf ihre perſönlichen Feinde. In Kiche und Schule
juchen die Paſtoren ihr Wort gegen die ihnen verhaßte
griechiich:orientaliiche Neligion, die fie verächtlich den „ruffiichen
Slauben” nennen, zu richten. Im Jahre 1894 fam jogar ein
Fall öffentliher Schmähung des orthodoren Glaubens und der
Negierung durch einen Paſtor in einer Predigt vor, die er in
einem Bethaufe hielt. Diejenigen, die ſich der Orthodorie an-
geichloffen haben, werden von den Bajtoren „Verlorene, die zu
ewiger Qual verurtheilt Find,“ genannt. In Sonderheit wider:
jtreben fie den gemifchten Ehen und bedrohen die ſolche Ehen ein:
gehenden Lutheraner mit jchredlichen Höllenſtrafen.
Von der Jchädlichen, wenn auch veritedten Wirffamfeit der
lutheriſchen Paſtoren gegen die Orthodoxie fönnen folgende Ihat:
jahen Zeugniß ablegen.
In den Berichtsjahren liefen jehr viele allerunterthänigite
Geſuche von Perjonen, die ihrer Geburt nad) Orthodore, doc zum
lutherischen Glauben abgeirrt waren, um die Erlaubniß ein, legteren
frei befennen zu dürfen. Die Eparcdialobrigfeit, der dieje Bitt-
Ichriften zur Ausfertigung der in Frage fonmenden Daten und
zur Beichlußnahme überjandt wurden, jah im Faktum der Eingabe
folder Bittgefuhe immer den Einfluß und die Aufhegerei der
lutheriſchen Paſtoren, von denen böswillig im Volke das lügenhafte
Gerücht ausgejprengt worden, die Regierung werde bald die volle
Konfeffionsfreiheit einführen. „Am Volt,“ fchreibt ein Prieſter
an die Rigaſche Eminenz, „hält fid) hartnädig das Gerücht, daß
es einigen Paſtoren heimlicy erlaubt worden ſei, Anıtshandlungen
an den Orthodoren zu vollziehen, und daß man jeden Tag die
offizielle Erlaubniß dazu für alle Bajtoren erwarten müſſe, des:
gleichen die Erlaubni die Orthodoren dem Lutherthum zuzuführen,
XI
fo daß einige Abtrünnige, die in den Schooß der orthodoren Kirche
jurüdzufehren beabfichtigten, dieſe ihre Abjicht bisher nicht aus:
geführt haben.“
In der legten Zeit haben einige lutheriiche Paſtoren ange:
fangen zu predigen, daß das Lutherthum und die Orthodorie im
Wejentlihen ein und daſſelbe wären, daß aber der Weg ber
Orthodorie ein jehr dornenreicher und jchiwerer jei, auf welchem
nur Leute mit jtarfer Seele und großer Energie ins Himmelreich
fommen fönnen, während der Weg des YutherthHums zur Erlöfung
der allerleichtejte wäre. Ein ſolch' jchlauer Kunjtariff, den die
PBajtoren anwenden, um zu beweilen, daß zum Uebertritt vom
Lutherthum zur Orthodorie gar Fein Grund vorhanden wäre,
erreicht leider häufig feinen Zweck.
Nicht zufrieden mit der verjtedten Propaganda, laſſen die
‘Bajtoren vorzugsweife der lutheriichen Gemeinden des Gouvern.
Yivland nicht jelten auch eine offene Verlegung dev Rechte der
berrichenden Kirche zu. Indem jie die in der Drthodorie nicht
genügend befejtigten Perſonen ihrem Einfluß und ihrer Macht
unterzuordnen juchen, vollziehen fie bei Chen von orthodoren Perfonen,
die zum Lutherthum abgewichen find, mit Perſonen lutheriſcher
Konfeſſion die Trauung nad) lutheriichem Ritus, beerdigen orthodere
Berfonen nad) lutheriichem Ritus und nehmen Orthodore zur Kon
Hemation an. In ihren der Orthodorie feindlichen Beltrebungen
finden die lutheriſchen Paſtoren eine jtarfe Unterjtügung unter den
einflußreichen deutihen Gutsbejigern, die alle möglichen Wiittel
ausfindig machen, die orthodoren Gemeindeglieder von der Aus:
übung ihrer religiöien Verpflichtungen abzuhalten. Ueberdies wird
das Verhalten der lutheriichen Gutsbejiter gegenüber den Ortho—
doren nicht jelten durdy große Ungerechtigkeit und Parteilichkeit
gekennzeichnet. So erhebt ein Gutsbefiger mehrere Jahre hindurch
von den orthodoren bäuerlichen Pächtern für jeden „Thaler“ Landes
einen Nubel mehr an Bachtzins als von den LYutheranern und
diefe Zahlung heißt im Munde des Volfes der „Zins für den
Glauben.“ Es fommt auc oft vor, daß die lutheriichen Grund:
bejiger und Wirthe es ablehnen, orthodoren Perſonen Yandjtüde
zu verarrendiren oder ſolche Perſonen in Dienjt zu nehmen.
Inmitten von Lutheranern und in den meijten Fällen in
materieller Abhängigkeit von ihnen, jind die orthodoren Gemeinde:
glieder der Nigafchen Eparchie deren jchädlichem Einfluſſe bejtändig
unterrvorfen und bedürfen daher einer bejondereu Fürſorge von
Zeiten der orthodoren Geiſtlichkeit. In Elarer Erfeuntniß der
geijtlihen Bebürfniife ihrer Gemeinden richten die orthodoren
Prieſter denn auch alle ihre Bemühungen darauf, dieſe Bedürfnifje
zu befriedigen.”
Die Entgegnung des livländ. Generaljuperintendenten hierauf
(publ. in den „Beterb. Wed.” dd. 15. Oft. ec.) lautet unter Fort:
lafjung der einleitenden Säge: „Es ijt erjtaunlich, daß jo einfeitige
Erklärungen einem offiziellen „Rechenſchaftsbericht“ haben zur
Srundlage dienen fünnen, während es doch befannt ijt, daß die
orthodore Kirche durch alle mögliden Dlittel der bürgerlichen
Gewalt geihügt ift und daß ihr dabei die Verpflichtung obliegt,
die Andersgläubigen zur Orthodorie zu befehren, während die
anderen Sonfeifionen nicht einmal das Recht haben, das Weſen
ihrer Glaubenslehren auch nur prinzipiell zu vertheidigen und für
jold ein Thun ſogar frimineller Verantwortung unterliegen.
Hiervon legen jowohl das Geſetz, als aud die Praris recht Klar
Zeugniß ab.
Dieje Stellung der orthodoren Kirche hat, bejonders in den
baltiihen Gouvernements, dahin geführt, daß, wie aus dem offi-
ziellen „Nechenjchaftsbericht” zu erſehen ift, heutzutage von den
lutherischen Paſtoren verlangt wird, jie jollten die „Feſtigung der
DOrthodorie im baltischen Gebiet” fürdern, um nidt den Namen
„teindjeliger Propagandiſten“ zu verdienen.
Es erjcheint überflüſſig, auf die einzelnen im „Rechenſchafts—
bericht” beigebracdhten Anschuldigungen näher einzugehen und die
betreffenden Erklärungen zu widerlegen. Mehrfacd find im Laufe
der legten Dezennien, namentlid) jeit dem Jahre 1884, den Re—
gierungsinftitutionen wahrheitsgetreue Auseinanderießungen über
die interfonfejfionellen VBerhältniiie in den baltiſchen Gouvernements
unterbreitet worden, deren Publifation ein der Darftellung des
erwähnten offiziellen „Nechenichaftsberichts“ völlig widerjprechendes
Bild geben würde. Was der „Hechenichaftsbericht”“ nunmehr
abermals wiederholt, das ift Schon längit aufgeklärt und widerlegt
worden, jo 3. B. in dem befannten Bericht des Grafen Bobrinjfi
vom Jahre 1864, welcher Kaijer Alerander II. unmittelbar vor:
gelegt wurde und noch jegt jehr bemerfenswerth ijt.
Es würde nichts nüßen, wenn man die Örundlofigfeit der
jegt abermals beigebrachten gleichen Anschuldigungen darthun wollte.
Vorausfichtli würden alle Entgegnungen weder in Betracht ge:
zogen, noch leidenichaftslos gewürdigt werden.
Unter dieſen Umjtänden halte ich es für meine Pflicht,
Namens der Livländiichen evangeliſch-lutheriſchen Predigerichaft
die aufs Neue und ohne die geringiten Beweile im „Nechenichafts-
bericht” gegen uns erhobenen Anichuldigungen direkt zurüczumeiien,
und jtelle die Sache Gott dem Herrn anheim. Er wird zu Seiner
Zeit das Seufzen derjenigen erhören, die auf Ihn hoffen und die
Zeit erwarten, wo nit nur im Siwod Sakonow Bd. I, Art. 44,
jondern in der That aud im rufliihen Neiche Jedem freigeitellt
fein wird, „unbehindert” demjenigen Slaubensbefenntniß zu folgen,
zu dem er nach jeinem Gewiſſen gehört, nach dem Beijpiel der
— 154 —
am 5. Auguſt 1825 erfolgten Verfügung des Hl. Dirigirenden
Synods, durch welche bejtimmt wurde: „Da die Eltern der Minna
Stimer, welche die Schuld daran tragen, daß fie nad) futheriichem
Befenntniß getauft ift, bereits geitorben find — fo ilt es ihrem,
der Minna, Gewiſſen anheimzuftellen, ob fie der griechiſch-ruſſiſchen
Kirche beigezählt werde oder nicht.”
In dem Bericht des h. Synods ſchließt der Abichnitt über
die Djtjeeprovinzen mit folgenden Sägen: „Die erleuchtende
Thätigfeit aller genannten Perſonen und Inititutionen der Staats:
fire] hat jehr merkliche Reſultate erzielt. Nach dein ZJeugniß des
Rigaſchen Erzbiſchofs wächſt und gedeiht die Orthodorie im baltiſchen
Gebiet, fie jenft ihre Wurzel immer tiefer in die Mitte des Volkes
und bemächtigt ih immer mehr der Geijter und Herzen der
Bevölkerung. Die geiftlihe Schönheit des orthodoren Gottes:
dienjtes, die Heiligkeit und innere Wahrheit der orthodoren gottes-
dienjtlihen Gebräuche wirken faszinirend (neorpasumo) nicht bloß
auf die orthodoren Semeindeglieder, jondern auch auf die Yutheraner.
Nach dem Bericht vieler Pröpſte bejuchen die Lutheraner gern den
orthodoren Gottesdienit und die Sirchenfeierlichkeiten, ehren Die
orthodoren Feiertage, geben ihre Kinder in die orthodoren Kirchen—
gemeindejchulen und bringen logar Opfer an Geld oder Diaterialien
zum Bau von orthodoren Kirchen. Bei der Inſpektion der Eparchie
durch Seine Eminenz den Erzbilchof begegneten die Lutheraner
ihm allenthalben gemeinsam mit den Orthodoren, hörten feine
Heden und Anſprachen an und einige traten an ihn heran, um
ſich ſegnen zu laljen und empfingen Kreuze und Brojdüren. Es
iſt erlichtlih, dab das Lutherthum aufhört, das religiöfe Gefühl
der Ehiten und Leiten, bei denen die Sehnſucht nach einem beijeren
wahrbaften Glauben und einer bejjeren wahren Kirche erwacht iſt,
zu befriedigen. Dadurch allein läßt ſich auch der von Jahr zu
Jahr jteigende Uebertritt von Zutheranern zur Orthodorie erflären.
In den Berichtsjahren hat die Anzahl der zur Orthodorie über:
getretenen Lutheraner die jehr anjehnliche Ziffer von 2236 Perſonen
erreicht. (Sn Jahre 1894 — 1087 und im Jahre 1895 — 1149
‘Berjonen.)
Ende des zweiten Baudes der Balt. Chronif.
Ein Perfonens und Sacıregiiter zum Il. Bande der Chronik wird dem nächſten
Heft beigefügt werden.
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