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Full text of "Baltische Monatsschrift"

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Baltische 
Monatsschrift 





Baltische 
Monatsschrift 





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Hrinreton Üniversitp. 





Baltifche 


Monatsichrift. 


Herausgegeben 
von 


Arnold von Tideböpl. 


VBierzigiter Jahrgang. 


XLVI. Band. 


Riga. 


Jonck & Poliewsky. 
1898. — 


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Juhalt. 


Von den Funktionen des Gehirnes. Aus dem Franzöſiſchen 
des Ch. Richet überſetzt von A. Baron Nofen . 

Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. Bon M. Böhm 

Shakeſpeare's Narren und Klowns. Won Dr. Ed. Edhardt 

Herzog Chriſtoph von Medlenburg (1537—1592). Zwei 
Vorträge von Dr. U. Bergengrün 


Taganrog im Jahre 1825. Von N. K. Schilder . 185. 


Zu dem Tagebuch) des Grafen Gotthard Manteuffel (1783). 
Don Viktor Diederichs . AUREER E Ber 

Eine politiihe Rede vom Jahre 1601. Mitgetheilt von 
Dr. Fr. Bienemann jun. . . 

Die Kaiſerlich Finländifche — Sorietaͤt 1797 — 


1898. Bon 9. von Samjon:Himmeljtjerna . 209. 


Kaifer Paul und der Metropolit Sieſtrzencewicz-Bohusz 
Aus dem Briefwechſel zwiſchen Viktor Hehn und Georg 


Berkholz. Neue Folge. .» . . 2) 3 86L: 


Seheimbünde. (Nus hinterlajjenen Papieren.) Von 8. 
Die Verfaſſung der Stadt Niga im erften Jahrhundert der 
Stadt. Eine Anzeige von Dr. U. Bergengrün . 


Litteräriiche Streifliter. Bon H.D.. . . . ..190. 
Neue Belletriftit. Von Prof. Dr. 2. v. Schröder 84. 175. 


Baltiihe Chronif 1897/98. 


995368 


— 


F Boaltiſche 
WMonatsſchrift. 


u | Herausgeg eben 
von 

Urnold v. Tideböhl | x 

unter Mitwirkung 
N Don Dr. U. Bergengrün, Dr. U. Bielenftein, Baron ®, v. d. Brüggen, Prof. 
, Dr. €. Dehio, 9. Diederichs, Dr. Ed. Erhardt, Prof. Dr, J. Engelmann, 
Prof. Dr. C. Erdmann, U. v. Gernet, Gr. v. Glajenapp, Dr. E. v. Nottbed, 
N ‚Prof. Dr. 2. v, Schröder, N. v. Schulmann, ©. Stavenhagen, U. Tobien u. 4. 


— — 


| | 40. Jahrgang. Heft Bi; Juli 1898. 


46. Band, 





- 


Abonnements werden von ER Buchhandfungen, —— von den unten- 
F en, genannten Firmen, entgegengenommen. 





— — Breis jährlich 8 RL, Über die Voſt 9 Nur. » 





—* Nign. 
7 Bond & Poliewskłth. 






— — Karows Uninerf. Buchhandlung: 9. ©. Krüger. — Leipzig, 
d —— Ferd Beithorn. C. Ih. Bluhm. — Moskau, J. Deubner. — 

g· Eggers DE Ko. 8%. Rider. — Riga, E. Bruhns. J. Deubner. Jonck & 
Kymme Er Stieba. — Reval, Kluge & Ströhm. Ferd. Waſſermann. 


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Briefe und Beiträge find zu richten an bie — der 
Baltiſchen Meneteſchriſt in Riga Küterſtraße 9. 


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Inhalt j 
— — nn a Seite, 
Von ben Funktionen des Gehirnes. Aus dem Fran- J 
zoſiſchen bes Ch. Richet überſetzt von N. Baron Roſen 1. 
Ein Grenzgebiet der Medizin und ge Bon 


Mm. Böhm . .. . 20 
Shateipeare's Narren und Rlomns. Von Dr. ®. SE 
Ehhardt / : . re 


Neue Belletriftik. "Bon Prof. pre v. ‚"Schiäber 84 


Nachdruck verboten. 


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Diefem Heft find beigefügt (zwiſchen Seite 86 u. 87) Titel und’ 
—— zum 45. Bande der „Balt. Mon.‘ 


Die beiden nächften Seite, zu einem Doppelheit vereinigt, 
— am 1. September. 


— en euer enger —— = ——— — 
IT ——— —— 


Herausgeber und Redakteur: ur: Urnoldo. Tidebößt. 


Lonnoneno neuaypom. . Pura, 30. Lonn 1898 r. 
Druderei der „Baltiſchen Monatsſchrift“, Riga. 








Bon den Funktionen des Gehirnes. 


Von Ch. Ridet.*) 
Aus dem Franzöſiſchen überjegt von A. Baron Rojen. 


Organiſche Apparate, wie die Leber, das Herz, die Eierftöde, 
die Musfeln haben materielle Sunftionen, welche ſich auf materielle 
Vorgänge, chemiſcher, dynamiſcher oder morphologiicher Natur 
jurüdführen laſſen. Das Gehirn dagegen hat eine Funktion, die 
feines der anderen Gewebe birgt: das Bemußtjein und den 
Intellett. Das Bewußtſein und der Verftand jchaffen eine tiefe 
Kluft zwiſchen der Phyſiologie des Gehirnes und der der übrigen 
Organe, jo daß die Erfenntniß der Seele, des Ih, den Gegenjtand 
einer befonderen Wiſſenſchaft, der Pſychologie, bildet, die man oft 
von der Phnfiologie im engeren Sinne hat trennen wollen. In 
Mahrheit aber vermilcht ſich, troß aller Bemühungen der Pſycho— 
flogen, die Piychologie mit der Phyfiologie des Gehirnes, wenn 
auch die Methoden der beiden Wiffenjchaften in mancher Hinficht 
abweichen. 

Troßdem der Sitz und das Organ des Bewuhtjeins das 
Gehirn iſt, jo befitt es dennoch glei) den anderen Organen 
einfache phyliologiihe Funktionen. 

Wir haben alfo beim Gehirn zu unterjcheiden, eine pſychiſche 
Funktion im engeren Sinne, das Bewußtſein oder die Erfenntniß 
bes Jh, und eine ausschließlich phyfiologiiche Funktion, dur 
welche es gleich) den anderen Organen chemiſche und dynamifche 
Erjcheinungen hervorbringen fann. 


*) Revue scientifique 1897, N 21. (Aus dem Artikel „Cerveau* des 
Dictionnaire de Physiologie, Paris 1897 Alcan). 
1 


2 Bon den Funktionen des Gehirnes. 


Diefe Unterfcheidung muß gemacht werden, da andere Theile 
des Nerveninftems mit jogen. phyliologiihen Funktionen begabt 
find, welche von chemischen und dynamiichen Erſcheinungen begleitet 
werden, aber nicht im Stande find Erjcheinungen des Bewußtſeins 
zu erzeugen. 

Die Ichönen Arbeiten der zeitgenöffiihen Hiſtologen, unter 
denen id) bejonders Golgi und Ramon y Gajal anführen will, 
fönnen, unjeren Meinung nad, für die Erflärung der pſychiſchen 
Phänomene faum von großem Nutzen fein. Nicht auf diefem 
Wege wird uns Licht über fie verjchafft werden. 

Sogar die jo wichtige Thatſache, daß das Protoplasma ber 
Nervenzellen mit Eigenbewegungen begabt ift und auf Entfernungen 
hin Fortſätze ausſenden fann, um auf diefe Art mit diejer oder 
jener anderen Zelle in Beziehung zu treten, wirft, fo begründet 
fie auch zu fein Scheint, Doch nicht viel Licht in die Natur der 
Gehirnphänomene. Wußten wir doch jchon vor Entdedung diejer 
Eigenichaft des Nervenftoffes mit Sicherheit, daß die Nervenzellen 
die Befähigung hätten in gegenfeitige Beziehungen zu treten und 
diefe vorübergehende Vereinigung wieder zu löjen. 

Daher wollen wir nicht von den hijtologiichen und anatomiſchen 
Arbeiten Iprechen, welche fich auf den Bau der Nervenzellen und 
auf die Vertheilung der Hirnfaſern beziehen. Denn dieje jchönen 
mikrographiſchen Entdedungen beweilen wieder einmal das, mas 
Claude Bernard fo oft zu wiederholen liebte, daß es nämlid) fait 
nie möglich ſei von einer anatomischen auf eine phyſiologiſche 
Thatſache zu Ichließen. 

Das Nüdenmarf oder noch einfacher die Ganglien ber 
Inſekten und Molusfen find faum movdifizirte Transmilltionsorgane: 
ein Reiz läßt den Nerv vibriven und die Vibration verbreitet 
fih in der ganzen Ausdehnung der Nervenfafer. Wenn Zellen 
im Verlauf diejer vibrirenden Faler gelagert find, jo werden aud) 
fie erfchüttert. Es genügt dann, daß fie wiederum in Zufammenhang 
jtehen mit anderen, mit dem peripheriichen Bewegungsapparat 
verbundenen, Nervenfajern, damit fich dieje zentripetale Vibration 
in eine zentrifugale umſetze. So erhalten wir den Nefler, welchen 
man ohne Schwierigfeit auf eine Beförderung der Nerven: 
Schwingungen von einem peripheriichen Bunfte (dem jenfitiven Pol) 


Bon den Funktionen des Gehirnes. 8 


ju einem anderen peripherilichen Punkte (dem motorischen Bol) 
zurüdführen fann. 

Diejes jo wichtige Phänomen läht fih dod auf gewöhnliche 
phufifo-chemijche Geſetze zurüdführen. Die Schwingungswelle 
(welcher Art fie auch, ob chemilcher, eleftriiher oder noch ganz 
unbefannter Natur jei) wird von einem Nachbarpunfte zum anderen 
geleitet und von der Stärke des Neizes hängt, bei ganz gleich: 
bleibenden Bedingungen, die ihr proportionale Antwort ab, mag 
fie auch in einfachem oder zulammengejegtem Verhältniß zu ihm 
ftehen. Kein piychiicher Vorgang und feiner des Bewußtſeins tritt 
zu der Nealtion der Zellen und Nervenfalern hinzu. 

Selbit manche fomplizirt erjcheinende Reflexprozeſſe laſſen 
fih bei allendliher Analyje auf dieſe einfahen Schwingungen 
zurüdführen,; denn die Beziehungen zwilchen den Zellen fönnen 
ſehr zufammengejegte jein, ohne daß der Charakter der Erjcheinung 
fih im Wejen verändere. Es fann z. B. eintreten, daß je nad) 
der Stärfe des Reizes die Neaftion bei einer Zelle A jtattfindet, 
oder bei zweien A und B, oder bei dreien A, B und C u. |. w., 
jo daß der Weiz je nad) feiner Stärfe eine Antwort bedingt, 
welche lokal oder allgemein ift. In Folge der organiichen An— 
pallung werden die Antworten mehr oder weniger der Natur des 
Reizes entiprechen. 

So fompler diefe Antworten aber oft auch ericheinen mögen, 
fo find fie doch immer beftimmte und wechſeln nicht bei ver- 
ihiedenen Individuen. Die Beziehungen zwilchen den Zellen, 
welhe die Modalität der Antwort bejtimmen, find jtabil und 
beftimmt; man fann je nad der Form und Stärke des Neizes 
mit Sicherheit vorausjehen, welche Antwort erfolgen wird. Im 
übrigen tritt fein Phänomen piychischer Natur zu dieſem einfachen 
phnfiologischen Vorgang, der den Reflex ausmacht, hinzu. 

Mir können nod) weiter gehen. Nehmen wir an, daß die 
Gruppirung der Zellen fomplizirter jei, als beim Rückenmark, 
und daß jeder Neiz eine Spur oder, um fid) jo auszudrüden, ein 
Andenfen an feinen Durchzug Hinterlaffen hätte; dann wird es 
möglich jein, daß ein Reiz Zellengruppen erweckt, welche durd) 
vorhergehende Heizungen in bejtimmter Weile verändert find. 
Wir fehen, daß die Antwort fofort nicht mehr diejelbe fein wird, 
denn diefe veränderten Zellen bilden neue Apparate deren er 


4 Bon den Funktionen des Gehirnes. 


weile verjchieden ſein wird bei einem veränderten Individuum 
und bei einem normalen. 

Der Träger des Gedächtnifjes zu fein, ift eime jpeziell 
der Mervenzelle (l’element nerveaux) zufommende Eigenicaft. 
Die duch einen früheren Reiz gereizte Zelle A, ift nicht mehr A, 
fondern Al, die von der früheren etwas verfchieden ilt, jo daß 
die Neaftion = der Zelle A nicht mehr = aber wohl % ift, welche 
fih etwas von = unterfcheidet. 

Gewiß bildet das ein Charakteriftifum des zerebralen Organes. 


Yede Reizung der Zellen bat eine bleibende Spur jeines 
Durchzuges gelaflen; fo daß der gegenwärtige Zuftand die Konfequenz 
früherer Zuftände ift. 

Der Mukel M fehrt troß wiederholter Reizungen und Kon— 
traftionen genau in jeinen primitiven Zuſtand zurüd, es findet 
eine faft vollftändige Rückkehr zu jeiner früheren normalen organischen 
Konftitution ftatt; eine „restitutio ad integrum“ wie man früher 
zu Sagen pflegte. Aber die gereizte Gehirnfafer A wird nie 
wieder zu A werden: fie wird Aı werden; und nad) jedem Weiz 
wird fie fih, von Aı zu Ay, As 20. übergehend, entiprecdhend 
verändern, jo daß Die aufeinander folgenden Reaktionen, welche 
beim Musfel M jtets identisch find, da er immer M bleibt, — für 
die zerebrale Helle ſehr verjchieden fein werden, da fie ſukzeſſive 
Aı, As, As x. geworden. Ein Individuum wird alfo heute 
Reaktionen zeigen, welche von den geitrigen verjchteden find: und 
jedes Individuum wird ihm eigenthümliche Reaktionen aufweijen, 
welche es von anderen Weſen untericheiden laſſen, und zu einem 
Weſen machen, das ſich auch in verichiedenen Epochen feiner 
Exiſtenz von fich jelbjt unterjcheidet. 

Die Neaktion wird immer nad) den Grundgeſetzen bes 
Reflexes erfolgen, dieje Neflere werden aber, durch das Gedächtniß 
und die Eindrücke beeinflußt, ungemein verfchiedenartig und variabel 
fein. Das find ſchon pſychiſche Neflere. 

Jede Erſchütterung, die das Gehirn oder Rückenmark trifft, 
ruft eine Reaktion hervor d. 5. eine Bewegung jei es der Abwehr 
oder der Anziehung. Denn alle Bewegungen eines Gejchöpfes 
find Bewegungen des Begehren oder Von ſich-weiſens — und 
andere fann man fi) auch nicht denfen. 


Bon den Funktionen des Gehirnes. 5 


Doch haben der medulläre und zerebrale Nefler verichiedenen 
Charakter. Der einfache Refler iſt eine fofortige unvermeidliche 
Antwort, genau der Quantität und Qualität des Reizes ent- 
iprehend. Man kann nad der Organijation diejes oder jenes 
Thieres die medulläre Antwort vorausjchen; denn fie iſt von 
unerbittliher Unvermeidlichkeit. Der zerebrale Hefler dagegen iſt 
unregelmäßig, wenigjtens ſcheint er uns jo zu jein, faſt phantaftiich, 
von der perjönlichen Sonjtitution des Individuums und feinem 
jeweiligen Zujtande abhängig. Jeder zerebrale intellektuelle Aft 
bietet eine Mannigfaltigfeit dar, die der Analyje jpottet und nie 
fann mit Beſtimmtheit vorhergejagt werden, wie er verlaufen wird. 

Die zerebrale Antwort gejchieht jedoch genau nad) denjelben 
Grundgefegen, wie die mebulläre. 

Daß der zerebrale Prozeß Fomplizirter erfcheint, hat feinen 
Grund darin, daß ein neues Element hinzugetreten ift. Das Mark 
hat feine andere Antwort zu geben als die, welche durd feine 
anatomische Konjtitution bedingt ift. Frühere Neizungen beeinflujien 
es nur in geringem Grade, indem feine Erregbarfeit durd Er: 
Ihöpfung oder Hyperäſtheſie geändert ift; während im Gehirn jeit 
der Geburt jede Minute tief einjchneidende verändernde Ein- 
wirfungen jtattgefunden haben, welche rein individuell und zufällig 
(contingentes) find und danf der Aufipeicherung aller früheren 
Reizungen Spuren hinterlajjen haben. 

Sollte id) in einem Worte die Natur des Gehirnes fallen, 
jo würde ich jagen, es ilt der Apparat des Gedädtniljes. 
Alles was das Gehirn je, wenn auch nur ein einziges Dial, hat 
vibriren laſſen, hat einen unauslöjchliden Eindrud hinterlafien. 
Optiſche, akuſtiſche, taftile Neize — fie bleiben alle im Gehirne 
firirt, wo auch die Zelle gelegen jein mag, in der der Eindrud 
feine Spur hinterlaljen. Alles fann in gegebenem Wiomente 
wiedererjcheinen, wenn der gegenwärtige Reiz danf der Ideen— 
aljoziation die Erinnerung an alte Neizungen wadruft. 

Die Verſchiedenheit der Antwort beruht erjtiens darauf, daß 
die Erinnerungen zweier Individuen nie identiſch jein fünnen und 
dann darauf, daß die Ideenaſſoziationen in jo ganz verjchiedener 
Weile geichehen fönnen. 

Denkt man an das mathematische Gejeg der Ordnungen, jo 
erfennt man leicht, daß dieje Verſchiedenheiten mit wunderbarer 


6 Bon den Funktionen des Gehirnes. 


Schnelligkeit wachſen (m — 1) (m-+2) (m+ 3) ..... (mn), 
jo dab für n direft ajjoziirte Ideen oder Erinnerungen wir eine 
durd ihre Größe jeder Schägung entgehende Zahl von Anordnungs: 
möglichkeiten erhalten. 

Das Gehirn fann man natürlich mit dem Rückenmark ver: 
gleihen, aber nur mit einem mit Gedächtniß begabten Rückenmarke, 
welches die Erinnerung an alle früheren Erregungen behalten bat, 
und welches daher die Fähigkeit befigt in verſchiedenſter Weije zu 
reagiren. Dieje Berjchiedenheit madt die mdividualität aus; 
denn all dieje bei jedem Individuum wechjelnden alten Erinnerungen, 
die durch das gegenwärtige Bild verjchieden heraufbeſchworen werden, 
verändern die Natur der Antwort. 

Nun begreifen wir warum das Gehirn an Volumen jtetig 
zunimmt und mit der Vervollfommnung des Thieres wädlt. Cs 
geihieht damit Zellen vorhanden find, wohin die immer zahl: 
reicheren Erinnerungen aufgejpeichert werden fönnen, die dann 
aud fähig ſind in ihrer motorischen Antwort abzumechjeln. Der 
jonft einfahe und umnvermeidlihe Reflex ift zum pſychiſchen, 
komplizirten und faſt bis zur Unendlichfeit verjchiedenartigen 
Reflexe geworden. 

Wir fünnen mit anderen Worten jagen: das Gehirn ift das 
Organ der Vergangenheit, das Nüdenmarf das der Gegenwart. 
Das Mark fennt nur den gegenwärtigen Reiz; es antwortet nur 
auf das, wodurd es in gegebenem Augenblide aktiv erregt wird; 
während das Gehirn jeine Antwort nicht nur dem augenblidlichen 
Reize entiprechen läßt, jondern aud) allen früheren Errregungen, 
die ihm danf dem Gedächtniß gegenwärtig find. Aus der Erfahrung 
der Vergangenheit zieht das Darf feinen Vortheil, während das 
Gehirn von Allen profitirt, was ihn frühere Anreizungen gelehrt 
haben. 

MWir definiren daher das Gehirn als das Drgan bes 
Gedächtniſſes d. h. das Organ, das jeine Antworten modifiziven 
fann nad den Eindrüden der Vergangenheit. Dan kann zur 
Erläuterung dieſer wejentlihen Funktion des Gehirnes aus- 
gezeichnete Vergleiche und geijtreiche Analogien finden; doch jcheint 
mir die bejte dieſer Dietaphern der Vergleid mit der Photographie 
zu jein. Ein Lichteindrud, fobald er Silberjalze getroffen hat, 
binterläßt dort unzerjtörbare Spuren, welche mitunter dem Auge 


Bon den Funftionen des Gehirnes. 7 


erſt nach einer revelatorischen chemilchen Reaktion fichtbar werden: 
ebenjo ruft eine jenfible Reizung eine chemiſche Reaktion hervor, 
welche die Zelle in einer jcheinbar unmerflihen Weile verändert, 
die aber doch hinreichend ift, um fich zu manifeftiven, jobald ein 
neuer jie enthüllender Vorgang dieje Zelle berührt. So jpeichern 
ih in unferen Gehirnzellen die Eindrüde der Vergangenheit auf, 
glei) übereinander gelegten Klihes, in guter Ordnung, bereit 
zum Entwideln, jobald jie eine neue Erregung erwedt hat. 
Dann erjcheinen dieje alten Platten, unfjere Erinnerungen und 
Erinnerungsbilder, und verändern die Antwort auf den peri: 
pheriihen Reiz. Es erjcheint feine unvermeidlih ſich gleich 
bleibende Antwort mehr, aber eine veränderlihde Antwort, Die 
wir unmöglich vorausjehen fünnen, müßte man doch, um fie zu 
errathen die ganze Geſchichte des Individuums fennen, müßte die 
Form, die Natur und die Zahl jämmtlicher Erregungen kennen, 
die es von Kindheit an durchgemacht hat, und welche alle bei 
ihm Spuren hinterlaſſen haben. 

Die Viannigfaltigfeit der Gehivnafte ijt wohl wunderbar, 
und wir willen nicht, ob wir mehr jlaunen jollen über ihre Ber: 
ſchiedenheit bei verjchiedenen Individuen oder über ihre Analogien. 

Wenn es fi um einfache äußere Vorgänge handelt, ijt Die 
Gleichheit eine jehr große; und der Menſch ericheint faum mannig- 
faltiger in dieſer Hinfidht als das niedere Wejen. Wenn man 
Lärm in der Nähe eines Flujjes, wo Fiihe ſchwimmen, macht, jo 
eilen jie alle ſich zu retten, und alle Filche gleicher Art werden 
bis auf verjchwindend Feine Nüancen bin alle gleich veagiren. 
Wenn in einem Theaterjaale vor verjammelter Menſchenmenge 
ein Flintenſchuß fällt, jo wird die Reaktion bei den Anwejenden 
faum verjdieden fein. Die Einen werden die Augen jchließen; 
die Andern fid) die Ohren zubalten; manche werden einen Schrei 
ausjtogen; mande erblajjen oder wie gelähmt daſitzen. Im 
Ganzen betradhtet wird aber die Verjchiedenheit feine jehr große 
fein und die Antworten dev eine Menge bildenden verjchiedenen 
Individuen werden jo ziemlich identisch fein. Trog aller auf: 
gejpeiherten Erinnerungen, und den Berjchiedenheiten, welche wir 
individuelle oder Charaftereigenthümlichfeiten nennen, werden nur 
einige motoriſche Kombinationen auftreten, Die nur wenig von 
einander ſich unterſcheiden. 


8 Bon den Funktionen des Gehirnes. 


Wenn es ſich aber um etwas Kompfizirteres handelt, um 
einen Reiz, der fomplerere Erinnerungen wachruft, dann werden 
die Antworten jehr variiren und fönnen fich bedeutend von ein- 
ander unterjcheiden. Ein plöglich fallender Schuß erweckt einfache 
faft gleiche Gefühle, während die Phraſe eines Luſtſpieles oder in 
einem Drama weit fomplerere Bilder wachruft. Und doch, aud) 
in dieſem Fall, troß mander Motive zur Differenzirung werden 
die Neaftionen relativ nur wenig fi) unterjcheiden. Mag ein 
Stück fünfzig oder hundert Dial hintereinander gegeben werden, 
es ericheinen bei der Zuſchauermenge diefelben Bewegungen, jeden 
Abend, zu beftimmter Stunde, jobald diejes tragiſche Wort fallt 
oder jener zindende Wi erklingt. 

Wir konnen dieje Vorgänge in gewillem Grade mit Recht 
als Neflere bezeichnen, und Fönnen fie, was von MWichtigfeit ift, 
begreifen ohne das Element des Bewußtſeins oder der Erfenntniß 
des Sch heranziehen zu müſſen. Wir brauchen nur anzunehmen, 
daß die ſenſible Erzitation jtatt direkt zur einfachen Zellengruppe 
zu gehen, die unvermeidlid) den Neiz in eine zentrifugale Anreizung 
umjeßt, den Haufen von Nervenzellen in Bewegung feßt, in denen 
fid) die alten Neizungen aufgelpeichert haben. Dieje zahlreichen 
Nervenzellen werden, — verändert wie fie find und Durch vorher: 
gegange Erregungen mit einer Art Individualität begabt, — 
ihrerjeits reagiren, die Erregungen verwandeln und verändern 
und fie endlidy in eine Bewegung oder in eine Hemmung auflöfen. 

Die Komplizirtheit eines Weſens hängt aljo ab von 
der Zahl der Nervenzellen im Gehirn. Bei den einfachen 
Geſchöpfen, deren Gehirn gleich Null oder rudimentär ift, find 
dieje Reaktionen bejtimmte; denn frühere Erregungen haben fich 
nit anſammeln Fönnen, um damit differenzirte Neaftionen vor: 
zubereiten. Aber je höher man auf der Stufenleiter der Wejen 
jteigt, dejto mehr wächſt das Gehirn: die Ffortifale Schicht der 
grauen Subjtanz erjcheint ein Neſt von Zellen, wo die Erinnerungen 
ji niederlegen; dieſe graue Schicht faltet fi) übereinander je 
ftärfer fie zunimmt, um Platz finden zu fünnen im engen Schädel. 

Das Gehirn iſt aljo, wie wir oben gefagt und es hier 
wiederholen, das Organ des Gedächtnifjes und diejes Gedächtniß 
eine Funktion der Anzahl der zur Aufipeicherung geweſener Reize 
fähigen Gehirnzellen. Die Fortichritte der modernen Hiftologie 


Ron den Funktionen des Gehirnes. 9 


erlauben und® fogar ein unerwartetes Faktum  fetzuftellen: daß 
nämlich die Beziehungen der Zellen untereinander nicht unver: 
ünderlih und unbeweglich find. Sie geſchehen durd) bei Gelegenheit 
ericheinende Fortſätze, welche nad der Erzitation auftreten, und 
deren Form und Dimenfionen vom Reize ſelbſt abhängig find. 
Wenn ein zentripetaler Neiz zum Gehirne gelangt, jo veranlakt 
er die Thätigfeit einer gewiſſen Anzahl von Zellen, welche ihrerjeits 
dann andere durch ihre Fortjäge anregen und jo fort, jo daß zum 
Schluß alle Nervenzellen der Gehirnrinde von dieſem einen Neize 
erjchüttert werden, und die allendlihe Antwort die Rejultante 
diejer ganzen jehr verwidelten zerebralen Erjchütterung ift. 

Es folgt daraus ein Faktum von außerordentlicher 
Wichtigkeit, daß nämlich die Antwort nicht dem Reiz proportional 
it. Wo das Nüdenmarf auf einen jenfiblen Reiz antwortet, ift 
das Verhältniß ftets ein einfaches. Wenn die Reize a, 2a, 3a ıc. 
find, jo find die Antworten b, 2b, 3b 2c.; das Gehirn wird aber 
nicht mit jo unerbittliher Fatalität antworten, denn der Grad 
der Reizbarkeit der jo zahlreichen Gehirnzellen, die bei der Antwort 
mit theilnehmen, hängt von ihrer Konftitution d.h. von.den früher 
erlittenen Reizungen ab. So fann je nad) dem Jndividuum, das 
gereizt wird, eine Provokation a die Antwort 100b oder 10b 
oder b/100 zur Folge haben, ohne daß man im Voraus vorher: 
jagen fönnte, welche Intenſität die Antwort haben wird, ift fie 
doch eine Funktion angejammelter Erinnerungen und der früher 
unter den Zellen fejtgejegten Verbindungen. 

Es fann dann wohl geichehen, daß ein anjcdeinend fehr 
ſchwacher Reiz eine ungeheure Antwort hervorbringt, die in feinem 
Verhältniß jteht zur Geringfügigfeit des Neizes. Das Gehirn 
hat einen wunderbaren Vorrath von Energie, weldye im gegebenen 
Augenblide jich ganz entladen fann, jelbit wenn der dieſe Ent- 
ladung hervorrufende Funke auch nur ein ganz ‚Fleiner it. Wenn 
ein General jeinem Adjutanten zuruft: „Reiten Sie!“ jo iſt 
diefer afuftiiche Neiz nicht groß, faſt nichtsiagend: er wird aber 
doch eine ungeheure Antwort erhalten, die in feinem energetischen 
Verhältnig zur Schwäche des Neizes jteht. Der Offizier wird das 
Pferd befteigen, zu Degen und Piſtole greifen, viele Kilometer 
über alle Hinderniffe galoppiren, und der im Gehirn aufgeipeicherte 
Vorrath von Energie wird ſich plöglic mit großer Kraft auslöfen, 


10 Bon den FZunftionen des Gehirnes. 


gleih wie ein fleiner eleftrijher Funfe eine große Maſſe 
Pulver entzündend fähig it eine ganze Stadt in die Luft zu 
Iprengen. 

Eigentlih fann jeder Vorgang in der Zelle mit einem 
erplofiven Phänomen vergliden werden, denn Die Reaktion ber 
Zelle überjteigt bei Weitem die erregende Kraft. Jede Zelle 
enthält einen großen Vorrath von Energie, welder im Moment 
der Reizung plöglid frei wird. Wenn eine Diuskelfajer von einer 
Kraft a angetrieben wird, ijt fie fähig die Energie von 1008 zu 
entwideln, denn der Reiz hat die latenten chemiſchen Kräfte 
— einen in der Zelle aufgeipeiherten Energievorraty — ausgelöt, 
ganz ebenjo wie die Erplofivftoffe in fi eine Quelle ungeheurer 
latenter Energie enthalten, welche nur auf die Gelegenheit, den 
Heiz wartet ſich zu entladen. 

Im Nervenfyitem ift diefe innere Kraft vielleicht nicht größer, 
diefe latente Energie vielleicht nicht intenfiver als im Muskel oder 
den anderen Zellenorganismen; aber die Wirkung it eine bedeutend 
beträcdhtlihere, dank den protoplasmatiihen Verbindungen und 
Beziehungen der verichiedenen Nervenzellen; jo daß ber Weiz a 
in einer Zelle die Energie von 100a entiwidelnd dabei nicht ftehen 
bleiben wird, wie beim Muskel; er wird Schritt für Schritt 
andere Zellen erfallen und jo wird — jeßen wir den Fall, daß 
1000 Zellen gereizt find — als Folge des Neizes a eine Energie 
von 1000 Mal 1008 entwidelt werden können. 

Die erplofive Kraft des nervöjen zerebralen Apparates in 
Gemeinſchaft mit der außerordentlichen Reizbarkeit der peripherifchen 
jenfiblen Ilervenapparate machen den ganzen Organismus zu einem 
Apparat von außerordentliher Empfindlichkeit, fähig in allen jeinen 
Theilen mit bewunderungswürdiger Intenfität zu vibriren. 

Das fönnte man in folgender Form ausdrüden: „im 
VBorgange des Nefleres läßt eine Zelle alle anderen 
widertönen und alle anderen flingen in ihr wider.“ 

Dieje Behauptung muß man fogar auf die Gehirnafte aus: 
dehnen: nur mit dem Zufag, daß in Folge des Gedädtnijjes 
der Gehirnnervenzellen dieſes Widerflingen nit nur in Der 
Gegenwart jtattfindet; es erſtreckt ji auch auf die Vergangenheit. 
In dem Gehirn tönt eine Zelle unbegrenzt in den anderen wider, 
und alle anderen klingen unbegrenzt in ihr wider. 


Bon den Funktionen des Gehirnes. 11 


Diefe Verbindung der Vergangenheit und Gegenwart und 
dieſe Solidarität der einzelnen aufbauenden Theile charakteriſiren 
eben das Welen und das Individuum. 

Die Gehirnprozejle können aljo in letzter Analyje auf 
vefleftoriiche Prozeſſe zurücdgeführt werden, welche aber durch zwei 
Eriheinungen gar merfwürdig verwidelt werden: einestheild das 
Gedächtniß der Nervenzellen; andererjeits die Ungewißheit (con- 
tingence) ihrer gegenjeitigen Nelationen (die gelegentlich zu Stande 
fommenden Beziehungen der einzelnen Zellen). Dieje beiden Er: 
iheinungen laſſen ſich ohne Zweifel auf ein einziges Phänomen 
jurüdführen, den Einfluß nämlid früherer Vorgänge auf ihren 
gegenwärtigen Zujtand. 

Um die Antwort des Rückenmarkes eines Frojches auf einen 
Reiz zu fennen, brauchen wir nicht feine Vergangenheit zu fennen; 
aber um die pſychologiſche Antwort eines menjchlichen Wejens auf 
einen Reiz vorauszujagen, müßten wir feine ganze Vergangenheit 
fennen und alle Neizungen bis ins Detail, welche ſich in der 
Maſſe jeiner Gehirnzellen aufgejpeichert haben. 

Daß bei jeder Neizung das Gehirn danf jeiner Organijation 
in jeiner Geſammtheit vibrirt, jcheint auf den erjten Blick mit 
der funktionellen Zofalijation, welche von den modernen Bhyfiologen 
jo MHargelegt worden ijt, in Widerjpruch zu jtehen; was aber nicht 
der Fall iſt. Im Gegentheil ijt es leicht nachzuweiſen, daß Die 
zuerjt diffufe Erzitation fi in bejtimmten Punkten fonzentrirt und 
lofalifirt. 

Nehmen wir bei einem |ndividuum x irgend einen viluellen 
Reiz « an; er wird eine gewilje Gruppe von Zellen erregen, welche 
in Relation mit den optiſchen Nerven jtehen; und dieſe erregten 
Zellen werden ihre Erjchütterung verichiedenen anderen „zellen: 
gruppen A, B, C, D, E, F ac. mittheilen. Aber der durd Die 
Zentren der vijuellen Perzeption veränderte Neiz “ wird nicht 
überall günftige Aufnahme finden; von all den gereizten Gruppen 
A,B,C, D, E, F wird nur eine einzige in wirffamer Weile 
angejtachelt werden. Die Zujtände der Vergangenheit haben ein: 
gewirkt und beim Individuum x die Gruppen A,B,C, E, F für 
den Reiz = unempfindlicd; gemacht, während D reizbar geworden iſt. 
Bei einem anderen Individuum y wird C reizbar geworden jein 
und in ähnlicher Weije jo fort, jo daß bei x die Zellengruppe D 


12 Bon den Funktionen des Gehirnes. 


reagiren wird und eine motoriiche Antwort erfolgen wird, welche 
von der durch die Gruppe C beim Individuum y bervorgerufenen 
motoriſchen Antwort verichieden fein wird. 

Doch iſt das hier nur eine erſte Station (relai). Durd die 
der Aſſoziation dienenden Faſern werden ſolche Antworten anderen 
Zellengruppen mitgetheilt werden, welche fpeziell mit der Aus- 
arbeitung der Bewegung betraut find: das find die pſychomotoriſchen 
Zentren diefer oder jener Bewegung, die durd ihre Erregung bie 
Antwort den zentrifugen Faſern des Gehirnes mittheilen werden 
und das Nüdenmarf und dieje oder jene Gruppe motorischer 
Nerven erregen werden. 

Es läßt ſich alio das Schema des Gehirnes etwa wie folgt 


darjtellen: er 
Aſſoziation. 


K. 


Urtheil H. 
(Discernement). | =» 


I. Wahl. 





- 


* 
— 


— 
* 


Senſitives Zentrum . — —D. Motoriſches zerebrales 
Zentrum. 


Zerebrale Leitung. 


B. Leitunghim Rückenmark. 
(Ohr) A. Nerv. 8 


E. 
G. FO PMotorischer Nerv. 

Alle jenfibeln oder jenjoriellen Nerven der Körperoberfläche 
find repräjentirt durch an der Peripherie des Gehirnes liegende 
Zellengruppen; das Syſtem der ‘Projektion der Senfibilität. Die 
auf einen Reiz folgende Vibration einer diefer Gruppen A wird 
die Gejammtheit der Gehirnrinde (B) erjchüttern, in Folge der 
Reaktion dieſer unzähligen Clemente, deren Beziehungen und 
Dispofitionen veränderlid und von vorbhergegangenen Falten 
abhängig jind, wird endlih eine Rejultante, die Antwort C, 
eintreten, welde ſich in der Reizung einer jpeziell der Bewegung 
zugeordneten Zellengruppe (D) äußern wird. Der Reiz des fog. 
piycho-motoriichen Zentrums D wird fid durch die Hirnganglien, 
das Kleinhirn und das verlängerte Diarf bis zum Rückenmark (E) 
fortpflanzgen. Dann wird das motoriſche Zentrum bes Nüden- 


Bon den Funktionen des Gehirnes. 13 


marfes die von ihm ausgehenden Nerven reizen und die allendliche 
Bewegung hervorrufen. 

Ein Gehirnprozeß iſt alſo ein refleftorifcher Prozeß, aber 
ein durch das Gedächtniß fomplizirter reflektoriſcher Prozeß. 

Bis jept nahmen wir an, daß all diefe Vorgänge auf rein 
mechaniſchem Wege zu Stande fämen; und in der That als wir 
uns des Wortes Gedächtniß bedienten, haben wir nicht fagen 
mollen, daß es fi) um ein bewußtes Gedächtniß handele, ſondern 
um ein unbewuhtes Gedächtniß, analog dem Gedächtniß der photo- 
graphiichen Platte, die ohne etwas davon zu willen Die Spur des 
Lichteindrudes bewahrt, der fie getroffen. Man begreift, daß alle 
diefe aufeinander folgenden Vorgänge: die Erregung der in der 
Rinde gelegenen PBrojektionszentren, die Beeinfluffung eben derjelben 
durdy die eingejtreuten Nervenzellen, die Webertragung zu den 
piyhomotorischen Zentren und zum Rückenmark — daß alle diefe 
Vorgänge auf rein mecdanishem Wege entitehen fönnen, ohne 
jegliche Betheiligung des Bewußtſeins. Unfer pſychiſches Syſtem 
fonnte ein ungeijtiger und unbewußter Mechanismus fein. 

Aber de facto verhält es fich nicht fo: und das Bewußtſein 
erjcheint ein einzig daftehendes Phänomen in der unferer Erfenntniß 
zugänglichen Welt. 

Wir fönnen nicht angeben, wo es beginnt in der Reihe der 
lebenden Weſen und nur ſehr ſchüchtern dürfen wir Vergleiche 
ziehen zwiſchen dem Bewußtſein bei den Thieren und dem der 
Menihen. Wir wiſſen nur, da das Bewußtſein d. h. das fich 
Bewußtwerden jeines Ic mit feiner Empfänglichfeit für Schmerz 
und attraftiven oder repuljiven Gemüthsbewegungen beim Menjchen 
eriftirt; und wir vermutbhen, daß es bei den Thieren, die uns 
ähnlich find, auch vorhanden fei. Wir müſſen aus Analogie an- 
nehmen, daß der Hund ein Bewußtſein hat, ebenjo wie der Affe, 
der Elephant, die Kae, das Pferd. Wenn es fih aber um das 
Bewußtſein des Kaninchens oder der Ente, oder gar um das der 
Schildkröte oder des Froſches handelt, jo beginnen wir zu zögern. 
Wie wird es aber erit, wenn es ſich handelt um das Bewußtſein 
eines Maifäfers, einer Spinne, eines Medufe, einer Mikrobe? 
Es wäre recht abjurd anzunehmen, die Mikrobe ſei ſich ihres 
Seins bewußt. Jede Scheidung zwiſchen einem Weſen ohne 
Bewußtjein, wie die Dlifrobe und einem damit begabten Wejen 


14 Bon den Funktionen des Gehirnes. 


z. B. dem Menschen, ift wahricheinlich unmöglich zu ziehen. Der 
Grad des Bewußtſeins bei den Thieren ift mwahricheinlich eines 
jener großen Myſterien der Natur, in die einzudringen uns wohl 
immer verjagt fein wird. 

Laſſen wir das, da es fich hier hauptſächlich um das Bewußtſein 
des Menſchen handelt. Diejes fönnen wir nicht wie die Fafta in 
anderen MWillenichaften auf Grund der Erjicheinungen der Außen- 
welt fennen lernen, aber durd gegebene Thatjachen des inneren 
Sinnes. Verſuchen wir zu erforichen, was in dem oben analpyfirten 
intellektuellen refleren Mechanismus bewußt ift und mas nicht. 

Erjtens it die Empfindung bewußt. Sobald ein jenfibler 
Nerv (ein allgemeiner oder jpezieller) gereizt ift, fo erichüttert ber 
Reiz das Bewußtſein. 

Daher ift wohl anzunehmen, daß der Sig diefes Bewußtſeins 
in der Zellengruppe der Rinde gelegen iſt, welche die Projektion 
des Spitems bildet. In unjerem oben gegebenen Schema ijt Die 
Gruppe A eine Gruppe mit Bewußtſein. 

Aber die Gelammterichütterung des Gehirnes, welche Die 
Folge des Neizes it, hört auf bewußt zu fein, oder fie ift es 
vielmehr nur in Intervallen, ſozuſagen rudweife. Die Arbeit der 
auf den Heiz folgenden Schwingungen ijt mehr oder meniger 
unferer Kenntniß entzogen; jo da wir nur die Rejultante diejer 
Erjchütterungen fennen zu lernen im Stande find d.h. die Antwort 
C, welde gewiljermaßen der vom ganzen zerebralen Syitem B 
gefaßte Entihluß iſt. Diefen unjerem Bewußtſein entzogenen 
Entihluß, der bejtimmt wird durch die gegenjeitigen Beziehungen 
der Zellen und ihre Crinnerungen an Früheres, nennen wir den 
Millen; und die ihn bejtimmenden Urfachen find nur in unvoll- 
fommener Weiſe unſerem Bewußtſein unterjtellt. 

Im Prozeß des pſychiſchen Refleres (A ſenſibler Antrieb, 
B Schwingung des Gehirnes, C Reſultante der Geſammtvibration, 
D motorijcher zerebraler Antrieb, E motoriſcher Antrieb des Nüden- 
marks) find uns voll und ganz nur bewußt A, Die jenfible 
Stimmulation, die Rejultante C und die motorische zerebrale 
Impulſion D; die anderen Elemente entziehen fich theilweife oder 
ganz dem Bewußtſein. Wir wohnen der inneren Arbeit, Die 
unjeren ganzen Organismus in Schwingungen verjegt nur in 
fragmentarischer Weife bei und genau fennen wir nur den jenfiblen 


Bon den Funktionen des Gehirnes. 15 


Reiz, der zum Gehirn gelangt und den motorischen Reiz der von 
ihm ausgeht. Daher muß das Gebiet des Unbewuhten, das von 
den zeitgenöffiichen Pſychologen jo gut hervorgehoben worden ift, 
als ein ungemein ausgedehntes betrachtet werden. 

Wir fönnen jeden Gehirnaft von zwei Gefichtspunften aus 
betrachten, vom phyliologiihen d. h. als Ausarbeitung eines fom- 
plizirten Nefleres oder vom pſychologiſchen als Phänomen des 
Bewußtſeins. Wenn man die Geduld gehabt hat obenermwähnte 
Details zu verfolgen, jo hat man erjehen können, daß das 
Vorhandeniein des Bewußtſeins den Vorgang im Gehirn nicht 
fundamental zu modifiziven im Stande zu fein fcheint. Eine aufs 
Zentrum übertragene peripheriiche Erregung, die den geſammten 
intelleftuellen Gehirnapparat in Schwingungen verfeßt, fann bewußt 
oder unbemußt fein; es ſcheint dieſes jeine Natur nicht viel zu 
ändern. Das Gleiche gilt von den leichter zu analyfirenden 
Rüdenmarksrefleren. Wenn ein Gegenjtand den Larynr zufällig 
reizt, fo erfolgt ſogleich Huften; diefer Huften wird bewußt jein; 
und doch iſt das nichts deſto weniger ein Nefleraft und bei einem 
feiner Hirnhemilphären beraubten Thiere wird die Reizung des 
oberen Kehlfopfnerven einen ebenjoldhen Huſten hervorrufen wie 
beim Gefunden. Ob er bewußt oder unbewuht vor ſich geht, das 
hindert diefen Vorgang nicht ein Nefler zu fein. 

Nehmen wir ebenjo einfadhe pſychiſche Vorgänge. Nähern 
wir plöglih einen Gegenjtand unjeren Augen, jo wird Augen: 
blinzeln und Zurüdziehen des Kopfes eintreten; das ijt ein voll 
ftändig bewußter Refler; aber weder der Wille nod) das Bemwußtiein 
greifen ein, um ihn zu gejtalten. Zur phyſiologiſchen Ericheinung 
des Nefleres tritt nur noch die piychologiihe Erſcheinung des 
Bemwußtwerdens hinzu: das Bewußtwerden des äußeren Neizes 
ber unſere Sinne trifft; das Bewußtiwerden der Diusfelanftrengung, 
die wir mit unjeren Augen und unjerem Kopfe machen, um der 
uns drohenden Gefahr zu entgehen. 

Schreiten wir in der Reihe der pſychiſchen Afte fort, jo 
erfcheinen fie mehr und mehr fomplizirt; aber allendlich laffen fie 
fih alle auf ein Phänomen motoriiher Ausarbeitung begleitet 
von Bewußtſein zurüdführen. Dieſe motoriſche Ausarbeitung ift 
der phyſiologiſche Vorgang: Erichütterung der Zellen, Veränderung 
(Verjtärkung oder Abſchwächung) des Neizes durch die Gehirnzellen, 


16 Bon den Funktionen des Gehirnes. 


in denen die Erinnerungen aufgeipeichert find; Afjoziation der 
Seen: Schaffung neuer Beziehungen; Alles jcheinbar geiltige 
Vorgänge, aber doch rein mechanischer Natur, gleich wie das 
Spiel eines auf einem Klavier jchwierige Stüde ausführenden 
Automaten es iſt. Doch unterjcheidet fih der Automat vom 
Gehirn in einem: der Automat führt feine Bewegungen ohne 
Bewußtlein aus, während das Gehirn funktionirt, indem es einige 
Kenntniß über den ihn treibenden Mechanismus erhält: da ift 
das piychologiiche Phänomen. Cinzig und ohne Analogie im 
Weltall fteht das pſychiſche Phänomen da: die pfychiiche Bewegung, 
die das Gehirn ausführt, verjteht ſich Telbit, während alle anderen 
Bewegungen in der Natur, mögen fie groß fein oder Fein, fich 
ſelbſt nicht erfennen und fich nicht verjtehen. Es find blinde 
Kräfte während das Gehirn eine Kraft ift, die Sich ſelbſt Fennt. 
Das piychologiihe Phänomen des Bewußtfeins ift jogar dermaßen 
außergewöhnlih, daß man fi fragen fann, ob es denſelben 
Geſetzen unterliege wie die lebloje Materie d. h. dem Gejeß der 
Erhaltung der Energie. Giebt es eine dynamiſche oder chemijche 
Hequivalenz bei den Vorgängen des Bewußtieins, wie es eine 
Mequivalenz, chemiſcher und dynamilcher Natur, bei der Musfel- 
arbeit giebt? Es bleibt höchſt zweifelhaft; und bei der Lage 
unferer Kenntniſſe ift es begreifliher Weile unmöglid) darauf zu 
antıworten. 


Mas wir aber als höchjt wahrscheinlich annehmen können ilt, 
daß der phyfiologische Vorgang d. h. die geiftige Ausarbeitung, 
die Verwandlung eines Neizes in eine Handlung, begleitet wird 
von molekularen chemijchen Veränderungen, die augenſcheinlich ein 
dynamiſches Nequivalent befigen. Die abjolute Nothmwendigfeit 
des Sauerjtoffes dabei iſt ein unbeftreitbarer Beweis dafür. 
Sobald das ſauerſtoffhaltige Blut im Gehirn nicht mehr zirkulirt, 
verſchwindet jegliche geiftige Erfcheinung; der medulläre Refler 
ſelbſt troß feiner Einfachheit und feines elementaren Charafters 
braucht Blut und Sauerjtoff. Umfomehr der zerebrale Nefler, der 
gleicher Natur ift, wenn auch bedeutend zufammengejegter. So 
fann man von der energetischen Aequivalenz der Gehirnarbeit 
ſprechen, wenn auch die energetiiche Aequivalenz des Bewußtſeins 
dieſer geiftigen Arbeit noch ſehr hypothetiſch tft. 


Bon den Funktionen des Gehirnes. 17 


Da das Vorhandenjein des Bewußtſeins mit den phyfio- 
fogiichen Vorgängen im Gehirn als ihre direfte Konſequenz eng 
zulammenhängt, jo folgt, daß das Bewußtſein denjelben Gejegen 
unterworfen ijt, wie die Gehirnzellen, welche unthätig werden 
durh Gift, Abmwejenheit von Sauerjtoff und Zirkulation, durd 
Veränderung der Temperatur, mechaniſche Eingriffe ıc. 

Es fann alſo die Phyfiologie des Gehirnes als Kapitel der 
allgemeinen Phyfiologie behandelt werden: fie iſt das Leben der 
Nervenzelle; aber wir befiten um uns aufzuflären ein Element, 
das beim Studium anderer Organe uns fehlt, das Element des 
Bewußtſeins. Die jogen. piychologiihen Gejege find im Ganzen 
phyſiologiſche Gejege und die Beziehung zwiſchen Empfindung und 
Intenfität des Reizes ijt Direfter Erperimentation zugänglich. 
Ebenjo iſt aud die Dauer pſychiſcher Alte ganz derjelben Art, 
wie die Dauer refleftoriicher Akte, und durch jehr analoge Methoden 
fann man die einen wie die anderen jtudiren. 

Kehren wir zum einfachen Lebeweſen zurück und wollen wir 
betradhten durch melde allmähliche Wervollfommnungen in der 
Entwidelungsreihe es zum geiltigen und ſich jelbjt bewußten 
Menſchen wird. 

Auf den erften Stufen des Lebens reagirt das Lebeweſen 
auf peripherifche Reize danf der einfachen Erregbarfeit der Zelle: 
ein mechanijcher, chemiſcher oder phyſikaliſcher Reiz ruft jofort eine 
Antwort als Reaktion hervor, die einfach und unbedingt noth: 
wendig ilt. 

Darauf erfcheint der Nervenapparat, der reizbarer it als 
die anderen: und nun reagiren die Musfeln und Drüjen auf 
äußere Neize durch jeine Vermittelung. Das ijt der einfache 
elementare Refler, eine einfache und unabweisbare Antwort, wie 
die direkte reaftionelle Antwort der Muskeln und Drüfen. Nach 
und nad) wird das Nüdenmarf und die Ganglienfette gekrönt 
durch eine Zellengruppe mit vielfachen Verbindungen, ein Hudiment 
des Gehirnes; und der Weiz ruft jtatt der einfachen Antwort eine 
fomplizirte hervor. Diele Zellenhaufen, die bei Jndividuen der: 
felben Art gleiche find, entbehren noch des Gedächtniſſes und des 
Bewußtfeins. Wir haben nicht mehr ganz den Nefler, da Die 
KRomplizirtheit groß iſt, aber aud nod nicht den zerebralen 
Vorgang, denn weder giebt es individuelle Verſchiedenheit noch 


18 Bon den Funktionen des Gehirnes. 


Erwerbungen des Gedächtniſſes; es ift der Inftinftaft, den man 
als einen ſehr fomplizirten Nefler betrachten fann. Wenn es 
auch feine Neuerungen des Gedächtniſſes und des Bewußtſeins 
giebt, fo findet doch eine Anfammlung von Energie in den Nerven: 
zellen ftatt, da das Mißverhältniß zwiichen Reiz und Antwort ein 
zu großes if. Der Gehirnapparat, aus dem die Inſtinkte hervor: 
gehen, ift fchon ein ungeheurer Vorrath an Kraft: denn ein ehr 
ſchwacher Reiz genügt um eine andauernde und vermwidelte 
motoriſche Thätigfeit hervorzurufen. Schon iſt ein erplofiver 
Mechanismus vorhanden; aber ein relativ noch einfacher Mecha— 
nismus, weil er meder mit Bewußtſein noch mit Gedächtniß 
verbunden. 

Bemerkenswerth iſt es, daß inftinftive Afte feine große Maſſe 
von Nervenzellen erfordern. Die wunderbaren Inftinfthandlungen 
ber fleinen Ameiſen werden von einer relativ jehr Heinen Zahl 
von Zellen ausgeführt. 

Ein bedeutender Fortichritt tritt ein, jobald zu dieſen Zellen 
des nitinftes die Gehirnzellen des Gedächtniſſes Hinzutreten. 
Dann hinterlafien die Reizungen jtatt flüchtig und tranfitorifch 
zu fein, eine Spur ihres Durchzuges, jo dab fogar durch bie 
Vergangenheit, welche fih im Gehirn fozufagen angefammelt, die 
Gegenwart verändert wird. Dept erhält die erzeugte Bewegung 
ihren geiltigen Charakter, der ji) von dem des einfachen Refleres 
oder der injtinftiven Handlung unterjcheidet. Die Antworten auf 
einen Reiz find bei jedem Individuum verjchieden, denn die mit 
Gedächtniß begabten Zellen haben während des Lebens des Andi: 
viduums dieſe oder andere Eindrüde empfangen; fie finden lang» 
famer jtatt, denn die Schwingung diejes geiltigen Zellenapparates, 
der zu dem Zellenapparate des Reflexes hinzugekommen ift, erfordert 
eine bemerfbare Zeit; die Antwort ift ferner in feinem Verhältniß 
zur Intenfität des Neizes, da die inneren gegenfeitigen Reaktionen 
der Zellen ſchwache Erregungen unverhältnigmäßig zu fteigern 
vermögen; ſie kann auch jehr lange andauern, denn der Gehirn: 
apparat it fähig auf einen Anfangsreiz bin in fortgejegter Weile 
zu Schwingen. 

Es fann fogar vorfommen, daß der Neiz jo ſchwach und 
feit fo lange ftattgefunden hat, daß er unbemerft bleibt, jo daß 
die Antwort auf den Reiz nicht mehr als ſolche ericheint, aber 


Bon den Funktionen des Gehirnes. 19 


mie ein jpontaner Vorgang. Doch ift diefes nur fcheinbar und 
im Grunde genommen folgt der geiltige Mechanismus denſelben 
fundamentalen Gejegen wie der elementare Nefler; er bleibt immer 
eine Erjcheinung der Erregbarfeit der Zellen, hervorgerufen durch 
einen äußeren Vorgang. Am Anfang find die Zellen des Gedächt— 
nijfes wenig zahlreid und die Unterjchiede zwiſchen den Individuen 
find ſchwach; aber allmählich nehmen diefe Zellen an Zahl und 
Bedeutung zu. Das Uebergewicht des Gehirnes tritt deutlicher 
und deutlicher hervor; der individuelle Gehirnaft überflügelt den 
Reflex und den injtinftiven Aft; das geiftige Weſen ericheint, dejto 
intelligenter je umfangreicher fein Gehirn und je reicher an 
Gedächtnißzellen es if. Den Schluß dieſer ſtufenweiſen Evolution 
bildet der Menſch, mahrlid die Krone des uns Befannten; meil 
im riefigen Weltall ſich nichts vergleichen läßt mit der wunderbaren, 
unentwirrbaren und doch harmonischen Mannigfaltigkeit feines 
Verjtandes. Die Arbeit des Gehirnes ijt nicht nur unendlid) 
zufammengefegt, fie hat auch den einzigen Vorzug ihrer jelbit 
bewußt zu fein, ſich erfennen und beobachten zu fönnen: es ijt 
ein wunderbarer Mechanismus, in dem Sinne gejagt, den Descartes 
an diejes Wort fnüpfte; aber es ijt ein mit Bewußtſein begabter 
Mehanismus. 

Wunderbarer Vorrath an Energie, Aufipeicherung vergangener 
Reizungen, Bewußtſein feiner eigenen Thätigfeit: das jcheinen die 
Charaftere des zerebralen Aktes zu jein. 

Heußerlich wenigitens jcheint es, dak Milliarden von Milliarden 
von Lebeweſen gelebt haben, um zu dieſem Ziele zu gelangen. 
Das Gehirn des Menſchen bildet in dem, was unjerer Erfenntniß 
zugänglih iſt, das legte allervollendetite Glied der Evolution der 
Dinge und Weſen. 





.- 


2* 


Gin Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 





Allenthalben begegnen wir in unferen Tagen ber Klage über 
die zunehmende Verbreitung der Nervofität. Sie tönt uns aus 
Hunderten von medizinischen Abhandlungen, aus populären Auf- 
fügen in Familienblättern, aus Zeitungsnotizen, aus den Unter: 
baltungen der gebildeten Kreije entgegen. Mit mehr oder weniger 
Recht weiſt man auf den Zeitgeift, die weitverbreitete Unzufriedenheit 
mit dem Bejtehenden, die Jagd nad dem vielgeftaltigen Glüd, 
ben geiteigerten Wettbewerb, den Umſchwung in unjerem Verfehrs- 
leben, auf die in allen Schichten der Bevölferung verbreitete 
Genußſucht neben der Noth und Entbehrung von Millionen als 
die Symptome der betrübenden Erjcheinung hin, deren Endrefultate 
man in den ftetig zunehmenden Geiltesfranfheiten, Selbjtmorden 
und Verbrechen erfennen will. Die Thatfache, daß unfere Zeit jo 
recht eigentlich das Zeitalter der Nervofität ijt, bleibt unbejtreitbar. 

Hieraus entipringt jedocd eine große, ſtets wachſende Gefahr 
für die Zukunft des Menſchengeſchlechts. Denn unjere Nach— 
kommenſchaft übernimmt nicht nur die pofitiven Errungenjcaften 
unferes Dajeins, fondern auch die negativen. Die Schulden der 
Väter, hier müſſen die Kinder fie zahlen. Das Naturgejek ermeift 
fih, Ausnahmen abgerechnet, als ein unerbittliher Gläubiger. 
Da ſcheint menschlicher Klugheit ein Damm gejeßt. Doch ein 
Mittel giebt es, das, wenn auch nicht für die Gegenwart, jo Doch 
für die fernere Zufunft Nettung verjpricht: verjtändige Delonomie 
mit dem Kapital der Gejundheit, naturam secundum vivere 
nannten es die Alten. Welche Weisheit liegt in dem kurzen, 
Ichlichten Wort! 

Aber mir, die wir dieſe Weisheit fchon in der Serta 
gelernt, wir verjtehen fie erjt, wenn wir an unferen Kindern 
die Früchte unjerer Thorheit jehen. Für uns iſt es dann zur 
Umkehr oft ſchon zu jpät, aber unſere Kinder follen nody Gewinn 
davon ziehen. An ihnen ſoll jene andere herrliche Forderung des 
alten, heute ach! jo verfannten Lehrmeifters: mens sana in corpore 
sano wahr werden. Wer hilft uns dazu? Nun doc zunächit die 
Schule! Die Schule? Ja, der mens nimmt fie fih nad Kräften 
an, aud) des gejammten animus, ber unjterblichen Seele, wenn 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 21 


fie es mit ihrem Berufe ernjt nimmt, aber wie jteht es mit ber 
sanitas corporis? Das Gehirn wird an Arbeit gewöhnt, aber 
wie jteht e8 mit dem übrigen Slörper? 30 Stunden Gehirn: 
thätigkeit, 2 Stunden Gliedergymnaftif, kann daß das Richtige 
fein? Und in der That, der Junge wird müde und jchlaff, Die 
Rofen von den Wangen verſchwinden, unfer „Benjamin“ *) fcheint 
nicht mehr recht gefund. Nun wird der Hausarzt zitirt. Er hört 
die Klagen der Eltern, fieht den Jungen. „Benjamin lernt zu 
viel und hat zu wenig Bewegung” ift jein Bejcheid. „Laflen fie 
ihn fih fleißig im Freien tummeln!” „Dann leidet die Schul: 
arbeit, und der Junge wird nicht verjegt.” „So bleibt er eben 
figen, beiler, als daß feine Gejfundheit zu Schaden fommt.” Der 
Rath iſt gut, Scheint aber zu radikal und vielfach unausführbar. 
Das weiß der Arzt, ebenjo wie der Lehrer es weiß, daß Die 
Schule viele Kinder in ihrer förperlichen Gejundheit beeinträchtigt, 
aber beide fühlen ſich unjchuldig, fie fünnen nichts daran ändern. 
So geht es denn weiter fort, Jahr um Jahr. Immer lauter 
ertönt indejjen der Warnungsruf aus den reifen der Nerven: 
ärzte, und unmöglich dürfen wir ihm unjer Ohr verjchließen. 
Vielleicht, wenn Arzt und Erzieher Hand in Hand gehen, ift doc 
einige Abhilfe möglich. Und in der That ijt drüben in Deutjchland 
ſchon mandherlei geichehen, um die Opfer des Hulturfortichritts 
in Schuß zu nehmen, um einer Berichlimmerung der bejtehenden 
Verhältniffe vorzubeugen. Der erjte Schritt zur Beſſerung iſt 
jederzeit, fih über Weſen und Erſcheinung des Uebels flare 
Nehenichaft zu geben. Der Bazillus muß ans Licht und unter 
das Mitrojfop, damit man ihm zu Leibe gehen fann. Einen 
Nervenbazillus giebt es wohl faum, aber die Erforichung der 
Nervenübel Haben die legten Jahrzehnte bedeutend gefördert, 
foviel darin aud) noch zu thun it. Daß auf diefem Gebiete aud) 
ber Erzieher dazu berufen ift, in gewiſſem Maß die Arbeit bes 
Arztes zu ergänzen, foll aus dem Folgenden deutlich werden. An 
die Aerzte und Lehrer insbejondere wende id) mid) daher mit der 
Bitte, mir auf ein wiſſenſchaftliches Beobadhtungsfeld zu folgen, 
das fih in Deutſchland unjerer vereinten Arbeit erichloffen hat 


*) Eine Anipielung auf U. Matthias „Wie erziehen wir unjeren Sohn 
Benjamin?” Münden 1897, das ji mit vollſtem Recht „ein Bud für deutiche 
Väter und Mütter“ nennt. 


22 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 


und auch in weiteren Streifen Intereſſe beanſpruchen bürfte. 
Vielleicht giebt es dabei auch für uns etwas zu thun. 

Dod) zuvor ein paar Worte über die Lage jenes Feldes als 
eines „Orenzgebietes“ der pädagogiihen Wiſſenſchaft. Mancher 
wird meinen, daß das Arbeitsfeld des Arztes und das bes 
Erziehers toto coelo veridhieden jeien. Der Arzt habe es mit 
den Kranken, der Erzieher ausſchließlich mit Gejunden zu thun, 
der Arzt zumeijt mit dem Körper, Der Erzieher mit ber Seele. 
Dem jcheint aud die Entwidelung der Pädagogif in unjerem 
Jahrhundert Recht zu geben, denn zu einer Willenfchaft ijt die 
Pädagogik dadurd) geworden, daß Herbart fie mit der Pinchologie 
und Ethif in enge Verbindung gejegt hat. In jener haben wir 
die Grundlage zu ſuchen, auf der allein eine erzieheriihe Ein- 
wirfung denkbar ijt, dieje Dagegen weilt ber Erziehung Richtung 
und Ziel. Nichtsdejtoweniger gewinnen auch die Rejultate ber 
phyſiologiſchen Forſchung für die Pädagogik ein ſtets wachiendes 
Intereſſe. Denn der eben genannte PVhilojoph Hat. auch erkannt, 
dab die Geſchehniſſe des Seelenlebens, da fie durd den Körper 
veranlaßt werden, in dem Körper ihre Wirkungen offenbaren, aud) 
der eraften naturwillenichaftlichen Forichung, der Anwendung von 
Maß und Zahl zugänglid find. Damit war der Anftoß zu der 
von Fechner begründeten Pſychophyſik gegeben, welche vermitteljt 
erperimentellev Beobadjtungen die Beziehungen zwiſchen Leib und 
Seele ermittelt und der Pädagogik nicht unmejentliden Gewinn 
gebracht hat oder noch veripridt. Das zeigen unter anderem bie 
an unjerer Univerfität begonnenen Studien Kräpelins, welche in 
weiten Kreilen befannt geworden find und in der pädagogiſchen 
Weit ein lebhaftes Echo gefunden haben. Cine weitere Anregung 
hat die Pädagogik jodann von Seiten der Piydhopathologie, der 
Wiſſenſchaft von den Kranfheitserjcheinungen der Seele, erfahren, 
und bier bürfte die Pädagogik berufen jein, nicht bloß zu 
empfangen, jondern auch zu geben. Denn nachdem das Bedürfniß 
erkannt it, die Piychologie des Abnormen für die Piychologie 
des Normalen fruchtbar zu machen, iſt auch die Aufmerfjamfeit 
des Pädagogen auf die Negelwidrigfeiten des Seelenlebens gelenkt 
worden. Daß ihm von diejer Seite ernfte Pflichten erwachſen, 
dafür jei das Wort des berühmten Piydiaters Krafft-Ebing an- 
gezogen: „Wenn die Pädagogif ein tieferes Studium aus dem 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 23 


Menſchen auch in feinen pathologischen Verhältnijfen machte, fo 
würden mande Fehler in der Erziehung überhaupt wegfallen, 
mande unpajiende Wahl des Lebensberufes unterbleiben und 
mande pſychiſche Exiſtenz gerettet werben.” 


Dem Bedürfnig des Pädagogen nad) entipredyender Belehrung 
fam zunächſt ein Werf entgegen, das an unjerer Yandesuniverfität 
entjtanden ijt und zum Theil dort gejammeltes fliniiches Material 
enthält: „Die pſychiſchen Störungen im Kindesalter“ von Prof. 
9. Emminghaus. Daſſelbe ijt zwar zunächſt für Aerzte gefchrieben, 
fann aber aud) vom Lehrer mit Erfolg benußt werden. Es enthält 
eine ſyſtematiſche Heberjicht über die in der medizinischen Litteratur 
behandelten Kinder: Pſychoſen, nad Urſachen, Symptomen, Verlauf 
und Heilmethoden. Freilih handelt es ſich hier um ſeeliſche 
Störungen, welde eine ärztlihe Behandlung erheiſchen, das von 
ihnen betroffene Sind ſomit der Sphäre des Lehrers entrüden. 
Doch iſt e8 nicht gleichgiltig, wann das Vorhandenjein ſolcher 
Störungen bemerkt worden ift, und eine gewiſſe piychiatriiche Vor: 
bildung wird den Lehrer, der durch jeinen Beruf auf jcharfe 
Beobahtung der ihm anvertrauten Kinder bingemwiejen iſt, ge: 
legentlid in Stand jegen, den Angehörigen des Kindes beträchtliche 
Dienjte zu leiten. Wollzieht jich doch oft der Uebergang von der 
jeeliihen Gejundheit zur Krankheit jo unmerklich und allmählid, 
daß das Keiden als joldhes erſt erfannt wird, wenn es jchoen 
bedeutend vorgeichritten ij. Wie denn ein Arzt Elagt:*) „die 
Familie braucht jehr viel Zeit, ehe jie glaubt, daß ber Menſch 
krank iſt; der Arzt braucht, endlich gerufen, jehr viel Zeit, ehe er 
glaubt, daß der Kranke geiftesfranf ift, und beide zujammen 
brauden dann wieder jehr viel Zeit, ehe fie glauben, daß ber 
Irrenarzt nothiwendig it.” Doch aud) diefer muB geitehen, daß 
die Enticheidung, ob in dem einzelnen Kalle Krankheit oder 
Geſundheit vorliegt, Feineswegs leicht ii. So jagt Emminghaus: 
„die Flüffigkeit der Uebergänge zwiſchen Geſundheit und Krankheit 
ijt nirgends jchärfer, als auf dem Gebiete der pſychiſchen Lebens: 
erſcheinungen.“ Gewiß aber ijt gerade hier die Diagnoje be- 
deutungsvoll, und nit nur für den Fachmann, dejjen Behandlung 


*) Neumann bei Krafft-Ebing „Lehrbuch der Pſychiatrie“, 2. Aufl. I, 284. 


24 Ein Grenzgebiet der Medizin und Rädagogif. 


durch fie beeinflußt wird, jondern aud für den Erzieher, den 
Seelſorger, Richter u. ſ. w. 

Da dürfte denn ein Werk auf allgemeines Intereſſe rechnen, 
weldyes in den Jahren 1891 -— 1893 unter dem Titel: „Die 
pſychopathiſchen Minderwerthigfeiten” erjchienen, einem erfahrenen 
Irrenarzt, Dr. 3. 2. 4. Koch, Direktor der K. Württ. Staats: 
irrenanftalt Zwiefalten, fein Entjtehen verdanft und eben die 
Zuftände auf der Grenze jeeliicher Gejundheit und Krankheit ein: 
gehend behandelt. 

Den Begriff der piychopathiichen Dlinderwerthigfeit, welchen 
Koch zuerſt in feinem 1888 erjchienenen Leitfaden der Piychiatrie 
geihaffen hat, beſtimmt er jelbjt am Eingang jeiner Monographie 
folgendermaßen: „Unter dem Ausdruck piychopathiihe Minder: 
werthigfeit faſſe ich alle jei es angeborenen, jei es erworbenen, 
den Menſchen in feinem Perſonleben beeinfluffenden pſychiſchen 
Regelwidrigfeiten zujammen, welche aud in jchlimmen Fällen doch 
feine Geiſteskrankheiten darjtellen, welche aber die damit bejchwerten 
Perſonen aud im günftigiten Falle nicht als im Vollbeſitze geijtiger 
Normalität und Leiftungsfähigfeit erjcheinen fallen.“ Damit joll 
feinesiwegs gejagt fein, daß die geſammte geijtige Berfönlichkeit des 
jo Gejchädigten „an und für fidh betrachtet, eine niedrig ftehende 
fein müßte. Nicht wenige plychopathiic Minderwerthige, obgleich) 
fie in ih geſchädigt und gefürzt find, ragen doch in manden 
geijtigen LZeiftungen, je nad) dem ganzen Werth ihrer geiftigen 
Perjönlichkeit, über viele normale Menjchen weit hervor.” (Koch 
©. 1.) Den Vlinderwerthigen haften gewiſſe pſychiſche Eigenheiten, 
Verfehrtheiten, Mängel an, die ihnen jedody die Freiheit der 
Selbjtbejtimmung nicht vauben, jo daß man fie nidt zu den 
Beijtesfranfen im übliden Sinne zählen darf. Dabei 
liegt die Urfache des Leidens aber immer in „organischen Zuftänden 
und Veränderungen, welche jenjeit der phyfiologiihen Grenze liegen“ 
(©. 2). Daher fünnen die Dlinderwerthigleiten „auf der einen 
Seite ganz allmählid völlig zu den Geiſteskrankheiten hinüber: 
führen, wie fie auf der anderen Seite ganz allmählid völlig in 
die Breite des Normalen ſich verlieren” (©. 3). | 

In dieſem legten Satze ift die Wichtigfeit, welde das 
Studium der genannten Krankheitserſcheinungen für alle Erzieher 
bat, zur Genüge angedeutet: Auf der einen Seite fühlen wir die 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 25 


Schwere der Verantwortung, fofern wir durch Unfenntniß oder 
Ungeichieflichfeit zu einer jchlimmen Wendung des Leidens Urfache 
geben könnten, auf der anderen Seite eröffnet fi) der päda— 
gogiſchen Einwirkung bei der Möglichkeit völliger Heilung eine 
ihöne Perſpektive. 

Koh hat fein Buch nun zwar nidt vom pädagogischen, 
fondern vom allgemein mediziniihen Standpunkt geichrieben. Er 
jtügt fi daher auf ein Beobadhtungsmaterial, das alle Aiters- 
itufen umfaßt. immerhin finden fid) darunter nicht wenig 
Krankheitsbilder, die entweder direft dem jugendlihen Alter 
entlehnt oder doch mit Hilfe der Erinnerungen Erwadjener aus 
dem Geiftesleben ihrer Kindheit entworfen find. Dabei ſei furz 
erwähnt, daß der genannte Autor in überzeugender Weiſe Die 
Nothwendigkeit hervorhebt, daß auch der Geiſtliche und der Juriſt 
fih über das Weſen der pfychopathiihen Minderwertbigfeiten 
unterrichten. Was den erjteren betrifft, jo fann er durch richtige 
Beurteilung entiprechender jeeliicher Zujtände in ber Geeljorge 
viel Segen jtiften, der leßtere wird, wo verbrederiiche Handlungen 
als Ausfluß jener Zuſtände vorliegen, auf Milderungsgründe 
erfennen, vielleicht ärztliche Behandlung verlangen, jtatt die Strenge 
des Geſetzes walten zu lajlen. Denn es wird betont, daß zwar 
nit bei jeder jtrafbaren Handlung eines Minderwerthigen 
Milderungsgründe indizirt find, daß aber andererjeits die Beein— 
fluſſung des Kranken durch die Abnormitäten feiner Konftitution 
in einzelnen Fällen joweit gehen fann, „daß die Sache an völlige 
Unzurechnungsfähigfeit anſtreift.“ Einſtweilen jcheinen von den 
Laien, an welche Kod) ſich wendet, die Pädagogen das lebhaftejte 
Interefje gewonnen zu haben und am thatkräftigiten in die Mit- 
arbeit eingetreten zu jein. Denn nod) war der zweite Theil des 
Kochſchen Buches nicht erjchienen, als ſchon der Nejtor der willen: 
Ihaftlihen Pädagogen, Profeſſor Strümpell, in der eben vor- 
bereiteten 2. Auflage jeiner „Pädagogiſchen Pathologie“ der 
bedeutjamen neuen Lehre eine eingehende Behandlung widmete. 
Er jtellte fih ihr gegenüber prinzipiell auf einen durchaus jelb- 
jtändigen, vorfidhtig abwägenden Standpunkt, gab jedoch die Noth— 
wendigfeit zu, daß die pädagogiiche Bathologie neben ihrem rein 
pädagogiihen Theil noch einen piychiatriihen Theil in jih aus: 
zubilden habe. In einer ausführlichen Inhaltsangabe des Kochſchen 


26 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 


Werkes thut er ſelbſt den erjten Schritt auf dem von ihm 
bezeichneten Wege. 

Die Anregungen Kos und Strümpells find auf fruchtbaren 
Boden gefallen, denn berufene Pädagogen haben begonnen, Die 
Lehre theoretiih und praftiih weiter zu fördern. Unter ihnen 
nenne ich bejonders den rührigen J. Trüper, Direktor des Heil 
erziehungshaufes Sophienhöhe bei Jena.*) Derjelbe giebt jeit 1896 
im ®erein mit Dr. Kod und einem durch tüchtige Arbeiten, 
befonders auf heilpädagogiihem Gebiet, bekannten praktiſchen 
Schulmann, Rektor Chr. Ufer, eine überaus intereſſante Zeitichrift 
heraus: „Die Kinderfehler.” Bon ihr joll weiter unten noch die 
Rede fein. 

Aus dem bisher Gejagten dürfte hinreichend hervorgehen, 
daß weder der Arzt, nod der Erzieher ſich der Lehre von den 
pſychopathiſchen Minderwerthigkeiten verichließen dürfen. Es jei 
daher im Folgenden verjucht, eine furze Ueberſicht über das für 
den Erzieher Wijfenswerthejte daraus zu geben. Vielleicht werden 
einige meiner Leſer dadurd zum Studium des Werkes jelbjt angeregt. 


Koch unterjcheidet zunächit zwiſchen andauernden und flüchtigen 
Dlinderwerthigfeiten. Die legteren, die ſich bei ſonſt gejunden 
Menſchen als Folge von Ueberanjtrengungen oder Exzeſſen vor: 
übergehend zeigen, darf ich hier übergehen. Die andauernden 


*) Trüperd Erziehungshaus iſt, wie ich dem vom Leiter freundlichſt 
überfandten Profpeft entnehme 1890 gegründet, 1892 in die ebenjo ſchön, als 
für ihre Zwede günjtig gelegene Sophienhöhe übergefügrt. Es iſt „für Kinder 
beiderlei Geſchlechts mit geihwädhter oder fehlerhafter Veranlagung beitimmt.” 
Als Altersgrenze gilt das 4.—14. Jahr. Die Anjtalt verfügt über reichen 
Raum, jo dab, wo foldyes erforderlid erſcheint, Kinder zeitweilig ilolirt bes 
handelt werden fönnen, und ijt allen Anforderungen, die an fürperlide und 
geiftige Heilerziehung gejtellt werden fünnen, entiprechend außgejtattet. Als Heil 
und Erziefungsmittel fommen in Anwendung: überſchüſſige Ernährung, Bäder, 
Deilgymnaitit, Mafjage jowie Garten: und Handarbeit, Turnen, Schwimmen ıc. 
Für die geiltige Entwidelung jorgt eine fünfflaljige Schule, der ein Kinder: 
garten als Vorbereitung, eine Gartenbauſchule als Fortiegung dient. Außer dem 
Leiter unterrichten hier drei Xehrer und eine Lehrerin, denen für den Kinder— 
garten, die Pflege u. ſ. w. noch mehrere Lehrerinnen, Pflegerinnen u. j. w. zur 
Seite jtehen. Diejelben jind mit der größten Sorgfalt ausgewählt, durchweg für 
ihren Beruf vorgebildet, jo daß für das leibliche und jittlihe Wohl der (gegen: 
wärtig 32) Kinder nad allen Seiten aufs bejte Sorge getragen werden bürfte. 


Ein Orenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 27 


Diinderwerthigkeiten können angeboren oder erworben fein. 
Innerhalb jeder diejer beiden Gruppen trennt der Verfaller die 
pſychopathiſche Dispofition, die pſychopathiſche Belaftung und die 
pſichopathiſche Degeneration, welche, wie die Namen lehren, 
zugleid eine Steigerung des Leidens bedeuten. Die angeborenen 
Fälle haben ihren Grund in einem geihädigten Nervenfyitem der 
Eltern oder Vorfahren, jei es dab Geijtestranfheit oder Nerven- 
leiden unter ihnen vorgefommen jind, jei es daß die Eltern zu 
ben in Betradht kommenden Zeiten durch ſchwere Krankheiten, 
Entbehrungen u. ſ. w. geihwädht waren. In den meijten Fällen 
verräth fih die Vererbung in Degenerationszeichen, d. h. in 
anatomiſchen Verbilbungen des Schädels, Gefichts und anderer 
Körpertheile jowie in funktionellen Anomalien, wie Musfelzufungen, 
Neigung zu Ohnmachten, Krämpfen und ähnl. Da fie dem Arzt 
befannt find, den Laien leicht irveführen können, jei bier nicht 
weiter auf fie eingegangen. Was nun jene Dreitheilung in 
pigchopathiiche Dispofition, Belajtung und Degeneration betrifit, 
jo muß id bei ihr etwas länger verweilen, um die pſychiſchen 
Eigenthümlichkeiten der Minderwerthigen einigermaßen flar hervor: 
treten zu laſſen. 

Bei der Dispofition,*) als der leichteften Form der 
Erkrankung, iſt das Krankheitsbild naturgemäß noch am wenigſten 
ausgeprägt und fann daher von Laien leicht überjehen werden. 
Die Kennzeichen, welche Koch angiebt, jind recht allgemein gehalten. 
Die Dispofition jtelle fih im Mejentliden als eine für Sid) 
beitehende pſychiſche Zartheit dar, eine allgemein oder einjeitig 
gejteigerte Empfänglichfeit für Cindrüde, die jih oft als Em— 
pfindlidhfeit und Berleglichfeit äußert, oft dDurd einen Mangel an 
Thatkraft harakterifirt ift. Deutliher treten die hier genannten 
Züge in dem folgenden Krankheitsbild **) hervor, das id) auszugs— 
weije wiedergebe. 

E. A. Beamtentodhter, 18 Jahre alt, des Vaters und der 
Mutter Familie neuro: und pſychopathiſch geſchädigt. War zu 


*) Die Bezeichnung jcheint nicht ſonderlich glüdlih gewählt, da man 
nad dem verbreiteten Gebrauch unter Dispojition nur die Veranlagung zu einem 
Leiden, nicht aber eine Form des Leidens jelbjt veriteht. Die bier vorliegende 
Anwendung des Wortes kann aljo leicht zu Mifverjtändnifien führen. 

**) Koch a. a. D. ©. 1. 


28 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 


Anfang ihrer Schulzeit, wenn die Schulftunde fam, faum von der 
Mutter mwegzubringen, und zwar nicht etwa deshalb, weil fie 
Furdt vor der Schule gehabt hätte, fondern darum, weil fie bie 
Drama nit verlaſſen wollte. Einige Jahre Ipäter bricht fie in 
befreundeten Häujern, wenn fie dort fröhlich eine Stunde zu 
Beſuch ijt, wohl einmal in jähem Heimweh nah der Mutter 
plöglih in Thränen aus. Später noch flammert fie fich oft mit 
den ſüßeſten Schmeichellauten an die Mutter an, welche fie nun 
gleichwohl viel leichter entbehrt, als dies ihre pſychiſch normalere 
Schweiter thut. Kann tagelang dicke Thränen weinen über den 
bevorjtehenden Abichied geliebter Beſuche, deren Abreije fie nichts 
dejto weniger fofort verjchmerzt und bald vergeilen bat. Geräth 
bei harmloſen Genüſſen leicht in ein übertriebenes Entzüden. 
Schließt jchnell ſchwärmeriſche Freundichaften, die übrigens Dauer 
haben. Hat viel mit einer gewiſſen morofen Empfindlichkeit zu 
fämpfen, feßt immer wieder einen Troßfopf auf. Wird in auf: 
fallendem, „fajt unnatürlidem”“ Grade unangenehm berührt durch 
Geſpräche, welche ihre eigene Perſon betreffen. Nicht einmal ein 
Schnupfen, den fie hat, joll vor anderen Perſonen erwähnt werben, 
und wären dieje auch nahejtehend. Zu einer Zeit jtellten ſich unter 
der Einwirfung von gelegentlichen gemüthlichen Erihütterungen 
echt melandpoliihe Anmandlungen ein. Dieje haben fi) unter 
verftändiger Einwirfung rajch wieder verloren. Was mird Die 
Zufunft bringen? Es ift anzunehmen, daß fie nichts Böjes bringt, 
benn fie hat jene Anmwandlungen gut überwunden; neben den oben 
gedachten Eigenichaften stehen, mehr oder weniger mit ihnen 
fontraftirend, auch andere: ein Fühler Verjtand, ein flarer Wille, 
ein großes Wflichtgefühl, eine energifhe Arbeitskraft; fie ift 
förperlich fräftig; und es iſt nicht zu verfennen, daß ſich in ihrer 
Generation eine entjchiedene Bellerung der Konjtitution der Familie 
angebahnt hat.“ 

Die pſychopathiſche Belaftung zeigt ein viel jchärferes 
Bild. Auch Hier findet ſich die abnorme pſychiſche Erregbarkeit, 
deren unnatürliche Steigerung fi in ihrer Stärfe oder in ber 
Dauer der Erregungen offenbart. Der Belaftete erjcheint baher 
franfhaft rührjelig oder ſchreckhaft oder reizbar oder ſchwärmeriſch, 
wobei je nad) der größeren oder geringeren Herrſchaft, welche ber 
Verjtand über die erregbare Phantafie behauptet, individuelle 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 29 


Unterfchiede hervortreten. Hierher gehören alſo die jchredhaften 
Kinder, denen fih in der Dunfelheit der gewohnte Hausrath zu 
allen möglichen Ungethümen verzerrt; jene aufgeregten Naturen, 
bie nie ein Eramen bejtehen fönnen, mweil eine namenloje Angit 
innen jede Denkfähigfeit raubt; jene Empfindfamen, die ſchon im 
Kindesalter aus geringfügigem Anlak zum Selbjtmord greifen; 
die Nachtwandler oder die an jchredhaften Träumen leidenden 
Kinder, die „reizbar Schwachen”, denen neben großer Empfänglichfeit 
für Eindrüde und Impulſe doch die Kraft zu nachhaltiger Aftivität 
gebriht. Hierher gehören endlich die Wunderfinder, welche nicht 
halten, was fie veripradhen, ja oft unter das Niveau des Mittel: 
mäßigen finfen, wenn fie nicht gar in Folge falicher Behandlung 
feitens ihrer Eltern und Lehrer ihr Leben im Irrenhauſe beichliehen. 
Dabei jei jedoch nahdrüdlih vor dem Irrthum gewarnt, als 
entſpräche es den Anjchauungen Kochs, daß ein jedes Kind, an 
dem bie eine oder andere der genannten Eigenheiten hervortritt, 
darum für piychopathiich belaftet zu gelten habe. Das einzelne 
Symptom bemeijt noch garnichts, als daß eine — vielleicht vorüber: 
gehende — Reizbarkeit vorhanden ift, was auch bei ganz gelunden 
Naturen zeitweilig zu bemerfen ijt. Erſt wo die Symptome fich 
häufen und dauernd hervortreten, fann die Diagnofe auf Belajtung 
angezeigt jein, auch dann jedoch nur unter gewillen Voraus— 
jegungen und Kombinationen, worüber weiter unten ein Ausspruch 
Kochs Platz finden fol. Doc erſchien es wichtig, in Anbetracht 
des heiflen Charakters diefer Darlegungen, ſchon hier einem vor: 
Ichnellen Urtheil interejfirter LZejer vorzubeugen. 

Bei allen Belafteten finden fich ferner Widerſprüche im 
Geelenleben, theils zwiihen Normalem und Abnormem, theils 
innerhalb gewiſſer Abnormitäten, wodurd der Eindrud des Krank— 
haften gejteigert wird. in folder Charakter zeigt gejunden Muth 
neben ungejunder eigheit, mo der völlig Gefunde feinerlei Gefahr 
fieht; er iſt normal freigebig, in einzelnen Dingen aber abnorm 
geizig oder pathologiich unlauber nad der einen, pathologiſch efel 
nad einer anderen Seite, unnatürlich mitleidig und inſtinktiv 
graujam. 

Typiſch ijt ferner das Triebartige in dem Handeln ber 
Belafteten: fie lügen und begehen Graufamfeiten nicht in Folge 
einer Weberlegung, fondern unwillfürlih. Auch auf gejchlechtliche 


30 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 


Ausschreitungen verfallen fie leichter in Folge ihrer franfhaften 
Anlage. Oft iſt das Bewußtjein von dem Bathologiichen ihres 
Strebens vorhanden, und fie leiden darunter, ohne doch die Kraft 
zu nachhaltigem Miderjtand zu finden. Nedod it der Trieb, mas 
für den Erzieher bemerfenswerth it, nad Koch nie unmiderjtehlich; 
die Zurechnungsfähigfeit iſt aljo zwar vermindert, aber nicht auf- 
gehoben. 

Ein interefjantes Krankheitsbild *) fei aus den Kindheits— 
erinnerungen eines älteren Mannes zur Verdeutlichung der bisher 
genannten Züge auszugsweile wiedergegeben: 

E. P., Gelehrter, 46 Jahre alt. Sein Großvater väter: 
ficherfeits fei in hohem, fein Vater in meniger hohem Grabe 
„eigenthümlich“ geweſen (menichenicheu, jähzornig u. ſ. wm.) Auch 
feine beiden Brüder waren piychopathiich minderwerthig. In der 
Familie der Mutter Nervenfrankheiten ziemlich verbreitet, fie jelbit 
gefund... Er war bei allen Spielen und Leibesübungen ein 
muthiger Burjche, vielfach; geradezu vermegen, dies zumal dann, 
wenn er die Augen anderer auf fich gerichtet mußte. Gegen 
Schmerzen war er nit empfindlih. Sobald eine Negung von 
Stolz oder Troß und Eigenfinn mit ins Spiel fam, hat er fie 
geradezu verachtet. Defter hat er jogar einen Kiel veripürt, fich 
förperlihe Schmerzen jelbft zu bereiten. Aber gegen alles, was 
ihm nach einer „Operation“ ausjah, hat ſich feine ganze Natur 
aufgelehnt. Vor ſolchen Dingen empfand er ein alles Maß über: 
fteigendes Grauen. Als er in jeinem zwölften Lebensjahre geimpft 
werden Sollte, jo jah er dem operativen Eingriff als etwas Un— 
geheuerlihem entgegen und fonnte faum vor einer Ohnmacht 
bewahrt werden. Etwas Mehnliches hat ſich nod in feinem 
zwanzigiten Zebensjahre bei einer erneuerten Impfung wiederholt. 
Damals ging er völlig gleichgiltig zum Arzt. Sobald er aber 
bei anderen, die mit ihm geimpft werden follten, die entblößten 
Arme ſah, wurde er Ffreideweiß und vermochte ſich nur mit ber 
größten Anjtrengung noch aufrecht zu erhalten, jo gleichgiltig ihm 
auch die Impfung blieb. Vor manchen Thieren, bejonders aber 
vor Hunden, empfand er eine große Angit. Oft hat er, um einem 
Hunde auszumeichen, die größten Ummege gemadt. Lange Zeit 


*) oh a. a. O. S. 65 ff. 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 81 


ſteckte er Nacht für Nacht feinen Kopf gänzlich unter das Dedbett, 
damit der Menichenräuber, wenn er fommen jollte, das Bett für 
unbefegt halten möchte. Unter jeinem Dedbett glaubte er aber 
dann zu hören, wie unten in großer Tiefe der Teufel auf einer 
Leiter aus der Hölle herausitampfte (Herztöne? Arterienpuls im 
Ohr?), und er meinte auch wahrzunehmen, wie derjelbe jede Nacht 
näher fomme. Wenn er dann eingeichlafen war, ſo ſchloſſen fich 
häufig allerlei peinliche, mehr oder weniger pathologiiche, bisweilen, 
mie es ſcheint, förmlich delirante Träume an. Einige Dale hat 
er einen und bdenjelben peinlihen Traum Mionate hindurch jede 
Nacht geträumt... Won einzelnen Altersgenoflen, bisweilen auch 
von älteren Perjonen war er gleich bei der erjten Begegnung in 
Ihmwärmeriicher Weile hingenommen und begeijtert, andere hat er 
fofort ſchroff abgelehnt. Seine Nblehnung habe oft tüchtige 
Menſchen getroffen, jeine Zuneigung nicht leicht einen Unmürdigen. 
Als einmal ein Lehrer, an dem er ſchwärmeriſch hing, megging, 
fühlte er ſich beim Abſchiednehmen in einer Weile jchmerzlich 
bewegt, daß es ihm gemwejen jei, als ob nun das Leben nie mehr 
einen Reiz für ihn gewinnen fönne. Doc jei er ſich mitten in 
Schmerz und Thränen zugleih mit Wohlgefallen als ungemein 
interefjant erichienen... Vor manchen Dingen hat er ſich unnatürlich 
geefelt, bejonders vor jchmußigen Händen, wobei jeine eigenen 
Hände jtets voll Schmuß waren. In ganz jungen Jahren hat er 
in überrafchender Weije injtinftiv gelogen, während es jpäter ihm 
geradezu unmöglich war, eine Unmwahrheit zu jagen. Auf jeinen 
Spaziergängen überfam ihn ab und zu plöglich ein Schauer und 
die Zmangsbefürdtung, dab ein Geſpenſt vor ihm auftauchen 
möchte. Auch primordialzinftinftive Todesahnungen und leiſe 
Selbftmordantriebe neben einem Grauen vor dem Tode famen 
bie und da einmal über ihn. Seine geiftige Entwidelung hat er 
langlam und in unjcheinbarer Weile durchgejegt, brachte aber 
Ihließlih größere Gaben zur Entfaltung, als man bei ihm gefucht 
hatte. Nach mehreren verfehlten Berufswahlen wirkte ein Freund 
jeines Vaters mwohlthätig auf ihn ein; er gelangte zu einer Einficht 
in die franfhafte Unnatürlichfeit einzelner Seiten jeines pſychiſchen 
Weſens, kehrte ins Gymnaſium zurüd, jtudirte Theologie, während 
welcher Zeit die Ericheinungen von Belajtung mehr und mehr 
abnahmen und die jchlimmen und guten Seiten jeines Geiſtes 


32 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 


und Herzens fi) immer gemwinnender entfalteten, wurde einige 
Zeit darauf Pfarrer und hat ſchließlich in theologischen, philo- 
ſophiſchen und geidhichtlihen Fächern mandes Tüchtige geleiftet.” 


In diefem Kranfenbilde wurde gegen Ende ein neuer Zug 
erwähnt, der nad) Koch bei feinem Belajteten ganz fehlen dürfte, 
das Zwangsdenfen. Es bejteht in der ungemollten periodiichen 
Miederfehr gewiſſer Empfindungen, Vorftellungen, Gefühle und 
Antriebe. So find die Empfindungen einer ungeheuren Größe 
des eigenen Kopfes oder einzelner Theile deſſelben beobachtet 
worden; gewiſſe Wortverbindungen, Tonfolgen, Melodien und 
bange Ahnungen verfolgen einen, ohne daß der Wille fie ver- 
drängen fann; ein fiebenjähriges Kind wird Nacht für Nacht von 
dem Gebanfen „Emwigfeit, ewig, ewig“ überfallen, der zujammen- 
hanglos im Bewußtjein auftaucht; dahin gehören unbegründete 
Sympathien und Antipathien, Angitvorftellungen, Verſuchungen, 
ein häßliches Wort auszuipredhen, eine als unfittlih und ſchlecht 
bewußte Handlung zu thun. Doc) befteht ein wefentlicher Unterſchied 
zwilchen den hier gemeinten Zwangsporftellungen und den Wahn: 
vorftellungen des Verrüdten. Denn jene werden immer als etwas 
Fremdartiges, Kranfhaftes empfunden, an deſſen Berechtigung oder 
Nealität der Leidende nidht glaubt, während der Verrüdte zwiſchen 
Mahn und Wirklichkeit nicht zu unterfcheiden vermag. Dort bleibt 
die Vorjtellung üolirt im Bewußtſein, der Verrüdte erdichtet 
feinen Wahnideen einen realen Untergrund und bringt fie in ein 
Spitem. Deshalb verſchließt auch der Belaftete die ihm als 
franfhaft bemwußten inneren Erfahrungen vor der Außenwelt, 
während der andere feine Umgebung davon zu überzeugen bemüht 
it. Im leichterer Form, als eine gelegentlihe innere Wahr: 
nehmung finden fid) die Zwangsvorftellungen befanntlich auch bei 
Gefunden als Kolgeericheinung einjeitiger Ueberreizung und Er: 
müdung. Wenn dagegen ihr Inhalt in Widerfpruch zu den ethiichen, 
aftgetifchen oder gar religiöfen Grundlägen und Anjchauungen ber 
Perfönlichfeit tritt, etwa wenn ein ſonſt gottesfürchtiger Menſch 
von der Verſuchung zu gottesläfterlichen Gedanken gepeinigt wird, 
fann durch die begleitenden Skrupeln und Selbitvorwürfe im 
Verein mit der Scheu, ſich anderen mitzutheilen, der an fich 
quälende pathologiiche Zuftand noch weſentlich geiteigert werden. 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 33 


Solder Art mögen vielfach die Anfechtungen der Einfiedler und 
religiöfer Kämpfer gemwejen jein. 

Die dritte Stufe der piychopathiihen Minderwerthigfeiten 
wird al$ Degeneration bezeichnet, die entiweder auf intelleftuellem, 
oder auf moraliihem Gebiet hervortritt, oder gar fich auf beide 
eritredt. Die intelleftuelle Degeneration zeigt ſich auf der 
Schulbanf in einer allgemeinen Verſtandesſchwäche, in der Un— 
fähigfeit, feine Aufmerfiamfeit länger auf einen Gegenitand zu 
fonzentriren oder von dem rein jinnlichen Erfallen der Objefte 
zur Begriffsbildung vorzudringen. Das hängt zum Theil mit der 
Langſamkeit der Phantafie und mit einer (partiellen) Gebächtnik- 
ſchwäche zujammen, die den höheren geiftigen Thätigkeiten nicht 
genügenden Vorrath an Vorſtellungen darbietet. Hierzu jei jedoch 
ausbrücdlich bemerkt, daß die Verſtandesſchwäche manches Gejunden 
größer fein fann als bei einem Degenerirten, und daß bei legteren 
oft ein ausgeiprochenes Talent oder eine einleitige hohe Begabung 
hervortreten fann, jo etwa eine große Fertigfeit im mechanischen 
Rechnen, ein auffallendes Zahlengebächtnig, große manuelle 
Geſchicklichkeit. 

Die moraliſche Degeneration äußert ſich in ihrer reinſten 
Form als ſittliche Beſchränktheit bei — wenigſtens primär — 
ungetrübtem Verſtand; ſie offenbart Armuth an ſittlichen Vor— 
ſtellungen und Grundſätzen, ſowie eine geringe Widerſtandskraft 
gegen Verſuchungen. Kommen dieſe aus dem Innern, ſo machen 
ſich perverſe Inſtinkte zum Schlechten bemerkbar, während die 
Befolgung der Triebe zum Guten gehemmt erſcheint. So kann 
das Verhalten dieſer Kranken eine widerliche egoiſtiſch-ſinnliche 
Richtung zeigen. Dabei laſſen ſich zwei Typen unterſcheiden, je 
nachdem ob ein aktiver Hang zur Entladung jener Inſtinkte 
treibt, oder ob die träge Natur des Patienten ihn in gutmüthiger 
Stumpfheit verharren läßt, die ſich nicht in die Umgebung 
beläſtigenden Handlungen äußert. So können auch erheblich 
degenerirte Individuen in Folge anderer Eigenſchaften ihrer 
geſunden Natur wie in Folge günſtiger erzieheriſcher Einflüſſe ein 
weit vortheilhafteres Geſammtbild ihres ſittlichen Verhaltens dar— 
bieten als mancher Geſunde. 

Am ſchlimmſten iſt es um diejenigen beſtellt, welche allgemein 
degenerirt ſind, d. h. ſowohl intellektuelle als ſittliche — 


34 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 


zeigen, zumal die aftiv-reizbaren Naturen. Bier tritt eine 
rückſichtsloſe Selbſtſucht in Verfolgung der vom Inſtinkt biftirten 
Ziele hervor, Ausbrüche von Zorn oder tüdiiche Bosheit, Lüge 
und Verftellung, Hab und Rachſucht, Thierquälerei und Vanda— 
lismus. In den jchwerjten Formen der Degeneration hört auch 
die freie Willensbeitimmung auf, die in leichteren Formen kaum 
beeinträchtigt erjcheint. Cigenthümliche Kontrafte zeigen ſich auch 
bier: eine rigoroje Strenge in der Beurtheilung fremder Fehler 
und Vergehen neben einer blinden Urtheilslofigfeit in Betreff der 
eigenen unfittlihen Handlungen. Dennoh find auch in dieſen 
Naturen ſittliche Vorjtellungen vorhanden, auch wohl das Verlangen 
nah Bejlerung, worin die Erziehung immerhin eine Handhabe 
erhält, wenn aud die Ausfichten auf Erfolg jehr gering find. 

Es ijt bereits bemerkt, daß die hier geichilderten Schädigungen 
des GSeelenlebens erſt erworben werden, d. h. erit nad) der Geburt 
aus pſychiſchen oder jomatiihen Anläffen hervorgehen fünnen. So 
iſt es nicht Selten, daß geiftige Ueberanftrengungen, wie fie das 
Schul: und Univerjitätsleben gelegentlid mit jich bringt, ferner 
Ueberreizungen der Phantafie oder auch gemüthlihe Weber: 
anftrengungen und Affelte, wie 3. DB. Furcht, Neue, Sorgen, 
verlegter Ehrgeiz zur Entjtehung einer pſychopathiſchen Minder— 
werthigfeit führen, eine Gefahr, die bei gemüthlihen Anläſſen 
erheblicher ijt als bei intellektuellen Reizen. Andererjeits fonnen 
auch förperliche Leberanjtrengungen und Entbehrungen, Infektions— 
franfheiten, Blutarmuth, Mißbrauch von Genußmitteln, Ver: 
legungen, bejonders des Kopfes ſowie endlich jeruelle Erzeile zu 
jenen bleibenden frankhaften Ericheinungen führen.*) 


*) Hierzu jeien ein paar Bemerfungen eincd anderen rrenarztes, Dr. 
Fr. Scholz, aus feiner überaus anzicehend geichriebenen „Diätetif des Geiftes“ 
S. 75 angeführt. Cr äußert über die „im mildeiten Grade ſchwaächſinnigen 
Idioten“ (nach Koch wohl in geringem Grade Degenerirten) Folgendes: „Es 
giebt dergleichen viel mehr als man glaubt. Sie find zu fuchen unter ben 
ungerathenen Söhnen guter ‚zamilien und den leichtfertigen, koketten, pub* 
füchtigen flachen Modedamen unierer Salons. Yettere werden von den Umjtänden 
gelragen und gehoben, ſie leiſten Nichts, aber man verlangt auch Nichts von 
ihnen. Erſtere aber werden ins Leben geichiet, fie jollen fich bewähren unter 
Verhältnifien, denen fie in feiner Weile gewachſen find und oft, nachdem fie 
unendliches Elend, Schande und Berarmung über ihre Angehörigen gebracht, iſt 
das Endrejultat der vollitändigite geiftige und moraliihe Bankerott. Beide 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 35 


Nachdem im Worftehenden die Kociche Lehre in ihren 
meientlichen Zügen, foweit fie den Erzieher interejfirt, mitgetheilt 
worden ift, gilt es eben vom pädagogischen Standpunkte dazu 
Stellung zu nehmen. Denn der Kritik der Fachgelehrten über 
ihren mwifjenichaftlichen Werth vorzugreifen, fann nicht meine Abficht 
jein, wie ich denn auch nicht weiß, welche Beurtheilung das Bud) 
in der pfgchiatriichen Welt erfahren hat. Um meinen Standpunft 
in aller Kürze zu bezeichnen, jo bin ich der Anficht, daß die hier 
niedergelegten Erfahrungen und Urtheile des gewiegten Arztes für 
die Pädagogik ungemein bedeutiam find, injofern durch fie ein 
flares Verſtändniß für ebenjo verbreitete als bedenkliche Fehler 
jugendlicher Individuen angebahnt wird. Andererjeits jehe ich in 
dem Kochſchen Merf nur den erſten Verſuch einer Syitematifirung 
franfhafter Ericheinungen auf einem bisher noch wenig beachteten 
Gebiet. it es daher an fi) wahrscheinlich, daß diefem Verſuch 
noch Mängel und Irrthümer anhaften, welche hoffentlich die Mlit- 
arbeit berufener Mediziner zur Folge haben werden, jo hat ber 
Erzieher als Laie, allen Grund, jene Aufitellungen mit großer 
Vorfiht aufzunehmen, ſowohl in Bezug auf die theoretiiche An- 
erfennung der einzelnen Urtheile, ſoweit fie fich zu den Erfahrungen 
der Pädagogik in Wideripruch jtellen, als vor allem in Bezug auf 
eine vorjchnelle Anwendung in der Praris. Man wird fich zu 
hüten haben, die Beurtheilung eines gegebenen Sinderfehlers 
alsbald unter piychiatriichen Geſichtspunkt zu jtellen, und vollends 
eine ſchroffe Aenderung der bisher angewandten erzieheriichen 
Behandlung eintreten zu laſſen. Auch wird der Pädagoge von 
feinem prinzipiellen Standpunfte aus, mie auf Grund jeiner 
Erfahrung über die dem Kindesalter eigenthimlichen Fehler, ihren 
Ursprung und Verlauf fih zu mandem Bedenfen und Einwand 
genöthigt jehen. Das iſt denn auch, wie bereits oben bemerft, 


aber, Mann und rau, gehen durc die Welt, ohne al$ das erfannt zu werden, 
was fie find, nämlich als ſchwachſinnige Idioten. Man moralifirt über fie, 
man iſt erftaunt und ericroden über ihren Yebenswandel, über ihre Berlogenheit, 
über ihre Wechſelfälſchungen und fonitigen Unthaten, aber die wahre Uriache 
erfennt man nicht.“ Ueberaus naturgetreu iſt die dann folgende Schilderung 
eines ſolchen Typus, des Salonidioten, wie ich ihn nennen möchte, Die ich wegen 
ihrer Länge bier wiederzugeben mir verfagen muß. Im Leben iſt ihm jeder 
begegnet. 
8* 


36 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 


von berufenfter Seite*) geichehen, zugleih mit dankbarer Ans 
erfennung der von medizinischer Seite gebotenen Anregung und 
Belehrung. 

Die Pädagogik und die Pſychiatrie find Wiſſenſchaften, welche 
erzentrifchen Kreiſen gleich, bisher feinerlei Berührungspunfte zu 
haben ſchienen. Koch hat den Radius jeiner Wiſſenſchaft derart 
verlängert, dab die Kreiſe fich jchneiden und ein Grenzgebiet 
entjteht, welches beiden Intereſſenſphären angehörend, ein Zufammen- 
wirken erheiiht. Da iſt es zur Wermeidung eines Konfliftes 
mwünfchenswerth, daß man fi) gegenfeitig über die ideale Grenz- 
linie flärt, daß ferner beide Theile auf dem Gebiet, wo fie 
gemeinfam zu wirken berufen find, fich über das Ziel, das fie 
verfolgen, wie über die Art der Arbeitstheilung friedlich einigen. 
Der Arzt darf, die Kollegialität in Ehren, nicht vergeilen, daß er 
fein Jugenderzieher, diefer, daß er fein Arzt ift. 

Der Feind, den wir gemeinam befämpfen, find die Jugend- 
fehler. Für ihre Auffaſſung hatte die Pädagogik jchon bisher 
viel von der Naturwiſſenſchaft gelernt. Zu dem Rouſſeauſchen 
Grundſatz, „Alles ift gut, wie e8 aus den Händen ber Natur 
hervorgeht, alles entartet unter den Händen der Menſchen“ mit 
anderen Morten: die Seele des neugeborenen Kindes iſt ohne 
jeglichen Fehler, dürften fi wenige Pädagogen mehr befennen. 
Auch die Herbartihe Auffaffung von der völlig inhaltslofen, 
unveränderlihen Seele dürfte ſich mit den Thatlachen der Erfahrung 
nicht vereinbaren laſſen. Vielmehr jcheint die Erfahrung Folgendes 
zu lehren: der Seele des neugeborenen Kindes wohnen als ein in 
feinem innerften Wejen und feinen Entitehungsurjahen unerflärliches 
Erbtheil der Eltern und Voreltern gewiſſe Anlagen inne, bie 
fih zu Fehlern bezw. Tugenden entmideln fönnen. Die Indi— 
vidualität in ihren nationalen, geichlechtlichen, intellektuellen, 
moralifchen u. j. mw. Komponenten iſt hier bereits vorgebildet, wie 


*) 2. Strümpell, „Die pädagogiiche Pathologie”, 2. Aufl., Leipzig 1892, 
S. 310-384. Dr. 4. Spitner, „die wiſſenſchaftliche und praftiiche Bedeutung 
der Lehre von den piychopathiichen Mindermerthigfeiten für die Pädagogik“, 
Vortrag Leipzig 1894. Mit befonderem ntereffe darf man der in Borbereitung 
ftehenden dritten Auflage der pädagogiichen Pathologie entgegenfeben, die danf 
ber vereinten Arbeit der beiden genannten Autoren manches Neue zu der wichtigen 
Frage bringen ſoll. 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 87 


in der Eichel nit nur der Gattungscharafter, jondern auch die 
Individualität des einzelnen Eihbaums vorgebildet it. Wie es 
aber dort von klimatiſchen Bedingungen, Bodenverhältnifien, Luft, 
Licht und Pflege abhängt, ob die Eiche, die aus der Eichel werben 
fann, auch wirfli aus ihr wird, jo wird es auch bei ber 
Menſchenſeele von mannigfaltigen äußeren Bedingungen abhängen, 
ob und inwieweit die in ihr vorhandenen Anlagen zur Entwidelung 
gelangen. Dieje Bedingungen zu erfüllen, die guten Anlagen zur 
Entfaltung zu bringen, die jchledhten zu hemmen, darin bejteht 
die Aufgabe der Erziehung. Dieielbe verjpriht um jo eher 
Erfolg, je flarer die Erfenntnik der in dem Kinde jchlummernden 
Charafteranlagen iſt. Bisweilen mag es dann wohl gelingen, die 
Sehler im Keime zu erjtiden. Viele fehlerhafte Neigungen aber, 
zumal Diejenigen, welche in der jinnlichen Natur ihre Wurzel 
haben, finden troß jorgfältigiter Behütung ihre Nahrung. Ja, es 
Icheint, als ob den legteren eine ftärfere Lebenskraft innewohnte. 
So fommt es, daß der Erzieher fich bald mehr oder weniger 
ausgeprägten Fehlern gegenüber jieht, die er nun mit allen 
Mitteln zu befämpfen bejtrebt ijt. Gelingt diejes fraft der Freiheit 
ber Wahl, welche der Seele aud die fehlerhaften Antriebe zu 
überwinden befähigt, jo fann ſich auf der Grundlage bes „ererbten 
Charakters” ein „erworbener Charakter” bilden, der oft von jenem 
weit verjchieden iſt und jeinerjeitS weiter vererbt werden kann. 
Eine jtärfere Lebenskraft freilih jcheinen die angeerbten Anlagen 
zu bejigen, zumal wenn fie in der förperlihen Beichaffenheit 
wurzeln, denn die Erfahrung lehrt, daß jie in der dritten Generation 
aufs neue erjcheinen und unter günjtigen Einflüſſen ſich fräftig 
entwideln fönnen, auch wenn fie ein Dlenichenalter hindurch jo 
zu jagen brach gelegen haben. 

Zur Erfenntniß der ererbten Fehler wie überhaupt derer, 
die in einer fehlerhaften Beichaffenheit des Gehirns und Des 
Nerveniyitems ihre Grundlage haben, bietet uns die Kochſche 
Arbeit einen lehrreichen Beitrag. Müſſen aber die Fehler, welche 
Koh in den Bereich jeiner Betradtung zieht, jämmtlid einen 
förperlihen Urjprung haben? Genügt für ihre Erklärung die an 
ih vielleiht unbejtreitbare Vorausſetzung franfer Nerven? Ber: 
gejlen wir nit, daß die Seele, wenngleich fie vielfah in Ab— 
hängigfeit vom Körper jteht, eine jelbitändige Exiſtenz behauptet, 


33 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 


ihren eigenen Lebensgejegen unterliegt. Wie fie daher von 
förperlichen Mängeln nicht in Mitleidenichaft gezogen zu werden 
braucht, jo können ſich troß geſunder Nerven analoge Fehler des 
Seelenlebens zeigen, wie fie für den Nervenfranten charafteriftiich 
jein mögen. Ein Kind fann dumm, graufam, lügneriich, diebiſch, 
unkeuſch fein zufolge jeiner franfhaften Nervenbeihaffenheit und 
troß jeiner gejunden Nerven. Weldyes der beiden Berhältnijie 
aber im gegebenen Falle jtatthat, darüber wird der Erzieher jein 
auf pſychologiſcher Erfahrung beruhendes Urtheil nicht ohne weiteres 
dem des Pſychiaters zu opfern ſich verjtehen können. 

Die bier befürmwortete Zurüdhaltung gegenüber der Xehre 
von den Minderwerthigfeiten gewinnt an Berechtigung, wenn wir 
berüdjichtigen, daß Koch feine Beobachtungen vorwiegend an 
Erwadienen gemacht hat, daß die Kindesnatur in ihrer Eigenart 
ihm weniger befannt jein mußte. Nun bietet aber das Seelen: 
leben des Kindes ein weit jchiwierigeres, überhaupt erjt jeit Kurzem 
in Angriff genommenes Studiengebiet dar, nit nur weil das 
Kind uns über jeine inneren Erfahrungen wenig oder gar feinen 
Aufihluß zu geben vermag, jondern auch weil jeine Entwidelung 
nod im Fluſſe, noch nicht zu feiten Formen eritarrt if. Schon 
feine normale Natur ift daher weit jchiwerer unter klare Formeln 
zu bringen als das Innenleben des Erwachſenen, in welchem das 
gegenjeitige Verhältniß von WBorjtellen, Fühlen und Wollen ſich 
harmoniſch abgeflärt hat; wievielmehr erjt die Negelwidrigfeiten, 
die Kinderfehler? Es giebt unter ihnen ſolche, die in der Einnlichfeit 
der Kindesnatur oder in dem natürlichen PBrävaliren der einen 
oder anderen jeeliihen Funftion begründet, aljo, jo parador es 
klingt, völlig normal find. Wann find wir berechtigt, den 
gejunden Appetit eines dreijährigen Kindes als fehlerhafte Ge: 
fräßigfeit zu tadeln? Werden nicht die meijten gejunden Kinder 
in dieſen Fehler verfallen, wenn die Mutter nicht durch jtrenge 
Sewöhnung ihrer Eh: oder Naſchluſt vernünftige Grenzen jegt? 
Ein drei: bis vierjähriges Kind jagt viel Ummwahres, obgleich es 
das Wahre vom Falſchen jchon bis zu einem gemwillen Grade zu 
unterjcheiden vermag. Lügt es darum? Die Antwort giebt uns 
Jean Paul, wenn er (mie ich glaube, nicht ohne Uebertreibung, 
in der Dauptjadye aber wahr) bemerkt: „In den erjten fünf Jahren 
jagen die Kinder fein wahres Wort und fein lügendes, fondern 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 39 


fie reden nur. Ihr Reden iſt ein lautes Denken; da aber oft 
die eine Hälfte des Gedanfens ein Ja, die andere ein Nein ift, 
und ihnen beide entfahren, jo jcheinen fie zu lügen, indem jie 
bloß mit ſich reden.” Aehnlich jteht es mit der Zerjtörungsiudt, 
weldye durchaus normal oder aber piychopathiicher Natur fein kann. 
Für den Arzt, wie für den Erzieher ergiebt ſich jomit die 
Nöthigung, eine jihere Scheidung vorzunehmen, in wie weit bie 
von ihnen beobadteten Kindesfehler als Folgeericheinungen einer 
förperlihen Schädigung, aljo eines in medizinijchem Sinne patho: 
logiſchen Zuſtandes anzujehen find und in wie weit fie Fehler 
rein pädagogiichen Charakters find. Gewiß liegt hierzu in der 
Kochſchen Arbeit ein werthvoller Beitrag vor, doch bedarf er einer 
Ergänzung von Seiten der pädagogiicen Pathologie. Ihr fällt 
nunmehr die dringlihe Aufgabe zu, fejtzuftellen, welcher Art die 
Fehler find, die in der Entwidelung des gejunden Kindes hervor: 
treten fönnen. Xeider ilt die pädagogiiche Pathologie erjt jeit 
Kurzem als jelbitändige Disziplin von 2%. Strümpell begründet 
und nod nicht über die erjten Anfänge hinausgelangt. Weber 
fennen wir daher „die piychiiche Natur, noch vollends die pſychiſchen 
Urſachen der Kindesfehler,“ und doch ijt eine Abredinung mit ber 
PBiydiatrie im erwähnten Sinne erjt denkbar, wenn auf Diejem 
Gebiet mehr Licht gewonnen jein wird. 

Zu den genannten, von der Natur der Kindesfehler her: 
geleiteten theoretiichen Bedenken gegen die Lehre von den Minder: 
werthigfeiten gejellen Jich ferner ſolche, welche die Uebertragung 
und Anwendung auf die Praris betrefjen. 

Es war oben bemerft, daß Arzt und Erzieher, wo fie fi) 
zu gemeinjamer Arbeit anjdhiden, zuvor über das Ziel, das jie 
verfolgen, Klarheit zu gewinnen hätten. Beide jtreben im vor: 
liegenden Fall nad Befeitigung gewiſſer Kindesfehler. Trotzdem 
dürfte das Ziel, das fie verfolgen, nicht völlig das gleiche jein. 
Die Verjchiedenheit ergiebt fih aus dem Gefichtswinfel, unter 
dem fie jene Fehler betrachten. Der Arzt ſieht in ihnen Störungen 
der geiftigen Gejundheit, die er als ſolche befümpft, ohne jie 
nah moraliihem Maßſtab zu werthen; für den Erzieher dagegen 
bedeuten ſie Hinderniſſe, welche dem Fortichritt des Erziehungs: 
werfes im Wege jtehen und die Erreichung des ethiſchen Zieles 
der GCharafterbildung erſchweren; ob jie förperliden Urjprungs 


40 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 


oder rein feeliicher Natur find, fommt für ihn nur infofern in 
Betradt, als die Wahl der Mittel, fie zu befämpfen, damit in 
Zufammenhang jteht. Dort ift das Ziel erreicht, wenn die frank: 
haften Symptome geihwunden find, wenn der Patient trog aller 
moraliihen Diängel die ihm unabhängig von jenem Leiden an- 
haften mögen, für geiftig geſund gelten fann; der Erzieher nimmt 
dagegen hier die Arbeit erjt eigentlich auf, und fein Werk gelangt 
erit dann zum Abſchluß, wenn nad Erreichung einer gewiſſen 
fittlihen Selbjtändigfeit der Zögling die vom Erzieher begonnene 
Aufgabe auf dem Wege der Selbjtzucht fortzuführen übernimmt. 

Wie nun, wenn der Erzieher, durd die ihm bisher fremde 
und in Folge ihrer Neuheit doppelt anziehende pſychiatriſche Auf: 
faſſung verlodt, jein pädagogiiches Urtheil durch das Mitleid, wie 
man es für einen Kranfen empfindet, trüben läßt und ſich ber 
Erziehungsmittel begiebt, welche ihren Werth in Folge der ver: 
änderten Auffaſſung von der Natur und dem Urjprung der Fehler 
feinesiwegs verloren haben. Nie und nimmer darf der Erzieher 
vergejien, daß nad) dem YZugeftändiß des Pſychiaters ſelbſt in 
ihlimmen „Fällen ererbter Minderwerthigfeit, die Willensfreiheit 
des Patienten feinesiwegs aufgehoben ijt. So lange derjelbe daher 
erzieheriſchem Einfluß unterjtellt ift, darf fein Mittel unverjucht 
bleiben, um den Willen, jo jehr er durch körperliche Einflüſſe 
gehemmt und geſchwächt jein mag, zu üben und zu jtärfen. 

Geſetzt aber, daß der Erzieher der hier angedeuteten Gefahr 
entginge, jo iſt bei Uebertragung der Kochſchen Lehre in bie 
Praris noch aus einem anderen Grunde die größte Behutjamteit 
geboten. Sind die von Kod) genannten Kennzeichen piychopathiicher 
Diinderwerthigfeit, ihre medizinische Zuverläſſigkeit vorausgejegt, 
für den Laien bequem verwerthbar? 

Was zunähjt die Tegenerationszeichen anatomiſcher Art 
betrifit, jo giebt es ja etliche, deren urjächliher Zujammenhang 
mit pſychiſchen Schädigungen unmittelbar einleuchtet. Bei anderen 
dagegen — ihre Aufzählung iſt bier abfichtlic vermieden — fann 
ein folder Zuſammenhang ſelbſt vom Fachmann ſchwerlich nad) 
gemwiejen werden, geichweige daß er fih dem Laien erjchlöjle. 
Mag ihnen trogdem erfahrungsgemäß ein ſymptomatiſcher Werth 
nicht abzujprechen jein, jo dürften ihrer diagnoftiihen Anwendung 
duch den Nicht-Arzt ſchwerwiegende Bedenken entgegenitehen. 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 4 


Nehnliches gilt von den funktionellen Anomalien. Zwar iſt bier 
das faufale Verhältnig von Symptom und Leiden meift leichter 
erfennbar als bei den leichten anatomiſchen Verbildungen, aber 
auh unter ihnen find foldhe (z. B. Kopfichmerzen, Herzklopfen, 
Neigung zu läjtigen Erröthen), die durch Erfranfung von dem 
Gehirn völlig unabhängiger Organe bedingt jein können. Auch 
diefe Symptome werden erjt mit anderen einmwandfreieren zus 
jammengehalten, in den Händen des fundigen Arztes ihren Werth 
erhalten. 

Freilich ſpricht auch Koch den genannten Vorbedingungen 
einer Diagnoje auf pſychopathiſche Minderwerthigfeit nur relativen 
Beweiswerth zu, und ich fann mid) nicht enthalten, dieje wichtige 
Stelle wortgetreu anzuführen: „Wenn bei Vater oder Mutter 
ober bei beiden Eltern eines nicht geiftesfranfen, aber pſychiſch 
eigenthümlichen Menſchen zur Zeit feiner Zeugung oder wenn bei 
feiner Mutter während der Schwangerihaft (und mut. mut. bei 
den Großeltern) eine entipredyende Schädigung des Nerveniyitems 
oder eine Erihöpfung oder Abgelebtheit des ganzen Organismus 
beitand, jo iſt die Möglichkeit gegeben, dab die in jeinem 
pſychiſchen Weſen vorhandenen Auffälligfeiten ganz oder theilweije 
durd) eine ererbte Schädigung des Nervenigftems bedingt find, 
einer angeborenen oder einer gemiſchten piychopathiichen Mlinder: 
werthigfeit angehören. Wenn dieſer Menſch Stigmata der Dege: 
neration an ſich trägt, jo liegt die Wahrjcheinlichfeit vor, daß 
feine pſychiſchen Eigenheiten der Ausdruck einer völlig oder doch 
theilweife angeborenen pſychopathiſchen Dlinderwerthigfeit find. 
Und die Vermutung, daß dem jo jein werde, ijt deſto mehr 
gerechtfertigt, je verbreiteter und ausgeprägter die Degenerations: 
zeichen fich finden. Eine Gewißheit in der Sache aber hat 
man erjt dann erlangt, wenn die in dem piuchiichen Leben eines 
Menſchen zu Tage tretenden Nuffälligfeiten durch ihre eigene 
Beichaffenheit an fich jelbjt als pathologisch, beziehungsweije wenn 
ie als Bejtandtheile eines der Bilder erfannt wurben, welche 
man jchon aus ihren pinchopathiichen Symptomen allein als 
angeborene pſychopathiſche Minderwerthigkeiten zu Ddiagnojtiziren 
gelernt hat.“ 

Wie jteht es nun aber mit der praftiihen Verwendbarkeit 
der hier betonten piyhiihen Symptome? Koch jelbit erwähnt 


42 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 


gelegentlich die Schwierigkeit, Angelihts der flüjfigen Grenze des 
Normalen und des Bindopathiichen ein jicheres Urtheil zu gewinnen; 
er giebt zu, daß gewiſſe Schädigungen wie Verſtandesſchwäche 
beim Gejunden ausgeprägter. hervortreten fünnen als beim Pſycho— 
pathen; Widerfprühe zwiſchen gejunden und franthaften Zügen 
gelten geradezu an ſich als ein weientlihes Dierfmal der Belajtung: 
der gewiegte Seelenarzt wird ſich aud) innerhalb diejer verwirrenden 
SJerpfade zurechtfinden, wird es aber auch der Laie? Wird er ji) 
nicht leicht zu einer vorjchnellen und unbejonnenen Diagnoje ver: 
führen lajjen? 

Endlich jei noch ein legtes Bedenken erwähnt, das ſich gegen 
die von Koch gewählte Bezeihnung „Minderwerthigfeit“ richtet. 
Geſetzt dieſer Begriff fünde in Schule und Haus Eingang, und 
nur unter dieſer Vorausjegung fann erfolgreid; gegen den Feind 
angefämpft werden, ijt nicht der Name dazu angethan, bei den 
Angehörigen der geſchädigten Kinder Beunruhigung und Ber: 
ſtimmung zu erzeugen, diejen jelbjt aber einen Diafel anzuhängen? 
Diachen wir uns das far: die Diagnoje auf Minderwerthigkeit 
iſt ſchwerwiegend, objektiv durch den Kochſchen Cap, dab Die 
Dlinderwerthigfeit „ganz allmählih völlig zur Geiſteskrankheit 
hinüberführen fann” (in der Mehrheit der Fälle jei das nicht 
der Fall), jubjektiv, indem in die Seele des jo beurtheilten Kindes 
duch die Ausnahmejtellung, die man ihm zumweiit, bei aller 
Zartheit und Rückſicht von Seiten des Arztes oder Erziehers doch 
eine Trübung gebradt wird, die leicht zu hypochondriſchen 
Stimmungen führen, ja an jih zu einer Seelenfranfheit aus 
wadjen fann. 

Diejes Bedenken hat Spipner zu dem Vorſchlag veranlaßt, 
dem ich mich im Prinzip durchaus anſchließe, in der Pädagogik 
den Namen „piychopathiiche MDlinderwerthigfeit“ gänzlich zu ver: 
meiden. Er will die hierher gehörigen Erjcheinungen unter den 
Begriff der „pädagogiihen Fehlerhaftigfeit“ gejtellt willen, die 
etwa durch den Zujag „auf organiſch frankhafter Grundlage 
beruhend“ eine genauere Beltimmung erhalten fünnten. Ebenſo 
umgeht Trüper Die heifle Bezeichnung, indem er jeine Anjtalt 
ein Erziehungshaus „für Kinder mit geſchwächter oder fehlerhafter 
Veranlagung” nennt. Der Eingeweihte weiß, was darunter ver: 
jtanden ilt, das odium nominis ijt vermieden. 


Ein Örenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 43 


Damit wären die wejentlichjten Bedenfen hervorgehoben, 
welche ſich dem nicht:medizinifchen Leſer der Kochſchen Schrift 
aufdrängen, wenn er jich über ihren Werth für die pädagogiſche 
Braris flar zu werden verjudt. Der Kern diejer Betradhtungen 
it, den Erzieher vor Ueberſchätzung der Kodichen Lehre nad 
Seiten ihrer willenichaftliden Meife, ſowie vor vorjchneller 
Anwendung auf den einzelnen Kal und unberechtigten Verall: 
gemeinerungen zu warnen. Damit joll jedoch die Bedeutung des 
Werkes feineswegs beanjtandet werden. Ein großer Fehler wäre 
es, wenn der Erzieher um einzelner prinzipieller Abweichungen 
willen eine jo reife und werthvolle Frucht pſychiatriſcher Studien 
rungmweg ablehnen wollte. Dem Kochſchen Wert gebührt ohne 
Zweifel die ernitefte Beachtung nicht nur von Seiten der erste, 
Lehrer und Erzieher und aller jtaatlichen Organe, in deren Hände 
die Erziehung fommender Gejcdhlechter gelegt ilt, ſondern von 
einem weiteren Gejichtspunft aus das Intereſſe aller, denen das 
Volfswohl am Herzen liegt. Denn auch auf die große joziale 
Frage fallen nicht unweſentliche Streiflichter, jofern Koch einerjeits 
die piychopathiichen Minderwerthigfeiten vielfah aus Mangel, 
förperlicher und geiftiger Entbehrung entjtchen läßt, andererjeits 
auf ihren Zufammenhang mit dem Alfoholismus, der Projtitution 
und der Ausnugung der Ichulpflichtigen Jugend zu gewerblicher 
Arbeit Hinmweilt. 

Bon der Beadhtung, welche die Lehre Kochs in Deutichland 
gefunden hat, und von den Nejultaten, die jie jchon bisher gezeitigt 
hat, ijt bereits oben die Nede gewejen. Doc joll im Folgenden 
noch unterjucht werden, auf weldem Wege fi weiterer Gewinn 
für die Erziehung in Schule und Haus aus der empfangenen 
Anregung und Belehrung erzielen ließe. Dabei liegt es nabe, 
daß die eigenartigen Verhältniſſe der baltiihen ‘Provinzen, die 
mir naturgemäß bei meinen Grörterungen vorjchweben, oft zu 
anderen Folgerungen führen müſſen, als fie draußen am Platze 
ein mögen. Auch fann die Frage im Rahmen meiner Arbeit 
nur in allgemeinen Umriſſen behandelt werden. 

Zunädjit erwächlt, wie bereits angedeutet, der wiljenichaftlichen 
Pädagogif die Pflicht, das Studium der Kindesfehler auf Grund- 
lage förperliher Gejundheit energiih in Angriff zu nehmen, Die 
von Strümpell begründete pädagogiſche Pathologie durch umfajjende 


44 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 


und erafte Beobachtungen auszubauen. Diefem Zmede dient 
bereits jet die oben genannte Zeitichrift „Kinderfehler,” deren 
Studium bei diefer Gelegenheit allen, welche ſich für Erziehungs: 
fragen interelliren, aber auch allen Aerzten warm ans Herz gelegt 
fei. Sie verfolgt den Zwed, zwiſchen den Vertretern der häuslichen 
und der Schulerziehung, den Aerzten, der Geijtlichfeit, kurz allen 
denen, welche in ihrem Berufe mit jeeliihen Kinderfehlern zu 
fümpfen haben, eine Beziehung herzuftellen, um auf dieſem Wege 
durch Austaufh der Erfahrungen eine tiefere Erfenntniß jener 
Sehler zu erlangen. Hier können und jollen alle bezüglidhen 
Beobachtungen niedergelegt werden als Baufteine für die Hand 
des Meijters, der fie zum Aufbau einer Kinderpfychologie rejp. 
Pathologie zu verwenden im Stande jein wird. Bier jollen 
pſychologiſche Fragen aufgeworfen und dem Fortſchritt Der 
Wiſſenſchaft entiprechend der Löſung näher gebracht werben. 
Hier findet man aud Belehrung über private, fommunale und 
ftaatlihe Einrichtungen innerhalb Deutichlands mie in der ganzen 
übrigen Welt, welche der Heilerziehung im weitejten Sinne zu 
dienen bejtimmt jind, jowie eine Meberjicht über die hierher gehörige 
Litteratur.*) 

Immerhin ift es einjtweilen Mofaifarbeit, die in den „Kinder: 
fehlern“ geleiltet wird, eine weitere wichtige Aufgabe ift auf 
anderem Wege zu löjen, ich meine die Feſtſtellung der thatlächlichen 
Verbreitung der „piuchopathiichen Minderwerthigfeiten” innerhalb 
unſerer Schuljugend. Wir brauden nah eralter Methode an- 
gejtellte jtatijtische Erhebungen darüber, ein wie großer Prozentjag 
unjerer Schüler reip. Schülerinnen als minderwerthig anzuſehen 
ift, wie jich innerhalb diejer Zahl das Verhältniß der angeerbten 
zu den erworbenen Schäden jtellt, welche Formen biejelben zeigen, 
wie fie jih nad Zahl und Charakter auf die einzelnen Jahrgänge 
derjelben Schule, wie auf die verichiedenen Schultypen vertheilen, 
welchen Einfluß die Schule auf die Heilung oder Steigerung ber 
einzelnen Schäden hat u. ſ. w. Ein Schema für Unterjuchung 
des Einzelindividuums auf pfuchopathiiche Veranlagung, bei deſſen 


*) Kinderfehler 1896, ©. 65—68. Cine Fülle von Belchrung für alle 
einjchlägigen Fragen bietet auch daS zu zwei Dritteln feines Umfanges (Litt. P) 
fertig geſtellte „Enzyklopädiſche Handbuch der Pädagogik", herausgegeben von 
Prof. W. Hein (Langenſalza 1895 ff.) 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 45 


Entwurf die von Koch aufgeitellten Gefichtspunfte eingehende 
Berüdfichtigung erfahren haben, wird von Trüper in den „Kinder: 
fehlern” (Jahrg. 1897, ©. 143 ff.) zur Diskuſſion geitellt. 

Auf diefem Wege würde jomohl die Theorie der Kinder: 
fehler gefördert werden, als auch, worauf es mir bejonders anzu: 
fommen jcheint, die praftiiche Bedeutung derſelben in das rechte 
Licht treten. Wir würden erfahren, welche Aufgaben der Schule 
aus der angeregten Trage erwachlen, inwiefern den Bedürfniſſen 
der fehlerhaft Beanlagten in ihr Rechnung getragen wird bezw. 
getragen werden fönnte. Denn joviel dürfte außer Zweifel ftehen, 
daß ein großer Theil der Inſaſſen von Irrenhäufern, wie der 
Verbreder und Selbitmörder pathologiiher Art (und follte 
beren Ziffer nicht einen beträchtlichen Prozentſatz aller jugendlichen 
Selbitmörder bilden?) den Keim der nachmaligen Erfranfung und 
Entartung, für das geihärfte Auge erfennbar ſchon im 
pädagogiichen Alter in fih trug. Muß nicht diefe Erwägung in 
der Bruft eines jeden Lehrers das Bewußtſein einer jchweren 
Verantmwortlichfeit weden? Dürfen wir dem Appell des Seelen: 
arztes an unjere Mitarbeit unfer Ohr verjchließen? Doc zu: 
gegeben, daß mir die Pflicht haben, der Frage näher zu treten, 
was fonnen wir thun? Darauf läßt fich eine erichöpfende Antwort 
heute unmöglich geben. Soviel aber ijt gewiß, daß ſchon Die 
Beihaffung der Daten über die thatlählihe Verbreitung der 
„Minderwerthigfeiten“ in der Echuljugend ohne Hilfe der Lehrer 
unausführbar it. Denn nur eine lange fortgeiekte Beobachtung 
über das Merhalten des Kindes im Unterricht gegenüber 
erzieheriihen Diaknahmen, beim Spiel u. j. w. ermöglicht ein 
fiheres Urtheil über jeine intelleftuelle und fittliche Beanlagung. 
Und vollends die Auswahl der von der Lehrmethode und Scul- 
erziehung gebotenen Mittel, um dem Wachen des Llebels zu 
fteuern oder eine Heilung anzuftreben, fann ausschließlich der Lehrer 
treffen. Wo ferner, abermals auf Grund der Sculerfahrung, 
das Verbleiben des Gejchädigten in der Schule um jeiner ſelbſt 
oder um der Mitichüler willen, fich verbietet, wird wiederum der 
Lehrer in vielen Fällen den Anjtoß zu feiner Entfernung zu geben 
haben. Die Heilerziehung außerhalb der Normalichule endlich iſt 
eine Aufgabe, welcher ji) die berufsmäßigen Erzieher auf Die 
Dauer nicht werden verichließen können. 


46 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 


Dabei darf nun freilich nicht verichmiegen werden, daß die 
pädagogische Vorbildung unjeres Lehrerjtandes vorderhand faum 
ausreicht, um die erwähnte Aufgabe erfolgreich zu erfallen. Es 
liegt mir fern, meinen Kollegen einen Vorwurf machen zu wollen. 
Aber jeder Aufrichtige wird zugeben, daß die pädagogischen Studien 
an unlerer Landesuniverfität jeit Jahrzehnten wenig aepflegt wurden, 
daß die Prüfungsreglements nad) diejer Seite ungemein genügſam 
waren, jo daß der Gymnaſiallehrer — die Verhältniſſe an unjerer 
Volfsichule laſſe ich aus naheliegenden Gründen gänzlich außer 
Betraht — an theoretischen Kenntnilfen der Pädagogik recht 
wenig in den praftiichen Beruf mitbradhte. Bricht ſich doch auch 
in Deutichland, deſſen Schulweſen als vorbildlich zu betrachten 
wir feit lange gewöhnt find, erſt neuerdings die Ueberzeugung 
Bahn, dak für die pädagogische Vorbildung des Gymnaſiallehrers 
mehr geichehen mühe, damit fie nicht allzuſehr hinter den jemina- 
riftiich geihulten Volksichullehrern zurückſtänden. Auch glaube ich 
nicht zu irren, wenn ich annehme, daß das Bebürfnik nad päda— 
gogischer Vorbildung von unferen Gymnafiallehrern ſelbſt nicht 
gerade lebhaft empfunden wurde, jei es aus Geringſchätzung der 
„grauen Theorie” gegenüber der lebendigen Praxis, jei es weil 
man den Unterricht für den weitaus wichligiten Theil des Gymnaftal- 
betriebs anſah, oder weil wir nach diejer Seite wenig Anregung 
beſaßen, wie fie draußen in pädagogiichen Zeitichriften, allgemeinen 
Lehrerkonferenzen und Lehrertagen weit reichlidyer verbreitet wird. 
Sollte nun aber die bier zur Disfuffion geftellte Frage nicht 
geeignet Sein, die Nothwendigfeit einer theoretiſch-pädagogiſchen 
Vorbildung für den Lehrer erfichtlich zu machen? Sehen wir uns 
in naher Zeit vor die Aufgabe gejtellt, zunächſt auf Grund unjerer 
Erfahrung zu enticheiden, welche Schüler normal, welche fehlerhaft 
veranlagt find, jo wird durch die neu gebotenen Gefichtspunfte 
die Beobahtung geichärft, an der Hand ber jo gelammelten 
Erfahrungen die theoretische Beurtheilung vertieft werden. Wie 
das Ihlummernde Intereſſe für die Natur durd die Beichäftigung 
mit dem Mifroffop erzeugt werden fann, fo wird auch der Verſuch 
aufmerfjamer Analyfe des Seelenlebens einer „problematiichen 
Kindesnatur” das pindhologiiche und pädagogilche Intereſſe mächtig 
anzuregen geeignet jein. 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 47 


Aber bleiben wir einftweilen noch bei der als dringlich 
betonten Forderung jtehen, daß wir uns Kenntniß über die that- 
fachliche Verbreitung der im Sinne Kods „fehlerhaften Ver: 
anlagung” innerhalb unjerer Schuljugend verichaffen müſſen, To 
ift aus dem oben Gejagten fein Zweifel barüber möglich, daß, 
den beiten Millen und das wärmſte Intereſſe der Pehrerwelt an 
der angeregten Frage vorausgelegt, wir doch auf die Hilfe der 
Aerzte nicht verzichten dürfen. Sa, ich meine, daß von ihrer 
Seite der Anſtoß zu praftiihen Maßnahmen erfolgen mühte. 
MWenn, wie ich nad) jtattgehabtem Dieinungsaustaufh mit hervor: 
ragenden Vertretern der medizinischen Willenichaft glaube annehmen 
zu Dürfen, in ärztlihen Kreiſen die WMWichtigfeit der hier auf: 
geworfenen Frage anerfannt werben jollte, jo fämen für ihre 
Löfung zunächſt die Schulärzte in Frage. Nun it, ſoweit mir 
befannt, das Inſtitut der Schulärzte noch Feineswegs weit ver: 
breitet, auch dürften ihre Obliegenheiten bisher weſentlich andere 
als die aus unjerer Betrahtung abzuleitenden gemwejen jein. Es 
würbe fich größtentheils um eine Neufchöpfung handeln, deren 
Drganijation im Detail zu erwägen ich nicht für meine Aufgabe 
anfehen fann. Doch fann ich nicht umbin, schon jetzt folgenden 
Munfd zu verlautbaren. Jede größere Schule und zwar nicht 
nur Die öffentlichen, ſondern auch die privaten ſollte ihren jelbit- 
gewählten Schularzt haben. Derjelbe müßte ſoweit pſychiatriſch 
vorgebildet fein, als für die Beurtheilung dev normalen reip. 
fehlerhaften Beanlagung der Jugend erforderlich ift. Auch müßte 
er fih mit den bewährtejten Methoden, die intelleftuelle Begabung, 
die pſychiſche und geiftige Leiltungsfähigfeit bezw. Ermüdbarkeit, 
die Sinnesbeichaffenheit u. j. w. der Judend in erafter Weiſe zu 
prüfen, hinreichend befannt gemacht haben. 

Sp vorgebildete Schulärzte würden, entiprechendes Intereſſe 
für ihre Aufgabe vorausgelegt, ihrem Namen in Stadt und Land 
Ehre madhen und Hand in Hand mit dem pädagogiid) nebildeten 
Lehrer viel Segen jtiften. Denn während der Arzt dem Lehrer 
die erforderlichen medizinischen Anhaltspunfte geben würde, welche 
Rüdfichten der förperliche oder geiltige Zujtand des einzelnen Kindes 
beanipruche, worauf bei der didaftiihen und erziehlichen Behandlung 
befonders zu achten jei, würde der Lehrer mit jeiner Erfahrung, 
vermöge der reichen Gelegenheit, Einblide in das Seelenleben 


48 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 


des Kindes zu gewinnen, die Beobadhtungen des Arztes ergänzen 
und berichtigen. Ohne Zweifel fönnten auf diefem Wege viele 
Fehler der Schule vermieden werden, zumal wenn bas mediziniſch— 
pädagogische Unterfuchungsergebniß tagebuchartig protofollirt und 
durch die fortlaufenden Erfahrungen des Schullebens ſowie durd) 
periodische Unterjuchungen über die Zu: oder Abnahme der Leiltungs- 
fähigkeit und über die fittlihe Entwidelung ergänzt würde. Die 
Frage, inwieweit die Lernzeit, inwieweit die Lebensverhältniſſe in 
den Ferien die Entwidelung des einzelnen Kindes günftig oder 
ungünftig beeinfluffen, würde auf dieſem Wege beantwortet werden 
fonnen und zu interefianten Schlüffen führen. 


Cine wichtige Vorausſetzung harmoniſcher gemeinjamer Arbeit 
wäre freilich, daß der Arzt feine Aufgabe in follegialer Berathung 
des LZehrförpers, nicht aber, wie es in Deutichland von ärztlicher 
Seite beaniprucht mwurde,*) in einer Ueberwachung der Schule und 
KRontrole der Schulitrafen fieht. Die Selbjtändigfeit der Schule 
dürfte in feiner Weile gefährdet werben. Beiderjeitiges Verftändnik 
für die Wichtigfeit der gemeinfamen Aufgabe und gehörigen Takt 
in der Verfolgung derjelben vorausgefegt, ſcheint mir einem folchen 
Verhältniß feine weſentliche Schwierigkeit entgegenzuftehen. 

Auch für die Beziehungen von Schule und Haus veripreche 
ih mir viel von der Unterſtützung eines in enger kollegialer 
Beziehung zum Lehrförper jtehenden Schularztes. Viele berechtigte 
und unberedhligte Rlagen, welche bisher von dem Haufe gegen bie 
Schule und umgefehrt erhoben wurden, würden verftummen, wenn 
die Schule in offenfundigerer Weile ihr Intereſſe auch für Die 
Sefundheit der ihr anvertrauten Jugend darthäte, mofür die 
follegiale Betheiligung des Arztes der Familie eine gewilfe Garantie 
böte. Andererleits würde die Schule jofern jie bis zu einem 
gewilfen Grade eine heilerzieheriiche Fürforge in den Bereich ihrer 
Pflichten zöge, ein weit höheres Maß von Vertrauen feitens des 
Elternhaufes beanſpruchen dürfen, als es bisher üblich war, ein 
Vertrauen, wie es etwa dem Hausarzt entgegengebradht wurde. 
Mande Intima der Kamilie müſſen dem Erzieher zugänglich fein, 
damit er den für die Benrtheilung der Beanlagung jo wichtigen 
Faktor der Vererbung in Nechnung zu ziehen vermag. Auch nad) 


*) Siehe Spihner a. a. D. ©. 36. 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 49 


diefer Seite wäre daher der Arzt ein vollflommener Vermittler, 
der, ohne indisfret zu fein, aus feiner Kenntniß der Verhältniſſe 
Ichöpfend, das „erblidy belaſtet“ oder, wie die Erklärung ſonſt 
lauten mag, in die MWagichale werfen fonnte. Denn willen muß 
der Lehrer, der zugleih Erzieher fein will und ſoll, daß die 
Mutter des Schülers U. im Irrenhauſe geitorben iſt, daß in der 
Familie des B. in mehreren Generationen die Neigung zu Selbſt— 
morden hervorgetreten it, daß der Vater des E. ein ausjchweifendes 
Leben geführt und dadurd) auf jeine Nachkommenſchaft ein Ichlimmes 
Erbe übertragen haben kann. Aud pflegt ja Frau Kama über 
dergleichen Verhältniſſe genügend aufgellärt zu jein, fie find ihrer 
Natur nad ſchwer zu verbergen. Da ift denn ein offenes Ver: 
trauen nicht bloß das würdigite, ſondern aud das klügſte Verfahren. 

In Bezug auf die als das nächſte praftiiche Erforderniß 
bezeichneten Unterfuchungen der Schuljugend liegen aus Deutichland 
bereits einzelne lehrreihe Erfahrungen vor, wenngleich diejelben 
bisher nur zu geringem Theil veröffentlicht zu ſein jcheinen. Im 
dem mehrfach erwähnten Vortrag, welchen Dr. Spitner 1894 in 
der 31. Allgemeinen deutichen Lehrerverfammlung gehalten bat, 
in welchem auch für Cinfegung von Schulärzten plaidirt wird, 
findet fi die Klage „daß die Lehrerſchaft im allgemeinen fich 
dabei noch jehr zurüdhaltend verhalte.” Dagegen wird mit Be: 
friedigung erwähnt, daß „innerhalb einzelner Schulförper bereits 
in einem gewiſſen Umfange eine Sichtung der Schüler vorgenommen 
murde zum Zwecke eigenartiger Kürjorge für diejenigen, an denen 
ein geringerer Grad der Bildungsfähigfeit oder eine gewiſſe 
Fehlerhaftigfeit oder Einfeitigfeit jih bemerkbar gemacht bat, wobei 
man in gewiſſen Fällen vielleicht jchon an eine „pädagogiſche 
Minderwerthigfeit” denken muß.” Insbeſondere wird von bereits 
jtattgehabten jtatijtiischen Erhebungen ein Beiſpiel genannt, wo (in 
der Schule zu Pauſa) unter 754 Schulfindern 6 Schwerhörige, 
8 Stotterer, 6 Gebredlide, 2 Schwadjinnige, 107 Schwad)- 
begabte, 197 Kurzfichtige gefunden wurden. Der Vortrag Spibners 
bewirfte übrigens erfreulicher Weile die Nelolution des Lehrer: 
tages „die Verſammlung halte die Beachtung der geijtigen Fehler 
der Jugend für eine jo ernfte und bedeutungsvolle Frage, daß 
fie dem ftändigen Ausſchuß ... empfiehlt, diejelbe als Vereinsthema 
für die nächfte allgemeine deutſche Lehrerverſammlung Ben? 


50 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 


Eine ärztliche Unterfuhung von Gemeindeihulfindern hat 
ferner auch in Berlin jtattgefunden. Hier wurden jedoeh in 10 
Schulen nur diejenigen Kinder unterfucht, welche ſich in den drei 
unterjten Klaſſen länger als zwei Jahre befinden, bezw. erſt nad 
zweijährigem oder längerem Aufenthalt aus einer diejer Klaſſen 
in die folgende verjegt werden Ffonnten. Dabei waren zunächit 
Fragebogen von den Lehrern auszufüllen, worauf die Kommiſſion 
von vier Aerzten, unter denen ſich ein Nerven, ein Augenarzt und 
ein Arzt für Hals, Najen: und Ohrenleiden befand, ihre Unter: 
fuchung vornahm. Das Nejultat ergab 116 geijtig minderwerthige 
Schüler, d. h. 1,5°o von ſämmtlichen Schülern. An meitaus 
den meilten fanden fich förperlihe Schädigungen wie Drüfen- 
anichwellungen, behinderte Najenathmung u. ſ. w. Die Aerzte 
mwünfchten auf Grund ihrer Unterfuhung die Weberführung von 
11 Idioten und 5 fittlid Werwahrlojten in die entiprechenden 
Erziehungsanitalten. Won den Schwachbegabten, deren fie 68 fanden, 
wollten fie nur diejenigen durch Einzelunterricht gefördert willen, 
welche in Folge von Schulverſäumniſſen zurüdgeblieben waren, 
die übrigen bedürften eines bejonderen individualilirenden 
Unterridhts in jogen. Hilfsſchulen. 26 Schwacbegabte, 20 
mäßig ſchwachſinnige und 15 ftärfer ſchwachſinnige Kinder (O,; vom 
Hundert jämmtliher Schüler jener Schulen) wurden für Diejen 
Zweck ausgeichieden. 

Somit hat die Berliner Unterfuhung für viele gefchädigte 
Kinder fegensreihe Folgen gehabt. Doch jcheint die geiltige Be— 
gabung zu ausschließlich der Prüfung unterlegen zu haben und 
find die Erfahrungen der Lehrer in Bezug auf geiftige und jittliche 
Veranlagung zu wenig zur Geltung gefommen, jo daß bie 
Kommiſſion jelbit eine pädagogiihe Nachtontrole für wünſchens— 
werth halt. 

In diefem Zufammenhang verdient wohl auch eine andere 
zeitgemäße Schulreform Erwähnung. In Württemberg hat, nachdem 
Koch in feiner Schrift behufs Schonung der Nervenfraft unjeres 
Geſchlechts die Herablegung der Schulaufgaben auf höchſtens eine 
Etunde verlangt hatte, eine diesbezügliche Jnterpellation an den 
Landtag stattgefunden. Die Folge war ein Erlaß des Kultus: 
minifteriums, welcher für die häusliche Arbeitszeit an den höheren 
Lehranitalten (Gymnafien und Nealichulen) ein Marimalmaß von 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 51 


1 Stunde in den unterften, bis 3 Stunden in den oberen Klaſſen 
feitiegt, innerhalb welcher Zeit die häuslichen Aufgaben auch von 
Schwachbegabten müßten bewältigt werden fonnen. Auch in anderen 
deutichen Staaten hat fich die Geſetzgebung der Schwadhbegabten 
und Schwachſinnigen angenommen, und ijt insbejondere die Ein- 
richtung von Hilfsklaſſen bezw. Hilfsichulen betrieben morden. 
1893 gab es in Deutichland 32 jolcher Anftalten, davon 18 in 
Preußen. 1896 bejitanden in Preußen bereits 88 Hilfsſchulklaſſen, 
in denen 2017 Kinder, melde, obgleich nicht idiotiich, in der 
Normalichule nicht folgen können, ihren Bedürfnilien entiprechend 
von dazu ausgewählten und bejonders vorgeichulten Lehrern unter: 
richtet werden.“) 

Kehren wir zum Schluß zu unferen heimiſchen Verhältniiien 
zurüd. Auch bei uns ertönt vielfah die Klage über Nervofität 
unferer lernenden Jugend. Aud bei uns maltet mit eherner 
Strenge das Gefet der Vererbung, es rächt die Schuld und die 
Verſäumniß (Fahrläffigfeit) der Eltern an den Kindern und Enfeln 
und bedroht die fommende Generation. Auch bei uns ift die Zahl 
ber Schüler, welche fi) den Forderungen der Schule nicht gewachſen 
jeigen, eine große. Was würde das Ergebniß einer Statiftif über 
fehlerhaft Weranlagte fein? Die Antwort überlaſſe id) denen, die 
mit den Gejundheitsverhältniifen unferer Bevölferung vertrauter 
find als ih. Aber gelegt, es zeigte ſich, dal ein gewiſſer Theil 
unferer Schuljugend, jei er nun groß oder klein, pſychopathiſch 
beanlagt it; daß hier abnorm Schwachbegabte ſich vergebens und 
zum Schaden ihrer Gejundheit mühen, die wiſſenſchaftliche Siſyphus— 
arbeit zu leilten; daß dort die ſittliche Entwidelung ſich in be- 
denfliher Richtung bewegt, weil Inſtinkte zum Böſen die Willens: 
freiheit zu mächtig hemmen; daß bei anderen ſchimmernde Talente 
neben TDefeften Verdacht ermweden oder alljeitige geiltige Frühreife 
neben förperlicher Zartheit Befürchtungen erzeugen; was fann Die 
Schule, felbit wenn ihr der Nath und die Hilfe des Schularztes 
zur Seite jteht, dagegen thun? Dieje Frage könnte nur durch eine 
eigene pädagogiſche Unterjuhung ihre Erledigung finden. Bier 
fann es nur darauf anfommen, im allgemeinen die Richtungen 
anzudeuten, in denen etwas geichehen fann. Die erite Aufgabe 


*) Näheres hierüber in den „Kinderfehlern,” Jahrgang 1808, S. 24 ff. 
4* 


62 Ein Grenggebiet der Medizin und Pädagogil. 


der Schule ift prophylaktiſcher Art, fie läßt fich jedoch von der 
nächſten, der Behandlung vorhandener Schädigungen nicht vollig 
trennen. Kann, wie der Pindiater lehrt, geiftige Ueberbürdung 
die ſeeliſche Gefundheit jchädigen *), jo werden dieſer Gefahr 
befonders diejenigen Schüler unterliegen, welche von zarter Kon- 
ftitution, ohnehin nervös veranlagt find, welche joeben eine längere 
Krankheit bejtanden haben u. j. w. Sole Kinder find daher in 
der Schule zu entlajten, auch auf die Gefahr, daß fie hinter den 
übrigen zurücbleiben. Auch gelunde Naturen können geichädigt 
werden, wenn fie auf die Dauer Anforderungen ausgejegt find, 
denen ihre Begabung nicht gewachſen ift, zumal mwenn die Arbeit 
nur pflichtgemäh und ohne ſachliches Intereſſe geichieht. Wird 
ihre Bemühung dann noch verfannt, ernten fie ftatt Anerkennung 
nur Tadel, verfolgt fie dazu vielleicht das Bild häuslicher Sorge, 
an der ihr mangelhaftes Fortflommen in der Schule die Mitſchuld 
trägt, jo find die Bedingungen gegeben, unter denen die Krankheit 
entiteht. Hier fann der Lehrer nur durch gerechte Abwägung bes 
wahren VBerdienjtes, durch freudige Anerkennung des Fortichrittes 
das Intereſſe beleben, den jinfenden Muth heben, vielleiht auch 
durch Fürſprache bei den Eltern die Schüler moralifch entlajten. 
Das pſychopathiſch fFrühreife Wunderfind, in welchem einzelne 
Anlagen bejonders hervorſtechen, verführt den Kachlehrer, welcher 
die Leitungen feiner Klaſſe ſich zum Werdienit angerechnet ſehen 
möchte, dieſe Anlagen zu begünitigen. Vom Standpunkt der Heil: 
erziehung iſt der entgegengeiegte Meg der richtige: der krankhaften 
Hppertrophie einzelner Gehirnpartien muß jede Nahrung entzogen 
werden, während ihr durch andersartige Beichäftigung ein Gegen- 
gewicht zu bieten it. So fann eine zügelloje Phantaſie, die fich 
vielleicht Ichon in der Quarta in romanhaften Auflägen oder 
dramatiichen Verſuchen verräth, durch Betonung der Mathematik 
und förperliher Hebungen ſowie körperlicher Arbeit**) neben 
Entziehung aufregender Lektüre vor bedenklicher Ausartung geſchützt 
werden. 

*) Zum Beleg ſei außer diesbezüglichen Aeußerungen Kochs auf einen 
Beriht Dr. Hafies auf der Jahresverfammlung deuticher Irrenärzte zu Eiſenach 
1880 hingewieſen, wonach Reoner in 11/, Jahren 7 Fälle von Geiftesfranfheit 
in ‚Folge Ueberbürdung behandelt habe. 


**) Die engere Verbindung des Handfertigkeitsunterrichts mit der Schule, 
für welche in Deutſchland eine wirfjame Propaganda gemadt wird (cf. meinen 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 53 


Auch die Anwendung von Lohn und Strafe wird von 
Bedeutung für die Prophylare jein. Denn ein frankhafter Ehrgeiz, 
reizbare Stimmung, triebartiges Handeln und andere derartige 
Züge, die wir als die Wurzel oder Begleitericheinungen von 
Nervenkfrankdeiten fennen, werden zu einer ernten, vorfichtig ab: 
wägenden Defonomie in der Anwendung und in der Auswahl 
jener fünjtlihen Erziehungsmittel nöthigen. Wie viele Opfer mögen 
die in Frankreich üblichen pomphaften PBrämiirungen der Echüler 
und Schülerinnen unter Betheiligung der ganzen Stadt bereits 
der Geijtesfranfheit gebracht haben! Und wie bedenflidy find Die 
Strafen, welde ohne zum Vergehen in einem inneren Verhältniß 
zu jtehen, den nicht leiltungsfähigen Schüler jeiner legten Er: 
holungszeit berauben und ihm die Beichäftigung mit der Willenichaft 
vollends verefeln? Da war die in alten Zeiten beliebte ſchönungsloſe 
Anwendung des Balels, um die Weisheit „einzubläuen” nod) ein 
hbumaneres Verfahren. Noch mehr fönnte erreicht werden, wenn 
das ganze Lehrprogramm jowie vor allem die methodilche Be- 
handlung den Bedürfniffen der Schwachen entipredhend abgeändert 
werden fünnte. Wenn das Quantum und die Auswahl der Lehr: 
fächer der Leijtungsfähigleit des einzelnen angepaßt werden fünnte, 
wenn ſich durch Bevorzugung des Könnens vor dem Willen, durch 
verinehrte Anipornung der Aktivität das Intereſſe, wenn auch auf 
noch jo eng begrenztem Gebiet anfadhen ließe. Doch da iſt Die 
Grenze des Ausführbaren bereits überjchritten, denn innerhalb 
ber Normaljchule iſt nur in geringem Maße ein individualijirendes 
Verfahren möglid, und die Neformbedürftigfeit unjerer Schule 
zugegeben, ihre Vertreter verjchließen fich dem feineswegs, jo weiß 
jeder, der diefen Verhältniſſen nahejteht, wie weit der Weg von 
der Erfenntniß der Mängel zu ihrer Bejeitigung if. Nocd aber 
hat fih aus dem Kampf widerjtrebender Anfichten nicht einmal 
ein alljeitig anerfannter Wunjd ans Licht gerungen. Mancher 
gejunde Gedanfe könnte auf dem Wege privater nitiative auf 


Aufjag in der „Balt. Monatsichrift“ 1888), empfiehlt ſich aud unter dieſem 
Geſichtspunkt. Der immenje erzieheriiche Werth der Anabenhandarbeit wird in 
unjeren Provinzen vom Publitum nod) bei Weitem nicht gemügend gewürdigt, 
obgleih man in Riga, Witau, Reval, Dorpat, Birkenruh, Werro u. j. w. fid) 
um die Ginbürgerung des Handfertigkeitsunterrichts bemüht hat und noch jeßt 
bemüht. 


54 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 


feine Wirfungen erprobt werden, wenn nicht die jtaatlihen Ver: 
günftigungen als ein Nejervatredt der Kronsichule, die Kojten 
eines ſolchen Verſuches unerihwinglid machten. 

Bleiben wir daher innerhalb der Grenzen des Erreihbaren, 
jo fann, wo Minderwerthigfeiten vorliegen, die klare Erfenntniß 
der Kranfheitsform an fi von großem Werthe ſein. Weiß der 
Lehrer, worum es ſich im einzelnen Kalle handelt, daß der Schüler 
die Antwort jchuldig bleibt, weil er an einem Hemmungsfehler 
leidet, den zu verrathen er fich ſcheut; dab jeine Beweglichkeit und 
jein Grimajfiren ungewollt find, und um ſo auffallender hervor: 
treten, je mehr er dagegen anfümpft; daß Die vermeintliche 
Trägheit und Unaufmerfjamfeit in gewiſſen Fällen nur eine 
Yeußerung körperlicher frankhafter Schwäche jind; hat der Lehrer 
ſein Auge für jolhe und ähnliche Ericheinungen geihärft und in 
tiefer liegenden Fällen den Nath des Vertrauensarztes eingeholt, 
jo werden viele faljche, vielleicht jchädigende pädagogiihe Maß: 
nahmen unterbleiben, auch wohl eine Ichonende Behandlung des 
Kranfen durd; die Kameraden bewirft werben fünnen. Es ilt 
feine Ueberhebung, wenn die Weberzeugung ausgeſprochen wird, 
daß in leichteren Fällen durch bloße Vermeidung eines faljchen 
Verfahrens, welches die Entwidelung des Leidens zu befördern 
geeignet ijt, eine volljtändige Heilung erzielt werden fann, denn 
in dem in der Entwidelung begriffenen Urganismus fönnen bie 
gejunden Bejtandtheile aus eigener Kraft das Kranfhafte über: 
winden, wie der Körper ohne jede Medikamente in Folge erhöhter 
Zebensbethätigung jogar die Tuberfelbazillen zum Abjterben zwingen 
fann, die Pflege des Gefunden aber behufs Ueberwindung des 
Kranken ijt auf jeeliichem Gebiet recht eigentlih Aufgabe ber 
Erziehung. 

In vielen Fällen dürfte aud) die Heilgymnaftif unter ärztlicher 
Leitung von Segen jein, deren Einbürgerung in die Schule mir 
überhaupt ein dringendes Erforderniß zu fein jcheint. Nach meiner 
Erfahrung darf ein nicht geringer Theil unjerer Jugend aus 
förperlichen Gründen nicht am jchulmäßigen Turnen theilnehmen. 
Der eine hat jih vor Jahren einen Armbruch zugezogen, bei 
einem anderen liegt die Neigung zu Blinddarmentzündungen vor, 
ein Dritter hat ein Herzleiden (ich wähle die Beilpiele, wie fie 
mir die Praris in die Hände ſpielt). Bedürfen nun nidht gerade 


Ein Örenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 55 


dieje Bedauernswerthen, die an jeder fnabenhaften Luft in Spiel 
und Kampf, in Klettern und Wagen durch das Verbot der Eltern 
und bes Arztes gehindert werden, noch weit eher der geregelten 
Turnübungen als die Gejunden, welche auch außerhalb der Turn: 
halle reichlide Gelegenheit haben, Kraft und Gemwandtheit zu 
erwerben? Welcher Art die Uebungen fein müflen, die ein jeder 
mit Rüdficht auf jein Gebrechen braucht, darüber mag der Schularzt 
enticheiden, der in vielen Fällen auch ohne Foftipielige Apparate 
die körperliche Entwidelung der Dispenfirten zu fördern willen 
wird. Dann fenne ich noch andere, deren Glieder gefund find, 
bie aber aus Trägheit und Willensihwäche nicht mithalten wollen 
oder erjt in vorgerüdtem Alter die Gelegenheit zu geregeltem 
Unterriht befommen haben und nun die Scham vor den geſchickteren 
Kameraden Hinter einer ihrer inneren Natur vielleicht nicht ent: 
iprehenden blajirten Miene verbergen. Wie wäre es, wenn man 
auch dieſe, die in anderem Sinne der Peilgymnaftif dringend 
bedürfen, wo alle Nufmunterung umjonft iſt, zeitweilig zu jenen 
anderen gäbe, bis jie fi) auf ihre gefunden Gliedmaßen bejinnen 
und der Muskel das träge Fett zu verdrängen begonnen hat? 
Das hätte nun freilich zur Vorausjegung, daß eine jede größere 
Schule neben dem Scultumen ex ofticio aud) Gelegenheit zu 
heilgymnaſtiſchen Uebungen böte, und eben das möchte ich aufs 
wärmjte befürworten. Das Turnen jollte jo oder jo für Die 
Kranfen ebenjo obligatoriih jein wie für die Gejunden. Die 
Schule würde ſich dadurd) ein großes Verdienjt erwerben, und 
wo die von Spezialilten geleiteten heilgymnaftiihen Kurje nicht 
erreichbar oder zu fojtipielig find, läge eine neue, danfbare Aufgabe 
für den Schularzt, als Glied des Yehrerkollegiums, vor. 

Wie weit auf diefem oder anderem Wege, — um von der 
Nojchweifung zu meinem Thema zurüdzufehren — innerhalb ber 
Sculerziehung eine Heilung von Pſychopathien möglich ift, das 
überlajje id dem Urtheil der Mediziner. Doc nod ein Verdienſt 
fann ſich die Schule um die an ernjteren Formen der Minder— 
mwerthigfeit leidenden Zöglinge erwerben, das freilid wiederum 
eine gejicherte medizinische Diagnoje des einzelnen alles zur 
Vorausjegung hat: Wo die Erfenntniß vorliegt, daß dem Kranken 
in der Schule nicht nur nicht geholfen werden fann, jondern daß 
die Schule ihn oder er durch Beeinflujjung jeiner Umgebung gar 


56 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 


die Schule jchädigt, da ift der Familie der durch das Urtheil bes 
Schularztes gejtügte autoritative Rath der Leitung zu geben, daß 
der Patient in andere zuträglichere Verhältniſſe verjegt werde, jei 
es daß man ihn einer entiprehenden heilerzieheriichen Anjtalt 
übergiebt, jei es daß man auf Fortiegung der Bildung verzichtet 
und ihn für einen Beruf vorbereitet, dem er troß jeiner abnormen 
Veranlagung gewadjien ericheint. 

Was die erjtere Möglichfeit betrifft, fo fehlt es freilich, 
joviel mir befannt, in unferen Provinzen noh an Anftalten, 
welche Kindern der hier behandelten Cigenart heilpädagogijche 
Pflege neben dem erforderlihen Unterricht zu bieten vermöchten. 
Doch hat eine in den Verhältniſſen begründete Forderung bei uns 
noch immer uneigennüßiges und thatfräftiges Entgegenfonmen 
gefunden. ch zweifle daher nicht, daß, wenn erjt das Bedürfniß 
nad) derartigen Erziehungsftätten als wirklich vorhanden ermiejen 
ift, fich auch die geeigneten Kräfte finden werden, denen es weder 
an Idealismus der Geſinnung nod an Thatkraft fehlen wird, 
um die jchwierige Aufgabe zu verfolgen. Ueberaus jegensreid 
wäre auch die Einrichtung von Hilfsihulen für die in leichterem 
Grade Schwachfinnigen, welde in den öffentlihen Schulen nicht 
folgen fönnen. Hier jollte ohne jede Rückſicht auf ein Lehrziel, 
etwa für die Wehrpflicht Vergünftigungen zu erlangen, nad) freiejtem 
Programm, in Abtheilungsunterricht, der für die verjchiedenen 
Lehrfächer jede Verjchiebung des Schülerbejtandes ermöglichte, mit 
jorgfältigiter Berüdfiditigung der Methode, jedem Schüler das 
geboten werden, was er nad jeiner geijtigen Beichaffenheit an 
Bildungselementen, nicht an Wiſſensſtoff aufzunehmen im Stande 
it. Der glimmende Geijtesfunfe läßt ſich bei geſchickter Behandlung 
anfachen, mag das Brennmaterial auch helle, wärmende Flamme 
zu erzeugen nicht tauglich jein, wer aber dem Fünfchen zu viel 
Nahrung auf einmal bietet, der wundere fich nicht, wenn es 
erlifcht oder doch nicht Feuer fängt. So aber verführt unfere 
Schule nolens volens gegen viele der am Geifte Mrmen: man 
überjchüttet fie mit Wiſſensſtoff aller Art, jie jollen das Abftrafte 
erfallen, ehe ihr Denkvermögen ji. an der Anichauung gebildet 
hat; fie jollen mit Brüchen operiren, ehe jie den Zahlbegriff erfaßt 
haben; fie jollen fremde Spraden hundhaben, ehe fie die Herrichaft 
über ihre Mutterſprache erlangt haben. Was bleibt den Märtyrern 


Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogik. 57 


übrig, als ihr bischen Gedächtniß zu Hilfe zu nehmen und jo 
menigitens den Schein zu retten, als wäre das mechaniſch Ein: 
gelernte ihr geijtiger Beſiz. Doch wie lange fann die Täufchung 
währen! Bald it unter der todten Aſche das Fünfchen eritict. 
Ketten wir es daher, bevor es zu jpät iſt! Befreien wir es von 
dem tödtlihen Drud, bringen wir es in eine Umgebung, wo es 
die Nahrung findet, deren es zum Leben bedarf. Und es muß 
ja nicht durchaus ftudirt jein. Es giebt ja des geijtigen Proletariats 
Ihon übergenug, ſchon übergenug der verfehlten Erijtenzen, Die 
feider zu jpät erfannten, daß die Sphäre, in welde Elternliebe 
und Elterneitelfeit fie hineingetrieben, nicht die ihren Anlagen 
entiprechende il. Bon dieſem Gefichtspunft aus fann man ja 
vet froh jein, daß der Weg ins gelobte Land der Mujen heut: 
zutage durd einen Schlagbaum verjperrt ift, wo nad neuem, 
uns wenig geläufigem Münzſyſtem der Zoll erhoben wird. Wohl 
denen, die rechtzeitig ihre Baarſchaft mujtern und rechtzeitig vom 
Verſuche abjtehen. Es giebt ja diesjeit des Sclagbaumes noch 
Gelegenheit genug, ſich nüglih zu machen und jein Brod zu 
erwerben. Wer darum wegen mangelnder Begabung das Gym: 
nafium vor Beendigung des Kurſus zu verlailen gezwungen wird, 
dem geichieht in den meilten Fällen eine Wohlthat, wofern er 
dem Beruf übergeben wird, zu dem ihn Beanlagung und Neigung 
weilt, den er auszufüllen die Fähigkeit hat. Noch größer freilic) 
wäre die Mohlthat, wenn er in einer Schule, die weder durch 
Eramenziele, noch durch unverrüdbare Klaſſenpenſa ihr Schüler: 
material fo zu jagen über einen Leiten zu jchlagen genöthigt ift, 
jeine Bildung erweitern und daneben für einen Spezialberuf 
vorbereitet werden könnte. Aus schlechten Gymnaſiaſten können 
noch immer gute Kaufleute, Litho-, Typo- und Photographen, 
Gärtner, Mechaniker und Handwerker werden, jo lange ſie nicht 
auch für dieſe Berufsarten verpfujcht find. Für die genannten 
und viele andere noch nicht genannten Lebensftellungen, die feine 
„gelehrte“ Bildung erfordern, dürfte in unjerer Heimath noch 
Kaum genug vorhanden jein, für die geicheiterten Erijtenzen, die 
ih gleichwohl ihre Standesvorurtheile und -anjprüde aus dem 
Ediffbruch gerettet haben, wird — fürchte ih — der Naum bald 
zu enge jein. Zu dem bier ausgeiprochenen Urtheil bin id) 
während meiner Xehrthätigfeit an Gymnaſien im Hinblick auf 


58 Ein Grenzgebiet der Medizin und Pädagogif. 


viele Schwachbegabte immer wieder gedrängt worden, im Hiublick 
auf die „Minderwerthigen“ jcheint es mir noch weit beachtenswerther. 

Das Nejultat vorjtehender Betrachtung ſei zum Schluß in 
folgende Säge zufammengefaßt: 

1) Die Lehre Kochs von den piychopathiihen Minderwerthig- 
feiten ijt zwar im einzelnen des Ausbaues bedürftig, dürfte auch 
mit der Zeit von Seiten der pſychiatriſchen und der pädagogiichen 
Wiſſenſchaft manche Einihränfung und Korrektur erfahren, immerhin 
beansprucht jie Shen in ihrer jegigen Geſtalt die ernjte Beachtung 
aller, deren berufliche Thätigfeit Durch ihre Aufjtellungen berührt wird. 

2) Sie nöthigt insbejondere alle Erzieher von Beruf ſich 
mit der päbagogiichen Pathologie vertraut zu machen und diejelbe 
wiſſenſchaftlich auszugeitalten. 

3) Dringend wünjcenswerth ericheint eine durch das Zu- 
jammenmwirfen von Aerzten und Lehrern auszuführende vorläufige 
Feſtſtellung der Verbreitung piychopathiiher Minderwerthigfeiten 
innerhalb unjerer Schuljugend. 

4) Zu dauernder Beobadhtung und zwedentiprechender Be: 
handlung fehlerhaft beanlagter Schulfinder ijt die Eingliederung 
entjprehend vorgebildeter Schulärzte in die Zehrerfollegien größerer 
Anſtalten wünſchenswerth. 

5) Im Rahmen der Schulerziehung iſt leichteren Fällen 
gegenüber eine Heilung durch jchonende Behandlung, Bervoll: 
fommnung der Zehrmethode jowie Durch zwedentiprechende förperliche 
Uebungen anzujtreben. 

6) Minderwerthige, für melde der Verbleib in der Schule 
ih als ſchädlich erweiſt, oder von welchen ein ſchädlicher Einfluß 
auf ihre Mitſchüler zu befürdten it, jollten in Hilfsjchulen oder 
(in ſchweren Fällen) in Peilanjtalten untergebracht werden. 

7) In vielen Fällen dürfte zeitiger Webergang zu einem 
praftiihen Beruf von günjtigem Einfluß fein. 


Dorpat. Mar Boehm. 


Shafeipeare’5 Warren und Klowus. 


Die Wiſſenſchaft der Litteraturgeidichte hat in unjerem Jahr: 
hundert gewaltige Fortichritte gemacht. Noch vor hundert Jahren 
pflegte man fie mit der Bibliographie zu verwechjeln: die Litteratur: 
geihichte war ein bloßes Bücherverzeihniß. Noch viel jpäter, als 
dieſe rein bibliographiihe Auffaſſung ſchon längit überwunden 
war, herrichte, ja in manchen litteraturgeihichtlihen Werfen herricht 
noch jeßt der Braud), bei der Beſprechung der einzelnen Dichter 
deren Leben fein jäuberlid von ihren Werfen zu trennen; zuerjt 
fommen biographiihe Einzelheiten, dann folgen, ganz abgejondert 
vom Leben des betreffenden Dichters, Inhaltsangaben jeiner Werke. 
Das find Nachklänge der veralteten bibliographiichen Richtung in 
unjerer Wifjenichaft, während die Litteraturgeichichte ſich unterdeſſen 
ſchon längit aus einer bloßen Geſchichte der Bücher zu einer 
Geſchichte der in diefen Büchern niedergelegten, das einzelne Zeit: 
alter bewegenden Ideen erweitert hat. Hettners „Litteraturgejchichte 
des achtzehnten Jahrhunderts” iſt der erjte großartige Verſuch, den 
Zuſammenhang der Litteratur mit dem gejammten geiftigen Leben 
ihrer Zeit in allen jeinen vielgeftaltigen Werzweigungen nad) 
zuweilen. Hettner hat auch in meijterhafter Weile die mächtigen 
Anregungen aufgededt, die auf die Litteratur des deutichen Auf: 
flärungszeitalters von England und Frankreich her eingewirft haben. 
Den gegenjeitigen Einflüſſen der Xitteraturen der verſchiedenen 
Völker nachzuſpüren, ijt die Dauptaufgabe der „vergleichenden 
Litteraturgeidhichte,“ die allmähli zu einem bejonderen Zweige 
der gejammten litteraturgeichichtlichen Wiſſenſchaft ausgewachſen it. 
An der Univerjität Breslau iſt ein befonderer Lehrſtuhl für 
„vergleihende Litteraturgeſchichte“ geichaffen worden; ihr Inhaber, 
Profeſſor Dar Kod, giebt eine „Zeitſchrift für vergleichende 
Litteraturgeichichte” heraus. Wir bemerken im Entwidelungsgange 
unjerer Wifjenichaft ein immer weiteres Fortichreiten der Erfenntniß 
des organiichen Zuſammenhanges aller geijtigen Einzelerjcheinungen. 
Je mehr ſich jo die Anſprüche an die Litteraturgeichichte jteigern, 
deſto jchwieriger, aber auch dejto interejjanter wird das Forſchen 
in dieſem Gebiete. 


60 Shafejpeare’8 Narren und Klowns. 


Mit den Veränderungen in der Auffaſſung des Zieles und 
Zwedes der Litteraturgefchichte war auch meijt ein MWechjel der 
Forfhungsmethode verbunden. Neuerdings ijt neben den Geſammt— 
darjtellungen der Xitteratur eines einzelnen Volkes, oder nur einer 
einzelnen Xitteraturgattung Ddiejes Volkes, und neben den bio: 
graphiichen Einzeldarjtellungen dev verjchiedenen dichteriichen Ber: 
jönlichfeiten, eine andere Betradtungsweile üblid) geworden. Dan 
greift einzelne Gejtalten heraus, die in den verſchiedenen Littes 
raturen immer wiederfehren, allen oder vielen gemeinfam find; 
man verfolgt die Entwidelungsgeichichte jolcher typiſcher Einzel: 
gejtalten. Schon im Anfang diejes Jahrhunderts hatte Francis 
Douce den Entwidelungsgang des Narrentypus in der engliſchen 
Litteratur bis zu Shafeipeare’s Narren verfolgt. Vor einigen 
Jahren hat Hermann Graf die Gejdichte eines anderen Typus, 
des großipredheriichen Soldaten, in der älteren engliichen Litteratur, 
von dem Ahnherrn diejes Typus, dem miles gloriosus des 
Plautus an, bis zu Shakeſpeare's Falſtaff, dem bedeutendjten 
Sprößling aus diefem Geſchlechte von Typen, dargeftellt. Es 
liegt auf der Hand, daß dieſe Methode mit der in den Natur: 
willenichaften üblichen zu vergleichen iſt; jie iſt auch thatſächlich 
auf naturwiljenichaftlihe Anregung zurüdzuführen. Bon allen 
Geiſteswiſſenſchaften ſteht die Sprachwiſſenſchaft den Naturmiljen: 
ſchaften am nächſten; in ihr iſt eine mehr naturwiljenichaftliche 
Auffaſſung auch zuerjt aufgelommen, die dann auch auf die.anderen 
Geiſteswiſſenſchaften befruchtend gewirkt hat. 

Im vorliegenden Auflag joll der Verſuch gemacht werben, 
Shakeſpeare's Narren und Klowns nad obiger Methode in ihrem 
geihichtlihen Urfprung, und ihren verjchiedenen Erjcheinungsformen 
darzuftellen, auf Grund des reichen Materials an Baufteinen, 
das die Forſchung jeit Douce’s Unterfuhung deilelben Gegenſtandes 
zujammengetragen bat. Auch Shafejpeare’s Narren und Klowns 
find geſchichtlich betrachtet, ebenjo wie alle anderen typijchen 
Litteraturgejtalten, einzelne Glieder in einer langen Typenreihe. 

Wie in den anderen abendländiichen Litteraturen, fo find 
auch in der engliicen jogenannte „Mifterien“ *) und „Dirafel: 
Aus dem lateiniſchen ministerium, im Latein des Mittelalters — 
Gottesdienſt. Die Schreibweiſe „Myſterien,“ die jetzt die herrſchende geworden 
iſt, beruht alſo eigentlich auf einem Mißverfiändniß. 


Shakeſpeare's Narren und Klowns. 61 


fpiele“ die älteften Erzeugniffe der dramatiichen Dichtung. Im 
den Mifterien werden die Erzählungen der bibliſchen Geichichte 
von ber Erihaffung der Welt bis zur Ausgiegung des heiligen 
Geiftes am eriten Pfingitfeit vorgeführt; die Mirakelipiele geben 
den Inhalt der Heiligenlegenden wieder. In beiden dramatiichen 
Gattungen jpielt der Teufel eine wichtige Rolle; er trägt aber 
noch faum irgendwo die Züge der Lächerlichfeit, die ihm in den 
jpäteren Entwidelungsitufen des Dramas anhaften. Schon in 
einigen Mifterien, noch mehr in den Mirafelipielen begegnen neben 
den befannten biblischen Berjönlichkeiten oder den Gejtalten der 
Ipäteren Beiligenlegenden auch Abjtraftionen, Perjonififationen 
von Tugenden, die troß des engliihen Textes dieſer Dramen: 
gattungen lateiniiche Namen tragen, wie Veritas, Mijericordia, 
Juftitia u. ſ. w.*) Allmählih wurden ſolche Abjtraftionen, bei 
der befannten Vorliebe des Ipäteren Mittelalters für alle Arten 
von allegoriiher Dichtung, zu Trägern einer neuen bejonderen 
Dramengattung, der „Moralitäten.” In ihnen werden Die 
verichiedenen Tugenden als Perſonen den gleichfalls perjonifizirten 
Lajtern gegenübergeitellt; beide liegen miteinander im Kampfe. 
Auch der Teufel tritt in ihnen häufig auf, uriprünglic als 
oberjter Herr und Gebieter der einzelnen Laſter, neben den übrigen 
abgeblaßten rein allegoriichen ®ejtalten der Moralitäten ſchon von 
vornherein eine individueller gezeichnete Figur, der Vertreter einer 
zwar jeher derben, aber gejunden Komik. Jene größere Indivi— 
dualität übertrug ſich auch auf feinen häufigen Begleiter in den 
Moralitäten, den „vice* (vice — Laſter); uriprünglic) eine 
Perjonififation des Lajters an fich, eigentlid) alſo noch allgemeiner, 
jomit auch blajjer und farblojer als die Verförperungen feiner 
Unterarten, der einzelnen bejonderen Xajter, erhielt gerade dieſer 
vice, auf den fih auch die lebhafte derbe Komik des Teufels 
übertrug, bald eine jo fräftige individuelle Färbung, daß er uns 
anmuthet wie eine erfriichende Oaſe in der dürren jtaubigen 
Wüſte des langweiligen Allegorienframs ber Moralitäten. Der 
vice erwies fi) auch in der Folgezeit, als dieſe Dramengattung 
fih ſchon überlebt Hatte, als deren einzige wirklich) lebensfähige 


*) In den älteiten engliihen Dramen pflegten die Perlonenverzeichnifje 
überhaupt in lateinischer Sprache abgefaht zu werden; der eigentliche Wortlaut 
der Dramen jelbit war dagegen englild. 


62 Shakeſpeare's Narren und Klowns. 


Geſtalt. Die übrigen allegorifchen Figuren der Moralitäten ftarben 
mit diefen jelbit ab, ohne in den dramatiichen Geitalten jpäterer 
Entmwidelungsitufen eine Nachkommenſchaſt zu hinterlaſſen; der 
viee ift hingegen der Stammvater eines blühenden Geſchlechts 
geworden: von ihm jtammen, rein litteraturgeichichtlich betrachtet, 
fomohl die Narren als auch die Klowns im engliihen Drama 
aus der Zeit der Königin Elifabeth, jomit auch Shakeſpeare's 
Narren und Klowns ab. 

Die Wichtigkeit des vice für unſer Thema rechtfertigt es, 
daß ich noch ein wenig bei dieſer Geftalt vermeile. Mir erfennen 
deutlich, daß der Vice in den älteften Moralitäten nody über: 
wiegend eine Verförperung der Bosheit it, eine Art „Geilt, der 
ftets verneint.” Freilich iſt auch in dieſen ältejten Mtoralitäten 
der dämoniſche Charakter, der den urjprünglichen Kern jeines 
Weſens ausmacht, ſchon mit vielen derbkomiſchen Zügen untermijcht, 
Zügen, die wohl faum aus jenem dämoniichen Kern unmittelbar 
abzuleiten find, Tondern einfach den Zweck hatten, das Publifum 
zu beluftigen. Das Element des rein Poſſenhaften, der Keim 
zum Hanswurſt ſteckt alfo im Vice Schon in den frühejten Stufen 
feiner Entwidelung. Es ift piychologiich leicht zu erflären, daß 
die Vertreter des Bölen in den verjchiedenen Litteraturen jo oft 
den Schein des Läcderlihen an ſich tragen. Dadurch ſetzt fich 
der Menſch mit überlegenem Humor über die Schledhtigfeit und 
das Elend dieſer Welt gleihlam hinweg, So erklären fi die 
den Teufel und feinem Genoſſen, dem Vice, in den engliſchen 
Moralitäten von vornherein beigegebenen lächerlichen Eigenjchaften 
mittelbar allerdings auch aus dem dämoniſchen Weſen diejes edlen 
Paares. Zugleih dienten dieſe komiſchen Beigaben dazu, das 
Lachbedürfniß des Publikums zu befriedigen, das bei dem jonftigen 
Inhalt jener dürftigen Allegorien allzuiehr zu kurz gefommen märe. 
Offenbar fanden die Szenen, worin Teufel und Vice zulammen 
oder auch gejondert auftraten, wegen ihres unterhaltenden Inhalts 
bei den Zuichauern bejonderen Anklang. Der Vice wurde ein 
Liebling des Publifums, die volfsthümliche Geftalt der ſonſt jehr 
wenig volfsthümlichen, froftigen Moralitäten. So war es gang 
natürlich, daß die Schaufpieler diejenigen Züge im Weſen des 
Vice, auf denen feine Beliebtheit beruhte, immer mehr hervortreten 
ließen, die burlesfe Komik diefer Gejtalt immer dider auftrugen. 


Shalefpeare'8 Narren und Klowns. 63 


Yuh die meitere Entmidelung der Moralitäten felbit fam dem 
Bedürfnifie des Publikums, feinem Geſchmack an der derben, oft 
recht rohen Komik bereitwillig nad: jo verflüchtigte fich im Laufe 
ber Zeit das urfprüngliche Hauptelement im Charakter des Nice, 
das Dämonifche, mehr und mehr, während das Komiſche, Anfangs 
nur lojes Beimwerf, allmählich jelbit zur Dauptiahe wurde. Zu 
Shafeipeare’s Zeit war diefe Entwidelung ſchon jo weit gediehen, 
daß Vice oft geradezu im inne von „Hansmwurit” gebraucht 
wird, wie fich aus manchen Stellen in den Dramen Shafeipeare's 
und feiner Zeitgenoffen nachweifen läßt. 


Das uriprünglid Dämoniſche des Vice-Typus zeigt ſich 
in den älteren Stüden in der Sudt des Vice, einen gegen 
den anderen aufzuhegen, überall Unheil zu ftiften, in feiner 
erbarmungslos teufliihen Schadenfreude, wenn ihm feine böſen 
Streihe gelungen find. Seine Bosheit richtet ſich nicht allein 
gegen feine natürlichen Feinde, die Tugenden, gegen das Menſchen— 
geihleht im allgemeinen oder gegen einzelne Menſchen, ſondern 
aud gegen jeinen uriprünglichen Gebieter, den Teufel. Diejer 
tritt zwar äußerlich gar furchtbar auf: in zottigem Kalbfell, mit 
Schwanz, Klauen an den Fühen, langen Nägeln an den Händen, 
Hörnern auf der Stirn, einer brennend rothen Nafe, zumeilen 
auch mit einem diden Haarwulſt auf dem Kopfe; mit jchredlichem 
Gebrüll ftürzt er fich auf die Bühne. Aber feine thatjächliche 
Rolle widerjpricht dem entjegenerregenden Aeußern: es geht ihm 
gewöhnlich herzlich Ichleht. Der Vice verhöhnt und veripottet ihn 
auf das bitterfte; er ſpringt ihm auf den Rüden und prügelt 
auf diejen los, oder er ſchlägt ihm mit jeiner Narrenpritiche auf 
die Finger, angeblid um ihm jo die überlangen Nägel zu be 
fchneiden. Oft enden die Teufelsizenen des Stüdes damit, daß 
der Vice, auf dem Nüden des Teufels reitend, unter lautem 
GSebrüll beider, von jeinem wüthenden Pferde Ddireft in den im 
Hintergrunde der Bühne weit aufgeiperrten Höllenrachen galoppirend 
hineingetragen wird. Die niedrige Komik Ddiefer Szenen, Die 
beitändig wiederkehrenden Prügeleien entiprechen ganz dem rohen 
Geihmad eines Zeitalters, das bei alledem doch nur 30—50 
Jahre von den höchſten Gebilden dramatischer Dichtung überhaupt, 
von Shafeipeare's Meiſterwerken, entfernt war. 


64 Shakeſpeare's Narren und Klowns. 


Manche komische Züge hat der Vice mit dem Teufel gemeinfam; 
fie find alſo wohl einfady von dieſem auf jenen übertragen worden. 
Co unter anderem, dab er unter lautem Schreien, und mit dem 
ftehenden Rufe „Hoho!“ die Bühne betritt. Durch Fratzenſchneiden 
fuht er ganz nach der Art der heutigen Zirkusflowns die Auf: 
merfjamfeit der Zuschauer von den anderen Daritellern auf ſich 
abzulenfen. Die immer größere Annäherung des Vice an den 
Hanswurſt führte Ichließlich zu einem Verſchmelzen beider zu einem 
einheitlihen Typus. Indem der Vice die Tracht des damaligen 
Hausnarren übernahm, welche wenigitens jeit den Zeiten Wilhelms 
des Eroberers, vielleiht nod früher, aud in England zu einer 
ftehenden gejellihaftlihen Einrichtung geworden waren, zeigt ſich 
uns jene Verjchmelzung auch rein äußerlih. Der Vice tritt ebenjo 
wie der Hausnarr, und noch heute der Zirkusflown, der leßte 
entartete, aus dem Theater verbannte Abfömmling dieſes alten 
Topengeichlechts, in einem aus bunten Lappen zujammengeflidten 
Narrenfoftüm auf, mit einem hölzernen Dolch, der jogenannten 
Narrenpritiche, bewaffnet. 

Die dem Vice innewohnende Lebenskraft offenbart ſich auch 
darin, daß er nicht bei jeiner jchon von vornherein fFräftigen 
Individualität ſtehen bleibt, jondern dieſe auch lebendig erweitert 
und fortentwidelt, und zwar nicht nur, wie wir jchon geliehen, 
durch Steigerung feiner fomiichen Züge, ſondern aud) nad) anderen 
Richtungen. Er tritt nicht bloß unter jeinem gewöhnlichen Namen 
vice (Lajter) auf, ſondern daneben auch unter vielen anderen 
Namen: finnlidye Begierde (Sensual Appetite), Trägheit (Idleness), 
Aufruhr (Sedition), blinder Zufall (Haphazard), Heucdelei (Hypo- 
erisy); am häufigiten wird er, außer mit jeinem eigentlichen Haupt- 
namen vice, „Nuchlofigfeit“ (Iniquity) genannt. Im zweiten 
Theile des Fauſt, in der klaſſiſchen Walpurgisnadht, läßt Goethe 
den Diephiftopheles, nad) feinem Namen gefragt, zur Antwort 
geben: 

Mit vielen Namen glaubt man mic zu nennen — 
Sind Briten bier? Sie reifen jonit jo viel, 
Schlachtfeldern nachzuſpüren, Mafferfällen, 
Geſtürzten Mauern, klaſſiſch dumpfen Stellen; 
Das wäre hier für ſie ein würdig Ziel. 

Sie zeugten auch: im alten Bühnenipiel 

Sah man mid) dort al$ old Iniquity. 


Shafeipeare’8 Narren und Klowns 65 


Dies beruht eigentlih auf einem Mißverſtändniß, einer 
Vermechlelung des Teufels mit dem Vice, dem allein die Ber 
zeichnung „Iniquity“ zufommt. Bei jenen verjchiedenen Bezeich- 
nungen weiſt uns der häufige Zujab „the vice“, da mir es 
auch wirklich mit diejem jelbjt zu thun haben, der alſo gleichſam 
unter verichiedenen Masken, die aber bloße Unterart oder Schat: 
tirungen ein-undsderjelben Rolle find, auftritt. Wir bemerfen 
auch bier und da mehr oder meniger gelungene Verſuche, im 
einzelnen Kalle den allgemeinen Bice-Charafter den Anforderungen 
feiner bejonderen Rolle anzupaſſen, alfo weitere Spuren einer 
immer fortichreitenden Individualifirung. 

"Zu Shalejpeare’s Zeit war aud) der Vice, troß jeiner lang 
andauernden Beliebtheit, ſchon veraltet, und durd die Typen des 
Narren und des Klowus erjeßt, die ſich inzwiſchen aus ihm 
entwidelt hatten. Dem höheren fünjtleriihen Standpunkt Shafe- 
ſpeare's und der anderen bedeutenden Dramatifer jener Zeit konnte 
bie rohe Komik des Vice nicht mehr genügen; fie rangen ſich zu 
reineren ebleren Ausdrudsformen des Humors empor. Daß aber 
der Vice im Volfsbewußtiein noch immer lebendig war, bemeilen 
u. U. die zahlreichen Anjpielungen in Shakeſpeare's Dramen auf 
ihn. In „Heinrich IV,” Theil 1, Akt II, 4, nennt Prinz Heinrich 
ben Falſtaff „that reverend vice, that grey iniquity“ (in der 
Schlegel-Tiedichen Ueberſetzung: „ehrwürdiges Lalter, graue Rudy 
(ofigfeit”). Im zweiten Theil dejlelben Dramas, Aft IIL, 2, 
wird der Friedensrichter Schaal von Faljtaff mit der hölzernen 
Narrenpritihe des Vice verglichen: „Und nun iſt diefe Narren: 
pritſche (this vice’s dagger) ein Öutsbefiger geworden.” In 
Richard III, Akt III, 1, vergleicht der Titelheld ſich jelbit wegen 
feiner Doppelzüngigfeit mit dem ehemaligen*) Bice: 

Thus, like the formal vice, Iniquity, 

I moralize two meanings in one word. 

(Sp, wie im Faſtnachtſpiel die Sündlichkeit, 
Deut’ ich zwei Meinungen aus einem Wort.”) 

Im „Hamlet,“ Akt IIL, 4, nennt Hamlet den König Klaudius 
„a vice of kings ... a king of shreds and patches“ („einen 
Hanswurſt von König ... einen geflidten Zumpenfönig”). In 


*) Das Beimort „chemalig” (formal) beweift Mar, daß Shafeipcare und 
feine Zeit den Vice bereit als eine veraltete Figur empfunden haben. 


66 Shafefpeare’8 Narren und Klowns. 


diefem legten Beifpiel wird „vice“ ſchon völlig gleichbedeutend 
mit „Hanswurſt“ gebraucht; außerdem wird auf die bunte Narren: 
trat des Vice hingedeutet. 

Mit dem Abſchluß diefer langen Einleitung, die aber zum 
richtigen geſchichtlichen Verſtändniß von Shafeipeare's Narren und 
Klomns durchaus nothmendig ift, find wir nun bei unſerem 
eigentlichen Thema angelangt. 

Narren und Klomns find häufig mit einander vermechielt 
worden. In ber fpäteren Zeit find die Unterjchiede zwiſchen beiden 
in der That verwiſcht; bei Shafefpeare werden aber beide Be 
zeichnungen im Allgemeinen noch jtreng auseinandergehalten. Der 
weſentliche Unterfchied zwiſchen einem Narren und einem Klomn 
beiteht zu Shakeſpeare's Zeit in Folgendem: der Narr iſt ein 
berufsmäßiger Spaßmacher, feine Komik iſt alfo durchaus frei- 
millia, bewußt, beabfichtigt; der Klomn hingegen ift ein plumper 
und unmilfender Tölpel, meift aus dem Bauernftande, ober 
überhaupt ein Vertreter der niederen Volfsichichten, feine Komik 
tft mehr oder weniger unfreiwillig, unbewußt, unbeabfichtigt. Zmar 
finden ſich Verwechſelungen beider Bezeichnungen aud in Shake: 
ſpeare's Perfonenverzeichnifien zu den einzelnen Stüden: in „Mas 
ihr wollt“ wird 3. B. Feſte, der Hausnarr der Gräfin Olivia, 
fälſchlich ein Klown genannt; aber dieſe Perſonenverzeichniſſe rühren 
nicht von Shakeſpeare's eigener Hand her, ſondern find erſt 1623, 
fieben Jahre nad) jeinem Tode, in der erjten großen Folioausgabe 
feiner Werfe nachträglich hinzugefügt worden. Daß Shakeſpeare 
jelbit den Unterfchied zwiſchen Narr und Klown jehr wohl empfunden 
hat, geht u. U. aus einer Stelle in „Wie es euch gefällt,” 
Akt V, 1, hervor, wo der Narr Probjtein von und zu dem die 
Rolle des Klomns innehabenden Bauernburihen Wilhelm jagt: 
„it is meat and drink to me to see a clown,“ unb: 
„Therefore, you clown, abandon ... the society ... of this 
female“ *). 

Julius Thümmel hat in jeinem Bude: „Shakeſpeare— 


*) In der im Uebrigen umübertrefflichen deutichen Ueberjegung von Schlegel 
und Tief lautet diefe Stelle: „Es iſt mir ein mahres Labſal, jo einen Tölpel 
zu jehen... Alſo, ihr Tölpel, meidet ... den Umgang ... diefer Frauensperſon.“ 
Indem „clown“ bier dur „Zölpel” micdergegeben wird, tritt der Unterſchied 
zwiichen Narr und Klown weit weniger fcharf hervor, ald im englifchen Original. 


Shakeſpe axe's Narren und Klowns. 67 


Charaktere,” 2 Bände, Halle 1887, auch Shakeſpeare's Narren 
und Klowns je ein Kapitel gewidmet. Er behandelt den Stoff 
nur nah äjthetiichen, nicht nach geichichtlihen Gefichtspunften. 
Das Buch ift Sehr flott und anziehend geichrieben. Ein großer 
Mebelftand ift aber, neben der ungenügenden litteraturgeichichtlichen 
Auffaſſung, die bedenkliche Neigung des Verfaſſers zum Schema: 
tifiren, mobei er fich gelegentlich nicht fcheut, der einen oder der 
anderen Geftalt, die fich nicht ohne Weiteres in das fertige Schema 
fügen mill, eine äfthetiihe Zwangsjacke anzulegen. 

Der Narr heißt bei Shafeipeare, ebenſo auch noch im heutigen 
Enalifh, „fool“, ein Wort, das dem franzöfiichen fou. em. folle 
entipricht, welches wieder aus dem mittellateinifchen follis ent: 
ftanden iſt. Als Geftalt im Drama vereinigt der Narr zmei 
verschiedene Elemente in fih: er ift theils eine Fortſetzung bes 
alten bramatiihen Vice-Typus, der fid rein litteraturgejchichtlich, 
ganz losgelöft vom wirklichen Leben, entwidelt hatte; theils ift er 
aber auch dem unmittelbaren Leben entnommen, indem man eine 
damals zahlreich vertretene Gejtalt, den Hausnarren, aus dem 
Leben auf die Bühne verpflanzte. Als Lebertragung des Haus: 
narren ins Drama ift der Narr typiicher Vertreter eines einzelnen 
beitimmten Berufes; der Klown hingegen ijt ein Typus von viel 
größerem Umfange, indem er nicht einen einzelnen Beruf, fondern 
die niederen Volföflaffen überhaupt in ihrer Berührung mit ben 
oberen, typiſch vertritt. Menn mir den Berufstypus als eine 
Unterart des Standes: oder Klaſſentypus anjehen, fo ift der Narr 
Berufstypus, der Klown Klaſſentypus. 

In feiner gejellfchaftlichen Stellung war der Hausnarr weiter 
nichts als ein Bedienter niederen Ranges; bejonders während der 
Dtahlzeiten fiel ihm die Aufgabe zu, die Tiſchgenoſſen durch feine 
Späke zu erheitern. Damals gab es in England berufsmäßige 
Narren nicht nur am föniglihen Hofe und in den Schlöflern der 
abligen Herren, ſondern aud die reicheren Bürger hielten fich, die 
Sitten des Adels, mie noch heutzutage, nachahmend, ihre Haus: 
narren. Bei den öffentlichen Luftbarfeiten, die die einzelnen Städte 
an beftimmten Tagen veranftalteten, war der berufsmäßige Spaß— 
mader zu einer ftehenden Einridtung geworden. Auch in ben 
Wirthshäufern wurden Narren von Beruf gehalten, die die Gäſte 
mit ihren natürlich nicht jehr feinen Späßen zu unterhalten Beten 


68 Shakeſpeare'g Narren und Alorons. 


Und endlih finden wir auch Narren in den öffentlichen Häufern 
der Unzucht, die das dreifache Amt von Kupplern, Dienern ihrer 
Dirnen und Spaßmachern für deren Kundſchaft in fich vereinten. 
So bildete auch jogar das Narrenthum damals eine lange foziale 
Stüfenleiter, vom föniglihen Hofnarren bis herab zum Diener 
der gewerbsmähigen Unzucht, und den verſchiedenen Sproflen diejer 
Stufenleiter entipradhen alle Abjtufungen der Komik vom feinen 
geiftreihen blendenden Witze bis herab zu ben roheiten und 
gemeiniten Späßen. 

Aber auch in feiner vornehmiten Geftaltungsform, als 
fönigliher Hofnarr, genoß der Narr ein vecht geringes geſell— 
Ichaftliches Aniehen. Sein Amt bradıte es mit fih, daß er nicht 
nur jehr geringichätig behandelt wurde, fondern gelegentlich auch 
die Peitiche zu fühlen befam. Freilich war eine Tracht Prügel 
das Schlimmite, was einem folden Narren begegnen Fonnte; 
dafür durfte er aud) feiner Zunge die Zügel frei ſchießen laflen, 
und aud die höchſten Perſonen, ja den König ſelbſt, mit fcharfem 
MWige geikeln. Zumeilen ift der Hohn und Spott, mit dem ber 
Narr feinen foniglichen Gebieter überjchüttet, jo bitter und ſchneidend, 
daß er jedem anderen Unterthan außer gerade dem Narren, der 
allein völlige Nedefreiheit befigt, unfehlbar den Kopf gefojtet hätte. 
Alle dieje Verhältniſſe jpiegeln jih auch in Shafejpeare's Dramen 
wieder. Shaleſpeare hat den Narrentypus in ethiſcher Dinficht 
bedeutend vertieft und veredelt, indem er die unbegrenzte Rede— 
freiheit des Hof: und Hausnarren dazu verwerthete, dem Narren 
im Drama eine hohe jittliche Aufgabe zuzumeilen: unter allen 
Umjtänden und rüdjichtslos einem jeden Menichen die Wahrheit 
ins Geficht zu jagen. Dieje unbedingte Wahrheitsliebe des Narren 
bei Shafejpeare macht ſich in der Hülle des Wiges und der Ironie 
geltend. 

Eigentlihe Hof: und Hausnarren fommen nur in fünf von 
Shafeipeare’s Stüden vor: in „König Year,“ „Ende gut, alles 
gut,“ „Wie es euch gefällt,” „Was ihr wollt“ und „Othello.“ 
Der Narr im „König Year” iſt ein föniglicher Hofnarr; die 
übrigen find Dausnarren in vornehmen Häufern. Aber auch die 
unterfte Schicht des Narrenthums ijt in drei von Shafeipeare's 
Dramen vertreten: Narren als Diener in öffentlihen Häufern 
begegnen in „Zimon von Athen,” „Map für Maß” und „Perikles“. 


Shakeſpeare's Narren und Klowns. 69 


Trinfulo im „Sturm,“ der im PBerfonenverzeihnig als Spaßmacher 
bezeichnet wird, gehört wohl auch zu den berufsmäßigen Narren; 
wir haben ihn vielleicht als eine Art Wirthshausnarr zu betrachten. 


Wie volfsthümlic das NarrenthHum in jener Zeit war, wie 
feit es im Leben des Volkes wurzelte, das bezeugen uns die zahl: 
reihen Sammlungen wigiger Nusjprüde, die den berühmtejten 
Narren ihrer Zeit zugejchrieben wurden. Neue Witzworte gingen 
gleid; nad) ihrer Prägung von Mund zu Munde durch das ganze 
Land; indem irgend ein unternehmungslujtiger Dann, ber den 
Geſchmack des Lejepublifums wohl kannte, fie dann jammelte und 
in Buchform veröffentlichte, entriß er fie der Vergeſſenheit. 

Gewöhnlich ſuchte man ſich als Hausnarren Leute von auf: 
fallendem Körperbau aus; bejonders Zwerge wurden gen zu 
diefjem Amte angeworben. Die Tradt des Hausnarren war 
ähnlich der des Vice, die wir ſchon oben beichrieben haben: in 
Shafejpeare’s Dramen trägt der Narr einen langen bunten aus 
verjchiedenfarbigen Xappen zujammengeflidten Rod mit gelbem 
Bejag; auf feiner Narrenfappe war ein mit Scellen verjehener 
Hahnenkamm und Dahnenfopf befeitigt. Cr war, ebenjo wie der 
Vice, mit der ſchon mehrfach erwähnten Narrenpritjche bewaffnet; 
ferner trug er mit ſich eine Dandtrommel und einen Narren: 
folben, nämlid einen tod mit einem aus Holz gejchnittenen 
Menſchenkopfe daran. Er pflegte halb ſinnloſe Lieder zu impro— 
vifiren, Die er unter grotesfen Sprüngen vortrug. Mit einem 
jolden Liede bejchließt 3. B. der Narr Seite in „Was ihr wollt“ 
das Stüd: 

Und als id cin winzig Bübchen war, 
Hop heila, bei Regen und Wind! 

Da madten zwei nur eben ein Paar; 
Denn der Kegen, der regnet jeglichen Tag. 

Eine wichtige Rolle jpielte der Narr in England am eriten 
Mai, dem Maitag, an den fi noch in der Gegenwart allerlei 
uralte WBolfsgebräude und WBolfsfeiern fnüpfen. Am Worgen 
diejes Tages durchzog eine buntgefleidete Schaar in grotesf: 
fomiihem Aufzuge die Straßen der engliihen Städte, den 
„Mohrentanz“ tanzend, wobei der in einem Stedenpferde ſteckende, 
diejes jcheinbar reitende Narr eine jtehende Figur bildete. Auch 
zur Pfingſtzeit war es üblid, den Mohrentanz zu tanzen. Auf 


70 Shafefpeare’8 Narren und Klowns. 


diefen Mohrentanz und das Weiten bes Stedenpferdes wird in 
Shafelpeare’s Dramen häufig angeipielt. 

Von den oben aufgezählten Hausnarren, die in Shale- 
ſpeare's Stüden vorlommen, jpielt der Narr im „Dihello“ nur 
eine jehr unbedeutende Rolle; er tritt nur in zwei Szenen vor: 
übergehend auf, und Dabei iſt fein Auftreten für die Handlung 
des Stüdes ganz bedeutungslos. In den übrigen der oben 
genannten Stüde greift der Narr zwar aud niemals in den 
Gang der Handlung jelbjtthätig ein; er it aber doch im einzelnen 
Stüde eine der wichtigſten Perſonen. Er begleitet alles, was bie 
andern thun, mit jeinem witzigen Spotte; er ijt ein fjcharfer 
Kritiker, und um jo unbefangener, als er ja jelbjt an der Handlung 
nicht betheiligt it. So mähert ſich jeine Rolle, wie Thümmel 
richtig bemerkt, der des Chors im antifen Drama. Der Narr 
Shafejpeare’s fieht ebenjo wie der antife Chor die übrigen Berjonen 
im Stüde und deren Handlungen gleidyjam von oben herab an, 
von der Wogelperipeftive des unbetheiligten Zuſchauers; aber ber 
herbe tragiihe Ernſt des griechiichen Chores erjcheint in Shafe- 
Ipeare’s Narren zum Frohlinn des Humors verklärt, freilid eines 
Humors, der ſich nicht immer ausgelajlen und toll geberdet, fondern 
mitunter auch „unter Thränen lächelt”; und die antife Vielheit 
des Chores iſt im Narren Shafejpeare’s zu einer Einheit vereinfacht. 

Vice und Narr tragen nit nur die gleiche Außenjeite der 
Narrentradt; zwiſchen ihnen bejteht aud) eine mehr innerliche 
Verwandtichaft, injofern beide dem gleichen Zweck der Beluftigung 
des PBublifums dienten. Aus vielen Stellen der damaligen 
dramatiſchen Dichtungen läßt ſich deutlich” nachweiſen, daß ber 
Narr des Dramas einfah als eine Fortiegung des alten Vice 
vom Bemwußtjein der Zeitgenojjen empfunden wurde. Und bod, 
wie verjchieden jind die beiden von einander bei aller ihrer 
Verwandtihaft. Unter der Königin Eliſabeth entwidelte ſich bie 
engliiche Litteratur, ganz bejonders das Drama, aus nod jehr 
unvolllommenen Anfängen zu gewaltiger Höhe; diefe Entwidelung 
ging jo ungeheuer fchnell vor ſich, daß ſich ihr nidhts in der 
Geſchichte irgend einer anderen Litteratur zur Seite jtellen läßt, 
außer dem großartigen Fortjchritt der deutihen Litteratur im 
achtzehnten Jahrhundert, die in einem ungefähr gleih langen 
Zeitraum von Gottſched bis zu Goethe und Schiller emporitieg. 


Shakeſpeare's Narren und Klowns. 71 


Eine nothwendige Folge jenes riejenhaften Aufichwunges der 
damaligen engliihen Xitteratur war es, daß die früheren vohen 
und niedrigen, oft gemeinen Mittel ber Komik fi läuterten und 
Härten. Der geijtreiche Narr Shakeſpeare's, der bie höchſte Blüthe 
diejer Typusgattung, den Gipfel ihrer Entwidelung in der Litteratur 
überhaupt Ddarjtellt, veranfhaulicht uns, verglichen mit dem nur 
etwa 50 Jahre älteren Vice, jenen Aufihwung flar und deutlich: 
er iſt der woblerzogene feingebildete Sohn eines rohen und 
ungebildeten Vaters. 

Im Gegenjag zum Vice, deſſen Komif zum großen Theil 
bandgreifliher Art it, dient dem Narren Shafeipeare’s als Haupt: 
mittel der Komik der Wig, der ſich meilt in das Gewand des 
Wortſpiels kleidet. Auch die anderen Perjonen in Shafejpeare’s 
Dramen wenden das Wortjpiel gern und oft an; der Narr aber 
ihwelgt geradezu darin; das Worjpiel gehört gleihlam zu dem 
ihm unentbehrliden Handwerkszeuge. Auch Shakejpeare zeigt ſich 
darin als ein echtes Kind jeiner Zeit, daß er der damaligen 
Vorliebe für Wortipiele veihlid, zuweilen, für unjeren heutigen 
Geihmad, allzu reichlich huldigt; oft jchwirren die Wortipiele bei 
ihm durcheinander, eines jagt das andere, und der Xejer oder 
Zuihauer fommt inmitten des Sprühregens von Wigesfunfen, 
der unaufhörlih auf ihn herabitrömt, kaum recht zur Befinnung. 
Und doch iſt Shafejpeare aud) auf dem Gebiete des MWortipiels 
allen anderen zeitgenöjjiihen Dramendichtern weit überlegen: nicht 
nur handhabt er es meijterlicher als fie alle, jondern er weiß es 
auch jtets feinen höheren künſtleriſchen Zweden unterzuordnen und 
dienjtbar zu machen. Wie bei allen anderen Gejtalten, jo dienen 
ihm auch beim Narren Wig und MWortipiel zur Charakteriftit und 
Individualifirung*). Durch den rein verftandesmäßigen, gemüth— 
lofen Wortwig, der oft in Zynismus und Zotenreißen ausartet, 
fennzeichnet Shafejpeare in „Ende gut, alles gut” in Lavatch, 
dem Hausnarren der Gräfin von NRouffillon, den Franzoſen. Der 
Narr im „König Lear“ iſt jein Gegenftüd: ein jchiwerblütiger 
Engländer, ber nit, wie der Franzoſe Lavatch, leichtbeſchwingte 
MWigespfeile abjchießt, die ihr Ziel nur oberflächlih rigen, jondern 
gewichtige Bolzen, die jchwer verwunden. Die beiden Narren 


*) Bgl. Wurth, Leopold, Das Wortipiel bei Shafejpeare. Wien und 
Leipzig 1896. 


72 Shaleipeare’8 Narren und Klowns. 


Probſtein in „Wie es euch gefällt“ und Felte in „Was ihr 
wollt” find ein gleichartiges Zwillingspaar, zwei ausgelaflene 
Burjchen mit treffendem harmlofem Diutterwig. Der Sonnenidein 
göttlihen Humors durdpleudhtet und erhellt beide Stüde aud in 
den ernjteren Szenen. Beſonders „Was ihr wollt,“ diejes liebens- 
würdigjte aller Lujtipiele, it für jeden Freund gejunden Humors 
eine nie verfiegende Quelle der Erfriihung. Die Lebensweisheit 
des lachenden Philojophen, dem Die ganze Welt jo pubelnärriich 
ericheint, der mit dem milden Lächeln überlegenen Humors über 
all die Thorheit dieſer Welt Hinwegfieht, dieſe heitere Lebens: 
weisheit haben jene beiden Narren fi zu eigen gemadt. In 
den Morten „der Narr hält ſich für weile, aber der Weiſe weiß, 
daß er ein Narr iſt“ („Wie es euch gefällt,“ V, 1) liegt ber 
Kern ihrer Weltanihauung. Ganz entipredhend der harmloſen 
Eigenart dieſer beiden Narren, dienen Wig und MWortjpiel, mit 
denen ihre Neden reichlidy geipidt ericheinen, ihnen bloß zum Zwecke 
der Unterhaltung und Belujtigung. 

Eine bejondere Art des Witzes, die Shafejpeare’s Narren 
gern amwenden, iſt neben dem Mortipiel ihre Vorliebe für 
unglaubliche paradore Behauptungen, die fie dann durch witzige 
Trugichlüffe zu beweiſen juchen. Als Beijpiel diene folgendes 
Geſpräch zwiſchen dem Narren Probſtein und dem Schäfer Korinnus 
in „Wie es euch gefällt,“ III, 2: 

Probitein. Warſt je am Hofe, Schäfer? 

Koriunus. Nein, wahrhaftig nicht. 

Probſtein. So wirt Du in der Hölle gebraten. 

Korinnus. Ei, ich hoffe — 

Probjtein. Wahrhaftig, Du mwirjt gebraten, wie ein jchlecht geröjtet Gi, 
nur an einer Seite. 

Korinnus Weil ich nit am Hofe geweien bin? Euren Grund! 

Rrobjtein. Nun, wenn Du nicht am Hofe geweien bit, jo halt Du 
niemals gute Sitten geliehen. Wenn Du niemals gute Sitten geliehen bajt, To 
müfjen Deine ſchlecht jein, und alles Schlechte it Sünde, und Sünde führt in 
die Holle. Du bift in einem verfänglihen Zuſtande, Schäfer. 

Dieje ungereimte Beweisführung jteht mit der oben erwähnten 
ethiichen Aufgabe des Narren, ein Prophet der Wahrheit zu jein, 
nur jcheinbar im Widerjprud. Denn natürlich ijt eine ſolche 
ſittliche Aufgabe nur da zu erfüllen, wo es eine ſittliche That iſt, 
die Wahrheit, gekleidet in die Form tadelnden Spottes, zu jagen, 


Shakeſpeare's Narren und Klowns. 73 


die fein anderer zu fagen wagt. In vorliegendem Falle befinden 
wir uns aber auf fittlich neutralem Boden; die Worte Probjteins 
find ganz frei von irgend welcher bejtimmten Beziehung, „bloße 
Seifenblajen des Humors,” wie Thünmel fie nennt. Auch der 
wahrheitsliebende Menſch jagt zuweilen im Scherz eine Unmwahrheit, 
um eine witzige Pointe zu erzielen. 

Mitunter artet dieje Vorliebe des Narren für wigige Un: 
gereimtheiten in direften Unfinn aus. Daß die Narren zuweilen 
von ihnen ſelbſt improvifirte halb jinnloje Lieder jangen, wurbe 
ihon erwähnt. Zu den Sinnlofigfeiten in Proſa gehört 3. B. 
eine Stelle in „Was ihr wollt,“ II, 3, wo ber Narr Fejte zum 
Junker Ehrijtoph von Bleihenwang jaat: „Ich habe Dein Präjent 
in den Sad gejtedt, denn Malvolios Naſe it fein Beitjchenitiel; 
mein Fräulein hat eine weiße Hand, und die Diyrmidonier find 
feine Bierhäufer.” Hier finft der Humor zur tollen Ausgelaffenheit 
komiſchen Blödfinns hinab. 

Eine allen Hausnarren Shafejpeare’s gemeinjame Eigenſchaft 
ift ihre rührende Treue und Ergebenheit gegen ihre Herren. Im 
„König Lear“ wirft diefe Treue des Narren, der mit Kent allein 
bei jeinem Herrn ausharrt, als dieſer in jein namenlojes Unglüd 
jtürzt, um jo ergreifender, gerade weil es ein Narr ift, ber jeinem 
Herrn dieſe Treue erweilt. Der Humor diejes Narren erjcheint 
uns, im Gegenſatz zu all der liebenswürdig heiteren Narrheit 
eines Probjtein oder Feſte, in die düjtere Stimmung getaud)t, die 
das ganze Stüd jo reichlich durdtränft. Beim Narren im „König 
Lear“ ift, auf Kojten der vein äußeren Komik, der fittlihe Kern 
des Narrenthums jo jehr gejteigert, daß wir wohl jagen fünnen, 
der Narrentypus ſei hier in diejer Gejtalt auf die höchite fittliche 
Höhe gebracht, auf die er überhaupt gebracht werden fann. Freilich 
iſt Year’s Narr ein Narr nur nad jeinem äußeren Sewande: 
jeine Redeweiſe Heidet fih in die Formen des Narrenthums; aber 
im Grunde ijt er ein tiefjinniger Philoſoph, und der geiftreichite 
und weiſeſte Kopf im ganzen Stüde. Es gehört zu deſſen bitterer 
Ironie, nit nur, dab fajt allein der Narr jeinem Könige die 
Treue hält, jondern daß die Weisheit hier überhaupt im Narren: 
gewande einhergeht, und über die wahre Narrheit jpottet, die das 
Kleid der Weisheit trägt und fid) weije dünkt. Freilich läht die 
gedanfenjchwere gallige Art des Humors, die diejer Narr vertritt, 


74 Shakeſpeare's Narren und Klowns. 


eine rechte Lachluft nicht auffommen. Die Komik feines geijtreichen 
MWiges wirft nur tragiſch; fie erhöht jo die muchtige tragijche 
Geſammtwirkung des Stüdes, jtatt fie zu mildern. Der Narr 
entfernt ſich bier jo ſehr von der berufsmäßigen Komik jeines 
Standes, daß er nad jeinem inneren Wejen, nit aber nad 
feiner äußeren Hülle, faum noch als Narr angejehen werden fann. 
Trotzdem ift diefer Narr, eben wegen der fittlihen Höhe, auf ber 
er jteht, und wegen feines gedankenreichen, inhaltsſchweren Wiges, 
unftreitig der bedeutendite Vertreter Diejes Typus überhaupt in 
allen Litteraturen. Wie Falftaff der bedeutendjte Prahlhans aller 
Litteraturen ift, jo hat Shafejpeare in diefem Narren den Gipfel 
der Entwidelung, ja der Entmwidelungsfähigfeit des Narrentypus 
überhaupt erreidt. 

Denn, troß aller Individualifirung und unterjcheidenden 
Charafterijtif, die Shafeipeare mit jo großer Meijterichaft an- 
wendet, etwas Starres, Maskenartiges behält der Narrentypus 
aud) unter den Händen Diejes größten Charakterzeichners. Jedenfalls 
hat Shakeſpeare auch hier in der Yndividualifirung das Höchſte 
geleitet, was überhaupt zu leilten war; wenn troßdem aud) 
Shafeipeare’s Warren, bei all ihren Werjchiedenheiten unter 
einander und ihrer mannigfaltigen Gliederung, uns jo wenig 
individuell, jo typiſch jtarr erjcheinen, jo liegt die Schuld offenbar 
nicht am Künftler, fondern am Stoffe ſelbſt. Daß der Narr nur 
unbetheiligter Zuſchauer im Stüde ij, daß er immer in jeiner 
gleichartigen Narrentracht auftritt, daß fein perjönlider Charafter, 
das rein menjchlid Individuelle in ihm jtets Hinter der berufs- 
mäßigen Komik jeines Narrenthums zurüdtreten muß, alles das 
verhindert eine weitere Jndividualijirung. Auch der heutige Zirkus: 
klown erjcheint uns ja als ein eritarrter, fejtitehender Typus, 
deſſen perjönliche individuelle Eigenfchaften und Verhältniſſe völlig 
hinter ſeiner typiſchen Maske verborgen bleiben und den Zirfus: 
bejucher ebenjo wenig fümmern, wie zu Shakeſpeare's Zeit bie 
Individualität des einzelnen Hausnarren deſſen Hausgenoſſen, 
denen er weiter nichts war als ein Werkzeug der Belujtigung. 

Die drei Narren, die als Diener in öffentlihen Häufern 
vorgeführt werben: der nit benannte Narr in „Timon von 
Athen“, Bompejus, Diener und zugleich Bierzapfer der Frau 
Veberley in „Maß für Maß,” und Bolzen (Boult), der Diener 


Shakeſpeare's Narren und Klowns. 75 


eines Kupplers in „Perikles,“ find, ebenjo wie der Spakmader 
Trinfulo im „Sturm“, als Spaßmacher niederen Ranges 
harafterifirt. Sie gehören als berufsmäßige Spaßmader zu den 
Narren, bilden aber, da fie zugleich Vertreter der unteren Volks— 
ſchichten und aud als ſolche gekennzeichnet find, den Uebergang 
zu ben Klowns. Trinfulo ijt ein naher Geiltesverwandter bes 
Trunfenboldes Stephano in demielben Stüde, der unzweifelhaft 
zu ben Klowns zu rechnen ijt. Natürlich find befonders die Späße 
der drei erjtgenannten Diener der gewerbsmäßigen Unzucht nicht 
gerade von der feiniten Art; doch hat Shafeipeare bie jedenfalls 
unglaublide Rohheit und Gemeinheit ihrer Urbilder im wirklichen 
Leben mit feinem fünftleriihen Taft foweit gemildert, als es 
möglih war, ohne den realen Boden unter den Füßen zu verlieren. 
Thümmel madt in treffender Weije darauf aufmerfjam, daß die 
ethiihe Aufgabe des Narrentyums jelbft bei dieſer feiner ver: 
fommenen Abart noch erfennbar it, indem 3. B. der Narr im 
„Zimon“ das Treiben jeiner Herrin mit ſcharfem Spotte geißelt. 

Die eben beiprochenen Gejtalten bilden, wie wir gejehen 
haben, eine Brüde zu den Klowns, zu denen wir nun übergehen. 
Das engliihe Wort „elown* iſt vom mittellateinijchen colonus 
— Landmann, Bauer, abgeleitet. Shafeipeare braudt das Wort 
auch nody in doppelter Bedeutung, jowohl in urjprünglidem Sinne 
für „Bauer“ als aud in dem daraus hervorgegangenen für 
„Zölpel, Rüpel.“ Dieje beiden Bedeutungen find aber jo eng 
mit einander verquidt, daß es im einzelnen Falle jchwer it, fie 
auseinanderzubalten. Die Ueberjegung von Schlegel und Tied 
giebt „elown“ bald durch „Rüpel“ bald durch „Bauer“ wieder; 
legteres 3. B. in den Werfonenverzeichnifien von „Liebes Xeid 
und Luft” (Schädel), „Titus Andronifus“ und „Antonius und 
Kleopatra.” 

MWejentlichjtes Merkmal des Klown im Gegenjag zum Narren 
iit das ZTölpelhafte, Naturwüchlige. Die niederen Stände waren 
damals von den höheren durch eine viel tiefere Kluft gejchieden 
als in unjeren Tagen. Die Litteratur war durchaus arijtofratijch; 
die unteren Volksklaſſen famen nur ſoweit in Betradt, als fie 
mit den oberen in Berührung traten. Dies geihah freilidy nicht 
anders, als indem die Vertreter ber erjteren fih, vom damaligen 
allein maßgebenden ariftofratiihen Standpunkte aus, lächerlich 


16 Shaleſpeare's Narren und Klowns. 


madten. Tüppiiches Weſen und Naivetät, mit einer größeren ober 
fleineren Zuthat von geſundem Mutterwige, jind aud nod in 
unferer Zeit die Merkmale des Bauern, wenn er vom Lande in 
die Sroßjtadt kommt und hier mit dem feinen blafirten Stäbter 
zujammentrifft. Dieſe typiſchen Bauerneigenſchaften traten zu 
Shafeipeare’s Zeit natürlid) noch viel jtärfer hervor als jegt; und 
nicht nur dies, viel größere Kreiſe der Gejellichaft jtanden Damals 
in fozialer Beziehung und in ihrem Bildungsgrade mit dem 
Bauernthum auf aleiher Stufe. Ein jelbjtändiges unabhängiges 
Bürgertum begann ſich ja eben erjt in einigen jeiner Schichten 
als wichtiger Faktor im gejellihaftlihen und Staatsleben neben 
dem Adel geltend zu maden. Die große Mafle des Bürgerthums 
hatte jih noch nicht vom Bauernthum als bejonderer Stand los— 
gelöft. So umfahte der Begriff „elown“ im ſechzehnten Jahr: 
hundert viel mehr als unjer heutiger Begriff „Bauer.“ Nicht 
nur die Bauern jchlehthin und die meilten Bürger, darunter 
bejonders die Handwerker und die Vertreter der hohen Polizei, 
die Büttel und Gerichtsdiener*) gehörten zu den Klowns, jondern 
jelbft die unterfte Stufe des Adels, ländliche Friedensrichter und 
Zandjunfer. 

Wie jehr Shafeipeare in den arijtofratiihen Anjchauungen 
feiner Zeit befangen war, lehren uns befonders die Szenen, mo 
er ganze Maſſen niederen Volkes mit den höheren Ständen feindlich 
zulammenftoßen läßt: im „Koriolan“ und im zweiten Theil von 
„Heinrich VI“, wo er den Aufitand des Jark Cade und feiner 
Anhänger jchildert. Lleberall geradezu eine Verachtung des gemeinen, 
niedrigen Pöbels, nirgends, was uns heute jo ſelbverſtändlich 
ericheint, ein Verſtändniß für Soziale Verhältniffe, obwohl doch 
hauptſächlich ſoziale Urſachen ſowohl dem Kampfe der Batrizier 
mit den Plebejern im „Soriolan”, als auch dem Aufſtande des 
Cade zu Grunde lagen. Ich ſpreche deshalb natürlich Shafejpeare 
feinen Tadel aus, jondern führe dies nur als carakteriftiich für 
ihn und die damalige Zeit überhaupt an; im übrigen büte ich 
mid) wohl, einen modernen Maßſtab an Verhältniffe der Ber: 


*) Die Polizei, die jo gern der Bühnendichtung und dem Theater Feſſeln 
anlegt, ipielte überhaupt im damaligen Trama fajt immer eine recht traurige 
Holle. Durch Karikirung ihrer Vertreter rächten jich die — Be au 
die Umnbilden, die fie von der Polizei erdulden mußten. 


Shakeſpeare's Narren und Klowns. 17 


gangenheit anzulegen, und ihren Werth oder Unmwerth nad) fol 
einem modernen Maßitabe zu meilen. 

Da der Klomn in Shakeſpeare's Dramen, ald Vertreter der 
unteren Gejellihaftsichichten überhaupt, eine ganze Stufenleiter 
vom Bauernfnecht bis herauf zum Zandjunfer umfaßt, iſt feine 
Ausgeitaltung im einzelnen auch viel mannigfaltiger als die des 
Narren. Ns Typen einer ganzen Gejellichaftsflafie find die 
Klowns ebenjo vielfältig gegliedert, wie Diele Gelellichaftsflaiie 
ſelbſt. Bei diefer jo vielgeitaltigen Gliederung trägt der Klown 
natürlich nicht, wie der Narr, eine bejtimmte feititehende Tradıt. 
Der Klown als folcher befigt überhaupt feine äußeren Kennzeichen. 
Inwiefern dürfen wir bei alledem auch ihn als einen Sprößling 
des Vice betrachten? 

Vom Vice erhielt der Klown als Hauptvermächtniß die niedere 
Komif, die fich bei feinem Vetter, dem Narren, wenigſtens in deſſen 
höheren Spielarten, zur höheren Komik geijtreihen Witzes und 
bemußten Wortipiels gefteigert hat. Der Zujammenhang des 
Klowns mit dem Vice tritt zwar außerlic nicht jo klar hervor, 
wie beim Narren, ijt aber doch unzmweifelhaft. Er offenbart fich 
vor allem darin, daß beide, Nice und Klown, den gleichen 
fünftleriihen Zwed haben, nämlich als luftige Perfon zu dienen. 
Der Klown iſt alfo aud, ebenio wie der Narr, von vornherein 
zum Träger der Komik bejtimmt; nur ijt feine Komif von anderer 
Art als die des Narren. 

Die Komik des Klowns ift, wie ſchon betont wurde, eben 
wegen feiner Tölpelhaftigfeit unfreiwillig, oder im beiten Kalle 
theilmeije freiwillig, je nad) dem größeren oder geringeren Grad 
von Bauernpfiffigfeit, die er mit feinem tölpelhaften Weſen vers 
bindet. So ijt er nicht, wie der Narr, hauptſächlich Schüße, 
jondern, weit öfter, bloße Zielicheibe im Witzgefechte. 

Wenn mir die zahlreichen Klowns Shakeſpeare's nad) ihren 
verfchiedenen Arten einzutheilen verjuchen, jo jcheint auf den erjten 
Blid die Eintheilung nad) ihren Berufsarten am nädhiten zu 
liegen. Dabei würden aber manche geiftesverwandte Gejtalten 
getrennt, andere, die auf verfchiedener geiltiger Stufe jtehen, in 
einer Abtheilung vereinigt werden. Thümmel ftellt einen beſſeren 
Eintheilungsgrund auf, indem er fie nach dem geringeren oder 
größeren Maß von Schlauheit gliedert, über das fie verfügen. 


78 Shafefpeare'8 Narren und Klowns. 


einer  Eintheilung ſelbſt fann ich mich aber nur theilmeife 
anichließen. Es jcheint mir am beiten, die Klowns zu fondern in 
1) Rüpel und 2) Mifchlinge von Einfalt und Witz, ober, je 
nachdem, von Wig und Einfalt. 

Mir fehen unter den Klowns alle Abitufungen des Veritandes 
vom Stumpffinn bis zu pfiffiger Geriebenheit vertreten. Die 
Rüpel find geiltig völlig wehrlos, bloße Zielicheiben des Witzes 
für andere; die Komif der zweiten Gruppe von Klowns ift zwar 
auch meiſt von paffiver Art; je nah dem Witz, mit dem fie 
begabt find, wiſſen fie ſich aber auch gelegentlich, mit geringerem 
oder größerem Geichid, zu mehren, indem fie den Spieß umdrehen 
und auf ihren Angreifer einen Gegenangriff maden. In folchen 
Fällen nähert ſich ihre aftive Komik der der Narren. Ihr Klown— 
charafter verleugnet fi aber doch nicht; bei all ihrem Witze 
blidt doch immer mieder „die bäueriſche Cinfalt des Natur: 
burſchen“ durch. 

Betrachten wir zunächſt die große Schaar der Rüpel. Die 
hierher gehörenden Bauern in „Titus Andronikus“ und in 
„Antonius und Kleopatra“ verdienen wegen ihres ganz flüchtigen 
Auftretens faum eine Erwähnung; wohl aber ber ftumpffinnige 
Bauernburfhe Wilhelm in „Wie es euch gefällt,“ für Probfteins 
ig ein willlommenes Opfer; der Bauer Schädel in „Liebes Leib 
und Luft”; die beiden Schäfer, Bater und Sohn, im „Winter: 
märden”; Falſtaffs lächerlich - traurige Nefruten Schimmelig, 
Schatte, Warze, Shwädhlih und Bullenfalb im zmeiten 
Theil von Heinrih IV”; die beiden Kärrner im erjten Theil 
deſſelben Stüdes; der ewig betrunfene Kellner Stephano im 
„Sturm,“ der, wie jein Gefährte, der Spaßmacher Trinfulo, 
feinen an ſich ſchon nicht ſehr bedeutenden Vorrath an Verjtand 
bis auf einen ganz Fleinen Reſt verjoffen hat. Vor allem gehören 
hierher jene Mufterrüpel, jene unübertrefflihen Ideale der Rüpel: 
baftigfeit, wenn der Ausdrud erlaubt ift, der Weber Zettel und 
feine Genojjen, im „Sommernadtstraum.“ Dann die Vertreter 
von Polizei und Gericht: die Gerichtsdiener Klaue und Schlinge 
im zmeiten Theil von „Heinrich IV.“, Dumm in „Liebes Leid 
und Luft,“ Elbogen in „Maß für Maß,“ und, als gelungenite 
Vertreter dieſer Abart, das mürdige Paar Holzapfel und 
Scleewein in „Biel Lärm um Nichts.” Dann die ländlichen 


Shakeſpeare's Narren und Klowns. 79 


Sriedensrihter Schaal („Heinrich IV.“, Theil IL, und „Luftige 
Weiber“) und Stille („Seinrih IV,“ Theil II). Endlich, als 
Abſchluß diefer ganzen langen Reihe die Landjunfer Shaum in 
„Maß für Maß,“ Schmädtig in den „Luftigen Weibern“, und 
als Krone biejer Abart der Junker Ehriltoph von Bleihenmwang 
in „Was ihr wollt,” ein Dummkopf erfter Güte. 


Gemeinfame Merkmale aller dieſer Rüpel find: ein uner- 
fchütterliches Gelbitvertrauen und Selbſtbewußtſein; ſie ahnen 
garnicht, mie lächerlich fie ericheinen, was ihre Lächerlichfeit nur 
um fo mirffamer erhöht. Ferner: ihre Handlungen jtehen ſtets 
im Widerſpruch zu ihren Abfichten,; fie erreichen immer das 
Gegentheil von dem, mas fie eigentlich erreichen wollen, weil fie 
in Folge ihrer Tölpelhaftigkeit ftets verkehrte Mittel anwenden, 
um zu ihrem Zmede zu gelangen. Holzapfel ftellt, wie er glaubt, 
ein äußerft jchlaues Verhör mit den Spigbuben an, die ihm vor: 
geführt werden, verwirrt aber durd fein Rieſenungeſchick die ganz 
einfache Sadjlage immer mehr, jtatt fie Harzuftellen. Die Rüpel 
im „Sommernadhtstraum” mollen eine tieftraurige Tragödie auf: 
führen, daraus wird, gegen ihren Willen nicht nur, jondern ohne 
daß fie es überhaupt merken, eine Poſſe von unmiberjtehlicher 
Komif. So ift diefe Handwerferaufführung zwar nicht die feinfte, 
wohl aber die fräftigjte und wirkſamſte Satire auf das Pfuſcherthum 
in der Kunft, die je gefchrieben worden ift. 

Der Widerſpruch zwifhen Abfiht und Ausführung zeigt ſich 
nicht nur in den Handlungen, fondern aud in den Worten der 
Rüpel. Sie wollen ſich gewählt und fein ausdrüden und gebrauchen 
daher jeltene oder Fremdwörter, aber meilt jo verkehrt, daß fie 
gerade das Gegentheil von dem jagen, mas fie eigentlid jagen 
wollten. Als Beilpiel diene das Geſpräch zwiſchen dem Spigbuben 
Konrad und dem Gerichtsdiener Holzapfel in „Viel Lärm um 
Nichts,” Alt IV, 2: 

Konrad. Fort! ihr feid cin Ejel, ihr ſeid ein Eiel. 

Holzapfel. Deipektirft du denn mein Amt nit? Deipeftirft du 
denn meine Jahre nicht? Wär’ er (der Gerichtichreiber) doch noch hier, daß er 
es aufichreiben lönnte, daß ich ein Ejel bin! Aber ihr Yeute, vergeht mirs nicht, 
daß ich ein Ejel bin; wenns aud nicht aufgefchrieben wird, erinnert euch ja, 
daß ich ein Eſel bin. Mein, du Spitbube, du jitedit voller Moralität, das 
fann ich dir durch zuverläjfige Zeugen beweiſen, u. ſ. w. 


80 Shakeſpeare's Narren und Klowns. 


Die falfche Anwendung von Fremdwörtern iſt ja noch in 
unjerer Zeit ein Kennzeichen der Unbildung oder Halbbildung. 

Vielleicht dürfen wir mit Thümmel auch zwei weibliche 
Geftalten Shafeipeare’s zu den Klowns rechnen, die ſich am beiten 
ebenfalls unter den Rüpeln unterbringen lallen: die jchmaghafte 
Amme in „Nomeo und Julia“ und Frau Hurtig in beiden 
Theilen von „Heinrich IV.” und in „Seinrih V.“ Sie dient 
dem genialen Miüjtling Falftaff nicht nur als Gegenitand feines 
Spottes, jondern wird von ihm auch mehrfady ganz jämmerlich 
übers Ohr gehauen. Die Frau Hurtig in den „Lujtigen Weibern“, 
Mirtbichafterin des franzöfiihen Doftors Cajus, hat mit der eben 
genannten gleichnamigen Gejtalt faum mehr als den Namen 
gemein. Sie ift hauptſächlich Heirathsvermittlerin und zweideutige 
Gelegenheitsmaderin. Ä 

Die zweite Gruppe der Klowns, Miſchlinge von Tölpel 
und Wißbold, iſt ebenfalls zahlreih. Hierher gehören bejonders 
die vielen Bedienten, die Shafejpeare gern mit einem gewiſſen 
Grad von Pfiffigfeit und Mutterwig verfieht: Lanz und Flint 
in den „Beiden Veronejern”; Lanzelot Gobbo im „Kaufmann 
von Venedig”; Grunio und Biondello in „Der Widerjpenftigen 
Zahmung”; das HZwillillingspaar der beiden Dromio in der 
„Komödie der Irrungen“; ferner Beter, der Diener der Amme, 
in „Romeo und Julia,“ der ſich feiner Herrin als geiftig über: 
legen erweilt. Außerdem von anderen Berufsarten: Die beiden 
Todtengräber im „Hamlet,“ der Pförtner im „Macbeth,“ 
ein anderer Pförtner mit feinem Knecht in „Heinrich VIII.“, 
der aber nur ganz epiſodiſch auftritt; und endlich, auch ein 
Vertreter des niederen Adels, der Junker Tobias von Rülp. 
Thümmel rechnet zu diefer Gruppe auch Falſtaffs Spießgelellen, 
die meiner Anfiht nad überhaupt nicht zu den Klowns gehören, 
Sondern zu dem von dieſen ganz verjchiedenen beionderen Typus 
der humorijtiichen Spigbuben, denen fich aud) der Gauner Autolyfus 
im „Wintermärchen“ anreiht, ein ausgejuchtes PBrachteremplar feiner 
Gattung. 

Shakeſpeare's Klowns ſind zeitlih und örtlich begrenzte 
Typen. Manche von ihnen berühren uns fremdartig, weil die 
Grundlage ihres Weſens uns nicht mehr unmittelbar, ſondern 
erſt auf geſchichtlichem Umwege verſtändlich iſt. Aber der Kern 


Shakeſpeare's Narren und Klowns. 81 


diefes Klowntypus ift Gemeingut aller Zeiten und Völker, mie 
Thümmel mit Recht hervorhebt. Mit ihrer köſtlichen urwüchfigen 
Naivetät jtellen fie den Volkshumor dar, der zu der angefränfelten 
Blafirtheit des gezierten Kulturmenſchen einen erfriichenden Gegenjag 
bildet. Den meilten Klowns ijt eine liebenswürdige Gutherzigfeit 
eigen, die uns ganz für fie einnimmt. Thümmel hat Recht, wenn 
er darauf aufmerfjam madt, daß die romaniſche Komödie, im 
Gegenfag zur germaniichen, den Schwerpunft der Fabel in die 
Intrigue verlegt, und die fomiichen Charaktere als jtehende Masten 
behandelt ; daß dagegen bei Shafeipeare die Komif unmittelbar 
und ausſchließlich auf den Charakteren ſelbſt beruht. Jede einzelne 
Handlung ift nur ein Ausfluß des Charakters der betreffenden 
Perfon. Darin liegt ein echt germanifcher Grundzug des Shafe- 
ſpeare'ſchen Luſtſpiels. 

Welches iſt nun die innerſte Urſache unſeres Wohlgefallens 
an all der ſinnloſen Thorheit der Narren und Klowns? Thümmel 
führt als Grund hierfür unſer eigenes Wohlgefühl an, alles das 
als Thorheit empfinden zu können, alſo das Gefühl der eigenen 
Meberlegenheit. Dies Lleberlegenheitsgefühl ift gewiß auch an 
jenem Wohlgefallen ſtark betheiligt; es ift aber nicht der einzige 
Faktor, der dabei mitwirft. Ich glaube, dies Mohlgefallen auch 
auf eine tiefer liegende Urſache zurüdführen zu dürfen, auf diejelbe 
Grundurſache, auf der vielleicht alles Vergnügen an der Kunſt 
überhaupt beruht. Dieje ift, in rein praftiihdem Sinne, zmed: 
und tendenzlos; je mehr fie dies iſt, dejto eher genießen mir fie, 
beito reiner ijt unjere Freude an ihr. Das praftiiche Leben, bie 
Wirklichkeit erfordert ein jtetes Handeln zu beftimmten Zweden; 
da iſt es für den menichlichen Geiſt Bebürfnik, ſich von Zeit zu 
Zeit in ber reinen Zwedlofigfeit der Kunft, in der Welt des 
Scheines, in dem Gegenfab zur Wirklichkeit zu erholen. Diele 
Erholung bietet uns am ehejten und leichteften eine der Erfcheinungs- 
formen der Kunſt, das Komifche, in feinen verfchiedenen Unterarten, 
deren edelite und reinjte der Humor ift. Gerade die liebenswürdige 
Zwedlofigfeit in all dem geihäftigen Treiben mancher Shake— 
ſpeare'ſcher Klowns läßt uns ihre Handlungen und Worte als 
Blüthen reinen Humors genießen. Je mehr wir im einzelnen 
Falle empfinden, daß diefer Humor nicht den geringiten ſatiriſchen 
Beigefhmad hat, dab gar feine Beziehungen und Sup lungen 


82 Shafefpeare’8 Narren und Klowns. 


auf beſtimmte Perfonen oder Verhältnifie vorliegen, je mehr mir 
alio diefen Humor als völlig zwedlos, als abjolut empfinden, 
deſto eher jteigert fich unfere Freude an ihm zur Ungetrübtheit. 
Wie verhalten fih Narr und Klown zu unferer Zeit? Wäre 
es möglich, dieje beiden Typen auf den Boden der Gegenwart zu 
verpflanzen? Mir bemerfen leicht, daß der Narrentgpus einer 
folhen Webertragung in neuzeitlihe Werhältniffe viel größere 
Schmierigfeiten bereitet als der Klomntypus, mweil viel mehr örtliche 
und zeitlihe Schranfen ihn einengen. Er ijt der Typus eines 
beitimmten, feſt umgrenzten Berufes einer ebenfalls bejtimmten 
fernabliegenden Zeit. Es ift far, daß er als typiſche Geitalt 
des Dramas nur fo lange in dieſem eine feſte Wohnſtätte hat, 
als er auch im Leben jelbit fein Urbild hatte. Als der Hausnarr 
aus dem wirklichen Leben verſchwunden war, fonnte auch in ber 
Litteratur feines Bleibens nicht mehr lange fein. Denn das 
unmittelbare Leben iſt ber Nährboden ber Litteratur, die von ihm 
völlig abhängig iſt. Somit hat fi der Narr als Berufstypus 
der Litteratur in unjerer Zeit längſt überlebt; denn er iſt fchon 
feit Jahrhunderten aus dem Leben jelbjt befeitigt worden. Das 
fteigende Selbitgefühl und Bewußtjein der Menſchenwürde machten 
eine Fortdauer des Hausnarrenthums unmöglich; jein Dafein ift 
überhaupt nur zu einer folchen Zeit denfbar, wo das Bemußtfein 
von dem idealen Werthe jedes einzelnen Menjchenlebens, von der 
Berehtigung, ja der Pflicht der einzelnen Menfchenfeele, ſich ihre 
Individualität nicht verfümmern zu laljen, noch garnicht empfunden 
wurde. Nur die Zirfusflowns dürfen wir als die legten Aus— 
läufer der alten Hausnarren im Leben der Neuzeit anjehen; fie 
find, trog ihres Namens, als berufsmäßige Spaßmacher eher mit 
den Narren als mit den Klowns verwandt; ebenjo ließen fi mit 
jenen ungefähr vergleichen die berufsmäßigen Spaßmacher unferer 
heutigen Qergnügungslofale, und endlid, als vornehmite Abart, 
die Komiker unferer Theater. Alle dieſe Berufsarten find zwar 
im Drama der Gegenwart aud in Form von Typen dargeftellt ; 
aber dieſe Typen vertreten immer nur den jeweiligen einzelnen 
Beruf; es giebt feinen modernen Geſammttypus der berufs- 
mäßigen Spakmader. Außerdem dürfen wir nicht überfehen, 
daß dieſe heutigen zeritreuten Nachkommen jener alten Hausnarren 
diefen in vielen mejentlihen Punkten doch jehr unähnlich find. 


Shafeipeare’8 Narren und Klowns. 83 


Der Hausnarr war eben immer Narr; eine Scheidung zwiſchen 
feinem Leben als Brivatmann, und feinem berufsmäßigen Auftreten 
gab es für ihn nicht, im Gegenfag zu unjeren heutigen Komikern. 
Kurz, der Topus des Hausnarren ift für die Zmede unjerer 
neuzeitlichen Litteratur unbraudbar. 

Anders jteht es mit den Klowns. Diele haben fich, wie 
mir jcheint, noch nicht überlebt; im verfeinerter, Den heutigen 
Verhältniffen angepakter Korm wäre der Klomntypus auch in der 
Gegenwart noch wohl denfbar. Der Gegenfag von Bildung und 
Unbildung, der der Komik des Klowns zu Grunde liegt, ift ja 
ein ewiger, für alle Zeiten giltiger. Wir haben aud im Drama 
der Neuzeit manche tnpiiche Geftalten, die mit dem alten Shake— 
fpeare’ihen Klown verwandt find: der dummſchlaue, verjorfene 
Bediente u. |. w. Vereinigen wir die Tölpelhaftigfeit des Klomns 
mit dem Element des Reichthums, jo erhalten mir den heutigen 
Prog, an den auch mande Klowngeſtalt Shafefpeare’s erinnert, 
fo befonders die beiden Schäfer im „Wintermärden,“ die am 
Schluffe des Stüdes zu „geborenen“ Edelleuten erhoben merden. 
In den heutigen Wipblättern wird der Bauer, wenn er in bie 
Großſtadt fommt, und die ihm fremden großftädtifchen Erfcheinungen 
nach feinem naiv bäuerlichen Maßſtabe beurtheilt, in einer Weile 
als feititehender Typus vorgeführt, die mit dem alten Klomntypus 
gar vieles gemein hat. 

Und nun nehmen wir Nbihied von all den fchnurrigen 
Geſellen, die in bunter Reihe an unferen Bliden vorübergezogen find. 


Leipzig. Ed. Eckhardt. 


— 


6* 


Kene Belletrifik. 





Adolf Wilbrandt, Hildegard Mahlmann. Charlotte Niefe, 

Die braune Marenz. Auf der Haide. Werner von Hejdenitern, 

Karl XII. und feine Krieger. 

Adolf Wilbrandt hat uns durch feinen Roman „Bildes 
gard Mahlmann“*), mit einem tief angelegten, wahrhaft er- 
freulichen Kunſtwerk bejchenft. Es iſt das tragiiche Geſchick eines 
Trauenlebens, das ſich aus jammervollen Perhältniiien, aus 
unfäglihem Elend und Weh heraus zum Lichte emporringt. m 
poetiihen Schaffen findet Hilda Mahlmann nad) namenlojen 
pſychiſchen und phyſiſchen Leiden endlich den Troft, den ihr das 
Leben ſonſt verfagt. Iſt ihr auch das eigentlihe Lebensglück für 
immer zerjtört, es fällt nun do ein Schimmer von Glüd, mie 
ein heller Strahl aus höheren Welten, verflärend auf ihr trauriges 
Dafein. 

Die Uebel der Welt, das Elend, das fie birgt, all der 
Egoismus, Nohheit, Leichtfinn, Unverftand, die das Gute unb 
Edle erbarmungslos umflammern, es zu eritiden, zu vernichten 
drohen, — das Alles ift von MWilbrandt ohne jede Schönfärberei 
ergreifend gefchildert. Aber es erfüllt uns mit Troft und Freude, 
ed ergreift uns noch mächtiger, es erhebt uns zu verföhnenben 
Empfindungen, wenn mir jehen, wie ein edles, reines, geijtig und 
fittlich hoch veranlagtes Frauenherz trog aller ihm innewohnenden 
Zartheit und Senfibilität in dem großen Jammer bes Lebens 
nicht hoffnungslos untergeht, jondern immer wieder an das Gute, 
Edle, Reine ſich fammernd aus tiefitem Schmerz heraus, zuerſt 
fait unbewußt ſchaffend, fich jelbit eine ideale Welt geftaltet, aus 
der ihm nun lindernde Tropfen bes Troftes in die brennenden 
Wunden fallen. Ergreifend und von überzeugender Wahrheit iſt 
vor Allem die Szene, wo Hilda nad einem fürchterlichen, faft zu 
Mord und Todſchlag führenden Konflilt zwiſchen ihrem rohen 
Manne und dem bemunderten, ob auch treulofen Yugendgeliebten, 
dem Dichter Chriftian Zöller, am Herde figend, von der Art bes 
eigenen Mannes verwundet, nod tiefer aber im Herzen getroffen, 


*) Stuttgart 1807, Verlag der J. ©. Eottafchen Buchhandlung Nachfolger. 


Neue Belletrijtif. 85 


in leifem Singen, wie durch eine Offenbarung von oben, ihr 
erjtes, Schmerz und Qual linderndes Lied findet. Und wie Dies 
Lied, jo iſt auch Alles, was jie jpäter jchafft, aus tiefitem, 
unmittelbarjten Drange herausgeboren und ergreift darum Die 
Herzen, als die Dichterin endlich mit ihren Schöpfungen an bie 
Oeffentlichfeit tritt. 

Der Schluß, Hildas Tod durch einen Bligftrahl, ijt gewaltjam; 
aber der Hohe Werth der Erzählung wird davon nicht berührt. 
Er liegt in der ergreifend wahren Entwidelung Hildas zur 
Dichterin, die wie eine moderne Jllujtration ausfieht zu der alten 
indifchen Sage, nad) welder das Lied aus dem Leid geboren 
it. Der ideale Sinn, das Oottvertrauen, die fie vom Vater und 
Lehrer überfommen, halten die Dulderin aufredt in allem Wirrjal 
des Lebens und helfen ihr endlih zum jchönen Siege. Wir 
lernen aus dieſem Roman die im tiefiten Kern gejunden und 
tühtigen Bewohner Mecklenburgs, die Landsleute des Dichters, 
die er verftändnißvoll jchildert, aufs Neue lieben und achten. 
Mir lernen, was mehr ilt, an die Macht des Guten, des Idealen 
im Dienichenherzen aufs Neue glauben. 

Zu den erquidliditen Erjcheinungen der neueren deutſchen 
Erzählungslitteratur gehört ohne Zweifel Charlotte Nieje, deren 
reizenD humorvolle Geſchichten „Aus däniſcher Zeit“ ihr raid 
allenttgalben die Herzen erobert haben. Auch „Licht und Schatten,“ 
eine Hamburger Geſchichte, in der jchredlidhen Cholerazeit jpielend 
(1895 erſchienen), darf als ein treffliches Bud) bezeichnet werden, 
wenn bajjelbe auch an einigen Unmwahrjcheinlichfeiten leidet und 
die Kraft der Verfafjerin bei der Gejtaltung dieſer ganz ihrer 
Phantafie entiprungenen Erzählung hier und da verjagt. Charlotte 
Nieſe zeigte fi eben bisher am bedeutendjten und interejiantejiten, 
wo fie Die Bejtalten und Erlebniſſe ihrer Kindheit poetiich verflärt 
uns vorführt. In Ddiefe Sphäre griff fie neulich mit richtigen 
Takt zurüd und bot uns in dem allerliebjten Bud „Die braune 
Marenz und andere Geſchichten““) gewillermaßen eine ort: 
jegung jener mit Recht beliebten Erzählungen „Aus däniſcher 
Zeit.“ Hier ijt wieder Alles jelbjt gejehen und erlebt, durchaus 
wahr, feilelnd und vom föftlihjten Humor umjpielt. Wer wollte 


*) Leipzig, Fr. Wild. Grunow, 1897. 


86 Neue Belletriftit. 


ihr nicht gut fein, dieſer blutarmen und doch immer fröhlichen, 
friihen, gutherzigen, ehrlichen, rührend danfbaren braunen Diarenz! 
Die Sejtalt diejes Mädchens ijt ebenjo lebendig als liebenswürdig 
geichildert und vom fonnigften, echtejten Humor verflärt. Dieje 
Erzählung, die dem Buche den Namen gegeben, gehört ohne 
Zweifel zum Bedeutenditen, was es enthält. Aber wieviel andere, 
köſtliche Geſchichten fommen da nod hinzu, darunter mande von 
nit geringerem Werthe! Vor Allem finde ich jehr gelungen 
„Das Befinnen“. Diejer brave Böttcher Butenfchön mit feiner 
Meisheit „Befinnen is aber doch das Belte beim Menſchen!“ das 
iſt eine geradezu meijterhaft gezeichnete Geſtalt, ein echt nord- 
beutjcher, jchmwerfälliger, aber in jeiner Naivität und Ehrlichkeit 
erfreuliher Charakter. Ein mwürdiges Gegenjtüd zu der Liebes 
und Heirathsgeihicdhte des Böttchers Butenſchön und der ihn in 
rührender Weije verehrenden Plätterin Frau Lene Thornjen bildet 
die Heirathsgeihichte der Haushälterin Kriihane mit dem ver: 
unglüdten Kandidaten Nottebohm. Vol föftlihen Humors find 
aud) die Fleinen Erzählungen „Ferdinand“ und „Mein Klaus.“ 
Düfterer, aber von tiefer Lebenswahrheit ijt die Geſchichte „Es 
war gut jo.“ Auch „Die falihen Weihnahtsbäume“ und „Unire 
weiße Frau“ Haben alle Vorzüge der Nieſeſchen Erzählungen an 
ih, die jo recht zur Haus- und Familienleftüre geeignet find. 
Wenn an diefen wahrhaft erquidlichen, Jedermann zu 
empfehlenden bumoriftiichen Geſchichten etwas ausgeftellt werden 
foll, jo liegt das allenfalls in dem Umjftand, dab die Kinder, d. i. 
die Erzählerin und ihre Geſchwiſter in der Kinderzeit, gar zuviel 
mitwirfend, bejtimmend und vermittelnd in denjelben erjcheinen. 
Sie find es, die oft ohne zu wollen, oft aber auch ganz mit 
Bewußtſein immerfort in die wichtigiten Geſchicke der gejchilderten 
Perſonen felbjtthätig eingreifen, in einer Weije, die zwar vereinzelt 
möglich ift, aber in joldher Ausdehnung doc die Wahrjcheinlichkeit 
überjteigt. Andererſeits aber ijt gerade Dies bejtändige Hinein- 
jpielen der Kinder von jo allerliebjtem humoriſtiſchem Weiz, daß 
man die Geſchichten audy wieder faum anders haben mödte. Dan 
nimmt jene Unmwahrjceinlichfeiten eben lächelnd in den Kauf. 
Baltiſchen Leſern wird aud die naive Sprade der meilt dem 
einfacheren Stande angehörenden Perjonen von einem eigenen, 
anheimelnden Reiz fein. Erinnert diefelbe doch in fo vielen Bunften 


Reue Belletriftik. 87 


ganz überraichend an die Sprache, die bei uns in gewiſſen Sphären 
gejprohen wird. Der Kulturzufammenhang unferes Landes mit 
den norbdeutjchen, in ihrem Volksthum niederdeutichen Gegenden 
tritt uns bier in auffallender, unjer Intereſſe fejlelnder Weiſe 
entgegen. 

Eine Aufgabe größerer Art hat Charlotte Nieſe fih in dem 
foeben erjchienenen Roman „Auf der Haide“ *) gelegt, den ich 
ebenfallde warm empfehlen fann. Er führt uns wieder nad 
Schleswig-Holjtein in die Heimath der Verfallerin und jpielt zur 
Zeit des blutigen Aufitandes der Deutichen gegen die Dänen 
im 9. 1850, nad) der Schlacht bei Idſtadt. Was biefen Roman 
hochbedeutſam und wahrhaft lejenswerth macht, ijt vor Allem bie 
herrliche Schilderung jenes Haidelandes von Schleswig und jeiner 
fernhaften Bewohner. Die melancholiſche Poefie der Haide mit 
ihren Mooren und Hünengräbern ift jelten jo wunderbar erfaßt 
und vorgeführt worden wie in dieſer Dichtung, und damit lernen 
wir Charlotte Niefe von einer neuen Seite jchägen und lieben. 
Und wie viel trefflich gezeichnete Perjonen treten uns da entgegen! 
Da ilt zuerſt der Held des Romans, ber holjteinijhe Student 
Hans Chriſtian Munk, der in der Schlacht bei Idſtadt ſchwer 
verwundet, von dem alten treuen Knechte Niß und ber alten 
Karen vom Grafenſchloß gerettet, von jeinen dänischen Verwandten, 
ber alten Großmutter und dem Vetter Lars, treulich aufgepflegt 
wird. Seine Neigung zu der jchönen, aber etwas abenteuerlichen 
Predigersnichte Magda kreuzt ſich mit einem auf tiefiter und 
reinjter Verehrung beruhenden Verhältniß zu ber edlen Gräfin 
von Trolleborg. Dieje legtere, eine Deutiche, aber Gemahlin bes 
bänifhen Grafen, ijt befonders fein und überaus ſympaäthiſch 
geichildert, nicht minder der kleine Graf Dlaf, der den Studenten 
von ber erjten Begegnung an in rührender Weije ins Herz jchliebt. 
Auch der chevaleresfe, aber leichtfertige Graf und feine Töchter, 
der fanatifch dänische Paſtor Möller mit feiner ängftlichen, fanften 
Frau, der nichtswürdige Hauslehrer Bagge u. a. m. treten uns 
lebenswahr gezeichnet entgegen. Zu den bejtgelungenen Gejtalten 
möchte ich aber aud in dieſem Werfe der Nieje die Perjonen der 
niederen Sphäre rechnen: jo vor Allem den treuen alten Knecht 


*) Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, 1898. 


88 Neue Belletriftit. 


Nik mit feinem tiefen, erniten, jchmweiglamen Weſen und Die 
nornenhafte alte Karen, die mit dem Grafenjchloß von Trolleborg 
untrennbar verwadjene, in der Heilung von Krankheiten und 
Verwundungen ebenjo wie in alten Sagen und Mähren mohl: 
bewanderte Dienerin; aud die brave Krugswirthin Frau Willagen 
nicht zu vergeflen. Deutihe und Dänen find bier mit gleicher 
Liebe treu und wahr geichildert. Der Humor tritt in dieſem 
Werke ſtark zurüd, die ernfte Poefie der Haide waltet vor. Am 
ſchwächſten jcheinen mir die eigentlih romanhaften Erfindungen, 
jo die Geſchichte von dem verborgenen, ſchließlich gefundenen 
Schatz im Grafenichloffe, die eine entjcheidende Rolle jpielt, der 
Liebesroman ber alten Großmutter, Frau Spenftrup, die Vor: 
geihichte der Frau Paſtorin u. a. m. Ich glaube, das Talent 
der Nieje weit fie nicht jowohl auf den Roman, als vielmehr auf 
die jchlichte Erzählung. Daß aber neben dem urwüchſigen gejunden 
Humor und dem Verjtändniß für ihre Heimathgenoffen auch eine 
Fülle echter Poefie, ein tiefer Bli in den Zauber der nordijchen 
Natur diejer liebenswürdigen Dichterin eigen ift, das zeigt uns 
gerade ihr letztes Werk. Wir begrüßen es darum freudigit und 
jind gewiß, daß Niemand es bereuen wird, wenn er fih durd 
dbajjelbe für einige Zeit auf die braune Haide von Schleswig 
zaubern läßt. 

Ein Bud von durdjaus anderer Art iſt „Werner von 
Hejdenftern, Karl XI. und feine Krieger.”*) Das find 
fraftvoll entworfene und ausgeführte hiſtoriſch movelliftiiche Bilder 
und Skizzen aus dem Leben und der Umgebung des befannten 
Schwedenkönigs, deifen Regierung jo verhängnikvoll für fein Land 
und Volk ſich gejtaltet, der ebenjo groß iſt in jeinem Heldenmuth, 
feiner Opferwilligfeit und Standhaftigfeit, wie in furzfichtiger 
Ueberſchätzung ber eigenen Kraft und thörichtem, alle Erfolge zulegt 
vernichtendem, Alles rüdjichts[los opfernden Starrfinn. Für baltiiche 
Leſer muß das Buch ein bejonderes Intereſſe haben, da es fid 
ja um jenes gewaltige, welthijtoriiche Ringen zwiſchen Karl und 
Peter dem Großen handelt, das, zum Theil auf dem Boden 
unjeres Landes ſich abipielend, zur Xosreikung der Provinzen von 


*) Einzig autorifirte Ueberfegung aus dem Schwebilhen von Thereje 
Krüger. Paris, Leipzig, Münden. Berlag von Albert Langen, 1898. 


Neue Belletriftik. 89 


Schweden und zur Eingliederung derſelben in das mächtige Neid) 
bes ruſſiſchen Zaren führte. 

Werner von Hejdenitern zeigt fi) als ſehr talentvoller, 
origineller Erzähler. Ein herber Realismus verbindet ſich hier 
mit jener vielfach mehr andeutenden als ausführenden Manier 
der Modernen. Zur Samilienleftüre ift das Buch durchaus nicht 
geeignet, aus verjchiedenen Gründen, aber der reife, ernite Leſer 
mird es nicht unbefriedigt aus der Dand legen. 

Die einzelnen Bilder und Sfizzen find von einander ganz 
unabhängig. Was fie verbindet, iſt nur der Umſtand, daß fie 
fih von der Sterbeitunde des Föniglichen Waters, vom Regierungs— 
antritt des noch fnabenhaften Karl XII. bis in jene Zeit hin- 
ziehen, wo der Stern bes merfwürdigen Schwedenfönigs im Er: 
löfchen iſt. Es find weit mehr düjtere als freundliche Bilder, die 
uns bier entgegentreten, zum Theil Bilder von tief erichütternder 
Art. Des Königs Schwächen werden nicht gejchont. Aus dem 
Ihüchternen, fromm betenden Anaben jehen wir den Helden werden, 
beilen bloßer Händedrud höchſte Belohnung ift, aber dann aud) 
meiter den unfinnigen Abenteurer, der feinen eigenen Leuten 
Grauen und Nbichen einflöht. Es liegt etwas Piychopathiiches 
in feinem Weſen, ſonſt können wir ihn überhaupt nicht verjtehen. 
Und unter feinen Kriegern, wieviel Heldenmuth offenbart fich da 
neben aller ſoldatiſchen Rauhheit und Härte! Am Erjchütterndften 
vielleiht in der Gejtalt jenes Korporals Anders Graaberg (in 
„Siehe, das jind mein Kinder”), der ſelbſt jchon verdurftend ſich 
nicht entichließen fann, das Waller aus der eigenen eldflaiche 
zu trinken inmitten all der andern Verfchmadhtenden bes im 
Rückzug begriftenen Heeres. Er labt damit endlid einen 
Sterbenden und gräbt ſich dann ſelbſt fein Grab auf der öden 
Haide. Die in Riga Ipielende Skizze „Gunnel, die Beſchließerin“ 
ift furchtbar düſter und hart. Am jonnigiten, freundlichiten 
ericheint noch „Hochſommerſpiel,“ aber aud hier ilt das Ende 
tragüh. Von mandem Bilde wird der Zeiler ich vielleicht ab- 
geitoßen fühlen, aber intereffant und bedeutend find fie alle. 

L. v. Schröder. 
* 


* 
* 


Bei der Redaktion der „Balt. Mon.“ ſind ferner nachſtehende Schriften 
zur Beſprechung eingegangen: 


Neue Belletriftif. 


Monographien zur Weltgeihichte, 2. Band, II. Hans 
Schulz. BWallenftein und die Zeit des breikigjäßrigen Arieges. 
Bielefeld und Leipzig, Belhagen & Klafing. 

Geifteshelden, Band IV, Anzengruber von Anton Bettelheim, 
2. Auflage. Band 27. Luther. 1525—1532 von Arnold G. 
Berger. Berlin, Ernit Hofmann & lo. 

Thomas Carlyle. Lebenderinnerungen. Deutih von Paul Sarger. 
Göttingen, Bandenhoed u. Ruprecht. 

Friedrih Zarnte Aufſätze und Reden zur Kultur und Zeit 
geichichte. Leipzig, Eduard Avenarius. 

9. v. Zmwiedined:Suedenhorft. Deutiche Gelchichte von der Auf: 
löfung des alten bis zur Errichtung des neuen Kaiſerreichs. 
Band I. Stuttgart, Verlag der J. G. Cottaſchen Bud 
handlung Nachfolger. 

Ludovica Heſekiel. Deutiche Träumer. Vaterländiſcher Roman, 
2. Auflage. Berlin, Otto Janke. 

Wilhelm Raabe. Alte Nefter. 2. Bücher, Lebensgeichichte. Berlin, 
Otto Janke. 

Konrad Fiedlers Schriften über Kunſt, herausgegeben von Hans 
Marbach. Leipzig, S. Hirzel. 

Weltgeſchichte in Umriſſen. Federzeichnungen eines Deutſchen. 
Berlin, Ernſt Siegfried Mittler u. Sohn. 

G. 4. Willens. Jenny Lind. Ein Cäcilienbild aus der evangel. 
Kirde. Gütersloh, E. Bertelsmann. 

Heinrih Hansjakob. Milde Kirſchen, Erzählungen aus dem 
Schwarzwalde. Heibelberg, Verlag von Georg Weiß. 
Heinrich Hansjafob. Aus Franken Tagen. Erinnerungen. Heidel: 

berg, Verlag von Georg Weiß. 

Karl Anog. Folklore. Dresden, Verlag der Druderei von Glöß. 

KAulenfamp. Chriſtenthum und Malthufianismus. Goettingen, 
Vandenhoeck und Ruprecht. 

Friedrih Daab. Die Zulälfigkeit der Gelübbe, betrachtet vom 
evangeliichen Standpunfte aus. Gütersloh, C. Berteldmann. 


er 





Herzog Chriſtoph von Medlenburg 


(1537— 1592). 


Zwei Vorträge, gehalten zu Schwerin im Verein für medlenburgiiche Gefchichte 
und Alterthumskunde von U. Bergengrün. 





Herzog Chriftoph von Medlenburg ijt weder als Fürjt noch 
als Menſch eine hervorragende Perjönlichkeit geweien. Wenn mir 
fein Leben troßdem einer bejonderen Betrachtung würdigen, fo 
rechtfertigt ſich dieſes durch die mancherlei merkwürdigen, ja 
abenteuerlichen Wandlungen deijelben, noch mehr aber dadurd), 
daß es hineingejtellt war in den großen Strom der Creignijie, 
welche in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die jtaatlichen 
Verhältniffe der Länder am Djtjeebeden von Grund aus umzu— 
geftalten begannen. Zum Handeln in großem Stil war er von 
Natur wenig befähigt, auch ohne Neigung dazu. Aber doc) ift 
fein Zeben von Cinfluß auf die Ummwälzungen der baltischen Macht- 
verhältniffe gewejen, wenn auch die Rolle, welche er, der halb 
widerwillig in fie Dineingezogene, dabei jpielte, feine rühmliche 
mar. In allen Phaſen jeines Lebens iſt er direkt durch die großen 
politiihen Gegenläße, welche das Zeitalter und insbejondere die 
nordiichen Mächte erfüllten, berührt worden. Won diejem Gefichts- 
punfte aus gewinnt jein Leben ein Intereſſe, das über den 
Rahmen ber dynaftiihen Geſchichte des medlenburgiichen Herzogs— 
hauſes hinausreidht. 

Seine Eltern waren der abenteuernde, projeftenreiche Albrecht 
VII., ber Schöne, befannt durch die Theilnahme an der dänijchen 
„Srafenfehde” und den mißglüdten Verſuch fi als Parteigänger 

l 


a Herzog Chriftoph von Medlenburg. 










übeder die däniſche Königsfrone zu erfämpfen, und Anna, 
Tochter des Kurfürſten Joachim I. von Brandenburg. Auf 
Reife an die ſüddeutſchen Höfe fchenfte die Herzogin, melde 
dem Termin der Niederfunft verrechnet hatte, zu Augsburg 
30. Juni 1537 ihrem adten finde, unjerem Chrijtoph, 
Leben. Entweder glei nah der Geburt oder zu einem 
fpäteren Zeitpunfte haben die Eltern zu Linz den Knaben dem 
römiſchen Könige Ferdinand zugeführt, der ihn nad) des Vaters 
- Tode in feine bejondere Obhut zu nehmen veriprad). 

Von irgend einem Einfluß des Vaters auf Charafter und Ent- 
midelung Chriftophs ift nichts zu fpüren. Um jo bedeutender, aber 
auch verhängnikvoller war derjenige der Mutter. Die Herzogin Anna 
mar eine der freundlofen, unglüdlichen Frauengeftalten, wie fie uns 
in der Gejchichte des Hohenzollernhaujes mehrfach begegnen. Nach 
anfänglicher Hinneigung zur Lehre Luthers warf fie fich jpäter 
mit verdoppelter Inbrunſt der alten Kirche wieder in die Arme. 
Und doch wehte in Meedlenburg der Mind fo Ffräftig lutheriſch, 
daß die Herzogin nicht einmal die katholiſche Erziehung ihrer 
Kinder durchzufegen vermochte. Ya fie mußte es dulden, daß zmei 
derjelben, unter ihnen die einzige Tochter Anna, in zarteſter 
Kindheit von ihr getrennt und ihrer eifrig lutheriſchen Tante 
Elifabeth von Braunichweig in Münden zur Erziehung übergeben 
wurden. Zmei Jahre nad Chriſtophs Geburt wurden auch die 
älteften Söhne Johann Albredt und Ulrich noch im Anabenalter 
an fremde Höfe gethan, drei Kinder waren geftorben, und jo 
blieben der vereiniamten Mutter nur Chriitoph und der 1540 
geborene jüngite Sohn Karl. Vieles traf zufammen, um ihr die 
Freude am Leben zu vergällen. Cine früh ſich einjtellende 
Kränflichkeit, das Bewußtſein durch ihren Fatholifhen Fanatismus 
fih ſtets im Widerſpruche zur näcdjiten Umgebung und zu der 
Stimmung des ganzen Yandes zu befinden, die häufigen MWochen- 
betten und der Tod mehrerer Kinder verdüfterten ihren Sinn, 
machten jie mürriich, unzufrieden und elend. Und als fie gar 
nach dem Tode ihres Gatten, 1547, gefährlich erfranfte und es 
fih herausftellte, daß fie von einer ihrer Kammerfrauen vergiftet 
worden mar, da verzehrte fie fih von nun ab förmlid in Miß— 
trauen, unfruchtbarem Hadern und Klagen. Bei ihren vier älteren 
Kindern, die ihr völlig entfremdet waren, fand fie für ihre Leiden 


Herzog Chriftoph von Medlenburg. 93 


und Klagen nur geringes oder gar fein Verſtändniß. So wandte 
denn die unglüdliche Fürjtin alle mütterlihe Sorgfalt und Liebe 
ihren beiden jüngiten Söhnen Chriitoph und Karl zu, mit denen 
fie ihren Wittwenfig zu Lübz bezog. Ihr befonderer Liebling 
aber, ihr Troſt und ihre Augenmweide war Chriftoph, den fie in 
unverftändiger Weile verzärtelte und verwöhnte. 

Mit Beſorgniß Jah der junge Derzog Johann Albrecht, der 
einjtweilen die Alleinregierung im väterlihen Landestheil über: 
nommen und fich die Wormundichaft über die jüngiten Geſchwiſter 
vom Kaiſer hatte übertragen laifen, wie dieſe in einem Sinne 
erzogen murden, der dem proteltantijchen Bekenntniß des Landes 
geradezu entgegengejegt und auch ſonſt ihrer Charakterentiwidelung 
wenig förderlih war. Dbgleich fein Oheim Joachim II. zwiſchen 
ihm und Anna einen Vertrag vermittelt hatte, wonach dieſe 
die Erziehung der Knaben bis zum 16. Jahre leiten jollte, jo 
ſuchte Johann Albrecht doch wenigitens Chrijtoph dem Einfluß 
der verbitterten, fränfelnden Mutter zu entziehen und ihn nad) 
Schwerin in eine gejündere Luft zu bringen. Es foftete einen 
harten Kampf. Aber er jette feinen Willen doch durch und am 
28. Auguſt 1550 fonnte er feinen Bruder nad) Schwerin abholen 
laffen. 

Hier lebte feit zwei Jahren als Freund und mwiijenichaftlicher 
Berather des jtrebiamen Herzogs der Magiiter Andreas Mylius, 
ein Mann von vortrefflicher Bildung, feinem Gefühl, glänzender 
lateinifcher Eloquenz und zugleih warmer proteftantifcher Gefinnung, 
furz ein Humanift bejter Objervanz. Diefer wurde Chriftophs 
Lehrer und wenn Chriftoph in allen Aeußerungen, die wir von 

ihm befiten, niemals die geringite Hinneigung zum Katholizismus 
verräth, fondern uns ftets als überzeugter Lutheraner entgegentritt, 
fo dürfen wir wohl annehmen, dag Mylius in erfolgreiher Weiſe 
zu befeitigen gewußt hat, was von dem ftarren Katholizismus ber 
Mutter an dem Dreizehnjährigen etwa haften geblieben mar. 
Leider dauerte Mylius’ Unterricht nur anderthalb Jahre. 

An einem Dezemberabend des Jahres 1551 erhielt Mylius 
ben Befehl, des anderen Tages früh mit feinem Zögling eine 
Reife nad) einem nicht genannten Orte anzutreten. Sie wurden 
zunächſt nad) Berlin geführt, wo Johann Albrecht fi) zu ihnen 
gefellte, und erſt auf der Weiterreife erfuhren fie, dab rn 


94 Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 


nad Dresden an den Hof des Kurfürjten Moritz gebracht werden 
folle.. Gerüchtweife verlautete, daß da noch ein anderer ver: 
borgener Plan dahinter ftede. In Dresden erklärte der Kurfürſt 
an dem jungen Prinzen ein fo großes Gefallen zu finden, daß er 
ihn ganz bei fich behalten und ihn zu einem Bilchof oder großen 
Herrn machen wolle. In diefem inne jchrieb er der Herzogin 
Anna und bat um ihre Zuftimmung. Sohann Albrecht aber verließ 
Dresden ſchon nad zwei Tagen und ließ Chrijtoph mit einem 
Hofmeijter und zwei Dienern zurüd. 

Dean denfe fih den Schmerz ber verzweifelten Mutter! Sie 
überfchüttete Johann Albrecht mit den ſchwerſten Vorwürfen: 
Gram und Kummer würden fie ins Grab bringen und er daran 
fhuld fein. Ihre Ahnung, dab etwas im Merfe jei, was Die 
Sicherheit ihres Lieblings gefährdete, trog fie nicht. Aber ſie 
mar der vollendeten Thatſache gegenüber machtlos. 

Chriftoph war dazu bejtimmt mit einem jungen heifiichen 
Landgrafen als Geißel der mit Franfreich gegen den Kaiſer ver: 
bündeten evangeliichen Fürjten nah Paris geichidt zu werden. 
Durh die plößliche, in geheimnikvolles Dunfel gehüllte Abreije 
und das Anerbieten Moritz', ihn bei fich zu behalten, ſollte bie 
Diutter überrumpelt und Chriftoph ihren leidenichaftlichen Rekla— 
mationen entzogen werden. So trat die hohe Bolitif mit ihrem 
ganzen Ernite und ihren rücdjichtslofen Forderungen zum erjten 
Male an den fürjtlihen Knaben heran. 

Sobald die Nachricht von der Natififation des Bündniſſes 
durch den König von Franfreih in Dresden eingetroffen war, 
trat Chriftoph mit feinem Hofmeiſter Joachim von Kleinow Die 
bejchwerliche weite Neife an. Nach zwei Monaten, Ende April 
1552, war er in Paris. Weber feinen dreivierteljährigen Aufenthalt 
dafelbit haben wir nur ſehr dürftige Nachrichten. Man hat wohl 
gemeint, dab er dort fittlic) verdorben worden fei und den Becher 
der Freude jchon als vierzehnjähriger Knabe bis auf die Neige zu 
leeren gelernt habe. Das halte ich für eine große Webertreibung. 
Günftig aber hat dieſes ereignißreiche Jahr auf den jungen Herzog 
nicht gewirft und fein neuer Lehrer Wolfgang Leupold, der ihm 
nad Paris folgte, hatte mit der Befürchtung nur zu Recht, daß 
er durch Die Zerjtreuungen des Doflebens den Gejchmad an erniten 
Studien verlieren werde. Nach dem Paſſauer Vertrage zwiſchen 


Herzog Chriftoph von Medlenburg. 95 


dem Saijer und den evangeliihen Fürften wurde Chrijtoph in Die 
Heimath entlaſſen und Anfang Februar 1553 fonnte Anna den 
ſchmerzlich Entbehrten, den fie auf ein faliches Gerücht hin ſchon 
todt geglaubt hatte, wieder in ihre Arme jchließen. 

Die weitere Ausbildung Chrijtophs blieb in den Händen 
Wolfgang Leupolds. Nun aber trat ein, was Ddiejer gefürchtet 
hatte: der regelmäßige Unterricht, der Zwang des gebundenen 
Scülerlebens wollten dem Prinzen durchaus nicht mehr behagen, 
und als zu Michaelis 1553 Wolfgang Leupold das Rektorat an 
der neu gegründeten Domfjchule in Güſtrow übernahm und mit 
Chriftoph dorthin überjiedelte, da verlor er völlig die Herrichaft 
über ihn. Während die Mutter jid) darum jorgte, es fünne Chrijtoph 
zuviel Arbeit zugemuthet werden und Johann Albrecht bat, darauf 
zu Sehen, daß „er nicht jo viel und manderlei ſprache ftudiret, 
auf das er nicht aufs alter in aberwitze oder ander fantajei fommen 
muchte,“ klagte jein Lehrer, daß er nur geziwungen an die Arbeit 
gehe und bei ihr nicht aushalte. Auch religiöſer Beeinfluſſung 
zeigte er ſich unzugänglich; er weigerte jih das Abendmahl zu 
nehmen, veracdtete das Wort Gottes und war ein Meiſter im 
Sluden, Trinfen und anderen Untugenden. Sein Benehmen gegen 
Leupold, jobald diejfer ihn in Güte oder Strenge an feine Plicht 
erinnerte, war derart, daß Leupold ſich jchänte, näheres darüber 
zu berichten. Auch jtörte er die Disziplin der Domſchule. Wir 
hören von förmlichen Kämpfen zwiichen ihm, feinen Genoſſen und 
den Domjchülern. Anfang 1555 flagte er einmal, daß jeine 
Feinde, wohl die Domjhüler, ihn durch Hunger fajt hätten um: 
bringen wollen. Völlige Klarheit über dieje unerquidliche Lernzeit 
läßt ſich nicht gewinnen. Chrijtophs Bildung fann aber nad) 
allen diefen Andeutungen nur wenig gefördert worden jein. Seine 
Erziehung war nod lange nicht zu einem Abſchluß gelommen, 
als er dazu berufen wurde, jelbjt in der Welt eine Rolle zu jpielen. 

Im jechzehnten Jahrhundert herrichte faſt allenthalben im 
deutihen Reiche noch die privatrechtlide Auffaſſung der fürftlichen 
Gerehtjame vor. Nur langſam arbeitete ſich in Konkurrenz mit 
ihr die Anerkennung des öffentlicy-vechtlihen Charakters derjelben 
heraus. Die innere Geſchichte der deutichen Territorien ift überall 
duch dieſen Gegenjag beeinflußt. Nur die KurfürjtentHümer und 
einige größere Fürftenthümer waren durch Hausverträge und 


96 Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 


Primogeniturordnungen vor den enblojen, verderblihen Theilungen 
geihügt. Auh in Medlenburg war der Grundjag der leid): 
berechtigung aller männliden Erben nod in voller Geltung. 
Ganz von jelbjt aber fam man hier wie anderwärts zu einem 
Vorzugsreht der Welteren, insbejondere dann, wenn dieſe bei 
Unmündigfeit der Jüngeren eine zeitlang im vollen Befige der 
Gewalt gewejen waren. Die Intereſſen der zur Zeit Negierenden 
wie der Negierten lehnten ſich gleicherweile gegen die Landes— 
theilungen auf. Um jo fejter pflegten die jüngeren Prinzen des 
fürftlihen Haujes auf ihrem alten Recht zu beftehen. Dieje 
Gegenfäge zwiſchen den Bedürfniſſen der Landeswohlfahrt und 
den Geboten politiicher Klugheit einerjeits, dem formalen Fürſtenrecht 
andererjeits haben verhängnigvoll und tief in den Lebensgang 
Chriſtophs eingegriffen. 

Es gelang Johann Albreht nit, wie er Anfangs gehofft 
hatte, alleiniger regierender Yandesherr in Mecklenburg zu bleiben. 
Als nah dem Tode jeines Oheims Heinrid 1552 das ganze 
Land endlich wieder in einer Linie vereinigt war, forderte Herzog 
Ulrich feinen Theil und nad) dreijährigen ärgerlihen Händeln 
und Streitigfeiten mußte ih Johann Albredt 1555 zur Theilung 
der Aemter und Einkünfte mit Ulrich entichließen. Zugleich über: 
nahmen die beiden Brüder die Verſorgung ihrer jüngeren Geſchwiſter; 
Karl fiel auf Ulrihs Theil, Chrijtoph auf den Johann Albredts. 


Seinen Antheil wollte Johann Albredt nun unter allen 
Umftänden vor weiteren Theilungen bewahren; das fonnte aber 
nur geſchehen, wenn Chrijtoph auf feinen Anſpruch verzichtete, 
und das war wiederum nur möglid, wenn er anderweitig genügend 
verjorgt wurde. Wie die Verhältniſſe im deutſchen Reihe nun 
einmal lagen, muß es als ein Glück betrachtet werden, daß die 
Unzahl von geijtlihen FürftenthHümern und Prälaturen die Mittel zur 
Ausjtattung der jüngeren Prinzen boten. Es fann garnicht fraglich 
jein, daß ohne dieje ihrem eigentlichen Zwecke völlig entfremdeten 
Würden und Einnahmequellen jowohl die Zahl der Fehden wie die 
Zeriplitterung der deutſchen Gebiete einen noch viel größeren Umfang 
erreicht hätte. Gerade damals übten aber die geiftlihen Yürjten: 
thümer nocd eine verjtärfte Anziehungskraft. Wer ein jolches 
erwarb fonnte hoffen, es zu jeinem oder wenigſtens feines Hauſes 


Herzog Chriitoph von Medlenburg. 97 


erblichen Befigthum zu macden. Es war die Zeit der Säkula— 
tifirungen. Sie lagen gleihjam in der Luft. 

Schon jeit längerer zeit hatte Johann Albrecht eifrig unter 
den norddeutichen Bisthümern Umſchau gehalten. Napgeburg, 
Bremen, Lübel und die livländifchen Bisthümer jind im Laufe 
der Zeit in jeinen Gefichtsfreis getreten. In Schwerin verwaltete 
bereits Ulrich das Bilchofsamt. Da gelang es ihm, noch vor dem 
Theilungsvertrage mit Ulrih, i. 3. 1554 das Heine Bisthum 
Ratzeburg für Chrijtoph zu erwerben, das freilich reichsunmittelbar 
war, aber dod) als ein dem Lande Medlenburg eingeleibtes Land 
betradhtet wurde und in dem die Herzöge von Mecklenburg die 
Erhebung eines Schußgeldes jowie das Recht des Aufgebotes 
beanjprudten. Die Adminijtration übernahm vorläufig Johann 
Albredt für den unmündigen Bruder jelbjt und jeßte in der 
Hauptjtadt des Ländchens, Schönberg, einen Statthalter ein. 

Aber die Einfünfte aus dem unanjehnlichen, jtark verſchuldeten 
Bisthum Ratzeburg waren zu gering um als ausreidhendes Aequi— 
valent für den völligen Verzicht Chrijtophs auf jein väterliches 
Erbtheil in Medlenburg zu gelten. Johann Albredt brauchte 
für ihn nod ein zweites einträglicheres Stift und fand es in dem 
Erzbisthum Riga. 

Zohann Albrecht jtand jeit jeiner 1550 erfolgten Verlobung 
mit Anna Sophie, der Tochter des Herzogs Albrecht von Preußen, 
und vollends jeit dem glänzenden Hochzeitsfeite zu Wismar, 1555, 
zu jeinem Schwiegervater in einem Verhältniß intimer perjönlidyer 
Freundſchaft. Zwiſchen ihnen herrſchte rüdhaltlojes Vertrauen. 
Der bejahrte Herzog von Preußen betrachtete den jugendlidyen 
Diedienburger als einen eigentlihen Cohn, ala den Erben jeiner 
Pläne und Hoffnungen; die Intereſſen der Häuſer Mecklenburg 
und Brandenburg wurden furziweg als identijche behandelt. Der 
Bruder Herzog Albrechts, Markgraf Wilhelm, war Erzbiichof von 
Riga. Dieje verwandtichaftlihen Beziehungen jihlugen die Brüde 
von Diedlenburg nad den Ufern dev Düna. 

Die alt-livländiihe Staatsordnung*), eine SKonföderation 
mehrerer geijtlihen Staaten, der Bisthümer und des livländijchen 
Zweiges des deutjchen Ordens, hatte jid damals völlig überlebt 


*) Un Stelle des folgenden Abſchnittes enthielt der Vortrag eine aus: 
führliche Charakterijtif des alten Libland. 


98 Herzog Chriftoph von Medlenburg. 


und, jeitbem das Land ſich frühzeitig der evangeliihen Lehre 
zugewandt, jede innere Berechtigung verloren. Trogdem vermochte 
man in Folge der bejonderen inneren Berhältniffe in Livland und 
aus Furcht vor auswärtigen Verwidelungen, die jede Ver: 
fajjungsänderung zur Folge haben mußte, den Uebergang zu 
einer neuen Ordnung, d. 5. zum jäfularifirten monarchiſchen 
Einheitsjtaate, nicht zu finden. Nachdem der richtige Zeitpunkt 
für eine ſolche evolution verpaßt war, und nun die Be: 
gehrlichfeit der polniihen und ruſſiſchen Nadbarn die Zu: 
gehörigkeit Livlands zum deutſchen Reiche bedrohte und aud 
manche deutiche Fürjten den morjchen Ordensftaat als willfommene 
Beute zu betradhten anfingen, jchien es am zweckmäßigſten, Die 
Kataftrophe dadurd hinauszuichieben, daß man den doch unhaltbar 
gewordenen Zuſtand jo lange aufredjt erhielt, als es eben ging. 
Ganz bejonders fürdtete man ſich aber vor den Umtrieben des 
Erzbiihofs von Riga, Markgrafen Wilhelm, und feines Bruders, 
des preußiichen Herzogs, die, mit König Sigismund Il. Auguſt 
von Polen nahe verwandt, eine polenfreundfiche Partei organifirten 
und nicht abgeneigt waren, Livland ebenjo wie Preußen vom 
Reiche zu löjen und es mit polnilcher Hilfe gleichfalls zu einem 
erblichen brandenburgifchen Fürftenthbum zu machen. Um fich vor 
ähnlichen Anjchlägen zu ſchützen war 1546 durd den gemeinfamen 
livländischen Landtag zu Wolmar bejchlojien worden, daß fein 
Fürft ohne Zuftimmung aller übrigen Herren und Stände zum 
Bilhof oder Koadjutor gewählt werden dürfe. Auch Erzbiichof 
Wilhelm hatte diejes Geſetz unterzeichnet und beſchworen. Troßdem 
nahm er num die alten Pläne wieder auf, als er Chriftoph ins 
Land rief. Er war mittlerweile alt geworden; förperlid hinfällig 
hatte er den Gedanken eine eigene Familie zu gründen auf: 
gegeben; aber jeiner Sippe wollte er dus reihe Erzitift erhalten 
und da er, im Lande unbeliebt und rings von Feinden umgeben, 
nad einer jugendfräftigen Stüge für jeine alten Tage juchte, jo 
lag der Gedanfe nahe genug, Sich einen Prinzen aus dem eng 
verbundenen medlenburgiichen Haufe zum Koadjutor und Nachfolger 
zu bejtellen. Es war far, daß der Ordensmeilter als mächtigſter 
Stand und darum energiicheiter Vertreter der Unabhängigfeit 
Livlands opponiren, ja einen MWaffengang nicht jcheuen würde. 
Die verbündeten brandenburgiihen und medlenburgiihen Fürften 


Herzog Chrijtoph von Medlenburg. 99 


verficherten ſich aber der jehr eigennügigen Hilfe des Königs 
von Polen und gingen troß aller Bedenken ans Werk. 

Uebrigens war der Gedanke, einen mecklenburgiſchen Fürſten 
in Livland mit Land und Leuten auszuftatten, nicht neu. Daß 
ein Graf von Edwerin thätigen Antheil an der Eroberung 
Livlands genommen und ein anderer ſchon Erzbijchof von Riga 
gewejen war, mochte wohl ſchon halb vergejlen fein. Aber nod) 
Chrijtophs Vater, Albrecht der Schöne, hatte merfwürdige Abfichten 
auf Yivland gehabt, jelbit, als er jchon vegierender Herzog war, 
für jeine Perfon an die Meijterwürde gedacht und dann jeinen 
ältejten Sohn Johann Albrecht zum Koadjutor des Ordensmeijters 
oder des Erzbiihofs machen wollen; für diefe Pläne hatte er 
fogar die diplomatische Unterſtützung des Kaiſers erbeten und 
erhalten. Wie er fi das nun auch im Einzelnen zurecht gelegt 
haben mag, die Livländer beantworteten eben dieje Bewerbungen 
mit dem Molmarjchen Nezeß von 1546, der allen ähnlichen Ber: 
juchen der deutſchen Fürjten einen Riegel vorichieben jollte. 

Schon zu Beginn bes Jahres 1554, aljo noch vor der 
Erwerbung Rapeburgs für Chrijftoph, waren die Verhandlungen 
zwiſchen Johann Albrecht, Albreht und Wilhelm wegen ber 
Annahme Chrijtophs zum Koadjutor in Riga in vollem Gange. 
Sie wurden geheim betrieben, um die libländiſchen Stände durd 
die fertige Thatjahe zu überraihen. Aber der große Apparat 
von Verwendungs: und Empfehlungsjchreiben für Chriftoph, welche 
vom Sailer, von Königen, Kurfürften und Fürſten, ſelbſt von 
Kardinälen erbeten wurden, machte eine völlige Geheimhaltung 
des Planes unmöglid. Der Ordensmeilter Philipp von Galen 
erfuhr von ihm und eine lebhafte Beunrubigung ergriff das Land. 
Der Orden traf jeine Gegenmaßregeln und je länger fich Die 
Entiheidung binzog, um jo entichloffener jchien der Orden au 
jein, jeder Vergewaltigung des Landesrehts einen entichiedenen 
MWiderjtand entgegenzufegen. Dan hatte in Livland den Eindrud, 
einer weit verzweigten Verſchwörung gegenüber zu jtehen. 

Da war es denn für die verbündeten Fürjten von unſchätz— 
barem Werthe, daß der König von Polen entichlojlen ihre Sache 
zu der feinen madte. Das Konjtanzer Konzil hatte einjt den 
Großfürften von Littauen und eine Anzahl anderer Fürften zu 
Koniervatoren des Erzitifts ernannt. Daß mit diejem Titel irgend 


100 Herzog Ehriftoph von Medlenburg. 


welche bejtimmten Befugniſſe verbunden jeien, war noch von 
Niemand behauptet worden. Jetzt aber war der König von Polen 
bereit zu erklären, daß der Wolmarjche Rezeß nichtig jei, weil er 
die freie Wahl im Erzjtifte beeinträchtige und eine ſolche Bejtimmung 
nothiwendig der Bejtätigung durd die Konjervatoren bedürfe. Er 
erklärte ferner, von jich aus als Konfervator die Wahl Chriſtophs 
zum Koadjutor dem Domkapitel empfehlen und jeine gejammte 
Kriegsmacht für die einjegen zu wollen. Die Mehrheit des Dom: 
fapitels und die einflußreichſten Stiftsräthe waren, durch Wer: 
Iprehungen und medlenburgiiches Geld gewonnen, bereit Chrijtoph 
zu wählen, wenn jie nur vor der Rache des Ordens fidher jein 
fonnten und für ihre Perſon nichts zu fürdten braudten. Der 
Erzbiichof hätte Chrijtopy am liebjten ſchon ım Sommer 1554 
bei jich gejehen, ehe jeine Pläne ruchbar wurden. Uber erjt im 
Herbjt 1555 waren alle entgegenjtehenden Schwierigfeiten geebnet, 
jodaß er nad Livland aufbrechen konnte. 

Es ijt begreiflich, daß die Herzogin Anna jeit der Entführung 
Chriſtophs nad Paris von einem unüberwindliden Miktrauen 
gegen ihren ältejten Sohn erfüllt war. Obgleich ihr Johann Albrecht 
das bündige Verjprechen gegeben hatte, daß er Chrijtoph in feinem 
Falle ohne ihre Zuftimmung aus Medlenburg entfernen werde, 
jo war jie doch in bejtändiger Furcht, daß er ihr plötzlich entriffen 
werden fünne; es fehlte nicht an allerlei ZJuträgereien und Gerüchten, 
denen fie nur allzu willig ihr Ohr lieh, ſodaß das Verhältniß 
von Mutter und Sohn jo Ichleht wie nur möglid war. Für 
Chriſtoph aber wurde es verhängnikvoll, daß die Mutter unbedenklich) 
die Heime des Argwohns und der Abneigung gegen den älteren 
Bruder und VBormund in feine Seele pflanzte. Sie lehrte ihn 
Johann Albrecht als eigennügigen, gewifjenlojen und Llieblojen 
Mann, ſich jelbjt Hingegen als das bedauernswerthe Opfer 
brüderlicher Intriguen und Schlechtigkeiten betrachten. Sorgfültig 
vermied jie es in Chrijtoph einen wahrhaft fürjtlichen, thatenfrohen 
Ehrgeiz anzuregen; dagegen jchmeichelte ſie jeiner Eitelkeit und 
Selbjtliebe, indem ſie ihn zu übertriebener Werthichägung jeines 
fürftlihen Ranges und Standes erjog. Im Mlittelpunfte jeiner 
Intereijen jtand ihm fein „fürjtlicher Leib,“ der in erjter Linie 
Pflege und Berüdjichtigung erheijchte. 

Dan kann fi leicht vorjtellen, daß die Herzogin den liv- 


Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 101 


ländiſchen Plänen Johann Albrechts den allerheftigiten Widerjtand 
entgegenießte und dab es einen ſchweren Kampf foftete, bis fie, 
von allen Seiten gedrängt und in der Vorausjegung, daß Chrijtoph 
gleih nad erfolgter Wahl wieder heimfehren fönne, ihre Aus 
ftimmung gab (Auguſt 1555). Nun aber galt es nod) dasjenige 
zu erreichen, worauf es Johann Albredt vor allem anfam und 
um deſſen willen er fih hauptiählid in das livländiiche Abenteuer 
ftürzte, — die MVerzichtleiftung Chriſtophs auf jein väterliches 
Erbtheil in Medlenburg, von der die Frau Mutter erjt vecht 
nichts willen wollte. Es jcheint nun, dat Johann Albrecht jeinen 
Zweck jchließlih auf eine nicht ganz einwandfreie Art erreichte. 
Er ſchenkte dem leichtjinnigen Knaben, der bisher nicht viel Geld 
in der Hand gehabt haben mochte, ein rothes Sammetjädlein mit 
300 blanfen Goldgulden und einen jchönen neuen Petichierring, 
und die Freude über den Befiß einer jo großen Summe vermochte 
den Unbejonnenen dazu, den Gebrauch des Petſchafts mit der Unter: 
fiegelung der Nenunziationsurfunde zu eröffnen. So hat wenigitens 
Chriſtoph ipäter an Eides Statt ausgejagt, und unterm Eide bezeugten 
es mehrere Männer, daß die Herzogin Anna ihnen diejen Sachverhalt 
fo mitgetheilt habe. Stets haben Anna und Chriftoph darüber 
geklagt, dab Johann Albrecht in unwürdiger Weiſe die Verzicht: 
leijtung feines Bruders und Mündels erihlichen habe. Wie dem 
aud jein mag, Johann Albrecht handelte in feinem, feines Landes 
und aud wohl jeines Bruders nterejje. Die Verzichtleiftung 
jollte gelten, wenn es gelinge, das Erzſtift Niga für Chriftoph zu 
gewinnen und für ihn zu behaupten. Sie ijt jpäter wiederholt 
vom Kaiſer bejtätigt worden. 

Drei Tage nad) der VBerzichtleijtung, am 17. September 1555, 
machte ſich Chriftoph von einigen mecklenburgiſchen Näthen begleitet 
auf den Weg. In Königsberg wurde längere Rajt gehalten und 
mit Herzog Albrecht gerathichlagt. Ein von dieſem ausgefuchter 
preußiiher Paſtor ſchloß ſich als Chriftophs Präzeptor und Hof: 
prediger der Reijegejellichaft an. Dann irrte man längere Zeit 
in den Wäldern und Sümpfen Littauens umher, um den Spähern 
des Ordens zu entgehen, und langte endlid, nad einem jcharfen 
zehnjtündigen Witte durch das dazwiſchen liegende Ordensgebiet 
unbehelligt vor Kofenhujen, der Nejidenz des Erzbiſchofs, an, der 
mit einem Gefolge von 150 Reitern jeinen fürftlichen Gajt feierlich 


102 Herzog Chriftoph von Medlenburg. 


einholte. Sofort begannen die Verhandlungen mit einem Ausſchuſſe 
der Stiftsräthe und Kapitelherren. Es gelang fie zu dem Ber: 
Ipredhen zu bewegen, die Wahl Chriftophs auch gegen den Wider: 
ſpruch des Ordens vorzunehmen. Bald darauf traf ein polnijcher 
Geſandter, Lantzki, ein, der den Schuß des Königs verhieß und 
gegen den Orden eine drohende Sprade führte. Aber es gelang 
nicht, dieſen einzuſchüchtern. Auf die Eröffnung Lantzki's, daß der 
König die Wahl Chrijtophs wünſche und daß der Wolmarſche 
Nezeß von 1546, weil nichtig, garnicht in Frage fomme, erflärte 
der Orbensmeilter, daß er die Angelegenheit einem allgemeinen 
Landtage unterbreiten müſſe. Vergebens gab ſich Lantzki Die 
größte Mühe, den Ordensmeilter Galen umzuftimmen, vergebens 
ftrih er auf dem Ordensfonvent zu Wenden im Januar 1556 
Chrijtoph jo heraus, „als immer ein jchöner junger Freyer einer 
hübjchen zarten jungjrauen fan und mag bdejcribiret, gelobet und 
mit jeinen vedten und artigen farben ausgejtriehen werden.“ 
In hellem Zorn, geiteigert durd einen perjönlichen Konflikt mit 
dem Ordensmeijter, verließ der Gejandte das Land. Der Orden 
aber ließ jofort durch jeinen Komtur Gotthard Kettler in Nord: 
deutichland jo umfallende Nüftungen und Truppenwerbungen vor: 
nehmen, daß Johann Albredht für Medlenburg zu fürdten begann 
und wiederholt daran dachte diefen Dann, der jpäter jein Schwager 
werden jollte, niederwerfen zu lajlen und gefangen zu nehmen. 
Mittlerweile wurde Chriftoph zu Lemjal Ende Januar 1556 
wirflid zum Koadjutor des Erzbiſchofs gemählt und erhielt drei 
jtattliche Nemter Treiden, Smilten und Pebalg für feinen Unterhalt 
angewiejen. Alles fam nun auf den Landtag an, der im März 
zu Wolmar zufammentrat. Bier zeigte es fi, daß der Orden 
die Situation volltommen beherrſchte. Aud die Städte und 
anderen Bijchöfe jtanden freiwillig oder gezwungen zu ihm. Nun 
wollte man wohl, um einer friegeriichen VBerwidelung mit Polen 
aus dem Wege zu gehen, fi) die Wahl Chrijtophs gefallen lafien, 
aber nur unter Bedingungen, welche die ausdrüdlicdye Anerfennung 
des Wolmarſchen Rezeſſes und den Verzicht auf jede Säfularijation 
und jede weitere Ausbreitung der medlenburgiich-brandenburgijchen 
Macht in Livland in fih ſchloſſen. Da der Erzbilchof Diele 
Bedingungen im Vertrauen auf die polnische Hilfe ablehnte, jo 
erklärten feine Gegner die ungejeglihe Wahl Chriftophs für 


Herzog Chriftoph von Medlenburg. 103 


Landfriedensbruch. Es mar Mar, daß fein Erjcheinen im Lande 
den Bürgerfrieg entzünden mußte. 

Wie eine Kriegserflärung wirkte es, da während beilelben 
Landtages von den Drdensgebietigern in tumultuariicher Weile 
dem altersfhwachen Galen der als befonders energiih und polen- 
feindlich befannte Komtur Wilhelm von Fürjtenberg als Koadjutor 
zur Seite gelebt wurde. Als darauf Schreiben des Erzbifchofs 
aufgefangen mwurden, melche den unzweidentigen Beweis lieferten, 
daß er polnifche und preußiiche Truppen ins Land rufe und fie 
demnädjt erwarte, da jchlug der Orden los. Cr war mit feinen 
Rüftungen fertig. Ueber Lübeck waren zahlreiche deutiche Anechte 
nah Livland eingeichifft worden. Die zu einem neuen Landtage 
verjammelten Stände ſchickten dem Erzbiſchof ihren Nbjagebrief 
und ftellten ihre Aufgebote dem Drdensmeilter zur Verfügung. 
Der Roadjutor Fürjtenberg, der den Oberbefehl übernahm, handelte 
entichloffen und mit Umficht. Bald war das ganze Erzitift bejeßt, 
die erzbilhöflichen Schlöffer mußten fich ergeben und am 29. Juni 
erichien das Ordensheer vor Kofenhufen, wo Wilhelm und Chriftoph 
mwehrlos und von aller Verbindung mit der Außenwelt abgeichnitten 
faken. Selbit das Domkapitel und die erzitiftiiche Nitterichaft 
hatten fie im Stich gelalfen, ihnen den Eid gefündigt, nachdem 
der Drdensmeilter, in deilen Gewalt fie doch waren, ihnen Mit- 
theilung von der landesverrätheriichen Korreipondenz des Erzbiſchofs 
gemacht hatte. 

Chriftoph war während dieſer ganzen Zeit in feiner Weile 
hervorgetreten. Kür ihn hatten die bevollmächtigten Näthe jeines 
Bruders und Vormundes gehandelt. Sehr zufrieden äußerten fie 
fih über fein Benehmen nit. Sie klagten, daß er hitzigen 
Getränken mie Musfateller und Meth im Uebermaße zuipreche, 
daß es mit den Studien, die in Livland fortgelett werden follten, 
garnicht gehen wolle, woran allerdings auch die Unruhe und der 
unaufhörliche Ortswechſel ſchuld ſeien, und veranlaßten Johann 
Albrecht, ihm ernit ins Gewiſſen zu reden. Der preußiiche Pfarrer 
Junghenlein verließ Chriftoph in dieſer Zeit wieder und jchilderte 
die Sittenverderbniß der Livländer in den grelliten Farben und 
ftärfiten Ausdrüden. Seinem Bericht zufolge war Chriftoph fort: 
während den ärgiten VBerjuchungen ausgelegt, jo daß fein Seelenheil 
in Gefahr jtand. Junghenlein bat den Herzog von Preußen er 


104 Herzog Chriftoph von Medlenburg. 


wolle, „darob fein, damit das junge edle bluth“ mit geeigneten 
Leuten umgeben werde, welche „der Gotteslejterung, Ichlemmen 
und fauffen, dabeneben der hurerey und unzucht feint ſeyn, ... 
auff das der [oblihe und hochgeborne fürjt mit den jodomitischen 
leuten berer lande ... nicht dahin gehe.“ So werden mir denn 
nicht zweifeln dürfen, dab Chriftoph vielfach auf Abwege gerieth. 
Mehr als die männlidhen Ermahnungen des Bruders, ſich eines 
ehrbaren, nüchternen und fürjtlihen Wandels zu befleißigen und 
die Zeit, jtatt dem Spielen und Saufen, dem studio zu widmen, 
mochten ihm die Briefe der rau Mutter gefallen, die ihre Sorge 
um fein förperliches Wohl betonte und ihn unummwunden auf: 
forderte, dem gefährlichen Lande lieber den Nüden zu fehren. 
Noch ehe das Drdensheer vor Kofenhujen erichien, hatte 
der Erzbiichof bereits jeine Unterthanen ihres Eides entbunden 
und felbjt auf jeine Würde zu Gunſten des Domfapitels verzichtet. 
Co hoffte er ſich leichter jalviren zu fönnen und die Erlaubniß 
zur Abreife nad) Deutichland zu erhalten. Auch Chrijtoph hatte 
um letztere nachgeſucht. An Widerſtand dachten fie nicht mehr. 
Sept wurde Chrijtopp am 29. Juni ins Lager des Koadjutors 
Sürftenberg befohlen und ihm eröffnet, daß man ihn für Die 
Thaten des Erzbiſchofs nicht verantwortlid) machen wolle und ihm 
auch gar feine Schuld beimejje; die Abreife aber fönne man ihm 
nur gejtatten, wenn er mit feiner Ehre dafür einjtehe, daß meder 
von preußiicher noch von polnischer Seite ein Angriff auf den 
Orden erfolgen werde. Chriltoph, der ohne Begleitung feiner 
Räthe im feindlichen Lager geweſen zu fein ſcheint, meigerte ſich 
dejlen, worauf ihm bedeutet wurde, er müſſe ſich dann ſofort auf 
ein Ordensichloß verfügen. Schließlich wurde ihm eine Friſt bis 
zum anderen Morgen bewilligt. Als er am 30. mieder vor 
Fürftenberg erichien, war eine Einladung für ihn nad) der Ordens- 
reſidenz Wenden eingetrofien. Dorthin brach er von hundert 
Reitern ehrenvoll esfortirt auf, mährend der Erzbiſchof ſich 
bedingungslos ergab und nad) Adſel, ſpäter nah Smilten, zu 
harter Haft abgeführt wurde. Der Orden übernahm die Ver: 
waltung des Erzitifts. In Wenden lebte Chriſtoph acht Tage 
als Gaſt des Ordensmeilters. Auf die flehentlichen Bitten der 
erzitiftiichen Stände, die in jteter Angſt vor dem mäd)tigen Orden 
Ichwebten, entjagte er dann auch jeiner Würde als Koadjutor und 


Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 105 


wurde fürftlich befchenft auf fein Schloß Treiden entlaffen. Hier 
jollte er fih fo lange aufhalten, bis Polen und Preußen allen 
friegeriichen Abfichten entjagt haben würden. Für feinen Unterhalt 
beftimmte der Ordensmeijter jetzt die vier Nemter Treiden, Zemjal, 
Salis und Wainfel, die Chriftoph auch in der Folgezeit an Stelle 
der früheren drei behalten hat. 

Das energische Vorgehen des Ordens entiwaffnete zeitweilig 
feine Gegner, die mit ihren Rüftungen noch jehr im Rückſtande 
mwaren. König Sigismund Auguſt hatte ſich getäufcht, wenn er 
glaubte, feine Drohungen würden genügen, um den Orden gefügig 
zu machen. Gemwohnt durch eine fchleichende, lauernde Politik zu 
feinem Ziele zu fommen, jcheute er zunächſt vor friegeriichem Ein- 
greifen zurück; er berief fi) darauf, daß er das Leben der Gefangenen 
dur einen Angriff auf Livland gefährden könne und ging bereit: 
willig auf friedliche Verhandlungen ein. Alle Bemühungen Johann 
Albredhts und des Herzogs von Preußen, den ihnen widerfahrenen 
Schimpf durd einen Krieg in großem Stil zu rächen, für den fie 
unausgejegt und mit vielen Koſten rüfteten, jcheiterten an der 
Thateniheu der Polen. Allerdings wurden die polnischen Nüftungen 
fortgeießt und der Gedanfe an Krieg nicht völlig aufgegeben, der 
polniiche Reichötag bemilligte auch die Mittel für denjelben; aber 
zunächſt wollte man die Befreiung und Rejtitution mit glimpflichen 
Mitteln verjuchen. 

Die Vorgänge in Livland hatten allerwärts großes Aufiehen 
erregt. Die Diplomatie des ganzen europäiſchen Nordens und 
Dftens bejchäftigte jich mit ihnen und war eifrig bemüht den 
Frieden aufrecht zu erhalten. Pommerſche, dänische und faiferliche 
Gelandte erichienen nacheinander in Livland und fuchten Die 
Reititution der beiden Fürjten in einer allen Betheiligten an- 
nehmbaren Weile herbeizuführen. Langſam und ohne Enticheidung 
zogen fich die jchleppenden Unterhandlungen bis in den Frühling 
1557 hin. Da jtarb der Ordensmeilter Galen und jein Nad)- 
folger wurde der Bolenfeind Wilhelm Fürjtenberg, der bisherige 
Koadjutor. Jet aber hatten ſich die Verhältniſſe jehr zu Ungunjten 
des Ordens verjchoben. Die polnischen Rüftungen waren beendet 
und ein Krieg mit dem Mosfowiter jtand vor der Thür. Nun 
Ichritt Sigismund Auguft zur That. Er felbit erichien mit einem 
Heere von 80,000 Diann, deijen glänzenden Anblid und vor: 


106 Herzog Chriftoph von Medlenburg. 


trefflihe NAusrüftung Johann Albrechts Geſandter im polnifhen 
Lager nicht genug rühmen konnte, an der livländiichen Grenze. 
Im Angefichte diefer Uebermaht und der Gefahr, welche von 
Moskau drohte, entſank Fürftenberg der Muth. Unter Vermittelung 
ber Failerlihen Gefandten fam im September 1557 ber Friede 
von Poswol zu Stande. Der Ordensmeifter that einen Fußfall 
vor dem Könige und mußte die vollftändige Reftitution des Erz— 
biihofs Wilhelm und feines Koadjutors Chriſtoph zugeitehen. 
Darauf erjchienen beide Kürjten im polniichen Lager und reichten 
dem Drbensmeilter im Zelte des Königs als Zeihen der Ber- 
föhnung die Hand. Geinem Schüßling Chriftoph aber ließ der 
König bedeuten, daß von nun ab Ergebenheit gegen Polen die 
Richtſchnur feines Handelns zu bilden habe. 

Dieſes Ergebniß, die einfahe Nejtitution, entſprach aber 
nun feineswegs den hochgeipannten Erwartungen Herzog Johann 
Albrehts und feines Schwiegervaters. Nicht nur blieben Wilhelm 
und Chriftoph nad) wie vor verpflichtet, Feine Säfularifation vor: 
zunehmen, fondern der Orden brauchte nicht einmal eine Kriegs: 
entfhädigung zu zahlen, und doch hatte Albrecht 600,000 Gulden, 
Johann Albrecht über 100,000 für Nüftungen verausgabt. Vollends 
von der erträumten Croberung Livlands und der völligen Be— 
jeitigung der Ordensmadt, welche dem Anjcheine nad doch im 
Bereiche der Möglichkeit gelegen hatten, fonnte nun für lange Zeit 
feine Rede mehr fein. Die deutfchen Bundesgenofjen Sigismund 
Augufts waren empört; dieſe Nachgiebigfeit gegenüber der ordens— 
freundlihen Wermittelungsthätigfeit der faiferlihen Geſandten 
erſchien ihnen völlig unbegreiflich, wo doch der König den Trieben 
nad) feinem Ermeſſen hätte diftiren fönnen. 

Sigismund Auguft aber hatte eben nicht medlenburgifche 
oder brandenburgiiche, Tondern polnische Politik getrieben und 
feinen Vortheil in einer ganz anderen Richtung gejucht und 
gefunden. Gleichzeitig mit dem riedensvertrage mußten nämlich 
die livländiihen Stände mit Littauen ein Schub: und Trutz— 
bündniß gegen Rußland eingehen. Für beide Theile ſollte dajjelbe 
erit in Kraft treten, wenn ihre mehrjährigen Friedensverträge mit 
Rußland abgelaufen ſeien. Da aber die Livländer in ihrem letzten 
Friedensihluß mit Rußland fich verpflichtet hatten, ſich niemals 
mit dem Könige zu verbünden, jo wurden fie nun zu einem 


Herzog Ehriftoph von Medlenburg. 107 


elenden Vertragsbruch genöthigt. Griff fie der Zar nach diefer 
Herausforderung an, To ftanden fie ihm jchußlos gegenüber, meil 
der polnisch = ruffiiche Friede noch nicht abgelaufen war, und 
mußten die Hilfe ihres Bundesgenoffen um einen neuen Preis 
erfaufen, den dieſer jelbjt bejtimmen konnte. 

Die Polen hatten vollflommen richtig falfulirt. Wenige Monate 
nad) den Poswoler Verträgen, im Januar 1558, brach mit dem Einfall 
der Rufen das Unwetter über Livland herein, das das Land in 
Stüde fchlagen ſollte. Was folgte, it befannt*). Ich hebe nur die 
michtigiten Thatſachen hervor. Das Land, zu nachhaltigem Wider: 
ftande unfähig, mußte ſich einer auswärtigen Schutzmacht anver: 
trauen. Alle Nachbarn, das beutiche Neid, Schweden, Dänemarf 
und Polen wurden um Hilfe angegangen, ein einmüthiges Vor: 
gehen jedoch durch die Uneinigfeit und die Sonderinterefien ber 
Landesherren unmöglich gemadt. Dede Oſtſeemacht ſuchte aus 
dem Zuſammenbruche Livlands Vortheil zu ziehen und ein Stüd 
Landes zu gewinnen. Nach den erjten entjeglichen Verheerungen 
verfprah der König von Polen dem Erzbiſchof und dem neuen 
Orbensmeijter Gotthard Kettler Hilfe gegen Abtretung umfänglicher 
an Littauen grenzender Gebiete. Die Gebiete erhielt er; zuchtlofe 
polniſche Bejagungen füllten die fejten Schlöffer; die Hilfe blieb 
aber aus. Die polnische Politik war auf mühelofe Erwerbung 
ganz Livlands gerichtet; man wollte darum dajjelbe allmählich 
militäriſch bejegen, die Noth durch die unaufhörlichen Einfälle der 
Ruſſen bis aufs Aeußerſte fteigen laſſen und dann die Herrichaft 
über die verzweifelten Bewohner bedingungslos antreten. Für 
diefe Politif fand der König einen Bundesgenojjen in dem hoch— 
begabten, ehrgeizigen aber jErupellojen Ordensmeilter Kettler, der 
die Rolle eines AZutreibers für Polen jpielte, in der Hoffnung 
dereinit als polnischer Vaſall der weltlichen Fürft über die ge- 
fammten Livlande zu werden. Die Polen begingen aber doch den 
Fehler mit der wirklichen Hilfleiftung zu lange zu zögern. So 
fam es, daß einzelne Landestheile ſich nad) anderer Hilfe umfahen, 
und die Zerftüdelung Livlands begann. Das nördliche Livland, 
etwa das heutige Gouvernement Ehjtland, huldigte dem Könige 
Erid XIV. von Schweden, die Bisthümer Defel und Kurland 


*) Das Folgende war im Vortrage ausführlicher behandelt. 


108 Herzog Chriſtoph von Mecklenburg. 


gewann der Herzog Magnus von Holftein, der Bruder des Königs 
Friedrichs II. von Dänemarf, und diefe Gebiete fonnten nun als 
dänischer Befis gelten, das Bisthum Dorpat war in den Händen 
der Ruſſen. So blieb für Polen nur das Ordensgebiet in Kurland 
und im eigentlichen Livland, ſowie das Erzbisthum Niga übrig. 
Der Orbensmeifter und der Erzbilhof unterwarfen fi nad) langen 
Verhandlungen zu Wilna Ende 1561 und Anfang 1562 dem 
Könige von Polen. Gotthard Kettler wurde nad der Auflöfung 
des Ordens als polnischer Vaſall Herzog von Kurland und 
Gubernator des übrigen Livlands. Das Erzbistum blieb zwar 
beitehen; doch mußten der Erzbiichof und feine Stände, Kapitel 
und NRitterfchaft, dem Könige huldigen. Nur die Stadt Riga 
verweigerte die Anerfennung der polnischen Herrichaft, hielt feit 
an der Verbindung mit Haifer und Reich und wußte diefe Sonder: 
ftellung noch zwanzig Jahre hindurdy zu behaupten. Die erhofite 
Ruhe trat aber feineswegs ein. Vielmehr fam es zmwilchen den 
betheiligten Mächten nunmehr zu einem zwanzigjährigen Kriege 
um den Beſitz ganz Livlands und damit um die Normadtitellung 
an der Oſtſee. Wer hier den Sieg gewann, wurde die Großmacht 
des europäilchen Nordojtens. Es mar der erite jener vier großen 
nordiihen Kriege, welche bis zu dem endlichen Siege Peters des 
Großen immer diejelben Mächte auf den Plan riefen: Polen, 
Schweden, Dänemark und Rußland. In dem Mtosfomwiter jahen 
alle den Erbfeind chriftlihen Namens. Todfeindichaft beftand 
zwiichen Polen und Schweden. Dänemark aber ſchloß fih Polen 
an. Während Polen und Ruſſen fich vorzugsmweile in den 
fittauifchen Grenzgebieten herumfchlugen, maßen Schweden, Dänen 
und Polen auf dem furchtbar verheerten livländiichen Boden ihre 
Kräfte. Gleichzeitig führten Schweden und Dünemarf zur See 
und zu Lande einen verlujtvollen aber enticheidungslofen fieben- 
jährigen Krieg von 1563-1570, in dem zum letten Male die 
deutihe Hanſa als jelbjtändiger Machtfaktor, wenn aud nur 
zweiten Ranges, thätig war. Erjt 1582 entfchied es fid, daß 
Ehjtland ſchwediſch, das ganze heutige Livland polniſch wurde, die 
Inſel Oeſel dagegen däniſch blieb. Das ift der große politiiche 
Hintergrund für das Lebensbild Herzog Chriftophs. 

Bald nad) dem Frieden von Poswal war er in aller Form 
zum zweiten Diale zum Koadjutor gewählt worden. Er galt nun 


Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 109 


als einer der Herren des Landes; die erzbifchöflichen Regierungsafte 
wurden in des Erzbiichofs und feinem Namen ausgefertigt und in 
den Koadjutoreiämtern übte er eine beichränfte Landeshoheit. Aber 
da der Umfang feiner Rechte weder durch Geſetz noch durch Der: 
fommen genauer begrenzt war, jo blieb feine Stellung im Ganzen 
doch eine unflare und unbeftimmte. Um jo mehr fam darauf an, 
wieviel er jelbit aus ihr machen werde. Es gab body nicht wenige, 
welche auf den jungen Fürften im Gegenſatz zum alten jchlaffen 
Erzbiichof große Doffnungen festen. 

Mie eritaunlich gering aber das Pflichtgefühl der livländiſchen 
Landesherren damals war, zeigt der Umſtand, dak Chriftoph faft 
gleichzeitig mit dem erjten Ruſſeneinfall, im Januar 1558, und 
zwar mit Zuftimmung des Erzbiichofs, Livland verließ. Nicht 
etwa aus Feigheit. Er wollte zur Mutter, feine Heimath mieder: 
fehen, fih von den Aufregungen und Anjtrengungen bes liv— 
ländiichen Yebens erholen. Vergebens mahnte ihn Johann Albrecht 
zu jchleuniger Nüdfehr; der Erzbiihof und Herzog Albrecht ließen 
fih in immer dringenderen Schreiben ebenjo vernehmen. Chriſtoph 
mar Anfangs willig, den Geboten der Ehre und der Klugheit zu 
folgen; unheilvoll erwies jich jedoch wieder der mütterliche Einfluß. 
Anna wußte ihn ein ganzes Jahr zurüdzuhalten, jo dab er nur 
müjfiger Zujhauer der Verwüſtung und ber folgenjchweren 
Ereigniſſe in Livland war. Je länger er aber blieb, um jo 
geipannter wurde jein Verhältniß zu Johann Albrecht, zumal er 
ohne Rückſicht auf die Verzichtleiftung jeine Aniprüdhe auf den 
vierten Theil Mecklenburgs erneuerte. Erſt Ende 1558 brad) 
er mit einem neu gebildeten Hofitaat und 200 wohlgerüjteten 
Reitern, deren Bejoldung Johann Albrecht auf ein halbes Jahr 
übernahm, nad Livland auf. Er wurde ſehnlichſt erwartet. Eben 
mwaren 130,000 Ruſſen ins Land gefallen, hatten einige Tage 
bei Riga geheert und überall den größten Schreden verbreitet. 
Ein Theil zog Fi im Februar 1559 wieder zurüd, ein anderer brad) 
in Rurland ein. Da verbreitete jid das Gerücht, daß Chriftoph 
mit einigen QTaufend deutſcher Truppen im Anzuge jei. Nun 
räumten die Rufen eilig das Land und Chriftoph gelangte 
ungehindert nad Riga und in feine verheerten Nemter. Erſchüttert 
fchrieb er beim Anblid der Spuren ruſſiſcher Wildheit, die fich 


2* 


110 Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 


auf einer acht Meilen langen Strede zeigten: „Gott wolle fold 
greulihen Sammer menden.” 

Hatte Livland von vornherein, auch zur Zeit feiner materiellen 
Blüthe, für Chriftoph wenig Neiz gehabt, fo ſchien es ihm jeßt, 
nachdem er noch ſoeben die Ruhe und Behäbigfeit des medlen- 
burgifchen Lebens gefoftet, ganz unerträglich zu fein. Parteiungen, 
Feindſchaften und Gefahren aller Orten; die Nondjutoreiämter 
vermüjtet und in ihren Einnahmen fehr erheblich reduzirt; dazu 
fein fürftfiher Stand in. diefer alten Domäne bes kleinen Adels 
wenig reipeftirt, — das alles wurde unter dem Gefichtspunft 
betrachtet, ven ihn feine Mutter gelehrt, daß er aus Mecklenburg 
durd) das Uebelwollen und die Habſucht des Bruders ins Elend 
verftoßen fei. 

Kaum war er in Livland angelangt, jo erhielt er fajt gleich 
zeitig von Erzbifchof Wilhelm und Herzog Albrecht die Mittheilung, 
dab die Herzogin Anna, im Begriff ſich heimlih in Begleitung 
ihres Sohnes Karl nad) Livland durchzuſchleichen, an der preußiichen 
Grenze in Memel erfannt und aufgehalten worden ſei, und daß 
der Herzog nicht gemillt jei, ihr die Erlaubniß zur Weiterreife zu 
geben. Die Meldung enthielt für Chriftoph nichts Ueberrafchendes. 
Bei der Abreife von Medlenburg war vereinbart worden, daß 
Anna Sobald als möglich ihrem Liebling folgen ſollte. Wohl 
mußten beide, welche Bedenfen einem jolden Beſuche im Wege 
ftanden: dab er durhaus gegen den Willen ihrer nächſten An- 
gehörigen lief, daß der Aufenthalt in Livland gefährlich fei, zumal 
für eine ältere, fränflihe Fürstin, daß eine Dame von Stand an 
den zoelibatären und deshalb um jo zuchtloferen geiftlichen 
Fürftenhöfen Livlands eine unerhörte Erſcheinung jei und ihr 
Beſuch allen Widerfachern eine unübertrefflihe Gelegenheit zu 
Spöttereien und Verunglimpfungen aller Art biete. Darum mar 
Chriſtoph wohl auch ziemlich vorbereitet auf das, mas er nun 
von allen feinen Verwandten zu hören befam: dab die Reife der 
Herzogin in ärmlichem Aufzuge das Gerede von den hungrigen 
Fürften, die in Livland jatt werden wollten, wieder aufbringen 
werde, daß Chriftoph ſich lächerlich made, der Land und Leute 
regieren wolle und fich nicht eine kurze Zeit der Mutter enthalten 
fönne, und daß er ſich Koriolans Selbjtändigfeit und Stand» 
haftigfeit der Veturia gegenüber zum Mujter nehmen fole. In 


Herzog Ehriftoph von Medlenburg. 111 


Memel jpielten fich erregte Szenen ab. Die Herzogin follte mit 
Gewalt nad Königsberg gebracht werben; jte jchwor, lebendig 
den Ort nicht zu verlajlen, es jei denn auf dem Wege nad) 
Livland; fie nahm feine Nahrung zu ſich und warf ji in Mein: 
främpfen auf das Bett der elenden Herberge. Der junge Herzog 
Karl jtand rathlos daneben. Endlich ließ ſie jih nad Nagnit 
führen. Als fie dort zwei Monate geweilt hatte, wurde Herzog 
Albredt mürbe und gejtattete, da mittlerweile ein halbjähriger 
Maffenftillitand mit den Nullen zu Stande gefommen war, die 
Weiterreiſe nad Kokenhuſen, von wo fie nad) ganz kurzem Aufenthalt 
zurüdzufehren verjpredhen mußte. Anfang Juni war die Herzogin 
in Livland und blieb dort bis zum Januar des folgenden Jahres 
1560. In weldem Sinne fie Chrijtoph beeinflußte, fann nicht 
zweifelhaft jein. Unter dem unmittelbaren Cindrud der über: 
jtandenen Aufregungen und Strapazen, ſowie des Anblids eines 
entjeglidy verwüjteten Yandes, der alle ihre Befürdtungen übertraf, 
wandte fie fi glei nad) der Ankunft mit einem Schreiben an 
den Kailer, das neben verzweifelten Klagen über ihr eigenes Elend 
und die hartherzige Selbjtjuht ihrer älteren Söhne die Bitte 
enthielt, Chrijtoph aus Livland abzufordern und ihn mit einer 
Grafihaft in den oberen Landen zu verjehen. Zugleich betheuerte 
fie in der Angſt, daß die beginnenden Unterwerfungsverhandlungen 
mit Polen Chriſtoph die Acht des Neiches zuziehen fönnten, daß 
er an ihnen unjduldig jei und gegen jie protejtirt habe. Als 
dann durch die Geichwäßigfeit von Chrijtophs Kanzler Adatius 
von Brandenburg und die offen zur Schau getragene Abneigung 
der Herzogin gegen alles Livländiiche ihre Gedanken und Abjichten 
befannt wurden und aud) der Herzog von Preußen und durd ihn 
Johann Albrecht von ihnen erfuhren, entjpann ſich ein heftiger, 
erbitterter Briefwechſel, in dem Chriſtoph ſich jagen lajjen mußte, 
dab er fein Gefühl für fürftlihe Ehre und Pflicht habe und den 
Häujern Dedlenburg und Brandenburg unauslöſchlichen Schimpf 
und Schande bereite, wenn er Livland jetzt aufgebe. Der uner: 
quidlihe Streit hatte wenigitens das günftige Ergebniß, daß 
Mutter und Sohn ſich veranlaßt jahen, in aller Form ihre 
geheimen Wünjche zu verleugnen. 

Als Koadjutor des Erzitifts mußte nun Chriftoph zu der 
Politik des Landes Stellung nehmen. Die Schugverhandlungen 


112 Herzog Chriftoph von Medlenburg. 


mit Polen waren im Gange und wer der Thatjahe gedachte, 
daß Chriftoph feine Stellung allein der Unterjtügung Sigismund 
Augufts zu danken hatte, muhte ihn ohne Weiteres zu den 
rüdhaltlojen Barteigängern Polens zählen. Wie erwähnt, erwartete 
das aud Sigismund Auguft und unermüdlid waren Johann 
Albreht und fein Schwiegervater beftrebt, Chrijtoph davon zu 
überzeugen, daß Piliht und Klugheit ihm in erjter Linie Rückſicht— 
nahme auf Polen geböten. Dem aber hatte von Anfang an Die 
Herzogin Anna mit Erfolg entgegengearbeitet. Sie war voll 
Mißtrauen gegen die polniſche Politik. Nun wurde immer flarer, 
daß jede Annäherung an Polen Livlands Verbindung mit dem 
Reiche loderte und löſte. Thaten Kaijer und Neid) audy rein 
garnidis, um Livland zu erhalten, jo gebot es doch des Kaijers 
Ehre, den Verluſt der Kolonie niemals gutmwillig anzuerkennen. 
Wer an der Nbtrennung Livlands vom Reihe mitwirkte, verſcherzte 
unfehlbar jeine Gunſt. Auf dieje legten aber Anna und Chrijtoph 
das größte Gewidt. Denn der leitende Gedanfe für jie war die 
Rückſicht auf das väterlihe Erbtheil in Mecklenburg, zumal jegt 
wo in Livland alles ins Wanfen geriet. Für die Enticheidung 
über Giltigfeit oder Ungiltigfeit der Nenunziation von 1555 und 
für die Wiedererlangung des verlorenen Anſpruches war jedod 
die Unterjtügung des Kaiſers von größtem Werthe. Aber aud 
ohne dieje Erwägungen lebte in Chrijioph ein fräftiges Bemwußtjein 
jeiner reihsfürjtlihen Stellung; es war wohl das Bejte, was er 
dem Einfluß der Mutter zu danfen Hatte. So drängten ihn 
Neigung, Interejjen und Standesgefühl zu einer polenfeindlichen 
Haltung. Rückſichten auf die Bedürfniſſe Livlands jtanden dabei 
in legter Linie. Wie denn das Land vor völligem Ruin bewahrt 
werden jollte, wenn es jelbjt zu ſchwach zur Abwehr der Ruſſen 
war, wenn das Neich feine Hilfe bradıte und der Preis für Die 
Hilfe Polens doch nicht gezahlt werden jollte, darüber hat er faum 
nachgedacht, und ſich in heroischem WVerzweiflungsfampf unter den 
Trümmern begraben zu lajjen, war er am allerwenigjten gemwillt. 

Nur widerftrebend, unter dem ausdrüdlichen Vorbehalt, daß den 
Rechten von Kaifer und Reich nichts vergeben werden dürfe, und 
unter förmlichen Protejten gab er jeine Zuſtimmung zu den Ver— 
handlungen mit Polen. Der erſte Schußvertragvon 1559, der die 
Verpfändung oder Abtretung von ersitiftiichen und Ordensgebieten in 


Herzog Chrijtoph von Medlenburg. 113 


ih Ichloß, fand jeine Billigung nicht, doch fonnte er ihn nid 
verhindern. Daß aber nicht ſchon damals der Erzbiſchof mit 
vollen Segeln in den Dafen polniiher Unterthänigfeit einfuhr, 
war doch wejentlih dem Widerjtande Chriſtophs zuzuschreiben. 
Bon nun ab mehrten ſich jedoch die Zerwürfniffe zwiſchen ihm 
und Wilhelm, jo dab das Verhältnik von Sohn und Vater, das 
fie ihren gegenjeitigen Beziehungen zu Grunde legen wollten, nur 
noh in den Anreden ihrer oft gereizten Korreipondenz fortlebte. 
Im Spätherbit 1559 kam noch einmal ein Feldzug der Livländer 
gegen den Mosfowiter zu Stande. Kettler führte die Ordens: 
truppen, die bijchöflidhen Aufgebote Chrijtoph, das erfte und einzige 
Mal, daß er fih im Felde dem Feinde gegenüber ſah. Cs hatte 
ihwere Mühe gefoftet, ihn zur Uebernahme des Feldherrnamtes 
willig zu maden. Ihm fehlte jeder friegerijche Ehrgeiz. Das 
hauptſächlichſte Motiv jeines Widerjtrebens lag jedoch darin, daß 
weder jeine nod des Erzbiſchofs Mittel zu einer fürftlihen Aus— 
jtattung für ihn und jein Gefolge reichten; der Gedanfe war ihm 
unerträglid, daß die verhakten Ordensleute, ja jelbjt die ruſſiſchen 
Bojaren, es ihm an Glanz des Auftretens zuvor thun jollten. 
Er gerieth darüber mit dem Erzbiſchof, deſſen Mittel völlig erjchöpft 
waren, in die ärgerlichiten Zwijtigfeiten. Ganz freilih hat aud) 
er ji dem Reize, als Anführer in anjehnlicher Stellung thätig 
zu dein, nicht entziehen fünnen. Der Feldzug, bejtimmt zur 
MWiedereroberung des Bisthums Dorpat, verlief rejultatlos und 
unrühmlid, nit aber durch Chriſtophs Schuld, der vor dem 
Feinde in einigen Gefechten jeine Pflicht that und jehr gegen 
jeinen Willen den weiteren Kampf aufgeben mußte, weil der 
Erzbijchof jeine Truppen zum Echuge des Erzitifts zurückrief. 
Wir fünnen über die Erlebniſſe Chriſtophs in den folgenden 
anderthalb Jahren furz Hinweggehen. Es waren Zeiten jchwerjter 
Noth für das Land, deſſen Bedrängniſſe nod) durch die Gefahr 
eines Bürgerfrieges gejteigert wurden, den das Auftreten des 
Herzogs Magnus von Holſtein heraufzubejchwören drohte. Rüſtungen, 
Berathungen mit den Befehlshabern der polnischen Präfidien in 
den Feltungen, Verhandlungen aller Art füllten aud die Zeit 
Chrijtophs aus. Drei Mal reijte er zu Herzog Magnus, dem er 
durch Verwandtichaft nahejtand und deſſen perjönliche Verhältniſſe 
eine merfwürdige Aehnlichfeit mit denen Chrijtophs aufweiſen, 


114 Herzog Chrijtoph von Medlenburg. 


und bewirkte endlich auch einen Vergleich zwiichen ihm und dem 
Ordensmeiſter Kettler. Stets wurde er als der jelbverjtändliche 
Feldherr der Erzftiftiichen betrachtet. Vor den Feind ijt er aber 
nit mehr gefommen, wenn er aud wiederholt in Gefahr jtand, 
von jtreifenden Ruſſenſchaaren in Treiden gefangen genommen zu 
werden. Es jcheint, daß er durch thatjächliche Theilnahme an den 
allgemeinen Zandesangelegenheiten ſchließlich doch einiges Intereſſe 
für fie gewann. 

Menn er es nur verjtanden hätte zu den Ständen bes 
Landes das richtige Verhältnig zu finden und jeinem fürftlidhen 
Anfehen Geltung zu verihaffen! Er befand ſich fortwährend in 
Seldverlegenheit. Von Johann Albrecht wurde er nur ungenügend 
unterjtügt; es zeigte fih, daß die Kräfte Medlenburgs für eine 
erfolgreihe Durdführung jeiner livländiſchen Politik dody bei 
Meitem nicht ausreihten. Mehr aber als durch jeine allerdings 
Häglihe Mittellofigkeit jchädigte Chrijtoph das fürftlihe Anjehen 
durch eine wüjte und anftößige Yebensweile. In der Korreipondenz 
Johann Albredts mit dem Herzoge von Preußen und dem Erz: 
biſchof Wilhelm wird immer wieder über jein maßlojes Trinfen 
geflagt, an das ſich oft unfürjtlihe Naufereien auf offener Straße 
ſchloſſen. So jchreibt Johann Albredt einmal dem Erzbilchof: 
„Daß fih mein Bruder jo übel anläßt mit Balgen und Saufen, 
daraus nichts Gutes folgt, ift mir treulich und von Herzen leid. 
©. 8. haben es bei mir nit gelernt.” Ein anderes Mal hofit er, 
Chriſtoph werde ſich bejjern, „wie die niederländiihen Maidlein, 
wenn fie ausgerajet haben.“ Leider ließ die Bejjerung noch lange 
auf fih warten. Die Nitterihaft des Erzitiftes entfremdete er 
fih durd; gewaltjames und unfluges Verfahren gegen Jürgen von 
Roſen, das Haupt eines der mächtigſten Sejchlechter, dem er mit 
einem Schein des Rechtes jein Stammſchloß Roop nahm. Auch 
mit dem Domkapitel, bejonders mit dem Defan Jakob Med, 
gerietb er in den heftigiten Zwiſt. Um ihre Einfünfte zu 
vermehren, dann aber aud, um die Gäfularijation des Erz— 
jtiftes vorzubereiten, bradten er und der Erzbiſchof mehrere 
Kapitelsgüter und ſchlöſſer unter verjchiedenen Vorwänden 
an fid. Die geichädigten Pfaften, über deren unausjtehlichen 
Hochmuth jih Erzbiihof und Koadjutor oft beichwerten, riefen 
polniihe Hilfe an, verleumdeten Chrijtopp nah Kräften und 


Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 115 


verleideten ihm den Aufenthalt in Livland noch mehr als vorher. 
Da er außerdem allen auf die Unterwerfung Livlands unter 
Polen gerichteten Beitrebungen einen beharrliden und prinzipiellen 
MWiderftand entgegenjegte, jo wurde jeine Lage eine höchſt uner- 
quidliche, und als die Stunde der Entjcheidung heranrüdte, verließ 
er im Sommer 1561 Livland zum zweiten Male, jo daß ſich das 
Geſchick des Landes durd die Wilnaer Verträge ohne jedes Zuthun 
jeinerjeits vollzog. 


Zu Weihnachten 1561 finden wir ihn am Hofe des Kaijers 
zu Prag, um fid von dieſem Berhaltungsmaßregeln für jein 
Verhalten gegen Polen geben zu laſſen. Natürlih lautete ber 
Beſcheid des Kaiſers dahin, daß Chrijtoph jeine Pflichten gegen 
das Neid) nie vergeſſen dürfe. Willfommen war ihm ferner des 
Kaijers Rath, nur dann nad) Livland zurüdzufehren, wenn feine 
Anmwejenheit dort den Abfall vom Neiche verhindern fünne. So 
gewann er in der ausdrüdlichen faijerlihen Weiſung einen vor: 
trefflihen Stüßpunft gegen feinen Bruder, um die Rüdfehr nad 
Livland überhaupt zu verweigern. 


Johann Albreht erkannte, daß alle Mühen und Geldopfer, 
die auf Livland verwendet waren, vergeblich zu werden drohten, 
vergeblich durch die Schuld Chrijtophs, der ſich der ihm zugetheilten 
Aufgabe entzog. Unmittelbar nad der Iinterwerfung Livlands 
und nadhdem Gotthard Kettler den Herzogshut von Kurland 
erhalten hatte, verlautete, daß König Sigismund Augujt willens 
gewejen war, jeine Schwelter Chrijtoph zu vermählen und Chrijtoph 
alle die Vortheile, ja nod) weit größere zuzuwenden, die Kettler 
jest als Lohn jeiner Ergebenheit davontrug. Da Chrijtoph der 
rehtmäßige Nachfolger des ſiechen alten Erzbiſchofs war, Die 
Säfularijation des Erzitifts aber vor der Thür jtand, jo hatte 
aljo Chriſtoph vielleicht die erbliche Herrichaft über Kurland und 
das Erzitift, aljo ein großes Fürſtenthum zu beiden Seiten der 
Düna unter polnijcher Lehnshoheit in Ausficht geitanden, wenn er 
ih Polen fügte. Sept blieb nur noch die Hoffnung, wenigitens 
das Erzitift irgendivie für das Haus Mecklenburg zu retten. Der 
Gedanke tauchte auf, wenn Chrijtoph es muthwillig preisgab, das 
Nachfolgereht auf Johann Albrechts zweiten Sohn, den erjt kürzlich 
geborenen Herzog Sigismund Auguſt, übertragen zu lajjen. 


116 Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 


Chriftophs Verhalten läßt indeſſen jede Folgerichtigkeit ver: 
millen. Vom Kaiſerhof zurüdgefehrt, gab er Johann Albrecht 
zwei Dal das bündige Verjpreden nad Livland zurüdzufehren, 
ja ließ fih das Reiſegeld einhändigen, und blieb doch in Mecklenburg. 
Aber auch der Aufenthalt in Medlenburg und Ratzeburg hatte bei 
den immer geipannter werdenden Verhältniß zu Johann Albrecht 
wenig Neiz für ihn und die Ausſicht auf eine eigene Herrſchaft 
über Yand und Leute in Livland zeigte ſich ihm in verlodenderem 
Lichte, als er einen Weg jah, das Erzitift ohme die läjtige Ab: 
bängigfeit von dem verhaßten Polen zu gewinnen. Schwediſche 
Unterhändfler näherten jih ihm gleich nach jeiner Ankunft in 
Medlenburg im Sommer 1561. Wollte König Erih XIV. die 
Polen ganz aus Livland verdrängen, jo war unfraglid Chrijtoph 
ein ſehr willkommener Bundesgenoiie. In tiefitem Geheimniß 
wurde ein ganzes Jahr lang verhandelt. Dann im Auguft 1562 
war Ghrijtophs Entihluß gefaßt. Unter gröblider Täuſchung 
feines Bruders, der fejt davon überzeugt war, daß er nun wirklich 
die verjprocdhene Reiſe nach Livland antreten werde, jchiffte er fich 
nad) Schweden ein. In Mecdlenburg wußte nur die Herzogin 
Anna um jeine Pläne. 

In Stodholm ſchloß nun Chrijtoph mit König Erid XIV. am 
31. Oftober 1562 einen Vertrag, durd) den ihm die Hand der noch 
minderjährigen Prinzeifin Elifabeth, der Schwejter Erichs, zugefichert 
wurde und in dem er alle jeine gegenwärtigen und zukünftigen Be: 
figungen in Livland vom Könige zu Lehen nahm. Erid aber 
verſprach mit Polen nicht eher Frieden zu Schließen, als bis das 
Erzitift Riga erobert und als ſchwediſches Lehnsfürſtenthum an feinen 
Schwager und Vafallen Chriftoph übertragen worden jei. Aus: 
drücklich wurde vereinbart, daß der Vertrag auch gegen den Willen 
des Kaiſers Geltung haben ſolle. Chrijtoph that aljo, was er 
bisher jtetS perborreszirt hatte, nur daß er nicht zu Polen, 
jondern zu deſſen Feinden abfiel. Dieje Verleugnung aller früheren 
politiihen Grundjäge war aber eine jo breite und ofjenbare, daß 
Chriftoph weder damals noch jpäter ſich öffentlich zu derjelben zu 
befennen gewagt hat. Auch mußte er zu gut, daß die enge 
Verbindung mit Schweden ein Schlag ins Gefiht der medlen- 
burgiijhen Haus: und Familienpolitit war; denn Schweden war 
der gemeinjame Feind der Medlenburg nah verwandten polnischen 


Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 117 


und däniſchen Königshäufer. Vorfichtshalber unterzeichnete Chriftoph 
deshalb noch einen zweiten Vertrag, der nur von der Heirathsftiftung 
handelte, die Zujtimmung des Kaijers zu ihr vorausjegte und gar 
feine politiichen Bejtimmungen enthielt. Mit ihm konnte er jich 
zur Noth vor der Welt jehen laflen *). 

Kurze Zeit nah Abſchluß Ddiejes Vertrages verlautete, ber 
Erzbiſchof jei gejtorben. Von Erid XIV. mit 2000 Thalern 
Reijegeld verjehen machte ſich Chriftoph im Winter auf den Weg, 
um jein Sukzeſſionsrecht geltend zu machen. Mit fieben Begleitern 
landete er im Dezember 1562 in Reval, wo ihm troß feines 
Inkognitos die Bürger einen fürftlihen Empfang bereiteten. 
Obgleich es ſich hHerausftellte, daß das Gerücht von dem Tode 
des Erzbiichofs falſch jei, jegte er die Neile fort, da an dem 
baldigen Ende dejjelben nicht zu zweifeln war. Mit dem ſchwediſchen 
Gouverneur und den Befehlshabern der Truppen wurden Verab- 
redungen getroffen für den Fall, daß er bewafjnete Hilfe nöthig 
haben oder durch die Polen zur Flucht gezwungen werden jollte. 
Die Berhältnijje lagen für ihn in jomweit günftig, als gerade 
damals König Sigismund Auguſt feine ganze Heeresmacht an der 
rujfiich-littauifchen Grenze zujammenziehen mußte und in Livland 
nur die fejten Schlöjler nothdürftig bejegt halten fonnte, aljo an 
offenen Kampf gegen Schweden zunächſt nicht denfen durfte. 
Chriſtoph gelangte glüdlih in jeine Koadjutoreiämter, die er von 
treuen Hauptleuten wohlverwahrt fand. Gleih darauf jtarb 
der Erzbiihof am 4. Februar 1563. Chriftoph verkündete, daß 
er die Regierung des gejammten Erzitiftes nunmehr antrete und 
forderte jeine Unterthanen zur Huldigung auf, als ob die polniſche 
Oberherrihaft garnicht eriftirte. Sigismund Auguft erklärte ſich 
auch jetzt noch bereit, ihn als Erzbiichof anzuerkennen, wenn er 
jofort die Unterwerfungsverträge ratifizire und jelbjt die Huldigung 
leijte. Anderenfalls verbot er jeinen livländiicdhen Unterthanen, ihm 
irgend melde Hoheitsrechte zuzugeitehen. Ghrijtoph wiederum 
erflärte von den beiten Abjichten gegen den König erfüllt zu jein, 
nur die Yuldigung werde ihm dur ausdrüdliches Faijerliches 
Verbot unmöglich gemadt. Soweit die ſchwachen Kräfte der Polen 


*) Die Originale beider Verträge im Reichsarchiv zu Stodholm. Der 
erjte gedrudt bei Rydberg Sverges Traftater IV. Eine Kopie des zweiten im 
Shmeriter Artio, 


118 Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 


reiten, ſuchten fie ihn zu jchädigen und, obwohl er Weiter und 
Knechte in jeinen Dienſt genommen hatte, fühlte er ſich doch 
feinen Augenblid ſicher. Tief erbitterte es ihn, daß feine Siegel 
von den Kajten, in denen der Nachlaß des Erzbifchofs fich befand, 
von einem polnischen Kommiſſar abgeriffen, mit Füßen getreten 
und durch polnische Siegel erjegt wurden. Obwohl er nun jchriftlich 
und mündlich jede Verbindung mit Schweden in Abrede jtellte, 
jo ließ er jchließlich dody zu jeinem Schuß dreihundert Schweden 
in das Erzitift unter dem Vorwande einrüden, daß es nur ben 
Schutz jeiner Unterthanen vor der Zuchtloſigkeit der polnischen 
Befagungstruppen gelte, und wenn er fie nachher auf den Rath 
des Herzogs von Preußen auch wieder aus dem Lande entfernte, 
jo gab er dem Könige damit doch den offenfundigen Beweis 
leines Bündniſſes mit dem Feinde und die ſtärkſte Handhabe zu 
aggrejlivem Vorgehen. Nun ſchlug aber die Hoffnung, daß die 
Schweden die günftige Lage zur raſchen Eroberung des Erzitifts 
benugen würden, völlig fehl, denn eben damals fam der ſchwediſch— 
däniſche Land- und Seefrieg zum Ausbrud” und nahm alle ver: 
fügbaren Streitkräfte in Anſpruch. Was ſollte Chrijtoph in dieſer 
Lage thun? Bitter rächte fih die Doppelzüngigfeit und Un— 
wahrhaftigfeit jeines bisherigen Verfahrens. Entichloß er ſich in 
legter Stunde doch noch dazu, das Erzbisthum als polnischer Vaſall 
aus der Hand Sigismund Auguſts zu empfangen, jo fonnte 
Erich XIV. ihn durd Veröffentlihung des geheimen Vertrages 
unheilbar fompromittiren. Brachte er aber jeine Perſon rechtzeitig 
bei den Schweden in Sicherheit, jo jtellte er jeine Ehre nicht 
weniger blos, da er jede Beziehung zu ihnen formell und feierlich 
geleugnet hatte. Er handelte nun, wie Leichtfinnige zu handeln 
pflegen: anjtatt einen bejtimmten Plan zu fallen, hoffte er auf 
einen günjtigen Zufall und war nur zu geneigt, den Ernjt der 
Lage zu unterſchätzen. Als Sigismund Auguft ihn, um Zeit zu 
gewinnen, feiner Freundichaft und feines Wohlwollens durd einen 
befonderen Boten verfihern ließ, ging er in die Falle. In blindem 
Vertrauen auf dieſe nichtsjagenden, heuchleriſchen Phraſen redete 
er jih ein, die Polen würden jegt wirklich nichts gegen ihn 
unternehmen und vereinbarte mit ihnen, daß der Kaifer nod) einmal 
gefragt werden jolle, ob er in die Abtretung Livlands willige. 
Bis zum Eintreffen der faiferlihen Antwort ſollte er jich frei im 


Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 119 


Lande bewegen dürfen. Gerabe damals mar aber Gigismund 
Auguft mit feinen Rüftungen fertig geworden. Ein anfehnliches 
Heer, meiſt beutiche Landsknechte, rüdte unter dem Oberbefehl 
des Herzogs Gotthard von Kurland durd das Erzitift gegen Die 
Schweden vor. Chriltophs Leichtfinn überfchritt nun jedes Maß, als 
er aus feinem anderen Grunde, als um zu jagen und den Vorbei» 
marjch der Truppen anzujehen ſich auf das Schloß Dahlen bei Riga 
begab, das er und Erzbiſchof Wilhelm im Jahre 1561 dem Dom- 
fapitel entriſſen hatten. Hier wurde er plötzlich Ende Juli von 
der polniihen Armee eingeichlojfen; vierzehn große Geſchütze 
fuhren gegen das ſchwache Haus auf und ein eriter Sturmlauf 
murde verſucht. An Widerſtand war nicht zu benfen und jo 
fapitulirte denn Chriftoph am 4. Auguſt 1563. Die Zumuthung 
der Huldigung lehnte er auch jegt ab. Dagegen verzichtete er, 
mas garnidt von ihm verlangt, ja von den Unterhändlern, den 
Räthen des Herzogs von Preußen, direft widerrathen wurde, auf 
alle feine Rechte am Erzitift zu Gunſten des Königs Sigismund 
Auguft. Diejer Verzicht fiel ihm nicht ſchwer. Er glaubte mit 
ihm feine baldige Freilaſſung zu erfaufen, auf die ihm die Unter: 
händler Hoffnung machten, und er perfönlich verlor dadurch nichts, 
da ihm ja das Erzitift fiher war, wenn es von den Schweden 
erobert wurde. Wohl aber jchädigte er durch die Preisgabe feiner 
Rechte in jehr empfindlicher Weile die Intereilen feines Bruders 
und des ganzen medlenburgiichen Haujes. 

MWährend er nun auf dem Schloife zu Riga in fürftlicher 
Haft gehalten wurde, begaben ſich Die preußiichen Räthe zum 
Könige, um deſſen Befehle einzuholen. Nach einigen Wochen 
bradten fie eine nicht ungünftige Antwort. Der König ſchien 
feinesmegs abgeneigt, Chriftoph nad) Deutjchland zu entlaſſen, 
forderte aber, um üblem Gerede vorzubeugen, zuvor eine Zu— 
fammenfunft mit ihm in Wilna. Ein heuchleriſcher Brief Sigis- 
mund Augujts bejtärkte Chriftoph in dem Wahne, als ob ber 
König ihm noch immer mwohlwollend gefinnt ſei. In Wirklichkeit 
lag Sigismund Auguſt nur daran, ihn aus der deutichen Um— 
gebung in Livland, der er doch nie recht traute, zu entfernen und 
ihn in feiner unmittelbaren Nähe zu haben. Auch in Wilna, wo 
Chriſtoph ſcheinbar als freier Dann in vollem Waftenichmud, 
umgeben von einem zahlreihen Gefolge polniicher Neiter und 


120 Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 


eigener Diener einritt, wurde er durchaus ftandesgemäß behandelt. 
Aber feine Ausfichten verdüjterten ſich, als Woche um Woche verrann, 
ohne daß der König ihn zu fich rufen ließ, bis ihm ſchließlich 
mitgetheilt wurde, Johann Albrecht und Herzog Albredt von 
Preußen hätten ihre Vermittelung angeboten, der König ermarte 
Johann Albreht ſelbſt in Warſchau und dort ſolle Chriitophs 
Angelegenheit dem Neichstage zur Enticheidung übergeben werden. 
Mit mefentlih herabgeſtimmten Hoffnungen trat er die Weiterreiie 
an. Furcht vor der ungewillen Zufunft, ein ſchlechtes Gewiſſen 
dem Bruder gegenüber, dem er in Medlenburg jtets aus dem 
Wege gegangen war und den unter ſolchen Umjtänden wieder: 
zufehen ihm peinlich genug war, dazu das nicht ungerechtfertigte 
Miktrauen, daß es Johann Albreht nad) allem, was geichehen 
war, weniger um jeine Befreiung als um die Wahrung ber 
medlenburgiichen Intereſſen zu thun jein werde, — alle biete 
Erwägungen modten ihm die durch längeren Aufenthalt in dem 
Flecken Liwa unterbrodhene Reiſe jehr unerquidlid maden. Im 
Schweriner Archiv befindet ſich ein von Chriltophs Sefretär 
Johann Köhler geführtes Tagebuch über dieſe Reife und Die erite 
Zeit des Aufenthaltes in Warfchau, leider ſehr defeft und ver- 
dorben. Einen hervorragenden Pla unter feinen Mittheilungen 
räumte Köhler hier den gelegentli von Raufereien gefolgten Zech: 
gelagen ein, mit denen Chrijtoph ſich die Yangemweile vertrieb. 
Es fehlte dabei nicht an mancherlei ergöglichen Szenen recht derben 
Charakters, die lebhaft an die Erzählungen des edlen Nitters Hans 
von Schweinichen, Chriftophs jüngeren Zeitgenoijen, erinnern. Zu 
einem Tage findet ſich nur die charafteriftiiche Eintragung: Heute 
haben J. 8. ©. nichts getrunfen. 

Mitte November traf er in Warfchau ein. Kaum hatte er 
die Herberge betreten, fo erichien der Großmarjchall mit der An- 
fündigung, daß er die Maffen abzulegen habe und fein Gemach 
nicht verlallen dürfe, vor das eine ſtarke Wache gejept wurde. 
Bald darauf fanden ſich auch medlenburgifche und preußische Räthe 
als Vorboten Herzog Johann Albrehts in Warihau ein. Aus 
der Unterredung mit ihnen, die vom Könige geitattet wurde, 
fonnte Chriftoph entnehmen, daß Johann Albrecht allerdings feine 
Freilaſſung betrieb, daß ihm aber weit mehr noch an der Rettung 
des Erzitifts für Dledlenburg und an einer zweiten völlig einwand- 


Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 121 


freien Verzichtleiftung Chriftophs auf fein väterliches Erbtheil 
gelegen mar, und jofort jtand bei ihm die Meinung feit, daß 
Johann Albrecht ihn aufopfern mwerbe. 

In der That überwogen dieſe Intereſſen jett bei Johann 
Albrecht jede andere Rüdfiht. Zu feinen livländiichen Plänen 
geſellte ſich allmählich ein anderer noch lodenderer: er ging damit 
um, fih die Negentichaft in Preußen nah dem Tode feines 
Schwiegervater für deſſen unmündigen Sohn und, wenn dieſer 
finderlos jterben follte, das Nachfolgerecht in Preußen übertragen 
zu laſſen. Herzog Albreht war damit einverjtanden; die Ent- 
fheidung lag aber bei feinem Lehnsherren, dem Könige. Gelang 
das, fo eröffnete fi dem Haufe Medlenburg eine weite Berjpeftive. 
Noch ſprach fein einziges Anzeichen dafür, daß Brandenburg der 
deutiche Staat der Zukunft fein werde. Es war eine Zeit, welche 
unter anderen Möglichkeiten auch die einer mecklenburgiſchen 
Großmacht in ihrem Schoße barg. Chriftophs Neife nach Schweden 
und fein trog aller Ableugnung doch offenfundiges Einverſtändniß 
mit dem gefährlichiten Feinde Polens brachte aber Johann Albrecht 
in den Verdacht der Mitwifjerichaft, der durch manche zufällige 
Nebenumftände genährt wurde. Es liegt auf der Hand, wie jehr 
feine hochiliegenden Pläne dadurch gefährdet wurden. Es fam 
ihm vor allem darauf an, fi vor dem Könige zu recht: 
fertigen und zunächſt das Erzitift auf jeinen Sohn Sigismund 
August übertragen zu laſſen. Im Januar 1564 erjchien auch er 
in Warichau. Es gelang ihm den König von feiner unentmwegt 
loyalen Haltung zu überzeugen und er erreichte, nad) dreimonatlichem 
Aufenthalt, am 6. April einen Vertrag, durch den feinem Sohne 
wirflid das Erzbisthum Riga zugeiprochen wurde. Die Admini— 
ftration jollte Johann Albrecht bis zur Volljährigkeit Sigismund 
Augufts jelbit übernehmen. 

Dagegen führten feine Bemühungen um Chrijtophs Befreiung 
niht zum Ziel. Alle Ausfichten für fie ſchwanden, als dem 
erbitterten Könige ein aufgefangener Brief Erids XIV, an 
Chriſtoph eingeliefert wurde, in dem dieſer zu treuem Feſthalten 
an ihrem Bündnijje ermahnt wurde. Und eben noch hatte Chriſtoph 
fih bereit erflärt, einen Eid darauf zu leiften, daß er mit dem 
Schweden in feinem Bündniſſe ftehe! Jetzt gab er freilich zu, 
einen Ehevertrag eingegangen zu jein; auf ihn beziehe ſich Die 


122 Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 


Ermahnung Erichs. Aber beharrlich leugnete er, daß das Bündnik 
feine Spige gegen Polen richte. Seine Haft wurde nun verjchärft 
und der ergrimmte König erflärte, daß er ſich in nichts einlaflen 
wolle, bevor Chriſtoph den Driginalvertrag herbeigeſchafft und 
aus ihm feine Unschuld ermwiefen habe. Während diejer Zeit 
bejuchte Johann Albrecht den Bruder einige Male. Er hatte 
gehört, Chrijtoph jei geichmeidiger geworden, habe Einkehr in ſich 
gehalten und die fünf Bücher Mofis gelefen. Aber er fand bei 
ihm nicht die Spur von Neue, nur Troß, Anmakung und Mik- 
trauen. Letzteres erreichte feinen Höhepunft, ald Johann Albrecht 
ihm eine erneute DVerzichtleiftung auf Dtedlenburg vorlegte, und 
— fo erzählt Chriſtoph — ſehr deutlich zu verjtehen gab, daß es 
in feiner Macht liege, ihn die Thüren des Kerfers für immer zu 
verichließen, wenn er die Verzichtleiftung jetzt nicht unterfchreibe. 
Wie dem aud jein mag, ob Johann Albrecht ſich zu ſolcher 
Drohung hinreißen ließ, — Chrijtoph verweigerte feine Unterfchrift 
und mar jekt feit davon überzeugt, daß Johann Albrecht nicht 
nur nichts Ernitliches zu feiner Befreiung unternommen, jondern 
fie jogar Direft hintertrieben habe. Dieſe Ueberzeugung hat fich 
Chriftoph bis an fein Lebensende bewahrt. 

Nach der Abreife Johann Albrechts erft entichloß ſich Chriſtoph 
dazu dem Verlangen des Königs gemäß den Driginalvertrag mit 
Schweden herbeilchaften zu laſſen. Natürlih nur den zmeiten, 
den eigentlichen Heirathsfontraft. Die gleichfalls verlangte Aus: 
lieferung der erzitiftiihen Privilegien, die jeit langer Zeit beim 
Domkapitel in Lübeck deponirt waren und die er an fich zu bringen 
gewußt hatte, verweigerte er aber beharrlich, aus welchem Grunde 
iſt nicht recht erfichtlich, da doc) der König auch jie zur Bedingung 
der Begnadigung machte. Kein Wunder, da die Uebergabe des 
Heirathsfontraftes ohne jede Folge blieb und an Chrijtophs Lage 
nichts änderte. Die Gewißheit, daß er mit Erichs XIV. Schweſter 
verlobt jei, war für den König jogar ein Grund mehr, ihn nicht 
aus der Hand zu laſſen; er wollte nicht nur Nahe an ihm 
nehmen, jondern ihn gewiſſermaßen als Geißel für die Sicherheit 
feiner eigenen Schweiter Katharina benußen. Dieſe war mit 
Johann von Finnland, Erichs Bruder, vermählt; Erich aber, dem 
diefe Ehe verhakt war, hatte den Bruder gefangen ſetzen laſſen 
und von der Leidenichaft des halb mahnfinnigen Königs jtand 


Herzog Chriftoph von Medlenburg. 123 


jeden Augenblid das Aergſte zu befürchten. Sigismund Auguft 
mar überzeugt, daß zwilchen Chriftophs Verhältniß zu Erich und 
der Gefangennahme Johanns von Finnland ein Zulammenhang 
beitehen müſſe. So lange daher dieje Vermwidelungen dauerten, 
fo lange Schweden mit den verbündeten Mächten Dänemark und 
Polen Krieg führte, war an Begnadigung nicht zu denfen. 
Auch die wiederholten Verwendungen des Kaiſers und zahlreicher 
deutſchen Fürften zu Gunſten Chriftophs hatten nicht den geringiten 
Erfolg. Johann Albreht brah für Jahre alle Beziehungen zu 
Chrifttopd ab. Um jo eifriger waren Herzogin Anna und 
Herzog Ulrich im Intereſſe des Gefangenen thätig. 1564 reiite 
die unglüdlihe, franfe Fürftin jelbft nah Wien, um die Per: 
mittelung des Kaijers anzurufen; 1566 mar Ulrich deswegen beim 
Raifer. Kaiſerliche, medlenburgiiche, brandenburgiiche und ſächſiſche 
Gefandte erichienen in buntem MWechfel am polniihen Hofe, richteten 
aber nichts aus. Herzogin Anna ftieg 1567 ins Grab, ohne ihren 
Lieblingsiohn wiedergejehen zu haben, ja ohne jede tröftende 
Gemwißheit über jein ferneres Schickſal. 

Chriſtoph wurde nah) Schluß des polnischen Neichstages im 
Sommer 1564 auf das feite Schloß Rawa gebradit, dann als dort 
die Vet ausbrach auf einem Gut jeines Briftavs (Aufſehers) Jarſyna 
internirt. 1565 fam er für furze Zeit in das Klojter Sulewa bei 
Petrifau, um bald darauf wieder nad) Rawa zurüdgeführt zu 
werden, wo er nocd dreieinhalb Jahre verbleiben ſollte. Seine 
Behandlung war verichieden je nach jeinem Verhalten und manchen 
mitwirfenden äußeren Umſtänden. Zeitweilig war ihm jede Korre— 
ſpondenz unterjagt; fein Schreibjeug wurde verfiegel. Dann 
durfte er wieder unter jtrengiter Kontrole Briefe empfangen und 
erwidern. Am jchwerjten trug er an der zeitweiligen Einquartirung 
von Machen in jeinem Schlafgemahe und an dem Merbot der 
Bewegung in freier Luft. Er klagte über die ſchlechte Ausdünftung, 
fühlte ſich krank und ſchwach und fürdhtete feine Gejundheit für 
immer untergraben zu ſehen. Das Schidjal fahte ihn hart an. 
In ſolch trüber und weicher Stimmung mag aud) ein Afroftichon 
entitanden fein, deilen Strophenanfänge feinen Namen „Chrifto: 
phorus Derzog zu Medlenburg” ergeben. Die jchwerfälligen Verſe 
verrathen gleichwohl eine aufrichtige, Schmerzlihe Sehnſucht 
des Gefangenen nad) der medlenburgifchen Heimath. — ein 


124 Herzog Chriftoph von Medlenburg. 


feftes Gottvertrauen fpriht aus dieſen Morten. Unzmeifelhaft 
machte Chriftoph einen heilfamen Läuterungsprozek durch. Aber 
von einem Bewußtſein deifen, daß er fein Unglüd jelbit verichuldet, 
von reuiger Geſinnung findet ſich nicht die Spur. Wenn er in 
dem Gedichte feine Lage mit der Johann Friedrichs von Sadien 
verglih, To fühlte er fih offenbar lediglich als Märtyrer einer 
guten Sache und als unichuldiges Opfer feiner Widerſacher. Und 
wirfli Spann er ſich in der Ciniamfeit des Gefängniſſes immer 
mehr in die Anjchauung ein, da nur fein treues Feithalten an 
Kaifer und Reich und an feinen angeborenen Rechten als medlen- 
burgifcher Herzog ihn ins Unglück geſtürzt habe. Dieſes Gemiſch 
von abfichtliher Selbittäufchung und Meberzeugung verlieh ihm 
eine gewiſſe Standhaftigfeit im Ertragen des ſchweren Ungemachs. 

Erit im Sommer 1567, al& er durch die Nachricht vom 
Tode der Mutter tief befiimmert war, eröffneten fi) ihm bie 
erften Ausfichten auf Befreiung. Sigismund Auguſt ſuchte mit 
Schweden zum Frieden zu fommen. Die erzitiftiiche Angelegenheit 
hatte foeben ihre vollitändige Erledigung im Sinne Polens dadurd) 
gefunden, dab das Erzbisthum Täfularifirt und mit dem übrigen 
Livland verihmolzen worden war. Johann Albredht war um das 
feinem Sohne zugeiprochene Erzitift vom Könige einfach betrogen 
worden, nachdem er neue Geldjummen auf daljelbe verwandt, Truppen, 
Gefandte und Beamte bereits hingejchiet hatte. Sein Verhältnik 
zu Rolen wurde immer geipannter und damit hängt auch das 
Scheitern jeiner Doffnungen auf die Nachfolge in Preußen zu: 
fammen. Sein Ehrgeiz wurde dem Könige unbequem, er fiel bei 
ihm in Ungnade. Unzweifelhaft bejteht aber zwiſchen dieſen Vor: 
gängen und der Bellerung von Chriltophs Yage ein innerer 
Zufammenhang. Denn das Yerwürfniß der beiden herzoglichen 
Brüder mar Sigismund Auguft jehr wohl befannt; er mußte, 
daß Chriltophs Heimkehr die Werlegenheiten Johann Albrechts 
mehren würde. mmerhin vergingen noch anderthalb Jahre bis 
Chriftoph im Kebruar 1569 auf den Reichstag nad) Lublin berufen 
wurde, um bier auf die von dieſem feſtgeſetzten Bedingungen hin 
feine Freiheit zu erhalten. Der Sturz Erihs XIV. in Schweden 
im Jahre 1568, die Thronbefteigung Johanns III., Sigismund 
Auguſts Schwager, und die dadurd eintretende Verichiebung der 
auswärtigen Verhältnifje waren dabei von mahgebender Bedeutung. 


Herzog Chriftoph von Medlenburg. 125 


Die Bedingungen der Freilafiung waren hart, weniger in 
der Sache, — denn das eigentliche Streitobjeft, das Erzbisthum 
Riga, erijtirte nicht mehr, — als in der Form, die ausgefucht 
demüthigend war. Selbſtverſtändlich mußte er nochmals feierlich 
auf alle Rechte an Livland verzichten und die erzbiſchöflichen Privi— 
legien, die ſchon vor 1567 aus Mecklenburg geholt worden waren, 
ausliefern. Am 18. Februar 1569 leitete er vor dem ver: 
fammelten Senate öffentlich Abbitte, befannte durch jeinen Abfall 
zu Schweden undanfbar und treulos gehandelt und die Etrafe 
ber langen Gefangenichaft wohl verdient zu haben; der König habe 
ihn aber in überjtrömender Gnade milde behandelt und ihm den 
nöthigen Lebensunterhalt gewährt. Dann verſprach er an Eides 
Statt jtets ein treuer Klient Polens zu fein und nie gegen den 
König oder feine Bundesgenofien, Friedrid von Dänemarf 
und Johann von Schweden, eimas Teindfeliges zu unternehmen; 
auch verpflichtete er fih, binnen Jahresfrift an den däniſchen 
Hof zu gehen, dem Könige Friedrich diefelben Erklärungen vor: 
zutragen und ein Protofoll über diefen demüthigenden Aft nad 
Tolen einzufenden. Darauf erhielt er vom Könige eine gnädige 
Antwort und die Werficherung vollfommener Sreundichaft und 
Verföhnung. Ja ihm wurde zur Befräftigung der lehteren eine 
jährlihe Penfion von 1000 Thalern bemilligt. 

Fünf Wochen darauf traf er auf der Heimreiſe mit einem 
Gefolge von fünfzehn Perjonen bei feinem Oheim, Marfgraf Hans 
von Küſtrin, ein. 

Die Freude über die wiedergewonnene freiheit wurde ihm aber 
ebenfo durch die Erinnerung an die erlittene Demüthigung wie durd) 
das Bewußtiein geichmälert, daß jein Kommen in Medlenburg von 
Niemandem gerne gelehen wurde und daß dort für ihn eigentlich Fein 
Raum war. Zu wen jollte er? Die Mutter war todt ; Johann Albrecht, 
dem feine Verforgung oblag, grollte er mehr als je. Sein Ver: 
hältniß zu Ulrich war zum mindeften ein Fühles, erträglich nur fo 
fange er beifen Kreiſe nicht jtörte. Auf ein herzlicheres Entgegen: 
fommen hatte er nur beim jüngiten Bruder Karl zu rechnen. Der 
aber wieder fonnte ihm feine Bortheile zuwenden. Im Gefpräche 
mit Markgraf Hans lieh er allen bitteren Empfindungen über 
fein angeblich unverichuldetes Unglüd freien Lauf. Der Marfgraf 
aber machte ihm den Standpunkt in einer Weile far, daß Chriſioph 


126 Herzog Chriftoph von Medlenburg. 


vor Aerger franf murde und ſich mehrere Tage nicht fehen 
ließ, und als er einen Nathichlag verlangte, wie er um Die 
Erfüllung feiner Verpflichtungen genen Polen herumfommen und 
wieder zum Beſitze Livlands gelangen könne, mußte er ſich einen 
fräftigen Hinweis auf die Gebote fürjtliher Ehre und Treue 
gefallen laſſen. 


Bald darauf finden wir Chriitoph bei feinen Brüdern Karl und 
Ulrich. Dann trat er die felbitändige Verwaltung des Stiftes 
Ratzeburg an. Den Dauptinhalt des nun beginnenden neuen 
Lebensabichnittes bildete der Kampf um das, was er jein Necht 
nannte und mwas zum Theil wirklich fein Recht war. Won ben 
Einfünften Ratzeburgs konnte er einen fürftlihen Hofhalt nicht 
beftreiten; das murde auh von Johann Albrecht zugegeben. 
Chriſtoph beanjprudte nun als jein Recht Theilnahme an ber 
Gefammtregierung Medlenburgs und den vierten Theil aller 
Hemter und Einfünfte des Landes, ſowie des Nachlaſſes feiner 
Eltern und Verwandten an beweglichem Gute. Johann Albrecht 
ftellte fih auf den Standpunft, daß die vom Sailer beftätigte 
Verzichtleiftung Chriitophs vollfommen giltig ſei; Chriſtoph habe 
in aller Form abdizirt, die Aufwendungen für feine livländiſche 
Karriere betrügen mehr als wozu er, Johann Albrecht, verpflichtet 
geweſen fei, und die reichliche Verforgung’in Livland habe Chriftoph 
durch eigene Schuld veripielt. Es könne fih alfo nur um einen 
Zuſchuß aus freiem Willen zu den Napeburger Einfünften handeln. 
Geltend wurde ferner gemacht, daß Medlenburg nur zwei regierende 
Herren vertragen fönne, und aus Präcedenzfällen der allerdings 
fehr mangelhafte Beweis geführt, dak die Zmeitheilung der Herrichaft 
bereits gemohnheitsrechtlid Janktionirt jei. Chriftoph behauptete 
natürlich, der zur Zeit der Minderjährigfeit geleiftete Verzicht fei 
trog Ffaiferliher Bejtätigung von feinem Belang und habe nur 
Eventualgeltung gehabt, wenn er im Belige des Erzitiftes bleibe; 
an bem Verluſte deifelben jei er jedoch unſchuldig. Mehr als die 
rechtliche Seite der Frage intereifirt die politiihe. Die privat» 
rechtliche und die erften Anfänge einer ſtaatsrechtlichen Auffaſſung 
der Dinge jtießen aufeinander. Johann Albreht und Ulrich hatten 
ihr vorläufiges Abfommen von 1555 über Gemeinichaftsregierung 
und Theilung trog aller Proteite Chritophs im Jahre 1561 


Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 127 


erneuert und dachten nicht daran nod) einem Dritten oder Vierten 
eine gleichberechtigte Stellung einzuräumen. 

Chriſtoph jah ein, daß er nichts ausrichten werde. indem 
er ſich alle Rechte vorbehielt, wollte er jchließlih den Grundjag 
anerkennen, daß Mecklenburg zwei regierende Herren haben jolle. 
Herzog Karl vermittelte alsdann im Jahre 1570 ein Abfommen, 
wonach Johann Albrecht ihm die Aemter Gadebuſch und Tempzin 
mit beichränfter Landeshoheit einräumte und einen jährlichen 
Zuſchuß von 500 Thalern gewährte. Seine polniihen Schulden 
im Betrage von 10,000 Thalern wurden von dem Landtage 
bezahlt. Seitdem rejidirte Chriſtoph abwechſelnd zu Schönberg 
und Gadebujh. Seine Einnahmen verbeijerte er ferner durch 
eine failerlihe ‘Benfion, die ihm in Anerfennung jeiner reichstreuen 
Haltung nebſt einer Bejtallung als faijerlicher Feldoberſt zu 
Theil wurde. Auf die 1000 Thaler jährlider PBenfion, die ihm 
Sigismund Auguſt verjchrieben hatte, hat er jpäter verzidtet. 
Eine jehr willftommene Zulage bedeuteten aber in der Folge die 
Brautichäge jeiner beiden Semahlinnen, jodaß Chriſtoph ſchließlich fein 
unvermögender Fürjt war, jo jehr er auch bis an jein Ende über 
bittere Armuth zu klagen pflegte. 

Der Redtsjtreit wurde wieder aufgenommen nad) dem Tode 
Johann Albrehts 1576 und hatte zur Folge, daß Chriftophs 
Verhältniß zu Ulrich ein ebenjo unleidliches wurde wie zu Dem 
verjtorbenen Bruder. Ich erwähnte, dat Chrijtoph den Grundjag 
der Zweiherrſchaft in Mecklenburg anerfannt hatte. Auf ihn 
geltügt verlangte er nun als Zweitälteſter volljtändig in die Nechte 
Johann Albrechts einzutreten. Vom Standpunfte des damaligen 
medlenburgiihen Staatsredits ließ ſich dieſe Forderung garnicht 
beitreiten. Johann Wlbrechts minderjährige Söhne Johann und 
Sigismund Auguft hatten troß des väterlihen Tejtamentes fein 
Recht an den väterlichen Landestheil, weil eine wirkliche Erb- 
theilung zwijchen Johann Albrecht und Ulrich garnicht ftattgefunden 
hatte. Das Rüſtzeug zur Bekämpfung der formell richtigen 
Forderung Chriftophs wurde daher aus einer anderen Kammer 
geholt. inerjeits mußte feine Verzichtleiftung herhalten, Die 
mittlerweile zum zweiten Male auch von Kaiſer Dtarimilian 
bejtätigt worden war, dann aber erklärten Ulrich und die Kurfürjten 
von Brandenburg und Sadien als beitellte Vormünder der jungen 


128 Herzog Chrijtoph von Medlenburg. 


Herren deren Intereſſen wahren zu müjlen und mährend ihrer 
Minderjährigfeit gar feine Zugeſtändniſſe machen zu fönnen. 
Diefelbe Antwort erhielt Chriitoph als er jeine Anſprüche wieder 
auf den vierten Theil Medlenburgs, d. h. auf die Hälfte von 
Johann Albrechts Gebietstheil, ermäßigte. 

Dan fieht hieraus, wie die Verhältniffe unaufhaltiam und 
nothwendig auf eine volljtändige Erbtheilung in zwei regierende 
Linien mit der Primageniturerbfolge innerhalb jeder derjelben 
bindrängten. Zu Recht bejtand fie aber noch feineswegs. Zunädjt 
bis zur Volljährigkeit des Herzogs Johann übernahm Ulrich Die 
Alleinregierung in ganz Medlenburg und Chriſtoph hatte das 
Naciehen. Was half es, daß die Yurijtenfafultäten von Heidelberg 
und Helmjtädt in ihren Nechtsqutachten zu feinen Gunften ent: 
Ihieden! Nachdem einige Verfuche gütlicher Einigung gejcheitert 
waren, betrat Chrijtoph den Rechtsweg. Er fonnte entweder feine 
Klage beim NReichsfammergericht vorbringen oder um Ernennung 
einer bejonderen failerlihen Kommilfion nachſuchen. Er wählte 
das Letztere. Der Kaijer pflegte in ſolchem Falle zwei Fürften 
zu Kommijjaren zu ernennen, deren Näthe als Zubdelegirte Die 
Verhandlungen führten und das Urtheil ſprachen, das alsdann 
von den Sommiljaren und dem Sailer bejtätigt wurde. Hier 
offenbarte ſich aber nun die ganze Kläglichkeit der deutichen Reichs» 
und Juſtizverfaſſung. An diejem unerquidliden und ausfichtslojen 
Etreite wollte fid) niemand die Singer verbrennen. Ein Fürft nad) 
dem andern lehnte die Uebernahme des faijerlichen Kommiſſoriums 
ab. Bier Jahre dauerte der Nechtsitreit feit dem Tode Johann 
Albredits, bis der Kaiſer die erften Verſuche zur Cinjegung einer 
Konmiljion machte, und weitere vier Jahre vergingen, bis Die 
Kommiſſare endgiltig ernannt waren und ein Verhandlungstag an: 
beraumt werben fonnte. Unterdeſſen hatten die beflagten Herzöge ein 
kaiſerliches Gegenkommiſſorium ermwirft, auf Grund deſſen im 
Sanuar 1587 zu Güſtrow ein umfängliches Verhör ftattfand, das 
nur den Zweck hatte „zu ewigem Gedächtniß“ den Thatbejtand 
und die Rechtsfrage Harzulegen. Diejes Verhör, in dem 29 
Zeugen vernommen wurden, ijt deswegen bejonders intereflant, 
weil es Die ganze Lebensgeihichte Chrijtophs, die livländiichen 
Verhältnijje und die Gejdichte der medlenburgiihen Landes: 
theilungen zum Gegenjtande hatte. Das Protokoll defjelben hat 


Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 129 


ih) erhalten. Auf den weiteren Verlauf des Rechtsjtreites jelbit 
brauchen wir hier nicht einzugehen. Er ijt nie beendet worden, ein 
Kommiljar nad) dem andern jtarb über ihm weg und ſchließlich 
wurde er mit Chrijtoph jelbjt, da er nur eine Tochter hinterließ, 
begraben. Chriſtoph iſt in dem ganzen Verfahren jedenfalls jehr 
übel mitgejpielt worden. Seine Angehörigen behandelten ihn, 
obwohl er formell im Rechte war, nur wie einen läjtigen Querus 
lanten, der jidy mit feinen Anſprüchen lächerlih made. Auch jonft 
wurde er wiederholt durch die Nüdjichtslofigfeit und Lieblofigfeit 
jeiner nächſten Verwandten verlegt. Die Kette fortlaufender Ver: 
drießlichfeiten brad; während jeines ganzen Lebens nicht ab. 

Doc aber war ihm zulept nod ein reines, unverfäljchtes 
Glück beichieden. Er fand es in jeiner zweiten Che mit feiner 
eriten Braut, der ſchwediſchen Eliſabeth. Freilich war aud) der 
Weg zu ihm ein Ddornenvoller und fojtete ihn neuen Zwiſt mit 
leiner Familie. 

Sehr bald nad) feiner Befreiung im Jahre 1569 fragte er 
in Schweden an, wie der neue König Johann III. über feine 
Verlobung mit Elijabeth denke. Diejer, als Feind jeines Vor: 
gängers auf den Thron gefommen, wies dejien Bundesgenojjen 
rund ab, unter dem Borgeben, Clijabeth fühle feine Neigung für 
ihn. Ja er veranlaßte jeine Schwejter verjchiedene ſchon früher 
oder jetzt als Brautgeichenfe überjandte Kleinodien in einer jo 
verlegenden Form nad Diedlenburg zurücdzujenden, daß jogar 
Chriftophs Brüder, ja der König von Dänemarf, Ulrichs 
Schwiegerjohn, darüber empört waren und darin eine jchimpfliche 
Beleidigung des ganzen medlenburgiichen Hauſes jahen. Chriftoph 
hatte, wie er zugab, bei diejer Brautiverbung nur die Aufbeilerung 
feiner Einfünfte im Auge. „Zwei Jahre darauf 1573 befand er 
ih mit Ulrich auf einer Kindtaufe am dänischen Königshofe zu 
Kolding und hier verlobte er ji) mit des Königs Schweſter, der 
jehsundvierzigjährigen Dorothea. Am 27. Oftober fand die Hochzeit 
itatt. Der Brautihag war nur ein mäßiger: 18,000 Gulden und 
9000 Thaler, aber dod) groß genug um die Hand der neun Jahre 
älteren Prinzeſſin begehrenswerth erjcheinen zu laſſen. Die freudloje 
und unfrucdhtbare Ehe wurde nad) faum zwei Jahren durch den 
Tod Dorotheas wieder gelöjt. 

Etwa anderthalb Jahr darauf, 1577, Elopfte Chrijtoph noch 


130 Herzog Chriitoph von Medlenburg. 


einmal in Schweden an und dieſes Mal hatten feine Gejandten 
einen beileren Erfolg. Im Gegenſatz zu der früheren jchroffen 
Abweilung antıvortete König Johann, daß Elijabeth ihm ihre alte 
Zuneigung nod) immer bewahrt habe und er die begehrte Che: 
ſchließung gerne jehe. Eliſabeth war mittlerweile zu Jahren 
gefommen; mehrere jcheinbar alänzende Partien, jo die Hand des 
Herzogs Franz von Alencon, hatte fie ausgejchlagen und es mochte 
die Befürchtung gehegt werden, daß ſich feine weiteren Freier für fie 
finden würden. Als Chriftoph fie bei der erjten Verlobung 1562 
fennen lernte, war fie vierzehn Jahre alt. Ob er damals Eindrud 
auf jie machte, willen wir nicht. Aber fie ſcheint doch jeine 
Sefangenichaft als ein Martyrium um ihretwillen angejehen zu 
haben und hat ihm ein zum mindejten freundjchaftliches Interejie 
bewahrt. Gewiß war die ſchnöde Zurückweiſung, welche Chrijtoph 
gleidy nad) ſeiner Freilaſſung erfuhr, nicht ihrer Jnitiative ent: 
Iprungen. Ihn ſelbſt bejtimmten bei der Wiederbewerbung wohl 
feine anderen Nüdjichten als die auf den Brautihag von 100,000 
Ihalern. MWenigitens bat er jeinen Brüdern gegenüber dieſen 
Geſichtspunkt allein geltend gemacht; er bedürfe, jo betonte er 
wiederholt, diejer Summe um feinen fürjtlihen Stand und damit 
das ganze Haus VDledlenburg in Flor und Aufnehmen zu bringen. 
Aber faum war die Wiederverlobung perfeft geworden, jo entipann 
jih zwiſchen Chriſtoph und Eliſabeth ein Briefwechſel, deſſen 
kümmerliche erhaltene Reſte doch einen wärmeren Ton verrathen, 
als ihn die fonventionellen Liebesbriefe fürjtliher Brautleute jener 
Zeit gemeiniglid aufweilen. Die Widerwärtigfeiten und direften 
Seindjeligfeiten der nächiten Verwandten, welche Chriitoph ſich mit 
diefer Verlobung zuzog und durch melde der Vollzug der Che 
um volle vier Jahre aufgehalten wurde, modten die Verlobten 
einander noch näher bringen und das ihre dazu beitragen, daß 
dieje uriprünglich als Geldheiratl; geplante Verbindung zu einem 
wirflichen, glüdlichen Herzensbunde führte. 

Daß Chrijtophs Verlobung feine Brüder und feinen königlichen 
Schwager in Dänemark befremden mußte, ijt begreiflih genug. 
Der jtebenjährige Krieg zwiſchen Dänemark und Schweden mar 
allerdings im Jahre 1570 durch den Stettiner Frieden beendigt 
worden. Doch bejtand der jcharfe Gegenjat der beiden Reiche 
fort. Nad) wie vor betrachteten fich die beiden Könige als Feinde; 


Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 151 


weder die livländiiche Frage noch andere Streitpunfte hatten eine 
befriedigende Löjung gefunden, der Kampf fonnte leicht wieder 
ausbrechen. Unter jolchen Umjtänden erjichien Chrijtophs Braut: 
werbung mie Fahnenfluht und Abfall zum Feinde. Im Fahr: 
wajler der däniſchen Politik aber befand ſich Herzog Ulrich. Verletzt 
mochte fich der König auch dadurd fühlen, daß zwiſchen dem Tode 
jeiner Schwejter und der neuen Werbung Chriſtophs nicht viel 
mehr als ein Jahr verflojfen war. In gereizten Schreiben gab 
Ulrih seiner Verwunderung darüber Nusdrud, daß der dem 
Hauje Mecklenburg durd die Zurüdweilung und Heimjendung der 
Kleinodien widerfahrene Schimpf von Chriftoph ſchon ganz ver: 
geilen ſei; im dieſer auch politiich jo bedeutiamen Angelegenheit 
hätte er zuvor den Rath jeiner Angehörigen hören müſſen; vor 
allem jehe der König von Dänemark in der Wahl Chriftophs eine 
weitgehende Nüdfichtslofigkeit, ja einen Aft der Feindjeligfeit, den 
er nimmer vergeben fünne. Natürlich goß es nur Del ins Feuer, 
als Chriſtoph die Gegenfrage jtellte, ob etwa König Friedrid und 
Herzog Ulrid ihn um Rath gefragt hätten, als jie heiratheten. 
Der König erklärte rundweg, er wolle Chriftoph nicht mehr für 
jeinen Schwager und Freund, jondern für jeinen Feind halten 
und den Schimpf räden, wo und wie er fönne. 

Die Leibgedingsverichreibung der Aemter Gadebujh und 
Tempzin für die Gemahlin Chriftophs bedurfte der Zuftimmung 
der Agnaten, aljo Ulrichs, Karls und der Vormünder ber beiden 
jungen Herzöge. Friedrich von Dänemark forderte fie nun auf, 
diefe Zuſtimmung direkt zu verweigern. Das geihah freilich nicht, 
wohl aber wurde die Angelegenheit jo jehr in die Länge gezogen, 
dab Ehriftoph ſchon den Kaiſer um jeine Vermittelung anzurufen 
ſich genöthigt Jah. Nach unendlichen Weiterungen, während welcher 
die Dochzeit von einem Termin zum anderen verjchoben wurde, 
war ſchließlich 1580 die Unterjchrift der Agnaten zur Leibgedings: 
verfchreibung beichaftt. Jetzt machte noch die Neile nah Schweden 
Schwierigkeiten. Vergebens bat Chrijtoph wiederholt um freies 
Seleit durch die dänischen Gewäſſer und Gebiete. Sie wurde 
von dem umerbittlihen Könige Friedrich ausdrüdlih mit dem 
Demerfen abgelehnt, wie Chrijtoph ohne den König zu fragen 
und ohne freies Geleit zu erbitten jeine Boten zur Verlobung 
nah Schweden geſchickt habe, jo möge er aud jetzt allein fein 


132 Herzog Chrijtoph von Medlenburg. 


Heil verſuchen. Chriftopd mußte fih zu einem weiten Ummege 
entſchließen. Im Spätherbit 1580 ging er nad) Danzig und 
gelangte von da glüdlih nad Schweden. Hier fand im Mai 
1581 die Hochzeit jtatt. Sie machte Chrijtoph zu einem wohl: 
habenden Herrn. Denn feine Gemahlin brachte ihm einen Brautihag 
von 100,000 Thalern und eine Nusjteuer mit, deren Werth auf 
51,000 Thaler berechnet wurde. Zu ihr gehörten Kleinodien im 
Merthe von 12,000, Kleider im Werthe von 20,000 Thaler; auch 
ein fürjtliher Wagen und eine mit Geihüß und allem Zubehör 
verjehene Naht, „Die Häringsbarfe“ genannt, werden im Inventar 
verzeichnet. Auch mit den Ehren, die dem jungen Paare erwieſen 
wurden, durfte Chriftoph wohl zufrieden fein. Eine Flotte von 
13 ſchwediſchen Kriegsihiffen und einer Bemannung von 2100 
Knechten ohne die Bootsleute brachte die Neuvermählten ficher vor 
dänischen Nachitellungen nad) Medlenburg. Am 15. Juli landeten 
fie auf der Inſel Pol, um am folgenden Tage ihren fejtlichen 
Einzug in Wismar zu halten. Kaum hatten fie aber den heimiſchen 
Bodenbetreten, als der alte Bruderzwijt wieder ausbrad. Zu den 
Hochzeitsfeierlichfeiten in Stodholm war niemand von den fürjtlichen 
Verwandten geladen worden. Um jo prunfvoller und großartiger 
loflte dagegen die Nachfeier in Wismar jein. Ein unglücklicher Zufall 
wollte es aber, daß jowohl Karl wie Ulrich den Brief Chriſtophs, 
in weldem er jeine Anfunft in Wismar zum 16. Juli meldete, 
erjt zwei Tage vor derjelben erhielten. Beide entjchuldigten ich, 
daß fie in dieſer furzen Friſt Fich zum Feſt nicht gehörig rüjten 
fönnten und daher fortbleiben müßten. Ulrich ſchickte in aller 
Eile jeinen Silberfneht und Nentmeilter, um das Feſt jo gut es 
ging auszurichten und die nöthigen Viktualien zu beichaffen. Seine 
Beifteuer war nun vielleicht nach damaligen Begriffen eine etwas 
färgliche. Sie bejtand in zwei Drömt Noggen, zwei Ochſen, etlichen 
Hammeln, vier Bratichweinen, 100 Hühnern, einer Tonne Butter, 
vier Laſt Hafer, Wild und Fiihen nad) Bedarf. Chrijtoph, jtets 
voller Miptrauen und bejorgt jeinem fürftlichen Anjehen vor den 
begleitenden hohen ſchwediſchen Würdenträgern etwas zu vergeben, 
war ſchon jehr betreten, auf Pöl feine Vorbereitungen zum 
Empfange zu finden. Als ihm gar das Verzeichniß der fürſt— 
brüderlihen Verehrung vorgelegt wurde, fand er dieſe jo ungenügend, 
daß er im erjten Unmuthe erflärte, lieber garnihts als eine jo 


Herzog Chriſtoph von Medlenburg. 133 


ärmliche Ausrichtung anzunehmen. Insbejondere vermißte er eine 
Darbringung an Getränfen. Mehrere Kuriere wurden von dem 
Rentmeifter an Ulrich mit der Bitte erpedirt, noch etwas zuzulegen 
und auch die Getränke zu jpenden. Ulrich beharrte dabei, er habe 
genug geleijlet, für das Uebrige könnten die jungen Vettern, Die 
Stadt Wismar und Chriftoph ſelbſt ſorgen. Wirklich wurden 
18 Chm Rheinwein, die Chriitoph beim Nathsfeller zu Wismar 
beitellt hatte, ihm vom NRathe der Stadt als Geſchenk dargebradt. 
Er beiann fih dann eines Beileren, nahm aud das von Ulrid) 
Gebotene entgegen und hielt am 18. Juli feinen Cinzug in 
Wismar, an den fi drei Tage währende Feitlichkeiten ſchloſſen. 
Auch ein Theil des Adels und „des medlenburgiichen Landfrauen— 
zimmers“ betheiligten jih an ihnen. Dann begaben ji Die 
Feſtgenoſſen in feierlihem Aufzuge nad Gadebujh, wo jie, 
wie es in Chriltophs Einladungsichreiben angefündigt war, „ſich 
bey demjenigen, jo der liebe Gott dajelbjt gnädiglichen verlieh, in 
Fröhlichkeit ergötzten.“ 

Mittlerweile war aber auch eine däniſche Nlotte vor Pöl 
erihienen und es fehlte nicht viel, jo wären Schweden und Dänen 
aneinander gerathen. Beide Theile begnügten fih schließlich 
damit, ihre Yojung abzufeuern und jchieden diejes Mal gütlich 
von einander. So jtand aud die Heirath Chrijtophs im Zeichen 
der großen politiichen Gegenfäge, welche den europäiſchen Norden 
erfüllten. 

Zwölf Jahre war es Chriftoph vergönnt an der Seite jeiner 
Genahlin eine glüdliche Che zu führen, aus der 1584 eine 
Tochter, Margarethe Elifabeth, hervorging.*) Der Liebe zu ihrem 
Gemahl jegte die Herzogin Elifabeth nad) deſſen Tode aud äußerlich 
ein dauerndes Zeichen durd ein großes Grabmonument im Dome 
zu Schwerin, welches die lebensgroßen Figuren des Herzogspaares, 
im Gebete fnieend, trägt. Wir dürfen annehmen, daß das Stand: 
bild des Herzogs uns auch jein wohlgetroffenes Porträt zeigt **). 

Livland hat in dem jpäteren Leben Chrijtops gar feine Rolle 
mehr geipielt. Nur hier und da taucht fein Name in einer oder 


*) Sie heirathete 1608 den Herzog Johann Albrecht II. von Medlenburg- 
Güftrom. 

**) Cine gute Abbildung im zweiten Bande der Kunſt- und Geſchichts— 
dentmäler Medlenburgs von Fr. Schlie. Schwerin 1898. 


134 Herzog Chriftoph von Medlenburg. 


der anderen politischen Kombination auf und nur gelegentlich 
wurde der Gedanfe erwogen, ob die verlorene Herrihaft noch 
wiederzugewinnen jein werde. Einmal 1577 hat Chriſtoph des- 
wegen jeinen Rath Benedift Schwerin nad Riga geſchickt. Um 
diejelbe Zeit war aucd vorübergehend davon die Rede, daß er 
eine faijerliche Sejandtihaft nach Moskau führen ſolle. Ernſtlich 
und nachhaltig beichäftigten ihn dieſe Gedanfen nicht. 

Gejtorben ijt Chrijtoph zu Tempzin am 3. März 1592, 
ohne vorher franf geweſen zu jein. Das Bild, weldhes der raße: 
burgiihe Superintendent Schlüjfelburg in jeiner XLeichenpredigt 
von dem Entichlafenen entwirft, zeigt ihn uns doch in einem 
anderen Lichte als in jeiner Jugend. Schlüſſelburg rühmt an 
ihm jeine wahrhaft landesväterlihe Geſinnung, jeine rechtgläubige 
Srömmigfeit und jeine geiftigen Intereſſen trog mangelhafter 
Jugendbildung, wie er denn wirklich im Jahre 1582 zu Rojtod 
einen tractatus de veteri philosophia druden ließ, „da jhr 
F. ©. beweijet, quomodo natura ab arte juvetur vnd ift Herkog 
Garolen in Schweden jhrer F. ©. vielgeliebten Herrn Schwagern 
zugeichrieben.“ „Es haben audh jhr F. ©. getreue Prediger, 
gelerte Leute, die Musicam artificialem oder Instrumentalem 
ſehr geliebet. Es waren aud jhr F. G. von Natur beredet, 
hatten ein feine Memoriam, ein herrlich Ingenium vnd ein 
ſcharpffſinnich ludieium...“ Dann erzählt er ausführlid von 
Chriſtophs gottjeligem Ende, und wenn wir von der Laudatio des 
Superintendenten auch Manches in Abzug bringen dürfen, jo 
Icheiden wir doch mit dem Eindrud, daß ſchließlich auch dieſes 
unruhige und unbefriedigte Leben in einen verjöhnenden, har: 
monilchen Afford ausflang. 


s 


Taganrog im Jahre 1825. 
Von 
N. A. Schilder. 
(„Rufffaja Starina” 1897, Januarbeft, S. 5—48.) 





® 


Der Gefundheitszuftand der Kaiſerin Elifabeth flößte dauernd 
Beſorgniſſe ein. Die Aerzte MWyllie und Stoffregen ſprachen ſich 
Ende Juli 1825 dahin aus, daß die Kailerin den kommenden 
Winter nit in Petersburg zubringen fonne und erflärten ihren 
Aufenthalt in einem jüdlichen Klima für unbedingt erforderlich; 
fie wiejen auf Italien, das Südliche Frankreich oder das ſüdliche 
Rußland Hin. Die Wahl fiel fchliehlih auf Taganrog. Der 
Kaifer erklärte, daß er ſich ebenfalls dahin begeben und zu Neujahr 
nad Petersburg zurüdfehren werde. Doch murde die für den 
Herbit geplante Revue über die Truppen ber zweiten Armee in 
der Umgegend von Bjelaja Zerkow (unmeit der Stadt Kiew) ab- 
geſagt, mahrjcheinlih weil Nachrichten einliefen, dab ſich unter 
den Offizieren diefer Truppen immer mehr geheime Gejellichaften 
verbreiteten. 

Kailer Nlerander beauftragte den Fürſten Wolkonſki, der 
eben erit nah der Krönung Karls X. aus Paris zurücgefehrt 
war, die Saiferin in den Süden Rußlands zu begleiten und 
während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts dajelbjt bei ihr zu 
bleiben. Hierauf erging Angefichts der Ueberſiedelung des Hofes 
nah Taganrog an den Architekten Charlemagne am 6. Auguft 
der Befehl, ſich in diefe Stadt zu begeben, um die erforderlichen 
Appartements in Bereitichaft zu jegen. 

Kurz vor feiner Abreife nad) Taganrog gab Kailer Alerander 
dem Fürften A. N. Golizin den Auftrag, die Papiere in jeinem 
Arbeitszimmer in Ordnung zu bringen. Bei diejer Arbeit entipann 
fih ein Geſpräch und Fürft Golizin erlaubte ji, indem er bie 
gewiſſe Hoffnung ausiprad), der Kaifer werde völlig gelund in bie 
Hauptitadt zurüdfehren, die Bemerkung, wie unrathjam cs ei, 
Dokumente, welche die Ordnung der Thronfolge veränderten, bei 
längerer Abwejenheit unveröffentlicht zurüdzulafien und welche 


136 Taganrog im Jahre 1825. 


Sefahren hieraus im Falle eines plöglich fich ereignenden Unglüds 
entipringen Fönnten. Anfangs ſchien Nlerander durd die Richtigkeit 
der Bemerkung Golizins betroffen zu fein, nad minutenlangem 
Schweigen fagte er aber: „Mollen wir uns hierin auf Gott ver- 
laffen. Er wird Alles beſſer machen als wir ſchwachen Sterblichen.” 


Unwillfürlih fommt einem die Frage: weshalb entichloß ſich 
Kaiſer Alerander, diefe Dofumente vor dem von ihm defignirten 
Thronfolger und auch vor Rußland fo geheim zu halten? Schwer 
it es hierfür eine vernünftige Erflärung zu finden, und jein 
Geheimniß hat Alerander mit fi ins Grab genommen. Einige 
glauben, der Kaiſer habe die Abficht aehabt, gleichzeitig mit dem 
Manifeft über die Veränderung der Thronfolgeorbnung auch feine 
eigene Thronentiagung zu verfündigen. Die auffallende NAufichrift 
auf dem Kouvert: „Aufzubewahren, bis ich es zurückfordere“ meilt 
vielleicht wirflich auf die Abficht Aleranders hin, in Uebereinſtimmung 
mit feinen früheren Gedanfen hierüber noch bei Lebzeiten dem 
Throne zu entlagen. Die Nichtigfeit einer jolhen Annahme erhellt 
aus folgendem Umſtande. Am Frühjahr 1825 fam der Prinz 
von Oranien nad Petersburg; der Kaijer Alerander vertraute 
ihm feine Abficht an, abzudanken und fih ins Privatleben zurüd: 
zuziehen. Der Prinz erfchraf und bemühte fi, den Kaifer von 
diefem Vorhaben abjubringen. Aber Alerander blieb bei feiner 
Anfiht und die Bemühungen des Prinzen führten nicht zum 
gewünschten Ziel; es gelang ihm nicht, den Kaiſer in feinem 
Vorhaben mwanfend zu machen. Jedoch die Vorfehung löfte in 
allernächiter Zeit alle dieje Bedenken in ganz anderer und vollia 
unermarteter Weiſe. 

Am 28. Auguſt, Abends von 8—114 Uhr, hatte Karamfın 
feine leßte Unterredung mit dem Kaiſer Alerander, und ſagte, fich 
von feinem erhabenen Gönner verabichiedend: „Majeität, Ihre 
Tage find gezählt. Sie haben feine Zeit mehr, etwas aufzu- 
Ichieben, es bleibt aber noch foviel für Sie zu thun übrig, damit 
das Ende Ihrer Negierung des ruhmoollen Anfanges derielben 
fih würdig ermweile.” Mit einem Neigen feines Dauptes und 
einem freundlichen Lächeln äußerte der Kailer jeine Zuſtimmung; 
auch fügte er laut hinzu, dab er bejtimmt Alles thun merde: er 
werde Rußland ein Grundgeleg geben. „Wir trennten uns nicht 


Taganrog Im Jahre 1825. 137 


ohne Rührung,” Tchreibt Karamfin, „meine Anhänglichfeit an ihn 
fommt von Herzen und wird ewig währen.” 

Am 30. Auguft 1825, an feinem Namenstage, hörte Kaiſer 
Alerander zum lebten Male im Newſki-Kloſter die Liturgie an. 
Hierauf begab er Sich ins neu errichtete Palais des Groffürften 
Michael Pawlowitſch; als er es betreten hatte, ertheilte er Sr. 
Hoheit den Segen, ihm ein Bild des Erlöjers und Salz und Brod 
darbringend. 

Am 31. Auguſt, am Tage vor feiner Abreiſe nad Taganrog, 
befuchte Alerander die Kaiſerin Maria in Pawlowsk. Nach dem 
Diner mar er, im Garten lujtwandelnd, im Roſen-Pavillon, in 
welchem vor elf Jahren mit ſolchem Glanze feine Rüdfehr aus 
Paris gefeiert worden war. Die Erinnerung an die Vergangenheit 
mußte im Kaiſer wieder aufleben; aber dieſes Mal breitete der 
nahende Derbit, der ſich durch das Gelbwerden der Blätter an 
den Bäumen und durch die verödeten Roſen Bosquets bemerkbar 
machte, über die ganze Umgebung einen Hauch ſtiller Trauer, 
mas vollfommen der Eeelenitimmung des Kaiſers entiprad. 

Am 1. September verließ Kaifer Alerander für immer feine 
Hauptitadt; die Stille der Nacht und Nebel hatten ſich über Die 
Stadt gebreitet, als er allein, ohne Suite, von feinem auf 
Kamenni Oſtrow belegenen Palais fortfuhr. Am 41/4 Uhr nad 
Mitternaht machte die mit drei Pferden beipannte Kaleſche am 
Thor des Newſti-Kloſters Halt. Gier erwarteten den Kaiſer, von 
feinem Beſuch unterrichtet, der Metropolit Seraphim, die Archi- 
mandrite in vollem Ornat und die ganze Brüderjchaft. Alerander, 
mit der Uniformsmübße, im Mantel und Nod ohne Degen, ftieg 
raſch aus der Kaleiche, fühte das Kreuz, wurde mit Weihwaſſer 
beiprengt, empfing den Segen des Metropoliten, befahl das Thor 
hinter ſich zu ſchließen und begab ſich in die Kathedrale. Die 
Mönche fangen den Hymnus: „Nette, o Herr, die Deinigen.” 
Nachdem der Kaifer die Kathedrale betreten hatte, blieb er vor 
dem Sarge des heiligen Alerander Nemifi jtehen und das Gebet 
begann. Die lange Reihe der Mönche, die den Kaifer beim 
Betreten des Klojters begrükt hatten, die ringsumbher herrichende 
Dunkelheit und der hell erleucdhtete Sarg des Märtyrers, der 
durch die geöffnete Thüre der Kathedrale von ferne jichtbar mar, 
madten einen tiefen Cindrud auf fein empfängliches Gemüth: 


138 Taganrog im Jahre 1825. 


Alexander meinte während des Gebets. Als die Zeit gefommen 
mar, das heilige Evangelium zu verlefen, näherte fich der Sailer 
dem DMetropoliten und jagte: „Lege mir das Evangelium aufs 
Haupt“ und bei diefen Worten fniete er nieder. 

Nach Beendigung des Gebets verbeugte er fih drei Mal 
bis zur Erde vor den Neliquien des recdhtgläubigen Fürften, küßte 
fein Bild und verabichiedete fich von den Perſonen, die mährend 
des Gebets zugegen gemwejen waren. Der hohe Bejuch verließ die 
Kathedrale, geleitet vom Mtetropoliten im vollen Ornat mit dem 
Kreuz in den Händen und von der ganzen Brüderichaft, unter 
Geſang deſſelben Hymnus: „Nette, o Herr, die Deinigen.” 

Nachdem fie die Kathedrale verlaiien, jagte der Metropolit 
Seraphim zum Kaiſer: „Belieben Ew. Miajejtät nicht zu mir in 
die Zelle zu kommen.“ 

„Sehr gerne” antwortete der Kaijer, „aber nicht auf lange, 
ih habe mich ohnehin mit Bezug auf meine Marichroute um eine 
halbe Stunde verſpätet.“ Hierauf bog die ganze Gejellichaft zum 
Daufe des Metropoliten ab und betrat den Saal. Der Kaiſer 
und Seraphim entfernten ſich ins Audienzzimmer. Bier empfing 
er abermals den Segen des Metropoliten, ſprach mit ihm einige 
MWorte ftehend, ſetzte fih und bat Sr. Eminenz an feiner Seite 
Platz zu nehmen. 

Der Metropolit wünichte das Geſpräch auf einen Gegenitand 
zu lenfen, der jeinen hohen Gaſt intereflirte, und jagte: 

„Ich weiß, daß Em. Majeſtät jtets den Nöfeten gewogen 
waren; auch in unjerem Klofter hält fich jest ein Asket auf; 
geruhen Em. Majejtät nicht den Befehl zu ertheilen, ihn herbei: 
zurufen?“ 

„But, rufen Sie ihn herbei” antwortete der Kailer. 

Der Asket wurde jofort gerufen und dem Wlonarchen vor: 
geftellt. Gnädig empfing der Kaifer den ehrwürdigen Vater Alerei, 
bat ihn um jeinen Segen und unterhielt ſich mit ihm einige 
Minuten lang. Im Fortgehen ſagte der Asket mit gerührter 
Stimme: „Herr, erweile mir die Gnade und mwürdige meine Zelle 
Deines Beſuches.“ Nachdem Alerander vom Metropoliten erfahren 
hatte, daß ſich die Zelle des Asketen gleich bei der Auffahrt 
befand, neben welcher die Kaleſche jtand, erklärte er fich einver: 
ftanden, den Alten zu beſuchen. 


Zaganrog im Jahre 1825. 138 


Cs öffnete fih die Zellenthür, und ein düfteres Bild bot 
ih den Bliden des Kaifers dar: der Fußboden und alle Wände 
bis zur halben Höhe waren mit ſchwarzem Tuch beichlagen; links 
an der Wand jah man ein großes Kruzifir mit der Mutter Gottes 
und dem Evangeliſten Johannes daneben, an der anderen Wand 
der Zelle ftand eine lange jchwarze Holzbanf; die Lampe, die vor 
den Heiligenbildern brannte, beleuchtete trübe die traurige Behauſung 
bes Asketen. 

Beim Eintritt des Kaiſers warf fi) der Asket vor dem 
Kruzifir nieder, verlas ein Gebet und ſagte, ſich an jeinen hohen 
Gaft wendend „bete, Herr.” Alexander verbeugte fi drei Mal 
bis zur Erde. Dierauf ergriff der Asfet ein Kreuz, verlas den 
Schiußfegen und ertheilte auch dem Kaiſer den Segen. 

Nah Beendigung des Gebets ſetzte ſich der Monarch mit 
dem Metropoliten auf die Banf und befahl daſſelbe dem Asfeten, 
der Anfangs für diefe hohe Ehre danfte, endlich aber gehorchen 
mußte und in einiger Entfernung von Beiden Plak nahm. In 
halblautem Tone das Geſpräch mit dem Metropoliten fortjeßend, 
fragte ihn der Kaiſer: „it das das ganze Eigenthum des Asfeten; 
wo fchläft er? Ich jehe fein Bett.” „Er jchläft,” antwortete der 
Metropolit, „bier auf dem Fußboden, vor diefem jelben Kruzifir, 
vor dem er betet.“ 

Als der Asket diefe Worte hörte, jagte er: „Nein, Herr, 
auch ich habe ein Bett, fomm, ich werde es Dir zeigen.“ Mit 
diefen Morten führte er ihn hinter einen Bretterverjchlag in 
feiner Zelle, wo ſich dem Kaiſer ein erfchütternder Anblick darbot: 
auf dem Tiich Stand ein ſchwarzer Sarg, in ihm lag ein Bußfleid, 
Kerzen und Alles, was zu einer Beerdigung gehört. „Siehe“ 
jagte der Asfet, „das iſt mein Bett, und nicht nur meins, jondern 
unfer Aller Bett; in dieſes, Herr, werden wir Alle uns legen 
und einen langen Schlaf thun.“ 

Schmweigend, in Gedanfen verlunfen, jtand der Monarch 
einige Minuten. Als der Kaifer ji) vom Sarge abwandte, redete 
ihn der Asfet mit folgenden Worten an: „Herr, ich bin ein alter 
Mann und habe vieles in der Welt gejehen; geruhe meine Worte 
anzuhören. Bor der großen Peit in Moskau waren die Sitten 
reiner, das Volk frömmer; aber nad) der Belt wurden die Sitten 
verderbt; im Jahre 1812 kam die Zeit der Beſſerung ar der 


140 Taganrog im Jahre 1840. 


Frömmigkeit, doch nach Beendigung bes Krieges find die Sitten 
noch viel verberbter geworden. Du bijt unfer Herr und mußt 
über die Sitten wachen. Du bit ein Sohn der recdhtgläubigen 
Kirhe und mußt ſie lieben und ſchützen. So will es der Herr 
unfer Gott.“ 

Nahdem Alerander diefe Morte vernommen hatte, wandte 
er fih an den Metropoliten und ſprach zu ihm: „Diele lange und 
mohlgefegte Reden habe ich gehört, aber feine hat mir beiler 
gefallen, wie die furzen Worte diefes Alten.” „Es thut mir 
leid,“ fagte er hierauf zum Asfeten, „daß ich jo ſpät Dich fennen 
gelernt habe“ und veriprad ihn wieder zu beſuchen. Hierauf 
empfing er von ihm den Segen und verließ mit dem Metropoliten 
die Zelle. An der Brüderichaft vorübergehend, die in zwei Reihen 
von ber Zelle des Asfeten bis zur Kaleſche ſtand, bat der Kaiſer, 
für ihn zu beten und empfing noch einmal vom Metropoliten den 
Segen. Sich in die Kaleſche jegend, richtete er ſeine thränen- 
gefüllten Augen gen Himmel, wandte fid dann an den Metropoliten 
und die Brüderichaft und ſprach: „Betet für mich und für meine 
Frau.“ Innerhalb des Klofterhofes bis zum Thor fuhr er mit 
entblößtem Haupt, fih häufig ummendend, und verbeugte und 
befreuzigte fich, auf die Kathedrale jehend. 

Und jo mar eine düſtere Zelle und ein offener Sarg mit 
allem Zubehör einer Beerdigung der lebte Eindrud, den Kaifer 
Alerander bei der Trennung von feiner Hauptſtadt mit fi) nahm. 
Bevor er das Stadtgebiet von Petersburg verließ, ließ der Kaijer 
bei dem Schlagbaum anhalten, richtete fih in der Kaleſche auf, 
wandte fi) rückwärts und ſah gebanfenvoll mehrere Minuten auf 
die Stadt, wie von ihr Abichied nehmend. War das eine trübe 
Vorahnung, veranlaßt dur die Begegnung mit dem Asketen, 
war das der feite Entichluß, nicht mehr als Kaifer zurüdzufehren, 
— mer fann dieje räthjelhafte Frage löjen? 

Kaifer Alerander verließ Zarjfoje auf der weißruſſiſchen 
Route und bog von ihr an der Grenze des Gouvernements Plesfan 
über Toropez auf die Tulaiche Noute ab. Während diefer Reife 
fanden nirgends Revuen, Paraden oder Manöver jtatt. Auf allen 
Nachtquartieren beſah der Kaiſer aufmerffam alle Bequemlichkeiten, 
die das Haus in Hinfiht auf die bevorjtehende Reiſe der Kaiferin 
nah Taganrog auf berjelben Route bieten fonnte. Den Kailer 


Taganrog im Jahre 1825. 141 


begleiteten der Chef des Hauptitabes Generaladjutant Baron 
Diebitih, Wyllie, der Medifo-Chirurg D. K. Taraffom und der 
Obrijtlieutenant WU. D. Salomfa. Im Ganzen bejtand die Suite, 
die Dienerichaft eingerechnet, aus 17 Perfonen. 

Am 13. September langte Alerander in Taganrog an, 
nahdem er den langen Weg raſch und glüdlich zurüdgelegt Hatte. 
MWpllie jchreibt in feinem Tagebuh: „Hier endet der erite Theil 
der Reife” und fügt weiter, unter einem Strich, das Wort „finis“ 
hinzu. Damals fonnte er natürli noch nicht wiſſen, melde 
prophetiiche Bedeutung diefes Wort in fich ſchloß: der erite Theil 
mar auch der letzte. 

Das Haus in Taganrog, das zur Wohnung für Ihre 
Majeitäten ausgejucht worden war, war aus Stein, einetagig, 
mit einem Kellergeihoß zur Unterbringung der Dienerſchaft. Die 
Hälfte für die Kaiferin bejtand aus acht Fleinen Zimmern, von denen 
zwei für zwei Fräulein bejtimmt mwaren. In der Mitte des 
Haufes lag ein großer Saal, der gleichzeitig als Speiſezimmer 
und als Empfangsjalon diente. Auf der Hälfte für die Kailerin 
befand fi in einem bejonderen Zimmer die Feldfirde. Auf der 
anderen Seite des Saals lagen die zwei Zimmer des Kaiſers: 
das eine, ziemlich geräumig, war zum Arbeitszimmer bejtimmt, 
diente zugleich auch zum jchlafen; das andere, halbrund und jehr 
flein, in welchem der Kaifer ſich anfleidete, war das Toiletten: 
zimmer, mit einem Fenſter, das auf den Hof hinausging. Neben 
diefen beiden Zimmern befand ſich ein Korridor, ber jein Licht 
aus dem Toilettenzimmer erhielt; er war für den dejourirenden 
Kammerdiener beitimmt; das Garberobenzimmer lag im Seller: 
aeihoß. Neben dem Haufe war ein geräumiger Hof und ein 
feiner Garten mit Fruchtbäumen, etwas vermwahrlojt, aber vor 
der Ankunft des Kaiſers jo viel als möglich in Ordnung gebradt. 
Das Möblement des ganzen Haufes war jehr einfach). 

Nah jeiner Ankunft in Taganrog war bie erjte Sorge des 
Raifers, die Wohnräume der Kaiferin fo bequem wie möglich für 
fie einzurichten; in jedem Winkel jah er jelbit nad), vertheilte 
eigenhändig die Möbel in den Zimmern, ſchlug Nägel für bie 
Bilder ein. Im Hinblid auf die Ankunft der Kaiferin forgte 
Alexander dafür, daß ber Stadtgarten in Ordnung gebracht wurde 


und ſteckte felbit die Gänge in ihm ab. 
4* 


142 Taganrog im Jahre 1825. 


Täglih ging der Kaifer in der Stadt fpazieren, war im 
Umgange ungewöhnlich zugänglid. Dem Anicheine nah war 
Alerander ruhigen Gemüthd und heiter, doch ungeachtet deſſen 
quälte ihn Argwohn. Diebitic erzählte, der Katjer habe einmal 
des Morgens früh nad ihm geſchickt, ihm einen Zwiebad gezeigt, 
aus dem er ein Ffleines Steindhen genommen, und ihm jtreng 
anbefohlen, zu unterfucdhen, was das jei, und nachzuforſchen, wie 
das gejchehen fonnte, indem er zugleicd) fagte, er wolle diefe Sache 
nicht Wolfonjfi anvertrauen, weil er wife, daß er ein altes Weib 
fei und nichts verjtehe. Diebitih rief Wyllie herbei und ber 
fand, daß es ein gemwöhnliches Steinden fei; auch bat der Bäder 
um Entihuldigung, in Folge feiner Unachtſamkeit fei das Steinen 
in den Zwiebad gerathen. Nur mit Mühe gelang es Diebitich, 
den Raifer hierdurch zu beruhigen. 

Am 3. September verließ Kaiferin Eliſabeth Petersburg. 
Es begleiteten fie Fürſt Wolkonſki, Staatsfefretär Longinow, bie 
Kammerfräulein Fürſtin Warmara Wolfonjfi und Katharina 
Walujew, der Leibmedifus Stoffregen, die Doftore Dobbert und 
Reinhold und der Dofapothefer Brott. Die Kaijerin reijte langjam, 
täglich nur furze Streden zurüdlegend und ſich oft erholend; am 
23. September langte jie in Taganrog an. 

Um Elifabeth zu begrüßen, fuhr ihr der Kaiſer bis zur 
eriten Station entgegen und traf um 7 Uhr Abends, in derjelben 
Dormeufe mit der Saiferin beim griechiſchen Alerander-Klofter 
ein, das vom Kaufmann Warwazzi erbaut morben iſt; dort 
erwarteten Ihre Majeftäten die Geiftlichfeit und beinahe die ganze 
Bevölferung der Stadt. Bemerfenswerth ijt es, daß die Kaiferin, 
deren geſchwächter Gejundheitszuftand ihr in Petersburg kaum bie 
geringite Bewegung gejtattet hatte, bei ihrer Ankunft in Taganrog 
ziemlich rüjtig allein, ohne Hilfe, die Equipage verließ und mit 
dem Kaiſer Arm in Arm die Kirche betrat. Nach Anhören eines 
Danfgebetes begaben ſich die Majeftäten in ihr Palais, das nad 
Ausfage eines Augenzeugen wegen feiner befcheidenen und einfachen 
Verhältniffe nichts mehr als das gutgebaute Wohnhaus eines 
begüterten Zandedelmannes darjtellen fonnte. 

Nahdem die Kailerin angefommen war, umgab fie ber 
Kaifer mit der zärtlichiten Aufmerffamfeit, fam ihren geringjten 
Wünſchen zuvor und bemühte ji, ihr alle möglichen Zeritreuungen 


Taganrog im Jahre 1825. 143 


zu verichaffen, nur danad) jtrebend, ihr den Aufenthalt in diefer 
Stadt jo angenehm wie möglid zu machen. Die Einjamfeit 
Taganrogs knüpfte zwiichen ihnen wieder die früheren Banden, 
die zuerjt durch die Vergnügungen der Jugend und jpäter durch 
die Sorgen um den Staat gelodert worden waren. Sie führten 
bier ein jtilles, einjames Leben, frei von jeglicher Hofetiquette. 
Unter dem Einfluß dieſer zärtlichen Liebe begann Eliſabeth ſich 
neu zu beleben, ihre Geſundheit bejierte ſich augenanſehnlich; 
Ihon nad) einigen Tagen war jie phyſiſch und moraliſch jtärfer 
geworden. Taraſſow erzählt in jeinen Aufzeichnungen, daß die 
ganze Suite an diefem Familienleben der Majeftäten ihre Freude 
gehabt und fie unter ſich nur die jungen Cheleute genannt habe. 


Einjt fam das Geſpräch auf die Vereinſamung, die für die 
Raijerin eintreten müßte, jobald der Kaiſer bei feiner Nüdreije 
nah Petersburg fie allein in Taganrog zurüdlajien würde. 
Alerander jagte zu Elijabeth: „Selbjit wenn es möglich wäre, 
Ihnen Jemanden aus der Familie, mic ausgenommen, herzu: 
Ihiden, jo glaube ih doch, daß Sie Niemanden nöthig hätten.“ 
„Ratürlih nicht“ antwortete ihm die Kaiferin aus tiefiter Seele. 
Als die Kaiſerin jpäter in einem Briefe an ihre Mutter hiervon 
erzählte, fügte fie hinzu: „Es madte mir Vergnügen, ihn fo 
überzeugt davon zu jehen, daß er mir Alles jei.“ Bei ihren 
Spaziergängen außerhalb der Stadt gefiel der Kaiſerin bejonders 
ein Pläschen am Ufer des Dieeres in der Nähe der Quarantäne. 
Sofort befahl der Kaijer, an dieſer Stelle einen Garten anzu: 
legen, zeichnete jelbjt den Plan dazu auf und befahl dem Fürſten 
MWolfonjfi, aus Ropſcha den Gärtner Grey herkommen zu laſſen. 


Bald nad) jeiner Ankunft in Taganrog, am 16. September, 
ihrieb Kaiſer Alerander an den Grafen Araktſchejew: „Gott jei 
Danf, mein lieber Alerei Andrejewitih, ich habe meinen Be— 
ftimmungsort glüklih und ich fann jogar jagen, jehr angenehm 
erreicht, denn das Wetter und die Wege waren ausgezeichnet. 
In Tſchugujew Hatte ich) meine Freude am Vorwärtsichreiten der 
Bauten. Ueber den Frontedienit fann ich nichts jagen, denn 
ausgenommen eine Wachparade und ein Ererzitium der An: 
gejiedelten, der Esfadronen zu Fuß und der Santonijten habe ich 
nidhts geiehen. Meine Wohnung hier gefällt mir jo ziemlid). 


144 Taganrog im Jahre 1825. 


Die Luft ift herrlich, die Ausfiht aufs Dieer, mein Haus ziemlich 
gut; doch Hoffe ich, Du wirft das Alles ſelbſt jehen.“ 

Doch faum hatte Alerander dieje Zeilen gejchrieben, als 
am 22. September in Taganrog die Nachricht von dem tragischen 
Ereigniß eintraf, das in Grufino vor fi gegangen war: am 10. 
September hatte das Hausgelinde die Wirthſchafterin Araktſchejews 
Naftasja Minkin erjchlagen. 

Am 12. September, am dritten Tage nad) biejer Mordthat, 
ichrieb Nraktichejew an den Raifer: 


„Bäterhen Ew. Meajejtät. 

Das Unglüd, das mid) getroffen hat, der Berlujt einer 
treuen Freundin, die 25 Jahre in meinem Hauſe gelebt, hat 
meine Gejundheit und meine Urtheilsfraft jo jehr zerrüttet und 
geſchwächt, daß ich allein den Tod erjehne und juche, und deshalb 
habe ic) weder Kraft noch Ueberlegung, die Geſchäfte weiter zu 
führen. Lebe wohl, Väterchen, gedenfe Deines früheren Dieners; 
meine Freundin iſt des Nachts von meinem Dausgejinde ermorbet 
worden, und ich weiß nicht, wohin ich mein einjames Haupt legen 
joll; aber von hier gehe id fort. Dein treuer Diener ©. A.“ 


Es blieb nicht allein bei diefem Briefe, der davon Zeugniß 
giebt, wie jeher Graf Nraftichejew damals den Kopf verloren 
hatte und wie grenzenlos Die Verzweiflung war, die fid feiner 
bemädhtigt hatte; in einer unruhigen Zeit, die von ihm in jeiner 
Korreipondenz mit dem Sailer jogar „ſtürmiſch“ genannt wurde, 
hielt dieſer „treue Diener” es für möglich, eigenmäcdtig Die 
Geſchäfte, die Allerhöchit ihn anvertraut waren, von ſich abzu— 
ihütteln. 

Einen Tag bevor Graf Araftihejem den Brief an Kaijer 
Alexander abjchiete, erließ er am 11. September an den General: 
major von der Artillerie Euler folgende Vorſchrift: 

„Wegen des Unglüds, das mid betroffen hat, und ber 
ſchweren Zerrüttung meiner Gejundheit, in Folge deren mir ber 
richtige Ueberblid über die mir anvertrauten Gejchäfte benommen 
it, Schreibe ih Em. Ercellenz als Nelteften im Dienjte vor, bis 
zur Rückkehr des Chefs des Stabes das Kommando über die 
angefiedelten Truppen und deren Stab zu übernehmen; hierüber 
babe ih Sr. Majeftät dem Kaijer rapportirt.” 


Taganrog im Jahre 1825. 145 


Im jelben Sinn verfuhr Graf Araftichejew auch hinſichtlich 
der zum Zivil-Rejjort gehörenden Gejdäfte, indem er an ben 
Staatsjefretär Muramjew unter Demfelben Datum eine Vorſchrift ab- 
fertigte, welche der dem General Euler ertheilten ähnlih war: 

„Wegen des Unglücks, das mid betroffen hat, und ber 
ihweren Zerrüttung meiner Geſundheit, in Folge deren mir ber 
richtige Ueberblid über die mir anvertrauten Gejchäfte benommen 
iit, belieben Ew. Ercellenz alle Saden, die unter meiner Ver— 
waltung jtanden, jowohl in ber Kanzlei als auch im Komite, zu 
übernehmen, aud alle von Sr. Dlajejtät dem Kaijer einlaufenden 
Schreiben zu eröffnen, ebenjo auch die Briefe, die unter meiner 
Adreſſe anlangen, mir jelbjt jedod nichts zu Tiberjenden; hierüber 
habe ih Sr. Majeftät dem Kaiſer rapportirt.“ 

Die vom Grafen Nraftichejerw erhaltene Nachricht und jeine 
londerbaren Anordnungen erbitterten und braten Kaiſer Alerander 
in hohem Grade auf. Der Generaladjutant Diebiticd erzählte, als 
die Nahriht von der Ermordung der Geliebten Araktſchejews 
nah Taganrog fam, nahm der Kaijer an, fie jei nicht jo jehr 
aus Haß gegen jie, als gegen den Grafen Araktſchejew erſchlagen 
worden, um ihn von den Bejdhäften zu entfernen. Dod dann 
erließ Graf Araftichejew den jonderbaren oder beijer gejagt uner: 
laubten Befehl, durch den er wegen jeiner Erfranfung den General 
Euler zum Kommandeur über alle angefiedelten Truppen einjegte, 
als ob irgend jemand, der einen Truppentheil fommandirt, das 
Kommando einem Andern übergeben fönnte. Obgleich dieſes 
unerlaubte Benehmen dem Kaijer unangenehm war, jo jagte er 
mir doch, daß er den Grafen Araktichejew mit jeinem franfhaften 
Zujtande entichuldige. „Natürlich“ fügte Diebitich hinzu, „Niemandem 
anders wäre ein jo ungejegliches Benehmen ohne Bemerkung bin: 
gegangen. Aber diejer Menſch macht eine Ausnahme von 
der allgemeinen Regel.“ 

Kaifer Alexander beeilte ji, den Grafen Araktſchejew zu 
ermuthigen und zu tröften und jchrieb ihm am 22. September 
aus Taganrog: 

„Lieber Freund! Vor wenig Stunden habe ih Deinen Brief 
und die Trauernachricht von dem entieglichen Ereigniß erhalten, 
das Dich niedergeworfen hat. Mein Der; fühlt Alles, was das 
Deine empfinden muß. Uber, mein Freund, Verzweiflung ift 


146 Taganrog im Jahre 1825. 


eine Sünde vor Gott. Unterwirf Did blind jeinem heiligen 
Willen. Das iſt der einzige Troft, Die einzige Linderung auf 
welche ich bei einem ſolchen Unglüf Did hinweiſen fann. Nad) 
meiner Weberzeugung giebt es feinen anderen. 

Aufrichtig theile ih Deine Trauer, obgleich ich die Perjon, 
die von Dir bemweint wird, nicht gefannt und niemals gejehen 
babe, aber fie war Dir eine aufrichtige und langjährige Freundin 
— das ift genug, daß dieſer Verluft Dich tief betrüben mußte. 
Dazu fommt der entjeglihe Gedanfe an die Art ihres Todes. 
Lebhaft fann ich mir vorjtellen, lieber Freund, was in Dir vor: 
gehen mußte: Deine Lage, Deine Trauer haben mich tief getroffen. 
Selbjt mein eigener Gejundheitszuftand hat das jchmerzlid) 
empfunden. Aber nod einmal wiederhole ih Dir, mit dem 
Gefühle innigiter Liebe zu Dir, — Verzweiflung ift eine Sünde, 
eine große Sünde. Unterwerfung unter den Willen des Höchſten 
ift unjer Aller Pilicht, und je tiefer der Kummer, um jo mehr 
müjlen wir unjer Haupt mit Demuth und Ergebung vor jeinem 
heiligen Willen beugen. Unterwirf Dich ihm und Gott ſelbſt 
wird Did jtügen und jtärfen. 


Du ſchreibſt mir, daß Du Dich aus Grufino entfernen 
mollejt, aber nicht wiljelt, wohin. Komme zu mir, Du haſt feinen 
Freund, der Did aufrichtiger liebte. Der Drt hier ijt ein 
einfjamer. Du wirft bier leben, wie Du es jelbit beftimmen 
wirjt. Der Umgang mit einem Freunde, der Deinen Kummer 
theilt, wird ihn einigermaßen lindern. 


Aber ich beſchwöre Dich bei Allem, was heilig iſt, denke an 
das Vaterland, wie nützlich und, ic fann wohl jagen wie noth- 
wendig Dein Dienjt ihm iſt, mit dem Vaterlande bin aber id) 
unzertrennlid. Du bift mir nothwendig. Ich bin weit davon 
entfernt, von Dir eine Fortiegung Deiner Arbeiten in der erjten 
Zeit Deiner Trauer zu verlangen. Nimm Dir die nöthige Zeit, 
Deine Seelen: und Körperfräfte etwas zu erholen, denfe daran, 
wieviel Du geſchaffen haft und wieviel das Alles noch verlangt, 
bis es vollendet ii. Ich bitte Gott inftändig, er möge Deine 
Kraft und Deine Gejundheit jtärfen und Dir die nothwendige 
Energie zugleih mit der Ergebung unter jeinen heiligen Willen 
einflößen. 


Taganrog im Jahre 1825. 147 


Schicke mir eine ausführliche Beſchreibung von dieſem 
entieglihen Vorfall, die Ausſagen der Berbreder und Deine 
Anſicht über dies Alles. 

Eröffne dem Gouverneur, er möge durd alle möglichen 
Mittel zu ergründen ſuchen, ob da nicht geheime Abjichten oder 
Aufhegereien im Spiele waren. 

Lieber Freund, über alle Beichreibung fühle ih Mitleid mit 
Deinem tief empfindenden Herzen. Ih fann mir voritellen, was 
es fühlen muß und trauere aufrichtig mit Dir. 

Lebe wohl, lieber Alexei Andrejewitich, verlajje nicht Deinen 
Freund, Deinen Dir treuen Freund.” *) 

Doch Kaifer Nlerander begnügte ſich nicht mit Abjendung 
diefes ungewöhnlichen Briefes; er berief den Stabschef der Militär: 
anfiedelungen General Kleinmichel zu fich, der ſich damals in den 
üblichen Anfiedelungen aufhielt und ſchickte mit ihm nod einen 
zweiten Trojibrief an feinen Freund ab, batirt vom 3. Oftober 
und ebenjo gnädig gehalten wie der erjte. 

Alexander jchrieb: „Lieber Freund! Dein förperlicher und 
geijtiger Gejundheitszuftand nad ſolch einem Unglück beunruhigt 
mih in hohem Grade. Abſichtlich habe ich Peter Andrejewitich 
Kleinmidel, einen Dir ergebenen Mann, hierher berufen, um mit 
ihm Deine Lage zu berathen, und nad) langer Ueberlegung find 
wir zum Schluß gefommen, er jolle die Inſpektion der unter 


*) Der hier miedergegebene Brief Kaiſer Nleranderd an den Grafen 
Araktſchejew iſt Ichon einige Male im Druck erichienen, aber in verfürgter und 
verftümmelter Geſtalt. Die Worte des Kaiſers: „obgleich ich die Perjon, die 
von Dir beweint wird, nicht gefannt und niemals gejehen habe, aber jie war 
Dir eine aufridtige und langjährige Freundin — das ijt genug, dab diejer 
Verluſt Dich tief betrüben mußte” gefielen wahriceinlid) dem Grafen Araftichejem 
nit, und deshalb fehlen dieſe Worte in den von ihm ſpäter verbreiteten 
Abſchriften des Kailerlihen Briefes. Man darf nicht vergefien, daß damals 
erzählt wurde, Kaijer Alerander habe beim Beſuche Grufinos auch die Najtasja 
Minkin aufgeſucht und es nicht an Beweiſen der Aufmerkjamfeit ihr gegenüber 
fehlen laſſen; dieſe Klaiichereien ſchmeichelten der grenzenlojen Eigenliebe des 
Grafen Arattichejew und man fonnte natürlih von ihm nicht erwarten, er 
werde zur Bernichtung der entitandenen Legende mitwirken. Der Brief des 
Kaiſers in jeinem vollen Umfang widerlegt in entjchiedenjter Weile dieje Legende 
oder, richtiger gelagt, dieje Verleumdung und zeigt die Sache in ihrer wahren 
Seitalt, ohne Araktſchejewſche Berjchönerungsverjuche. 

(Anm. des Autors.) 


148 Taganrog im Jahre 1825. 


Kommando des Grafen Witt jtehenden Truppen auf eine andere 
Zeit verlegen, um unverzüglich zu Div zurüdfehren zu können. 
Ich aber werde die Möglichkeit haben, nicht nur über Deinen 
Sejundheitszuftand, jondern auch über die Details des unglüdlichen 
Greignijjes genaue Nachricht zu erhalten. Ich gejtehe es Dir, es 
betrübt mich in hohem Grade, daß Daller nicht eine Zeile über 
Did ſchreibt, während er mich früher jedes Dial pünftlid über 
Deinen Gejundheitszujtand benadridtigte. Kommt Dir benn 
wirflih nicht in den Sinn, wie groß die Sorge ift, die ih um 
Did in einer jo ernjten Zeit Deines Lebens tragen muß? Es ijt 
unrecht von Dir, einen Freund, einen Di) jo aufrichtig und fo 
lange liebenden Freund, zu vergellen, es ijt ein nod größeres 
Unredt, an jeiner Theilnahme an Deinem Kummer zu zweifeln. 
Dringend bitte ih Dich), lieber Freund, wenn Du es jelbjt nicht 
vermagit, jo laß mir durch einen Andern genaue Nadricht über 
Did zufommen. Ih bin in großer Sorge. 
Dein Did) jtets aufrichtig liebender.“ 


Doch begnügte ſich der Kaiſer nicht mit den angeführten 
Zeichen freundſchaftlicher Aufmerfjamleit; er erjtredte jeine Sorgfalt 
jo meit, daß er am 3. Oktober dem General Kleinmichel nod) 
einen Brief folgenden Inhalts an den NArdimandrit Photius 
einhändigte: 

„Bater Arhimandrit Photius! Nach allen Nahrichten, die 
an mich gelangt jind, befindet ſich Graf Alerei Andrejewitih nad) 
dem Unglüd, das ihn betroffen hat, in einem Zujtande äußerjter 
Muthlofigfeit, die nahe an Verzweiflung grenzt. ch weiß, wie 
body er Sie als Teeljorger jtellt, ih bin davon überzeugt, daß 
Sie mit Hilfe des Allerhöchſten viel auf feinen Geelenzujtand 
einwirfen fünnen. Indem Sie ihn wieder aufrichten, werden Sie 
dem Reiche und mir einen wichtigen Dienjt erweilen, denn Der 
Dienjt des Grafen Wraftichejew ijt für das Vaterland 
von Werth. Es it Chrijtenpflicht, mit Ergebung die Schläge, 
die von des Herrn Hand fommen, binzunehmen. Wir jind Alle 
in jeiner Hand. 

Indem id; Sie um Ihren Segen bitte, empfehle id mid) 
Ihren Gebeten an. 

Diejer Brief ift geheim zu halten.“ 


Taganrog im Jahre 1825. 149 


Als Antwort auf alle diefe Beweiſe von Gnade und 
freundichaftliher Gefinnung fühte Graf Araftichejew in feinen 
Briefen die Kniee und Hände des Kaiſers, folgte aber nicht ber 
dringenden Einladung jeines treuen Freundes, nad) Taganrog zu 
fommen, indem er fi mit Herzklopfen und täglichen Fieber: 
anfällen entichuldigte. 

Groß war das Erjtaunen des Generals Euler, als er ganz 
unerwartet die oben angeführte jonderbare Vorſchrift des Grafen 
Nraftihejew vom 11. September erhielt. Sofort ſchickte er an 
den Grafen einen Brief und bat ihn um Erlaubniß, bei ihm 
ericheinen zu Dürfen, wurde aber nicht angenommen „wegen 
ſchwerer Zerrüttung der Geſundheit.“ 

General Euler jchreibt in jeinen Denfwürdigfeiten: „Schon 
zehn Jahre lang wurden die Anfiedelungen nad) des Kaiſers 
eigenem Entwurf organifirt, Graf Wraftichejew, der von ihm 
unterjchriebene VBollmacdhtsbriefe in Händen hatte, war unum— 
ihränfter Vollzieher und räumte in des Kaiſers Namen alle vor: 
fommenden Hindernifie aus dem Wege, feine Obliegenheiten auf 
ih zu nehmen war folglich eine Aufgabe, die die Kräfte eines 
Jeden überjtieg, namentlih in Abweſenheit des Kaiſers; ich 
berichtete ihm von der mir ertheilten Vorſchrift des Grafen, 
erhielt aber als Antwort nur einen Brief Diebitich’s, der Kaijer 
habe meinen Bericht in Taganrog zu lejen geruht. Im legten 
Tertial des Jahres liefen von allen Militäranjiedelungen Rechen— 
Ihaftsberichte über die ausgeführten Arbeiten und über die Ver: 
pflegung ein, wurden Generalbudgets und Berichte zujammen: 
gejtellt, die durd) das Minifterfomite dem Kaiſer vorzulegen waren, 
wurden hinfichtlich aller Gegenjtände Anordnungen für das fünftige 
Jahr getroffen; folglih war die Zeit meines Antritts eine jehr 
Ihwierige: es mußten Torge abgehalten, Anfäufe für ungeheure 
Summen gemacht werden, die Bejtätigung mußte man aber vom 
Kaifer jelbjt erbitten, weil die Militäranfiedelungen nicht nur 
feinem Miniſter jondern auch feiner der höchſten Neichsinjtitutionen 
untergeordnet waren. Zu dem Zweck jchidte ich einen Feldjäger 
mit den Berichten an den Kaiſer nad) Taganrog, doch Diebitſch 
ihidte jie mir ohne irgend eine Nejolution zurüd, nur mit einem 
Brief, der Kaiſer habe fie zu lejen geruht, was mid in eine 
entjegliche Lage brachte. Nach der allgemeinen Regel hatte ich 


150 Taganrog im Jahre 1825. 


ohne Bejtätigung durd Sr. Dlajeftät nicht das Recht, irgend 
etwas in Ausführung zu bringen, ebenjowenig hatte ich die Macht, 
zu erklären, es jei das der Allerhöchite Mille, wenn id) das aber 
nit that, jo jah ich voraus, daß dann die ganze Organijation 
der Militäranfiedelungen im nächſten Jahr ins Stoden gerathen 
werde. Die Nothwendigfeit zwang mid, mir eine Macht anzu: 
maßen, die mir nicht gegeben war, und eigenhändig verjah ich 
alle Berichte mit der Aufichrift: „Se. Majejtät der Kaijer gerubte 
diefe Unterlegung in Taganrog zu lejen und fie zu genehmigen,“ 
d. h. ich handelte jo, wie der Graf zu thun pflegte, und übergab 
dann alle Berichte mit den entipredhenden Vorjchriften dem 
Oekonomie Komité, das nad ihnen handelte. Alles ging nad) 
früherer Ordnung und meine Verwaltung endete glüdlih, ohne 
geringiten Einſpruch von irgend einer Seite und zu volllommener 
Zufriedenheit des Grafen; doch zu einer jolhen Kühnheit würden 
ih nur Wenige entjchlojien haben, man mußte dazu jehr gut 
orientirt ſein.“ 

Des Grafen Araktſchejew eigenmächtige Niederlegung ber 
von ihm befleideten Staatsämter machte ſich in verderblicher Weije 
in einer Sache von allergrößter Wichtigfeit geltend, die perjönlid 
das Wohlergehen und die Sicherheit Kaifer Aleranders betraf. 
Es jei hier daran erinnert, daß der Unteroffizier des 3. Ukrainſchen 
Ulanenregiments Sherwood am 17. Juli 1825 dem Sailer jeine 
Denunziation der geheimen Gejellihaften übergeben, und als er 
fih auf den Weg madte, um weiter alle Fäden der damaligen 
Verihwörung aufzudeden, darum gebeten hatte, es möge unfehlbar 
zu einer gewiſſen Stunde des 20. Septembers ein YFeldjäger auf 
der Bojtjtation der Stadt Karatſchew im Orelihen Gouvernement 
ericheinen, dem er den geheimen Bericht über die von ihm ver: 
anjtaltete Unterfuhung einhändigen Fönnte. 

Nachdem Sherwood mit Erfolg jeine Nahforihungen beendet 
hatte, traf er, wie vorherbejtimmt, auf Tag und Stunde in Der 
Stadt Karatihew ein, doch der von ihm erwartete Feldjäger 
erihien nit. Der Stationsaufjeher fragte Sherwood, ob er 
nicht Pferde anjpannen laſſen ſolle. „Ich jagte ihm,“ ſchreibt 
Sherwood in jeinen Aufzeichnungen, „Daß ich ſtarke Kopfihmerzen 
babe, nicht weiter fahren könne, bat ihn um Eſſig, verband mir 
den Kopf und jtellte mich drei Tage lang frank, dann begann id) 


Taganrog im Jahre 1825. 151 


wieder allmählich mich zu beilern, und endlich, mehrere Tage nad) 
dem angelegten Termin, erſchien der Feldjäger; ich ſchickte den 
Stationsaufjeher unter dem Vorwande, er ſolle für mich etmas 
einfaufen, fort und fragte den Feldjäger, weshalb er nicht zehn 
Tage früher gefommen ſei, darauf erwiderte er mir, in Grufino 
fei die Najtasja Fedorowna ermordet worden und Araftichejem fei 
in Folge hiervon wie gejtört geweſen. Unterdeſſen begann die 
ganze Stadt gegen mid; Verdadht zu hegen; endlich erſchien der 
Polizeimeifter von Karatſchew bei mir und befragte mich, wer ich 
wäre und meshalb ich jo lange auf der Station mich aufhielte. 
Ich ſagte ihm, ich fei Unteroffizier, jei auf der Etation geblieben, 
weil ich mich nicht gefund fühle, jei auf ein Jahr beurlaubt, und 
zeigte ihm mein Billet mit der Unterfchrift des Grafen Araktſchejew 
und des Stabschefs Kleinmichel. Der Bolizeimeijter erichrad, bat 
um Entichuldigung, daß er mich inkommodirt habe und entfernte 
fh; aber dieſer Unterichied von zehn Tagen hatte wichtige Folgen: 
niemals märe es am 14. Dezember zum Aufitande der Garde 
auf dem Iſaaksplatze gefommen; die Häupter der Verichwörung 
wären rechtzeitig arretirt worden. Ich weiß nicht, wen man es 
zufchreiben ſoll, daß ein jo hoch jtehender Staatsmann, wie Graf 
Araftichejew, dem Kaiſer Alerander I. jo viele Wohlthaten erwieſen 
hatte und dem er jo ergeben war, die Gefahr, in der fi das 
Leben des Kaiſers und die Nuhe des Neichs befand, gering achtete 
wegen eines trunfjüchtigen, dicken, gedenartigen, ungebildeten und 
boshaften Frauenzimmers von jchlechter Führung: das giebt zu 
denfen.“ 


(Schluß folgt.) 


. 


In dem Tagehuch des Grafen Gotthard Mantenfel 


während feiner Neife aus Livfand nad Deutichland im J. 1783, 
(Jahrgang 1897 der „Balt. Mon.”, Beilage S. 317— 336.) 





Ueber den Grafen Gotthard Manteuffel, der im Mai 1783 
von Niga aus eine Reife nady Deutichland antrat und über jeine 
Erlebnilfe und Anichauungen bis zum 6. Juli in einem Tagebuch 
berichtet, hat der Herausgeber des Neifeberichts nichts Näheres zu 
ermitteln gewußt. Der Neifende verweilte während der anderthalb 
Monate die längjte Zeit (vom 9. Juni bis zum 1. Juli) in 
Deſſau. Dieſe Stadt genoß damals eines mweitverbreiteten Rufes 
durch einen trefflichen funftjinnigen und Bildung fördernden Füriten, 
unter feinem Schub jchien für die Jugenderziehung von dem 
philanthropiichen Jnjtitut, das Baſedows Reform ins Leben über: 
führen follte, ein neuer Tag anzubrehen. Wir jehen aus ben 
Aufzeihnungen, dat diejer Ruhm Dejjaus und feiner Erziehungs: 
anjtalt auch ihren Verfaffer ganz hingerifien hat. Won mahrer 
Hochachtung für den Fürjten Friedrih Franz erfüllt und tief 
bewegt nimmt er Abichied, und jeinen Eindrud von dem Philan- 
thropin, an dem allerdings einiges ausgefegt wird, faht er doch 
in die Worte: Hätte ich Kinder, mehr fann ich nicht jagen, hierher 
müßten fie, wenn die Anjtalt jo bleibt, wie fie iſt. Da unter 
den Schülern „Coufin Ernſt Manteuffel“ genannt wird und dejien 
Vater der Landratd Graf Mantenffel in Schloß Ringen mar, jo 
muß Graf Gotthard, der Sohn eines älteren Bruders bes liv- 
ländiſchen Landraths gemwejen fein. Danach hat dann unlängit 
5. Amelung (Dünazeitung 1898, Nr. 94) aus der Stammtafel 
der Familie im ehitländiichen Ritterſchaftsarchiv die Perſönlichkeit, 
um bie es fich handelt, als den Grafen Gotthard Johann, Beſitzer 
von Münfenhof und anderen Gütern in Ehjtland, feitgejtellt, wobei 
fich das Todesjahr 1780 in der Stammtafel als unrichtig ergiebt. 
Aus der Stammtafel im livländiichen Ritterſchaftsarchiv, die ſehr 
füdenhaft ift, läßt fi) noch entnehmen, daß er in der Chevalier: 
garde gedient hat, woraus die Bezeichnung Chevalier ſich erflärt. 
Menn nun außer den Vettern, in denen wir die beiden Philan- 
thropiften aus Schloß Ringen erkennen, nody bei einem Abend» 


Bu dem Tagebuch des Gr. Gotth. Manteuffel (17883). 153 


eſſen „Schmweiterfinder Mathefon und Sander” (S. 328) angeführt 
werden, jo zeigt die folgende Charakterijtif von Mathejon und 
Sander, daß dieje feine Schüler waren, und nur das mangelnde 
Komma hat F. Amelung auf die faliche Fährte geführt, hier 
Kinder von Schwejtern des Grafen, die an Mathefon und Sander 
verheirathet gewejen, zu juchen. Sehen wir das Verzeichniß von 
Zöglingen an, die aus den Dftlfeeprovinzen nad Deſſau entiandt 
waren (Balt. Monatsichrift 43, 131 ff.), fo finden wir die Schweſter— 
finder in zwei Brüdern von Schwengelm (26, 27), die als Stief- 
föohne des Grafen Sievers auf Nopkoi bezeichnet werben. In eriter 
Che mar ihre Mutter, Henriette Juliane geborene Gräfin Man: 
teuffel, mit Herren von Schwengelm, Erbheren auf Wennefer in 
Ehftland vermählt, der am 29. Dezember 1774 beerdigt wurde, 
in zmeiter mit dem Grafen Johann Karl von Sievers, deſſen 
Sohn erjter Ehe Paul gleichzeitig mit den beiden Schwengelm in 
das Philanthropin eintrat. Die Stammtafel der Grafen Sievers, 
die übrigens die obigen Vornamen nicht angiebt, belehrt uns noch, 
daß die Gräfin 1785 zu Altona gejtorben iſt, erblos, jo weit es 
ihre zmeite Che betrifft. 

Haben mir jo mit Hilfe genealogiichen Materials uns einige 
Klarheit über Perſonen und Namilienbeziehungen geichafft, To 
vermag eine litterariiche Quelle, die freilich nicht überall zugänglich 
fein wird, noch einige Züge aus dem Leben des Grafen Gotthard 
Manteuffel und der Gräfin Juliane Sievers zu liefern. 

Nah Erwähnung jener Abendgelellichaft in Deſſau (S. 328) 
fagt Graf Manteuffel: „Ih kann diefen Augenblid nicht übergehen, 
ohne zu jagen, daß id) wenig jo jehr gute Menſchen gefunden 
al& den Matheion, voll reiner, wohlerfannter Gottesfurdt und 
einem herrlichen Herzen, wei, aber jtrenge Urdnungsliebe und 
echt geläuterte Liebe zu feinen Untergebenen und Zöglingen, die 
denn auch an ihm mie an einem Freund und Vater hängen.” 

Dies erweilt doc Mar, daß wir einen Lehrer und Erzieher 
des Inſtituts vor uns haben, und unter der ungenauen Namensform 
erfennen wir den befannten Dichter Friedrich Matthilion, der 
als Zmanzigjähriger an der berühmten Anftalt eine Stellung antrat. 
Mir befigen von ihm eine Selbitbiographie, aus dieſer erfahren 
wir, welche Wichtigkeit für fein ganzes Leben in den nächſten 
Jahren eben Graf Danteuffel und deſſen Schweiterfinder gewannen. 


154 Zu dem Tagebuch) de8 Gr. Gotth. Manteuffel (1783). 


Sie findet fi) in dem Sammelwerk: Zeitgenoſſen. Biographieen 
und Charakterijtifen. 1. Bos. + Abth. Leip,ig und Altenburg 
1816. Im Kolgenden geben mir ihm jelber das Wort. 


* * 
* 


Zugleihd mit Spazier, dem afademifhen Freund, trat 
Matthiifon im Frühjahr 1781 in den freudig erforenen Wirfungs- 
frei, unter günftigen Worbedeutungen, ein. So waren 3. B. bie 
acht Knaben, welche jeiner unmittelbaren Aufjicht übergeben wurden, 
durchaus gutartig und mwohlgezogen, jo daß es von feiner Seite 
gar feiner jtudirten Kunitmethode bedurfte, um ihnen Wohlmollen, 
Vertrauen und Folgſamkeit abzugewinnen. Mit ganz befonderer 
Liebe hingen an ihm zwei Brüder aus Livland, der eine von 
zehn, der andere von adt Jahren. Ihre Muttter, Juliane 
Gräfin Sievers, war eine Frau von männlid jtarfem und 
weiblich mildem Charafter, die zurüdverpflanzt jchien aus den 
goldenen Zeiten der altrömijhen Eitteneinfalt und Herzensfraft.*) 
Der feitbegründete Ruf des philofophiichen Arztes Hensler zu 
Altona**) bejtimmte die ſchon jeit Jahren fränfelnde Gräfin, in 
feiner Nähe Genefung oder Tod ruhig zu erwarten. Auf ihrer 
Durchreiſe nad Altona lernte Matthiſſon die würdige Frau, mit 
welcher er jchon in regelmäßigem Briefwechſel ſtand, perfönlic 
fennen. Sie jchied mit den Worten: „Auf frohes Wiederſehen 
in Altona!” Die Verabredung war nämlich getroffen worden, 
daß Matthiſſon binnen Jahresfriſt in Gefellichaft ihrer Kinder 
eine Beluchreiie dahin machen follte.***) So reifte denn mieder 


*) In feinen Erinnerungen (Zürich 1810, 1, 328) fagt Matthiffen nad 
diefer Charafteriftit noch: Ihre theueriten Kleinode waren zwei holde Anaben; 
und fchmiegten diefe lichfolend fi an die mütterliche Bruſt, fo erblidte man 
die hohe Kornelia mit den beiden Gracchen. 

**) Später Profeffor in Kiel, auh aus B. &. Niebuhrs Leben befannt. 

***) Für diefen Beſuch der Gräfin wird ein Jahr nicht angegeben. Da 
Graf Manteuffel mit einer Schweſter reiite, To werden wir die beiden Heilen 
als eine gemeinichaftlich unternommene anichen dürfen, die in Altona zu dem 
erwähnten Zwed ihren Abſchluß fand, alio das Jahr 1783 anfegen. Allerdings 
fommen nad der ausgehobenen Stelle Begebenheiten aus dem Jahre 1782 vor. 
Es ift aber nicht möthig, eine durchaus chronologiſche Ordnung anzunehmen. 
Sept man den Bejuch der Gräfin 1782, mie Hoſäus in der allgem. deutjchen 
Biographie (39, 677) vorausjegt, fo wäre doch die Reiſe nah Altona im 
folgenden Jahr oder ihr Unterbleiben ausdrüdlic erwähnt worden. 


Zu dem Tagebuch des Gr. Gotth. Manteuffel (1783). 155 


einer der Lieblingswünfche feiner Yünglingsjahre, die —— 
mit Klopſtock, der Gewährung entgegen (S. 31). 

[Während Matthiſſons Mutter einige Wochen zum Befuce 
in Deffau vermweilte, 1783] fam ein Brief aus Altona von der 
Gräfin Sievers, worin ſie dem bisherigen Aufjeher ihrer Söhne 
den Vorſchlag that, mit ihnen das Deſſauer Erziehungshaus zu 
verlaflen und ſich diefen hoffnungsvollen Knaben allein zu widmen, 
in deren Gefellichaft fie die legten, vielleiht nur noch ſparſam 
gezahlten Lebenstage zujubringen wünſchte. „Meine Geſundheit,“ 
war der Schluß, „verichlimmert ſich täglih, und id habe dem 
Glauben an Genejung troß Henfters guigemeinter Scheinüberzeugung 
vom Gegentheil völlig entſagt. Dieſen Umjtand bitt' ih Sie 
bei meinem Antrag am jchärfiten ins Auge zu fallen.“ 

Auch gänzlich abgeiehen von dem enticheidenden Umftande, 
würde Matthilfon diefem Ruf ohne weiteres Bedenfen gefolgt 
fein (©. 38). 

Im April 1784 verließ Matthiffon mit feinen beiden 
Zöglingen Deffau und ging dem friedlicheren und ftilleren Beruf 
mwohlgemuth entgegen.) 

Bei der Ankunft in Altona trafen unfere Neilenden Die 
franfe Gräfin Sievers jehr leidend an. Durch die Vorjtellung, 
von ihren Kindern ungetrennt bis zum Tode zu bleiben, jchien 
indeß ber ſchwach glimmende Lebensfunfe noch einmal heller 
aufzuleudhten. Ueber ihr blaſſes Geficht flog ein augenblidlicher 
Schimmer von Heiterfeit oder vielmehr von Verklärung, der nicht 
mehr von dieſer Welt war. Den Gemahl der Gräfin hielten 
Familiengeſchäfte nody im Vaterland zurüd. Seine Stelle vertrat, 
als Reiſegefährte und Sadwalter, ihr ältejter Bruder, Graf 
Gotthard Manteuffel. Dieler ausgezeichnete Nordländer 
verband mit einer jchönen, männlichen Geftalt feingeichliffene 
Hoffitte, mannigfache Geiftesbildung, vieljeitige Welterfahrung und 
meitumfichtige Lebensklugheit. Er Hatte nach und nach die ganze 
franzöfifche Enzyflopädie durchgeleſen und verjtand ſich vortrefflich 


*) Da auch der Stieflohn der Gräfin zu gleicher Zeit austrat (Balt. 
Monatsichrift 43, 132), To fällt deffen Nichterwähnung bier auf. Irrthümlich 
fagt ©. Franfe (a. a. D. 129): Matthiffon begleitete den Grafen Gotthard 
Manteuffel (auf die Univerfität), — eine Verwechielung zweier Beitern gleichen 


Namens, aber jehr ungleichen Alters. n 


156 Zu dem Tagebuch; des Gr. Gotth. Manteuffel (1783). 


darauf, in der Konverfation die Früchte diefer Lektüre vermöge 
feiner ausnehmenden Urtheils: und Gedächtnikfraft immer glüdlich 
und ortgerecht anzubringen und auf dieſe Meile, dem Scheine 
nad ganz ohne Wiſſen und Mollen, ſich in das Anjehen eines 
gründlihen und fafultätgeredhten Gelehrten zu Teen, auch mar 
er einer der angenehmjten Erzähler, jelbjt nad) dem Ausiprud 
der Kailerin Katharina, und feinen Heinen Poefien in franzöfiicher 
und deuticher Sprache, nur dem engeren Gejellichaftszirfel bejtimmt, 
gebrach es garnicht an Zierlichfeit und MWig. Dabei ward von 
ihm die nur allzu oft vernachläffigte Klugheitsregel in Ausübung 
gebracht, den Vorgeſetzten der Zöglinge, bejonders menn dieſe 
zugegen waren, nicht als gedungenen Miethling, fondern als 
erworbenen Freund zu behandeln. Ihm verdankt Matthiſſon die 
michtigften Worjchriften, Winke und Aufichlüfe über MWeltleben, 
Geiellichaftsmweile und Schidlichfeiten, zugleich mard er aber durch 
den Eintauſch trauriger Wahrheit gegen fröhlichen Mahn auf den 
Uebertritt aus der idealiftiichen Welt in die wirflihe allmählich 
vorbereitet. 

Claudius, der nie dem Range, fondern immer nur bem 
Verdienit huldigte, fam öfters zu der franfen Gräfin Sievers, 
welche jeine Schriften liebte. Ihre Rinder erwiderten in Begleitung 
des Lehrers diefe Beſuche zu Wandsbek, wo Claudius ein ge— 
räumiges, gut gebautes Haus bewohnte und einen großen Küchen- 
und Objtgarten fultivirte ut prisca gens mortalium (S. 40, 41). 

Wenn Hensler auch die Heilung der Gräfin Sievers auf- 
geben mußte, jo gelang es ihm doch mwenigitens, ihr bie Grenze 
des unbefannten Yandes mit Blumen zu beftreuen. Sie war nie 
fortdauernd bettlägerig und jtarb, als der Frühling 1785 zu 
grünen begann, in ihren Armſeſſel zurüdgelunfen, mit dem Lächeln 
einer Deiligen. Wenige Tage vor ihrem Tode machte fie die legte 
Spazierfahrt, um ihrem Bruder die Stätte zu bezeichnen, mo man 
fie hinlegen follte. Dem zufolge ward fie auf dem Gottesader 
des Dorfes Ottenfen an der Seite von Margaretha Klopftod 
begraben. Ein einfacher Sanditein ohne Wappen und Grafenfrone 
fagt dem Wanderer, daß fie tugendhaft lebte und glaubensvoll jtarb. 

Um den Schmerz der trojtlofen Knaben zu mildern, ließ der 
Graf Manteuffel fie mit ihrem Lehrer eine Fußreiſe durch einen 
Theil von Schleswig und Holftein machen. 


Zu dem Tagebuch des Gr. Gotth. Manteuffel (1783). 157 


Der Graf Manteuffel hatte nun den Entichluß gefaßt, die 
Oberauffiht über die Erziehung feiner Neffen zu führen und bis 
zur vorläufigen Endigung derjelben ſich nicht von ihnen zu 
trennen. Es mar eine feiner vorherrichenden Erziehungsideen, den 
Aufenthaltsort der jungen Leute von Zeit zu Zeit wo anders hin 
zu verlegen. Er vertaujchte daher im Sommer 1785 Altona mit 
Heidelberg. Zu folder Wahl ward er durch die einladende 
EC childerung des berühmten Sulzer von SHeidelbergs maleriicher 
und romantiiher Lage im Neiletagebuche dieſes Gelehrten von 
Berlin bis Nizza hauptſächlich bejiimmt. Wenn wir nun bei 
dem reizenden Bilde der Gegend noch die geſunde Luft, Die 
wohlfeilen Lebensmittel und den guten Gejellichaftäton mit in 
Anſchlag bringen, jo war die getroffene Wahl im höchiten Grade 
gerechtfertigt. Der Graf nahm eine Wohnung, welche die Ausficht 
nah dem Nedar und dem angrenzenden Maldgebirge hatte, traf 
eine mohlberechnete Dauseinrichtung und ordnete alles auf das 
Zmwedmäßigite nach dem augenblidlihen Bedarf der Kolonie. 

Nicht nur des Oheims väterliche Vorjorge, Tondern auch des 
Lehrers redliches Bemühen belohnten die hoffnungsvollen Knaben im 
reihften Maß. Zur Aufmunterung und Belehrung der leßteren 
dienten Spaziergänge nad Mannheim. Bier wurden die Gemälde- 
gallerie, reich an Meiſterſtücken, beſonders aus der niederländijchen 
Schule, und der Antifenjaal, in welhem die Gypsabgüſſe der vor: 
züglichiten Sfulpturwerfe des Alterthums ein wahres Kunftpantheon 
darftellten, mit Eifer dDurchgemuftert. Auch das Theater der freundlichen 
Stadt blieb jelten bei ſolchen Ausflügen unbeſucht (©. 42, 43). 

Im Frühjahr 1786 verlegte der Graf Manteuffel feinen 
Wohnſitz nah Mannheim, wo unter dem Kurfürſten Theodor 
für Wiſſenſchaften und Künfte ſchon viel Nahahmungswerthes 
eingerichtet war und noch eingerichtet wurde. Bejonders erfreuten 
th Schauſpiellunſt und Muſik einer Epoche des Blühens und 
Reifens, die für unfer Vaterland, jo lange darin Theater und 
Orcheſter bejtehen werden, auf immer denfwürdig und unvergeßlich 
bleiben muß. 

Vom Grafen Manteuffel, der jelbjt ein poetiſcher Dilettant 
mar, dazu aufgemuntert, gab Matthifion zu Mannheim im Verlag 
der afademiichen Buchhandlung ein Bändchen von Iyriichen Gedichten 
heraus (S. 45). 


5* 


158 Zu dem Tagebuch des Gr. Gotth. Manteuffel (1783). 


[Im Herbit 1786 madte Matthiffon die Rheinreiſe von 
Mainz bis Düfleldorf und verfiel nad der Rüdfehr zu Mannheim 
in ein hartnädiges Fieber] Der treue Jung hatte ohne bes 
langſam Genejenden Wollen und Willen hierüber an Bonitetten 
Bericht eritattet. Da murde Matthiiion von dieſem bejorgten 
Freunde dringend aufgefordert, feine Feſſeln, mie er fih aus: 
drüdte, abzuitreifen, eine jo weite Strede durd das Erbenleben, 
als Fatum und Parze vergönnen würden, mit ihm Hand in Hand 
zu wandeln und die alte Burg von Nyon nicht anders forthin 
zu betrachten, als hätte feine Wiege darin geftanden. 

Der Graf Manteuffel, immer fonjequent und gerecht, jo oft 
vom Wohl oder Wehe des hinlänglich erprüften Familienfreundes 
die Rede war, bot hierzu die Hand um fo milliger, da die Privat: 
erziehung feiner Neffen vollendet war. Dem zufolge trat ihr 
bisheriger Lehrer im Sommer 1787 die Reife nad) der Schweiz 
an (S. 46). 


+ * 
* 


Aus dieſen erſten Wanderjahren ſtammen auch die erſten 
Briefe des Dichters, die er ſelbſt 1795 in Zürich erſcheinen ließ. 
Darin iſt aber „das meiſte, was nur ben Verfaſſer und feine 
Korreipondenten perjönlih anging,“ meggeichnitten, jo daß nur 
an einer Stelle bemerkt wird, die Neile von Altona nad) Heidelberg 
fei am 29. Juli 1785 in Gefellichaft des Grafen M. angetreten 
worden. 

Spätere Erwähnungen des Grafen Manteuffel oder der 
einftigen Zöglinge begegnen uns in der Biographie niht. Nur 
als er einige Jahre jpäter auf einer Reiſe nad) Kopenhagen über 
Hamburg feinen Weg nimmt, gebenft er in bewegten Worten ber 
Gräber auf dem Kirchhof zu Ottenien, Margaretha Klopſtocks und 
der Gräfin Juliane Sievers. 


Victor Diederichs. 


Kine politiihe Rede vom Jahre 1601. 


Mitgetheilt von Dr. Fr. Bienemann jun. 


Der lange, fait dreißig Jahre währende Krieg zwiihen Polen 
und Schweden jeit Beginn des 17. Jahrhunderts, erjtredte jeine 
Wurzeln tief in den Boden der agarejjiven fatholiihen Reaktion, 
die man mit dem Namen der Gegenreformation zu bezeichnen 
pflegt. Sie drohte, Ichritt fie auf ihrem Marjche widerjtandslos 
vorwärts, dem ‘Protejtantismus in Europa den Lebensathen zu 
erjtiden. In Schweden trat die Frage in dem Streite zwiſchen 
Sigismund III., König von Polen und zugleich jeit 1592 als 
Nachfolger feines Vaters Yohann Ill. aud König von Schweden, 
einerjeits und jeinem Oheim Hy. Karl von Südermannland, dem 
Reichsverwejer, und der bei weitem überwiegenden Mehrzahl des 
ihwediichen Volles andererjeits in die Erjdeinung. So gewann 
bier der Kampf freilich einen perjönliden Charakter. Sigismund 111. 
wurde aus Schweden vertrieben, aus jeinem legitimen Erbreid. 
Aber für Herzog Karl gejtaltete ji) der Streit zu einem Kampf 
um das Vajaerbe im Großen, um die religiöfe und politijche 
Freiheit des Volfes, zu einem Kampf, den er in wahrhaft vater: 
ländijcher, uneigennüßiger Abfiht — denn nicht die Königskrone 
war jein Ziel — auf fid nahm. 

Der Krieg begann in Schweden, er jpielte dann nad) Finnland 
hinüber, endlich nad) Ehitland und Livland. In faum eines halben 
Jahres Frijt hatte Herzog Karl fait ganz Yivland erobert. Und 
überall hatten die Xivländer, ein Gebiet nah dem andern, mit 
ihm fapitulirt und ſich ihm angeſchloſſen. Anfangs nur zögernd 
und langſam — noch Ende 1600 hatte die livländiiche Adelsfahne 
auf Sigismunds Ruf jih verjammelt und in dem für die Polen 
jiegreihen Treffen bei Wenden mitgefochten — dann aber immer 
entichiedener und immer klarer die politiide Tragweite diejes 
Schrittes erfennend: der Abfall von Polen, der Anihluß an 
Schweden, dem ein Theil Alt-Livlands — Ehſtland — ja längit 
ihon angegliedert war, mußte die größere Garantie bieten, daß 
ihre religiöjfe und politiiche Freiheit aufrechterhalten werde. Oder 
vielmehr wieder hergeitellt werde; denn Die polnische Derrichaft 
hatte beides nicht nur gefährdet, jondern zu einem großen Theile 
vernichtet. So jtellten fie jih unter Schwedens Schug, geführt 
vornehmlih von Johann Tiejenhaujen auf Berjon, ihrem Vertreter 


160 Cine politiihe Rede vom 3. 1601. 


und Vorfämpfer auch ſchon während der legten Jahre. Hatten 
zunächſt die Vertheidiger der einzelnen Häujer und Sclöfjer, Die 
Edelleute der umliegenden Nachbarſchaft, allo jedes einzelne Gebiet 
für ih unter bejtimmten Bedingungen und Garantien fapitulirt 
und dem Herzog gehufldigt, To fanden bald darauf im Mai 1601 
in Neval Verhandlungen jtatt, bei denen alle jene Bedingungen 
der Einzelfapitulationen zulammengefaht wurden; das Nejultat 
diejer Verhandlungen bildeten jchließlih die für die Stellung 
Livlands unter Schwedens Herrſchaft fundamentalen Privilegien 
von 1602. So war Livland im Frühjahr 1601 ſchwediſch 
geworden. Nur Riga und Kokenhuſen fehlten noch. 

Wie an alle übrigen Livländer, hatte Herzog Karl auch an 
die Stadt Niga die Aufforderung ergehen laljen, jih mit ihm 
und den jämmtlichen livländischen Ständen zu vereinigen. Es 
iheint nun fait, als habe Riga Anfangs nit offen abgelehnt; 
wenigitens beutet Herzog Karl das in einem Briefe an. Als er 
jedody den Franz Ulthöveling zum zweiten Mal in die Stadt jandte, 
nahm man ihn hier feſt und jchiete ihn nach Polen. Aber nod) 
am 24. Januar 1601 jchrieb der Bürgermeijter Ede an den Herzog: 
„Ich habe ganz gerne verjtanden, was dero Diener wegen E. erl. 
Sn. löblihen Vorhabens mir mündlich eröffnet und angebradt. 
Spüre daraus derojelben jonderliche gute Affeftion und Gemwogenbeit 
gegen diejer guten Stadt jowohl als gegen dem ganzen Yand und 
wünjche von Bott, daß jolches nach Wunsch und Willen derjelben 
glüklid fortgehen und fie aljo dem gemeinen Valerland bardurd) 
viel nützlich und eriprießlich fein mögen, darzu dann E. erl. On. 
e. e. Rath allhie, dann aud ich für mein Perſon nad allem 
Vermögen zu dienen jederzeit erbietig und willig jein, inmajjen 
E. erl. Gn. jolden auten Willen ihr Cecretarius mit mehrem 
mundlih erflären wird.“ Allein dies waren im Grunde doch 
bloß Redensarten. Aus Polen war durd Gerhard Dönhoff die 
Nachricht gelommen, David Hilden, der frühere Rigaſche Syndifus, 
habe die Stadt bejchuldigt daß fie „gut ſchwediſch“ gefinnt jei. 
Das mahnte noch mehr zur Vorjicht und verfehlte jeine Wirkung 
nicht. 

Herzog Karl beklagte ſich über die ungeredhtfertigte Behandlung 
leines Boten Olthöveling; wieder und wieder jtellte er der Stadt 
vor, welcher Schritt für fie der vortheilhaftejte wäre. So langte 
auh am 17. März wieder ein Trompeter mit einem Briefe des 

*) Den ganzen Verlauf diejer Ereignijje hoffe ich demnädit an anderem 
Orte eingehend zur Daritellung bringen zu können. 


Eine politijdhe Rede vom J. 1601. 161 


Herzogs in Riga an. Fünf Tage jpäter aber jandte der Rath 
den Selretären Peter Jeger zu dem wartenden Trompeter, um 
ihm jagen zu laflen, daß er jein Schreiben nicht empfangen 
werde; er ſolle jih alsbald von hinnen maden und ji nicht 
länger in der Stadt oder deren Weichbild finden laſſen. Durch 
den Stadtwachtmeiſter wird jener dann bis zur VBogelitange hinaus: 
begleitet. Dort aber lauerten die Polen aus Dünamünde auf ihn 
und nahmen ihn gefangen. In der Stadt aber ließ der Rath 
nun ein Edift anjchlagen, daß feiner vom Herzog Karl etwas 
gutes jagen oder ihn loben jolle. Als dann bald darauf abermals 
ein Bote des Herzogs, Thomas König, mit einem ausführliden 
dringenden Schreiben, Datirt aus Kofenhujen, 31. März, erſchien, 
wurde er ebenjo wenig gehört, jondern jtrafs abgemwiejen. 

Der Herzog belagerte inzwilchen die Feſte Kofenhujen. Won 
bier aus hat er dann auch nod) einen anderen Verſuch gemacht, 
Riga zu gewinnen. Es jollte ein Landtag in Reval jtattfinden, 
auf dem der endgiltige Anſchluß der livländiſchen Stände berathen 
und fejtgejtellt werden jollte. Bevollmächtigte Gejandte der einzelnen 
Kreile und Städte jollten dort ericheinen. Zuvor mubten natürlic) 
in den einzelnen Kreijen die vorberathenden Verſammlungen jtatt: 
finden. In diejer Zeit nun, offenbar im April, hat Herzog Karl 
einen angejehenen VBertrauensmann aus der Mitte des livländiichen 
Adels nad) Riga gejandt, damit er nodmals, und zwar lediglich 
Namens der livländiichen Landſchaft, die Stadt zum Anſchluß zu 
bewegen juche. Dieier Dann war Johann Tiejenhaujen von 
Berjon, vordem neun Jahre lang Nitterihaftshauptinann und 
jegt in der neuen politiihen Bewegung eine der einflußreidjten, 
thätigiten und wirkſamſten Berjönlichkeiten. 

Ueber diejen Vorgang jind wir bisher nur durch eine ganz 
furze Notiz bei einem nnjerer Chroniften, Menius, unterrichtet, 
von dem jie dann andere, Kelch und Hiärne übernommen haben. 
Denius jagt bloß: „Wurde aljo Herr Johann von Tiejenhaujen, 
der lettiſchen Ritterichaft Hauptmann, ſammt anderen Xegatis nad) 
Riga geichidt, nicht in des Herzog Caroli, jondern der Yandjtände 
Namen die Nigiiche zu vermahnen, fich von dem ganzen corpore 
nicht abzujondern, quia vis unita fortior. In jelbiger Oration, 
jo er dajelbjt publice gehalten, erinnert er jie des wunderjeltzamen 
polniſchen Regiments, welches nur lauter ad exstirpandos Germanos 
angejehen, wesjals denn auch jie nicht jonderlidyes zur Gegenwehr 
jich gejchidet, jondern den Verlujt nur gerne gejehen, auf dab fie 
das arme Lieffland mit dem Schwerd recuperiren und der Privis 


162 Eine politiihe Rede vom J. 1601. 


legien berauben könnten; aber er richtete nichtes aus.“ Hiärne 
weiß allerdings noch zu melden, die Rigiichen hätten zur Antwort 
gegeben, „daß, wenn die Schweden des ganzen Landes mädhtig 
werden, jie alsdann auf ſolche der Landſchaft Werbung richtigen 
Beicheid geben wollten.“ Das ijt alles, was wir bis jegt Darüber 
wußten. Bier nun joll die Nede jelbit, die Johann Tiejenhaufen 
gehalten, zum erjten Mal zur Mittheilung gelangen. Ich habe 
fie zu meiner großen Ueberraſchung und Freude in einem Konvolut 
den polniichen Krieg betreffender Papiere im jchwediichen Reichs: 
ardiv zu Stodholm gefunden und glaube, daß fie interejfant genug 
it, auch an dieſer Stelle veröffentlicht zu werden. 

Die Rede gewährt uns einen unmittelbaren Einblid in die 
politiichen Meinungen und Empfindungen der Livländer in jenen 
Tagen. Und wir find jehr arm an joldden unmittelbaren, zu: 
jammenhängenden Neußerungen. Geijt und Fühlen vergangener 
Tage ziehen bier deutlicher, greifbarer an unjerem geijtigem Auge 
vorüber, als jpäter abgefahte Annalen fie uns aufzuzeigen ver: 
mögen. Und dann fommt bier nody eins in Betracht. Wir 
wiljen, daß Johann Tiejenhaujen, der an allen Angelegenheiten 
jeines Vaterlandes jeit 1587, wo er auf dem Warjchauer Reichs: 
tage Mitvertreter und Redner der livländiihen Landſchaft war, 
den thätiglten Antheil genommen Hatte, jeit 1593 eine Art 
Protofoll geführt hat, in daß er „alles was ſich bei jeiner Zeit 
in livländiihen Sachen begeben und zugetragen“ aufzeichnete. 
Diejes Protofoll nun war noch im vorigen Jahrhundert vorhanden, 
der alte Gadebuſch bejak es. Seitdem aber ift es verjchollen und 
wird jehr bedauerlicher Weile wohl faum wieder aufzufinden jein. 
Nun will es aber jcheinen, als böte uns jeine Rigaſche Nede 
wenigitens in Hinfiht auf jeine Anjchauungsart und Auffaflung 
der Dinge gewiljermaßen einen Heinen Erſatz. Das dürfte uns 
den Werth der Nede nicht unmejentlich erhöhen. 

Wie bemerkt, wurde die Nede im Auftrage Herzog Karls 
gehalten. Na noch mehr, fie wurde ihm vorher, wie aus einer 
Schlußbemerfung der Handichrift hervorgeht, zur Ratififation vor: 
gelegt in einer jauberen Abjchrift, die mit der eigenhändigen 
Unterichrift Johann Tiejenhaufens verjehen war, ebenderjelben, 
die jih im Stodholmer Archiv erhalten hat. Die Ueberſchrift 
giebt uns an, an melde Adreſſe die Nede gerichtet werden jollte. 
Sie lautet: 

Oration und Anwerben auf des di. und großen 

Fürften und Herren, Herrn Garoli 2c. 2c. gnädiges Zulaß und 


Eine politiihe Rede vom 3. 1601. 163 


Nachgeben, jo im Namen und von wegen e. wgb. und geftr. 
Ritter: und Landihaft den Herren Burggrafen, Bürger 
meijtern, Hathverwandten, Meltejten und ganzer Gemeine der 
fol. Stadt Riga durch die wgb., geitr. und ehrenfeite Derren 
N. N., ale ihre vollmädtige an ihnen abgefertigte Gejandten, 
zu proponiren und anzutragen anbefohlen worden. Anno 
Domini 1601, den ... 


Nah dem Gruße folgt dann die Nede*) jelbit: 


Rn N * 

Iſt einmal Zeit und Stunde vom alten Schlaf, vom Schlaf 
der Sünden ſich aufzumuntern, günjtige Herren und nadıbarliche 
gute Freunde, es ijt mwahrlid eine Zeit, zu mwelder uns der 
barmberzige Gott väterlich heimjucht. it abermals jage ich eine 
Zeit, darinnen man Gott, den Geber alles Guten, um Weisheit, 
Verjtand, WVorjichtigfeit und guten Rath mit bußfertigem Herzen 
zu bitten Urſache bat; und es ift eine Zeit, merfet meine Morte, 
Gott den getreuen Vater um das Band der Liebe, gutes Ber: 
jtändniß und Einigkeit anzurufen! Fürwahr es iſt die Zeit, ich 
wiederhofe es nochmals, in welder uns Gott aus lauter Güte 
heimſuchen thut. Wieviel unjerer Vorfahren haben dieſelbe zu 
erleben ſehnlich gewünſcht, aber die bejtimmte Zeit von ©ott ihrer 
Tage nicht erreichen mögen. Wieviel mehr haben wir dann Gott 
dem getreuen Vater zu danken, der uns jolches zu erleben gnädigſt 
gegönnt. 

Weil nun in allen hochwichtigen Sachen vornehmlich diejes 
zu beherzigen, ob es ehrenvoll, oder nützlich oder leicht zu bewerk— 
jtelligen jei, und wohl zu beherzigen ganz nöthig, was ein jeder 
zu thun und zu lallen hat, und weil uns die Zeit, die ja „bie 
Schmerzen bringt und wieder heilt,“ jolches durch Gottes gnädige 
Vorjehung jekt auch wohl zu beherzigen jelber anweilt, aljo labt 
uns in brüderlichem Vertrauen und Zuverſicht eines gegen den 


*) In unſerer Wiedergabe haben wir natürlich die alte Nechtichreibung 
nicht berüdjichtigt und auch ſonſt den Tert mit leichter Hand injofern entlaftet 
und vereinfacht, als wir die zahlreichen Tautologien fortließen, viele lateinische Zitate 
ins Deutjche überiegten („“) und hie und da einige Kürzungen eintreten ließen, 
wo 88 ſich um ganz unmejentlihe Dinge handelte. Wir haben aljo verjudt die 
altertHämlich-Ichmwerfällige, aber für jene Zeit nicht geringe und nicht unwirkſame 
Beredſamkeit Johann Tiejenhaujens gewijjermaßen unjerer Empfindung von 
redneriicher Kraft etwas näher zu bringen. Sinn und Form it dabei nirgends 
geändert. 


164 Eine politiihe Rede vom J. 1601. 


andern als Glieder eines Körpers die vorige mit Ddiejer gegen: 
wärtigen Zeit, imgleichen den Urjprung, Anfang, Dlittel und Ende 
diefes Kriegswejens mit einander auf der Wage der Billigfeit 
ponderiren, und fein „Zweifel, wir werden dann Gottes längit 
geſchloſſenen Rath mit jeiner Wirkung zu unfer jelbjt und unjeres 
lieben WBaterlandes bejonderem Gedeihen und Wohlfahrt verjtehen 
lernen. 

Die Annalen und Jahrbüdjer, die E. ©. aud als bejonderes 
Kleinod für die Nachkommen in dieſer Stadt treulich hinterlegt 
haben, werden uns berichten, wie vor nicht jo undenflihen Jahren, 
da dieje gute Provinz Livland zum heiligen römiſchen Reiche nod) 
gehörig geweſen und von den Reußen und anderen benachbarten 
Feinden mit Krieg jehr bedrängt wurde, daß wegen der weiten 
Abgelegenheit und weil die fil. Dit. jowohl, als auch das heil. 
römische Reid) an dem türfiichen Kriege in Ungarn jehr interejlirt 
war und aus Diejer Urſache auf vielfältiges Anhalten unferer 
Herren im Lande den gebührliden Schug nicht leijten Ffonnte, daß 
wir zur jelben Zeit von 3. fil. Mt. und dem heil. römiſchen Reich 
an die Könige in Schweden, Dänemark und Polen, als unjere 
vorlängjt dazu dejtinirten Schugherren uns zu halten und Bilfe 
von ihnen zu ſuchen angewiejen wurden. Wenn unjere derzeit 
gewejenen Obrigfeiten und Stände der Yande in der Furcht Gottes 
mit dem Bande der Liebe, gutem Vertrauen und Einigfeit unter 
einander ihre Nathichläge auf jolhen angewiejenen Schug gerichtet 
und ſich einhellig unter den Schuß eines von den Königen ergeben 
hätten, dann hätte das vielleicht dem großen Unglüd, welches dies 
arme Land Ddieje Jahre her hat ertragen müſſen, vorgebaut. Aber 
die Größe und Menge der Eünden, die in diefem Lande von den 
Oberjten an zu rechnen bis auf den Geringjten ganz überhand 
genommen, hat geurjadht, daß Gott der gerechte fie mit der 
Blindheit der Uneinigfeit geftraft, jo daß fie fi in drei Haufen 
zertheilt, die Harriichen und Wierifchen und ein Theil dev Ehjten 
fi) an die Krone Schweden, die Deleler und Wiekſchen jammt 
dem Stifte Kurland an die Krone Dänemark, die meijten übrigen 
Oerter der Lande aber jid an die Krone von Polen geichlagen, 
die Stadt Riga aber eben aus und nirgends an, jondern eine 
faijerliche freie Stadt hat werden wollen. Was für eine Frucht 
nun die jchändliche Mutter der Uneinigfeit geboren hat, bezeugt 
das alte Spridwort „durch Eintracht wachſen fleine Dinge, durch 
Zwietradht jtürzen die größten zulammen,“ dermaßen, daß mir 
jolhes mit unjeren Vorfahren und deren Kindesfindern genugſam 


Eine politiihe Rede vom J. 1601. 165 


zu bereuen und zu beflagen haben. Wir wollen aber der Kürze 
halber übergehen, was dieſe Uneinigfeit den Herrſchaften und 
Ländern, die fih an die Krone Schweden und Dänemark geichlagen, 
an allerlei Gefahr, Unglüf und Kummer geboren hat, weil wir, 
die wir uns unter den Schuß der Krone Polen und des Groß— 
fürftenthHums Littauen vertraut, mit unjerem eigenen Unglüd und 
eigener Drangjal, darin wir uns in die vierzig Jahre her fümmerlich 
ihmiegen und Duden müſſen, Dies zu beherzigen genugjam zu 
ihaffen haben. 


Denn die erjten Traftate der Sozietät mit dem Großfürjtenthum 
Littauen, die gar bald auf die Gubjeftion erfolgten [1566], hatten 
zwar wohl einen ziemlichen Schein, zupörderjt weil dDurd Aufhebung 
aller vorigen Stifte: und Ordensſtände dies Land in gleichem 
Erbrecht vereinigt und vom König von Polen Tigismund Auguit, 
als derzeitigen Erbfüriten im Großherzogtum Littauen und Livland, 
als Ueberdüniſches Herzogthum mit Infignien und Wappen bejtätigt 
wurde. In diejen Verträgen wurde auch bejonders favirt und mit 
theuren Eiden bejchmworen, daß in ganz Livland nur die wahre 
Lehre der Augsburgiihen Konfeſſion jtatthaben jollte, aud die 
Adminiſtration und alle anderen Dignitäten des Landes von den 
Eingejeflenen vom Adel oder den Indigenen allein jollten ver: 
waltet werden. Wenn zu jener Zeit diefe gute Stadt Niga („wenn 
Beilpiele auch mipliebig find, jo ijt es doch gegenwärtig jehr 
nöthig, fie anzuführen“) mit einer gejtr. und wgb. Nitter- und 
Landſchaft wäre einig geweſen, vielleicht wäre der Würfel anders 
gefallen zu des ganzen Yandes und auch der Stadt gutem Gewinn, 
deilen jedoch umjtändlich zu gedenfen die Zeit nicht leiden will. 


Als nun die Krone Polen gemerkt, daß die Sozietät des 
Großfürſtenthums Littauen mit Livland, weil es Kg. Sigismund 
Augufts Erbländer und J. fönigl. Mt. von Gott mit feinem 
männlichen Leibeserben begabt waren, durch Abjterben 3. fol. Dit. 
ihr eine beichwerliche Angelegenheit werden fünnte, und fie ſich 
jorgte, daß die Nachbarn ihr endlidy über den Kopf wachſen möchten, 
erdenft fie diejen Nath bei fih: „Wo die Lowenhaut nicht hilft, 
da muß man den Fuchspelz anlegen,“ und mit bergegroßen und 
vielen Zujagen wird, ich weiß nicht wie, der löbl. Kg. Sigismund 
Auguft verleitet, daß er ſich durch die verfluchte Union zu Lublin 
A. D. 1569 jeiner Erbgeredhtigfeit an das Großfürſtenthum Littauen 
und Livland begiebt und dieſe mächtigen Herrſchaften der Krone 
Polen mit einverleibt. „Daher der Schmerz, daher die Thränen!“ 


166 Eine politiiche Rede vom I. 1601. 


Aber hier gilt, was vom Rechte: Der achte darauf, den es angeht; 
denn sapienti sat dietum. 

Aber wie diejfe Union gerathen, in wel’ großen Jammer, 
Trübjal und Elend dieje arme Provinz gefommen, bezeugen bie 
jämmerlichen Tragödien, die von Anno 1569 bis 1577 währten, 
als dies arme Land mit Dintanjegung aller Zujagen und mit 
theuren Eiden beſchworenen Verträge, alles Schuges verlajjen, dem. 
Moskowiter zum Haube übergeben wurde, dermaßen, daß man es 
nit genugiam mit blutigen Thränen beweinen fann. ber 
dennod), „Zeit und Trübjal lehrten uns Geduld und in Schweigen 
und Hoffnung lag unjere Tapferkeit!” 

Da nun Bott der Allmächtige dies arme hodhbedrängte und 
wohlgeplagte Livland mit den Augen jeiner Barmherzigkeit wiederum 
anjehen und ihm nad) langer Mühe und Arbeit etwas Luft maden 
wollte, erweckt er den hochlöbl. König in Polen Stephan Batory, 
der dem Großfürjten in Moskau Iwan Wajjiljewic; dermaßen 
zujeßt, daß er volens nolens ſich Livlands zu begeben gezwungen 
wurde. Und was dann die Sade nicht wenig befördern that, 
war, dab Kg. Johann in Schweden, nachdem er zuvor jchon durch 
langwierige Kriege den Mosfowiter jehr geihwächt und mürbe 
gemacht, auch zur jelben Zeit mit jeiner Kriegsmadt vor Iwan— 
gorod, Koporje und in andern Feltungen ihm die Hände dermaßen 
feitband, daß dem Großfürjten nicht wohl möglich war, dem König 
von Polen Widerftand zu leijten. 

Wie nun durch Gottes gnädige Echidung König Stephan 
diejer Lande wieder mächtig geworden, hat er fich jehr angelegen 
jein lajen, jie wiederum in gute Ordnung zu bringen und alle 
Dignitäten und Wemter allein durd eingeborene Livländer zu 
beitellen, wie das jeine 1582 darüber gemadte Konjtitution und 
gegebene Reſkripte bezeugen, denen zufolge aud eine gejtr. Nitter- 
und Landichaft zur Zeit der Gubernation des Fürften Georg 
Radziwill 1583 auf dem allgemeinen YLandtage zu Riga auf 
Begehren 3. fal. Mit. die Präſidenten, Bannnerherrn, Land— 
fümmerer, Yandrichter und andere amtstragende Perſonen aus 
ihrem Mittel vorgeichlagen und die Verzeichniife ihrer Namen 
J. fgl. Dit. zugejandt. Wie man nun in guter Hoffnung gejtanden, 
das Yand würde wieder in gute Ruhe und Ordnung gejegt werben, 
hat das neidiiche Unglüd das nicht verjtatten wollen, jondern durch 
unjere Mißgünſtigen wurde joviel zu Wege gebradit, daß So. 
Stephan in vielen Sachen jeinen vorigen guten Borjaß geändert 
und uns Cindrang in unjere Religionsjahen gethan, zuerjt Die 


Eine polittiche Rede vom J. 1601. 167 


Yafobsfirhe und das Jungfrauenflofter in Riga, Gott allein weiß 
mie, einnehmend; zugleih hat er auch durch Inzweifelziehung 
etliher Privilegien (nämlich die nad) der Reformation gegeben 
worden), um dem Antichriit zu Nom dadurch zu Hofiren, viel 
redlicher ehrlicher Leute Güter zu caducen gemacht und das Land 
dadurch mit MWehflagen erfüllt, worüber dann Ritter: und Pandichaft 
zum höchſten bejtürzt worden, aber bei der Sache nichts anders 
tun fönnen, als darin nicht zu verwilligen, fondern mit Proteſtiren 
fih auf ihre beichworenen Verträge zu referiren und das Uebrige 
Gott dem gerechten Richter zu befehlen. 

Was aud die Aenderung der Religion und Annehmung des 
neuen Almanachs, worin e. wgb. Nitter: und Landſchaft Rath 
und Bedenfen nicht begehrt wurde, von etlichen Plazentinern und 
Römlingen verurfacht, für Lärmen und Tumult in diefer guten 
Stadt angerichtet, hat der umgedrehte Hals des Hahns auf der 
St. Petersipige genugiam bezeugt. Und wie er, nachdem er 
wieder aufgerichtet, zum andern Mal wiederum gar herunter: 
geworfen mworden,*) hat das nicht allein ein böfes Omen angedeutet, 
fondern hat es auch die gute Stadt mit großem Schaden erfahren 
müjlen, daß des umgedrehten Haljes des Hahns Prophezeiung 
leider zu viel wahr geworden. Gott wolle aus Gnaden verhüten, 
daß er, weil er wieder aufgerichtet, nicht zum andern Mal gar 
heruntergeworfen werde. Was aud als eine fonderliche Frucht 
der Uneinigfeit mit der Ritter: und Zandichaft wohl zu merfen! 

Wie gefährlihd auch Kg. Stephan aus dieſer Urjache der 
guten Stadt zuießen wollte, willen E. ©. und lieben Freunde 
beiler, als wir es Euch zu Gemüthe führen mögen. (Gott der 
Herr allein, dem dafür Lob und Dank gebührt, hat durd) Abjterben 
Kg. Stephans dem großen Unglüd, das über Schloß und Stadt 
beichlofien geweſen, gemwehret. | 

Wie man nun zur Wahl eines neuen Königs fchreiten wollte, 
hat ſich bald durd die Mutter alles Unglüds, die Uneinigfeit, die 
unter andern Sachen auch wegen Theilung der Provinz Livland 
zwiſchen der Krone Polen und dem Großherzogthum Littauen 
entitanden, ein neuer Unrath über uns erhoben, melcher ſich 
bis an die Krönung jetzt vegierender fol. Mt. in Polen Sigis- 
mund III. und meiter bis auf den erjten Weichstag 1589 zu 
Warſchau erjtredet. Dajelbit haben fie dann nicht allein wider 
alle vorigen mit theuren Eiden bejchworenen Verträge, jondern 


*) Das geihah beides 1577. 


168 Eine politifche Rede vom 3. 1601. 


auch wider die in ihrer eigenen 1569 aufgerichteten Konftitution 
enthaltenen dürren Worte, daß ohne der livländiichen Ritter- und 
Landichaft, als nunmehr ihres Körpers einverleibten Gliedes, Bor: 
willen, Konſens und Vollbort in linländiichen Händeln nichts vor- 
genommen, traftirt oder beichloiien werden jolle, ohne Vorwiſſen 
und Zuziehung unserer, der Livländer, bevollmädtigten Abgelandten, 
die auf dem Neichötage mit zugegen waren, eine ganz unbillige 
und tyranniſche KRonititution über uns Livländer geichmiebet, auch 
wider aller Völfer Rechte, was den Juden und Türen freijteht, 
ihre darüber gethanen Protejtationen nicht angenommen und in 
allen Kanzeleien anzunehmen verboten. Damit vermeinten fie 
uns um unfere chriftliche Religion, um alle Dignitäten, uralte 
Freiheiten und Immunitäten zuerſt, hernach um unfere zeitliche 
Wohlfahrt und Güter zu bringen und uns berjelben „wie mit 
Harpyenhänden” gänzlich zu berauben, mie jolches die vielen über 
uns, eine ärger als die andere, gemachten Konjtitutionen, darauf 
erfolgte Nevifionen und Sfrutinien, um ehrliche Yeute, die einem 
fih anvertraut, dadurch aus dem Lande zu verbannen, bewährte 
Meifter- und Bubenjtüde, vornehmlid; aber die letzte General: 
fommilfion [1599], womit man vermeint, uns den Garaus zu 
machen, genugiam ausweilen. Aber „der Menſch denft und Gott 
lenkt!“ 

Deswegen hat auch Gott der Allmächtige, da er ſeine 
väterliche Güte über uns von aller Welt Verlaſſenen wieder hat 
walten laſſen wollen, in das Spiel eingegriffen, ihren Rathichlag 
einen Krebsgang nehmen und fte als Eidvergeliene nach jeinem 
gerechten Gericht in die Grube, die fie uns zugerichtet, felber 
fallen lalfen, daß unfer liebes Vaterland, welches wir mit be 
Ihmorenen Verträgen ihnen vertraut und in dem fie uns feine 
Stelle gonnen wollten, fie durch Gottes gerechte Rache wiederum 
ausipie und ſie es als nunmehr Unwürdige verlallen müjjen. 

Soli Deo gloria! 

Menn wir nun zum andern die Urjachen, Anfang, Mittel 
und Ende Diejes jetigen Kriegsweſens, alle Affekte bintanjeßend, 
wohl bei uns erwägen, jo wird es ſich heller als der Mittag 
erzeigen, „daß diejer Krieg feineswegs nolhwendig war und meder 
Ehre noch Nutzen noch Leichtigleit aufweilt,” was mit jeinen 
Narben zu eluminiren zwar hochnöthig, aber ſolches jetziger 
Gelegenheit nad füglich nicht wohl geichehen fann. Denn es ift 
ja weltfundig, was für großes Blutvergieken, Unglüd und Herzeleid 
die babyloniihe Hure und das Kind des Verderbens zu Nom, 


Eine politifche Rede vom 9. 1601. 169 


das fih über Gott und alles mas Gottes it geſetzet hat, durch 
die ſpaniſche Inquiſition und die heil. Liga in Spanien, Frankreich, 
den Niederlanden und anderen benahbarten Provinzen und Konig- 
reihen für und für angerichtet und wie es mit jeinem Gifttrunfe 
auch den arökten Theil der Krone Polen purzeln und taumeln 
gemadit. Denn ich bitte, es wolle mir doch einer berichten, mas 
den jeßt regierenden König in Polen Sigismund III. verurſacht, 
ohne Bewilligung und Vorwiſſen der jämmtlichen Stände, movon 
auch die Vornehmiten I. fol. Mt. zum beftigiten abgerathen, fich 
mit ſolcher Kriegsmacht, mit einem großen Gefolge von Yejuiten 
in fein Erbfönigreich zu begeben und wider feinen Eid die päpftliche 
antichriftlihe Religion einzuführen? Was hat 3. fol. Mt. ver: 
anfaßt, auf der Sinreife in Preußen alle Kirchen Augsburgiicher 
Ronfeifion mit Gewalt einzunehmen und den Baalspfaften zu 
übergeben, wenn es nicht der Papſt zu Rom mit feinem be- 
fhorenen Saufen gethban? Der unterjteht fih, den Engeln im 
Himmel und den Teufeln in der Hölle zu gebieten, was Wunder, 
daß er aud) die irdiichen Könige bezaubern fann. Das ijt unleugbar 
der Impuls und der Anfang zum Kriege. 

Was das Mittel anlangt —, davon fönnten die, welche das 
Rädlein haben treiben helfen, wie es vor Lynköping, Wyborg und 
Kalmar mit wenig Ruhm des Königs zugegangen, beiler berichten, 
als es uns jet hier zu erwähnen nöthig erjcheint. 

Unmibderjprechlich aber ijt es, daß auf einen böſen Anfang, 
einen ungebührlichen Fortgang nur ein trauriges Ende erfolgen 
fann, wie das alle Kirchen: und Welthiftorien genugſam bezeugen. 

Nun möchte jemand gerne berichtet fein, wie denn Livland 
in dies unnöthige Kriegsweſen gerathen, da der Krieg doch nicht 
von allen Ständen auf dem Neichstage beichloffen worden? Der 
Grund liegt auf der Hand, wäre leicht zu antworten. Denn 
Fürmig madet Jungfrauen theuer und Eigennuß und verborgener 
Haß hat Rom und Troja zerjtört! Wir zeigen nur die Gajlen, 
die Häufer wird ein jeder wohl finden! So hat Gott der Gerechte 
auch das Unglüd am meijten über die hereinbrechen laſſen, die 
e8 über jih und manchen ehrlihen Mann im Lande herauf: 
beihmoren haben. Aber das ijt noch das Geringite, wenn nur 
das Schwarze Hündlein, das ihnen unter der linken Bruft fibet, 
das Gewiſſen, über foviel unschuldig vergofienes Blut und Ver: 
wüſtung der Lande ftillichweigen wollte! Schlieflih: es hat fo jein 
müffen. Dod hat der Allmächtige ſolch' Uebel der Strafe zu 
anderem Zwecke über uns verhängt, als wohl der Teufel und 


170 Eine politifche Rede vom J. 1801. 


feine Gehilfen vermeint; denn diefer ganze Arieg bezeugt, daß 
unfere Bedränger das Unglück fich jelbit aufgeladen und nun mit 
Schimpf und Schaden büßen müjlen. 

Daß alſo der dI. Fürft und Herr 9. Karolus, ber Reiche 
Schweden ꝛc. regierender Erbfürjt 2c. zu Diefem Kriege wie an 
den Haaren dazugezogen worden, und mie nadläffig der Schuß 
geleijtet worden, ift offenbar, jo daß es Ichier das Aniehen gehabt, 
als mollten fie uns mie hiebevor dem Mosfomwiter zum zmeiten 
Mal den Feinden zum Raube übergeben. Wie ſchändlich die 
foniglihen Feitungen von den polniihen Hauptleuten zum Theil 
verlaffen, zum Theil übergeben wurden, iſt offenbar am Tage. 
Wie die übrigen, die zuvor, als fie feinen Widerftand fanden, 
nur zu rauben bedacht maren, ſpäter, als fl. Di. ihnen etmas 
näher rüdte, mit dem Haſenpanier das Land ſchützten und Ferjen- 
geld über die Düna gaben, iſt Ichändlich zu gedenlen. Ja, mas 
noch mehr iſt und höchlich zu beflagen, daß die anmwejenden 
polnifchen Befagungen nicht allein in höchiter Gefahr uns arme 
Livländer verlaffen, fondern aud ärger als ein Feind mit Unzudt, 
Raub, Mord und Brand die unferen vergewaltigt und dem leidigen 
Teufel, der mit einem Stanfe zu jcheiden pflegt, dieſe Kunſt 
abgelernt, wie das Beilpiel der fol. Starofteien, der quten Stadt 
Wenden”) und anderer Orte mehr mit herzlidhem Seufzen um 
Rache es genugſam bezeugen. 

Zudem ſind auch Schutz und Eid Korrelate und ſo mit 
einander verbunden, daß eins ohne das andere durchaus nicht 
beſtehen kann. 

Aus dieſen Urſachen nun wollte ich mir gerne berichten laſſen, 
welcher Menſch mit Wahrheit uns Livländern das Laſter der 
Untreue oder Leichtfertigfeit beimelien fönnte. Das Gegentheil 
fönnten wir wohl ausführlicher darthun, aber wir wollen ſolches 
Gott dem gerechten Richter heimftellen. Wer wollte nın jo bumm 
erfunden werden, daß er nicht verjtehen fönnte, daß Gott fl. Di. 
KRarolus, unſern gnäd. Fürften und Herrn, zum ausermählten 
Rüftzeng erforen, dadurd er zur rechten Zeit mider aller Menſchen 
Bermuthen nach langer, jedoch wohlverdienter Drangfal uns armen 
Livländern wiederum Luft zum Herzen machen, diefen Joſua jenden 
und uns von der Hand aller unferer Bedränger erretten mollte. 
Dann ſage mir einer, wer hätte doch den jtolzmuthigen Polaken, 


*) Als Wenden Anfang Februar von der polniihen Belagung verlafien 
murde, da wurben die Bürger vollitändig ausgeraubt. 


Eine politifhe Rebe vom 9. 1601. 171 


die alle Nationen neben ſich verachten, dies früher fagen dürfen, 
daß ein löblicher Fürſt aus foniglihem Stamm von Norden ihnen 
das Ueberdüniſche Herzogthum Livland, jo einen niedlihen Bien, 
an dem fie viele Jahre lang wiedergefäut und den fie doch nicht 
verichlingen fonnten, wie in einem Wu aus dem Rachen reißen 
würde? — außer etwa der hochgelobten Feufchen Aungfrau Maria, 
melche in ihrem Magnificat*) gelungen und fie nachzugmitichern 
gelernt: „Er ſtößet die Gemwaltigen vom Stuhl und erhebt Die 
Niedrigen!” 

Denn iſt es nicht wahr, daß gebadte fl. Dt. das Weber: 
düniſche Herzogtum Livland in eines halben Jahres Frilt bis 
auf dieſe Stadt Riga, melde von altersher wohl gewohnt iſt 
„gegen den Stadel zu löcken“ und deren „fatale Periode“ nicht 
weit jein wird — „it die Wahrheit auch nicht angenehm zu 
hören,” jo muß es dennod gejagt jein — eingenommen hat. So 
darf 3. fl. Di. des großen Monardhen Alexandri Magni [!] 
Sprihwort: Veni, vidi, viei mit Ehren billig gebrauchen, was 
%. fl. De. wohl auch hätte fehlen fönnen, wenn Gott der Herr 
nicht ſelber oberjter Feldherr geweien und den Sieg verliehen hätte. 

Nun mollen wir ferner in brüderlihem Vertrauen beides, 
den Nupen und die Wohlfahrt als auch die drohende Gefahr und 
den Untergang dieler guten Stadt, was Gott gnädig verhüten 
molle, mit einander wohl erwägen. 

Das Fundament dieſer Sache beruht darauf, daß Land und 
Stadt miteinander einig Jind und Friede und gutes Vertrauen 
einander auf der Galle freundlidy füllen mögen, Wenn Dies 
Rundament durch Gottes Gnade befeftigt wird, fann großem 
Unheil, das Gott über dieje gute Stadt verhängen möchte, leicht 
vorgebeugt werden. Eritlih und was das vornehmjte ijt, darum 
fi alle rechten Gottesfinder, die zum Banner des Herrn Chrijti 
geihmoren, zum höchſten bemühen follen, würde dies Land vom 
Jeſuitiſchen Ungeziefer und von des Papſtes Gottesläfterung 
befreiet. Wenn fi aljo dieje gute Stadt von der ganzen nunmehr 
vereinigten Ritter: und Landſchaft trennen und fich der fl. Dt. 
auf gewiſſe Bedingungen nicht unterthänig machen wollte, jo würde 
ein aroßer Haufen in der Stadt bleiben und viel Jungen aus: 
beden, jo daß zu beiorgen ilt, Stadt und Land möchten dadurch 
wiederum, mie jchon einmal gejchehen, vergiftet werden. Und 


*) D. h. der Lobgefang der Maria Luc. 1, 46—55, tägliches Gebet in 
der fatholiichen Vesper. 
6 


172 Eine politiiche Rebe vom 3. 1601. 


wer mollte alsdann den Gedanken, die zollfrei find, mehren, daß 
viele in diefer Stadt jein möchten, die von ihrem Gift bezaubert 
heimliche Baalsdiener find, welchen böjen Argwohn ihr ja bei 
allen chriftlihen Herren in der Welt nicht auf euch und euren 
Kindern werdet liegen laſſen mwollen, wie wir es auch für unſere 
Perſon nicht gerne diefer Stadt wünſchen wollten. 

Zum andern fönnen E. ©. mit guten Bedingungen bei 
euren uralten wohlhergebrachten Privilegien und reiheiten erhalten 
werden, fie auch vermehrt befommen, was Dagegen, wenn ihr euch 
gegen fl. Dt. auflehnen wollt und hernach N. fl. Di. nad) Gottes 
Verhängniß der Stadt mit Gewalt mädtig würde, nicht allein 
meit fehlen thäte, jondern ihr würdet es jogar noch für eine 
große Gnade erachten Fönnen, wenn ihr auf einem reinen mit 
Siegel und Handzeichen befeitigten NHalbsfell, worin 9. fl. Dt. 
mas ihr gelüften wiirde jchreiben möchte, auf Gnade und Ungnade 
euch ergeben mühtet. 

Und Drittens, wer wollte für das unichuldige Blut ver: 
antworten, das mwegen ber Dalsftarrigfeit einiger würde vergoſſen 
werden? Mer wollte den Schaden erjeten, der euch dann Durch 
Abbrennung eurer Luſthäuſer, VBorjtädte und Speicher wiberfahren 
fonnte? Wer mwollte für des ganzen Landes und dieſer Stadt 
unmiederbringlichen Verderb und Schaden büßen, wenn euch der 
Hafen verjenft und alle Nahrung zu Waſſer und zu Lande 
benommen würde, daß hernad Gras auf dem Markte müchie, 
mie wohl auch andern vornehmen Städten jchon geichehen? Da: 
gegen, wenn ihr euch J. fl. Dt. bequemet, würde auch der Nutzen 
erwachien, dab ihr die Seefahrt auf der Düna und andern 
Stromen zu eurem Vortheil frei gebrauchen fönntet, zu geſchweigen 
die Kaufhandlung im Reiche Schweden und in allen Landen des 
Großfürften von Mosfau, die ihr nad) deſſen ewigem beſchwornem 
Frieden mit der Krone Schweden als ein Glied derſelben auf 
das allerfreiejte zu gebrauchen hättet. Und nod viel mehr Motive 
fonnten aus der Gegenüberftellung des Nutzens und Schadens 
angeführt werden, wenn es der Kürze wegen nicht unterlallen würde. 

Nun möchte uns vielleiht einer oder ber andere bie große 
Macht der Krone Polen und des Großfürſtenthums Littauen ent- 
gegenhalten, die etliche taujend Diann ins Feld bringen fönnten 
und den Schimpf nicht leiden würden. Denen wäre zu antworten, 
daß an fich freilich wahr ſei, daß fie im Felde mächtig fein fönnten, 
wenn fie unter ſich jelber einig wären und mit einem Feinde zu 
thun hätten. Aber fie willen nicht, wie fie mit dem Erzherzog 


Eine politifche Nede vom J. 1601. 173 


Marimilian ftehen, der noch eine große Partei in Polen hat *). 
Mit dem Mtoldauer jtehen fie in öffentlicher Fehde, der ihnen 
diefe Jahre her genuglam zu Schaffen gemadt hat. Der Friede 
mit dem Mosfomiter iſt gegen Fünftigen Nohannis aus, morauf 
fie durch Eingehen gar beichwerlicher Bedingungen den Frieden 
erlangen fönnten, ſonſt aber des Krieges ſich gar gewiß beiorgen 
müſſen. Und wenn fie gleich aus verblendetem Uebermuth ſolches 
alles nicht achten, jondern allen ihren Feinden zugleid mit Krieg 
und Waffen zulegen wollten, jo wäre das mehr einer übermüthigen 
Dummoreijtigfeit als der Tapferkeit beizumeſſen. Auch das Groß— 
fürftenthum Littauen würde ohne Zweifel betrachten müſſen, was 
zu feinem Frieden dient, denn Die Ariegszüge der Polen nad) 
Rußland und Livland durch Littauen find wenig zu feinem Frommen 
gemejen. 

Und wenn das alles nicht gelten follte, jo it Doch Die Krone 
Schweden gegen fie genuglam qualifizirt, denn fie iſt zu Waller 
und zu Lande mächtig und was das für ein Vortheil it, verjtehen 
die wohl, denen das Ariegsmweien befannt it. König Erich von 
Schweden hat auch mit drei mächtigen Potentaten zugleich Kriege 
geführt, die ihm dennoch nichts anhaben fünnen. Und die Könige 
von England, Schottland und Dänemark, der Pfalzgraf bei Rhein, 
die Kurfürjten von Sachen und Brandenburg, der Fürft in den 
Niederlanden Graf Morit ſammt anderen Fürjten und die mächtigen 
Seeſtädte im heil. römischen Reich find in dieſem Kriege gegen 
die unchriftliche heil. Liga der Päpſtlichen mit einander vereinigte 
Bundesgenojlen. 

Schon hat aud die löbl. Krone Schweden die vornehmiten 
Porte, Bälle und Feitungen in Livland inne, melde die Polafen 
und Pittauer mit ihren Nenniteden nicht durchbrechen werden. 
Es mwird auch die nunmehr vereinigte Ritter: und Landichaft ſich 
mit der löbl. Krone Schweden durd) die Gnade Gottes zu ſtets 
mwährenden Zeiten verbinden, für einen Mann zu jtehen, und 
anftatt der vorigen vielen Negenten ein bejtändiges Haupt bei 
fih im Lande haben. ines ſolchen Glüdes hat Yivland nod) 
fein Mal jeit der erjten Befejtigung der Lande jich rühmen fönnen; 
nun ilt es Gottlob wie ein Bejen dicht zu Haufen verbunden und 
kann nicht leicht von einander geriffen werden. 

In Summa, wenn alle diefe Sachen, eins gegen das andere, 


*) Erzherzog Marimilian von Defterreih mar 1587 neben Sigismund 
von Schweden Thronfandidat in Polen. 
6* 


174 Eine politifche Rebe vom J. 1601. 


auf die Wage gelegt würden, jo würde ſich aud der Ausfchlag 
bald finden. 

Und jchließlih, wenn gleih, was Gott verhüten wird, Die 
Polen der Lande wieder mächtig werden follten, jo würde erftlich 
der geiftlihe und weltliche Jammer in den Städten und auf dem 
Lande angehen; des Papftes Mäufjedred und Greuel würde allent- 
halben mit Gemalt aufgedrungen werden; eure verjenfte Häfen 
und entwandte reiheiten würden fie auch ſchwerlich erjegen; der 
große Jammer und das Elend, das mit Mord und Brand viel 
Unjchuldige entgelten müſſen, würde dadurch gar wenig geftillt, 
geſchweige denn Erjag dafür geleijtet werden, zuvörderft von jenen, 
die Land und Städten, da fie noch unter ihrem Schuß waren, 
ihre Freiheiten mißgönnten und Tag und Nacht darnad) trachteten 
fte zu unterbrüden. Ich meine, haben fie Eid und Gelübde ver- 
geſſend Kriegsreht erzwingen wollen, fürwahr fie würden das 
Kriegsreht alsdann zu unjerer jämmtlichen Untergang und Ver: 
derben recht wohl zu praftiziren wilfen, daß des deutichen Namens 
Gedächtniß, wenn es an ihnen läge, aus Livland gar vertilgt würde. 


Günſtige Herren und lieben Freunde, es wäre bemnad denen 
wohl zu helfen, denen noch zu rathen wäre. TDiefe Sade betrifft 
eure chriftliche Religion, eure Privilegien und Freiheiten, eure 
zeitlihe Nahrung, eure Weiber, Kinder und Unterthanen, Heil 
und Mohlfahrt eurer ganzen Stadt: entweder Verderb und Unter: 
gang —, oder bejtändige Wohlfahrt. Dermegen €. ©. foldyes 
wohl bei ſich erwägen wollen! 

Mir meinen’s von Herzen gut mit euch, deſſen mir Gott 
als einen Herzensfündiger zum Zeugen anrufen. Wenn nun, 
mie wir hoffen und mwünichen, unfere treuherzige Wohlmeinung 
bei E. ©. eine Stätte finden wird, alsdann fann man zu ben 
Mitteln schreiten, die zu dieſer guten Stadt und des ganzen 
Landes Mohlfahrt und Gedeihen gereihen werden. Wir erbieten 
uns aud, E. ©. als unſern lieben Mitbrüdern und Gliedgenoflen 
unferes allgemeinen lieben Waterlandes bei fl. Dt. und mo es 
ſonſt der Sache Nothhurft erfordern würde, nad unferem Wer: 
mögen zu dienen, indem mir von Herzen wünſchen, Gott molle 
E. ©. das Beite zu ermählen regieren, damit durch feine Gnade 
unfer angewandter Fleiß und qute Affektion zu dieſer Stadt nicht 
vergeblich ſei, ſondern gute Frucht bringe. 

Sapientibus sat dietum! 


* * 


Eine politiſche Rede vom J. 1601. 175 


Riga aber hatte fich bereits entichieden. Es ſchloß fich den 
übrigen Ständen des Landes nicht an, es ging feine gejonderten 
Mege. WBielleiht war das gerade in jenem Moment ein nicht 
leicht wiegender politiſcher Fehler. Wer will jagen, wie die Dinge 
ſich entwidelt hätten, jtand Riga mit dem gemeinfamen Water: 
lande wie ein Diann? Die Parteijtellung der mächtigen und feiten 
Stadt mußte wenigitens jchwer in die Wagichale fallen. Doch 
Bedenken, und gewiß wohl auch beträchtlicher Art, kommerzielle 
Intereſſen wie die Furcht vor polnischer Rache, verhinderten bier 
die vom Lande gehoffte entichloffene raſche Entſcheidung. Unver— 
richteter Dinge mußte Johann Tiejenhaujen heimfehren. In ber 
Stadt regten ſich freilih hier und da auch jtarfe ſchwediſche 
Eympathien, die wir noch deutlich zu erfennen vermögen. Aber 
fie blieben zunächjt gänzlich) unwirfiam. Der Krieg nahm jeinen 
unglüdlihen Fortgang. Die Polen eroberten fait das ganze Land 
wieder zurüd und die Schlacht bei Kirchholm befiegelte Karl IX. 
Mibgeihid; fie zerichmiß aud) das Korps der livländiichen Ritterjchaft 
in Scherben. Riga blieb no Jahre lang polniid; man weiß, 
daß es viel Freude davon nidt gehabt hat. Erjt unter Gujtav 
Adolf reifte die Frucht; er erjt wurde wahrhaft der Netter des 
Landes, als er das Werk vollendete, das jein Vater begonnen. 


a 


Reue Helletrikif, 


Zola, Paris. — Gujtao Falke, Tanz und Andacht. Neue Fahrt. — Hugo 
Salus, Gedichte. — Die Kunitzeitichrift Pan. 


Es war ein merfwürdiges, faſt wunderbares Zujammentreffen, 
daß Emile Zola’s Roman „Paris“ gerade in jenen Tagen in 
die Melt hinausging, wo fein Autor vor dem Forum von Paris 
jtand, um ſich zu verantworten in einem Prozeß, der die Augen 
der ganzen Welt auf fich zog, überall mit athemlojer Spannung 
in feiner Entwidelung verfolgt wurde. Und während im Aus: 
lande im Allgemeinen die Sympathie auf der Seite des muthigen 
Schriftitellers war, der es gewagt hatte, das ganze offizielle 


176 Neue Belletriftif. 


Frankreich herauszufordern, um — mie einjt Voltaire — einen 
feiner Dieinung nad) unſchuldig Verurtheilten zu retten, — während 
ſelbſt prinzipielle Gegner jeiner Schriftjtellerei erfennen und befennen 
mußten: Es iſt doch was Heroiſches in diefem Manne! wurde in 
Paris jelbjt jede Aeußerung der Sympathie für ihn gewaltig 
übertönt von dem wild anflagenden, ſchmähenden Gejchrei der 
Gegner, die von den höchſten Spigen der Negierung an, durch 
alle Schichten der Gejellihaft bindurd, bis zum gemeiniten 
Straßenpöbel hinunter wie eine unüberwindliche feindliche Phalanr 
vor ihm ſich erhoben hatten und ihn zu vernichten drohten. Wenig 
fehlte und er wäre vom Mob auf der Straße gelyndht worden, 
— in bemjelben Paris, zu deſſen VBerherrlihung er joeben den 
Hymnus jeines Nomans gefungen. Denn jo gewiß er aud hier 
wieder die Nadhtjeiten der Seineftadt mit der befannten, nidhts 
verhüllenden Schonungslofigfeit jchildert, wir jehen es, wir fühlen 
es doch überall dur, daß des Dichters Herz erfüllt iſt von be: 
geijterter Liebe für eben dies jelbe Paris, das mit all jeinen 
Sehlern ihm dennod als die höchſte Blüthe moderner Kultur, als 
die Hoffnung der Zukunft, die Nettung der Menjchheit erjcheint. 
Und als wäre er nicht im Stande, dies überquellende Empfinden 
zu beherrichen, wird der Nomancier zum Maler, der jeinen Pinſel 
in Die gluthvolliten, herrliditen Farben taucht; wird er zum 
Lyrifer, der jein ‘Paris, das menjchheitrettende, mwelterlöjende, in 
gewaltigen Herzenstönen befingt. 

Ob ihm wohl in jenen furdtbaren Augenbliden, wo eben 
dies Paris ihm fein wuthverzerrtes, von allen Dämonen der Lüge 
und Falichheit entjtelltes Antlig, Vernichtung drohend, entgegen: 
fehrte, ein Zweifel überfommen haben mag an der Wahrheit 
jeines Hymnus von Baris? Wir willen es nicht, — und Mancher 
möchte geneigt jein daran zu zweifeln, denn Zola ijt ein jtarfer 
Diann, nicht leicht zu erjchüttern in feinen Ueberzeugungen. So 
viel hat er der Welt fraglos bewiejen. 

Doch wenden wir uns zu der Fabel des in Rede jtehenden 
Romans. 

Sein Held ijt Pierre Froment, der franzöfiiche Abbe, der 
nad den erjchütternden, niederdrüdenden Erfahrungen von Lourdes 
und Rom nad) Paris zurüdgefehrt ift, um nun hier zu ganz neuen 
Ueberzeugungen zu reifen. 


Neue Belletriftif. 177 


Noch ijt er Fatholiicher Prieiter, noch feiert er täglich feine 
Meile, nod will er leben und jterben in dem Beruf, der ihm 
geworden; und fait wie ein Heiliger wird er von den Armen, 
denen er Zrojt Ipendet, verehrt. Aber er jelbit ift des Trojtes, 
der Hilfe nur allzu bedürftig. Sein Glaube, — der Glaube an 
Wunder, der Glaube an Papſtthum und Kirche ijt tief erjchüttert, 
it in feinen Fundamenten untergraben. Er Hammert jih nur 
noch an Eines, — die chriftliche Liebesthätigkeit, das Wohlthun 
und Helfen im Geiſte des Heilands, der die Mühjeligen und 
Beladenen zu ſich rief, um fie zu erquiden. In diejem erniten, 
treuen, entjagungsvollen Wirken hat er ſich mit einem alten 
Priejter gefunden, der ganz im Wohlthun lebt, der aber durch 
jeine grenzenloje Gutmüthigfeit in eine Unzahl von Unannehmlid)- 
feiten verwidelt, jhamlos ausgebeutet und mißbraudt, von den 
geijtlihen Oberen nun in jeinem Thun beichränft und im Geheimen 
itreng überwacht wird, damit er nicht wieder durch jeinen Wohl: 
thätigfeitsprang mißleitet die Kirche fompromittire. Es ijt eine 
rührende Gejtalt, diejer alte Abbe Roſe, der, demüthig Fromm 
und jtreng aläubig, auch nad) allen Maßregelungen, die er erlitten, 
nur in dem einen Gedanken lebt, Anderen wohlzuthun und zu 
helfen. Er weiß fi überwacht in all jeinem Thun, madt aber 
Niemand daraus einen Vorwurf, jondern ſucht nur nad) Möglichkeit 
im Geheimen nod) Barmberzigfeit zu üben. Und da ijt ihm Pierre, 
den er mit väterlicher Liebe umfängt, das rechte Werkzeug. Es 
it bedeutjam, daß die erjte Szene des Nomans ein Zuſammen— 
treffen diejer beiden edlen Prieſter vor der Kirche Saceré Coeur 
von Montmartre uns vorführt, — des Alten, der in der chriſtlichen 
Liebesthätigfeit Schiffbrud gelitten, mit dem ungen, dem es 
beichieden iſt, neue, verheißungsvollere Bahnen zu finden. Der 
Alte bittet Pierre verjtohlen und ängitlich, eine fleine Summe — 
drei Franken, die zu erlangen er etwas von jeinem jpärlicdien Hab 
und Gut hat verfaufen müſſen — einem armen, alten, franten, 
arbeitsunfähigen Arbeiter Namens Yaveuve in der Nue des Saules 
zu überbringen. Und Pierre macht ſich auf in die Höhlen des 
Elends und des Laſters, die uns nun Zola mit befannter 
Meiſterſchaft jchildert. Nach mühleligem Suchen findet er endlich) 
den unglüdlihen Alten und labt ihn mit Wein und Brod, aber 
verbittert und verzweifelnd weiß ihm der Elende wenig Danf. 


178 Neue Belletriftif. 


Bei diefer Gelegenheit geräth der Abbe auch in die Wohnung 
des arbeitslojen Arbeiters Salvat, eines energiihen Mannes, der 
in der Verzweiflung des Elends zu Allem, zum Aeußerſten fähig, 
ja ſchon dazu bereit und gerüftet ift. Pierre überzeugt ſich davon, 
dab dem alten, franfen, dem Tode nahen Laveuve nur durch die 
Aufnahme in ein Aſyl für JInvaliden der Arbeit wirklid geholfen 
werden fönne, und ohne Zögern madt er fih ans Wert. Aber 
welche Hinderniſſe jtellen jich ihm entgegen, machen ihm die Er: 
reihung jeiner jcheinbar jo gerechten und beicheidenen Abficht 
unmöglid! Er wird von Bontius zu Pilatus geihicdt, — durch 
die Salons der Reihen und Bornehmen, die auf ungezählten 
Millionen figen, durch die Vorjäle des Parlaments bis in die 
Wohnung einer jhönen, aber mit Recht übel berüchtigten Schau— 
jpielerin dritten Nanges, Silviane d'Aulnay — Alles vergeblich! 
Ueberall giebt es Echwierigfeiten, Rückſichten, Verhältniſſe, uner- 
läßliche Sormalitäten u. dgl. m., und über dem Allen ijt der alte 
Zaveuve in Jammer und Elend gejtorben und verdorben. 

Diefe jchmerzlihe Erfahrung erichüttert den jungen Prieſter 
auf das Furchtbarſte. Im Zufammenbhang mit Allem, was voraus- 
gegangen, raubt fie ihm das Letzte, was ihn nody am Chriſtenthum 
fejthielt, den Glauben an den Werth der dhrijtlichen Nächitenliebe. 
„Zugleih mit der trügeriichen, unnügen Nächjtenliebe brach auch 
das Evangelium zujammen, und nahte das Ende des heiligen 
Buches.“ „Er hörte auf, an die Wirfiamfeit des Almojens zu 
glauben. Die Barmbderzigfeit genügte nicht; fortan handelte es 
ih darum, gerecht zu fein. Bor Allem Gerechtigkeit — und das 
erichredende Elend würde verjchwinden, ohne daß man barmherzig 
zu jein brauchte.“ „Nach jo vielen Jahrhunderten dhriftlicher 
Nächjtenliebe hatte ſich nod feine einzige Wunde geichloilen, 
und das Elend war nur gewachſen, hatte jih bis zur Najerei 
gejteigert“ u. j. w. 

Die Gedanfengänge Pierres find pſychologiſch vollfommen 
verjtändlid. Dennoch find die Schlüe, zu denen er und mit 
ihm der Autor gelangt, anfedhtbar genug. Oder kann jene elende, 
heuchleriiche „chriftlihe Nächſtenliebe“ der Pariſer Reichen, die in 
Lurus und Lüften aller Art leben und jo nebenbei auch Wohl: 
thätigfeitsbazars abhalten und von eitlen, jelbjtiüchtigen Weltdamen 
geleitete Aſyle jtiften, — fönnen alle Mißerfolge eines Abbe Roſe 


Neue Belletriftit. 179 


und Pierre Froment wirklich den Werth der echten chrütlichen 
Nächſtenliebe, der Barmherzigkeit als nichtig erweilen? it jene 
„Gerechtigkeit“, die wie ein neues rettendes Prinzip der hriftlichen 
Barmherzigkeit gegenüber geftellt, ihr übergeordnet wird, nicht 
vielmehr die elementarjte Forderung wahrhaft hriftlichen Geiſtes? 
Wie fie zu erreichen, zu vermwirfliden iſt, das iſt freilid eine 
andere, unendlich viel jchwierigere Frage, aber auf Dieje giebt 
auch Zola uns feine Antwort und fann fie nicht geben. Es wäre 
wohl aud unbillig, Solches von ihm zu verlangen; aber es muß 
andererjeits flar ausgeiprocdhen werden, daß der große Nomancier 
jene gewaltigen Probleme nicht irgend erheblich gefördert hat. 

Um jo glängender ijt dagegen die Schilderung des Barijer 
Milieus, wie das nicht anders zu erwarten war. 

Da ijt der ungeheuer reihe Baron Duvillard, deſſen folojjales 
Vermögen zum großen Theil aus höchſt unlauteren Spekulationen 
im Stil der Panamageſchichten erwachſen iſt. Mit jeinem Oelde 
fauft und beherrſcht er Alles, die Preſſe, die Deputirten, Die 
Diinifter, — mührend er jelbit von der launishen Schönen 
Silviane beherriht wird, die troß ihrer Unbedeutendheit ichs in 
den Kopf geſetzt hat, in der Comedie Françaiſe aufzutreten, — 
und über dieje Frage jtürzt zulegt ein Miniſterium! Das Souper, 
welches Duvillard einem ernjthaften Sritifer giebt, um ihn für 
Eilviane zu gewinnen, und was fi) daran jchließt, gehört wohl 
zu den gelungenjten, gleichzeitig aber auch zu den abjtoßenditen 
und widerwärtigiten Szenen des Nomans. 

Duvillards Frau, die noch immer jchöne Baronin Eva, 
unterhält ein VBerhältnig mit dem jungen Grafen Gerard Quinjac, 
über den fie dann jchließlich in einen unbejchreiblicy widerwärtigen 
Kampf mit ihrer häßlichen und boshaften Tochter Kamilla, der 
Millionenerbin, geräth, bis dieſe endlid den Sieg davonträgt 
und Gerard heirathet. Mit unglaublihem Zynismus unterhalten 
ih Kamilla und ihr von perverjen Neigungen beherrichter Bruder 
Hyazinth über die heimlichen Freuden der alternden Mutter. 
Gerard ift ſchwach und charakterlos, während jeine Mutter, die 
legitimiftiiche Gräfin Quinfac — dem Sohne gegenüber allerdings 
auch ſchwach — mit ihrem alten treuen ritterlichen Verehrer, dem 
Marquis de Morigny, einen wohlthuenden Gegenjag zu den 
Duvillards abgiebt. in efelhaftes Miihmaih von eiteliter, 


180 Neue Belletriftif. 


frivoljter Weltlujt und allerlei ſozialiſtiſchen und ſymboliſtiſchen 
Velleitäten jtellt die PBrinzejfin Roſamunde von Horn dar, bie 
nad) vielen vergeblihen Bemühungen den halbverdrehten Hyazinth 
wenigjtens zeitweilig als Liebhaber fapert. 

In das Treiben der Preſſe, in die Deputirtenfammer, das 
Miniſterium bliden wir tief hinein, und eine Fülle von charak— 
teriftiichen Gejtalten tritt uns da entgegen, — in der über: 
wiegenden Mehrzahl allerdings von recht wenig erquidlider Art. 
Alles iſt faul, zerfreilen, unterhöhlt, käuflich, verlogen; und mer 
noch halbwegs ehrlich jein will, wie der Minifterpräfident, dem 
geht es am ſchlimmſten. Alles in dieſer Melt erjcheint zum 
Untergange reif. Und die gefährlihden Mächte des Umſturzes find 
auch nicht müjlig, — die anardiftiihen und die mit den Anardiften 
mehr oder weniger jnmpathifirenden Kreije, von denen uns Zola 
alle möglichen Spielarten vorführt. Und Salvat, der arbeitsloje 
Mechaniker, einjt bei Guillaume Froment, dem Bruder des Abbe, 
bejchäftigt, ift auf der Wanderung, mit einer Bombe, die er aus 
dem Atelier feines ehemaligen Brodherrn gejtohlen hat. Er wirft 
diejelbe in die Einfahrt des Palais Dupvillard, erreicht aber nichts 
weiter, als eine arme feine Modijtin zu tödten und Guillaume 
Sroment, der ihm gefolgt ijt und die Erplojion zu verhindern 
jucdht, zu verwunden. Pierre, der, unabhängig von Guillaume, 
den Salvat beobachtet hat, jpringt dem Bruder bei und bringt 
ihn in fein Häuschen nad) Neuilly, ihr elterliches Haus, wo er 
ihn aufopfernd pflegt. Die beiden Brüder, lange einander ent: 
fremdet, finden und verjtehen einander in herzlicher brüderlicher 
Liebe. Der einjt zwiſchen ihnen, dem atheiſtiſchen Chemiker und 
dem jtrenggläubigen Abbe, bejtehende jchroffe Gegenjag hat ſich 
faſt in ein Nichts verflüchtigt Durch die Jhwerwiegenden Wandlungen 
in der Welt- und Lebensanihauung Pierres. Guillaume verbirgt 
fih bei dem Bruder, weil er in den Fall Salvat verwidelt zu 
werden fürchtet. Iſt doch der Erplofivfioif jener Bombe fein aus: 
ſchließliches Eigenthum. Auf diefe Erfindung, das Rejultat feines 
arbeitsvollen Gelehrtenlebens, baut der kühne, jeltfjame Mann 
abenteuerlid mweittragende Pläne. Er will jeinen Sprengſtoff 
zuerjt dem Staate Frankreich jchenfen, fejt überzeugt davon, daß 
mit Hilfe dejjelben jein Vaterland alle Feinde befiegen und Herr 
der ganzen Welt werden müjle. Dann ändert er jeinen Plan 


Neue Belletriftif. 181 


und unternimmt es, die Kirche Sacre Goeur, dies „freche Denkmal 
der Dummheit,“ das Paris jhände, mit Taujenden frommer Pilger 
darin in die Luft zu jprengen; aber im legten Augenblide ver: 
hindert ihn Pierre mit Gefahr des eigenen Lebens an der Aus: 
führung der ungeheuerlihen That. Endlidy bejcheidet er ſich damit, 
den wunderbaren Stoff als Triebfraft eines neuen Diotors zu 
verwenden, an deilen SKonjtruftion er jchon lange mit feinen 
Söhnen gemeinjam arbeitet und von dejien Leiltung für die Kultur, 
für das Glüd der gelammten Menſchheit ganz ungeheure Dinge 
erwartet und gemweisjagt werden. 


Nach jeiner Genejung iſt Guillaume wieder in jein eigenes 
Heim am Montmartre übergeliedelt. Pierre, der nun nicht mehr 
die Meſſe lieft, bald aud die Soutane des Priefters ablegt, um 
äußerlihd wie innerlid vom Chriſtenthum loszukommen, bejucht 
den Bruder und nimmt an den gemeinlamen naturwijjenichaftlichen 
und mechanischen Arbeiten mit wadjenden Intereſſe Theil. Dies 
Haus der ehrlichen, jtrengen geijtigen Arbeit wird nun im Gegenjaß 
zum übrigen Paris mit wärmſter, fajt begeijterter Sympathie, in 
den rofigiten Farben gejchildert. An der Spige deſſelben jteht Die 
Großmutter, die alte Schwiegermutter des vermwittweten Buillaume, 
eine fühne, energiiche Frau, die durchs Leben geitählt ift, — bie 
Einzige, die in alle Pläne ihres Schwiegerjohnes volljtändig ein- 
geweiht iſt und vor nichts zurüdichredt. Neben ihr der Herr des 
Haujes, der ideenreiche, rujtlos arbeitende Gelehrte mit einen 
drei Söhnen, wahren Enafsfindern, groß, jtarf, aut, bejcheiden, 
ehrlich, intelligent und arbeitiam. Endlich noch Marie, ein Mündel 
Buillaumes, das er ins Haus genommen und zu jeiner rau 
machen will, das aber in der Folge die Frau des vom Priejterrod 
erlöjten Pierre wird; ein herrliches Mädchen, grundgut, ſtark, klar, 
einfach, thätig, Liebevoll. Die gemeinjame geiltige Baſis des 
ganzen Haujes ijt ein ruhiger, flarer Atheismus, dem ſich 
Serechtigfeitsliebe und Arbeit als leitende Genien zugejellen. 
MWährend der arme Salvat, dem Guillaume und Pierre die wärmjten 
Eympathien widmen, jein Schidjal vollendet, von der Polizei in 
fuchtbarer Weile gehept, gefangen und endli vor einer großen 
Zujchauermenge guillotinirt wird, ijt es Pierre bejchieden, in der 
gefunden Luft des brüderlichen Haujes geijtig und gemüthlich ganz 


182 Neue Belletriitik. 


zu genejen und in der Verbindung mit Marie das volljte, reichfte 
Lebensglüd zu finden. 

Dies Haus vertritt die rettenden geijtigen Mächte, die Paris 
und durd Paris die ganze Welt erlöfen jollen. In begeijterter, 
hochpoetiſcher Meile jingt Zola zum Schluß jeinen Hymnus von 
Baris, der Weltretterin, — und dem fleinen Sohne Pierres und 
Diaries wird die Ernte all des Glückes prophezeit, das aus der 
gejunden, fräftigen Saat jolcher Häufer wie des Haules Froment 
erwachſen joll. 

Indeſſen, es ift für den Nidhtparijer, den Nichtfrangofen jchwer, 
dieje begeijterten Hoffnungen zu theilen. Wir find meit davon 
entfernt, von dem „ruhigen, flaren Atheismus“ das Heil zu 
erwarten, und haben im MWebrigen audh in anderen Städten 
und Ländern davon gerade genug. Wenn aber ehrliche, jtrenge, 
wiſſenſchaftliche Arbeit oder die Erfindung neuer Eprengjtoffe und 
Motoren die Melt erlöien können und jollen, dann dürften 
Deutichland, England und Amerika vielleiht noch mehr Ausficht 
darauf haben, die Nettung der Welt zu vollbringen, als Paris; 
als Franfreid. Bon welder Seite wir auch heute Paris be— 
traten, wir fünnen da nichts entdeden, was Diejer Stadt einen 
Aniprudy gäbe, die Menichheit aud in Zukunft, wie oftmals 
vorher, zu leiten oder gar die Welt zu retten! Solche Rettung 
erwarten wir von ganz anderen Faktoren. Paris aber bewegt 
jih allem Anjchein nad) in abjteigender Linie, politiſch nicht nur, 
jondern ebenjo auch moraliid und geiftig. Ein Voll, das wie 
fein anderes der Herrſchaft der Lüge und bodenlojejtem Selbjt: 
betrug verfallen it, das ijt gewiß nicht berufen und im Stande 
„die Welt zu retten“! 

Auch diefer Roman Zolas, des Poeten wider Willen, enthält 
gar mande Partien von feinem poetiihem Weiz. Dahin gehört 
3. B. die Szene im Salon der alten Gräfin Quinfac, die Tour 
auf dem Bicyele, welche Pierre und Marie zufammen in die Um: 
gebung von Paris unternehmen u. a. m. 


In moderner Lyrif habe ich weitere Umschau gehalten 
und neben viel Unerquidlihem doch auch Manches gefunden, was 
werthvoll, ja bedeutend genannt werden darf. Erwähnenswerth 
erjheint mir vor Allem Gujtav Falke mit feiner Sammlung 


Neue Belletriſtik. 188 


„Tanz und Andacht, Gedichte aus Tag und Traum.” * Der 
Titel ift mwunderlih und, wie mich dünft, wenig zutreffend. Der 
Untertitel, Gedichte aus Tag und Traum, paßt ſchon weit beſſer. 
Aber, was dod die Hauptjache bleibt, der Inhalt des Buches iſt 
gut und werthvoll. Falke iſt ohne Zweifel einer der bedeutenditen 
modernen Lyriker. Gedanfenreihthum und Kormvollendung heben 
die Gedichte diefer Sammlung hoch über das Maß des Gemöhn- 
lihen hinaus. Hier und da glaubt man Goethes Einfluß zu 
jpüren, öfters denjenigen der modernen Malerei, in allem 
Mefentlichen aber erfcheint Falke hier als ein durchaus origineller 
Geift, im beiten Sinne des Wortes. 

Das tritt gleich in den die Sammlung einleitenden „Phantafie- 
ſtücken“ deutlich hervor, die eine bedeutende Kraft in der Schilderung 
phantaftiicher Gebilde befunden. Ein paar Beilpiele mögen das 
beutliher madhen. Das erite Gedicht „Traumbild“ mwird durch 
folgende Schilderung eingeleitet: 


An einem jtillen Garten gingen mir, 

Nacht wars, vorbei. Traumrojen hingen bier 

In dunklen Zweigen, die im Lufthaud bebten, 

Und jeltiam ſchwarze Schmetterlinge jchmebten 

Im Mond mit regungsloiem Flügelbreiten 

Langſam herab aus wolfenloien Weiten. 

Wie ruhig mars, wie ruhig war es rings. 

Und dort im Dunfel lag fie jelbit, die Sphinr, 

Das Stein gewordne Schweigen. Koniferen 

Und Buchsbaum, den ſchon längit des Gärtners Scheeren 

Nicht mehr berührt, beichatteten den Leib, 

Und auf der Schulter ſaß dem Marmormweib 

Ein einziger der ſchwarzen Schmetterlinge 

Und rührte langiam, träumeriich die Schwinge. 

Das fehr originelle „Geſtorben“ beginnt mit der folgenden 

Ihönen Schilderung: 

Der Himmel jentte feine grauen Fahnen 

Tief auf des Parfs umflorte Sommermipfel, 

Und durd die jtilfen Scyattengänge jchmebten 

Der Schwermuth dunkle Falter leiſen Fluges. 

Die hohen Ulmen weinten und die Birken, 

Die erniten Honiferen und die Roſen, 

Und dur den feuchten Schleier jah das Haus 

Mit feinen dichtverhängten Fenſtern wie 


*) Berlin 1897, Verlag von Schufter und 2oeffler. 


184 Neue Belletriftik, 


Ein müdes, bleiches Menichenangeficht, 
Dem Gram die heiken, franfen Lider ſchloß u. ſ. w. 

Zum Beiten und Originelliten in dieſer Abtheilung gehört 
ohne Zweifel „Die Regeninjel,“ die eine an Bödlin erinnernde 
mothologifche Geftaltungsfraft befundet. Auch die „Parkſzene“ ift 
fein. Weniger befriedigt mich das grelle Rhantafiebild „Der Berg.” 

Die übrigen Gedichte find als „Wermilchte” bezeichnet und 
alſo nicht weiter geordnet. Viel Schönes, Feines und Tiefes 
findet fid) da. So das träumeriihe „Am Kamin,” der überaus 
fein gezeichnete, wieder an Böcklin erinnernde „Hirte,“ „Der 
Blutstropfen,“ „Viola d’amour,“ „Lenzluſt,“ „Sommerglüd,“ 
„2er Zitronenbaum,” „Wenn id) fterbe,“ „Die Welle” u. a. m. 
Veberaus grazios ift das Gedicht „Rose d’amour,“ bedeutend 
„Der Schritt der Stunde, wenn Du fchlaflos liegſt.“ Zum 
Schönſten muß ich das Gedicht „Die jtille Frau“ rechnen, das 
ih volljtändig mittheilen will: 

Du wirkſt in Sorgen treu und fchlicht, 
Grau reihen Tage fih an Tage. 


Nichts, was Die ſchwere Nette bricht 
Der immer gleichen Frauenplage. 


Und doch war einjt ein Koienflor, 

Und war die Melt voll füher Lieder, 
Und Hoffnung ichlug ans Himmelsthor 
Mit ihrem jtürmiichen Gefieder. 

Ach, auf den reihen Frühling fam 
Ein furzer Sommer ohne Segen, 

Der alle deine Blüthen nahm 

Und gab dir feine Frucht Dagegen. 
Schon küßt des Herbites fahles Licht 
Dir deine guten fleißigen Hände, 

Du achteſt nicht im Drang der Pflicht 
Der Zeit und ihrer raichen Wende. 

Ob aber Nachts, wenn Alles jchmweigt, 
Nicht manchmal deine Seele jammert 
Und, mas aus jtillen Gräbern jteigt, 
Mit Schniuhtsarmen wild umklammert? 


Tief ergreifend iſt das Gedicht „Mich friert jo ſehr,“ S. 107. 
Das todte, raſch vergeliene Kind fehrt aus dem Grabe zurück, 
flopft an und tritt ein und klagt leife weinend: 


Neue Belletriftik. | 185 


„Schelte nicht, mich friert fo jehr! 
Ach, ein Grab, das Liebe pflegt, 
Warm und weich Geitorbene hegt. 
Aber Liebe, die vergikt, 

Weiß nicht, wie den Todten iſt.“ 

In dem Gedicht „Die Falte” ericheint dem Dichter der 
Haß in der ganzen trogigen, wilden Schönheit gefallener Engel, 
aber er fieht auch die tiefgefurdte Schmerzfalte zmifchen den 
Brauen der Erjcheinung. Er fragt: Warum die Kalte? 

Zeile, 
Verquält Hang es zurüd: 
„Weil ich nicht lieben darf.“ 

Manche Gedichte Falfes machen den Eindrud, von der 
modernen Malerei beeinflußt zu jein; andere bieten Gedanken 
und Bilder, die diejer zum pajjenden Vorwurf dienen fönnten, fo 
z. B. außer einigen der angeführten auch „Begräbniß,“ „Himmel: 
fahrt” u. a. m. Sit uns aud nicht Alles ſympathiſch, fo werden 
wir uns Doch der Ueberzeugung nicht verichließen fönnen, daß wir 
es hier mit einem bedeutenden Künjtler zu thun haben. Die 
Sinnlichkeit tritt im Allgemeinen nit zu ſtark hervor. In 
Gedichten wie „Die Bacchantin“ ijt fie in ihrem vollen Rechte. 
Ein jtimmungsvolles Naturbild, mit kurzen Strichen gemalt, bietet 
uns der Dichter in „Feldeinſamkeit.“ Hübſch und originell ift das 
fleine Gedicht „Verſchwiegen.“ 

In fein fchönes Namilienleben läßt uns Falke in mehreren 
tiefempfundenen Gedichten hineinbliden. So z. B. in dem „Deinem 
Kinde“ überjchriebenen: 

Du Schläfit und jachte neig’ ich mid 
Ueber Dein Bettchen und jegne Did. 
Jeder behutiame Athemzug 

Iſt ein ſchweifender Himmeläflug, 
Iſt ein Suchen weit umber, 

Ob nicht doch ein Sternlein wär 
Wo aus eitel Glanz und Licht 

Liebe fih ein Glückskraut bricht, 
Das fie geflügelt hernicderträgt 

Und Dir aufs weiße Dedchen legt. 

Die zartempfundene „Tempelhüterin” iſt in danfbarer Liebe 
der treuen Gattin gewidmet. „Aus dem Takt” gehört in denjelben 
Gedanfenfreis, desgleihen „Schamhafte Liebe.” Welch andere 


186 Neue Belletrijtif. 


Cindrüde gewinnt man bier, als aus den rohen Gedichten, bie 
R. Dehmel Frau und Kind widmet! 

Als fein und tief möchte ich noch das Gedicht „Halt zu Die 
Thür” hervorheben, in welchem der Dichter flagt, daß er die 
Welt zu tief in jein Innerſtes, fein Deiligites habe ſchauen lafien, 
und mit dem Rathe ſchließt: 

O ſei nicht allzu gaitbereit, 

Halt zu die Thür, halt zu die Thür! 
Ein Winfel muß Dein eigen fein, 
Wohin fein Fremder ſich drängt ein, 
Und böt' den Himmel er dafür. 

Man kann es dem Dichter nicht verdenfen, wenn er fi 
gegen die bejchränften Kritifer aufbäumt, die nichts Neues gelten 
laſſen wollen, jei es noch jo gut. Selbſt ein Gedicht wie „Die 
Peitihe euch” hat da jeine Berechtigung. Daſſelbe aber möchte 
ih nicht von dem verwandten Gedichte „Laus bleibt Laus“ jagen, 
und zwar darum, weil der Schlußgedanfe, in dem es gipfelt, 
durchaus unſchön, ja widermwärtig it. 

Den Schluß der Sammlung bilden „Gedichte in Profa,“ 
unter denen ich das modern grelle, aber fraftvolle Bild „Der 
Meberfall“ hervorheben möchte. 

So günftig im Allgemeinen der Eindrud it, den mir von 
der genannten Gedichtiammlung Falkes gewinnen, jo jehr ver: 
ändert fi) das Bild ins Ungünftige, wenn wir die ebenfalls im 
Fahre 1897 erichienene Sammlung „Neue Fahrt” zur Hand 
nehmen.*) Das Bud iſt Richard Dehmel zugeeignet und das ilt 
harakteriitiich für daſſelbe. Falkes „Neue Fahrt” nimmt ihren 
Kurs in der Nihtung auf Dehmel! und was das bedeutet, werden 
diejenigen leicht ermeijen können, weldje meine Bejprechung der 
Dehmelihen Gedichte im Aprilheft der „Balt. Dion,” gelefen 
haben. Mit Erjtaunen und Bedauern habe id Diele Wendung 
in Falkes Ridhtung wahrgenommen. Statt auf „Neuer Fahrt” 
die Segel jeines Sciffleins von Dehmels Genius jchmellen zu 
laſſen, hätte er beſſer daran gethan, im alten eigenen Kurſe 
weiter zu fahren. Er fonnte durch Dielen Einfluß nur verlieren, 
und mir mit ihm. 


*) Berlin 1897, bei Schuiter und Loeffler. 


Neue Belletriftif, 187 


Falfes Talent ift fo tief und bedeutend, daß er trotzdem 
uns auch in diefer Sammlung mandes Schöne und Erfreuliche 
bietet. ch nenne nur Gedichte wie „Morgenmuth,“ „Heimweh,“ 
„2er redte Ort,” „Toter Winkel,“ „Dinterm Deich,” „Sommer“, 
„An einem Grabe,” „Zotenamt” und namentlich „Der thörichte 
Jäger.” Aber daneben — mie viel Nohes, Geihmadloies, höchſt 
Unerfreuliches, das den Einfluß Dehmels verräth! Da erjcheinen 
jo midermwärtige ‘Brodufte wie „Skal“ und „Klöjterverfehr,“ deren 
nähere Charafterijtiif ich mir und den Lejern eriparen möchte; 
fo unerfreuliches, rohes Zeug wie „Nachtwandler,” „Haß,“ „Zwanzig 
Mark,“ „Es reicht hin,“ die Schlußwendung in dem Gedicht „Die 
Verſchmähte“ u. a. m. Auch zu Dehmels geichmadlojen Kinder: 
gedichten werden uns hier Pendants geboten wie „Die Prinzeſſin“ 
und „Kinderreim”. Dan erkennt Falke geradezu garnicht wieder. 
Es iſt mir aufrichtig leid um dieſen Dichter, daß er nun aud) in 
diefen Ton verfallen und unter Dehmelihen Einfluß gerathen it. 
Man fieht aus dieſer jeltiamen Wandlung, melde dämoniſche 
Macht der böje Geilt übt, der die moderne deutſche Lyrik beherrict. 
Ich Hoffe Sehr, daß Falfe den eingeichlagenen neuen Kurs bald 
als eine Verirrung erfennen und ſich jelbit wiederfinden werde. 
Es ſteckt in ihm ein jo tücdhtiger Kern, daß ihm das nicht ſchwer 
fallen jollte. 

Zu den beiten der modernen Lyrifer wird Hugo Salus 
gerechnet. Ich habe jeine „Gedichte“ *) gelefen und bin zu der 
Meberzeugung gelangt, daß auch in diefem jungen Dichter ein 
tüchtiger Kern ſteckt, nicht nur Begabung, jondern audy moraliicher 
Fond. Manches ſchöne, manches gedanfenreiche Gedicht tritt uns 
da entgegen. ch hebe hervor „Bild,“ „Liebeslied,“ „Duntel,” 
„Einfames Dorf,“ „Sommermittag,“ „Kammermufif,“ „Selgo- 
land,” „Im Reifewagen,” „Ewige Treue,” „Erinnerung,“ „Blumen,” 
„Lieder aus Italien,“ „Stilles Glück,“ „Die Mutter”. Feine, 
tiefe und edle Empfindung offenbart fih in den Liedern, melde 
das Verhältnig des Dichters zu jeiner Frau, zu feinen Eltern 
erkennen laſſen; ſympathiſch berührt feine warme Begeifterung für 
Italien, das Land der Schönheit, desgleidhen die weile Selbſt— 
erfenntniß in dem Gedicht „Die Goethejtürmer”. Es ift eine 

*) Mit modern auffallendem, wenig Ichönem Frauenbild auf dem Titel 
geziert, erjchienen bei Albert Zangen, Parissteipzig-München, 1898. 


188 Neue Belletriftif. 


gefunde, tüchtige Dichternatur. Damit fol aber nicht gelagt fein, 
dak mir Alles an diefem Dichter gefällt. Ganz abgelehen davon, 
daß die Form, fpeziell die Neinheit der Neime noch Manches zu 
wünfchen übrig läßt, die Sonette zu vechter Vollendung fih noch 
nicht erhoben haben, findet ſich auch Manches, was direft abjtößt 
und unangenehm berührt. Wo der Dichter dem Geiſte der jogen. 
„Moderne“ opfert, da bietet er uns Inerfreulihes. So in dem 
widerlih finnlihen Gedichte „Pan,“ jo auch in dem Gedicht 
„Die Fliege,“ wo der Dichter jchildert, wie er bei der Trauung, 
fromm geitimmt, jchon in Gefahr war, feinen „ichönen Unglauben” 
zu verlieren, als eine „kühn atheiſtiſche Fliege,“ die laut brummend 
um den Kelh mit dem Blute des Herrn herumfliegt, ihn nod 
glücklich davor bewahrt u. dal. m. Immerhin gehört Salus, wie 
mir jcheint, zu denjenigen jungdeutichen Dichtern, die im Stande 
fein werden, fich durch die modernen Verirrungen hindurch zu 
höherem und reinerem Wirfen emporzuarbeiten. Das bemeilen 
uns feine „Gedichte.“ 


Vor mir liegt das vierte Heft des dritten Jahrganges ber 
hochmodernen, luxuriös ausgejtatteten Runitzeitichrift „Pan,“ die 
das Neuejte und zugleich Befte in bildender Kunſt, Poefie, Nejthetif 
bieten will. ch geitehe, daß das vorausgehende Heft mir beſſer 
gefallen bat. Es enthielt neben viel durchaus Abjtohendem doch 
auch gar Dianches, was von bedeutendem Talent Zeugniß ablegte. 
Von dem vorliegenden Heft 4 vermag ich das nur in jehr be- 
Iheidenem Make zu behaupten. Ueber die Bilder habe ich 
natürlich fein fahmännifches Urtheil, wenn ich auch nicht verhehlen 
will, daß mir da Manches einen halb oder gan; verrüdten 
Eindrud madt, 3. B. Henri Herans „Spielendes Meerweib“ 
oder die Kruredullen von Theodora Onaſch auf S. 225, die 
feine nähere Bezeichnung tragen und auch ſchwer zu bezeichnen 
fein dürften; mid) erinnern ſie an findliche Schmierereien, vielleicht 
aber jollen fie ſymboliſch etwas bedeuten. Doch, mie gejagt, da 
bin ich nicht Kenner und beanſpruche nicht, dab mein Urtheil ins 
Gewicht falle. Bon dem poetiichen Inhalt dieſes Heftes aber fann 
ich dreijt behaupten, daß derielbe herzlich ſchwach und unerfreulich 
ijt. Ein paar Proben mögen genügen. Ciner der Bahnbreder 
und Pfadfinder der modernen deutichen Poeſie, Arno Holz, 


Neue Belletriftik. 189 


produzirt fih da mit einer Reihe von Gedichten, die unter ber 
Veberichrift „Phantafus” zufammengefaft find. Ach ſetze eines 
hierher: 
Ueberm Bett, eingerabmt, hängt der Myrthenfranz. 
Am Fenſter 
itand vor Jahren mal die Nähmaſchine; 
ein Hanarienvogel fang. 
Jetzt 
iſt das alles anders. 
Abends, 
wenn die rothe Lampe brennt, 
kommen fremde Herren in das Stübchen; 
alte, junge, wies grad trifft. 
Du lieber Gott — das Leben! 
Nur manchmal, 
wenn der Regen draußen auf die Dächer peitſcht, 
Nachts, 
Kein Menſch iſt wach, 
ſitzt das Weib und weint. 
Der tote Mann! Die armen Kinder! 

Das nennt man heutzutage ein Gedicht! Wären die Ab— 
theilungen nicht gemacht, jo würde das faum Jemand erfennen. 

Neben der Proja der Holzihen Gedichte fteht der hyper— 
poetiſche Bombajt der Proſadichtung „Sonnenopfer” von Stanislaw 
Praybyszemifi. Diefelbe beginnt: 

„Die Du mir mit lichttrunfenen Fingern die Schönheit mwelfender Serbit: 
trauer, den müden Glanz Iujliatter Pracht, die fiebernden Farben fonnenzer: 
frefiener Baradieje in meine ſchweren Träume verwebit — 

Geliebte — 
viele Monden find gegangen, ſeit ich Dich geliehen, aber noch immer glänzt mein 
Herz über den Sternen, die Du in mein Leben gejät, noch immer wachſen aus 
meinem Blut Hände, ringend, flehend nah dem Glüd, das Du mir einit 
entfacht“ ıc. 

Der Erzähler ift ein Sonnenfohn, der der Geliebten jeine 
Mutter, die Sonne, opfert! An die jonnenzerfreiienen Paradieſe, 
an die ringenden Hände, die aus dem Blute hervorwachlen, reihen 
fih weiter fladernde Verzweiflungsichreie, eiterndes Volt u. dgl. m. 
Mir hören, daß fih des Erzählers „Herz nad) der Sonne nadt 
ſchrie“ u. dgl. m. 

Auch das Ausland wird im „Pan“ berüdjichtigt. Neben 
einem Auflag über die „Niederländiihe Dichtung“ der letzten 
zwanzig Jahre von Pol de Mont merden uns Gedichte von 


7* 


190 Neue Belletritik. 


Herman Gorter geboten, aus dem Holländifchen überjegt von 
Marimilian Dauthendey. Das erfte derjelben fei hier mit: 
getheilt: 
mei Jampen leuchten, 
Blau ſchimmert der Spiegel, 
es beleuchten, 
Lichter die Möbel rundum, 
Alle Dinge find jtumm. 
Ich hörte Frauenathem 
Kommen, ich wollte — 
Ich wollte — ich ſitze ganz ſtill, 
Es iſt nichts, was ich will. 
Höre der Uhr Wiedergetide, 
Sie zählt die Augenblide. 


Die Lefer werden daran mohl genug haben und feine 
weiteren Proben begehren. 


8. v. Schroeder. 


Litteräriihe Streiflihter. 


9. v. Treitſchke's Vorleſungen über Politik. — B. Gebhardt, Deutiche 

Geihichte im 19. Jahrh. — G. Steinhauſen, Das häusliche und geiell« 

Ichaftliche Leben im 19. Jahrh. — Staatsminiiter Jolly, Gin Lebensbild. — 

Fr. Zarnde, Aufläge und Reden zur Aultur und Zeitgeichichte.e — 28. 

Rymarifi, Die Ephemeriven des Iſch Schacheſeih. — W. Hertz, Parcival 

von Wolfram von Eſchenbach. — J. 9. Löffler, Martin Böpinger, ein Yebens- 
und Zeitbild aus dem 17. Jahrh. 


Eine letzte, wahrhaft erfreuliche Gabe aus dem Nachlaſſe 
Heinrih von Treitſchkes wird uns in dem Buche: Politik. 
Vorlefungen gehalten an der Univerfität zu Berlin, herausgegeben 
von Mar Gornicelius geboten, von dem bis jeßt Der erite 


Litteräriſche Streiflicter. 191 


Band*) vorliegt. Die Veröffentlihung von Vorlefungen, die ihr 
Verfaſſer nicht ſelbſt hat durchſehen und zum Drud vorbereiten 
fönnen, hat immer etwas Mikliches und um jo mehr dann, wenn 
der Autor ein hervorragender Redner geweſen iſt; die echte Rede 
unterfcheidet fi) ganz wejentlid von der von vornherein für das 
Lejen bejtimmten Abhandlung. In dem vorliegenden Falle hat 
Treitichfes eigenes Heft nicht einmal als Leitfaden dienen fönnen, 
die Veröffentlihung der Vorlefungen über Bolitif beruht ganz auf 
ſtenographiſchen Nachſchriften einzelner Zuhörer aus verjchiedenen 
Jahren. Es begreift ſich daher, daß gerade von manchen Treitjchfe 
in Verehrung zugethanen PBerjonen gegen die Herausgabe Diejer 
Kollegienhefte Bedenken erhoben wurden und daß zunädjt von 
ſechs angejehenen Kollegen und Freunden des Dahingeichiedenen 
Gutadhten darüber erbeten worden find, ob es gerathen jei die 
Vorlefungen zu veröffentlihen. In Folge des zuftimmenden Urtheils 
der meijten Befragten iſt dann die Ausgabe erfolgt, über die wir 
nur unjere vollfommene Befriedigung ausjpredhen Fünnen. Was 
wir bier leſen, ijt jelbjtverjtändlicdy nicht jenes große Werk, mit 
dem 9. v. Treitichke feine hiſtoriſche und politische Lebensarbeit 
abzuichließen gedachte, in dem er die Summe jeiner Erfahrungen 
und jeines jahrelangen Nachdenkens über Bolitif zu ziehen beab- 
fihtigte, aber es ijt dod) ein, wenn auch unvollfommener, Erjag 
dafür; nicht nur jeine Grundanjhauungen über die widtigiten 
Fragen des Staatslebens und der Politif lernen wir aus Diejen 
Vorlejungen fennen, jie lajlen an vielen Stellen auch klar erjehen 
oder wenigſtens vermuthen, wie ſich die Ausführungen jenes 
größeren Werfes im Einzelnen gejtaltet haben würden. Und jogar 
einen Vorzug haben dieje VBorlefungen: die köſtliche Unmittelbarkeit 
und Friſche des Ausdruds jowie die herzerjreuende Unummwundenheit 
des Urtheils; dadurd allein jchon fejlelt das vorliegende Buch den 
Lejer von der erjten bis zur legten Seite. Man hat fortwährend 
den Eindrud der Rede und glaubt beim Leſen Treitichfe vor ſich 
zu jehen und ſprechen zu hören. Falſche und verkehrte Anjichten, 
weitverbreitete Irrthümer und Thorheiten des Tages werden oft 
furzweg als „Unfinn“ oder „Dummheit, Berjchrobenheit” bezeichnet, 
darunter nicht weniges, was heutzutage als ausgemadte Wahrheit 


*) Leipzig, Verlag von S. Hirzel. EM. 


192 Litteräriiche Streiflichter. 


verfündet und geglaubt wird. Andererfeits muß ausdrüdlich hervor: 
gehoben werben, daß die jo häufig in Univerfitätsvorlefungen vor: 
fommende gehäffige perfünliche Polemik hier ganz fehlt, Treitſchke 
befämpft jtets nur die Anfichten und Lehren, nicht die Perjonen, 
aud) darin zeigt fich jeine edle, vornehme Perjönlichkeit. M. Cor: 
nicelius gebührt für feine vortrefflihe Redaktion der verſchiedenen 
von ihm benugten Nadhichriften der warme Danf aller Freunde 
Treitſchles. 

Ueber Politik iſt unendlich viel geſchrieben worden, meiſt 
mit vorgefaßten Meinungen, unter der Herrſchaft beſtimmter 
Theorien. Die Staatslehren der großen Denker der philoſophiſchen 
Epoche Deutihlands: Kants, Fichtes, Schleiermahers, Hegels 
enthalten viele tiefe, zum Theil in das allgemeine Bewußtſein 
übergegangene Gedanken; bejonders Hegels Rechts- und Staats— 
philofophie bietet auch demjenigen, der feine Wergötterung des 
Staates verwirft, eine Fülle erniter, nie veraltender Wahrheiten. 
Aber verhängnißvoll war es do, daß das Wejen und die Aufgabe 
des Stuates nad philofophiichen Ideen und Prinzipien fonjtruirt 
und bejtimmt wurden, oft genug ohne Rückſicht auf die Wirklichkeit 
und die geiichtliche Erfahrung. Nicht nur die politiſchen Ver: 
treter des Liberalismus jtanden unter dem Banne Rouſſeauſcher 
und popularphilojophiicher Theorien, auch ein fo geijtvoller und 
Iharfdenfender Dann wie J. 3. Stahl hielt ſich nad) entgegen: 
gejegter Richtung in jeiner Staatslehre von der Herridaft vor: 
gefaßter, einjeitiger Doftrinen nicht frei. Dahlmanns 1835 zuerft 
erſchienene Bolitit macht allein eine Ausnahme; fie berubte auf 
wirflih geihichtliher Grundlage; leider blieb das Bud aber 
unvollendet. Zu wie verkehrten NRejultaten das theoretiiche Kon— 
Itruiren auf dem Gebiet der Bolitif führt, das lehren bejonders 
augenfällig die Bücher des geijtreihen Konjtantin Frank, ber 
unter anderem noch 1866 bewies, daß die Einheit Deutichlands 
ein thörichter, der Geſchichte widerjtreitender Traum jei, daß bie 
Trias die wahre und richtige Form der Verfaflung Deutſchlands 
fei und daß Preußen abjolut nicht geeignet jei die Führung 
TDeutihlands zu übernehmen. Selbjt ein Hiftorifer von ſolchem 
Scharfblid wie G. Waig zeigt fih in jeiner Politik noch vielfach 
von der Neigung zu theoretiiher Konftruftion befangen. Erſt die 
große Epoche der neuern Zeit, die durch Cavour und Bismard 


Litterärifche Streiflichter. 193 


heraufgeführt wurde, hatte aud) einen Wandel in der Auffaſſung 
und Behandlung der Lehre vom Staat und der Politik zur Folge. 
Treitichfes Definition: Bolitif ijt angewandte Gedichte zeigt jo 
recht den Unterjchied der jegigen Hijtoriichen von der früheren 
ipefulativ:philofophiichen Lehre vom Staat. 9. v. Treitichfes Vor: 
lefungen find gewiljermaßen der litteräriiche Niederjchlag der großen 
Realpolitit Bismards, in ihnen kommt der gewaltige Umſchwung 
der deutſchen Verhältniſſe in den legten vierzig Jahren zum 
lebendigiten Ausdrud. So jind diefe Vorlefungen ein bleibendes 
Denkmal einer großen Zeit und großer Ereigniſſe. Treitichke, 
der urjprünglid von einem jehr entichiedenen Liberalismus ausging 
— liberal und national waren ja damals faſt identisch — erſcheint 
in jeiner Bolitif frei von jeder Doftrin, von feiner ‘Barteiichablone 
beengt, er jpricht oft ganz fonfervative Anfichten aus und verurtheilt 
bornirt-liberale Meinungen rüdjichtslos, er jteht eben ganz auf 
hiſtoriſchem Boden und erflärt und beurtheilt die jtaatlidhen Dinge 
nad) den Erfahrungen der Gedichte. Daß das durd glänzende 
MWaffenthaten und eine großartige Staatsfunft aufgerichtete deutjche 
Reich den Hintergrund jeiner Auffaffung und Darjtellung des 
Staates bildet, erfennt man an vielen Stellen. Einer der Grund: 
gedanfen 9. v. Treitjchfes in der Bolitif: der Staat ijt vor allem 
Macht — wer hätte ihn vor 1866 und 1870 in Deutichland mit 
überzeugender Kraft auszuſprechen vermocht? 

Niht die philoſophiſch-ſyſtematiſche Darlegung, die jcharfe 
logiihe Definition und die jorgfältig erwogene Deduftion iſt 
Treitſchkes Stärfe, was ihn auszeichnet ijt die Tiefe der gejchidht- 
lihen Auffafjung, die bewundernswürdige Kenntniß des uner- 
meßlichen hiſtoriſchen Stoffes und das gereifte, durch feinen Schein, 
durch feine herrſchende Zeitanihauung geblendete Urtheil; dazu 
fommt dann die leidenjchaftliche Kraft, die wunderbare Beweglichkeit, 
der ideale Flug diejes edlen Geiſtes, die in dieſen VBorlejungen 
noch jtärfer als in dem ausgearbeiteten Werfe zur Erjcheinung 
gelangen und den Lejer mit padender Gewalt fortreißen. In 
zwei Büchern behandelt Treitichfe das Wejen und die jozialen 
Grundlagen des Staates, aber die fiebenzehn Kapitel, in die jie 
zerfallen, geben faum eine Ahnung von der veihen Fülle gedanken— 
voller Auseinanderjegungen, die oft nur in lojem Zujammenbange 
mit dem eben behandelten Gegenjtande ſiehn. Im erjten grund: 


194 Litteräriſche Streiflichter. 


legenden Buche ift die Darftellung geſchloſſener und jtraffer, im 
zweiten find die einzelnen Theile oft nur loder mit einander 
verfnüpft, das ijt eine ganz natürliche Folge des mündlichen 
Vortrags. Wie Treitjchfe in der Politik ein Feind aller Abjtraftion 
ift und daher das Naturrecdht als hohles Verſtandesprodukt uner- 
bittlih verfolgt und bekämpft, jo ift auch jein Stil und jeine 
Sprache immer fonfret, von höchſter Lebendigkeit, jein Vortrag 
eine fortwährende Unterredung mit feinen Zuhörern. 

Mit der Grundanjchauung des alten Liberalismus von ber 
Entjtehjung des Staates, der Vertragslehre, hat Treitichfe voll- 
fommen gebrodyen, er jteht ganz auf dem Standpunft der hiſtoriſchen 
Schule, aber in der jtarfen Betonung der Bedeutung des bewußten 
Willens für die Entwidelung des Etaatslebens macht ſich der 
Zeitgenojje Bismards erfennbar. Es wäre lodend auf die einzelnen 
Abſchnitte des Buches näher einzugehen, fie zu würdigen und auch 
mit manden Einwendungen nicht zurüdzuhalten, aber aud) das 
Zehnfadhe des uns zugemejjenen Raumes würde dazu faum hin: 
reihen. Nur eine die Gejammtauffallung Treitichfes vom Staate 
berührende Bemerfung fünnen wir nicht unterdrüden. Er bat 
bei jeinen Erörterungen des MWejens und der Forderungen Des 
Staates an den Einzelnen jtets den nationalen Staat eines 
einheitlihen Wolfes, insbejondere den preußiich-deutihen Staat 
vor Augen. Für diejen haben alle jeine Ausführungen vollfommen 
Geltung und Berechtigung. Ganz anders aber verhält es ſich 
mit national gemiſchten Stuaten wie 3. B. Oejlerreihd. Da fann 
von den verjchiedenen Stämmen und Nationalitäten nicht diejelbe 
Stellung zum Staatsorganismus erwartet und gefordert werden, 
wie in einem nationalen Neiche. Der Italiener und Slomwene 
werden ſich gegenüber dem Gejammtjtaate und jeinen Anforderungen 
fehr anders verhalten als der Deutjche. Hier ift nicht der Staats- 
organismus, jondern die Perſon des Derrichers der Vereinigungs- 
punft für die verjchiedenen Volfsftämme, nicht jo jehr Staats: 
gelinnung als Anhänglichfeit an den Monarchen ift das ver: 
einigende Band zwilchen ihnen. Im Uebrigen müflen wir uns 
damit begnügen einige Bunfte als Proben deſſen, was bier geboten 
wird, hervorzuheben. Mit rechter Befriedigung liejt man bei 
Treitichfe den heute ganz bejonders zu betonenden Sag: Alle 
Geſchichte it zunächſt politiihe Geſchichte und freut fih an 


Litteräriſche Streiflichter. 195 


feiner nachdrüdlichen Erklärung gegen die überwiegende Schägung 
der Kulturgeihichte. Seine wundervollen Ausführungen über die 
Bedeutung des Krieges für den Staat und das Volk, jeine feinen 
Auseinanderjegungen über die Stellung der Diplomatie zur Moral, 
endlicd) jeine Darlegung der Verhältniſſe des Einzelnen zum Staat 
find wahre Schläge in das Angeſicht herrichender Zeitanfchauungen. 
Vortrefflih weiſt Treitichke nad), daß ein großer Staat heutzutage 
ohne Kolonien jeine Stellung auf die Dauer garnicht behaupten 
fonne. Zu den glängendjten Partien des Buches gehört der 
Abſchnitt über die WBarteien, die Parteibildung und über Die 
Freiheit, in dem die gejundeften Anfichten ausgeiprochen werden, 
die ficherlich feiner Partei gefallen werden. Was Treitſchke über 
die Preſſe und ihre jchweren Schäden jagt iſt ganz vortrefflich. 
Das Kapitel über die Racen, Stämme und Nationen ijt jo 
durhdadht und reidy an treffenden Bemerkungen, daß es wiederholt 
gelejen und wohl durddacht zu werden verdient. Auch die Aus- 
einanderjegungen über Kaften, Stände, Klaſſen zeigen Treitichfes 
bewundernswürdige hiſtoriſche Einfidt. Seine Würdigung des 
Models it jehr bemerfenswerth; aufgefallen ift es uns, daß er 
dabei des baltiihen Adels mit feiner Silbe gedenkt, aud da nicht, 
wo fih wie S. 312 eine Erwähnung dejjelben dem Gejdichts- 
fundigen gewiſſermaßen aufdrängt. An anderen Stellen ſpricht 
er übrigens nicht unfremmdlich von den baltiihen Provinzen. 
Treitſchke ijt ein unerbittliher Gegner der modernen Bildung, Die 
in einem Wuſt zujammengeraffter Notizen bejteht, und jpricht 
unerihroden von der Stupidität unter ven Gebildeten. Dab ein 
Diann wie er fid entichieden gegen die Frauenemanzipations: 
bejtrebungen erflären werde, war zu erwarten; wir empfehlen jeine 
ausgezeichnete Erörterung diejer Frage allen, die fi) durch bie 
Phrajen und Schlagworte dieſer Modethorheit noch nicht völlig 
haben blenden laſſen. Mit feurigem Eifer tritt Zreitichle für bie 
alte klaſſiſche Gymnaſialbildung als eines der fojtbarjten Erbjtüde 
der deutjchen Nation ein, er jieht in der Zurüddrängung derjelben 
eine jchwere Gefahr für die geiftige Zukunft der leitenden Klajien 
des deutſchen Volkes und erklärt jih mit allem Nachdruck gegen 
die Einheitsichule, diefes Schoßfind moderner verſchrobener Schul: 
politif. In dem Schlußabſchnitt über die Volfswirthihaft jpricht 
Treitſchke ſich entichieden gegen die immer mehr um jid) greifenden 


196 Litteräriiche Streiflichter. 


fozialiftiihen Theorien auf diefem Gebiete aus. Im zweiten Bande 
jollen die Verfaflung, die Verwaltung und das Verhältniß ber 
Staaten untereinander behandelt werden; wir jehen ihm mit 
wahrer Spannung entgegen. 

Wir müſſen uns auf dieje furzen und dbürftigen Andeutungen 
beijchränfen, die nur den Zweck haben auf den reihen Inhalt des 
Buches hinzuweilen; von der überquellenden Fülle geiftreicher, 
frappirender Bemerkungen im Einzelnen giebt nur Die Lektüre 
jelbjt eine VBorjtellung. Treitichfes Politik ijt ein im höchſten 
Grade zum Nachdenken, zum Selbitforichen anregendes Bud, das 
wie es oft genug freudige Zuſtimmung hervorruft, nit jelten 
auch den Widerſpruch erweckt, immer aber erfriihend wirft; man 
fann hunderte von Fragezeihen an den Rand des Buches maden, 
aber unzählige Stellen find Einem dann wieder aus der Seele 
geiprochen. Man fühlt es jtets: ein tapferer, unerſchrockener, nur 
die Wahrheit juchender Geiſt, genährt mit dem Marke der klaſſiſchen 
Litteratur des Alterthums Ipricht zu uns, ein Dann erfüllt von 
friegeriihem Feuer, der jeine ganze Seele in das hineinlegt, was 
er jagt. Die Schüler find glüdlid zu preilen, die zu Diejes 
Lehrers Füßen gejeilen haben und wenn man bedenkt, dab ihrer 
viele hunderte im Laufe der Jahre geweien jind, jo fann man 
wohl hoffen, daß die von Meijter gejtreute Saat im politiichen 
Leben der Zukunft gute Frucht bringen wird. Ein Bud von 
9. v. Treitichfe bedarf feiner Empfehlung, wir wünſchen nur von 
Herzen, daß jeine Politif überall gelefen, durchdacht und vor allem 
beherzigt werden möge. 

In diefen trüben, dunklen Tagen, da jchiwere Trauer um das 
Hinſcheiden feines Helden, feines großen politiihen Führers und 
Dieijters auf dem deutichen Volke lajtet, hat gewiß mander mit 
Wehmuth aucd des jchon früher Hingegangenen begeijterten Heroldes 
und geijtigen VBorfämpfers des neuen deutjchen Reiches, des glühenden 
Patrioten, der mit Wort und Schrift an allen Ereigniſſen der großen 
Zeit den lebendigjten, Fräftigiten Antheil genommen hat, gedadıt. 
Nun ijt dieſe wunderbar großartige Epoche völlig abgeſchloſſen, das 
Zeitalter Bismards iſt beendet; aber mit dem unjterblichen Begründer 
des Reiches wird auch Heinrich von Trritichfes Name, ber den 
Gefühlen und Gedanken der Beften in diejer gewaltigen Zeit den 
vollfommenjten Ausdrud gegeben hat, fortdauern in die ferne Zukunft. 


Litteräriſche Streiflichter. 197 


Von dem Sammelwerfe: Am Ende des Jahrhunderts, 
Rückſchau auf hundert Jahre geiftiger Entwidelung*) liegen uns 
zwei Bände vor. Dies von Dr. P. Bornjtein geleitete Unter: 
nehmen jtellt ji die Aufgabe dem großen gebildeten Bublifum 
in einer Reihe von Bänden und in gemeinfaßlicher Norm vorzu- 
führen, was auf den verjdhiedenen Gebieten der Wiſſenſchaft, 
Technik, Kunft, Litteratur, Kultur während des neunzehnten Jahr: 
bunderts geleiftet it. Eröffnet wird die Sammlung mit dem 
eriten Bande einer von Bruno Gebhardt verfahten beutjchen 
Geſchichte im neunzehnten Jahrhundert, der bis 1849 
reiht. Es iſt gewiß eine der ſchwerſten Aufgaben in zwei feinen 
Bändchen den wirren politischen Entwidelungsgang Deutichlands 
in unjerem Jahrhundert mit feinem bejtändigen Wechſel von 
Fortichritt und Rückſchritt allgemein verjtändlidy darzuftellen. 8. 
Gebhardt, durch eine in Gemeinschaft mit anderen Siftorifern 
unternommene allgemeine deutſche Gedichte und andere wiſſen— 
ihaftlihe Arbeiten befannt, hat fi ihr unterzogen und fie, wenn 
man nicht allzu hohe Anforderungen jtellt, im Ganzen befriedigend 
gelöft. Wir erhalten in dem Buche in fnapper Form und ein- 
facher Darjtellung eine jedem halbwegs Gebildeten verjtändliche 
Ueberjicht der neuern deutſchen Geſchichte. Verwunderlich iſt es, 
daß Gebhardt die Darftellung mit dem Jahre 1792 beginnt, welches 
dod im feiner Weije als Anfang einer neuen Zeitepoche angejehen 
werden fann. Selbſt mit dem Bajeler Frieden 1795 eine deutjche 
Geſchichte im 19. Jahrhundert zu beginnen würden wir für 
durchaus unrichtig halten, eine jolche fann unjerer Meinung nad) 
nur mit dem zweiten Pariſer Frieden und dem Abſchluß des 
Miener Kongreſſes 1815 beginnen; alles Frühere jteht in mehr 
oder weniger engem Zuſammenhang mit den Ereignilien am Schluß 
des 18. Jahrhunderts. Mit diefem fpäteren Anfangstermin würde 
Gebhardt mehr Raum zur genaueren Darjtellung der inneren 
Entwidelung des deutichen Volkes gewonnen haben, höchſtens ein- 
leitungsweije hätte die frühere Zeit behandelt werden jollen. Der 
politiihe Standpunkt des Verfaflers ijt etwas einjeitig: liberal 
und reaftionär jind die beiden Kategorien, unter denen er alle 
geihichtlichen Ereignifje betrachtet, man vermißt oft ein jchärferes, 


*) Berlin, Verlag von Siegfried Cronbach, jeder Band 1 M. 50 Pf. 


198 Litteräriſche Streiflichter. 


entichiedenes Urtheil. Auch jtellt ſich Gebhardt nicht jelten zu jehr 
auf den Standpunkt der von ihm erzählten politiichen Bejtrebungen, 
daraus erflärt ſich jein ſonſt unbegreiflich günjtiges Urtheil über 
die Neichsverfajjung von 1849, wie er denn überhaupt der Frank: 
furter Nationalverfammlung allzugroße Anerkennung zollt. Gebhardt 
ſcheint etwas fortichrittlichen Anihauungen zu huldigen, die hoffentlich 
in der Darjtellung der neuejten Zeit nicht allzu ftörend hervortreten 
werden. Im Ganzen ijt das Büchlein wohl geeignet in bie 
Kenntniß der neueren deutichen Geſchichte einzuführen. Das andere 
derjelben Eammlung angehörige Buch von Georg Steinhauien 
behandelt das häusliche und geſellſchaftliche Leben im 19. 
Jahrhundert, wobei der Autor vorzugsweile Deutichland berüd: 
jihtigt. Steinhaufen, der mehrere werthvolle Arbeiten auf dem 
Gebiet der Kulturgeichichte veröffentlicht hat und eine Zeitjichrift 
für Kulturgeſchichte redigirt, bietet in dieſem Bändchen eine ebenjo 
unterhaltende wie lehrreiche Lektüre. Selbſtverſtändlich ijt mit 
dein bier Sebotenen der reihe Stoff nicht erichöpft, aber die aus 
einer großen Anzahl von Quellen gemadten Mlittheilungen ver: 
gegenwärtigen dem Leer anichaulich die Lebensverhältniſſe unſerer 
Väter und Großväter und laſſen uns deutlich die Vorzüge und 
Schattenjeiten jener früheren zeit erfennen. Wir fünnen das 
inhaltreihe Büchlein unfern Lejern nur lebhaft empfehlen. Die 
ganze Sammlung zeichnet fi durd ihren außerordentlich billigen 
Preis vor andern vortheilhaft aus. 

Unter den nichtpreußiichen Staatsmännern hat faum einer 
die große Wendung der deutichen Gejchichte im Jahre 1866 jo 
freudig begrüßt und jo eifrig für den Anſchluß feines Heimath— 
landes an den Norddeutihen Bund gewirkt, jo lebhaften, that: 
kräftigen Antheil an der Neugejtaltung Deutichlands genommen 
wie der Staatsminiiter Julius Jolly in Baden. Er ijt jtets einer 
der treuejten und tüchtigijten Dlitarbeiter Bismards an dem Werfe 
ber deutichen Einigung gewejen. Ein joldher Dann hatte volles 
Anreht auf eine Biographie. Hermann Baumgarten, der Straß: 
burger Biftorifer, ein naher Freund Yollys, hatte fie begonnen, 
aber war nur bis zum Jahre 1866 gelangt, als ihn der Tod 
abrief. Ein Neffe des Miniſters Profeſſor Ludwig Jolly in 
Tübingen hat dann die Biographie weitergeführt und beendigt; 
fie iſt jezt unter dem Titel: Staatsminijter Jolly, ein 


Litterärifche Streiflichter. 199 


Lebensbild*), der Deffentlichfeit übergeben. Jolly entftammte 
einer feit zwei Jahrhunderten in Mannheim anſäſſfigen Dugenotten= 
familie. Seinem Berufe nach Juriſt, war er vierzehn Jahre lang 
zuerit Privatdozent, dann auferordentlicher Profeſſor in Heidelberg, 
gelangte aber troß hervorragender wiljenichaftlicher Leiſtungen wegen 
feiner nationalen Gefinnung nicht zu einer ordentlichen Profeſſur. 
Durch Roggenbach wurde er dann 1861 Regierungsrath im Mini- 
fterium des Innern, damit begann feine hervorragende politiſche 
Thätigfeit. An dem Frankfurter Fürftentage von 1863 nahm er 
als jtiller und ſachkundiger Berather des Großherzogs von Baden 
und Roggenbachs bedeutjamen Antheil; über die Vorbereitungen 
zu dieſer jet faſt vergeifenen, damals ungeheures Aufſehen 
machenden Fürjtenverfammlung erfahren wir in dem Bude vieles 
Intereſſante. Auch mie in jenen Jahren jchon ernite Politiker 
über die verworrenen, ehrgeizigen Velleitäten des Herzogs Ernit 
von Koburg dachten, erjehen wir aus den hier mitgetheilten Brief: 
auszügen. Als fi Baden 1866 auf die Geite Deiterreichs 
drängen ließ, nahm Jolly feinen Abichied. Es ijt ein glänzendes 
Zeugniß feines jcharfen, politiihen Blides, daß er früher als fo 
viele Andere die Bedeutung und hohe Begabung Bismards erfannt 
hat, obgleich auch er zuerjt von dem landläufigen Urtheil über 
den frivolen Junker jich hatte irreleiten laljen. Nacd dem Ende 
des Krieges ernannte ihn der Großherzog 1866 zum Minijter des 
Innern und nah Karl Mathys allzufrühem Tode auch zum 
Minifterpräfidenten. In diefer Stellung hat er wie Mathy alles 
aufgeboten von Bismard die Aufnahme Badens in den Nord: 
deutichen Bund zu erlangen. Als Bismard dies zunächit entichieden 
ablehnt, arbeitet er nichts deitoweniger rajtlos daran weiter Badens 
Anſchluß an den Norddeutichen Bund vorzubereiten, bemirfte 
namentlid die Neorganifation der badiichen Truppen nad) preu— 
ßiſchem Muſter. Mit welcher Freude ein Mann wie Rolly bie 
großen Ereignilfe von 1870 begrüßte, läßt fich denfen. An dem 
Abſchluß der Verträge, durch welche der Süden mit dem Norden 
zum beutichen Heid) verbunden wurde, im Dftober und November 
1870 und am Abſchluß des Präliminarfriedens zu Verfailles Ende 
Februar 1871 nahm Jolly perjönlich Antheil. Die Briefe, welche 


*) Tübingen, Verlag der 9. Lauppchen Buchhandlung 5 M, 


200 Litterärtiche Streiflichter. 


er von Berjailles aus an feine Frau jchrieb, find mohl das fchönfte 
Stüd im ganzen Bude. Jolly war eine nüchterne PVerftandes- 
natur, Rationalilt in der Religion wie in der Politik und ein 
Iharfer Beobachter und Beurtheiler der Menichen und Dinge. 
Nun muß man in diefen prächtigen Zeugnifien einer großen Zeit 
(efen, wie ganz erfüllt von nationalem Hochgefühl diefer ernite 
nüchterne Mann damals ericheint, vor allem, wie entzüdt und 
begeijtert er von Bismard iſt. Er verſucht wohl dazwiſchen ſich 
dem übermwältigenden Eindrud diefer Größe zu entziehn, aber immer 
wieder bricht doch die Bewunderung diejes unvergleichlichen Genies, 
diefer wahrhaft originalen Perjönlichkeit, die ihn ftets von Neuem 
feſſelt, durch. Er findet faum Morte genug namentlich die be- 
zaubernde Liebenswürdigfeit des eiſernen Kanzlers zu ſchildern. 
Diele Briefe find höchſt werthvolle Dokumente zur Kenntniß und 
richtigen Windigung Bismards. Aber aud über andere Perſonen 
im deutſchen Hauptquartier ſowie über ben Geift des deutichen 
Heeres, endlih über die riedensverhandlungen ſelbſt berichtet 
Jolly manderlei Anziehendes. Sein Werk war der Abſchluß der 
Militärkonvention mit Preußen, durch welche die badischen Truppen 
in die engite Verbindung mit dem Heere der führenden Macht traten. 

Im Innern führte er eine Neorganifation des höheren Schul- 
weſens durch und verfolgte eine durdaus konſequente Kirchen- 
politif, welche ihn in heftigen Konflift mit der erzbilchöflfichen Kurie 
in Freiburg bradte und zum Gegenjtande des bitterften Haſſes 
von Seiten der Ultramontanen madte. Da er fi aber jtets 
ftreng auf dem Boden der Staatsgeſetze hielt und begründeten 
Anforderungen und Bedürfniffen der Kirche bereitwillig entgegenfam, 
fo fonnten ihm die Gegner nichts anhaben. Seine nüchterne Auf- 
fallung der Verhältniſſe hielt ihn von der damals herrichenden 
Ueberihägung der Altfatholifen zurüd wie er denn auch mit der 
Art und Weile, wie der Kulturkampf im Reihe und in Preußen 
geführt wurde, im Ginzelnen wenig einverjtanden war. Die 
Schwäche und vielfahe Uneinfichtigfeit des badiihen Liberalismus, 
an deſſen Spite Männer ohne ruhige Ueberlegung oder ehrgeizige 
Minijterfandidaten wie Bluntichli ſtanden, machte Jolly ebenfalls 
viel zu Schaffen. Für die innere Geſchichte Badens in den legten 
dreikig Jahren iſt vorliegendes Bud von nicht geringem Werthe, 
wenn auch für einen Fernerjtehenden die parlamentarischen und 


Litterärifche Streiflichter. 201 


Parteifämpfe mohl zu ausführlih darin behandelt find. Jolly 
mar fein hinreißender Redner, aber ein jchlagfertiger Spreder 
und fcharfer Dialektifer. Er mar ein wirklicher Staatsmannn, 
wie ein folder in den kleinen deutichen Staaten nur ausnahms- 
meife vorfommt, er wäre würdig gemwejen auf einem größeren 
Schauplak zu mirfen. Umnerwartet wurde er im Sommer 1876 
vom Großherzog veranlaft ſeine Entlaffung zu nehmen; Die 
eigentlichen Urfachen, die den Fürften zu diefem Vorgehen gegen 
feinen verdienten Minifter bejtimmt haben, find bis heute unauf- 
geklärt. Es war ein jchwerer, empfindlicher Schlag für Jolly im 
fräftigen Mannesalter faltgejtellt zu werden, denn jeine Ernennung 
zum Präfidenten der Oberrehnungsfammer gewährte ihm wohl 
ein otium cum dignitate, ließ aber feine Kraft bradjliegen. 
Fortan Fonnte Jolly nur als einfichtiger Zuſchauer an allen 
Ereignilien der Zeit lebhaften Antheil nehmen. Er blieb ein 
unerjchütterlich treuer Anhänger Bismards, aud als fein Freund 
Roggenbach verftimmt jich von dem großen Staatsnanne abmanbdte. 
Yolly erlebte noch den Sturz des Kanzlers, der ihn mit tiefem 
Schmerz erfüllte; er fand es unbegreiflich, da Kailer Wilhelm II. 
eine Macht zeritörte, die er zu erben berufen war. Kurze Zeit 
darauf, im Oftober 1891 ftarb er. Leider haben fih nur jehr 
wenig Briefe von ihm erhalten; nad) den mitgetheilten läßt ſich 
annehmen, daß fie jehr anziehend geweſen fein müſſen, fie würden 
zur Belebung der Darjtellung nicht wenig beigetragen haben. Der 
Verfaller des Buches hat die Biographie mit Sachkenntniß und 
unbefangenem Urtheil verfaßt und in feinem Buche einen beacdhtens- 
werthen Beitrag zur neuejten deutichen Geſchichte geliefert. 


Die Aufiäge und Reden zur Kultur: und Zeit- 
geihichte von Friedrih Jarnde*) enthalten eine Sammlung 
der Fleineren Arbeiten des verdienten Leipziger Germanijten durch 
feinen Sohn. Die Bezeichnung „zur Zeitgeihichte” auf dem Titel 
hätte lieber mwegbleiben jollen, jie iſt doch etwas zu anſpruchsvoll 
für eine Zujammenjtellung von einigen Neben. Nah ihrem 
Inhalte zerfallen die in diejem Bande vereinigten Aufläge in drei 
Gruppen. Die der eriten beichäftigen fich mit der Geichichte der 
deutichen Univerfitäten überhaupt und mit der Univerfität Leipzig, 


*) Leipzig, Eduard Avenarius. 9 M. 


202 Litterärifche Streiflichter. 


welcher der Verfaſſer faft vierzig Jahre angehört hat, im Befondern. 
Ton allgemeinerem Intereſſe iſt die zmweite, welche Beiträge zur 
Gelehrtengeichichte des 19. Nahrhunderts bietet. Bier bildet Jakob 
Grimm den Mittelpunkt, deiien Gedächtniß Zarnde mehrere lejens- 
merthe Aufläge und Reden gewidmet hat. Am anziehenditen für 
weitere Kreiſe ift wohl der dritte unter dem Titel: Kultur: 
geichichtlihes aus Norddeutichland vor hundert Nahren zufammen: 
aefaßte Abſchnitt. Zarnde giebt darin Kamilienerinnerungen jeines 
Großvaters und Vaters, die uns die Kulturzuftände und Lebens: 
verhältnifte am Ende des vorigen und am Anfang diejes Jahr: 
hunderts lebendig veranichaulichen. Der Auffa über den Gänje- 
tumult zu Bützow, giebt eine aftenmäßige Darjtellung diejes durch 
W. Raabes vortrefflihe Novelle weiteren Kreiſen befannt gewordenen 
charakteriſtiſchen Vorganges. Unter den Reden finden ſich mehrere, 
die fi) auf die große Seit des Arieges von 1870 beziehn. Zarnde 
mar ein echter Mecklenburger, unummunden und oft wenig wähleriich 
im Ausdruck, ein echter deutfcher Gelehrter, dem es weniger auf 
die Form als auf die Sade anfam. Für den Freund ber 
Univerfitäts: und Rulturgeichichte enthält Die vorliegende Sammlung 
vieles Belehrende und Intereſſante. 


Ein jehr merfwürdiges Buch find die Ephemeriden des 
Iſch Schachefeth. Aus dem Tagebudh eines Einjamen 
ausgewählt und herausgegeben von 2. Rymarſki.) Man 
ftugt gleich über den Titel und fragt ſich ift der Mann ein Araber 
oder ein Türke? Aus der Worrede erfährt man dann, dab der 
Name nur ein hebräiihes Pſeudonym ijt, meldhes „Mann der 
Schwindfuht” bedeutet. Warum aber diefe jeltiame Bezeichnung 
gewählt iſt, die zum inhalt des Buches nicht paßt, haben mir 
nicht ergründen können. Wir erhalten darin die in Amerika 
geichriebenen Tagebuchblätter eines Deutichen, die vom Heraus: 
geber bearbeitet find. Der Geilt des Buches ift ganz deutſch und 
an Deutihe wendet ſich aud der Verfaller und Herausgeber. 
Meiteres erfahren wir über die Perſon und das Leben des Autors 
nit. Er it, das erfennt man bald, entweder Theologe von 
Beruf oder ein Dann, der ſich ſehr viel mit Theologie beichäftigt 
hat. Es find vorzugsweile religiöje Fragen, die tiefiten Wahrheiten 


*) Gütersloh, Verlag von C. Bertelsmann, 2 Bände. 
* 


Sitteräriiche Streiflichter. 203 


des chriltlihen Glaubens, die in diefem originellen Buche polemiſch 
und apologetiich behandelt werden. Ein energilcher, unbedingter 
Glaube an die Offenbarung Gottes in der heiligen Schrift tritt 
uns überall entgegen, in dev Kraft jeiner religiöjen Ueberzeugung 
erinnert der Verfaſſer vielfad an Better, nur ijt er weniger 
phantafiereih und Ddichteriih als dieſer. Der Cinjame it ein 
unerbittliher Streiter gegen die moderne Theologie, das Halb- 
chriſtenthum, die Glaubensſchwäche der Gegenwart und das moderne 
Heidenthum; er führt jeine Streiche jo fräftig wie ein Farmer 
im Urmwalde fi den Weg bahnt. Aus den vielen in hohem 
Grade lejenswerthen Abjchnitten, aus denen das Bud bejteht, 
jeien hier nur einige hervorgehoben. Vorzüglich ift „Das goldene 
Zeitalter der Kleinen,“ ſehr ſchön das SKapitel „von Trübjal, 
verjchuldeter und unverichuldeter”; ein Meiſterſtück der Ironie ift 
„der Chrift und allerlei Ismuſſe.“ Sehr Icharffinnig und treffend 
find die Nusführungen über Dogma und Schrift. Auch Goethes 
Fauſt in feinem Verhältniß zum Chriſtenthum beipricht der Ver— 
faſſer. Merfwürdig it es, wie er für das Duell gegenüber den 
in England herrſchenden rohen Fauſtkämpfen eintritt; er führt 
einleuchtend aus, das nur der überzeugte Chrift ein Recht hat 
das Duell zu verwerfen und daß bloße Verjtandesgründe es nie 
bejeitigen werden. Manches in den Aufzeichnungen ift durch 
amerifanijche Berhältniffe hervorgerufen wie der Aufſatz über Die 
Trunfenheit, in denen ſich der Cinjame nadhdrüdlid gegen die 
Temperenzler und Nbjtinenzler erklärt. Sehr lejenswerth ijt weiter 
der längere Aufſatz über Schöpfungsiage oder Schöpfungsbericht, 
in dem der Verfafler manche eigenthümliche Anfichten ausipridt. 
Als treffliher Apologet erweiſt jih der Cinjame in dem Aufiag 
Antitrinitarier und „Viel gewandelt,“ worin er die Verſöhnungs— 
(ehre erörtert. In allen Abjchnitten iſt nichts Abjtraftes, Die 
Ausführungen des Verfaſſers find jtets fraftvoll und realiftiich, 
rüdhaltslos macht er die Autorität der Bibel geltend. Seine 
Ausdrucksweiſe iit manches Mal etwas urwüdjig und derb, aber 
er bietet fajt immer tiefe Gedanfen, innerlid Erlebtes und man 
merft es feinen Worten an, daß er die driftliche Wahrheit wirklich 
erfahren bat. Der Verfaſſer iſt ein hochgebildeter Geift, der an 
alles den Maßſtab der göttlichen Offenbarung legt, ihm imponirt 
feine noch jo allgemein anerfannte moderne Lehre und Be 


204 Litteräriſche Streiffichter. 


Zeitanfhauung. Ein Haud) innerer Freiheit weht durch das Bud 
und ein jtarfer männlicher Geift jpricht aus ihm. Zwiſchen die 
einzelnen Tagebuchaufläge jind Gedichte eingejtreut, Die innerliche 
Erlebniſſe des Verfaſſers ausdrüden; fie find meift nur gereimte 
Proſa und hätten ohne Schaden größtentheils wegbleiben fönnen. 
Für chriſtlich geſinnte, überhaupt religiös empfänglidye, gebildete 
Leer bieten dieſe Tagebudhblätter eine höchſt anregende, zur 
Gelbitprüfung auffordernde und zu ernitem Nachdenken reizende 
Lektüre. Aber auch Zweifelnde und Schwankende, aber ernitlich 
nad) der Wahrheit Ringende werden in dem Buche vieles finden, 
was ihnen zur Stärkung und Befeitigung dienen und zu ent 
ichiedener Ueberzeugung verhelfen fann. Es ſei ihnen allen warm 
empfohlen. 

Einer der gepriejenjten, aber am wenigjten gefannten und 
gelefenen Dichter des deutſchen Dlittelalters iſt Wolfram von 
Eſchenbach. Das hat zum Theil darin jeinen Grund, daß ber 
Inhalt von Wolfvams Hauptwerk, dem Parcival, den Intereſſen 
der Gegenwart jehr fernliegt, andererjeitS in der vermwirrenden 
Fülle der vom Dichter erzählten Abenteuer jowie der Unmaſſe 
darin vorfommender fremdartiger Namen, endlid in der Dunfelheit 
feiner Sprache. Allerdings ijt der Gegenwart die Sage vom 
Parcival durd Wagners große Oper wieder näher gebracht worden, 
aber wohl nur jehr wenige der Bewunderer diefer Mufik find durch 
fie dazu veranlaßt worden den alten großen Dichter jelbjt genauer 
fennenzulernen. Und in der That war das für Freunde der alt: 
deutihen Poeſie, die nicht Fachmänner find, nicht ganz leicht. 
Seitdem Lachmann durd jeine Fafjiihe Ausgabe der Dichtungen 
Wolfram von Eſchenbachs ihr Verjtändniß erjt möglich gemacht 
hat, jind freilid mehrere Ueberſetzungen erjchienen, aber fein 
deutjcher Dichter des Dlittelalters jtellt der Uebertragung in unjere 
heutige Sprache jo viel Schwierigfeiten entgegen als Wolfram 
durch die Gedrängtheit jeines Stiles und den Tieffinn feiner nicht 
jogleid) erfaßbaren Gedanken; jo find gleich über den Eingang 
des PBarcival viele Abhandlungen und Kommentare gejchrieben 
worden. Simrod, der unermüdliche Vermittler der altdeutichen 
Didtung für unjere Zeit, hat auch Wolframs Parcival übertragen 
und erläutert, man fann aber nicht jagen, daß dieſe Ueberjegung 
zu den gelungenen Arbeiten des verdienten Mannes gehört; fie 


Litteräriſche Streiflichter. 205 


ift ziemlich fteif und fchwerfällig und manchmal der Ausdrud fo 
dunkel, daß man ihn ohne Hinzuziehung des Originals nicht ver: 
ftehen fann. Von San Marte, der ſich ein langes Leben hindurd) 
mit Wolfram von Eſchenbach beichäftigt hat, giebt es eine Ueber— 
feßung, die freier und veritändlicher it als die Simrockſche, aber 
er umgeht dafür nicht felten die Schwierigfeiten und ſchwächt den 
energiichen Ausdrud des Originals ab. G. Boettcher hat eine 
allerdings nicht ganz vollitändige, im Uebrigen aber vortreffliche 
Mebertragung des Parcival geliefert, leider ohne Feithaltung des 
Reimes, der doch bei einer Dichtung zu ihrem Wejen gehört. 
Yept hat nun ein Dann, der jelbit Dichter ift, eine neue Ueber— 
tragung des großen Dichterwerfes unternommen, fie iſt unter 
dem Titel: Barcival von Wolfram von Eſchenbach, neu 
bearbeitet von Wilhelm Hersg*) erichienen. W. Herb, als 
Dichter, Germanift und Sagenforicher befannt, hat ſchon als 
meijterhafter Ueberjeger durd feine Uebertragung von Gottfried 
von Straßburgs Epos „Triſtan und Iſolde“ allgemeine Aner: 
fennung erlangt; es it das eine wahrhaft bemundernswürdige 
Neudichtung. Nun hat er ſich daſſelbe Verdienjt um Molframs 
PBarcival erworben. In der vorliegenden Webertragung hat fich 
Hertz jelbjtändiger und freier dem Driginal gegenüber verhalten 
als bei Gottfried, er hat es vielfach gekürzt, namentlih in ben 
erjten Theilen, hat viele von Wolfram erzählte Abenteuer ganz 
mweggelaiten, andere jehr zulammengedrängt, viele Abjchweifungen 
bejeitigt, an nicht wenigen Stellen die Erzählung zufammengezogen, 
kurz Wolframs Werk in einer der Gegenwart zulagenden Weiſe 
bearbeitet. Daß bei einem ſolchen Verfahren jubjektive Anſchauung 
ein weiterer Spielraum eingeräumt wird, ijt unverfennbar, aud) 
ift W. Hertz nad) jeiner ganzen Geiftesrichtung weit mehr Gottfrieds 
friicher und freier Lebensanfchauung kongenial als der erniten, 
jtreng religiöjen Sinnesart Wolframs. Steht daher auch diejes 
neue Ueberſetzungswerk Hertzs vielleiht dem früheren nicht ganz 
gleich, ijt der jchwere Charakter von Wolframs Dichtung und Stil 
in der Uebertragung wohl auch hie und da etwas abgeſchwächt, 
fo iſt diefe Erneuerung doc eine vortreffliche Arbeit, die dem 
modernen Leſer den Sejammteindrud der alten Dichtung wirklich 


*) Stuttgart, Verlag der 3. G. Cottaſchen Buchhandlung Nachfolger. 


6 M. 50 Pf. * 


206 Litterärifche Streiflichter. 


vermittelt, es ift eben eine wahrhaft dichteriiche Mebertragung, die 
ſich wie ein Original liejt, allerdings dem Lejer feine rechte Vor— 
ftelung von der Dunfelheit des Molframichen Stiles giebt. 
Jedenfalls läßt Hertzs Ueberſetzung alle früheren weit hinter fich 
zurüd. Zum Verjtändnik des großen Epos hat Hertz durch eine 
vortreffliche Abhandlung über die Sage von Parcival und vom 
Gral jomie durch Iehrreiche gediegene Anmerkungen nicht wenig 
beigetragen. Man fann wohl hoffen, daß der größte Kunſtdichter 
des deutichen Mittelalters, von dem die meilten Gebildeten nur 
durh Die allerdings vorzügliche Anhaltsüberfiht in Wilmars 
Litteraturgeihichte etwas willen, durh W. Hertzs Uebertragung 
und Bearbeitung fünftig allen, die für echte und tiefe Poeſie 
Sinn und Neigung haben, nicht mehr fremd bleiben wird. 


Cinen höhere Aniprüche erhebenden hiltoriichen Roman hat 
% 9. Löffler unter dem Titel: Martin Böpinger. Ein 
Lebens: und Zeitbild aus dem 17. Rahrhundert*) geliefert. 
Der Verfaſſer behandelt darin die Jugenderlebniſſe des aus Freytags 
Bildern aus der Vergangenheit allgemein befannten fränfiichen 
Pfarrers bis zu feiner Heirath und jeinem Eintritt ins Pfarramt. 
Der Roman jrielt in den Jahren 1609-1627 und mill in An- 
fnüpfung an die Schickſale und Erfahrungen des jungen Bötzinger 
die damalige Zeit überhaupt Schildern. Der Verfaſſer iſt, das 
erfennt man leicht, ein Sohn des fränfiichen Thüringens, er 
zeichnet Land und Leute mit großer Anschaulichfeit und marmer 
Liebe. Er hat jich auch in die von ihm geichilderte Zeit vertieft 
und giebt dem Leſer mandjes anziehende Bild aus dem damaligen 
Bürgerleben, er jchreibt endlich friih und lebendig. Aber als 
Ganzes befriedigt das Buch doch nicht. Vor allem es iſt zu 
gebehnt, der Verfaſſer verliert fich zu jehr in Abichweifungen und 
in Details. Sodann ilt der Held nicht Mar und jcharf gezeichnet, 
er iſt eine ſtets refleftirende unentichiedene Natur, die oft hin und 
her ſchwankt, jo namentlih in jeiner Liebe zu Sufanna, dem 
Edelfräulein, und dann wieder zu Urfula Böhm von Heldburg. 
Dazu äußert er Anichauungen, Stimmungen und Gedanfen, mie 
ſie den Dienichen jener Zeit völlig fremd waren und das it der 
zweite Hauptmangel des Buches, daß jene rauhe und wilde Zeit 


*) Leipzig, Fr. Wild. Grunom. 2 Bände, geb. 19 M. 


Sitterärifche Streiflichter. 207 


zu gemüthlih und abgeſchwächt in Löfflers Darftellung erfcheint. 
Auch an manderlei Unmwahricheintichleit in Situationen und Be- 
gebenheiten fehlt es nicht. So wird geichildert, wie der Schüler 
Böginger nad) Würzburg zu dem grimmigen Feinde des Brote: 
ftantisınus, dem Biſchof Echter fommt und mit ihm ein Geipräd) 
über die firhlihen Gegenläge führt. Das iſt ſchon an und für 
fih jo unmahrscheinlid wie möglich, was Toll man aber dazu 
jagen, wenn Bößinger dem Bilchof erklärt: die freie Forſchung in 
der Bibel, die Gemiliensfreiheit und die Mannigfaltigfeit im 
Reiche der Geijter jind die Stärke des Proteftantismus! Das ilt 
doch mahrlich ganz wie ein Theologe des 19. Jahrh. geiprocen. 
Noch ein Beilpiel ganz modernen Ausdruds jei angeführt. Böhinger 
ruft einmal aus: ich kann mich hier nicht ausempfinden, das 
wirft einem jungen Menjchen jener rauhen Zeit in den Mund 
gelegt geradezu komiſch. Auch der wiederholt vortommende „Gott 
der Ferien“ muthet jehr modern an. ©. Freytag iſt von ver: 
hängnikvollem, durchaus nicht günitigem Einfluß auf die Dar: 
jtelung des Verfaſſers geweſen. Schon das im erjten Theile 
immer wiederkehrende Motiv des Suchens nad) einem verloren 
gegangenen jeltenen alten Buche des Aeneas Sylvius erinnert 
doch gar zu fehr an die verlorene Handſchrift. Die Einmiſchung 
märchenhafter Züge in die ſonſt ganz realiſtiſche Daritellung 
entipricht ebenfalls ganz Freytags Vorgang, fo die hier ungebührlic) 
oft mwiederfehrende Unterhaltung des Eulenvaters mit jeiner Familie 
oder die Dorjtellung einer großen jchwarzen Fledermaus, Die 
Bößinger über jeinem Kopfe zu ſpüren meint und die ihn ängitigt. 
Auch in der Form erinnert manches an Freytag. Viel ſympathiſcher 
ald Martin ift jein wilder Jugendgeipiele Hans, deſſen Mutter 
alö Here verbrannt wird. Die Nebenperjonen: der Superintendent, 
der Metzger Dertlein, der Amtsichöffe Andreas Gög, der Jäger: 
meijter von Edhold find überhaupt viel anziehender und ſym— 
pathiicher, auch ſchärfer gezeichnet als der eigentliche Held. Eine 
wunderbare Rolle jpielt in dem Buche die lahme Magd Elia von 
Gompertshaufen, die Pflegemutter des Hand; fie ericheint als Die 
irdiihe Vorjehung, Die immer zur rechten Zeit ſich einjtellt, wenn 
die Verhältniſſe unlösbar verwidelt jind, um alles wieder in 
Ordnung zu bringen und alles beugt ſich ihrer Autorität. Warum 
Hans, der aus ehrenvollem Kriegsdienite mit jeiner jungen Gattin 


208 Litteräriſche Streiflichter. 


Suſanna heimkehrt, meuchlings erſchoſſen und in dem Pfarrhaufe 
feines Jugendfreundes fterben muß, iſt unverjtändlich, es jei denn 
um durch den Kontrait das ruhige Glück des Pfarrers deſtomehr 
hervortreten zu laſſen; das wäre denn aber dod) etwas zu grauſam. 
Man kann Yofflers Bud) mehr als ein, wenn aud nicht vollig 
richtiges Zeitbild, denn als ein echt dichterifches Werk bezeichnen. 
Leſenswerth aber iſt es immerhin und troß der hervorgehobenen 
Mängel gehört es zu den beſſeren Produften dieſer Art. Die 
Ausftattung des Buches iſt ganz vorzüglich, die Verlagshandlung 
zeichnet fich in diejer Beziehung jehr vortheilhaft vor den aller- 


meilten ihrer Kollegen aus. 
H. D. 


* * 
* 


Bei der Redaktion der „Balt. Mon.“ ſind ferner nachſtehende Schriften 
zur Beſprechung eingegangen: 

Otto Kämmel, Der Werdegang des deutſchen Volkes. II. Band. 
Leipzig, Fr. W. Grunow. 

Heinrich Frhr. Zangmwerth von Simmern. Aus meinem Leben. 
2 Bde. Berlin, B. Behr's Berlag (E. Bod). 

Anton Schlofiar, Briefmechlel zwiſchen Erzherzog Johann Baptiit 
und Anton Graf Profeid-Often. Stuttgart, Adolf Bonz & Ko. 

Im PBolenaufruhr 18461848. Aus den Papieren eines Land» 
ratbs. Gotha, Friedrich Andreas Perthes. 

3. Deco, Erinnerungen eines Japaners. Stuttgart, Streder u. Moier. 

8. Weber, Die Wiffenichaften und Künfte der Gegenwart. Gütersloh, 
C. Bertelämann. 

Adolf Hafenclever, Aus Geſchichte und Aunit des Chriſtenthums. 
Berlin, Schwetichfe u. Sohn. 

Tiftor Schweizer, Ludolf Wienbarg, Beiträge zu einer jungdeutichen 
Aeſthetik. Leipzig, Conit. Wild. 


— 











die Kaijerlihe Finländiihe dekonomiſche Sozietät, 
1897 — 1898, 
H. von ——— 





Zum Oktober 20./1. November v. J. iſt die Feſtſchrift 
„K. Finska Hushallningsſällſkapet 1797—1897” von 
Guſtav Cygnäus (Abo 1897, VIII und 472 ©.) erſchienen. 
Allein Schon die hiftorische Bedeutung des Werfes müßte es an- 
gezeigt ericheinen laſſen, weitere Kreife mit ihm befannt zu machen. 
Ganz bejonderes Intereſſe aber bietet es dem Bewohner bes 
ſüdlichen Nahbarlandes; der vom Verfaſſer aufgerollte bijtorijche 
Hintergrund, von dem fi) die bejonderen Umjtände der Stiftung 
der Gefellichaft, ihr Statut und ihre Wirfjamfeit während der 
DOrganifirungszeit lebensvoll abheben, — alles das veranlaft 
gemwichtige und lehrreiche Vergleihung: unter wie andersartigen 
Präzedenzen und Imftänden und mit wie ungleihem Erfolge hat 
fih im J. 1792—1796 die Stiftung der K. Livländiichen Gemein: 
nüßigen und Oekonomiſchen Sozietät vollzogen! In wie ver: 
fchiedenem Grade haben die beiden Gefellichaften auf die Gejchide 
ihres Landes einzumwirfen vermocht! 

Im Vorworte berichtet der Verfaller, Lektor am Lyzeum zu 
Abo, daß die Gefellichaft ihm, nad) Bewilligung eines namhaften 
Beitrages zu den Drudkoften der Feſtſchrift und nad Feititellung 
ihres Programmes in allgemeinen Zügen, — bezw. ihres Umfanges 

1 


210 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


— volle Freiheit in Benugung ihres Archivs gewährt habe, fo 
daß allein er, der Verfafler, ſowohl für die Form als auch für 
den Anhalt der Schrift, die Verantwortung trage.!) 

Das nadjitehende Referat wird fi) mit thunlicher Konzifion 
und möglichiter Vollftändigkeit den Ausführungen des Berfaflers 
eng anſchließen. An die Vergleichsthatfachen foll in befonderen 
Anmerkungen erinnert werden, und zum Scluffe foll ein Anhang 
allgemeine vergleichende Betrachtungen bringen. 


I. Schwedens öfonomifhe Entwidelung während ber 
Freiheitszeit.*) 

Die meiften Länder Europas waren zu Beginn des 18. 
Jahrhunderts von verheerenden Kriegen heimgefucht worden. Die 
Staatsfaffen waren geleert, und vermehrter Steuerdrud belajtete 
die dezimirten Bevölferungen, deren Kapital und Arbeit fi von 
Gewerbe und Handel zurüdgezogen hatten. Für die Regierungen 
lag bei Wiederkehr des Friedens die zwingende Nöthigung vor, 
dem NReichshaushalte aufzuhelfen; und zu dieſem Zwecke werden 
der Großinduſtrie durch traditionelle Maßregeln genau einzuhaltende 
Bahnen vorgefchrieben. Die wirthichaftlichen Beftrebungen erwarben 
lich einflußreiche Bundesgenoffen auf dem Gebiete der willen: 
Ichaftlihen Forſchung, welche bisher ihre eigenen Wege gegangen 
war. Die Mathematif und die aufblühenden Naturwiſſenſchaften 
widmeten fi mit Vorliebe praktischen Arbeiten, und daran fnüpften 
fich bald nationalöfonomische Unterfuchungen, aus welchen der Drang 
nad) Gewerbefreiheit hervorgegangen ift. Gleichzeitig machte fich 
das Beltreben geltend, den Unterricdhtsanftalten eine praftifche 
Richtung zu verleihen; Zeitungen und populäre Schriften wett: 
eiferten, in der Mutterfprache Kenntniffe in die weiteſten Kreiſe 
zu verbreiten. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts waren 
bei Behandlung von Neichshaushalt- Fragen „Aufklärung und 
Freiheit” zu Schlagworten geworden. 

Diefe Charakteriftif des 18. Jahrhunderts gilt auch für 
Schweden und Finland, welche fih, namentlih nah Karls KU. 





*) Mit diefem Namen pflegt die Epoche vom Tode Karla XII. bis zum 
Regierungsantritte Guſtavs III. bezeichnet zu werden, während welcher Schweden 
eine, abmwechielnd von den Parteien der „Düte und Müten“ regierte, Adels» 
republif darjtellte. 


Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 211 


Kriegen in beforglicher Lage befanden.) Die Periode der Arbeit 
für die Aufridhtung des Schmwedenreiches aus dem Verfalle wird 
in der politiihen Gefchichte gewöhnlich die „Freiheitszeit” genannt, 
hat aber auch den fat ebenfo oft gebrauchten Namen der „wirth: 
Ichaftlichen Epoche” gefunden. Der Hiftorifer Lagerbring bezeugt: 
die Liebe zur Defonomie habe ſich über das ganze Land verbreitet 
und durch dieſes Stedenpferd ſei das Volk zu Haushältern geworden, 
wenigitens in Worten, wenn auch nicht in Thaten. Die damals 
geltenden Geſetze über Zolihug, Zunftzwang und ©emwerbe- 
beichränfungen waren unter den Präoffupationen der Regierung 
Karls XII. faft obfolet geworden; aber jobald die von den Kriegen 
geichlagenen Wunden zu heilen begannen, wurde auch wieder die 
Einfuhr fremder Waaren, weil die Kapitalfraft des Landes be- 
drohend, für gefährlich angefehen. Eine günftige Hanbdelsbilanz 
zu bewirken, — das ward zur Hauptſache für die Staatsfunft. 
Die fi zwar befämpfenden leitenden Parteien der „Hüte“ und 
der „Müpen” waren doch, wenigftens Anfangs, darin einig, daß 
nit nur die öffentliche, ſondern aud) die private Defonomie unter 
Vormundichaft geftellt werden müfje. Demgemäß wurde dem Ver: 
mögen ber Privaten, ihre wirthichaftlichen Intereſſen ſelbſt zu regeln, 
wenig Vertrauen geſchenkt. Davon zeugen die ſchon 1723 erlaffenen 
und lange geltend bleibenden Regeln für Handel und Schiffahrt, 
das „Produftplafat” v. 3. 1724 und das 1725 erlalfene Verbot, 
welches den Schiffen unterfagte, andere als Produfte des eigenen 
Landes oder feiner eigenen Kolonien einzuführen — mas alles 
indeffen in Mißwachsjahren in Fortfall kommen mußte. Im 
Jahre 1727 nimmt fi der Reichstag der Fabrifinduftrie an, 
gewährt ihr Geldunterftügungen und Zollſchutz: die Prinzipien des 
Merkantilismus werden für einige Zeit herrſchend. 1739 wird 
ein „Manufaktur-Kontor“ eingefegt und mit reichlichen Mitteln 
ausgeftattet; 1747 wird unter Mitwirfung von Hüttenbefigern ein 
befonderes „Eiſen-Kontor“ gebildet, zur Förderung der Eifeninduftrie. 
Den Gouverneuren der Provinzen wird wiederholt eingejchärft, fie 
mögen vor Allem den Fortichritt der Landesöfonomie im Auge 
haben, und zu dem Zwede die Einfuhr fremder Waaren hindern 
und das Fortjchreiten des Lurus im Gebrauce fremder Produkte 
hemmen, wobei freilich geftattet wird, fich in einheimischen Sammet 
zu Heiden. 1726 wird nicht nur die Getreideeinfuhr, — auch 


212 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 


der Branntweinbrand verboten. Der Zunftzwang wird auf davon 
bisher frei gewejene Gewerbe, 3. B. auf den Gartenbau und auf 
den Handel, ausgedehnt: als Bedingung für felbjtändigen Betrieb 
werden überall Lern- und Ausbildungsjahre gefordert. Die An: 
fammlung der Induftrie an gewiſſen Orten wird begünftigt; Die 
Kleininduftrie und das Hausgewerbe werden vernadjläffigt, in 
manchen Fällen fogar direft verhindert: fo 3. B. wird im Jahre 
1748 verboten, gefaufte Wolle im Haufe und für eigenen Bedarf 
zu verarbeiten, was freilich als undurchführbar ſchon im %. 1749 
widerrufen ward.) 

Zufolge der, jedes friedliche Wirken veradhtenden, Kriegszeiten 
war der Aderbau dermaßen in Verfall gerathen, daß zu Beginn 
der Freiheitszeit nur ein Drittel bes vormals benußten Bodens 
unterm Pfluge Stand. Die Aderarbeit galt fait für entehrend, 
und nur wenige Befiger widmeten ihren Gütern einige Pflege. 
Diefe waren zuallermeiit dermaßen vermahrloft, daß man in 
Mißwachsjahren von feinem Felde zu jagen pflegte: „es fieht aus 
wie ein Derrenader.” Manche weitfichtige Bejtrebungen patriotifcher 
Männer (u. A. des Jonas Aljtrömer), den Nderbau zu heben, 
Icheiterten an den ungünjtigen Aderbaugejegen, welche allgemeinen 
Aufſchwung Hinderten; namentlich war es die Gemengelage und 
die ſchmalen und langgeſtreckten Areale der Beligthümer, wodurch 
Sruchtmwechlelwirthichaft unmöglih gemacht wurde. Durd die 
einfeitig bevorzugte Induftrie wurden nicht nur die Kapitalien vom 
Aderbau abgezogen, fondern auch die Arbeitsfräfte und die In— 
telligenz. Anfangs bejchränfte fich die ftaatliche Unterftügung des 
Aderbaues auf Gewährung von einem Abgaben: Freijahre bei Wieder: 
aufnahme liegengelafjener Neder, und von Eteuerermäßigungen für 
Neuland-Kulturen. Wenn die Gouverneure der Provinzen ange: 
wiefen wurden, den Anbau von Lein, Hanf, Hopfen, Tabaf und 
Farbefräutern zu begünftigen, fo geichah es nur, um ohne Jmport 
aus dem Auslande den Fabrifen Rohſtoffe zu liefern. 

Eine beginnende Sinnesänderung der Regierung zeigt ſich 
in der Königlichen Verordnung vom 3. 1742, durch welche an- 
geordnet wird, in jedem Kirchipiele eine ökonomiſche Sozietät zu 
bilden, damit auf deren Verfammlungen fundige Männer Gelegenheit 
hätten," durch ihren Rath einzuwirken; auch jolle alles Beachtens— 
werthe dem Gouverneur der Provinz gemeldet werden. a, ber 


Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 213 


Reichstag d. J. 1747 machte den — unbeftätigt gebliebenen — 
Vorihlag: je nad) der Ausdehnung ihrer Aecker und der Anzahl 
der von ihnen gehaltenen Kühe und Schafe jollten den der: 
bauern Titel verliehen werden, wie: Landwirth, Landmeijter, 
Defonomierath, Landrath. Die Zolljäge wurden von den ein- 
heimiſchen Getreidepreifen abhängig gemadt. Bankinftitute wurden 
für alle Gewerbe, auch für den Aderbau, errichtet: die Negierung 
wollte der Zentral-Geldverleiher fein, und der Hypothekenzins 
wurde auf 4°/o ermäßigt — aber die Maßregel ftieß auf Schwierig: 
feiten, namentlich hinfichtlich der weit abgelegenen Orte, und das 
Hypothekenkapital blieb ein geringes. 

Almählih machten fih in Schweden die Lehren der fran- 
zöfiichen Phyſiokraten geltend. Yu ihren Gunjten hatte jchon im 
3. 1744 der Gouverneur Anfarfrona in der Willenfchafts- 
Akademie einen ausführlichen Vortrag gehalten, wonad) den Manu— 
fafturen, dem Handel und der Schiffahrt um jo mehr aufgeholfen 
wird, je mehr die Landwirthichaft gefördert wird. Der lange und 
eifrig fortgeführte Streit über den Vorzug der Gewerbe endigte 
damit, daß die Ebenbürtigfeit der Landwirthſchaft und ihr Anſpruch 
auf öffentliche Fürforge allgemein anerfannt wurden. Nun ge 
wannen auc die Klagen über die Mipftände, welche dieſes 
Gewerbe niederhielten, Ausfiht auf Beadhtung —, namentlid) die 
Klagen über die engherzigen und jtrengen Gejeße, welche die 
ländlichen Dienjtverhältnijje vegelten, und über die Gemengelage 
der ländlichen Befigthümer, jowie über deren Unzertheilbarfeit. 
Ein Gejeg vom 9. 1723 hatte die Marimalzahl der bäuerlichen 
Arbeitskräfte — des Wirthes, feiner arbeitsfähigen Stinder, der 
Knechte und Mägde — normirt; ein anderes v. J. 1738 hatte 
dem Wirthen, außer dem zuläffigen Dienftvolfe, nur zwei arbeits: 
fühige Kinder, einen Sohn und eine Tochter, zugejtanden. Ein 
anderes Gejep hatte die Anlegung von Knechtsanjiedelungen, die 
Anjepung von Badjtübern, d. h. von Käthnern ohne Landwirthſchaft, 
überhaupt jede Zerjpaltung der „Heimathen” unterjagt, und Die 
Zertheilung der geſchloſſenen Dorfihaften in jelbjtändige Wirth: 
Ihaftsfomplere unmöglihd gemadt. Die Aufhebung aller dieſer 
Verbote, des einen nach dem anderen, ward durchgeſetzt. Schließlich 
wurde auf dem Neichstage d. J. 1756 aud) „Storsfiftet” beſchloſſen, 
d. h. die Großtheilung, die ganz allgemein durdyzuführende Be— 


214 Die Kaiferl. Zinländ. Dekon. Sozietät. 


jeitigung der Gemengelage, die allgemeine Arrondirung der Liegen: 
ihaften. Sofort zeigte fih ein empfindlicher Mangel an Land- 
mejlern und es hat lange gedauert, bis die Maßregel durchgeführt 
werden fonnte.*) 

Die nächte Folge dieſer wohlthätigen Maßregeln war ein 
großer Aufihiwung in Einführung der Wechjehvirthichaft, im Anbau 
von Klee und Timothygras, von Schoten: und Wurzelgewächſen, 
ſowie in Ausführung von Ent: und Bewällerungen. Schon um 
1750 wurde in Süd-Dalarne die „wilde“ Viehweide gänzlich) aus- 
geſchloſſen und nur Aderweide benugt. Bereits im Jahre 1747 
lehrte der Defonomieprofellor Berch: „Damit der Aderbau 
Gewinn bringe ... müſſe der Boden bejtochen werden” — nämlich) 
durch reichliche Viehhaltung ꝛc. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts 
werden von der Xitteratur ſchon viele von der Naturforichung 
gefundene Hilfsmittel dem Aderbaue angerathen, wie aus C. E. 
Bergftrand: „Einige Züge aus der Geſchichte des ſchwediſchen 
Aderbaues“ (1896) zu erjehen ijt.?) 

Die Erfahrung hatte gelehrt, daß blühende Induſtrie ſich 
nicht Fünftlih ſchaffen laſſe. Dazu famen die Parteiverhältniffe. 
Der „Hüte“ übertriebener Merkantilismus hatte den Widerſpruch 
der „Mügen” hervorgerufen. Der Neichstag v. I. 1765 gewährte 
dem Landmanne die Freiheit, jeine Produfte im Neiche zu ver- 
äußern, wo es ihm beliebe. Dem Bauer ward die Freizügigfeit 
aus einem Län in ein anderes gewährt: „er jolle in den Reiche: 
grenzen jedem erlaubten Gewerbe nachgehen Fönnen nad) feiner 
eigenen größten Bequemlichkeit.“ Gleichzeitig trat Linderung des 
Zunftzwanges ein und das Stapelredht, d. 5. die Gewährung des 
Rechtes zum Außenhandel, wurde vielen Orten, die es nicht 
bejejlen hatten, verliehen; und i. %. 1766 wurde dem Landmanne 
gejtattet, zum Abjage feiner Produfte Seefahrt zu betreiben. Aus 
den Verordnungen und Vorjchriften der Behörden klingt in jener 
Zeit ein Ton hervor, welcher den Mittelweg zwiichen Unterweifung, 
Kath und Befehl einzuhalten ſucht. In einer Publifation v. J. 
1739 über nügliche Einridtung der Handwerfe, des Handels und 
der Fiſcherei appellirt die Negierung an die „bisher bewiejene 
Vaterlandsliebe und Treue (trohet) der Städte ...“ Am An: 
Ihluffe an des Philoſophen Anders Rydelius (7 1738) Anfidt: 
die Wiſſenſchaften feien allzulanne nur theoretiich und zu wenig 


Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 215 


praftifch betrieben worden, haben nun die Verfaſſer willenfchaftlicher 
Werke fih auf ökonomiſche Fragen eingelaffen, wie z. B. ber 
Botaniker Linn, der Chemiker Vallerius. Der leptere bezeichnet 
den Ackerbau als „aller übrigen Induſtrien Dlutter, welche geradezu 
neid: und lijtfrei Gewinnjte abwirft.“ 

Unter den derzeitigen Schriftitellern ijt bejonders zu nennen 
Anders Badmanfjon, 1743 unter dem Namen Nordencrang 
geabelt (7 1772), der in öfonomilchen Fragen auf bie öffentliche 
Meinung großen Einfluß ausgeübt hat; dem Neichstage d. J. 
1756 haben nicht weniger als fünf feiner Schriften gegen die 
Sewerbebejchränfungen und die ftaatliche Bevormundung vorgelegen. 
As Bahnbreder und als „Stammpvater der Lehre von der 
ſchwediſchen Gewerbefreiheit” gilt indeſſen Aſſeſſor und Seerath 
Johan Rifing (F 1672). MNordencrang war es erlaubt, feinen 
Sedanfen gewagtefte Prägnanz zu verleihen; er fagt u. U: 
„Durd den Mißbrauch des Zunftzwanges werden die Menjchen 
zu Ejeln gemadt, welche nur langjam vorwärts ſtreben.“ „Eine 
Negierung darf die Menſchen nicht wie Holz behandeln.” „Nach 
dem Beilpiel gewiſſer Verordnungen könnte zu bejtimmen verfucht 
werden, welde Zahl von Kindern man haben dürfe.” „So gut, 
als man der Induſtrie Privilegien ertheilt, kann vorgejchrieben 
werden, wie Waſſer, Luft und Feuer zu benußen jeien.” In 
Allem zeigt ih der Einfluß der franzöjiihen Phyfiofraten oder 
economistes, welde lehrten: das Individuum müſſe das Necht 
haben, nad) eigenem Verſtändniß durch jeine Arbeit ſich des Lebens 
Genuß zu verfchaffen,; der Staat habe ihm nur Sicherheit des 
Eigenthums und Freiheit im Erwerben durch Arbeit zu gewähren. 
BZahlreihe Schriften, nicht in Latein, jondern in der Mutterſprache, 
verbreiteten dieje Lehren und fanden Eingang. Ortsbeichreibungen 
mit Angabe der natürlichen Beichaffenheiten und Hilfsquellen waren 
üblich) geworden (nad) Johann Fagott's Programm v. 3.1741). 
Jüngere Männer der Wiljenjchaft führten Forſchungsreiſen aus 
mit ökonomiſchem Programm. 1741 ward in Upjala ein befonderer 
Lehrjtuhl für Delonomie errichtet und zuerjt von Anders Berch 
verwaltet, der zahlreiche einichlägige Arbeiten, namentlih zur 
Förderung des Aderbaues, verfaßte und, der damaligen Zeit: 
rihtung entjprechend, verlangte, daß im Sculplane für den 
Landmann Lehrjahre und die Ausführung eines Meijterjtüdes 


216 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


vorgejehen würden. Für die praftiihe Richtung der damaligen 
Wiſſenſchaft iſt bezeichnend, daß im Jahre 1748 die ſchwediſche 
Wijlenichaftsafademie zu ihrem Mitgliede ernannte die 24-jährige 
Frau Gräfin Eva Efeblad, geborene De la Gardie, „wegen 
ihrer bejonderen Begabung zu Verfuhen, welche dem Haushalte 
dienen” — nämlich Verjuche im Brodbaden und GSeifefieden! 


Befonders angelegentlid wibmen fi den öfonomijchen 
Intereſſen während der Freiheitszeit die Medizin und die Statijtif. 
Die Kriege Karls XII. hatten die Bolfsmenge erheblid vermindert, 
und ihr Zuwachs blieb ein geringer in Folge jchädlicher Seuchen, 
namentlid) der Boden, woher großer Arbeitermangel ſich geltend 
mad)te. Die Defonomieihule nahm ſich daher der Geſundheits— 
pflege an und förderte die Ausübung der ärztlichen Kunſt. Auch 
den Viehjeuchen wurde Aufmerkſamkeit gewidmet. Verordnungen 
werden erlallen, welde das Heirathen beeinfluſſen. Leuten, welche 
ledig bleiben wollen, wird die Erlaubniß zu Liegenſchaftstheilungen 
verjagt. Der Vater von vier Kindern wird von perjönliden Ab— 
gaben befreit. Verheirathete werden nicht zum Militärdienfte, 
nod) zu den Jahresübungen herangezogen. Die Wirkung Diejer 
Diabregeln iſt indeſſen feine auffällige gewejen. Die Wifjenichafts: 
afademie bringt i. J. 1747 Bevölferungsftatijtit (Volkszählung) in 
Vorſchlag und v. J. 1749 beginnt das bezügliche Tabellenwert, 
zum Erjage der jchon 1721 eingeforderten Predigerberichte, weiche 
ih) oft mit recht apofryphen Fragen bejchäftigt hatten. Die 
während der Freiheitszeit ſchon ganz reiche Zeitjchriftenlitteratur 
hatte fi) mit Vorliebe der Defonomie und der Haushalt-Verſuche 
angenommen; für dieſe Gegenitände wird ſeit 1760 ein bejonderes 
Organ: die „nland“-Zeitung, herausgegeben. Die Verbreitung 
praftiiher Kenntnijje geſchah auch durch die Kalender, denen ſchon 
im 3. 1707 verboten worden war, Prophezeiungen irgend welcher 
Art zu bringen. Auch die Romane der Zeit find mit ökonomiſchen 
Betrachtungen angefüllt. So wird 3. B. dem Roman „Roloffs 
Handlungen” von der Nezenfion nachgerühmt, daß er „ſchöne Ab- 
handlungen und Gedanken” enthalte über vorliegende Fragen, 
wie; das Gedeihen des Handels, Abjag von Produkten des 
Aderbaues und der Handarbeit. (Nehnlihe Tendenz verfolgt 
Ipäter Zſchocke's „Goldmaderdorf.“) Auch die proteftioniftifche 


Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 217 


Grabmal-Borfie Jacob Freje’s vom Jahre 1729 verdient hier 
erwähnt zu werden. 

Nicht mit Unrecht ift Schwedens Freiheitszeit feine „ökonomiſche 
Epodye” genannt worden: die Zeit war reich an Anregungen und 
Vorſchlägen,“) welche übrigens viel jpäter Frucht getragen haben, 
außer auf den erwähnten Gebieten auch in Anlegung von 
Kirchipiels-Vorrathsmagazinen, in Errihtung von Feuerwehren, 
in ber privaten Mitwirkung bei Anlage von Verfehrswegen, in 
Verjuchen zu holziparenden und feuerfiheren Bauten, in Förderung 
der Fiſcherei u. j. w. 


ll. Finlands ökonomische Entwidelung in der 
Sreiheitszeit. 

Im Allgemeinen, jedod mit manchen Ungleichheiten, ijt Die 
öfonomifche Entwidelung Finlands den Spuren Schwedens gefolgt. 
Trog ihrer Zentralifirungs: und Gleihmadungstendenzen hat die 
Neichsregierung ſich doc, genöthigt gejehen, auf Finlands, durch 
den „großen Krieg“ äußerjt verarmten, Zuftand mande Rüdjicht 
zu nehmen. In Folge der häufigen Mißernten und der Leiden 
durch den „kleinen Krieg” find manche Anordnungen jpeziell zur 
Schonung Finlands erlajfen worden. Nach dem Frieden von 
Nyitadt wurden die Steuerrüdjtände erlaſſen und Freijahre gewährt. 
Den Bebauern von Sronsländereien waren jchon früher Erleid): 
terungen binfichtlih der Grundjteuer-Ablöjung zugejtanden worden. 
Eine Verordnung v. %. 1726 hatte fürs ganze Reich bejtimmt, 
daß die Grundjteuer-Ablöjung mittels Erlegung der jechsfachen 
Jahresjteuer ftattfinden dürfe. Vom Jahre 1741 ab genügte dazu 
in Finland die dreifache Jahresfteuer. In Ausnahmefällen galt 
Finland als bejonderer Zollbezirt. So durften nad dem Kriege 
von 1741—1743 die von Djten eingeführten Waaren in Finland 
verfauft, nicht aber ins übrige Schweden importirt werden, und 
1744 ward die Einfuhr von Getreide, Pferden, Nindvieh, Lein- 
und Hanfjaat für Finland gänzlicd freigegeben. Dabei aber gab 
es manden Anlaß zu berechtigten Klagen über Finlands Zurüd:- 
ſetzung; gar zu wenigen Orten Finlands war „Stapelfreiheit”“ 
d. h. die Beredhtigung zum Außenhandel, verliehen worden, und 
an den reichlihen Anſchlägen zur Manufakturförderung partizipirte 
Finland in gar zu bejcheidenem Maße, und diejelbe geichah zumeijt 


218 Die Kaiferl. Finländ. Oekon. Sozietät. 


durd) private Initiative. Indeſſen ift doch Einiges zur Förderung 
der Lein- und Wollipinnereien geihehen: Familienweile wurden 
dazu Arbeiter aus dem Auslande bezogen; jedes Län durfte je 
einen Dann und eine Frau zur Ausbildung an die jchwedijche 
Spinnereifhule zu Wadſtena entjenden.”) Wenn aber in Süd— 
und in Weſt Finland die bäuerliche Leinwandfabrifation ganz 
erheblichen Flor erlangte, jo ift es ganz unabhängig von Reichs— 
unterjtügung gejchehen. 

Zu Beginn der Freiheitszeit find wiederholt Kommilfionen 
eingejegt worden mit der Aufgabe, Finlands Lage und Bedürfnijle 
ju prüfen und Vorjchläge zu jeiner Förderung zu machen; fie 
haben mande beachtenswerthe Erwägungen zu Tage gefördert, 
find aber im Ganzen ohne Erfolg geblieben. Dem Reichstage 
find vielfach allgemeine und private Klagen über Finlands Be: 
dürfniife übergeben worden.) Am wicdhtigjten unter ihnen ijt das 
1741 vom Lagman Johann Ehrenmalm eingereichte Diemorial, 
worin nachgewiejen wird, daß Finlands Aufſchwung vornehmlid) 
durch feinen Vollsmangel behindert werde; er betonte außerdem 
die Nothiwendigfeit von Verkehrswegen, von Kirchipiels-Borraths- 
magazinen, von Werbejjerung der Waldpflege und des Jugend- 
unterrihts; ein ferneres Memorial hat Chrenmalm als Gou— 
verneur von Abo dem Kanzler und Delonomieprofeilor der dortigen 
Univerfität übergeben. In den Jahren 1746 und 1747 hat die 
Finländiſche Neicdhstagsdeputation eindringlich die Einjegung eines 
Generalgouverneurs zur Förderung der wirthſchaftlichen Intereſſen 
des Landes verlangt. Im Jahre 1747 ward denn aud) Diejes 
Amt geihaffen, und der damit betraute Graf v. Roſen erhielt den 
bejtimmten Auftrag, Mahregeln zur Vermehrung des Bevölferungs- 
zuwachſes, zur Verbefjerung der Waldpflege, zur Vermehrung der 
Waſſerwege u. |. w. zu ergreifen; auch hatte er für Verftärfung 
der Grenzbefeſtigungen zu forgen. 

Seit den 1740-er Jahren macht fid in Finland vermehrte 
Sorge für den jo wichtigen Yandanbau geltend, und als erjte 
Bedingung dazu wird die Chartirung des Landes und eine zweck— 
mäßigere Befigvertheilung erfannt. Im Jahre 1744 wird es von 
der Finländiſchen Defonomiefommiljion für unerläßlih erflärt, 
das Land zu vermeſſen und zur Charte zu bringen, jo daß man 
über feine anbauwürdigen Areale, feine Moore und Wälder eine 


Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 219 


Meberficht erhalte: erſt dann werde paſſendes Sfiftet (i. e. Austauſch 
und Zufammenlegung zur Arrondirung) ftattfinden können. Dieje 
Anſchauung wurde namentlih von Johann Faggot unterjtügt, 
der 1747 Oberdirektor des Landmefler-Kontors wurde. Die 
Neichstagsdeputation der Jahre 1746 und 1747 ſchloß ſich der 
Anſicht an, dab durch die Neueinmellung (skiftet) jede Liegenſchaft 
geichlojjene Grenzen erhalten, und daß damit in Dejterbotten, wo 
es am nothwendigiten jei, angefangen werden ſolle. Im Jahre 
1756 wurde der Vorjchlag von den Ständen genehmigt und zu 
jeiner Ausführung, und für äbnlide Zwede, eine beiondere 
Deputation niedergeſetzt. Danad) follten jeder Liegenjchaft be- 
jtimmte reale von jeder Bodengattung zugetheilt und ber 
Ueberſchuß als Kronsland ausgejchieden und zu Neuanfiedelungen 
rejervirt werden. Zum Schluß der Freiheitszeit waren allein in 
Defterbotten 1000 Neuanfiedelungen entjtanden; Storsfiftet, d. i. 
die General:Neueinmeflung, war dort raſch vorgejchritten, das 
Dedland Hatte abgenommen und die Bolfszahl hatte jich erheblid) 
vermehrt. In den anderen Theilen Finlands nahın die Operation 
langjameren Fortgang, hauptiählihd wegen Mangels an Land- 
meſſern. Inzwiſchen waren aud, zu des Aderbaues merflichen 
Nugen, neue Land: und Wafjerwege angelegt und Seeabzapfungen 
ausgeführt worden. 

Im öjtlihen Theile Finlands war der Aderbau zumeift 
mittels Rodungen (svedar) betrieben worden, und an den Küſten 
war das Küttisbrennen allgemein. Der eigentliche Aderbau wurde 
entweder in Dreifelderwirthichaft (mit Brade, Sommer: und 
Herbjtjaat) oder in Zweifelderwirthichaft (mit Brache und Sommer: 
oder Herbitjaat) betrieben. (Wie in Schweden, jo war auch in 
Sinland, außer in Nyland, der Kartoffelanbau ganz gering.) Nun 
wird die Moorbeaderung in Dejterbotten allgemeiner, wo fie i. J. 
1661 durch den Pfarrer Iſak Brenner zu Storfyro zuerſt ein- 
geführt worden war. An Stelle der älteren Brenn-Vorkulturen 
treten nun andere Methoden, u. U. jeit 1760 die „Miſchkultur“ 
(mittels Zehmaufführen), weldhe 1759 durch Johan David Kneif 
beichrieben worden war in einer vom Manufakturkontor der Reichs: 
ftände herausgegebenen Schrift. Auch die Wiejenverbejferung wird 
nun fräftig betrieben, zum Theil auch bejjere Viehhaltung und 
vollflommenere Meiereiwirthſchaft. So wird z. B. feit 1750 in 


220 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


Hoittis und Punfalaitio eine Art Parmeſankäſe hergeftellt und 
der Aland-Käſe wird als Lederbijjen erwähnt. Auch Frudtbaum: 
gärten werden, zuerjt auf einigen großen Herrenhöfen in Süd— 
Finland, angelegt, ſpäter aud in Dejterbotten. Mehrere der jept 
allgemein vorfommenden Gewächſe find während der Yreiheitszeit 
eingeführt worden, 3. B. die zu Baubholzerijparung ala Heden- 
pflanzen benugten Zyrenen 1728 in Abo, 1744 der fibirifche 
Erbjenbaum, caragana arborescens. Die zu Schluß der 
Freiheitszeit in Finland ſehr merflihe Steigerung des Boden: 
werthes ift wohl zum Theil auf die durch Finanzkriſen verurjachte 
Geldentwerthung zurüdzuführen. 

Bedeutjamer noch, als die vorjtehend erwähnten Thatjachen, 
durch welche der öfonomiihe Aufſchwung Finlands eingeleitet 
worden, iſt für jeine Geſchicke das Auftreten und die Wirkſamkeit 
einer ganzen Reihe von Männern geweſen, welche während der 
Freiheitszeit auf dem litteräriihen Gebiete das Streben fürs 
Gedeihen des engeren WVaterlandes in nod heute unvergebner 
Weiſe gewedt haben, — Männer, unter denen vornehmlich zu 
nennen find: Anders und Samuel Chydenius, Brovallius, 
Mennander, Kalm, Waftröm, Kraftman, Gadd, Lede, 
Haartman, Högmann, Galonius, Hajt, Stenius, Aspe: 
gren, Ervaſt und aud ſchon Borthan. Die Wirkjamfeit diejer 
Männer ift um jo anerfennenswerther, als es damals in Finland 
feine einzige Zeitung gab, noch eine Buchhändlerfirma, welche der 
Verbreitung der heimischen Geijtesprodufte hätte dienen können, 
und daher für alle auf Finland bezügliden Publikationen ein 
Spradrohr in Schweden gejucht werden mußte, jei es daß als 
jolhes dienten die „Verhandlungen der Wiſſenſchaftsakademie,“ 
jei es die „Inlandzeitung“ oder andere Organe. Bemerfenswerth 
it, daß Die meijten der genannten Männer gerade dem, bisher 
in öfonomijchen Dingen in mander Weije zurückgeſetzten, Oeſter— 
botten entjtammten. Der Zwed der vorliegenden vergleichenden 
Studie bringt es mit fi, daß auf die Bedeutung der Genannten, 
wenn auch nur flüchtig, eingegangen werde. 

Vor allen Uebrigen ragt hervor Anders Chydenius, zuerjt 
Kapellan in Nedervetil, dann Pfarrer in Gamlafarleby. Aus: 
gejtattet mit umfaljender Kenntniß der lokalen Bedürfniſſe, hat 
er alle Einwendungen, melde gegen jeine Vorſchläge gemacht 


Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 221 


wurden, niederwerfen können. Cingeleitet hat Ch. feine fchrift- 
ftelleriihe Thätigfeit durch die preisgekrönte Beantwortung zweier 
1762 und 1763 von der Wiſſenſchaftsakademie aufgeitellten Preis— 
fragen. Faft gleichzeitig erjchien von ihm eine größere Arbeit 
über die Frage der Akademie: „Die Urfachen der Auswanderung 
aus dem Lande?” Dieſe Arbeit ift zwar nicht durch einen Preis 
ausgezeichnet worden; aber fie erregte großes Aufſehen, als fie 
1765 in Stodholm im Drud erichien, wo Ch. als Reichstags: 
deputirter des Priejterftandes aufgetreten war. Die Urjadhen der 
Auswanderung erblidt der Verfaſſer in den durch verjchiedene 
BZuftände den Einwohnern bereitete Schwierigkeit, ihr Auskommen 
zu fuchen und zu finden. „Die Freiheit, — jagt er — zu welcher 
der Menjch geboren, wird von Jedem gefucht. Findet er fie nicht 
zu Haufe, fo fucht er fie anderswo zu genießen.” Sein Hauptziel 
war bie Aufhebung aller, die Gewerbe fchädigenden Schranfen, 
welche vor Allem des Aderbaues Entwidelung hemmten; außerdem 
beitritt er Die Untheilbarfeit der Liegenschaften, die Unficherheit 
der Beligrechte, wies er auf die Mängel der Verkehrswege, auf 
das Verbot beliebigen Produftenablages hin, ſowie auf die Verbote, 
welche den Bauer hinderten, mehr als eine bejtimmte Anzahl von 
Perſonen zu beichäftigen, Neuanfiedler anzulegen, oder Landknechte 
oder Käßner und Einlieger. Er tadelte die Zunftverordnungen, 
mwelhe der Entwidelung der Handarbeit entgegeniwirften, bie 
Handelsbeihränfungen, die Privilegien, welche den Landanfauf 
hinderten; er zeigte, wie des Volkes Freiheit durch mehrere andere 
Vebeljtände leide: durch die Unficherheit des Geldweſens, die 
Langſamkeit der Nechtspflege, vor allem aber durch den auf den 
Federn und auf der Preſſe laltenden VBernunftzwang. Noch andere 
Schriften verfaßte Eh. im J. 1765, welche die Gemüther erregten 
und beren Gedanken lebhaft disfutirt wurden. Als Glied der 
Fiſchereikommiſſion hatte er den größten Antheil an dem 1766 
erlaffenen Fiichereigelege, welches noch heute als das bejte aller 
bisher aufgeftellten gilt (U. W. Ljungmann: „Das dfonomilche 
Gefellichaftsleben” II, 225). Am bemerfenswertheiten ift eine 
Schrift, welche auf Kojten des Kirchipiels Hamlafarleby gedrudt 
und an die Reichstagsmitglieder vertheilt wurde, und worin ber 
Kampf für die Stapelfreiheit der Städte des Bottnifchen Buſens 
eröffnet wird. Finlands öfonomijche Verwaltung — heißt es dort 


222 Die Kaiſerl. Finländ. Delon. Sozietät. 


— Scheine aus einer eigenthümlichen VBertheidigungspolitif hervor- 
zugehen. „Ye mehr Finland einer arabiichen Wüjte und einer 
MWildmarf gleicht, um fo weniger regt es freilich die Begehrlichkeit 
des Nachbarn an; aber um jo fchwerer wird es dem Lande, aus 
der eigenen Kraft ödegelegter Gebiete, feine berechtigten Grenzen 
zu vertheidigen.“ In Folge dieſer ebenfo lebhaften wie Flaren 
Ausführungen faßte 1765 der Neichstag einen freifinnigen Beichluß, 
der für Finland wichtiger geworden ift, als für das übrige Neid). 
Chydenius’ Einfluß war groß auch durch das von ihm perjönlich 
gegebene Beilpiel: fteinige Berge baute er an, Moore trodnete er 
aus, Obftgärten legte er an, taugliche öfonomiihe Bauten führte 
er auf. Selbſt mit der medizinischen Praxis befaßte er ſich: 
erfolgreich hat er Mugenoperationen ausgeführt, und namentlid) 
die Pockenimpfung unter den Bauern verbreitet. Keinen größeren 
und bedeutenderen Schriftiteller, als den Pfarrer Anders Chydenius, 
hat es auf dem öfonomijchen Gebiete mwährend der reiheitszeit 
gegeben. 

Mährend des „großen Krieges” war die Univerfität Abo 
faft geiperrt, jedenfalls für die Wiſſenſchaft ruinirt. Auch fpäter 
war ihr gelehrtes Anfehen nicht groß. Gelegentlicd eines Beſuches 
in Abo berichtet noch 1759 Gjörmwall: „die Univerfität verfällt 
täglih.“ Um fo bemerfenswerther ift es, daß einigen ihrer 
Profeiloren gelungen iſt, nicht nur durch eigene Zeitungen auf 
dem öfonomifchen Gebiete ſich hervorzuthun, fondern auch das 
afademiiche Leben bafür zu intereffiren. Das ijt namentlich 
Johann Brovallius gelungen (Phyſikprofeſſor 1738—1746, 
7 1755). Er it in Finland Bahnbrecher geworden für die An: 
wendung der Naturwillenichaften zu praftiihen Zweden, und iſt 
hervorragend geweſen als populärer Schriftiteller. Unter feinem 
Vorfige ift die erſte „Disputation“ über ein rein öfonomijches 
Thema auf der Nboer Univerfität abgehalten worden. Die Dis- 
putationsfchrift war noch lateiniih abgefaßt, aber im Verfafler 
meint man einen gemwiegten Kaufmann vor fich zu haben. Zwei 
Jahre fpäter präfidirt er einer ähnlichen Disputation in Tavaftland, 
fowie einer anderen über die Bedeutung von Forſchungsreiſen im 
eigenen Zande zum Sammeln von Kenntnilfen über dejjen natürliche 
Verhältniffe, Verkehrswege u. |. w.“ Mehrfach hat er die Noth: 
wendigfeit einer Unterrichtsreform in praftiichem und realem Sinne 


Die Kaiſerl. Finländ. Defon. Sozietät. 223 


betont. Als fein Nachfolger hat 1746—1752 gewirkt Phyfif- 
profeffor Karl Friedrich Mennander, geitorben 1786 als 
Erzbifchof zu Upfala. Er hat einige „Disputationen” öfonomijchen 
Inhalts in lateinischer Sprache verfaßt, die fpäter ins Schwediſche 
überjegt worden find. Bezeichnend für feine Auffaſſung iſt feine 
Eintheilung der Naturmiffenichaften in „zehrende und nährende.” 
Unter den zahlreichen von ihm präfidirten öfonomilchen „Dis: 
putationen” ijt diejenige von Nic. Waſtröm über den gegen- 
wärtigen (1747) Zujtand von Abo, abgejehen von ihrem inneren 
Werthe, auch dadurch hervorragend, daß zuerft fie in ſchwediſcher 
Sprache abgefaßt worden. Unter den Magifter-Promotionsichriften 
war zuerft 1748 in ſchwediſcher Sprache abgefaht diejenige von 
Johann Kraftmann „über Fabriken, in Sonderheit ſolche, die 
Geſpinnſte und Gewebe hervorbringen, und die man mit Vortheil, 
zu anfehnlicher Förderung des Nderbaues, in unferem Baterlande 
errichten fann.” Unter den zahlreichen Beiträgen, die Mennander 
zu den Verhandlungen der Wiſſenſchaftsakademie lieferte, iſt fein 
1769 veröffentlichter Aufſatz: „Zuwachs der Volkszahl im Stift 
Abo feit 30 Jahren“ zu erwähnen, weil es der erite Verſuch ift, 
aus der 1721 begonnenen Bevölkerungsſtatiſtik wiſſenſchaftliche 
Schlüffe abzuleiten. Auf feinem Landgute in der Nähe von Abo 
legte Mennander einen großen Objtgarten an. Im Jahre 1747 
erhielt die Univerfität Abo ihren erften Defonomieprofeilor in der 
Perſon des Petrus Kalm, auf Linnes Empfehlung. Derfelbe 
trat im Jahre 1753 feine Lehrthätigfeit an nad einer großen 
Forſchungsreiſe in Amerika. Cine feiner erjten Thätigfeiten bejtand 
in der Anlage eines botanischen Gartens für die Univerfität, 
welcher bis zum Jahre 1827 bejtanden hat, ſowie zweier „Plan: 
tagen.” Manche der Verfuche haben zwar negative Reſultate 
ergeben, andere aber find von der Nachwelt nicht genug beachtet 
worden, und „es erwedt ein bitteres Gefühl“ jagt Otto Hjelt 
in feinem Buche: „Das Naturgefchichtsitudium auf der Univerfität 
Abo” — „daß die Folgezeit es verfäumt hat, diefe Arbeiten fort: 
zuſetzen“ — Kalm hielt VBorlefungen über Aderbau, Garten:, 
Wieſen- und Waldwirthichaft, Fabriken, Handel und Zivilarditeftur. 
Seine 1846, zumeift ſchwediſch verfaßten, Disputationsichriften 
behandeln fait ausschließlich öfonomishe Fragen, namentlid General: 
umtheilung (storskiftet), Kirchſpielsvorrathsmagazine u. ſ. w. Aud) 


224 Die Kaifer!. Finländ. Dekon. Sozietät. 


bat er zu den Verhandlungen der Wiffenichaftsafademie zahlreiche 
Beiträge geliefert. Es mag nicht verichwiegen werden, daß 
Kalm’s feite Weberzeugung von der Ausgiebigkeit der Natur: 
ausftattung Finlands ihn aud zu mandem Worfchlag verleitet 
hat, der ... Beiterfeit veranlaßt. Cine ähnliche Auffaſſung findet 
fih bei Peter Adrian Gadd, der 1758 als ertraordinärer Pro: 
feffor für Delonomie und Chemie und 1761 als ordentlicher 
Profeffor für legteres Fach angejtellt wurde. Im Jahre 1755 
hatte er auf Staatsfoften eine Reife durch Südfinland ausgeführt 
zur Auffindung von Farbe-Gewädhlen und offizinellen Pflanzen, 
und ward darauf in Abo angeftellt zur Wervolllommnung der 
Salpeterfiedereien und der Schafzuchten. Im Jahre 1762 hat er 
als Plantagedireftor eine Inſtruktion herausgegeben zum Anbau 
von Färberwaid, Hanf, Lein, Rhabarber und Käüchengewächſen. 
Eine Reihe bezügliher Schriften von ihm find 1763—1778 auf 
Staatsfoften gedrudt und gratis vertheilt worden. Im Jahre 
1768 erſchien ein von ihm in finnischer Sprache verfahtes Lehrbuch 
über Gartenbau. Seine Disputationsfchriften, mehr als hundert 
an Zahl, behandeln die midtigiten ökonomiſchen Gegenftände. 
Vielleiht am bedeutfamiten ift feine 1761 —1764 in Abo erjchienene 
Schrift: „Die chemiſchen Grundlagen des Aderbaues.” Gadd ift 
Mitarbeiter geweſen an ber bereits ermähnten, von Anders 
Chydenius gelieferten, Arbeit über die Auswanderung. In feiner 
1772 erjchienenen Schrift: „Ueber den Zufammenhang und die 
gegenfeitige Mitwirkung ber Gewerbe” vertritt Gadd den Gap: 
daß fein Gewerbe auf den Nachtheil eines anderen fi ftüßen 
dürfe. Außer dieſen vier Profefloren, die jämmtlih Mitglieder 
der ſchwediſchen Wilfenfchaftsafademie waren, find noch zu nennen: 
Samuel Chydenius, des Anders älterer Bruder, als verdienter 
oberfter Leiter der finländiichen Gtromreinigungen; Johann 
Kraftmann, Rektor der Schule in Björneborg und praftifcher 
Aderbauer, als ökonomiſcher Schriftiteller, u. A. als Verfaſſer der 
1761 herausgegebenen Schrift: „Gedanken über die Ohnmadt, in 
welcher der finländifche Landmann fich befindet,“ worin das Röden 
(svedjandet) befämpft und Moorkultur ſowie Einrichtung von 
Scäfereien und Meiereien empfohlen wird; er gehörte zu den 
Erjten, die Zuchtitiere aus Holland einführten. Ferner David 
Erif Högmann wegen jeiner Schrift: „Beförderung der Defonomie 


Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 225 


durch Unterweifung der Schuljugend in den nüglichen Wiffenfchaften 
(1753); auch Johann Leche, Profeſſor der Medizin, wegen 
feiner Schrift: „Unterricht im Pflanzen wilder Bäume und Büſche“ 
(1764). Wie jehr an der Univerfität zu Abo das Intereſſe für 
die Defonomie gewadhjen war, ift auch daraus zu erfehen, daß 
der ſpäter fo berühmte Juriſt Matthias Calonius ſeit den 
1760:er Jahren „über den ökonomiſchen Nutzen der Gewächſe“ 
gelefen hat. Ermwähnenswerth find auch die praktischen Arbeiten 
auf dem medizinischen Gebiete, wie Diejenigen von 9. Spöring 
(feine 1737 ebdirte Schrift über Vodenimpfung); des Wrofejlors 
der Medizin Johann Haartman (1750 die erite Ausgabe 
feines berühmten Lehrbuches, und ſeine Schriften über die Vieh: 
feuchen, wovon eine finnijche Ueberjegung erſchienen iſt). Der erſte 
an der Univerfität Abo gegründete Stipendienfonds von Efeftuba 
(1745) war bejtimmt für Studenten der Defonomie. Vom Jahre 
1750 ab find verichiedene Unternehmungen zum Zwede der 
Geſundheitspflege zu erwähnen; neue Arztitellen werden gegründet; 
früher als in Schweden, wird in Finland jchon i. J. 1755 bie 
Podenimpfung offiziell eingeführt (des Anders Chydenius Cr: 
mahnung zur Podenimpfung v. J. 1761). Dem Provinzialarzte 
B. NR. Hajt in Waſa wurden im 9. 1762 von der Regierung 
zwölf Thaler Kupfermünze für jedes glüdlid) geimpfte Bauerfind 
zugejichert. 

Während die Univerfität aljo wirkte, griffen auch in der 
Regel die Gouverneure der Provinzen von Dienjtwegen ein, um 
die Zeitideen zu fördern. Manche der gelehrten Vorjchläge erwiejen 
fih als undurchführbar, aber andere wurden durd die Schüler 
der Univerjität ins praftiiche Leben eingeführt, und trugen jchöne 
Früchte. Bejonders haben ſich darin die Pfarrer hervorgethan. 
Schon im 9. 1750 war feftgefegt worden, daß fünftig, wer fein 
Zeugniß über Kenntnilfe in Dekonomie, Phyfit und Chemie vorzu— 
weifen habe, nicht als ‘Pfarrer angejtellt werden ſolle. Durch eine 
Disputation Kalm’s vom Jahre 1757 wird dahin gewirkt, dab 
die Predigtamtsfandidaten in Naturgeſchichte und Aderbaulehre 
eraminirt werden follten. it das aud in der Folge nicht jtreng 
eingehalten worden, jo hat es doch unzweifelhaft beigetragen, dem 
Delonomie-Stubium einen gewiſſen Vorzug zu gewähren und ben 
Studenten beftimmte Interejjen fürs Leben beizubringen. Rher 


226 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 


auch mag es fich nicht felten herichreiben, daß in den Predigten 
jener Zeit praftiihe Haushaltungsfragen berührt worden find. 
Unter den Pfarrern, welche in den Verfammlungen ihrer Gemeinden 
die materiellen Fortichritte förderten, verdienen die folgenden 
befonders genannt zu werden. Jacob Stenius, Pfarrer zu 
Pielisjärvi (vom Jahre 1740 bis zu feinem 1766 erfolgten Tode) 
war unermüdlih thätig für den Anbau von Mooren und ver: 
öffentlichte im J. 1772 eine Schrift darüber. (Bei der befonderen 
Bodenfonfiguration Finlands fann die Michtigfeit diejer Agitation 
garnicht überfchägt werden.) Gabriel Aspegren, Pfarrer in 
Pedersöre (von 1764 bis 7 1784) ift von ber Regierung und 
von der Defonomiichen Gefellihaft (se. Schwedens) durch reife 
ausgezeichnet worden wegen feiner Verdienſte in der Galpeter: 
gewinnung, im Fördern der Steinbauten und im Ziegelbrande. 
Eein Obftgarten zählt zu den allernördlichiten des Landes. Die 
Erbauungsichriften nahmen oft Bezug auf die Wirthichaftsführung, 
wie 3. B. die im %. 1738 herausgegebene Schrift: „Gewiſſens— 
prüfung infonderheit für den Haushälterjtand.” Die Errichtung 
des „Tabellenwerfes,” in welchem die Priejterichaft Angaben nicht 
nur über die Bevölferungsbewegung fondern auch über öfonomifch 
wichtige Ereigniffe zu machen Hatte, hat ihre Mitglieder nicht wenig 
zu öfonomijchen Beobachtungen angeleitet.”) 

Damals wurde in der öfonomilchen Litteratur im Ganzen 
noch jelten von der finnischen Sprache Gebrauch gemacht. Zuweilen 
ließ die Regierung Aufſätze belehrenden Inhaltes überfegen, z. B. 
über den Nutzen des Kartoffelbaues. Auf Verlangen bes Gou— 
verneurs und mit Genehmigung des Collegium medieum über: 
jeßte Lilljenberg 1756 eine Schrift: „Ueber die Wartung der 
Heinen Kinder” ins Finnische. Die finnischen Ueberſetzungen von 
Gadd's Lehrbuch über Obftbaumzucht und Haartman’s Abhandlung 
über Viehſeuchen wurden bereits erwähnt. Im Jahre 1770 wurde 
eine andere finnilche Schrift über Wiehjeuchen herausgegeben. Es 
erfolgten zuweilen obrigfeitliche Befehle, gewiſſe Arbeiten im 
Finnischen herauszugeben, aber fie fcheinen nicht immer gebührend 
beachtet worden zu fein. So wird z. B. im J. 1748 durch 
föniglichen Brief dem Kanzleifolleg befohlen, von Afen’s „Haus- 
und Landapothefe” eine finnifche Ueberſetzung zu veranftalten; 
diefe Neberfegung aber ift nie erfchienen. Zur Freiheitszeit wurden 


Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 227 


die wichtigeren Verordnungen auch finniſch publizirt; doch fcheint 
die Auswahl eine willfürliche geweſen zu fein. (freilich ift Pipping's 
Verzeichniß der finnischen Echriften, worauf dieſes Urtheil fich 
gründet, nicht ganz vollftändig.) Ein Neihstagsihluß v. 3. 1769 
will den gemeinen Mann Finlands anhalten, alle ihn angehenden 
föoniglihen Verordnungen ins Finnische überfegen zu laſſen, mas 
aber, wegen Geldmangels, von der Reichstagsrejolution verweigert 
wird. Ungefähr gleichzeitig ward aber feſtgeſetzt, daß alle Ver: 
ordnungen, welche ſich auf Neuhöfe, Landfnechte und Anfiedler 
beziehen, von der Kanzel finnilch verlefen werden follten. Indeſſen 
fand fih in den, in Schweden herausgegebenen, Kalendern eine 
große Zahl Finnisch verfaßter ökonomiſcher Aufſätze; aber deren 
Sprade war garzufehr vernachläſſigt und durch Drudfehler entjtellt. 
Im eriten finnifchen Kalender v. J. 1726 ift die Auslaffung von 
Metterprophezeiungen entichuldigt, zugleich aber angegeben worden, 
wie man auf natürlicher Grundlage zumeilen das Wetter vorher: 
beftimmen fonne. Won in finniicher Sprache in dieſer Periode 
erfchienenen Auflägen find zu nennen: 1723 „Ueber Milchfühe 
und ihre Wartung”; 1727 „Rathichläge zur Verbefferung des 
Aderbaues“; 1730 „Nüglicher Rath zur Förderung des Getreide: 
baues.“ Darauf find in langer Jahresfolge, bis 1749, da Die 
Herausgabe der Kalender von der Willenichaftsafademie über: 
nommen murbe, hiftoriiche Aufläge gefolgt; dann „Wiſſenswerthes 
über Ackerbau und Viehzucht“; 1750 ... „Das Pflanzen, Die 
Benugung und Verwertung der Kartoffeln.” Alsdann ohne 
Unterlaß ökonomische Aufläge in finnischer Sprade: 1753 „Webers 
Vorfommen von Nachtfröften,” 1754 „Verwendung der Kartoffeln 
zu Brod, Branntwein, Stärfe und Puder”; „Trodenlegung von 
Sumpfwieſen“; 1755 „Wiejenbau und Entwäjlerung”; 1757 „Harz— 
bereitung”; 1760 „Ueber gute Milchfühe”; 1761 „Ueber Weizen: 
bau”; 1763 „Mittel gegen den Kornwurm“; 1764 „Schub der 
Kinder gegen die Boden”; 1765 „Ueber Gejundheitspflege”; 1766 
„Weber MWaldanbau”; 1767 „Weber die Saatzeit” und „Ueber den 
Anbau des Himmelsforns”; 1768 „Ueber Verbeilerung des Erd: 
reiches“; 1769— 1775 „Ueber Lein- und Hanfbau“.'®) 

Während der Freiheitszeit lernten Finlands Bewohner beſſer 
als vorher den Werth; der friedlichen Arbeit ſchätzen; und durch 
nähere Bekanntſchaft mit den natürlichen Veranlagungen der Heimath 


228 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


ihre Hilfsquellen bejler wahrzunehmen. Nicht felten wurden dieſe 
[egteren überſchätzt, namentlich von der akademiſchen Beredjamfeit. 
1749 hielt Profeſſor Mennander, in Anlaß der Geburt des Prinzen 
Friedrich Adolf eine Nede, in welcher u. A. gefagt wurde: „Da 
wir unjer Land genau zu betrachten begannen, da erwies fich fein 
Boden als reich und fruchtbar, und feine Bewohner als geſund 
und fräftig, — aber bettelarm. Hinfichtlid ihrer Defonomie war 
das Ausland der Heimat Vormund. Nachdem mir dieſe Vor: 
mundſchaft abgefchüttelt haben, ift in allen Gewerbezweigen Auf: 
blühen erfolgt, und die MWiffenichaft hat fich immer mehr ben 
Bedürfniffen angepaßt.“ Als Profeflor Gadd im 9. 1752 im 
Namen der Univerfität den König Adolf Friedrih in Abo begrüßte, 
ipradh er feine Ueberzeugung aus: Finland werde ſich jehr bald 
an Reihthum vergleichen können mit — Holland! Eine ähnlich 
zuverfichtliche und lichte Auffaffung glänzt häufig in den öfonomijchen 
Abhandlungen jener Zeit. Diefes Vertrauen auf die Zukunft trug 
dazu bei, in Zeiten von Viehſeuchen und Hungersnöthen, melde 
zufammen mit anderen unfeligen Verhältniſſen eine raſche Ent- 
widelung binderten, im Lande den Muth aufredht zu erhalten. 
Andererfeits wird in den offiziellen Verordnungen vorgehalten, 
daß von den Nbfichten der Regierung die erhofften Refultate nicht 
erzielt worden jeien, und in den Memorialen der Neichstagsmänner 
findet fi gewöhnlich eine andere Sprade als im Munde der 
afademifchen Schönredner. Aus jenen ging hervor, wieviel noch) 
zu thun übrig geblieben, um nur den allerdringendften Bedürfniffen 
zu genügen, und wie groß die Schwierigfeiten jeien, dem Fort: 
Ichritte Bahn zu brechen. Inzwiſchen lernte man es, daß Arbeit 
und Selbithilfe die mwichtigiten Bedingungen für den Fortichritt 
feien. Es ward zur vorherrichenden Meinung, daß Finlands in 
vieler Beziehung ungleichartige Verhältniffe befonders beachtet zu 
werben verdienten, was auch von der Regierung eingejehen wurbe; 
und für die leitenden Männer wurde es zu einer unerläßlichen 
Pflicht, jeder in feiner Provinz auf die Mittel bedacht zu fein, 
wie ihr Auffhwung zu bewirken jei. Im Gegenfage zum Ver: 
halten während der Anfangszeit der ‘Periode, wurde es nun zu 
ihrem Scluffe von den angefiedelten (indelta) Soldaten nicht 
mehr als eine Verunehrung angejehen, bei Stromreinigungen und 
Neukultur-Unternefmungen mitzuhelfen. Den Arbeitern auf Dem 


Die Kailerl. Finländ. Delon. Sozietät. 229 


geiftigen Gebiete war es zu einer Glaubensregel geworden, mas 
der Verfaſſer der Verſe zur Magifterpromotion d. J. 1769 von 
der Wiſſenſchaft jagte: „Ja freilich, fie ift die Grundlage aller 
Freude und trägt in ihrem Schoß den Stoff zu unſerm Wohl.” 
Diejes Wort zielte unverfennbar auf den Kernpunft der Lebens: 
philofophie der Freiheitszeit: auf das VBeftreben, in einladender, 
angenehmer Art zu dem Nüslichen Hinzuführen — utile dulei! 
Um die Mitbürger zu nüßlicher Arbeit zu erziehen, war die 
Wiſſenſchaft gleichjam die höchſte Aufgabe der Gefellihaft und 
des Staates — eine Auffaſſung, die auch in fpäterer Zeit fort- 
gewirkt hat, wenn auch unter veränderten Verhältniſſen. Der 
Verfaffer der foeben angeführten Berszeilen war der, von den 
Zeitgenofjen der Freiheitsepoche aufgezogene, während der folgenden 
Periode von Finlands Aufihwung-Geidichte fo bedeutungsvoll ein- 
greifende, Henrik Gabriel Borthan.'?) 


Il. Schmedens öfonomijhe Entwidelung während der 
Jahre 1772—1800. 

Die Guſtavianiſche Periode hatte von der Freiheitszeit gar 
manche Verordnungen geerbt, die geeignet geweſen waren, Die 
öfonomijche VBorwärtsbewegung zu befördern, aber auch jolde 
Verhältniſſe, welche fie behindern mußten: durchs Erperimentiren 
nad) verjchiedenen Richtungen waren namentlid) die Geldverhältniffe 
jeritört worden. Da ift es nun als ein Berdienft Guſtavs III. 
und jeiner Rathgeber anzuerkennen, durch die Münzrealifation 
d. J. 1776 die Finanzen zurechtgeftellt zu haben. Schon im 3. 
1773 war in Stodholm, zur Erleichterung des Geldumfages und 
zur Förderung der Gewerbe, vornehmlich von Privatleuten, die 
Disfontofompagnie gegründet worden; dieſe wurde nun von ber 
Regierung geftügt. Dazu fam, daß Schwedens Neutralität während 
des nordamerifanifchen Freiheitsfrieges auf feinen Handel und jeine 
Seefahrt günftig einwirkte. Im I. 1787 wird mit Staatsmitteln 
ein Generaldisfontfontor ausgeftattet, welches vorzugsweije Unter: 
nehmungen zur Verbejjerung des Aderbaues zu unterjtügen hat; 
1790 wird ihm gejtattet fünfprozentige Hypothefendarlehen zu 
gewähren, wobei die von Friedrih II. im Jahre 1770 für Die 
ſchleſiſchen Gutsbejiger gegründete erjte moderne Hypothekenbank 
als Vorbild gedient haben mag. 


230 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


Als Bewunderer alles Franzöfiihen ſchloß Guſtav IH. ſich 
der Lehre der Phyliofraten an: der Landbau jei die einzige 
wirkliche Erwerbsquelle. Wiewohl der 1772, bei Gelegenheit der 
Krönung, geitiftete Waſa-Orden beftiimmt war, nit nur im 
Aderbaue, jondern auch im Bergmwejen, in den Künjten und im 
Handel, durd ihre Einfiht und ihren Nutzen Ausgezeichnete zu 
belohnen, jo war doch der Gedanfengang jeines Statutes ein 
durdaus phyfiofratiiher. Hierdurch und durd die verfehlten 
Verfuhe der Freiheitszeit, - fünftlid eine Induſtrie zu jchaffen, 
wurde Gujtav’s III. ökonomiſche Politif bejtimmt, in deren Durch— 
führung er von feinem Finanziminifter, dem Grafen Liljencrang, 
unterftügt wurde, welcher ſchon in der Freiheitszeit unter feinem 
bürgerlihen Namen Bejterman als ökonomiſcher Schriftfteller 
bemerft worden war. Phyſiokratiſch beeinflußt juchte Liljencrang 
nun den Aderbau zu heben, vornehmlid mittel® Durchführung 
des Sfifte (d. i. Arrondirungsumtheilung), aber aud) durd) Be: 
fürderung der Neuanfiedelungen, durch Boden-Erwerbs: und Arrende- 
Erleichterungen. Die Induſtrie ſuchte er einzujchränfen bis zur 
Anpaſſung an des Neiches natürliche Verhältniſſe. Eifrig war er 
im Anlegen neuer Städte, deren Eimwohnern gejtattet war, nad) 
Willen und Können jede Art Gewerbe und Handel zu betreiben. 
Seit dem Jahre 1773 find feine weiteren Unterjtüßungen an 
Dianufakturen und Fabriken ausgereihht worden. Dem Manus 
faftur: Fonds ward im J. 1779 ein neues Gtatut verliehen: in 
der Regel durften nur Lein-, Woll:, Baumwoll- und Seiden;, aud) 
Feinſchmiede-Fabriken unterjtügt werden; Ausnahmen davon fonnten 
nur auf bejondere föniglide Genehmigung gemadt werden. Ein 
bejonderer MWolldisfontfonds wurde im J. 1781 zur Unterjtügung 
des Wollhandels errichtet, der Anfangs 25°, dann nur 15°/o 
und vom Jahre 1786 ab nur 12°, Vorjchuß gab. Von 1784 
ab gab es für die meilten Waaren feine Erportprämien mehr, 
noch Prämien für Seide und Farbgewächſe. Wie in der Freiheits— 
zeit dur) Bevormundungen, jo ward nun durch dieſe Maßregeln 
Mißvergnügen unter den Gewerbeleuten erwedt. Im Jahre 1773 
war jogar verboten worden Hausgebäd zu verfaufen, und nad) 
dem Hinſcheiden der Königin-Wittwe ward den Händlern verboten, 
einen Preisaufichlag auf ſchwarze Stoffe eintreten zu laſſen. 

3u Guftavs III. Regierungsantritt war dev Getreidehandel 


Die Kaiferl. Finländ. Oekon. Sozietät. 231 


freigegeben worden. Die Jahre 1771 und 1772 hatten fchwere 
Mikernten gebradt, und es ward ein Getreideausfuhrverbot 
erlajfen, unter dejten Wirkung, nad) den guten Ernten der Jahre 
1773 und 1774, ein empfindlides Fallen der Getreidepreile 
eintrat; da ward 1774 die Getreideausfuhr wieder geitattet. Im 
Sahre 1775 ward „verfuchsweile” Freihandel für Getreide, Mehl 
und Kartoffeln fürs Neich inkluſive Finland, aber erfl. Bommern, 
1780 aber ganz allgemein fürs ganze Neid geftattet. Später 
wurde zweimal jährlich der Getreidezoll nad) den Preiſen des 
Inlandes regulirt. Im Allgemeinen wurde größere Handelsfreibeit 
gewährt und der Zunftzwang vermindert. Die Gefepgebung über 
Branntweinbrennerei unterliegt mehrfachem Wecjel. Sie wurde 
nad dem Mißwachſe des J. 1772 überhaupt ganz verboten, 1775 
zum Staatsmonopol gemadt; im Jahre 1787, als darüber in 
bäuerlichen Kreiſen Mifvergnügen ſich laut fundgethan hatte, 
wurde der Branntweinbrand für häuslidde Zwecke wieder frei: 
gegeben. 1786 wurden jtaatlihe Kornmagazine errichtet gegen 
die jchwerften Folgen von Mißernten. 1790 erfolgte ein Gejeg 
zur Förderung der Waldpflege und des Forftichuges. 

Je mehr die politischen Freiheiten eingefchränft wurden, um 
jo mehr wurden die öfonomijchen erweitert. Nachdem der Umfang 
des ftaatlihen Bodenbefiges ſich vermindert hatte, wurde die Ueber— 
tragung von Kronsländereien an Private zu vollem Eigenthum 
erheblich gehindert. 1779 ward verfügt, daß jorgiame Bewirth: 
Ichafter von Kronsgütern daran ein Beſitzrecht für 25 bis 30 
Jahre erhalten follten. 1783 ward die in der Freiheitszeit an 
Neuanfiedler für 15 Jahre gewährte Steuerfreiheit widerrufen. 
Der vom Bauerftande im I. 1786 beantragte Widerruf der 
Abgaben:Ablöfungsverordnung vom 3. 1723 war vom Neichstage 
verworfen worden; aber unter dem Drude der Verhältniſſe 
bewilligte der König doc im J. 1789 das Verlangen der Bauern. 
Zugleid) wurde den Inhabern von jchagbarem, von der Krone 
gefauftem, Lande dafjelbe unerjchütterliche Beſitzrecht zugeiprochen, 
wie es den Beligern von Nittergütern zuſtand. Zur Sicherſtellung 
der Bebauer von Kronsgrundjtücden follten fie, jo lange fie für 
diefelben ordnungsgemäß Sorge trugen, fie und ihre Kinder, 
unbehelligt darauf figen dürfen und ohne andere Rechtsbelaſtung, 
als die durchs Abgaben:Ablöjungsgejeg vom %. 1723 bejtimmte. 


232 Die Kaiferl. Finländ. Defon, Sozietät. 


Durch gewiſſe Verordnungen wirkte der König darauf bin, daß 
auch Unadelige Nittergüter erwerben fonnten. Im ſelben Jahre 
ward dem gemeinen Manne in Schweden nnd Finland das Recht 
gewährt, feine eigenen Produkte und die feiner Nachbarn überall 
bin zu verführen und zu veräußern. Den Beligern von ſchatzbaren 
Gütern wurde zugefichert, daß alle ihre Moor: und Unland- 
Aufaderungen für ewige Zeiten frei von allen Abgaben bleiben 
jollten, und der Gutsbefiger möge eine beliebige Anzahl von 
Kindern und Knechten zur Arbeit verwenden. Durch alles das 
wurde des Landmannes Arbeitslujt in hohem Grade belebt. 

Daß Guftavs III. jpäteren Negierungsjahre in öfonomijcher 
Hinfiht weniger glüdlih waren, beruhte einmal auf den Miß— 
ernten der Jahre 1781— 1786, ſodann auf den darauf folgenden 
friegerifchen Creigniffen. Als Liljenerang im Jahre 1786 das 
Finanzminijterium quittirte, befand fih der Gtaatshaushalt in 
weniger günjtiger Lage, als bei feinem Gejchäftsantritte im J. 
1773. Bemerfenswerth ift, daß, wie auf dem ökonomiſchen Gebiete, 
jo auch allmählih in der ſchönen Litteratur und in der Straf- 
gejeßgebung der philanthropiihe Zug der Zeit fi) Geltung ver: 
ihaffte. Dazu mögen die von den fchweren Nothjahren herbei- 
geführten Leiden beigetragen haben; unverkennbar aber waren 
Dabei aud) die Rouſſeauſchen Ideen, welche die franzöfiiche Revolution 
mitverurfaht haben. Wie eifrig man auch unter Gujftavs 111. 
Negierung, namentlich während deren erjtem Abſchnitte, der 
öfonomischen Fragen fich angenommen hat, jo erlahmten doch in 
Folge der politiichen Verhältniſſe die bezüglichen Diskuſſionen, 
jobald fie die ſtaatlichen Intereifen berührten. Andererfeits trug 
des Herrichers Vorliebe für litteräriihe Dinge dazu bei, das 
Intereſſe für MWiffenichaftlichfeit und für praftiihe Abhandlungen 
aufrecht zu erhalten. Oekonomiſche Arbeiten von bleibendem Werthe 
erichienen ſowohl in Zeitichriften, deren Zahl merklich wuchs, wie 
auch in bejonderen Schriften. Unter dieſen find bejonders 
bemerfenswerth des Anders Chydenius Auffäße über die Berech— 
tigung zum Handel mit Landgütern, und über die Verbefferung 
der Lage der dienenden Klaſſen. Diefe Schriften zeigen, daß 
Chydenius ih nicht von Theorien, fondern von dem MWuniche, 
beobachteten Mißftänden abzuhelfen, leiten ließ. Im Gegenjage 
zu den Phyfiofraten war er der Meinung: nicht die Natur fei Die 


Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 233 


einzige Produftivfraft, fondern nur diejenige Arbeit jei produftiv, 
melde darauf ausgehe, „materiellen“ Bedürfniffen zu entſprechen. 
Wie hoch Chydenius von jeinen Zeitgenoijen geihäßt wurde, geht 
aus einem Briefe des Anders Schönberg hervor: feiner unferer 
übrigen PBrojafchriftiteller gleiche ihm an Stärke und Feuer bes 
Genies; ſelbſt den abgelegenjten Orten Finlands biete er geijtige 
Nahrung; er befige Weltfenntniß und fei dadurch unvergleichlich. 

Auf den Univerfitäten wurden fortgefegt öfonomische „Verſuche“ 
in Form von Disputationen veröffentlicht, während die rein 
willenichaftlihen Studien in den Dintergrund traten. Die Schulen 
geriethen in Verfall, jo daß es den Univerfitäten jchwer wurde, 
die nöthige Zahl von Beamten und Predigern zu liefern, und zu 
ihrer Förderung geichah wenig oder nichts; und ebenjo ſtand es 
mit der Volksſchule. Die Wiffenichafts-Afademie fuhr fort, als 
eine Art Aderbau:Hohichule zu fungiren. Von einer Privat: 
perjon erhielt fie im J. 1773 eine Schenfung von 50,000 Silber: 
thalern zu Prämien für Aderbau, Viehzucht und Hausinduftrie. 
Wie aus zahlreichen Beilpielen zu erjehen, betrafen ihre Preis- 
fragen zumeijt öfonomijche Dinge. In Göteburg wird im Jahre 
1773 eine Afademie für Wiſſenſchaft und ſchöne Litteratur geftiftet 
und dieſem Beijpiele folgen viele andere Gejellichaften. Eine 
wirflihe öfonomijche Sozietät war im Jahre 1767 errichtet worden, 
nämlih die „Patriotiſche Geſellſchaft,“ — urfprünglid als 
eine heimliche DOrdensverjammlung, die aber beim Aufſtellen von 
Breisfragen ihre Anonymität aufgeben mußte. Zuerſt ftand fie 
in engem Zuſammenhange mit dem Orden „Bro Batria,“ mwelder 
geitiftet worden war „zum Verbreiten von nützlichen Künjten und 
zur NAufmunterung von Haushalt, Aderbau und Gewerbe.“ Die 
beiden Gejellichaften trennten fih im Jahre 1772, und die „Pro 
Patria“ wurde fait ausichlieglih zu einer Wohlthätigkeits— 
Geſellſchaft; unter Guſtav III. hat fie kräftig mitgewirkt, die 
Folgen der Mikernten zu mildern. Die Ziele der „PBatri- 
otiihen Geſellſchaft“ waren weiter geitedt: ihre Preisfragen 
galten jolden Gegenftänden, welde dem Handel, dem Aderbaue 
und anderen Gewerben Nuten braten. Sie ermunterte Künitler 
und fleißige Landwirthe. Ihre Mittel wurden durch die Nezeptions- 
Abgaben aufgebradt. Ihre mit des Königs Bildniß geihmüdten 
Medaillen wurden vergeben für Fleiß im Aderbau, für lange 


234 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


und treue Dienſte, für nützliche Erfindungen in Ackerbau und 
Gewerbe, für edle Thaten, für Preisfragen-Beantwortungen und 
für andere verdienjtliche Einfendungen. In den Jahren 1770— 1782 
gab fie ihre „Verhandlungen,“ 1776-1789 ihr „Haushalt: 
Journal” heraus und 1790—1813 ihr „Neues Journal für 
den Haushalt.” Seit Stiftung der ſchwediſchen Aderbauafademie 
im Sabre 1811 veränderte fich theilweiſe die Wirkſamkeit der 
Sejellichaft; ihr gegenmwärtiges Statut ſtammt aus dem J. 1830. 
Nicht wenige ihrer Mitglieder waren in Finland zu Haufe. 

Die jhon im Jahre 1746 geplanten und verordneten, aber 
nur an wenigen Orten realifirten fommunalen Aderbaugejellihaften 
wurden nun vom Kanzleirath Anders Schönberg mieder auf: 
genommen, theils um die MWirthichaft zu fördern, theild um 
politiichen Freunden Beſchäftigung und die Gelegenheit, ſich hervor: 
zuthun, zu gewähren. Er wollte zu dem Zwede eine allgemeine 
ökonomiſche Verſammlung im Gefleborg-Län veranjtalten, aber jein 
‘Plan wurde verworfen, angeblid) weil dem Neichstage von 1775 
ein bezüglicher Vorſchlag vorliege, in Wirklichfeit aber, weil 
befürchtet wurde, ſolche Gejellichaften fönnten des Königs Abſichten 
durchkreuzen und feinen Kompetenzen präjudizirlid; werden. Gtatt 
dejjen wurde ein allgemeiner Befehl erlajjen über Erneuerung des 
föniglihen Briefes vom Jahre 1742, wonad) vielerorts Fleinere 
öfonomijche Gejellihaften eingerichtet werden jollten. Der Antrag 
des Jahres 1776 betreffend die Einrichtung von öfonomijchen 
Gejellihaften für ganze Läne oder Provinzen wurde vom König 
nicht bejtätigt und damit waren auf längere Zeit öfonomijche 
Gejellihaften für größere Gebiete unmöglich gemadt. (Ausnahme: 
die im J. 1791 für Oottland gegründete Oekonom. Gej.) 

Die Vormundidhaftsregierung 1792— 1796 it in ökonomiſchen 
Dingen gleichbedeutend mit einem Stilljtande. Immerhin wirkte 
Liljenerang als Präſident des Kommerzfollegs in freifinniger 
Richtung. 1792 ward der Tabafimport erlaubt; 1784 wurden 
alle Erport: und Wollprämien eingezogen; 1796 wurde auf Die 
Klage wegen jchwierigen Abjages der Wollmaaren geantwortet: 
man folle jie in derjelben Güte wie die ausländijchen herjtellen; 
1793 wurden Klonjulate zur Förderung des Außenhandels errichtet; 
im jelben Jahre ward ein ganz neues Waldgejeg erlajlen; 1797 
und 1798 Verbote gegen Ausfuhr von Sparren und Spieren und 


Die Kaiſerl. Finländ. Teflon. Sozietät. 235 


gegen Verwendung von Bauholz zum Theerbrennen; 1794 eine 
Vorordnung, die bejtimmend war, dem unter Guſtav III. überhand 
genommenen Lurus zu jteuern. 

Guſtav IV. Adolph, der 1796 zur Regierung gelangt war, 
manifejtirte jeine Auffallung in den, auf dem im Jahre 1800 
abgehaltenen Neichstage von Norrköping erlajjenen, „Punkten.“ 
„Das Uebergewicht des Neichshandels jolle zur Richtichnur dienen, 
und demgemäß feien 1) aus dem Wuslande nur die unent- 
behrlichiten Gegenftände zu beziehen, die daheim nicht geliefert 
werden fünnen; 2) die MWaarenproduftion und -Veredelung jei 
möglichit hoch zu erheben.” Zu dem Zwede wurden Einfuhrverbote 
erlajjen und hohe Einfuhrzölle angeordnet und wurden zur An- 
legung von Fabriken bedeutende Freiheiten gewährt. 1799 wurde 
geftattet, überall Fabrifen zur Berjtellung von Woll- und anderen 
Bekleidungsftoffen anzulegen; fontrafignirt war der Erlaß von dem 
jpäter in öfonomifchen Dingen jo einflußreihen Staatsjefretär 
Matthias Nofenblad; zugleid wurden für Erridtung von 
mechanischen Spinnmajchinen bedeutende Vortheile in Ausficht 
geitellt. Korn und Salz jollten hinfort aud) durch ausländijche 
Sahrzeuge angebracht werden dürfen. Die Einfuhr von Eijen- 
waaren aber ward unterjagt. Die 1787 angeordnete Zolltare 
wurde 1799 durch eine neue erjegt. Maßregeln gegen den 
Schleihhandel wurden ergriffen, und außer einer Konfursordnung 
noch andere Negeln erlajjen zur Förderung des Handels und der 
Schiffahrt. Bezeichnend für Guftav IV. Adolph's Sinnesart find 
feine Worte bei Unterzeichnung der erjten gewichtigen öfonomifchen 
Verordnung vom J. 1798 über Salpeterbereitung: jeine Regierung 
jolle jelbftherrlich, aber in philanthropiichem Sinne, geführt werden... 

Der unter Guftav Ill. auf die ökonomiſche Litteratur aus: 
geübte Drud ward in den darauf folgenden Zeiten nicht gemildert, 
jo daß es fein großes Jntereije bietet, darüber zu berichten. Eine 
zu Anfang des Jahres 1796 in Stodholm veröffentlichte Bekannt: 
madhung über das Erjcheinen einer neuen öfonomijchen Zeitichrift 
jagt nit ohne Aerger (ekäl): „Unjere neuerdings erjcheinenden 
periodiihen Schriften regaliren das Publikum gar jparjam mit 
ſolchen Dingen, welche unjere Bedürfniſſe beſonders nahe angehen; 
einen um jo größeren Vorrath bieten jie von Geſchichtchen, 
Gedichten, Einfällen und Anekdoten.” Am bemerfenswerthejten 


236 Die Katjerl. Finländ. Dekon. Sozistät. 


war nocd die in den Jahren 1797—1801 vom Patrioten Georg 
Adlerjparre herausgegebene: „Auswahl (läsning) aus ver: 
jchiedenen Materien“; fie brachte u. N. eine Ueberſetzung von 
Ad. Smithes „Nationalreihthum,” ferner Ueberjegungen aus 
Hume’s Schriften und eine Wiedergabe von Rouffeau’s „Ab: 
handlung über den Staatshaushalt,” — alles zur Bekämpfung 
der merfantilen und phyfiofratiichen Einjeitigfeiten, und zur Hervor: 
bebung der Lehre: Freihandel, freie Konkurrenz, menjchliche Arbeit, 
das jeien die wahren Neichthumsquellen; und bHinfichtlih des 
Aderbaues jolle die Regierung fih auf Herjtellung günftiger 
Bedingungen für freie Wirkſamkeit bejchränfen, wie 3. B. guter 
Belegenheit zum Erwerben theoretiicher und praftiicher Kenntniſſe 
im Gewerbe, guter Verkehrswege, zweckmäßiger Befigumtheilungen 
u. ſ. w. Bei Hofe galt Adlerſparre als ein Nabulift und feine 
Zeitichrift wurde jpottend „Auswahl aus brennbaren Materien” 
genannt. Die Zeitjichrift brachte Beſchwerden über Belaftung des 
Aderbaues durch MWegebau und Schiekeftellung; fie wirkte dahin, 
daß alles Kronsland zu Privatbejig aufgelaſſen werde; daß der 
Aderbauer zum uneingeſchränkten Boden-Eigenthümer werde; daß 
zwifchen dem Bauer und dem Knechte ein bejleres Verhältniß 
hergejtellt werde; fie brachte Unterweifungen in der Fruchtwechſel— 
wirthichaft, im Aufführen von Lehmgebäuden u. j. w. (der Biograph 
von Anders Chydenius, E. G. Palmen, meint diejer habe feine 
Hand in Adlerjparre’s Zeitichrift gehabt.) 

Während die Regierung fortfuhr, die Gelehrtenfchulen und 
die Volfsichule zu vernachläffigen, richtete die Zeitjchriftenlitteratur 
auf dem pädagogiihen Gebiete die Aufmerfiamfeit auf des Aus- 
landes philanthropiihe Bewegung; fie ließ fich dabei von dem 
Wunſche leiten, auf den ganzen Gang des materiellen Fortichrittes 
der Maſſen und auf deren geiftige Aufklärung günftig einzumwirfen. 
In diefer Beziehung verdienen erwähnt zu werden die Vorjchläge 
der Gejellichaft „Pro fide et christianismo*, welche im Sabre 
1791 in Stodholm gejtiftet worden war, in der Nbficht, dem 
Verfalle, der dem Chriſtenthume drohe, zu wehren. Im Jahre 
1798 wurde von der Geſellſchaft an alle Konfiftorien die Bitte 
gerichtet, fie mögen zur Einrichtung von Kirchſpiels-Wanderſchulen 
beitragen, welche im Lejen, in Religion, im Schreiben und Rechnen, 
einfadher Buchhaltung, Heimathsfunde und Geographie Unterricht 


Die Kaiſerl. Finländ. Delon. Sozietät. 237 


ertheilen follten. Der Borfchlag, welcher von einer zu befürdhtenden 
Emanzipation der Volksſchule von der Priefterichaft abjah, ift in 
fofern bemerfenswerth, als zum erjten Male von ihm auf Unter: 
weiſung des gemeinen Mannes in foldhen Kunftfertigfeiten, welche 
den Gliedern der Geſellſchaft direkt nütlich jeien, hingewirft worden 
ift. Obſchon der Vorichlag ohne direktes Nefultat blieb, jo hat 
er doch in gewiſſem Maße die öffentliche Meinung beeinflußt.!?) 


IV. Finlands ökonomiſche Entwidelung während der 
Jahre 1772—1800. 

Auf Finland hat Guſtav III. ganz bejonders jeine Auf: 
merfjamfeit gerichtet. Schon in den Freiheitszeiten war es nicht 
ungewöhnlich geweien, daß öfonomijche Verordnungen der Negierung 
einzig und allein Finland gegolten hatten: unter Guftav III. geſchah 
es oft. Es lag ihm daran, die Ditgrenze in jeder Beziehung zu 
verftärfen, und dazu auch dem, ihm nicht unbekannt gebliebenen, 
Mißmuthe gegen die Zentralregierung den Grund zu entziehen ; 
und feine, auf die Vertheidigung des Landes gerichteten Abfichten 
begegneten, mwenigitens anfänglich, der Zujtimmung der Einwohner. 
Noch merklicher aber hat Guftav III. für den ökonomiſchen Fortſchritt 
des Landes gearbeitet. Von verichiedenen Seiten find in den 
1770:er Jahren dem König bezügliche Vorſchläge gemacht worden, 
welche u. N. die dringende Nothiwendigfeit des Storffift (i. e. 
der General: Arrondirungs:Umtheilung) betonten, wie fie auch 
Ichließlih durchgeführt worden ift, — ſowie der Gründung neuer 
Städte, der Verbeſſerung der Verfehrsftraßen, der Theilung der 
allzugroßen Läne, der Errichtung neuer Gerichtshöfe u. |. w. 
Am bemerfenswertheiten darunter ift des Fortififations-Obriften 
Nordencreug „Projekt zur allgemeinen Wirthſchafts-Verbeſſerung 
in Finland.” Alles das hat der König in fein Programm auf- 
genommen.!?) 

Mährend einer feiner Anweſenheiten in Finland, im Jahre 
1775 unterzeichnete der König in Abo eine Verordnung, betreffend 
die Storjfiftet-Theilungen in Finland; damit wurde eine wichtige 
Prinzipienfrage erledigt. Ueber die ausgedehnten Wald- und 
Debelanditreden im Landesinnern hatte der gemeine Dann bis 
dahin frei verfügt. Die Dorfichaften und Kirchſpiele in Defter- 
botten, Savolafs und Karelien bejaßen jo ausgedehnte Gemeinde: 


238 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 


meiden, wie fie weder nothmwendig noch billig waren. Den Anbau 
in größerem Stil zu fördern, ftellte die neue Verordnuug feit, daß 
nah den Auffaffuugen, die ſchon unter Guſtav Wafa giltig geweſen 
waren, die ausgedehnten Gemeindeweiden der Krone zugehörten, 
und dab im Storffift jeder Mantal — (das Analogon eines liv- 
ländifchen „Hakens“) — eine gewiſſe Anzahl von Tonnlandarealen 
erhalten, der Ueberſchuß aber zu Neuanfiedelungen refervirt werden 
follte. Diefes Vorgehen wurde recht allgemein als ein Eingriff 
in die Eigenthumsrechte angeſehen, und rief auf vielen Seiten 
Mikvergnügen hervor. Das Net, die Mantals-Arealgröße zu 
beftimmen, wurde den örtlichen Befehlshabern des Königs über: 
laſſen. An Defterbotten wurde, je nach der Qualität des Bodens, 
der Mantal auf 600—1200 Tonnland feitgefegtt. Am nächlt: 
folgenden Tage ward die Verordnung, betreffend die Befteuerung 
von Savolafs und Sarelien erlallen. Das Verbot des Rödung- 
und Küttis-Brennens wurde erneuert. Um die Einwohner dieſer 
Landestheile zu ftändigem Ader: und Wieſenbaue zu vermögen, 
wurde ihnen für neue ftändige Weder volle und für neue jtändige 
Wieſen halbe Schapfreiheit zugefichert; für Neuanfiedelungen Steuer: 
freiheit auf 15—20 Jahre. Da die ungleich veranlagteu Landes: 
theile auch ungleiche gejegliche Beitimmungen erforderten, jo wurden 
auch zahlreiche Zufag-Verordnungen nothiwendig. 1796 erflärte ein 
Königliher Brief, daß die Storffift:Verordnung für Aland feine 
Geltung haben folle: dort folle es bei den Beſtimmungen vom J. 
1762 fein Bewenden haben. 1777 ward beitimmt, die für Dejter: 
botten feſtgeſetzte Mantalsgröße ſolle auch für das übrige Finland 
gelten. Es erfolgten auch Beitimmungen zur Verminderung des 
in Folge der Ausicheidung bes „Weberflußlandes” entjtandenen 
Mißvergnügens, 3. B. 1783: im Kuopioſchen folle das Mantal 
600-1700 Tonnland betragen; nah dem Mißwachs von 1787 
wurden in Savolats und Karelien Nödungen unter gemiljen 
Bedingungen geftattet. Etwa um diejelbe Zeit wurde zur För- 
derung der Storjfift:Mejfungen in Savolafs und Karelien jährlich 
3000 Speziesthaler bemilligt, während in den anderen Theilen 
Finlands die Gutsbefiger allein die bezitglichen Koften zu bejtreiten 
hatten; ja i. J. 1786 wurden zu demſelben Zwed für ganz Finland 
15,000 Spezies:Reichöthaler ausgeworfen. Zugleich ward beftimmt, 
daß Beſitzer von fchagbarem Lande, die ih für den Anbau von 


Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 239 


„Ueberſchußland“ entichieden hatten, das Necht haben Sollten, diefes 
als jchagbares Land zu bejtgen, und daß fein Areal, beim Vor: 
fommen von „Impedimenten,“ nad Prüfung um je 100-—-300 
Tonnland vergrößert werden follen. 1779 ward für Dejterbotten 
bejtimmt, daß von ſolchen Wiefen, die nicht alljährlich abgeerntet 
werden können, der vierte Theil außer Rechnung bleiben volle. 
Damit aber war nicht immer den Ansprüchen genügt. So hat 
3. B. der Landshöfding von Uleaborg darum nachgeſucht, daß in 
feinem Län der Mantal auf 800—2000 Tonnland angeſetzt werde: 
in der ablehnenden Antwort heißt es: „alle Nenderungen würden 
Ihmwer empfunden...“ Im Wala-Län jtellt der Landshöfding vor: 
dort follte der Mantal 1700— 5100 Tonnland umfaſſen; Antwort: 
es folle damit wie in Kuopio gehalten werden. Unter der Regierung 
Guftavs IV. Adolphs wurden zu den Zweden des Storjfift in 
Finland jährlih 6000 Neichsthaler — im übrigen Schweden im 
Ganzen nur 900 Reichsthaler — verwendet. 1783 waren, zur 
Befeitigung von Mißbräuchen, ausführliche Landmeſſungs-Vor— 
Ihriften erlalfen morben; nichtsdeftoweniger hemmten manche 
Scwierigfeiten den Fortgang des Storffift; was aber zur Aus: 
führung gelangte, förderte den Aufihwung des Aderbaues ganz 
anfehnlih. 1786 waren auf „Weberflußland“ bereits nicht weniger 
als 2000 Neuanfiedelungen entitanden; in den Jahren 1777—1797 
find nicht weniger als 2000 neue, zur Steuer herangezogene, 
Mantale hinzugefommen, was um jo bemerfenswerther ijt, als in 
diefer Periode Mißwachsjahre nicht jelten geweſen find, und zwar 
haben darunter die Neuanftedelungen in den inneren Zandestheilen 
am fchmwerften zu leiden aehabt. Bei Gelegenheit von Mikwachs 
wurde der gemeine Mann gemöhnlih von unmittelbarer Rück— 
jahlung der aus den Kronsmagazinen erhaltenen Kornvorſchüſſe 
befreit, und die Zollfäse für ausländiiches Getreide wurden 
ermäßigt oder gar für Finland auf die Hälfte angelegt. 

Von großem Einfluffe auf Finlands Aderbau iſt ein, auf 
die bereits erwähnte Abgaben-Ablöfungsbeitimmung vom J. 1789 
bezüglicher, Erlaß vom 9. 1790 gewefen, wonach zur Ablöfung 
in Finland die Erlegung von nur drei Yahresrenten genügte. 
Die Folge davon war, daß in den nächiten Jahren ſehr viele 
folder Ablöfungen ftattfanden —: eine ganz andere Luſt zum 
Anbaue machte ſich geltend! 


240 Die Katjerl. Finländ. Defon. Sozietät. 


Der Plan Liljencerang’s, Freijtädte ins Leben zu rufen, fam 
zur Ausführung: zuerft wurden an Tammerfors 1779 Stadtrechte 
ertheilt mit voller Gewerbefreiheit, dann an Kuopio 1782, an 
Kaskfo 1785; Tamaftehus war 1780 an einen anderen Ort über: 
geführt worden, mit zwanzig reijahren. 

Im Jahre 1776 war die Zahl von Finlands Länen (Pro- 
vinzialverwaltungsbezirfen) von vier auf ſechs gebracht, mit neuen 
Arzt: und Landmeſſerſtellen. Zugleih wurde in Wafa ein neues 
Hofgeriht eröffnet und die Zahl der Lagmanns: (oder Sreis-) 
Gerichte wurde vermehrt. Neue Landſtraßen wurden angelegt, die 
Dedemarfen zu beleben, namentlich die wichtigen Trafte von Waſa 
über Saarijärvi nad) Kuopio, und von Illeaborg nad) Kuopio. 
Durch einen Kanal wollte der König eine Verkehrsſtraße zwiſchen 
Tamwaftehus und Tammerfors heritellen. Manche Arbeiten find in 
der Folge eingejtellt, die Unternehmungen aber nicht aufgegeben 
worden. Demnächſt iſt eine Anzahl von Stromregulirungen und 
:reinigungen ausgeführt worden, theils um Verkehrswege zu Schaffen, 
theils um durd; Eeeabzapfungen neue Anbau-Marfen zu geminnen. 
Der Einfluß aller dieſer Maßregeln auf das Anwachſen der Be- 
völferungszahl war ein merklicher. 

Die Fabrifinduftrie ward zu jener Zeit faum in nennens: 
werther Weile gefördert. Einige neue Eifengruben wurden eröffnet. 
In Mariefors wurde 1795 ein neues Eifenwerf errichtet; vorher 
ihon war ein ſolches 1778 mit „donnerndem“ Cinmweihungsfeite, 
u. A. mit einer Rede von Anders Chydenius, eröffnet worden; 
und 1798 desaleichen bei Dejtermyra... Die Seefahrt aber und 
zugleich der Sciffsbau gingen rajdh vorwärts. 1777 wurde den 
Städten Dejterbottens Stapelfreiheit verliehen; 1800 wurde ber 
neue Porkkala-Leuchtthurm fertiggeitellt. 

Die unter Guftav III. erlaffenen, der Landwirthichaft Jo 
vortheilhaften, Verordnungen hatten in Finland ganz allgemein 
ein zunehmendes nterefje an diefem Gewerbe erwedt. Mehr 
als vorher gaben fid) ihm nun Standesperjonen, namentlich Beamte 
aller Art, hin. Der Preis für den Grund und Boden ftieg in 
Finland, und die Getreidepreife hielten fi, dank den Anfäufen 
der Krone für ihre Magazine. Vorher hatte Finland nicht genug 
Getreide für den eigenen Bedarf hervorzubringen vermodt. Im 
Jahre 1795 aber hat Finland, nad) den Angaben von Tuneld’s 


Die Kaijerl. Finländ. Delon. Sozietät. 241 


Geographie, 45000 Tonnen Getreide erportirt, während aleichzeitig 
Porthan den Jahreserport mit 150000 Tonnen beziffert. Die 
Briefiammlungen jener Zeit bezeugen das große Intereſſe an der 
Landwirthichaft, und namentlid an Urbarmachungen. Auf einer 
Rundreife in Finland begriffen, fchreibt 1794 Porthan an Calonius 
von Uleaborg aus: im Waja-Län fei der Eifer für Urbarmadungen 
beionders jtarf, nicht nur bei Standesperjonen, fondern nad) deren 
Beilpiel auch beim gemeinen Manne. Dieſer beichäftige ſich 
namentlid mit Entwällern und Noden von Mooren, auf denen 
er nad) einigen lohnenden Noggenernten jtattliche Wieſen gewinne, 
Die Glieder und die Beamten des Vofgerichts feien von dem Eifer 
angeltedt worden; weſſen Mittel zum Ankaufe eines eigenen Gutes 
nicht ausreichen, der nehme die Dioore Anderer auf unter gemwillen 
ausbedungenen Freijahren und Bedingungen. Pfarrer Gabriel 
Ring zu Karis jchreibt 1795 an Kammerrath U. I. Winter in 
Abo nad) dejlen bei ihm abgejtatteten Bejuche: „Ich finne darauf, 
ob ich wohl jo glüdlich jein werde, meinen Herrn Bruder für 
einige Sommertage hierher zu befommen, nicht zu feiner fplendiden 
Bewirthung, fondern um ihn zu ermüden mit Spaziergängen zur 
Befihtigung aller meiner fleinen Anlagen, welde nicht er: 
Ihönerungen dienen, ſondern zumeift der Urbarmachung von 
Mooren, welde unjeres Landes ſcheußlichſten Theil ausmachen, 
aber vermuthlicd zu feinem nüglichiten werden follen. Mein Ein: 
gepfarrter, der Gutsherr Linder, ijt eben jolch eine Moorſau mie 
ih; er treibt aber im Großen, was ich im Kleinen verſuche; er 
hat einen volleren Beutel; aber er prunft mit nichts anderem als 
mit Bauten und mit Landwirthichaft.“ Aehnliche Daten werden 
anderweitig nachgewiejen. 

Vielfach werden Klagen laut über den Mangel an Nder: 
Arbeitern, auch über den langjamen Fortgang des Storifift. 
Ring 3. B. Ichreibt an Winter aus Karis 1798: „Hier ift es 
ſchlimm mit dem Dienjtvolf; das geht alles zur Eee. Wer fann 
da hindern?! Wie fann man helfen? Wie das Volk bleibend an 
den Aderbau feifeln?“ (Es folgen Gedanfen über Abhilfe-Maß— 
regeln.) Die Gouverneure wetteifern im Fördern der Land: 
wirthichaft. Unter ihnen ragt J. 3. Carpelan (1785— 1800) 
in Uleaborg hervor, durd) feine Wirkjamfeit fürs Zujtandefommen 
von Kirchipielsmagazinen, für Feuerverſicherungen, durch) — 


242 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 


für landwirthſchaftliche Verbeflerungen, durch Eorge für Viehzucht 
und Hausinduftrie. Er ließ in 600 Gremplaren eine finnifch 
verfaßte Schrift vertheilen: „Nath und Wegweiler im Aderbau, 
im Nufführen und Unterhalten von Gebäuden u. f. w.“ Porthan 
berichtet 1796 an Galonius: der Landshöfding von Willebrand 
in Abo gehe mit der Abſicht um, Garpellans Beiſpiel zu befolgen 
z. B. durch Herausgabe eines Haushaltbudes für den gemeinen 
Dann in finniiher Sprade. ©. W. Carpelan, Landshöfding 
in Kuopio (1785— 1791) förderte fräftig Stromreinigungen und 
die Storjfift:Arbeiten und führte fchwediiche Pflüge ein. 1787 
hatte er den gemeinen Mann bewogen, in der Trivialihule in 
Kuopio Unterriht in der Landwirthſchaft einzuführen. Zufolge 
des Krieges ward das aber nicht durchgeführt. Daß die Land: 
wirthſchaft erhebliche Fortichritte machte, wird duch das Anwachſen 
dev Bevölferung bemwiefen. Am Jahre 1795 hatte fie 760965 
Köpfe betragen; im J. 1800 zählte man deren ſchon 834829. 
In fünfzig Jahren hatte fich die Volfszahl verdoppelt.“) 

Der von einzelnen Privatperlonen ausgegangene Aufſchwung 
auf dem öfonomilchen Gebiete wurde nun von der Regierung 
nicht mit ganz günftigem Auge betrachtet, und das wirkte gewiſſer— 
maßen mie ein Hemmſchuh auf die Entwidelung ein. Den 
Mittelpunkt für die immer deutlicher hervortretende planmäßige 
Arbeit zu Gunſten des Landesaufihiwunges bildete beftändig Die 
Univerfität. Cine gewiſſe Reaktion gegen die einfeitige Beichäf: 
tigung mit Defonomie wird durch die 1782 aufgejtellte Magijter: 
Trage bewiejen: „Ob der afademilche Unterricht ſich auf ſolche 
Kunjtfertigfeiten zu beichränfen habe, welche unmittelbar die Dienjt: 
oder Gemwerbeangelegenheiten betreffen.” (Die Antwort lautete ver: 
neinend.) Auch jagt J. G. Bergmann im Jahre 1783 in der 
„Zeitung herausgegeben von einer Gejellichaft in Abo“ über 
Kalm’s und Gadd's Verſuche: „...einträglichere und nothiwendigere 
Arbeiten könnten uns beichäftigen.“ Die in den 1750 und 1760:er 
Jahren gehegten Hoffnungen, aus Finland ein Holland zu machen, 
waren durch manche verfehlte Verjuche gedämpft worden, und die 
jegt folgenden Arbeiten bauten meiſt auf feiterem Boden. Kalm 
war 1779 gejtorben; feine Arbeiten hatten doch große Bedeutung 
gehabt. Gadd, mit Chemie und Mineralogie beichäftigt, zog in 
die afademijchen Abhandlungen auch Fragen von praftiider 


Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 243 


Bedeutung hinein, 3. B. 1781 Sumpferzbenugung, 1782 Rartoffelbau, 
1785 Bedürfniffe der Seefahrt, 1786 Seeabzapfungen, 1786 Lein— 
und Hanfbau, 1792 Waldwirthichaft u. j. w. 1781—1783 führte 
er auf Regierungskoſten eine Unterfuchungsreife in den füdlicheren 
Zandestheilen aus. Auf Grund feiner Beobachtungen klagte er, 
da die Städter ihr Land noch nad) Bauernart benußten, jtatt 
„nützliche und notwendige Plantageprodufte hervorzubringen.“ 
Im Gegenjage aber zu Gadd's Auffallung wurden die neu an: 
gelegten Städte von der Verpflihtung „Plantagen“ anzulegen, 
befreit. Gadd's wichtigfte Arbeit ift die 1773-—-1774 in drei 
Theilen erjchienene Schrift: „Verſuch zu einer ſyſtematiſchen An- 
leitung in der ſchwediſchen Landwirthſchaft, angepaßt dem nördlichen 
Klima des Reiches und gegründet auf Verſuche und Beobachtungen 
in Naturgeihichte, Chemie, Phyſik und allgemeiner und bejonderer 
Defonomie.” Ein moderner Verfaller (Göſta Grotenfeld: die 
Landwirthichaft in Finland,“ 1896) jagt von dem Buche: „Die 
erjte auf Finlands Landwirthichaftsiehre ſich beziehende Schrift 
enthält eine große Anzahl von Kapiteln, die man noch heute mit 
Vergnügen und Nutzen lefen fann.” Darin finden ſich werthvolle 
Nachrichten über den Zuſtand der finländiihen Landwirthſchaft 
noh in den 70:er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Gadd's 
Vorfchläge find mehr auf Theorien als auf Erfahrungen gegründet. 
Energiſch proteftirt er gegen das Küttisbrennen auf Hochwieſen 
und auf Gras: und Bradeland, und dringend empfichlt er Futter: 
anbau, namentlich den Rothklee, der damals in Finland eingeführt 
wurde. Die geringe Verbreitung des Kartoffelbaues iſt jchon 
daraus erfichtlih, daß Gadd ihn 1782 nur zur Aushilfe in 
Mißwachsjahren empfiehlt — obſchon bereits im J. 1773 der 
Kapellan Arel Zaurell in einer jchwedifch und finniſch edirten 
Schrift „auf Grund langjähriger Erfahrung” ihn empfohlen und 
durch jein Beijpiel gefördert hatte. Bon dieſer Schrift war im 
%. 1776 durch die Batriotiiche Gejellichaft ein Neudrud veranftaltet 
worden. Schon 1774 hatte die Wifjenichaftsafademie die Kartoffel 
zum Branntweinbrande empfohlen. Dennoch war nody im Jahre 
1776 von Erif Lenquiſt in der „Zeitung herausgegeben von 
einer Gejellihaft in Abo” die geringe Verbreitung der Kartoffel 
fonjtatirt worden, obichon auch die Kalender auf ihren Anbau 
hingewieſen hatten und er namentlich den angefiedelten ne) 


244 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietöt. 


Soldaten anempfohlen worden war. 1793 erjcheint noch eine andere 
Schrift über den Kartoffelbau vom Kommerzrath Anders Liffander. 

Kalm’s Nachfolger Kreander (1779— 1792) hat feine 
Spuren feiner Wirkſamkeit hinterlaffen. Deſſen Nachfolger C. N. 
Hellenius hat fih zwar mit öfonomilchen Fragen beichäftigt, 
aber nicht eben in praktiſchem Einne; er vertritt 3. B. ein Syſtem 
von Aderwirthichaft ohne Wieſen, diverje Hybridenzuchten, Spargel: 
behandlung zum Wintergebraude u. ſ. w. Seine Schriften haben 
nur durch ihre dejfriptive Tendenz einigen Werth. Noch andere 
Univerjitätslehrer mit öfonomilchen Bejtrebungen verdienen genannt 
zu werden: der Mediziner Gabriel Erik Haartman (von 
1784 ab) und Joſeph Pipping (von 1789 ab), welche beide 
für Verbreitung der Podenimpfung eifrig gewirkt haben; aud) 
Gabriel Bonsdorff, ſeit 1786 Naturgeichichte und Veterinär: 
wiſſenſchaften vertretend; der Chemifer Johann Gabdolin 1785 
ertraordinärer und 1795 ordentlicher Profeſſor. Im Konfiftorium 
der Univerfität tauchen ökonomische Fragen häufig auf in Anlaß 
der Verwaltung ihrer zahlreichen Landgüter; fie war aud Theil: 
baberin an Eijengruben. In den Jahren 1792—1795 werden 
zahlreiche Magiiterfragen aufgeftelli über öfonomilche Gegenjtände 
und auch über Vervolljtändigung des Verfehrswege-Nekes. 

Die meilten der damaligen Profeſſoren waren Gutsbefiger 
und trieben die Landwirthichaft praftiih. Unter den Nicht: 
afademilchen find als Arbeiter auf dem ökonomiſchen Gebiete die 
folgenden PBerjonen zu nennen. Johann Borgitröm, der in den 
1780:er Jahren in Borga einen botanischen Garten gründete, 
dann Apotheker in Uleaborg und jpäter in Abo wurde; Johann 
Sulin, der auf manchem Gebiete wirkſam war; Landmeſſer Hans 
Henrif Aspegren, der 1772—1779 am Storjfift im Kirchipiel 
Bedersöre arbeitete und 1777 eine Schrift „Pedersöre landtman” 
herausgab; Superfargör Beter Johann Bladh, der auf jeinem 
Gute Benvif in Nerpes Wiejenfulturen in großem Maßſtabe 
ausführte und Holländervieh zur Kreuzung mit inländiichem ein: 
führte. (Diejes Vorgehen war die Folge der 1792 erfolgten Ver: 
leihung des Stapelrchtes an die Stadt Kaskö; noch heute lebt 
in ber Umgegend von Waſa die jogenannte Bladh'ſche Race fort); 
Rathmann Jakob Fellmann in Brahejtadt, der ſich für Meierei 
interejirtte und im 9. 1788 ein finniſches Lehrbuch über Milch 


Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 245 


behandlung und Butterbereitung herausgab. Alle diefe Männer 
haben vorzugsweile in Defterbotten gewirkt. 

Im Jahre 1770 war die Gefellihft „Aurora“ gegründet 
worden, die, wie die anderen Gejellichaften jener Zeit, zuerſt als 
geheimer Orden gewirkt hat, woher über ihre anfängliche Thätigfeit 
wenig befannt geworden iſt. Für ihre und namentlich für bie 
Erfolge ihrer Zeitung iſt der zweite Biſchsff Mennander fehr 
wichtig geworden, den Porthan den erjten Urheber der been und 
den ficherften Gönner der Zeitung nennt. Es war nicht eine fchön- 
geiftige Sejellichaft im gewöhnlichen Sinne —, fie erwies fich 
vielmehr als jehr Fräftig, auf allen Gebieten Finland zu fördern. 
Ihr Statut beginnt mit den Worten: „Die Liebe zu unferem 
Vaterlande und die zärtlihe Sorge für Finlands Ehre iſt der 
Anlaß zur Stiftung der Gejellichaft gemwejen, deren wirkliche 
Nützlichkeit nicht bezweifelt werden könne.“ Unter Mitwirkung des 
Domfapitels von Abo ward im J. 1770 im Lande ein Aufruf 
verbreitet: vom Jahre 1771 ab werde eine Zeitung herausgegeben 
werden zum Wirken für „allgemeine Aufklärung,“ bejonbers im 
Wunde, den Bewohnern Ninlands Gelegenheit zn geben, das 
eigene Land, jeine Vorzüge und Gebrechen, kennen zu lernen, wobei 
die Gejellihaft den Beitritt von fundigen nnd edelmüthigen Lands— 
leuten erwartet, welche verjprechen, Korrejpondenten der Zeitung 
zu werden. Das Programm dieſer lepteren wird in 14 Punkte 
gefaßt, welche betreffen die Geſchichte, Geographie und Phyſik 
des Landes, feine nüglihen Anjtalten und deren wiſſenſchaftliche 
Beurtheilung, Behandlung anjtedender Krankheiten und bewährte 
Hausmittel dagegen u. ſ. w. Die „Zeitung herausgegeben von 
einer Gejellichaft in Abo” ijt während der Jahre 1771—1778 
erichienen. Ihre erjte Nummer bradte ein programmartiges Poem 
von Porthan und Gadd, weldes dem Vertrauen: dur das 
neue Organ werde für Finlands Aufihwung gewirkt werden 
fönnen, warmen Ausdrud verlieh. Leitende Perſon war am Blatte 
Porthan (1762 Dozent für Beredjamteit, 1772 Bibliothekar, von 
1777 ab Profeſſor der lateiniſchen Sprade). Seine Beiträge 
über Finlands Geſchichte, Geographie und Statijtif geben der 
Zeitung ihr charakteriftiihes Gepräge. Unter den Mitarbeitern 
finden fich viele der fchon Genannten: Mennander (der 1775 
Erzbiihof in Upſala wird); Gadd (über Nothbrod, Jndigo, 


246 Die Kailerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


Neunaugenfiicherei, Nennthierzudt in Paldamo u. ſ. w.); Kalm; 
Galonius (über Preßfreiheit, Nechtshijtorie 2c.); Dr. med. Hajt 
(über Lazarethe); Samuel SKreander; Johann Kraftman 
u. U. Diefer leptere jchrieb 1771 über „Steinmauern“; Die 
Tendenz des Aufſatzes erhellt aus den Eingangsworten: „Bei dem 
drohenden Holzmangel jollten zum Hausbau und zu ben Ein: 
friedigungen bei Wohnhäujern und Viehjtällen, um die Gärten, 
Meder und Wiejen Feldjteine angewendet werben.” (Zu jener 
‚Zeit bereits haben viele Verfaſſer ihre Beſorgniß wegen Wald- 
mangels ausgedrüdt!) — und 1772 feinen Aufſatz: „Wie des 
Landes Anbau durd Aufmunterung befördert werden kann“ — 
wovon die Einleitungsiworte für die Auffaſſung der Zeit bezeichnend 
find: „In unjerer aufgeflärten Zeit jollte fein denfender Mitbürger 
daran zweifeln, da ein jtreblamer Nderbau das fiherite Mittel 
ift, wodurch unjer theures Vaterland zu Wohlſtand und Anjehen 
gebracht werden kann.“ Der Berfaffer Schlägt Prämien vor für 
fleißige Yandwirthe, namentlih für den Anbau von Mooren — 
(se. der in Finland, wenn fie entwäjlert werden, jo überaus 
fruchtbaren Grünlandmoore). Titel jeien nicht jo erwünſcht, wie 
Belohnungen; die erjteren ſeien mehr geeignet, Ueppigkeit und 
Lurus zu befördern, mehr zum Erſchlaffen als zum Helfen 
(mer stjälpa än hjälpa); befonders habe die Regierung große 
Sluftuationen im Getreidepreife Hintan zu halten. An jonitigen 
Mitarbeitern find zu nennen: Arzt J. ©. Bergman (1771— 
1783 jeine mediziniihen Aufläge); Pfarrer Erif Lencquift in 
Karislojo, ſpäter in Drihvefi (aus der Zeit 1772—1778 feine 
Aufläge unter den Titeln „Finska akerbukets hjälp af akerbruket 
själf;* „Vergleich zwiſchen des Kirchipiels Carislojo Zuſtand im 
15. und im 18. Jahrhundert”, „Vergleich zwiſchen der Land— 
wirthichaft in Garislojo und Ohriveſi“; er jagt: „die Zandsleute 
jeien zu ermuntern, daß fie mehr Weder anlegen,“ und „Finland 
habe über das vom Schöpfer ihm zugetheilte Loos nicht zu Fugen“); 
ferner der Landshöfding Nappe; Aſſeſſor Sylvius, ſpäter geadelt 
als Feuerftern; Bergsmann Auguſt Nordenjfjöld (1772 
Geſchichte von Finlands Eijeninduftrie); Propit A. Yizelius (17714 
Armen-Magazin in der Propftei Wirmo). Dazu fommt eine große 
Zahl von Kirchſpielsbeſchreibungen, Behandlungen von Schulfragen 
u. 1. w. Anfangs war der Zufluß von Beiträgen ein reichlicher, 


Die Kaiferl. Finländ. Delon, Sozietät. 247 


allmählih aber erichlaffte das Intereſſe. Das erklärt fich zum 
Theil durch der Redaktion vorfichtige Kritik, die nicht Jedem 
angenehm war. Die Gejellihaft „Aurora“ ging ihrer Auflöfung 
entgegen, zum Theil, weil das Intereſſe für ernjte Arbeit mit 
jorglofem Epikureismus jchwer zu vereinigen war. Um das Jahr 
1780 muß die „Aurora“ zu bejtehen aufgehört haben. Im Jahre 
1795 jchreibt Borthan an Galonius: „Das Aufleben des Utile 
Dulei erinnert mich an die entichlafene Abogejellihaft; ich Hatte 
noch Luft, unter gewiſſen Bedingungen ihre Erneuerung vorzu— 
ichlagen”; daraus aber wurde nichts. 

Die „Zeitung u. |. w.“ hörte 1778 auf, wurde aber 1782 
von PBorthan wieder aufgenommen, und zwar unter dem alten 
Titel, nur daß die herausgebende „Geſellſchaft“ nun aus wenigen 
Perſonen bejtand, vor allen anderen aus Borthan und jeinem 
Schüler und Freunde, dem Profeſſor Jacob Tengjtröm. Von 
dem leßteren, jowie von 3. ©. Bergman, dem Bergrath 
Difinger u. N. bradte die Zeitung zahlreiche Aufjäge über 
Obſtbaumzucht, welche damals in Finland guten Fortgang nahm. 
Allein das damalige Abo zählte 48 Objtgärten; in Südwejtfinland 
wurden vorzugsweile Aepfel, in Borga aber ſchwunghaft aud) 
Birnen gezogen. Die Zeitung brad im J. 1785 mit ihrer Air. 21 
plöglid” ab, offenbar zufolge des Befehles: die Zeitungen jolien 
unter Verantwortung ihres Druders erjcheinen. Im jelben Jahre 
ſchreibt Porthan an Diennander: „Seinenfalls wollen wir den 
Anjchein, in Frendels — (sc. des Drudereibefigers) — Solde zu 
itehen.” In demjelben Briefe findet ſich jeine Auffallung von der 
Bedeutung der Zeitung: „Folglid wird es nun ſchwer fein, "was 
zu Finlands Aufklärung druden zu lajjen, außer in Univerfitäts- 
Disputationen.” Im Jahre 1789 erſchien die Yeitung wieder; 
nun war Frendel ihr Verleger und Porthan ihre Stüße; fie hieß 
nun „Neue Abver Nachrichten“; fie brachte vorzugsweije 
Hiſtoriſches und ſchöne Litteratur, und wurde vom J. 1791 ab 
von Tengjlröm redigirt, unter Beihilfe von PBorthan und J. M. 
Sranzen. „Der Sinn für die Aufklärung des Vaterlandes über 
feinen Anbau, und für Verbreitung genauer Kenntniſſe über jeine 
Geographie, feine Wirthichaft, Gewerbe und Lebensführung, jowie 
für Unterjtügung und Förderung des Geſchmackes für die jchönen 
Wiſſenſchaften, — der Sinn dafür, einem achtungswerthen Publifum 


248 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


zu nüßen und es zu unterhalten, hat einige Gönner gewonnen, 
das Erjcheinen der Zeitung durch Beiträge zu unterjtügen“ — 
beißt es im Proſpekt, welcher noch bejondere Programmpunfte 
enthielt. Die Zeitung erichien in vergrößertem Formate. Zu den 
Brogrammpunften waren namentlich Nefrologe von Männern, Die 
dem Yande befonders nützlich geweſen, hinzugefommen. Unter jolchen 
wurden zuerjt Nachrufe an Fürzlich Verſtorbene gebradht, wie über den 
Bergrath Johann Hifinger, und durch fünf Nummern durchgehend 
über den Defonomieprofeffor Johann Kraftman, jpäter Prediger 
in Kumo. Ein 1791 begonnener öfonomijcher PBrogrammartifel: 
„Betrachtungen über die allgemeinften Hinderniſſe der Gewerbe in 
Finland, und wie man fie bejeitigen kann,“ bricht fehon nad) der 
dritten Nummer ab, ohne mehr als den Bevölferungsmangel 
beſprochen zu haben, zu deſſen Bejeitigung, außer jtrenger Beachtung 
verjchiedener hingehöriger ökonomischer Mahregeln, ganz bejonders 
die Verbejjerung der Stindererziehung, ſpeziell in Dejfterbotten, 
empfohlen wird. Von Tengjtröm ſtammten Anfangs vorzugsweife 
die Beiträge auf dem Gebiete der jchönen Litteratur, allmählich 
aber geht er zu praktischen Fragen über. (Schon 1775 hatte er 
unter Kalm „über die Nothiwendigfeit des Storjfift in Anjehung 
beijerer Waldpflege” disputirt.) Er jchrieb 3. B. über die Armen- 
pflege und gab mit Vorliebe jtatiftiiche Beiträge. Aber ſchon im 
3. 1793 geht aus einem Briefe Porthans an Galonius hervor, 
daß man jich mit der Frage beichäftige, ob nicht die Zeitung auf: 
zugeben jei: feine Unterftügung aud nur mit einer Zeile. Da 
trat, mit PBorthan’s und Tengſtröm's Beihilfe 1794 Franzen an 
die Spitze. Meiſt werden nun biftorijche Aktenſtücke gebracht und 
geographiiche und jtatiftiiche Aufiäge. In fichtbarem Maße hat 
die Bejorgnig lähmend gewirkt: unter der empfindlichen Vor— 
mundjchaftsregierung möchte ein mehr beitimmtes Wirken mehr 
Schaden als Nupen hervorbringen. Im ganzen Jahrgang 1794 
findet jich ein einziger öfonomifcher Artikel: über Feuerlöſchweſen; 
im Jahrgang 1795 giebt es deren nur zwei: über die Ausrottung 
der Pockenkrankheit, aus dein Deutichen überjeßt, und dann eine 
ausführliche Nezenfion von Dr. Radloff's Beichreibung lands, 
(dazu eine kleine Notiz), Im Jahrgang 1796 finden ſich einige 
Haushaltangaben, wie „Mehl aus Kartoffeln,“ „Käfelab,“ ein 
längerer Nrtifel über die Hopfenfultur in Inga; außerdem 


Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 249 


Biographien über Propit Nils Idman in Hoittis (7 1790) und 
Dr. Joh. Gabr. Bergman (7 1793)."°) 

Neues Leben erhielten die ökonomiſchen Bejtrebungen in 
Finland durch Guſtav IV. Adolph’s Negierungsantritt. In Abo 
ward er am 10. Dftober 1796 im Namen der Univerfität durd) 
Profeſſor Tengjtröm begrüßt mit einer Rede, in welcher bie 
Segnungen, die Finland durd den Frieden geworden, der Dant 
dafür und die Hoffnungen auf den jungen König hervorgehoben 
werden. Dieje legteren find durd des Königs jpäteres Auftreten 
fräftig unterjtügt worden. 

In Nr. 9 der „Zeitung“ erichien 1797 ala „Eingejandt” 
ein Artikel von Porthan „Leber Finlands Ausbau”. Seine 
Vorſchläge waren alle wohlüberlegt; er mißbilligte entjchieden alle 
eigentlihe Projeftenmacherei. Mandyem galt er als garzju vor: 
fichtig, aber jeine Sachkenntniß imponirte. Zu Beginn fragt er: 
„Woher wohl in den legten 30—50 Jahren, ſeit die Negierung 
mit größerem Ernft und Eifer ſich Finlands Pflege und Förderung 
zugewandt, fein Zuftand und Ausjehen ſich jo vortheilhaft geändert 
habe?” Inzwiſchen jei nod) viel zu thun übrig geblieben. Große 
Streden lägen noch als Dedeland da und jeien mit jumpfigen 
Mooren bededt. In Savolar ſei man nod nicht über das Röden 
und Küttisbrennen herübergefommen. Auch die Bergwerke und 
Wälder fönne man nocd nicht loben. Zu Viehzucht und Ackerbau 
biete Finland ermwünjchte Gelegenheit. Die erjtere babe den 
nördlichen, die zweite den jüdlicheren Gegenden Haupterwerbszweig 
zu jein. Das Entwällern der Dioore im Landesinnern jei zwingende 
Nothwendigkeit. Bloß dadurd könne den Nachtfröſten gejteuert 
werden, zugleich gewinne man dadurch Wiejen. Das fünne aber 
nur durch Niedrigerlegung der Seejpiegel geichehen und durd) 
Sprengung der Stromichnellen, wodurch auch der Verkehr gefördert 
werde. Durch Waſſerwege erjpare der Bauer viel Zeit, die er 
zum Verführen der Produkte zur Küfte auf den Landwegen verliere. 
Es ſei beffer, die Zeit zur Dausinduftrie und ſonſtiger Handarbeit 
zu verwenden. Bejonders der Butterhandel bedürfe tauglicher 
Verkehrswege. An manden Orten werde bereits mit Vorliebe 
die Binnenjchiffahrt benugt, und manche aderbare Darf jei bereits 
durch Mioorentwällerung gewonnen worden, 3. B. der vormals 
unnahbare Bezirk, wo fürzlih die Straße zwiichen Nerpes und- 


250 Die Kaijerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


Waja angelegt worden. Viele Orte werden aufgezählt, wo Fluß: 
reinigungen noch nöthig wären; manche von diejen jeien Schwierig: 
da habe die Negierung einzugreifen. Die vielen kleinen privilegirten 
Mühlen jeien ſchädlich — beijer jeien große Mühleninduftrien. 
Die Bedeutung der Wailerläufe zur Flößung wird hervorgehoben. 
Wo nur Private den Vortheil davon haben, fünne der Regierung 
nicht zugemuthet werden, allein mit Errichtung von Stanälen und 
Waſſerſtraßen vorzugehen: man jolle auf England bliden, wo jo 
viele Kanäle aus privater Initiative entjtanden feien. Eine Ab: 
handlung, welde ein jorgfältig motivirtes Programm für Die 
Sortjeßung der Stromregulirungen in Finland bradte, war für 
des Generalen Fabian Wrede’s Rechnung verfaßt worden, und 
dieſer — (se. ein Liebling des jungen Königs) — veriprad), beim 
Könige die Wiederaufnahme diefer Arbeiten auszumwirfen. Für 
die September: bis November-Nummern der Zeitung lief ein von 
Tengſtröm verfaßter, auf die Angaben zweier erfahrenen Land— 
wirthe aus Nyland und Süd-Oeſterbotten gejtügter „Unterricht, 
Moore in Wiejen und Weder zu verwandeln“ ein. Der eine der 
beiden Rathgeber war der Pfarrer Ring in Karis, der andere 
wahrjcheinlich Bladh. Porthan's und Tengſtröm's Aufſätze waren 
von großer Bedeutung. Den MWeifungen des Lebteren ijt man in 
vielen Fällen gefolgt. Derjenige von Porthan war der erjte 
Zeitungsartikel, der direkt Negierungsmaßregeln hervorgerufen hat: 
im Jahre 1797 wurden die finländiichen angejiedelten (indelta) 
Negimenter angemwiejen, jih für Rechnung der Strone an den 
Flußregulirungen zu betheiligen, wovon fie bis dahin befreit 
gewejen waren. Im Jahre 1799 wurden dazu 500 Dann ab- 
fommandirt und 6000 Neichsthaler angewiejen. Die Leitung der 
Arbeiten wurde einer Direktion, bejtehend aus dem Generalen 
Grafen Klingipor, dem Landshöfding v. Willebrand, General 
3. 8 Aminoff, Zagmann Olaf Wibelius, Kammerraih Winter 
und Bortdan, anvertraut. Der Einfluß, den die vom Aurora— 
Bunde begründete und von Porthan perjönlic) fortgejegte Zeitung 
auf ihren Lejerkfreis ausgeübt hat, muß jehr hoch veranjchlagt 
werden. Ihr durcchgehender Gedanke war Finlands Hebung in 
materieller und geijtiger Hinficht.!®) 

In finniſcher Sprade war die öfonomifche Litteratur auch 
in diefer ‘Periode noch arın, aber doch ſchon etwas reicher als in 


Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 251 


der vorigen.) Pfarrer Anders Lizelius zu Wirmo gab im 
Herbſte 1775 die Probenummer einer finnischen Zeitung heraus: 
Suomen Tieto Sanomat, — fie bradte es aber nur auf 24 
tummern und ging im Jahre 1776 ein — wegen Wiangels an 
Unterjtügung; fie war für den gemeinen Mann bejtimmt und 
behandelte Wirthichaftsfragen. Außerdem find zu erwähnen Die 
jeit 1773 in vielen Auflagen erjchienenen „Weltbriefe für den 
Bauer“; 1774 Daartman’s Bud) „Ueber Viehleuchen“; 1775 
3. ©. Bergman’s Aufſatz „Ueber die Boden“; 1778 von P. 
Mozelius ein „Lehrbuch über die Landwirthichaft,“ heraus: 
gegeben von der „Patriotifchen Geſellſchaft,“ überjegt von Denrif 
Wigelius; 1750 über „Salpeterbereitung“; 1783 über „Bier: 
brauerei”; 1786 von 9. R. Daft über „Die Nindviehpeft”; und 
1787 „Belundheitsregeln” — (legteres Bud) erjchienen in Waja 
in der Buchdruderei von G. W. Londicer, wo für den gemeinen 
Dann, Shwediid und finniid), viel Bücher gedruckt worden find) 
— 1788 von Chr. Sanander über „vViehſeuchen,“ welches Bud) 
viele Auflagen erlebt bat, die legte noch 1879 in Delfingfors; 
1758 Fr. 3. v. Afen über „Branntweinbrand“; 1784 von Chr. 
Hanander „Des Landmanns Haus: und Heimapotheke; 1797 
über „Sumpferz“; 1788 „Anwendung der Birkenrinde zum Serben.“ 
Zuweilen gaben aud) die Yandshöfdinge Werke in finniicher Sprache 
heraus. Die meijten öfonomiichen Verordnungen wurden, laut 
Vorſchrift vom Jahre 1772, in finnifcher Spradye publizirt. Die 
finnischen Salender wurden fortlaufend von der (jchwediichen) 
Wiſſenſchaftsakademie herausgegeben; fie enthalten auch öfonomijche 
Aufſätze, die aber übermäßig jchlecht überjegt find. Die behandelten 
Gegenjtände find: 1776—1778 Aufzucht von Zaubholzwald; 1779 
—1782 MWiejenbau; 1783 Viehfutter und Yuttermangel; 1784 
— 1795 Aderbau-fatehismus; 1796—1802 %. ©. Ballerius 
preisgekrönte Schrift über die Bodenarten und deren Verbeſſerung 
durch Miſchung miteinander. 

In dieſe Zeit viel verheißenden wirthſchaftlichen Aufſchwunges 
fällt nun, unter Umſtänden, die das ganze Land aufs freudigſte 
erregten, die Gründung der K. Finländiſchen Oekonomiſchen 
Sozietät.!?) 

(Schluß folgt.) 


Tagaurog im Jahre 1925. 
Von 
N. K. Schilder. 


Schluß.) 





II. 


Unterdeſſen benutzte Kaiſer Alexander feinen Aufenthalt im 
Süden Rußlands dazu, die benachbarten Gebiete zu bereiſen. 
Am 11. Oktober begab er ſich auf einige Tage ins Land der 
Doniſchen Koſaken und beſuchte Roſtow, Nachitſchewan und Nowo— 
tſcherkaſk. 

Auf dem Wege nach Nowotſcherkaſk übergab er dem General- 
adjutanten Diebitih einen Brief Eherwood’s an den Grafen 
Mraftichejew, in welchem jener darum bat, in der Mitte des 
November einen zuverläffigen Beamten zu ihm nad) Charkow zu 
ſchicken. Se. Majeität wählte hierzu den Oberſt des Leibgarde- 
Kojafenregiments Nikolajew, weder ihm nod jemand anders follte 
aber hierüber bis zur Nüdfehr von der jchon damals geplanten 
Reiſe in die Krim etwas mitgetheilt werden. 

Wohl beabfichtigte man damals, die Neife noch weiter aus: 
zudehnen bis Uralsf, ja bis nad Aſtrachan, jedoh wurde dieſe 
Abſicht nicht verwirklidt und am 15. Dftober fehrte Mlerander 
nad) Taganrog zurüd. 

Um dieje Zeit fam mit Allerhöchiter Genehmigung Graf 
Mitt aus den jüdlichen Antiedelungen nah Taganrog. Er theilte 
dem Kaifer die Pläne der geheimen Goejellichaften und diejenigen 
ihrer Zeiter mit. Die ſchon früher vom Unteroffizier Sherwood 
gemachten Entdeckungen in Berbindung mit den neuen vom Grafen 
Witt vorgebradten Daten klärten die Sache immer mehr auf 
und eröffneten die Möglichkeit, Schon bald zu enticheidenden Map: 
regeln zu greifen. Vorläufig befahl der Sailer dem Grafen 
Mitt, feine Unterſuchungen fortzufegen. 

Der Generalgouverneur von Neu-Rußland Graf M. ©. 
MWoronzow erjchien auch in Taganrog. Er bat den Kaiſer, Die 
Krim zu bejuchen und verficherte ihn, daß man noch vor Eintritt 
der Regenzeit und der Kälte zurücdfehren könne. Im Hinblid auf 


Taganrog im Jahre 1825. 253 


die Beſſerung im Gefundheitszuftande der Kaiferin nahm Alerander 
die Einladung an, indem er bemerkte, gute Nachbarn müßten mit 
einander in Eintracht feben. Am 20. Oftober reilte der Kaiſer 
in die Krim ab; die Marfchroute war auf 17 Tage berechnet. 
Ihn begleiteten der Generaladjutant Diebitih, Wyllie, Taraſſow 
und der Wagenmeifter Oberjt Salomfa. 

Einen Tag vor der Abreije ereignete ſich folgender Vorfall. 
Der Kaiſer arbeitete an jeinem Schreibtiſch; plötzlich zog eine 
Molke über die Stadt und es wurde jo dunkel, dab Alerander 
flingelte und dem Kammerdiener Aniſſimow befahl, Lichte herein: 
zubringen. Bald darauf wurde es wieder hell und es ſchien die 
Sonne. Da trat Aniſſimow aufs Neue ins Zimmer und wollte 
die Lichte mwegbringen. Auf die Frage des Kaiſers, weshalb, 
erwiderte er, es gelte in Rußland für ein böjes Omen, bei Tage 
binter brennenden Lichten zu fißen: man fönnte benfen, daß bier 
eine Leiche liege. Der Kaiſer antwortete: „Du Haft Recht, aud) 
ich denfe jo, bringe die Lichte weg.” Diejer Vorfall prägte ſich 
dem Gedächtniß KHaifer Aleranders ein und fpäter erinnerte er 
fi) deilen, wie wir unten jehen werden. 

In den eriten Tagen der Reife ging Alles gut und der 
Kaifer war fehr heiter und geiprähig. Nachdem er in Mariupol 
genächtigt, fuhr er durch die Dienoniten-Stolonien, die am Flüßchen 
Miolotichna belegen find. Das blühende Ausjehen und die gute 
Drdnung dieſer Anfiedelungen freuten ihn jehr und erwedten jeine 
volle Zufriedenheit. Am Abend des 24. Dftober langte der 
Kaijer in Simferopol an, übernadhtete dort und ritt am folgenden 
Tage auf Tartarenpferden nad Jurjuf; die Equipagen jollten ihn 
in Baidary erwarten. Der Kaiſer ritt an dieſem Tage 35 Werft 
auf jehr beichwerlichen Wegen und mit Steinen bejäeten Pfaden. 
Hierauf bejuchte er den Garten zu Nikita und ſah ſich Drianda 
an, das er vom Grafen Kujchelew:Besborodfo gefauft hatte und 
wo er ein Palais zu erbauen beabfichtigte. Bier hatte Alerander 
augenjcheinlih das Winfelhen in Europa gefunden, von dem er 
einjtmals träumte und wo er für immer fid) niederzulajfen wünjchte. 
Veberhaupt jchien Alerander feit feiner Reiſe nad) Taganrog 
wiederum zu jeinen früheren Träumereien zurüdgefehrt zu fein 
und dachte daran, ins Privatleben zu treten. „Bald werde ich 
mic in der Krim niederlajjen,” jagte er, „und als PBrivatmann 


254 Taganrog im Jahre 1825. 


leben. Ich Habe 25 Jahre lang gedient, auch dem Soldaten 
giebt man nach diefer Zeit den Abjchied.” Zum Fürſten MWolkonffi 
jagte er: „Muh Du wirft den Abſchied nehmen und bei mir 
Bibliothefar werden.” 

Der Kaiſer dinirte in Alupfa beim Grafen Woronzow, der 
ihn von Simferopol an begleitet hatte, legte am 27. Oktober 
mehr wie vierzig Werſt auf einer schlechten Bergitraße zurüd und 
fam in Baidary an, wo ihn die failerlihen Wagen erwarteten. 
Hier war das Diner bereitet, doch Se. Majeſtät befahl Müller, 
mit dem Diner gerade nad Sewaſtopol zu fahren und ihn dort 
zum Diner zu erwarten. Don Baidary begab fi der Kaiſer mit 
Diebitich in einer Kaleſche nad Balaflawa zur Inſpektion des in 
diefer Stadt ftationirten griechischen Bataillons, das unter Kommando 
Ravaillotts ſtand. Nah der Befichtigung frühftüdte er beim 
Bataillonschef und aß dabei etwas von einer Art ſehr fetten 
geflügelten Fiſches. 

Von Balaflawa fuhr Kaifer Alerander in der Kalefche bis 
zu der Stelle, wo der Weg nad) dem Georgs-Klojter abbiegt. 
Hier bejtieg er wieder ein Pferd, im Uniformsrod ohne Mantel, 
entließ die Suite nah Sewaftopol, nahm nur den Feldjäger 
Godefroi mit ſich und ritt in Begleitung nur eines Tartaren ins 
Klofter. Tas geſchah am 27. Oktober um 6 Uhr Nachmittags. 
Es war ein warmer, herrlicher Tag; allein gegen Abend erhob 
fi ein Nord-Oft- Wind und es wurde empfindlich falt. Es unterliegt 
feinem Zweifel, daß ſich Kaifer Alerander während diejes unvor: 
jichtigen und nicht zeitgemäßen Nittes ins Georgs-Kloſter erfältet 
und daher wurden die ermüdenden Touren des 27. Oftober zum 
Ausgangspunft der tödtlichen Krankheit, die ihn bald darauf befiel. 

Die Suite, die bereits im Kaiferliden Quartier zu Sewaitopol, 
im Hauſe des Kommandanten, angelangt war, verbrachte die Zeit 
in qualvoller Spannung. Das Diner war um 4 Uhr fertig. Es 
wurde dunfel, immer heftiger blies der eifige Wind, doch der 
Kailer kommt nicht. Alle Spiten der Stadt, die ihn erwarteten, 
und die Suite begannen unruhig zu werden, denn jie mußten 
nicht, wem fie die Verzögerung feiner Ankunft zufchreiben jollten. 
Endlih um 8 Uhr langte der Kaiſer an. Nlerander empfing den 
Admiral Greigh und den Kommandanten im Saal, begab fid 
dann direft in jein Arbeitszimmer und ließ, auf das Diner ver: 


Taganrog im Jahre 1825. 255 


zichtend, ſich raſch Thee reichen und das war, Schreibt Taraſſow, 
um fo ungewöhnlicher, da es früher während der Neife nicht vor: 
gefonmen war und der Kailer unterwegs immer einen guten 
Appetit hatte und Andere zu bemwirthen liebte. 

Den 28. Dftober widmete Nlerander der Befichtigung der 
Befeftigungen, der Flotte, des Seehoſpitals und der Kafernen; 
darauf war großes Diner beim Kaifer und in feinem Aeußern 
war feine Veränderung zum Schlechteren bemerkbar. 

Am folgenden Tage, am 29. Oftober, ließ fih Alerander 
auf die Nordjeite überjegen, bejah die dortigen Befeftinungen und 
fuhr hierauf in einer Kaleſche nah Bachtichiffarai, wo er im 
Palaft des Chans abjtieg, jo wie er es während der Neife im 
Jahre 1818 gemadıt hatte. 

Bier ließ der Kaiſer Taraſſow zu fich ins Kabinet rufen 
und befahl ihm, für ihn daſſelbe Neisgetränk zuzubereiten, das er 
im Januar 1824, während einer fieberhaften Noje am Fuß, ge: 
trunfen hatte. Taraſſaw führte Sofort diefen Befehl aus und 
hielt es gleidyeitig für erforderlich, hiervon Wyllie zu benad): 
richtigen, indem er hinzufügte, der Kaiſer habe fi den Magen 
verdorben. 

Ungeachtet feines beginnenden Unwohlſeins gönnte ſich der 
Kaiſer feine Ruhe, ritt unter Anderem nad Tſchufut-Kale und 
bejuchte auf dem Rückwege das Uſpenſli-Kloſter; er ſchien völlig 
gefund, war ſehr aufgeräumt und verkehrte mit Allen mit der 
ihm eigenen Leutjeligkeit. Am 1. November nahm Nlerander 
jein Nachtquartier in Eupatoria und bejuchte hier die Kirchen, 
Moſcheen, Synagogen, Kujernen und Quarantänen; am 2. No: 
vember übernadtete er in Perekop, woſelbſt er das Hospital 
infpizirte. 

Am Tage darauf des Morgens frühe ſetzte der Kailer, 
gemäß der Marichroute, feine Neife fort und befichtigte im Dorfe 
Snamenſtoje die dort garnifonivende Artillerie-Brigade und hierauf 
das Lazareth. An diefem Tage wurde das Mittagsmahl in einem 
großen Dorfe zwiichen Snamenfa und Orechowo eingenommen. 

Taraſſow erzählt: „Bon Bachtſchiſſarai an, wo der Kaiſer 
fih ein Getränk zubereiten ließ, ſchien er vollfommen gefund zu 
fein und Fagte weder mir noch dem Baronet Wyllie über feine 
Geſundheit. Hier, während des Mittagejjens, brachte er plößlich 


256 Taganrog im Jahre 1825. 


das Geſpräch auf die Krimſchen Hofpitäler und begann fih über 
die dortigen Fieber auszulajfen, namentlich aud über das Chinin, 
defien Wirkung gegen dieſe Krankheiten er lobte, dabei aber 
bedauerte, daß der Geſchmack diejes Arzneimittels fehr unangenehm 
fein müßte. Baronet MWyllie vertheidigte das Mittel und febte 
dem Kaiſer auseinander, fein Geichmad fei garnicht miderlich, 
Sondern nur bitter. Der Kaiſer mollte ihm nicht recht glauben 
und befahl mir, ſofort das Chinin aus der Neifeapothefe zu holen. 
Unverzüglich überreichte ich ihm das Glasgefüß, das dieſes Salz 
enthielt. Der Kaiſer fojtete davon ſelbſt, ſchnitt darauf eine 
Grimaſſe und fagte zu mir: „Sie und Jakob Waſſiljewitſch lieben 
es nit, Ihren Patienten Lederbiifen zu geben.” Hierauf gab 
er mir das Glasgefäß zurüd und fragte mid: „Wie verordnen 
Sie diefes Mittel?” Ach antwortete: „Man giebt es den Sranfen 
in Bulverform, in Pillen oder in Lölung.” „Danfe für die 
Bewirthung, legen fie es an feinen Platz zurüd” ſagte dann ber 
Kaiſer zu mir.” 

Nad dem Mittagsmahl, auf der legten Station vor Orechowo, 
begegnete der Kaifer dem Feldjäger Masfom mit Depeichen aus 
Petersburg und Taganrog. Der Kaifer empfing die Depeichen 
und befahl dem Feldjäger ihm zu folgen; allein bei einer Biegung 
des Weges trieb der Kuticher feine Troifa an und der Poſtwagen 
ftieß mit folcher Gewalt an einen Lehmhügel, daß Maskow in 
weitem Bogen binausgefchleudert wurde; er fiel mit dem Kopf 
voran auf die Straße und blieb bewegungslos liegen. Der Kaijer 
ſah den Unglüdsfall und jchidte fofort durch Godefroi an Taraffow 
den Befehl, unverzüglid) dem Verunglückten ärztliche Dilfe zu 
bringen und nad) feiner Ankunft in Orechowo perjönlich ihm über 
den Zuftand Maskow's zu vapportiren. Es erwies fi, daß der 
Unglückliche an ftarfer Gehirnerichütterung mit Bruc des Schädels 
geftorben war. Taraſſow langte in Orechowo um Mitternadht an; 
Diebitſch wartete auf ihn und befahl ihm, perfönlich hierüber 
dem Kaifer, der mit Ungeduld Nachricht über Maskow erwartete, 
Bericht abzujtatten. 

„Nachdem der Kammerdiener mic gemeldet, betrat ich das 
Schlafgemach des Kaiſers“ jchreibt Taraſſow. „Sr. Majeftät ſaßen 
im Mantel vor dem Kamin und lafen die Depejchen. Ich bemerkte, 
daß fein Bli etwas unruhiges hatte und daß er ſich am brennenden 


TZaganrog im Jahre 1825. 257 


Kamin zu erwärmen ſuchte. Sofort, nahdem ich die Schwelle 
übertreten hatte, fragte er mid) furz: „In welchem Zuſtande 
befindet fih Masfow?” „Beim Fall erhielt er einen tödtlichen 
Hieb auf den Kopf, mit jtarfer Erjchütterung des Gehirns und 
einer weiten Spalte gerade an der Schädelbafis; ich fand ihn 
bereits ohne Athem daliegend und jegliche ärztliche Hilfe erwies 
fih als fruchtlos.“ Der Sailer hörte meinen Bericht an, erhob 
fih und ſagte mit Thränen in den Augen: „Welch' ein Unglüd! 
Diefer Dann thut mir ſehr leid.” Darauf wandte er fi) dem 
Tiſche zu, und flingelte, ic) aber verließ das Zimmer. Hierbei 
nahm ich einen ungemwöhnlihen Ausdruck in den Gefichtszügen 
des Kaijers wahr, den ich im Verlauf jo vieler Jahre genau 
fennen gelernt hatte: es lag darin etwas Unruhiges und zugleich 
auch Krankhaftes, als ob er fich im Fieberichauer befände.“ 

In Orechowo erwartete den Sailer eine zweite Unan: 
nehmlichkeit, die um jo fchädlicher auf ihn wirken mußte, als er 
fich nicht mehr ganz gejund fühlte. Zwilchen dem Zivilgouverneur 
von efaterinojlam und dem Erzbiichof Theophil hatte ein Streit 
jtattgefunden, wobei es zu Thätlichkeiten gekommen war. Nachdem 
der Kaiſer hiervon vernommen hatte, wünjchte er diefe Sache zu 
unterfuhen und berief beide Widerfacher nach Orechowo. Nad) 
dem Zeugniß Taraffow’s „empfing der Kaiſer Beide einzeln und 
gab mit der ihm eigenen Delifatejje einem jedem ernitlid all’ 
das Unangemejjene feiner Handlungsweije zu verjtehen, da jie doch 
die Dauptreprälentanten der Staatsgewalt im Jekaterinoſlawſchen 
Houvernement wären. Natürlicd) konnte Se. Majeſtät das nicht 
gleihmüthig, wenigjtens nicht ohne jtarfe innere Erregung thun.“ 

Nachdem der Kaiſer am 4. November, um 7 Uhr Abends, 
zum Nachtlager in Mariupol eingetroffen war, berief er um 
10 Uhr Wyllie zu ſich und diejer fand ihn in einem völlig ent: 
widelten heftigen Fieberpororysmus. 

„Wyllie war jehr bejtürzt über die Lage des Kaiſers“ jchreibt 
Taraſſow, „er Ichien völlig jeine Geijtesgegenwart verloren zu 
haben und entichied fich endlich dafür, ihm ein Glas Fräftigen 
Rumpunſches zu geben, darauf bradte er ihn zu Bett und dedte 
ihn möglidhjtit warm zu. Das vermehrte nur die Unruhe des 
Kaifers und erſt gegen Morgen jchlief er ein wenig ein. Wyllie 
proponirte ihm, in Mariupol zu bleiben, doch ber — ging 


258 Taganrog im Jahre 1825. 


darauf nicht ein, denn von Mariupol bis Taganrog waren es 
nur 90 Merft und Se. Majeſtät wünichte am feitgejetten Termin, 
am 5. November, die Kailerin wiederzujehen. So war es nad) 
der Marjchroute beitimmt worden. Am Morgen des 5. Nov., 
nad) dem heftigen Barorysmus, fühlte fi) der Kailer müde und 
ſchwach. Um 10 Uhr Morgens fuhr er in einer verdedten, 
mit Bärenfell gefütterten NKaleihe im marmen Mantel nad) 
Taganrog ab.” 

Um 6 Uhr Abends langte Kailer Alerander in Taganrog 
an. Er betrat fein Toilettenzimmer und erwiderte dem Fürften 
Wolkonſki auf deifen Frage, wie es ihm gehe: „Ich verjpüre ein 
gelindes Fieber, das ich in der Krim trog des herrlichen Klimas, 
dad man uns fo gepriefen, erwiſcht habe.” Hierauf begab ſich 
Se. Majeftät zur Kaiferin und verbrachte den übrigen Theil des 
Abends mit ihr. 

An diefem Abende gedachte Kaifer Alerander im Geſpräch 
mit dem Kammerdiener Anilfimow des Vorfall, der ſich vor 
feiner Abreife in die Krim ereignet hatte und jagte zu ihm: „Ich 
bin Sehr frank.” Aniffimow antwortete ihm: „Man muß fi 
behandeln lajjen, Herr.” „Nein, Bruder” erwiderte der Kailer, 
„die Lichte, die ich vom Tiſch nehmen lieh, die fommen mir nicht 
aus dem Kopf; das bedeutet: ih muß jterben und fie werden 
dann neben mir jtehen.” Der Kammerdiener entgegnete: „Was 
belieben Sie zu reden? Gott behüte uns vor ſolchem Unglüd.“ 
Damit endete das Geipräd. 

Wyllie fchreibt in feinem Tagebuche: „Die Nacht verlief 
Ihleht. Weigerung, Arzenei einzunehmen. Er bringt mich zur 
Verzweiflung. Ich fürchte, diefer Starrfinn führt einmal zu 
Ihlimmen Folgen.“ 

Am 6. November jpeilte der Kaifer zum legten Mal bei 
der Kailerin zu Mittag, doch mußte er vom Tische aufitehen: eine 
ftarfe Tranfpiration ftellte fih ein. Um 3 Uhr holte der Sammer: 
diener Fedorow Wyllie herbei; ihm folgte Fürſt Wolfonjfi. Nad) 
des Fürften Erzählung fanden fie den Kaijer in feinem Arbeits: 
zimmer im Rod auf dem Divan figend, um die Füße war eine 
Tlanelldede gemwidelt. Wyllie machte den Borfchlag, Sofort ab- 
führende Pillen einzunehmen; der Kaifer ging darauf ein, doch 
nach einigem Proteſtiren, jchreibt Wyllie. 


Taganrog im Jahre 1825. 259 


Gegen Abend that die Arzenei ihre Wirkung, der Kaiſer 
fühlte fich leichter, wurde heiterer geſtimmt und bedankte ſich bei 
Woyllie und Wolfonjfi für ihre Fürforge. Hierauf ließ er Die 
Kaijerin zu fich bitten, die bis 10 Uhr Abends bei ihm figen blieb. 

Am 7. November verordnete MWyllie dem Kaiſer eine 
abführende Mirtur. Der Tag verlief ohne Fieber, der Kaijer 
fühlte fih etwas beifer und jchlief in der folgenden Nacht ruhig 
vier Etunden. Nach dem Tagebuh Wyllie's zu urtheilen konnte 
er damals fich noch nicht darüber Nechenichaft geben, ob es ein 
epidemijches, ein Arimiches oder irgend ein anderes Fieber jei. 
Gegen Abend jtellte fi eine leichte Dige ein, weil der Kaijer 
troß allen Zuredens die Mirtur nicht fortjegen wollte. 

Endlih am 8. November ftellte Wyllie die Diagnoje; er 
Schreibt: „Diejes Fieber it augenicheinlich eine febris gastrica 
biliosa.“ 

An diefem Tage fand Fürft Wolkonjfi den Kaifer leicht 
fiebernd auf dem Divan fißend. „Er fagte mir,” jchreibt der 
Fürjt in feinem Tagebuch, „daß er nicht wille, was er mit den 
Papieren beginnen folle, deren ſich eine große Menge anhäufe. 
Ich ermiederte ihm, jebt ſei nicht Zeit an Papiere zu Denfen, 
denn die Gejundheit Er. Majeftät ſei viel wichtiger; wenn Gott 
ihm wieder MWohljein Schenken werde, werde er Alles wie erforderlich 
erledigen können.“ Die Nacht verbrachte der Kaifer ziemlich gut, 
tranfpirirte aber jtark. 

Am 9. November gejtattete der Kailer, daß Fürft Wolfonjfi 
die Kaiſerin Maria über feine Krankheit unterrichtete. Einige 
Tage Später (am 11. November) befahl er dajjelbe nah Warjchau 
zu jchreiben, um den Zäſarewitſch SKonjtantin Pawlowitſch zu 
benachrichtigen. 

Beunruhigt durch die Krankheit des Kaiſers, ſchickte Die 
Kailerin ihren Leibarzt Stoffregen, um fih mit Wyllie zu berathen; 
doch es wollte nicht vorwärts gehen. So wie früher widerjeßte 
fi) der Kaiſer hartnädig dem Rath feiner Aerzte. 

Die kurzen Notizen, die Wyllie an den folgenden Tagen 
gemacht, illujtriren am beiten die Lage in Taganrog während der 
traurigen Novembertage des Jahres 1825. 

10. November. „Beute geht es ihm viel jchlechter.” An 
diejem Tage befiel den Kaifer um 11 Uhr Vormittags, art Hal 


260 Taganrog im Jahre 1825. 


er das Bett verließ, zum erften Mal eine jtarfe Ohnmadt. Den 
übrigen Theil des Tages verbrachte der Kranke in ſtarkem Fieber 
und murde ſehr ſchwach; am Abend jtellten fich jtarfer Schweiß 
und Vergeklichkeit ein, jo daß er nad dem Zeugniß des Fürften 
Molfonffi wenig oder faſt garnicht mehr ſprach. 

11. November. „Die Krankheit dauert fort. Der Darm: 
traftus iſt noch recht unrein. Wenn ih ihm von einem Aderlaß 
oder einem Abführmittel jpreche, geräth er in Wuth und würdigt 
mich feines Wortes.” An dieſem Tage wiederholte ſich der 
Ohnmachtsanfall, wenn aud in geringerem Grade. 

13. November. „Alles wird fchleht gehn, weil er nicht 
erlaubt noch darauf hört, was unbedingt geichehen mühte. Dieje 
Sucht zu jchlafen jagt nichts Gutes voraus.” 

Wyllie hat uns aus diejer Zeit noch eine werthvolle An- 
deutung hinterlaſſen. Er ſchreibt: „Schon vom 8. November an 
bemerfe ich, daß ihn etwas weit MWichtigeres, als der Gedanfe an 
feine Geneſung, beichäftigt und jein Gemüth beunruhigt.” 

„Ich weiß vortrefflih” fagte Nlerander zu Wyllie, „was 
für mich jchädlich und was nüglich it. ch habe nur Einjamfeit 
und Stille nöthig. ch vertraue auf den Willen des Allerhöchiten 
und auf meine SKonjtitution. Ich münjche, Sie richteten Ihre 
Aufmerfjamfeit auf meine Nerven, da dieſe außerordentlich zer: 
rüttet find.” Wyllie antwortete: „Sch glaube, daß das bei 
Monarchen weit häufiger als bei anderen Menihen geſchieht.“ 
„Und jept habe id dazu mehr Grund, wie je“ ermwiderte Der 
Kaiſer. 

Die Annahme Wyllie's, daß damals Sorgen das Gemüth 
Kaijer Alexanders quälten, erwies fih als vollfommen berechtigt. 
Unglüdliher Weije geftaltete fi) die Lage der Dinge jo, dab der 
franfe Kaiſer der für ihn jo nothwendigen Ruhe beraubt wurde. 
Wirklich langte damals ein Feldjäger in Taganrog an, der ihn 
aufs neue an das unglüdjelige Ereigniß in Grufino und an den 
untröjtlihen Einſiedler dajelbjt erinnerte. 

Der Inhalt diejes Briefes war folgender : 

„Bater und Mobhlthäter, Väterchen, Ew. Majejtät. 

Ich ſchicke Ihnen eine genaue Beichreibung des in Grufino 
verübten Verbrechens, fie ift von Schumſti lediglich für Sie nad) 
meinem Diktat geichrieben. 


Zaganrog im Jahre 1825. 261 


Mit meiner Gefundheit, Väterchen, geht es fchlecht, wie 
Sie aus dem Briefe Daller’s erjehen; jeden Tag wird es jchlecdhter, 
doch geduldig trage ich Alles und bemühe mich, jeden Tag ins 
Freie zu fommen; allein Herzklopfen, Fieber und Nachtſchweiße 
entfräften mich außerordentlich. 

Gerne möchte ich aus Gruſino fort, dody war es mir bis 
jest noch micht möglich, jegt aber will ic) nad Nowgorod, um 
dort in der Cinjamfeit, in der Nähe von Photius, zu leben; jehe 
ih, daß meine Krankheit ſich verjchlechtert, jo reife ih nad 
Betersburg, mwiewohl ic) das dortige Leben fürchte, denn, Väterchen, 
unjere Modeherren werden mir feine Ruhe gönnen. Ad) Väterchen, 
gerne flöge ich zu Ihnen nad) Taganrog, denn nichts wäre mir 
lieber, als meinen Wohlthäter zu jehen, allein meine Bruftichmerzen 
nehmen jo zu, daß ich bei dem jegigen fchlechten Wetter die Reife 
fürdte; wahrjcheinlich würde ich fie nicht überftehen. 

Der gute Peter Andrejewitich Kleinmichel ift in Nowgorod 
und führt die Unterfuhung in meiner Sade, er hat fait alle 
meine Dofleute, 22 Berfonen, arretirt.*) 

„Lebe wohl, mein Vater, glaube mir, bleibe ih am Leben, 
jo werde ih nur Dir allein angehören, jterbe id), jo wird meine 
Seele die Aufmerfjamfeiten Ew. Majeſtät gegen mid) nie vergeſſen.“ 

Es läßt ſich ſchwer feftitellen, ob Kaifer Alerander damals 
nod irgend welde Auskünfte über die Verſchwörung erhalten hat; 
nur das iſt gewiß, daß er am 10. November dem General- 
adjutanten Diebitſch den Befehl ertheilte, dem früher gefaßten 
Plane gemäß den Obrijten Nikolajew nad Charkow zu fchiden, 
jowohl um dem Unteroffizier Cherwood bei der weiteren Aufdeckung 
der Verſchwörung behilflich zu fein, als aud) um die Theilnehmer 
an ihr zu verhaften, wobei er den Nath und die Erläuterungen 
Sherwoods mit der nöthigen Vorſicht benutzen jollte. 

Ale diefe Sorgen um eine Angelegenheit, die die Ruhe 
Rußlauds und jeine perfönliche Sicherheit bedrohten, mußten ohne 
Zweifel die legten Lebenstage ANleranders mit Kummer erfüllen 


*) Die Unterfuhung des „guten“ Kleinmichels und der Prozeß der 
Mörder der Maitrefje Araltſchejew's bilden ein jchimpfliches Blatt in der 
Geſchichte der grenzenlojen Eigenmädhtigfeit des Grafen Alexei Andrejewitſch, 
da5 um jo mehr empören muß, ald es während der Regierungszeit deö milden 
und humanen Alerander Play finden fonnte. (Anmerkung des Yutors.) 


262 Taganrog im Jahre 1825. 


und trübe Gedanken in ihm hervorrufen. Der dem General 
adjutanten Diebitſch ertheilte Befehl war die letzte vom Kaifer 
getroffene Anordnung. 

Am 14. November ftand der Kaiſer um 7 Uhr früh auf, 
wuſch ſich ohne fremde Hilfe und rafirte fih. Hierauf legte er fid) 
wieder aufs Bett, befand ſich aber in jtarf erregtem Yujtande; 
nad einer Bemerefng Wyllie’s fiel es ihm damals jchwer, irgend 
einen Gedanfen richtig zu fallen. „Mein Freund, welch’ eine 
Ichredliche Angelegenheit ift das” jagte er, fi an Wyllie wendend. 

Wyllie machte an diefem Tage folgende Notiz: „Alles geht 
ſchlecht, wiewohl er nicht phantafirt. Ich beabfihtigte ihm einen 
Tranf mit Salzjäure zu geben, er weigerte ſich aber, wie 
gewöhnlich: „Entfernen Sie ſich.“ Ih begann zu weinen; er 
bemerfte es und jagte zu mir: „Kommen Sie her, lieber Freund. 
Hd) hoffe, Sie find mir deshalb nicht böje. Ich habe meine 
Gründe, jo zu handeln.” 

Nah dem Tagebude des Fürften Wolfonjfi „trat bei dem 
Kaiſer um Mittagszeit wieder jtarkes Fieber ein und hinter den 
Ohren zum Naden bin wurde der Hals merklich roth, deshalb 
machten Wyllie und Stoffregen Sr. Majeftät den Vorſchlag, 
Biutegel hinter den Ohren anzujegen, doch der Sailer wollte davon 
nichts hören, auf jede mögliche Weile verjuchten die Aerzte, die 
Ktaiferin und ich, ihn umzuſtimmen und durd Bitten zu bewegen, 
dod) er weigerte fih und äußerte jogar zornig, man möge ihn in 
Ruhe laſſen, denn feine Nerven jeien ohnehin zerrüttet, dieſe müſſe 
man zu beruhigen juchen und ihren gereizten Zujtand nicht durch 
unnüge Arzneimittel jteigern.“ 


MWolfonjfi äußerte nun in Gegenwart der Kaijerin zu den 
Herzten, jeiner Anfiht nad) ſei das einzige Mittel, den Kaijer 
zum Cinnehmen von Arzeneien und zum Anſetzen der Blutegel 
zu bewegen, — ihm den Empfang des heil. Abendmahls vorzu- 
ichlagen, „wobei der Geiſtliche inftruirt werden müßte, bei der 
Beichte und nad) Ertheilung der Saframente den Kaiſer zu 
ermahnen und ihn zum Anlegen der Blutegel zu bejtimmen, indem 
er vorbrädte, man halte das in Taganrog für das allerbejte 
Mittel. Die Merzte afzeptirten diefen Rath und baten die Kaiſerin, 
fie möge es übernehmen, dem Kranfen diejen Vorſchlag zu machen.“ 


Taganrog im Jahre 1825. 263 


„Um 12 Uhr Nadts” schreibt Taraſſow, der vom 14. 
November an meilt beim Kaifer wachte, „trat die Kaiferin zu 
Alerander, jehr aufgeregt, ſich aber bejtrebend, in jeiner Gegenwart 
ruhig zu erjcheinen. Sie jegte jih auf den Divan neben den 
Kranken und begann dem Kailer zuzjureden, er möge die ihm von 
den Werzten verordneten Arzeneien pünftlih einnehmen. Dann 
fagte fie franzöfiih zum Stranfen: 

Ich beabjichtige Ihnen mein Arzneimittel vorzufchlagen, das 
allen Menſchen Nutzen bringt. 

But, reden Sie — antwortete der Kaifer. 

Die RKaiferin fuhr fort: „Ich weis mehr wie Alle, daß Sie 
ein guter Chriſt find und die Regeln unferer rechtgläubigen Kirche 
ftreng beobachten; ich rathe Ihnen, zu geiftiger Hilfe Ihre Zuflucht 
zu nehmen: fie bringt Allen Nugen und führt auch in jchweren 
Krankheiten zu einer günftigen Wendung.” 

Wer hat Ihnen gejagt, daß mein Zuſtand bereits dieſes 
Arzneimittel für mid) nothwendig macht? 

Ihr Leibarzt Wyllie — ermwiderte die Kailerin. 

Sofort wurde Wyllie herbeigerufen. In bejehlendem Tone 
fragte der Kaifer ihn: „Glauben Sie, daß meine Krankheit jchon 
jo weit vorgerüdt ijt?” Durch diefe Frage aufs Aeußerſte in Ver: 
wirrung gelegt, beſchloß Wyllie dem Kaiſer ftrift zu erflären, er 
fönne ihm nicht verbergen, daß jein Leben fih in Gefahr befinde. 
Völlig ruhig fagte nun Se. Diajeftät zur Kaiferin: „Sch danke 
Ihnen, befehlen Sie, ich bin bereit.“ 

Dian beichloß, den Oberpriefter an der Kathedralkirche Alekjei 
Fedotow zu rufen, doch nad) dem Fortgange der Kaiferin jchlief 
der Kaiſer ein, es war das übrigens fein richtiger Schlaf, ſondern 
Schlafſucht (80por). In diefem Zuftande blieb der Aranfe bis 
5 Uhr Morgens. 

„Ich ſaß die ganze Nacht neben dem Kaiſer“ jagt Taraflow, 
„und bemerfte, daß er, von Zeit zu Zeit aufwachend, Gebete und 
Palme Heriagte, ohne dabei die Augen zu öffnen. 

Am 15. November um 5'1/% Uhr Morgens jchlug der 
Kaifer die Augen auf, erblicdte mid und fragte: „Befindet ſich 
der Geiftliche hier?” Sofort benadhrichtigte ich hiervon den Baron 
Diebitih, den Fürjten Wolkonjfi und den Baronet Wyllie, die im 
Empfangsjaal neben dem Arbeitszimmer die ganze Nacht zugebracht 


264 Taganrog im Jahre 1825. 


hatten. Fürft Wolfonifi berichtete hierüber der Kaiferin, die zum 
Kaifer eilte. Wir Alle betraten das Arbeitszimmer und blieben 
am Cingange neben der Thüre jtehen. 

Sogleidy) wurde der Überpriejter Fedotow hereingeführt. Der 
Kaiſer ſtützte fi auf feinen linken Cllenbogen, begrüßte den 
Heiftlihen und bat ihn um jeinen Segen; nachdem er Diejen 
empfangen, füßte er ihm die Hand. Hierauf jagte er mit fejter 
Stimme: „Ih wünſche die Beichte abzulegen und das heil. 
Abendmahl zu empfangen, ich bitte mir die Beichte abzunehmen, 
nicht wie dem Sailer, jondern wie einem gewöhnlichen Gemeinde: 
gliede; belieben Sie zu beginnen, ich Din bereit.” 

Dierauf hörte der Kaifer das Gebet an, das der Beichte 
vorausgeht und fagte dann zur Kaiferin: „Jh muß allein bleiben.“ 
Die Kaiſerin und alle Anwejenden entfernten fih. Die Beichte 
und die Ertheilung der Saframente dauerten nad) dem Zeugniß 
Taraſſow's 11/4 Stunde. Nach Beendigung der Beichte befahl 
der Sailer die Kaiferin zu rufen, mit ihr traten Fürſt Wolkonſti, 
Seneraladjutant Diebitich, Wyllie, Stoffregen, Taraſſow und Die 
Kammerdiener ein. Der Kaiſer empfing nun die Saframente. 
Die Kaiſerin fühte ihm Stirn und Hand. NWlerander wandte fic) 
an die Kaijerin, ergriff ihre Hand, küßte fie und jagte: „Niemals 
habe ich einen größeren Genug empfunden, aufrichtig danfe id) 
Ihnen dafür.” 

Und Gott offenbarte fih ihm und es wid von ihm Die 
graufige Erinnerung, die ihn Zeitlebens verfolgt hatte und oftmals 
inmitten der größten Feitlichfeiten wie ein Gejpenjt vor ihm er: 
ſchienen war. 

Nach dem Abendmahl begannen die Kaiferin und der Geijtliche 
den Kranfen zu beichiwören, ſich nicht weiter den ärztlihen Maß— 
nahmen zu widerjegen; mit dem Kreuz in Händen warf fi) Bater 
Alekſei auf die Kniee, unterjtügte die Ermahnungen der Kaijerin 
und jagte, wenn ein Kaijer jeine Gejundheit nicht jchone, jo jei 
es eine ſchwere Sünde, die dem Selbjtmord nahe füme. est 
wandte ſich Alerander an die Aerzte mit den Morten: „Lebt, 
meine Herren, thun Sie Ihre Pflicht, wenden Cie die Mittel 
an, die Sie für mid) für erforderlich halten.” 

Der Fieberzujtand hatte allmählich an Intenfität zugenommen, 
die Anfälle wieſen deutlid auf eine Affektion des Gehirns hin. 


Taganrog im Jahre 1825. 265 


Unverzüglich feste Taraſſow hinter den Ohren und am Naden 
30 Blutegel an, auf den Kopf wurden falte Umjchläge gelegt und 
von den Werzten innere Mittel angeordnet. Gegen Abend jchien 
der Zuftand des Kaiſers etwas beſſer, wenigjtens waren die Zufälle 
nicht jtärfer geworden. Dod gab Wyllie fih nicht trügerijchen 
Hoffnungen hin. Er notirt am 16. November in feinem Tage: 
buch: „Alles jcheint mir zu ſpät zu jein. Nur wegen Abnahme 
der Fförperlihen und Seelenfräfte und wegen Verringerung Der 
Senfibilität gelang es nad) dem Abendmahl und nad) den Er: 
mahnungen Febotow’s, ihm einige Arzeneimittel beizubringen.“ *) 

Die Naht verbradhte der Kaifer etwas ruhiger. Das Fieber 
war jchwäcer, das auf den Naden geſetzte Spaniichfliegenpflajter 
hatte qut gewirkt. 

Der 17. November begann mit einem berrlihden Morgen. 
Die Sonne jchien hell, ihre Strahlen fielen gerade auf die Feniter 
des Kaiſers. Der Kranke befahl die Fenitervorhänge aufzuziehen, 
erfreute fih am Sonnenichein, den er jtets jehr geliebt hatte, 
und ſagte: „Wie jchön iſt es!” 

Einige andere Symptome gaben geringe Hoffnung auf eine 
Wendung zum Beſſeren in der Krankheit des Kaijers, die übrigens 
nad einer Bemerkung Taraſſow's bereits den höchjten Grad der 
Entwidelung erreicht hatte. 

Die Kaiſerin, die nicht einen Schritt vom Sterbelager ihres 
Gemahls ſich entfernte, freute jich des ſchwachen Schimmers von 
Hoffnung und beeilte fich, hierüber an die Kaiſerin-Wittwe nad) 
Petersburg zu jchreiben. 

Doch der Tod jchwebte bereits über dem armen Xeidenden: 
er war im Berlöjchen. Das, was die Kaijerin und Einige von 
den Anwejenden für eine Wendung zum Bellern nahmen, war 
nur ein legtes Auffladern des Lebenslichtes. Gegen Abend wurde 
der Zuftand des Kaijers wieder jchlechter, alle Zufälle jteigerten 

*) In den „Erinnerungen eines Diplomaten“ führt Lord Loftus eine 
Erzählung an, die er im Petersburg von Wpllie gehört hatte. Nachdem man 
dem Kailer Alerander mit jeiner Zuftimmung Blutegel angefegt hatte, fragte er 
die Kaiferin und Wyllie, ob fie nun zufrieden wären. Kaum hatten jie ihre 
Zufriedenheit ausgedrüdt, da riß der Kaiſer plöglid) fid) die Blutegel ab, die 
allein ihm das Leben retten konnten. Dabei ſagte Wyllie zu Yoftus, augen: 
ſcheinlich habe Alerander den Tod gelucht und deshalb allen Mitteln ſich widerlegt, 
die ihn retten fonnten. (Anm. des Autors.) 


266 Taganrog im Jahre 1825. 


fih, die Symptome der Gehirnaffeftion wurden deutlider und 
jede Hoffnung auf einen günjtigen Musgang der Krankheit war 
dahin: „Keine Hoffnung, meinen vergötterten Gebieter zu retten“ 
ruft Wpllie in einer Notiz aus, die er am 18. November made. 

Taraſſow jchreibt: „Die ganze Nacht verbrachte der Kaiſer 
in Bemwußtlofigfeit; nur zuweilen öffnete er die Augen, wenn bie 
Kaiferin, die neben ihm ſaß, ihn anredete, zumeilen richtete er 
auch feine Blide auf ein Kruzifir, befreuzigte ſich und lallte Gebete. 
Trog der Bewußtlofigkeit in Folge des ſich jteigernden Hirndruds 
fühlte er die Gegenwart der Kaiferin, jo oft fie zu ihm trat, 
ergriff ihre Hand und hielt fie an fein Herz. Gegen Abend 
begann ber Kaifer fichtbar jchwäcer zu werden. Wenn ich ihm 
aus dem Löffel zu trinken gab, merfte ih, dab er langjam und 
nicht frei zu jchluden anfıng. Ohne zu fäumen gab ich hiervon 
Nachricht. Sofort berichtete Fürſt Wolkonjfi hierüber der Kaiſerin, 
die um 10 Uhr Abends ins Arbeitszimmer trat und ſich auf 
einen Stuhl neben dem Sterbenden hinſetzte, beftändig hielt fie 
mit ihrer linfen Hand feine rechte. Bon Zeit zu Zeit weinte fie. 
Ich ftand die ganze Nacht hinter der Kaiferin, zu Fühen bes 
Kaifers. Was man ihm zu trinfen gab, jchludte er mit großer 
Mühe herunter; eine Biertelftunde nad) Mitternaht wurde Die 
Athmung merklich langlamer, fie war aber ruhig und jchmerzlos. 

Die Glieder der Suite und die Hofbeamten verbrachten Die 
ganze Nacht ftehend im Schlafzimmer und warteten auf das Ende, 
das jede Minute näher Fam. 

Es brady der 19. November an. Der Morgen war dunfel 
und trübe; der ganze Platz vor dem Palais war von Wolf bededt, 
das aus den Kirchen, wo es um Geneſung für den Kaiſer gebetet 
hatte, ſchaarenweiſe zum Palais ftrömte, um Nachricht über feinen 
Zuftand zu erhalten. 

Der Kaijer wurde allmählich jchwächer, oftmals öffnete er 
die Augen und richtete fie auf die Kaiferin und aufs Kruzifir. 
Seine legten Blide waren fo friedlich und drüdten ſolch' ein 
gläubiges Vertrauen aus, daß wir alle, die wir anweſend waren 
und trojtlos ſchluchzten, von unausiprechlicher Andacht erfüllt 
wurden. In feinem Blid lag nichts Irdiſches mehr, fondern 
bimmlisches Entzüden und fein Zug von Leiden. Die Athmung 
wurde immer feltener und leiſer.“ 


Taganrog im Jahre 1825. 267 


Um 10 Uhr 50 Minuten ging Kaiſer Alerander in Die 
Ewigkeit über. 

Die Kaijerin, die bejtändig neben dem Sterbenden gejellen 
hatte, erhob fich, hielt fniend ein Gebet, ſchlug über dem Kaijer 
ein Kreuz, füßte ihn, drückte ihm die Augen zu, band hierauf mit 
einem zujammengelegten Tuche das Kinn auf, betete nochmals 
fniend, verbeugte fi tief vor dem Entichlafenen und begab ich 
dann aus dem Arbeitszimmer in ihre Gemächer. 

Am jelben Tage noch fand die Kaiſerin foviel Kraft, folgende 
Zeilen an die Kaiferin Maria Feodorowna zu richten; 

„Iheure Mutter! Unjer Engel iſt im Himmel und id) blieb 
auf Erden; o fönnte ich, von allen Wejen, die ihn beweinen, 
das unglüdlichite, mid) bald mit ihm vereinigen! O mein Gott, 
das überjteigt faſt die menſchlichen Kräfte, doch da Er es geſchickt 
hat, jo muß es ohne „Zweifel getragen werden fönnen. Ich 
verjtehe mich jelbjt nicht mehr, ich weiß nicht, träume ich etwas, 
ich fann weder über meinen Zujtand Rechenschaft geben, noch ihn 
falten. Hier haft Du eine von feinen Haarloden, theure Mutter. 
D warum mußte er joviel leiden! Doch jet zeigt jein Geficht 
nur den Ausdrud der Zufriedenheit und des Wohlwollens, der 
ihm eigen ijt. Er jcheint Alles, was um ihn gejchieht, zu billigen. 
D theure Mutter, wie unglüdlid find wir Alle! So lange er 
hier bleibt, bleibe auch ich bier, führt man ihn fort, jo werde, 
falls man es für möglich findet, aud ich fort. Ich werde mit 
ihm reifen, jo lange ich fann. Ich weiß nody nicht, was mit 
mir geichehen wird. Theure Wiutter, bewahren Sie mir Ihr 
MWohlwollen.” 

Selbjt unheilbar franf, wurde Elijabeth in ihrem untröjtlichen 
Schmerz nur von einer Hoffnung bejeeit; bald mit dem theuren 
Entſchlafenen im Jenſeits vereint zu werden.*) 


*) Der Wunſch der Kailerin Eliſabeth ging in Erfüllung. Die Leiche 
ihres Gemahls, die mit Kaiſerlichem Pomp durch ganz Rußland geführt und 
am 13, Mär) 1826 in der Peterpaulsfeitung zu Wetersburg bejtattet wurde, 
hatte fie nicht begleiten Fönnen. Krank verlieh jie Taganrog am 21. April und 
ftarb auf der Reiſe nad) Petersburg im Tulajchen Gouvernement in der Kreisjtadt 
Bielew am 4. Mai 1326, des Morgens früh; die Kaiferin-Mutter Maria, die 
ihr von Petersburg aus entgegengeeilt war, traf erjt einige Stunden nad) ihrem 
Tode in Bjelemw ein. (Siehe „Ruſſtaja Starina“ 1897, Aprilheft S. 5— 25.) 


268 Taganrog im Jahre 1825. 


I. 


Am 19. November 1825 geihah ein großes Unglüf für 
Nußland: der bejte der Monarchen Europas war nicht mehr. 
Als er von der politiihen Bühne verſchwand, trat nur all’ das 
Herrliche jeines Lebens in den Vordergrund; alles Uebrige fiel 
der Vergejjenheit anheim. tan fieht ihn vor fich, ſchreibt W. A. 
Shufowffi im November 1826, dieſen herrliden Genius, den 
man jo freudig im Jahre 1801 begrüßte; man fieht den ruhm— 
bededten Kaiſer vor fi, dem Rußland die Jahre 1813 und 1814 
verdankt; man fieht den Tröjter des Volkes nad der vorigjährigen 
Ueberſchwemmung; man jieht den freundlichen, wohlwollenden 
Menſchen, der in perjönlihem Verkehr jo liebenswürdig war, nad) 
dem Ausdrud Speranifi’s jtets wahrhaft bezaubernd. In feiner 
Seele gab es viel ideal Schönes; er wünſchte aufrichtig das Gute, 
er liebte das Gute und ſuchte es zu erreichen. Plan hatte Grund 
traurig zu fein, namentlid im Hinblid auf die unbefannte Zukunft, 
die Nußland erwartete, welchem, wie ein ruifiiher Schriftiteller 
fid) bildlidy ausdrüdte, nad) dem Tode Nleranders bejtimmt war, 
in einen falten unfreundlichen Korridor zu treten, in einen langen 
finjteren Tunnel. Das fühlten viele Zeitgenoffen und gejtanden es. 

Allein abgejehen von der Trauer, die auf aan; Rußland 
fi) herabjenfte, brach für diejenigen, die das Sterbelager des 
verewigten Monarchen umjtanden, noch eine bejondere, von ihnen 
allein zu durchlebende, wahrhaft tragiihe Zeit an. Ferne von 
der Hauptjtadt und von allen Gliedern der Kaijerlihen Familie, 
in einer einjamen Stadt des Ruſſiſchen Reichs, 2000 Werft vom 
Zentrum der Staatsverwaltung, tauchte vor ihnen die ſchickſals— 
ihwere Frage auf: wer wird nun Sailer fein, wem joll man den 
Eid leijten, von wen fünftig Befehle erwarten? Und noch dazu 
mußte man ſich diefe Fragen inmitten einer weitverzweigten Ver: 
ſchwörung und alljeitiger Gährung vorlegen. 

„Die Sphinr, die bis zum Tode von Niemandem errathen 
ift,“ wie ein Dichter treffend Alerander genannt, bat Niemandem 
feinen legten Willen entdedt und jelbit im Angeficht des unver: 
meidlihen Todes, deſſen er fid) bewußt war, es nicht für nöthig 
gehalten, auch nur mit einem Worte, mit einer Andeutung dieje 
für das Wohl Rußlands jo bedeutungsvolle Frage zu berühren. 
Ganz im Gegentheil, in jeinen lebten Lebenstagen hat Kaijer 


Taganrog im Jahre 1825. 269 


Alerander wie abjichtlih alle irdischen Angelegenheiten von ſich 
ferne gehalten und iſt wie ein Privatınann geitorben, der jeine 
Rechnung mit der Welt abgeichloffen hat. Deshalb ift es nicht 
zu verwundern, dab er nicht auf dem von ihm bejtimmten Nad): 
folger hingewiejen hat; fi) damit begnügend, daß er im Geheimen 
jeine Anordnungen getroffen, fchien er zu denfen: man wird das 
Tejtament eröffnen und dann erfahren, wen Rußland zufällt. 

Vom Vorhandenfein eines Dofuments, welches den Groß: 
fürften Nikolai Pawlowitſch zum Nachfolger bejtimmte, wußte bei 
Lebzeiten Nleranders Niemand, ausgenommen drei Staatsbeamte: 
Graf Araktichejem, Fürft A. N. Goligin und der Erzbifchof von 
Moskau, Philaret. In Folge einer unglüdlichen Verfettung der 
Umjtände war Seiner von ihnen beim Tode des Kaiſers in 
Taganrog zugegen. Bon den drei beim Kaifer befindlichen General: 
adjutanten: dem Fürften Molfonjfi, dem Baron Diebitih und 
Tſchernyſchew wußte Niemand, daß die Nechte des älteren Bruders 
auf den Thron auf den nädjitfolgenden übertragen waren. 

Ter Seneraladjutant Diebitich erzählte jpäter dem Michailomifi: 
Danilewjfi: „Der Kaiſer, der mir viele Geheimniſſe anvertraut hat, 
hat mir hierüber nicht ein Wort mitgetheilt. Einſt war id) mit 
ihm in den Anfiedelungen, er wandte fih an den Großfürſten 
Nikolai Pawlowitſch und ſagte zu ihm: „Das wirt Du erhalten 
müjlen.“ Aus diefen Worten jchloß ich nur, daß der Großfürft 
im Hinblid auf jein Alter den Kaifer und den Thronfolger über: 
leben und dann ihr Nachfolger jein werde.“ 

Darauf beichränfte fich Alles, was Diebitih in Taganrog 
über die TIhronfolge wuhte. Dem Fürjten Wolkonſki war ebenfalls 
nichts über dieſen Gegenſtand befannt. Schließlich befand ſich die 
Kaiferin Elifabetd in derjelben Lage und wußte nichts von der 
bereits erfolgten Thronentijagung des Groffürften Konjtantin 
Pawlowitſch. 

Weiter erzählt Diebitſch: „Fürſt Wolkonſki und ich, wir 
nahmen an, der ſeelige Kaiſer Alexander Pawlowitſch habe ein 
Teſtament bei ſich, denn er trug beſtändig ein Kouvert mit Papieren 
in der Taſche, deren er ſich niemals entäußerte. Als wir aber 
nach ſeinem Tode die Papiere öffneten, fanden wir, daß es die 
Abſchriften zweier Gebete und einiger Kapitel aus der heiligen 
Schrift waren.“ 


270 Taganrog im Jahre 1825. 


Bei einer folchen Lage der Dinge blieb dem Generaladjutanten 
Diebitſch nichts übrig, als über den Tranerfall nah Warſchau an 
den Zälarewitich Konftantin Pawlowitſch zu berichten, als an bie: 
jenige Berfönlichfeit, die jest nach dem Geſetz der Erbfolge Kailer 
von Rußland war. 

Das in Taganrog verfaßte Dokument über den Tod Kaijer 
Nleranders wurde dem llerunterthänigiten Bericht des Baron 
Diebitih an den Kaiſer Konjtantin vom 19. November 1825 
beigelegt. 

Einen Tag nad) dem Tode des Kaiſers Nlerander, am 20. 
November, fand die Sektion ſeiner Leiche im Beilein des General: 
lieutenants Tſchernyſchew ſtatt. Das Zeftionsprotofoll unter: 
Ichrieben neun Aerzte, unter ihnen die Leibärzte des verjtorbenen 
Kaifers und der Kaiſerin Eliſabeth. Am Schluß des Protokolls 
heißt es: 

„Diefe anatomische Unterfuhung beweiſt augenscheinlich, daß 
unſer Allerhöchſter Kaiſer an einer akuten Krankheit gelitten bat, 
von der Anfangs die Yeber und die übrigen zur Gallenbereitung 
dienenden Organe befallen waren; dieje Krankheit ging im weiteren 
Verlauf allmählich in ein heftiges Fieber über, mit Blutfongejtionen 
zu den Sehirngefäßen und nachfolgender Abjonderung und An: 
häufung einer jeröjen Flüffigfeit in den Gehirnhöhlen, und war 
Ichliehlih die Todesurfache Sr. Kaiferlihen Majeftät.“ 

Als Anhang zum furzen Abriß der Trauerereignille, Die 
1825 in Taganrog vor fi gingen, bringe ich einen Brief des 
Fürſten Wolfonfti an den Generaladjutanten Safrewili; in diefem 
Briefe findet ſich eine jchonungsloje, doch gerechte Kritik der 
Handlungsweife der verruchten Schlange, die die lebten Lebens: 
wochen Kaiſer Aleranders verdüjtert Hat. 

MWolfonjfi jchreibt unter Anderem am 21. November 1825: 
„Die verruchte Schlange trägt zum Theil Schuld an dieſem 
Unglüdsfall dur ihre garftige Affaire und ihre abjcheuliche 
Handlungsweile; denn am erjten Krantheitstage las der Kaijer 
die von der Schlange eingelaufenen Papiere, da befiel ihn plößlich 
ein äußerſt heftiges Fieber, das wahrjcheinlid dem Aerger feinen 
Ursprung verdanfte, er legte fi zu Bett und iſt nicht wieder 
aufgejtanden. Habe ich nicht Necht gehabt, als ich Ihnen jagte, 
dieſes Ungeheuer richte Rußland zu Grunde und werde auch den 


Taganrog im Jahre 1825. 271 


Kaifer ins Verderben ftürzen, der zu fpät von feinen Schandthaten 
erfahren werde? Jetzt ijt eingetroffen, was ich geahnt habe. Kann 
diefes ‚Ungeheuer noch die Kühnheit haben, fi) den Augen ber 
Welt zu zeigen und wird ihn jein böjes Gewiſſen nicht ver: 
nichten? Wenn aber das auch zutrifft, jo wird damit das Unglück, 
das Rußland und uns alle treue Unterthanen des Kaijers betroffen 
hat, nicht ungejchehen gemacht.“ 

Aus der Antwort des Generaladjutanten Safrewifi auf 
diefen Brief, dat. Hellingfors d. 10. Dezember 1825, fann man 
erjehen, wie jehr er mit der Aeußerung des Fürlten MWolfonffi 
über die Handlungsweile des Grafen Araftichejew übereinjtimmte. 

„Nur zu jehr bin ich von der Nichtigfeit ihrer VBorahnungen 
in Bezug auf das friehende Gewürm überzeugt, das durch feinen 
Geifer die letzten Augenblide jeines Wohlthäters zu vergiften 
vermochte” jchreibt Sakrewſti. „Erinnern Sie ſich meiner Anficht 
über ihn, fie hat ſich jegt in auffallender Weiſe bewahrheitet.*) 
Nicht ohne Grund it er mir von jeher in höchſtem Grade anti: 
pathiſch geweſen. Wenn Sie wühten, wie unerträglich jest allen 
Vaterlandsgenoffen aud nur der Gedanfe an jeine Erütenz iſt! 
Dan Schreibt mir aus Petersburg, daß fat alle Menichen ihn 
haſſen und zugleich wie ein Ungeheuer fürchten. Selbſt hat er 
jest feinen gemeinen Charakter offenbart, dadurch daß er damals, 
als die ſchmachvolle Geſchichte mit ihm geichah, feine Ehre und 
feine Pfliht dem Vaterlande gegenüber vergaß, Alles von ſich 
abichüttelte und fich in feine Höhle zu ſeinen friehenden Kreaturen 
zurückzog, jet aber, wo jein Wohlthäter geftorben it, das Herz 
dazu hatte, aus feinem Schlupfiwinfel hervorzufriechen und wieder 
jeine Gefchäfte zu übernehmen. Nachdem er jo gemein gehandelt, 
ift es nicht Schwer zu errathen, welche niedrigen Gefühle diefe Mip- 
geburt von Natter beherbergt.” 

Ein hartes Urtheil, aber, das muß man befennen, ein 
gerechtes! Wirklih wurde Graf Nraftjchejew, der dem Kaiſer 
Alerander verfichert hatte, er habe wegen jchwerer Zerrüttung 
der Gejundheit alle Ueberlegung verloren, die ihm anvertrauten 


*) Schon 1819 hatte 9. U. Safremjfi behauptet, „der Graf Araktſchejew 
jei der jhädlichite Menich in Rußland.“ Hieran hatte Sakrewſti den prophetiichen 
Ausipruh geknüpft: „Ich glaube, Kleinmichel wird mit der Zeit noch ſchlechter 
wie er werden.“ (Anm. des Autors.) 


272 Taganrog im Jahre 1825. 


Geſchäfte mweiterzuführen, und denfe nur daran, in der Einfamfeit 
in der Nähe von Photius zu leben, plöglich, nachdem er dem 
Kaiſer Konftantin den Eid geleiftet, auf ganz wunderjame Weiſe 
von allen feinen Leiden befreit und berichtete am 30. November 
dem neuen Herriher: „Ta meine Krankheit ſich gebejlert hat, 
habe ich das Kommando über das abgetheilte Korps der Militär: 
Anfiedelungen wieder angetreten.” 

Troß ihrer Krankheit und Schwäche dachte Kailerin Elifabeth 
inmitten ihres namenlojen Schmerzes an Laharpe und ehrte ben 
früheren Erzieher Kaiſer Aleranders durch folgenden eigenhändigen 
Brief: 

„Von Allen, die meinen tiefen Kummer theilen, ift mir der 
Gedanke an Sie in dieſer traurigen Zeit der theuerjte. Gerne 
beweinte ich mit Ihnen den herrlichen Menſchen, deſſen jchone 
Seele Ihnen befannt war; Sie folgten feiner Entwidelung, Sie 
trugen dazu bei, Ihnen dankt er zum Theil die ausgezeichneten 
und an jeinem Plage jeltenen Eigenschaften, die ihn zum Liebling 
und zum Entzüden jeines Volfes und der Ausländer machten; 
Niemand kann bejjer wie Sie die Größe meines Verluftes ermeſſen 
und zu mir in dem Tone reden, nad welchem mein Herz vor 
Allem dürjtet. Sie willen, daß er zu befennen liebte was er 
Ihnen zu danken hätte, und ich finde Troſt darin, Ihnen jolches 
zu wiederholen. Sie jagen, daß der Neft Ihrer Lebenstage durd) 
unjer Unglüd verdüftert jei, und id) glaube Jhnen das; doc) denfen 
Sie an den unmittelbaren Einfluß, den Sie auf feine Jugendzeit 
hatten, denfen Sie an das Heil, das Sie dadurch ihm und der 
ganzen Menjchheit erwiefen haben, und Sie werden noch Trojt in 
diefem Gedanken finden. 

Was ſoll ih Ihnen von mir mittheilen? Ich brauche Ihnen 
nicht zu jagen, daß ich vollitändig unglüdlid bin, daß ich Alles 
auf diefer Welt verloren habe, wo jeine Liebe für mid) das 
höchſte und werthoollite aller Güter war. Als ich jo glücklich 
darüber war, mit ihm an dieſen fernen Ort zu reifen, weil er 
den Aufenthalt in ihm für förderlih für meine Gejundheit hielt, 
fonnte ich da vorausjehen, daß er ein Opfer feiner Thätigfeit und 
jeiner Bemühungen für fein Land werden werde. Die rajchen 
Fortichritte der jüdlichen Provinzen feilelten und interejfirten ihn; 
zu großen Strapazen jegte er ſich aus, als er die Krim bereijte, 


Taganrog im Jahre 1825. 273 


zu wenig achtete er feiner Gefundheit dabei, in einem Klima das 
gerade durch feine Schönheit gefährlich it, und brachte von dort 
die eriten Symptome der jchredlihen, jo raid verlaufenden 
Krankheit mit, die ihn uns entrilien hat. Zu niedrig jchäßte er 
jein Leben, das iſt der einzige Vorwurf, den er verdient hat. 
Ich halte es für meine Pflicht, alle diefe Details feinem ältejten 
Freunde mitzutheilen und finde Troft darin, mit Ihnen von ihm 
zu Iprechen. Gleichzeitig bedauere ich, daß jo große Entfernungen 
zwiſchen uns liegen, während wir Beide doch wünſchten, die auf- 
richtige, tiefe Trauer, die uns niederdrüdt und bis zum Ende 
unjerer Tage nicht aufhören wird, mit einander zu theilen.“ 


Neue Belletrikik, 


Friedrich Nietzſche, Gedichte und Sprühe. — Jenny von Reuß, Tempi 
passati. — Korfiz Holm, Schloß Uebermutd. — Guy de Maupailant, 
Gejammelte Werke. 


Noch steht die Welt unter dem erjchütternden Eindrud des 
grauenvollen Verbrechens, durch welches die habsburgiſche Monarchie 
ihrer allgeliebten und verehrten, edlen Kaiferin Elifabeth jo jählings 
beraubt ift. In die Bruft der jchuldlojen Frau, der Märtyrerin 
auf dem Saijerthrone, die ihr jchweres Loos mit bemwunderungs- 
würdiger Ergebung trug, ijt der Mordjtahl des Frechen Anarchiſten 
gedrungen, der jekt mit empörendem Zynismus feiner bübijchen 
That fih noch rühmt und den feigen Meuchelmord als leuchtendes 
Beijpiel Hinzujtellen fich nicht entblödet. Wie gelähmt von Ent: 
jegen umjtehen die Völker Oeſterreich-Ungarns ihren greifen 
Monarchen, der unter Strömen von Thränen fein ebles, ſchmählich 

5 


274 Neue Belletriftif. 


ermordetes Weib in der Gruft der Kapuziner von Wien gebettet 
hat, und durch die ganze zivilifirte Welt geht neben der Entrüftung 
über das Gefchehene ein Gefühl tiefer, aufrichtiger Theilnahme 
mit jo großem Leid, verbunden mit der dumpfen, nur zu berechtigten 
Furcht vor noch bevorjtehenden ähnlichen Geſchehniſſen. 

Aber wird auch der richtige Standpunkt für die Beurtheilung 
des erjchredenden Ereigniſſes nad allen Zeiten bin gefunden? 
Wirkt es die innere Einkehr und Läuterung, die es mahrlid) 
wirfen Sollte und müßte? Das fteht noch jehr in Frage. Mit 
dem Entrüftungsgeichrei gegen die Greuel der Anardiften, mit 
den zunächſt noch recht vagen Plänen zur Bekämpfung Diejer 
verabicheuenswürdigen Richtung iſt die Sache nocd lange nicht 
abgethan, jo jehr berechtigt dies Alles auch ohne Zweifel ift. Wir 
ernten da nur die jcheußlichen Früchte jenes großen Giftbaumes, 
deſſen Wurzeln die moderne Geſellſchaft in weiten Kreifen liebevoll 
gehegt und gepflegt, an deſſen Blättern und Blüthen fie oft 
unverhohlen ihre herzliche Freude gehabt hat. Wenn jet Die 
Zeitungen aller Länder und Völker, die Blätter der verſchiedenſten 
Parteirihtungen jich nicht genug thun fönnen in Neußerungen der 
Entrüjtung über Luccheni's elende Mordthat, dann ift es wohl 
am Plate die Frage aufzumerfen, wie viele derjelben Blätter die 
moderne Weisheit von der Ummerthung aller Werte, von der 
Abſchaffung der chriltlihen Lämmleinmoral und Sflavenmoral, 
und Erjaß dur) die Herrenmoral des Löwen und Adlers, Die 
rüdjihtslos ihre Opfer morden, gepriefen und verherrlicht haben; 
wie wenige es gewagt, Dem und Aehnlichem energiich und ent: 
Idieden entgegenzutreten. Lie man fich nicht in weiteſten Kreiſen 
den höhnenden Spott über die „Tugendbolde,” die „moralijchen 
Brüllaffen“ ſchmunzelnd gefallen und begeifterte ſich mit Friedrich 
Nietzſche an deſſen WVerherrlihung des Verbrecherthums, der 
Bejtialität, des rüdfichtslojen Egoismus, der Immoral und Irre: 
ligiofität? Die Verbrechen des Einzelnen find die Verbrechen der 
Gejammtheit, — dieſer tiefe und wahre Sag trifft hier in vollem 
Maße zu. Zwiſchen dem Anarchismus und der fo viel bewunderten 
modernen Litteratur bejteht ebenjo unleugbar ein Zufammenhang 
wie zwiſchen der franzöfiichen Litteratur des vorigen Jahrhunderts 
und den Greuelthaten der franzöfiichen Revolution. Die bürgerliche 
Geſellſchaft, die einem Niegiche zujauchzt und ihn zu ihrem geiftigen 


Neue Belletriftik, 275 


Führer erhebt, hat fein Recht, fich über Luccheni und fein 2er: 
breden zu entrüften. Mitichuldig hieran wie an vielem Anderem 
find in bervorragendem Maße jene führenden Geilter, die mit 
bewußter Energie auf eine Nevolutionirung der modernen Menſchheit 
gegen Alles, was uns bisher heilig gemwejen, losarbeiten. Mit: 
Ihuldig ift das große Heer jener Schriftiteller und Dichter, Die 
mehr oder minder bewußt, mehr oder minder zyniſch daran arbeiten, 
alles Gute und Edle in den Staub zu ziehen, es fo lange und 
jo reichlich mit Koth zu bewerfen, bis es nicht mehr zu erfennen 
ift. Mitichuldig iſt Jeder, der diefen Geift direft oder indirekt, 
mit offener oder geheimer Sympathie in feinem Wachsthum fördert. 
Mitichuldig find wir Alle, wenn wir nicht, ein Jeder an feinem 
Theile, diefem Geijt überall, wo er fid) regt, entgegentreten und 
ihn mit aller Energie befämpfen. 

Daß Nietzſche ein ungewöhnlich geiftvoller Schriftteller war, 
fann nicht bezweifelt werden; ebenjo unzweifelhaft aber ift es, 
daß feine geiftige Entwidelung einen durdaus pathologischen 
Charakter trägt. Gegenüber dem unglüdlihen halb oder ganz 
Wahnfinnigen verjtummt nothiwendig das moraliſche Urtheil, aud) 
wenn er die ralenditen Theorien entmwidelt. Aber es iſt ein 
furdtbar ernjtes Zeichen der Zeit, daß dieſe genugſam befannten 
Theorien in jo weitem Umfang begeilterte Anerkennung gefunden 
haben und von Unzähligen wie das Evangelium einer neuen Zeit 
begrüßt werden; — daß mit dem Andenken des unjeligen Mannes 
ein Kultus getrieben wird, als handle es ſich bier in Wahrheit 
um einen berufenen geiftigen Führer der Nation, der Menichheit. 
Neben das Goethe-Arhiv ift nunmehr in Weimar bereits ein 
Niegfhe:-Arhiv getreten, und aus demjelben veröffentlicht 
die Schweiter des Unglüdlihen, Elifabeth Förjter-Niegiche, 
„Sedichte und Sprüde von Friedrid Nietzſche“ (Leipzig 
1898). Sie follen das Befte darjtellen, was er von der Kindheit 
bis zum vollendeten Irrſinn dichteriich geichaffen hat. 

Nach Niegiche's profaiichen Schriften, deren glänzende Diftion 
oft von poetifcher Gluth durchtränft ift, oft zu dithyrambiicher 
Begeilterung fi erhebt — biendend, berüdend, fortreigend — 
habe ich eigentli von jeinem poetiihen Können Größeres erwartet. 
Wenn aud als Philofoph nicht ernft zu nehmen, jchien er doch 
als Spradfünftler, als Dichter von gewaltiger Begabung au „jein. 


276 Neue Belletriftik. 


Allein die vorliegende Sammlung bejtätigt ſolche Vorausſetzung 
nur zum Theil und dürfte Manchem in dieſer Richtung eine 
Enttäufchung bereiten. Die Schöpfungen der früheren Jahre find 
vielfah recht unbedeutend, in Form und Inhalt nicht felten 
mangelhaft; diejenigen der Neifeperiode, der Zarathuftrazeit, leiden 
zu fehr an Maßlofigfeiten und Brutalitäten aller Art, laſſen zu 
oft Schon den irren und wirren Geiſt erfennen, als daß eine rein 
äfthetiiche Freude ihnen gegenüber auffommen fönnte, wie fie 
wirfliden Kunftwerfen gegenüber doch auch dann durchaus möglich 
it, wenn der Betrachtende auf diametral entgegengeleßtem Stand: 
punkt jteht wie der Scaffende. Echte künſtleriſche Vollendung 
müffen wir aud) da als ſolche anerfennen, wo der Dichter Ber: 
breden und Wahnwig predigt; aber von ſolcher Vollendung ift 
in Der vorliegenden Sammlung doch nur wenig zu fpüren. 
Immerhin findet fih, wenn man das Ganze überblidt, mandes 
interejjante und jchöne Gedicht, mancher bedeutende Sprud, mie 
das bei einem jo geiftvollen Manne nicht anders zu erwarten war. 

Unter den Gedichten aus der Kindheit und Jünglingszeit 
(1858---1864) find „Gruß“ und „Alt Mütterlein“ recht hübſch. 
Ergreifend finde ih „Du hajt gerufen — Herr, ich komme,“ — 
ein von echtem frommem Empfinden zeugendes Gedicht. Hätte 
der Didhter etwas von der hier waltenden Stimmung fi) dod 
auch in jpäteren Jahren zu bewahren gewußt! Bier beugt er fi) 
andäcdhtig, veuig vor dem Sünderheiland, während er jpäter in 
Hohn und Spott über Kreuz und Chriſtenthum fi) garnicht genug 
tun fann und den einjt von ihm angebeteten Nichard Wagner 
empört verläßt, indem er ausruft: 

Weh! Daß auh Du am Kreuze niederjantit 
Auch Du! Auch Du — ein Ueberwundener! 

Unter den Gedichten der Neifeperiode finden fi) manche 
wirklich Schöne, 3. B. „Der Herbit,“ „Nad neuen Meeren.” Auch 
die legten, großentheils ſchon krankhaft zerfahrenen Schöpfungen 
enthalten erhabene und ergreifende Stellen, 5. B. „Die Sonne 
ſinkt“ u. a. m. Von den Eprüden hebe ich als geijtvoll und 
treffend den folgenden heraus: 

Wer Biel einjt zu verfünden hat, 
Schweigt Biel in fi hinein. 

Wer einjt den Bli zu zünden hat, 
Muß lange — Wolle jein. 


Neue Belletriftif. 217 


Aber neben einigen ſolchen Blüthen echten Talents wieviel 
Häßliches, Umerquidliches, Abſtoßendes, Frivoles und geradezu 
Unfinniges! Das Gedicht „An Goethe” beginnt: 

Das Unvergängliche 
Iſt nur Dein Gleichniß! 
Gott der Berfängliche 
Iſt Dichter — Erſchleichniß u. ſ. w. 
Der Spruch über „Das Neue Teſtament“ lautet: 
Dies das heiligſte Gebet — 
Wohl: und Wehe⸗Buch? 
— Dod an feiner Pforte fteht 
Gottes Ehebrud! 

Aus demielben Geijt it das folgende Poem geboren: 
Einſtmals — id; glaub’, im Jahr des Heiles Eins — 
Sprad) die Sibylle trunfen jonder Weins: 

„Web, nun gehts fchief! 

Verfall! Verfall! Nie ſank die Welt fo tief! 

Kom janf zur Hure und zur Durenbube, 

Roms Cäſar ſank zum Vieh, Gott jelbjt — ward Jude!” 

In „Freund Vorif, Muth“ offenbart Niegiche feine ſchon 
halb wahnfinnige Weisheit in dem Schlußſatz: 

„Wer feinen Gott licht, züchtigt ihn.“ 
Sehr darakterijtiih ijt das Gedicht „Kimus remedium,*“ 
deſſen Anfang folgendermaßen lautet: 
Aus Deinem Munde, 
Du fpeihelflüffige Here Zeit, 
Tropft langiam Stund’ auf Stunde. 
Umſonſt, da all’ mein Ekel ſchreit: 
„Fluch, Fluch dem Schlunde 
Der Ewigfeit!“ 
Welt — it von Erz: 
Ein glühender Stier — der hört fein Schrein. 
Mit fliegenden Dolchen ſchreibt der Schmerz 
Mir ins Gebein: 
„Welt hat fein Herz, 
Und Dummheit wär's, ihr gram drum fein!“ u. f. w. 

Bon den legten Gedichten, den Dionylos:Dithyramben, hat 
der Dichter jelbit bemerkt: „Dies find die Lieder Zarathuftras, 
welche er jich jelber zujang, daß er jeine legte Einjamfeit ertrüge.“ 
Sie zeigen zum großen Theil ſchon ganz pathologiichen Charafter. 
Neben erhabenen Partien findet fich bereits völliger Wahnfinn, 


278 Neue Belletriftif. 


und mit Grauen jehen wir den Dichter irren Geiftes, bald düſter 
blidend, bald grell auflachend, über die Abgründe des Dafeins 
dahinſchweben. Tief innerlid) gequält, aber von rajendem Selbſt— 
bewußtjein himmelhoch gehoben flieht er von einer Einfamfeit in 
die andere, bis in die „Jiebente Einſamkeit“ hinein. Dort fingt 
er fid) dieje Lieder, die uns Mitleid und Grauen zugleich erregen. 
Ich will nur aus einem diefer Gedichte „Unter den Töchtern der 
Wüſte“ Hier einige Proben mittheilen. Es beginnt: 

Die Wüjte wählt: weh dem, der Wüſten birgt... 


Ha! 

Feierlich! 

Ein würdiger Anfang! 
afrifaniich feierlich! 

eines Löwen würdig 

oder eines moraliihen Brüllaffen... 
— aber Nichts für euch, 

ihr allerliebiten Freundinnen, 
zu deren Füßen mir, 

einem Europäer unter Palmen, 
zu figen vergönnt iſt. Sela. 


Wunderbar wahrlich! 

Da ſitze ih nun, 

der Wüſte nahe und bereits 

jo ferne wieder der Wülte, 

auch in Nichts noch verwüjtet: 
nämlich hinabgeſchluckt 

von diejer feiniten Dajis 

— jie jperrte gerade gähnend 

ihr lieblidie8 Maul auf, 

das wohlriechendite aller Mäulcen, 
da fiel ich hinein, 

hinab, hindurch — unter euch, 

ihr allerliebiten Freundinnen! Sela. 


Heil, Heil jenem Wallfiiche, 

wenn er alio es feinem Galte 

wohljein lieg! — ihr veriteht 

meine gelehrte Anjpielung?... 

Heil feinem Bauche, 

wenn er alio 

ein jo lieblicyer Dafis-Baucd war, 

gleich diejem: was ich aber in Zweifel ziehe. 
Dafür fomme ih aus Europa, 


t⸗ 
2 


Neue Belleiriſtik. 


das zweifelſüchtiger iſt als alle Eheweibchen. 
Möge Gott es beſſern! 
Amen! u. ſ. m. 


Zum Schluß des Gedichtes heißt es: 


Ha! 

Herauf, Würde! 

Blafe, blaſe wieder, 

Blajebalg der Tugend! 

Ha! 

Noch ein Mal brüllen, 

moraliich brüllen, 

als moraliſcher Löwe vor den Töchtern der Wüſte brüllen! 
— denn Tugend:Gcheul, 

ihr allerliebſten Mädchen, 

ijt mehr als Alles, 

Europäer-Inbrunſt, Europäer-Heißhunger! 
Und da ſtehe ich ſchon, 

als Europäer, 

ich kann nicht anders, Gott helfe mir! 
Amen! 


* * 
* 


Viel Anerkennung haben die Gedichte von Jenny v. Neuß*) 
bei der deutichen Sritif gefunden, und es läßt fich in der That 
nicht verfennen, daß wir es bier mit einem bedeutenden poetischen 
Talent zu thun haben. Cs finden jih viele tadellos ſchöne 
Didtungen in diefer Sammlung, bejonders unter den Sonetten 
und Terzinen, welche Formen die Vichterin vorzüglid) beherrjcht. 
Aber auf der anderen Seite überraiht die ungeheure Skrupel— 
lofigfeit, — um einer Dame gegenüber ein härteres Wort zu 
vermeiden —, mit welcher Jenny von Neuß die Details ihrer 
Liebesabenteuer schildert. Bejonders mwiderwärtig berührt Die 
Slagellation, welcher fie jih in den Schäferſtunden unterwirft. 
Die in den Händen des Geliebten fnijternde Geißel ehrt vielfach 
wieder. Das iſt pathologiih, — jeruelles Naffınement auf feinem 
Gipfel, das moralische Gefühl verletzend. Dod Einwände diejer 
Art find nach Anficht der „Modernen“ nicht erlaubt. M. R. von 
Stern, der neulich in jo trauriger Weiſe von der Bühne in Zürich 
abgetreten ijt, beſprach in der Januar-Nummer feines „Litterar. 


*) Tempi passati, Dichtungen von Jenny von Reuß, Graz 1398, 


280 Neue Belletriftif. 


Bulletin für die Schweiz” in dithyrambiicher Weile die Tempi 
passati von 9. v. Neuß und verwahrte fich dabei energiich gegen 
jeden Vorwurf moraliiher Natur, indem er bemerkte: „Erjt vom 
Moment des Lächerlihen an beginnt für mich die Sündhaftigfeit 
und das Aergerniß. Die Schönheit hat die höchſte Moral als 
Seele unbewußt in fih und aus allen Thorheiten taucht fie nur 
noch biendender hervor. Es ijt eine Gemeinheit, ihr über: 
haupt mit dem Sittengefeg zu fommen, das von fleinen 
Ihmußigen Leuten für Eleine ſchmußzige Leute erfunden 
worden ijt.” — Die Sperrung rührt von mir her, und id) 
glaube, der Sab verdient es, in folder Weile hervorgehoben zu 
werden. 


Mit Korfiz Holm, dejlen Novelle „Schloß Uebermuth“ 
foeben erjchienen ift,*) tritt wiederum ein livländiſcher Yandsmann 
als moderner Dichter auf. Ih glaube jedoh faum, daß die 
Heimath an diefem Buche viel Freude haben wird. Die „Düne: 
Zeitung” nennt daffelbe in ihrer Nr. 178 „ein höchſt merfwürdiges 
Buch“, vindizirt dem Verfaſſer Talent und meint, man werde es 
nicht iu Abrede jtellen können, daß Dolm ſowohl die einzelnen 
Menſchen, die er zeichnen will wie das Milieu, in dem fie athmen, 
mit künſtleriſchem Geſchick zum Ausdruck zu bringen verjtanden hat“ 
— ein Urtheil, dem ich beizupflichten nicht im Stande bin. Nach 
meiner Meinung ift dies Bud) vielmehr ein recht elendes Machwerk, 
das nur mäßige Spuren von Talent verräth. Aber wer uns heut: 
zutage elende, ſchmutzige und gemeine Dinge erzählt, der darf ja 
von vornherein darauf rechnen, daß man ihn mit einem gewiſſen 
Reſpekt behandelt und ihm allerlei Elogen jagt, wenn dann auch 
allenfalls einige Einwendungen angehängt werden. War man früher 
vielleicht geneigt, fFritiflos einen Jeden, der fih für das Gute, 
Edle und Schöne in Verſen begeilterte, für einen talentvollen 
Dichter zu halten, jo ift man jegt ebenjo fritiflos in das entgegen- 
geſetzte Ertrem verfallen, — bemißtraut das Talent eines Jeden, 
der von ſolcher Begeijterung erfüllt ift, und ift geneigt, Jeden für 
talentvoll zu erklären, der das Häßliche und Gemeine Tchildert. 
Das Milieu, in welches uns Korfiz Dolm hineinführt, iſt die liv- 


*) Korfiz Holm, Schloß Uebermuth, Novelle. Kleine Bibliothek Langen, 
Band XVI. Paris, Leipzig, München 1898. 


Neue Belletriftif. 281 


ländiſche Gejellichaft der Gegenwart. Die Edjilderung defjelben 
aber ijt ihm nad allen Richtungen mißlungen, fie ift durch und 
durch umvahr und verfehlt. Die erbärmlichen Vertreter des liv: 
ländiſchen Adels, des livländiichen Litteratenthums und Kaufmanns: 
jtandes find nicht nach dem Leben gezeichnet, fondern eitel Hirn: 
geipinnjte des Herrn Holm, der überall nur Lumpigfeit, Schmuß 
und Gemeinheit fieht. Das allein macht aber noch feinen talent- 
vollen Dichter. Nur die erjte Szene am Prahme finde ich qut 
erzählt, alles Uebrige ift in der Hauptſache mihglüdt. Die 
„Dünazeitung” äußert fih zum Schluß ähnlich ablehnend und 
abmwehrend, wenn auch vielleicht etwas weniger ſcharf. Um jo 
auffallender erjcheint es, daß fie an Holms Zeichnung der Menichen 
und ihres Milieus das Fünftleriiche Geſchick riühmt. Das Buch 
verdiente eigentlich garfeine Beiprehung. Nur die darin enthaltene 
beleidigende Darjtellung der livländiichen deutſchen Gejellichaft, die 
angeblich garfeine Ideale kennt, provozirt zu jcharfer Abwehr. 
Ich habe eine joldhe für nöthig gefunden, auch auf die Gefahr 
hin, daß das Bud) nun von Manchen aus Neugierde gefauft und 
gelefen wird. Wie häßlich vom patriotiichen Gefichtspunft aus 
Herrn Holms Arbeit gerade in unferer Zeit fid) ausnimmt, brauche 
id) faum bejonders zu beleuchten. 

Nah dem unberühmten einheimilchen wenden wir uns nod) 
zu eınem berühmten ausländischen Dichter. Vor mir liegen die 
neun erjten Lieferungen von „Buy de Maupajfant, Gejammelte 
Werke, frei übertragen von Georg Freiheren von Ompteda.” *) 
Sie enthalten eine Anzahl von Eleineren Erzählungen des gefeierten 
franzöfiihen Dichters. Es ijt erjtaunlid, wie viel uns hier an 
(Hemeinheiten und Nohheiten aller Art geboten wird, — noch 
eritaunlicher vielleicht, daß Erzähler oder Zuhörer in den Geſchichten 
über dieſe Dinge zu laden pflegen, daß ihnen die Thränen über 
die Baden laufen. Diejelbe Wirkung foll offenbar auch bei dem 
Zejer erzielt werden. Bei mir it fie nicht eingetreten, ich empfinde 
vielmehr nur ein Gefühl unbefchreiblichen Efels gegenüber all’ 
dieſen raffinirten Scheußlichkeiten, wie fie 3. B. „Der Weihnachts: 
abend,“ „Der Erjagmann,” „Pariſer Abenteuer,” „Erwacht,“ 
„Eine Liſt,“ „Eingeroftet,“ „Die Wirthin,“ „Der Fall Luneau” 


*) Berlin 1898, 5. Fontane & Co, 


282 Neue Belletrijtik. 


u. a. m. bieten. Der Ueberjeger hat vielleiht Recht, wenn er in 
der Vorrede bemerkt, daß man im Franzöfiihen Dinge jagen 
dürfe, die wir nicht jagen können. Er hätte dann aber aud) 
bejier gethan, ſolche Dinge nicht ins Deutiche zu übertragen, 
jondern die Lektüre dieſer Geſchichten Denjenigen zu überlaffen, 
welche Franzöſiſch lefen. Einen Gewinn für die deutjche Lejewelt 
jtellt meines Erachtens feine UWeberjegung der Maupaſſant'ſchen 
Novellen nicht dar. Daß wir bier ein novellijtiiches Genie vor 
uns haben, wie es faum dageweſen und mohl fo leicht nicht 
wiederfehren wird, — von dieſer buperbelhaften Behauptung 
Ompteda's habe ich mich durch jeine Meberfegung nicht überzeugen 
fünnen. Die vielgerühmte Kunft der Maupafjant’ichen Novellen 
verliert offenbar ganz erheblich durch die Uebertragung. Auch die 
nicht eigentligy unanjtändigen Gedichten wie 3. B. „Weihnachts: 
feier” u. dgl. überraichen oft durch ihre Nohheit, und an nur 
wenigen der mir vorliegenden kann man eine durch derartige 
Dinge nicht wejentlich gejtörte Freude haben, wie etwa an der 
Geſchichte „Die beiden Freunde,” „Kellner, ein Glas Bier“ 
u. dgl. m. 

Im fittlihen Schmuß fi bewegende, laszive und an das 
Bornographiiche ftreifende Litteratur, mit größerer oder geringerer 
Kunft geichaffen, hat es auch früher genug gegeben und immer 
findet Diejelbe ein zahlreiches und dankbares Publikum. Neu it 
heutzutage nur, daß derjenige, welcher an Geſchichten wie den 
Maupaflant’schen Anſtoß nimmt und fi) von denfelben moraliſch 
angemidert fühlt, von vornherein mit Verachtung als ein Zurüd: 
gebliebener, in jtarren Vorurtheilen Befangener, ein bejchränfter 
Tugendbold und moraliicher Brüllaffe angejehen wird. Von einem 
höheren künſtleriſchen Standpunft aus verjchwindet angeblich jeder 
Anſtoß, wie ihn der „Entrüftungsmensh” nimmt (vgl. Ompteda 
in der Vorrede). — Nun, ih kann und will nicht heucheln, — 
und ich glaube, mindejtens ebenjo verwerflich wie die Frömmigfeits- 
und Tugendheuchelei wäre das Heudeln von Begeijterung für Die 
Maupafjant’ihen Schmutzgeſchichten. Der ungeheure Erfolg der: 
jelben jcheint mir auch ein Zeichen der Zeit. Nach meiner Dleinung 
können fie feinerlei Segen ftiften, und nicht wenige meiner liv- 
ländiichen Landsleute werden wohl diefe meine Anficht theilen. 
Im Uebrigen bin ich mir deſſen wohl bewußt, daß ich durch mein 


Neue Belletriftik. 283 


Urtheil bei Vielen Anjtoß erregen werde, aber ich halte es für 
meine Pflicht, offen und unverhohlen auszuſprechen, was ich für 
die Wahrheit Halte, zumal in unferer Zeit, wo die Verwirrung 
und Vermilderung der moraliichen Begriffe ſchon jo hoch gejtiegen 
ift. Mögen mir dafür immerhin Steine an den Kopf geworfen 
werden, — id) bin bereit, fie zu empfangen. 


L. v. Schroeder. 


u 


Sinijer Raul und der Metropolit Gieitrzencewicz-Bohusz. 


(Ruſſkaja Starina 1897, Maibeft S. 279— 282.) 


Im Jahre 1798 wurde Kaifer Baul I. von den Malteſer— 
rittern zum Großmeiſter diejes Ordens gewählt, nachdem fie den 
Meijter Hompeſch des Verraths verdächtig befunden und dieſer 
Würde entkleidet hatten. Uebrigens hatte der Kaiſer Schon früher 
(im Jahre 1797), beeinflußt durch den Grafen Georg Yitta, 
genehmigt, daß in Rußland ein „ruſſiſch-katholiſches Groß-Briorat” 
diefes Ordens begründet werde, gewillermaßen als Erjaß des 
Briorats, das vordem in ‘Polen bejtanden hatte, und gleichzeitig 
hatte er die Nechte des Ordens auf die reihen Oftrowjfiichen Güter 
im unlängit mit dem Saijerreich vereinigten Wolhynien bejtätigt. 

Der ganze Charafter des Kaiſers Paul, der von Natur 
Ihwärmerifsh und dem Idealismus zugeneigt war, harmonirte 
ungemein mit den Zielen, die den Statuten des Malteferordens 
zu Grunde lagen. Die Dinneigung zu dem Nitterorden zeigte 
fi) bei dem Kaiſer Schon in jungen Jahren, als er mit Begeifterung 
ſolche Bücher las, in denen die früheren Nuhmesthaten der Nitter 
beichrieben wurden; bejonders ſympathiſirte er immer mit den 
Maltejerrittern, den Nachfolgern der alten Johanniter: und Rhodiſer— 
Nittern. Deshalb war der Kailer mit feiner Wahl zum Groß: 
meilter des Ordens jehr zufrieden und legte fich mit nicht zu 
verhehlendem Entzüden die Inlignien feiner neuen Würde an. 
Unter ihnen befand ſich aud) das Kreuz, das einjtmals dem Groß: 
meilter la Valette, dem berühmten Vertheidiger Maltas gegen 
die Türken (1565) gehört hatte und das von den Rittern bis 


284 Kaiſer Baul I. und der Metropolit Sieſtrzeneewiez-Bohusz. 


dahin heilig mit ihren übrigen Kleinodien aufbewahrt worden war. 
In diefer Tracht iſt Paul I. auf dem Bilde dargejtellt, das ſich 
im Winterpalais befindet. Der Kaifer verlieh dem Orden „alle 
Die Auszeichnungen, Prärogative und Ehren, deren ſich der berühmte 
Drden an anderen Orten durd die Hochachtung und das Wohl: 
wollen der Hrrrſcher erfreut” und bemühte fi durch verichiedene 
Sejegesbeftimmungen und andere Maßregeln, die materielle Lage 
des Ordens in Rußland ficherzuftellen. Indem der Kaijer den 
feinem Verfalle entgegengehenden Orden jtügte, verfolgte er nod) 
andere mehr reale Ziele: er wünschte nämlich aus ihm gemiljer: 
maßen einen Hort wider die revolutionären Ideen zu Ichaffen, 
die damals in Frankreich herrjchten. Der Orden erſchien als 
Feind der Nevolution allein ſchon deshalb, weil er durch fie feiner 
reichen Güter in Franfreih und Italien beraubt worden war. 
Baul ließ fi durd Alles hinreißen, was irgendwie auf den 
Orden und feine Einbürgerung in Nußland Bezug hatte. Eine 
Zeitlang interefirte ihn zum Beifpiel fehr die Frage von der 
Aufitellung des Throns im Kapiteljaal des Ordens (gegenwärtig 
das Haus des Pagenkorps, in dem jid) noch jetzt eine katholiſche 
Kirche Johannes des Täufers befindet). 

Um die Entidheidung in einigen Fragen und einige Befehle 
einzuholen, war eines Tages der beim Kaiſer beliebte katholische 
Metropolit Siejtrzencewicz*) ins Winterpalais gefahren; er ijt 
dadurch befannt geworden, daß dank feinem energiichen Wider: 
jtreben die Bemühungen Pauls I. beim Papſte, den Jejuitenorden 
offiziell in Rußland einzuführen, wozu den Kaifer der obengenannte 
Graf Litta zu bewegen juchte, nicht zum Ziele führten. Der 
Kaijer, der an diefem Tage jehr gut aufgelegt war, nahm ben 
Dietropoliten gnädig auf. Im Saale, in dem Die Audienz 
jtattfand, befand ſich außer dem Kaifer und Sieſtrzencewicz aud) 
noch der Generalgouverneur von Petersburg Graf Pahlen. Im 
benachbarten Zimmer, zu welchem die Thürflügel geöffnet jtanden, 
hatten einige junge Kammerpagen, ſich nicht bejonders durch die 
Nähe des jtrengen Kaijers beengt fühlend, irgend ein Spiel an: 


*) Sieftrzencewicz Bohusz, geb. 1731, + 1828, war von Geburt ein 
Littauer und in der Jugend preußiſcher Huſarenoffizier geweſen. Er hatte den 
Kurſus der reformirten Schule in Sluzk durdigemadit, war aber jpäter zum 
Katholizismus übergetreten. Sein ganzes Leben lang haßte er die Jeſuiten 
wegen ihres Fanatismus, zog ſich hierdurd den Zorn des Papſtes zu und 
jtrebte danach, die katholiſche Kirde in Rußland von Kom loszulöjen, was 
damals für möglich gehalten wurde. Er war Anfangs Erzbiihof von Mohilew 
gemweien, allein 1798, als der Kaifer die fatholiichen Epardien anders eintheilte 
und ihre Zahl vermehrte, erhielt er den Titel eines Metropoliten, Kailer Paul 
erwirfte ihm den Kardinalshut und ernannte ihn zum Präjes des damals 
errichteten Departements für Verwaltung der Angelegenheiten der römiſch— 
katholischen Kirche in Rußland, wodurd das Anſehen Siejtriencewicy’8 ganz 
bejonders erhöht wurde. 


Kaiſer Paul I. und der Metropolit Sieſtrzencewicz-Bohusz. 285 


gefangen. Bon Zeit zu Zeit wurde von dorther Lärm und unter: 
drücktes Kichern hörbar, das jichtlich nur mit großer Mühe zurüd: 
gehalten wurde und jeden Augenblid in fräftiges jugendliches 
Lachen übergehen fonnte. Doc die Fröhlichfeit der jungen Yeute 
und ihres Spiels verlegten den Kaiſer nicht und er gab ſich den 
Anſchein, als ob er dieje Verlegung der Hofetiquette garnicht 
bemerfte. 

Die Audienz, die lange gedauert hatte, ging endlich zu Ende, 
Paul verabjchiedete fich anädig vom Mtetropoliten und wollte ſich 
eben in die inneren Gemächer entfernen. In diefem Moment 
ſah er zufällig in das benachbarte Zimmer und fein jcharfes Auge 
bemerfte augenblidlih an der Kleidung eines der Pagen, Die 
fih ferzengerade aufgeitellt hatten, etwas Formmidriges. Die 
fleinjte Abweihung von der Form der Kleidung wurde damals 
für das größte Verbrechen, für „Klüger fein wollen“ gehalten, 
das Fonnte der Kaiſer weniger wie irgend etwas leiden, das ver: 
folgte er unbarmherzig. Baul hatte jo lange alle diefe von ihm 
während der vielen einjam in Gatichina verlebten Jahre erfonnenen 
neuen Uniformen und neuen Reglements jowie die jtrengite 
Disziplin in feinem Herzen gehegt, er hatte jeßt, wo er zur Macht 
gelangt war, das Alles "eilig eingeführt, folgte Allem unermüdlich) 
und in eigener Perſon, faſt jede Soldatenuniform bejehend und 
jelbit Feldmarjchälle für eine Abweichung von der Form nicht 
Ihonend, — und nad allem dieſem ſah er in feiner nächiten 
Nähe, im failerlichen Balais, noch dazu einen Pagen nicht nad) 
der Form gekleidet. Und die gnädige Stimmung des Kailers 
ſchlug plöglich in heftigen Zorn um, was befanntlih Paul Petro— 
witſch's ſtarke Geite war. Vergeſſen waren die Mtaltejerritter 
mit ihren Idealen, der Thron und alles Andere, der Kailer jah 
nur die Abweichung von der Form, die jo lange auf Anwendung 
hatte warten müſſen, er ſah nur das unleidliche „Klüger fein 
wollen,“ und bleich vor Aufregung wandte er fih an Pahlen und 
Ichrie ihm, in der feiten Ueberzeugung, daß etwas Formwidriges 
von Jedem fofort bemerkt werden müſſe, die Worte zu: 

„Führen Sie dieſen Affen in die Peter: Baulsfeftung ab 
und erjtatten Sie mir über die Ausführung meines Befehls 
Bericht.” Im Saale befanden ſich der Ffatholiiche Metropolit, 
voll Unentichlojfenheit und verwirrt durd die lauten Worte des 
Kaijers, der Generalgouverneur Pahlen, der auf irgend eine Weile 
den faiferlichen Befehl erfüllen mußte, und im benachbarten Zimmer 
die erfchrodenen Pagen, deren Fröhlichfeit augenblidlich verflogen 
war. Ahnte Pahlen überhaupt garnicht, wen der Kaiſer unter 
dem Affen veritanden hatte, oder gehörte er zu der nicht geringen 
Zahl von Perfonen in der Umgebung Pauls, die ihn abjichtlid) 
zu reizen pflegten, jedenfalls näherte er fi nad dem Weggehen 


286 Kaifer Paul I. und der Metropolit Sieſtrzencewicz-Bohusz. 


des Kaiſers dem Metropoliten und ſagte zu ihm: jo leid es ihm 
thue, müle er den Willen des Kaijers erfüllen, Se. Ercellenz 
habe ja jelbit den unwiderruflichen Befehl des Kaijers vernommen. 
Sieſtrzencewicz, der feine ruhige Ueberlegung verloren hatte, da 
er wußte, wie raſch Kaifer Baul mit harten und oftmals jehr 
Ihonungslojen Befehlen bei der Hand war, wie leicht jeine Gnade 
fi) in Zorn verwandelte und umgefehrt, unterwarf fih ohne zu 
murren jeinem Gejchide, mit den düſteren Feltungsfajematten 
Bekanntichaft machen und das für jeinen hohen Stand Feineswegs 
jchmeichelhafte Epitheton eines Affen über ſich ergehen laflen zu 
müſſen. 

Cine Stunde ſpäter erſchien Pahlen, um Bericht zu erſtatten, 
im Palais, wie ihm befohlen worden war. 

„Halt Du ihn abgeführt?” fragte Paul Petrowitih den 
Petersburger Generalgouverneur. 

Sehr wohl, Ew. Kaijerliche Majejtät, ich habe ihn abgeführt. 

„Nun, er weinte wohl, nicht wahr?“ 

Keineswegs, Ew. Kaiſerliche Majeſtät, er bat mich inftändig 
um die Erlaubniß, ein Gebetbuc mit fich zu nehmen, und ihm 
das abzujchlagen, konnte ich mich nicht entichließen. Den ganzen 
Weg über jeufzte er, ſich demüthig feinem Geſchick unterwerfend, 
und murmelte Gebete. 

Der Zorn des Kaiſers war jchon lange verraudt; ihn 
interejfirte jet nur noch das Entjegen, das jeiner Anficht nad) 
der arme Page empfinden mußte, während er in den fürdhterlichen 
Seltungsfafematten ſaß, deren Name allein damals Allen Schreden 
einflößte. Der Bericht Pahlen’s, daß der junge Mann ſolche 
Standhaftigfeit und Demuth bewiefen und daß er gebetet hatte, 
wunderte ihn jehr. 

„Bon wen Iprihit Du? Wer hat gebetet?“ 

Der Metropolit Siejtrzencewicz, den Ew. Kaiſerliche Majejtät 
durch mich in die Peter: Paulsfejtung abführen zu laſſen gerubten, 
antwortete ruhig Pahlen. 

Und abermals brah Paul in heftigem Zorne los, daß man 
jeine Befehle nicht verjtehe, fie fonfundire, daß in Folge hiervon 
ein völlig unjchuldiger Menſch bejtraft worden jei, noch dazu der 
Metropolit, der überdieß die Intereſſen der vom Kaiſer geliebten 
Maltejerritter jo warm vertrete. 

Abermals muhte Pahlen auf Kaiſerlichen Befehl jpornftreichs 
in einer Hofequipage in die Peter-Paulsfeſtung eilen, den Metro- 
politen befreien und fih im Namen des Kaijers bei Sr. Ercellenz 
entihuldigen. 


— — —* 
Br 





Die Sinijerlihe Yinländiige Delonomiihe Sozietät, 
1797 — 1898, 


Ton 
9. von Samſon-Himmelſtjerna. 


(Schluß.) 


V. Die Stiftung der Finländiſchen Oekonomiſchen 
Sozietät 1797. 

Wiewohl zuweilen durch das Verhalten der Regierung Miß— 
vergnügen erregt worden iſt und ſogar einzelne Perſonen ſich auf 
landesverrätheriſche Komplotte eingelaſſen haben — (e$ wird bier 
wohl auf den Anjalabund angeſpielt, der im Lande feine Sympathie 
fand, vgl. A. Brüdner in „Balt. Dion.” XIX) — jo waren doc) 
Finlands Einwohner loyale Unterthanen gewejen und geblieben. 
Selten bat im Laufe des 18. Jahrhunderts die Yandeshauptjtadt 
Abo es verjäumt, bei föniglichen Familienfejten ihre unterthänige 
Treue an den Tag zu legen; und daß joldhe Demonjtrationen mit 
Mohlwollen entgegengenommen wurden, hat ſich namentlich unter 
Guſtavs III. Regierung gezeigt. Inzwiſchen hatte jich ſeit 1792 die 
Vormundichaftsregierung unpopulär gemacht, und jo waren die 
Hoffnungen, die man auf den jungen Gujtav Adolph ſetzte, um 
jo größer. Das iſt aus den Ovationen, die man zu Beginn 
jeiner Regierung ihm darbrachte, hervorgegangen. 

Als er im %. 1796, unmittelbar vor jeinem Regierungs— 
antritte am 8. Dftober, Abends, in Abo anlangte, wurde er von 
allen Ständen und Korporationen empfangen, mit 128 Galut- 

1 


288 Die Kaiſerl. Finländ. Oekon. Sozietät. 


Ihüffen und bei Jlumination der Stadt. An den folgenden Tagen 
Feſtaſſembleen, Beluch des Rathhauſes mit Reden des Oberbürger: 
meijters und des Univerfitätsreftors, AInjtrumentalmufif der Muſi— 
kaliſchen Geſellſchaft u. ſ. w. u. ſ. mw. bis zu der unter erneutem 
Kanonendonner erfolgenden Abreife des Königs. Auch der darauf 
folgende 1. November (21. Oftober), da der König mündig wurde, 
it in Abo mit nicht geringeren eltlichfeiten begangen worden; 
u. A. ward, um der allgemeinen Freude ein bleibendes Denkmal 
zu ſetzen, aelegentlich einer Bürgerverfammlung auf dem Nath- 
hauje, eine Kollefte veranftaltet, zur Aufbringung eines Kapitals, 
deſſen Renten, das Andenken an den Tag zu feiern, zur Unter: 
ftügung der Armen verwendet werden follten. Bald darauf ift 
von einer Bürgerverjammlung beitimmt worden, daß die Nenten 
des Kapitals zur Erziehung armer Waiſenkinder dienen ſollten. 
Die bezüglichen Verhandlungen und Neben find ſehr geeignet, die 
philanthropiihe Sentimentalität der Zeit zu veranfchaulichen. 
Unabhängig davon hat auch ber Handmerfer:Verein ein Kapital 
jur Unterftügung feiner Armen dargebradt. Jeder Tag bradıte 
ein neues Seit. Der Gouverneur, die Univerfität, die Bürgerichaft, 
Die verschiedenen Korporationen und Vereine — (aud) die Studenten: 
„Nationen“) — wetteiferten in Weranftaltung von öffentlichen 
Seitlichfeiten, und in Variirung von deren Programmen. Eine 
der Ordensgelellichaften brachte ein Kapital auf zur Unterftügung 
von Armen bejjerer Herkunft. 

As am 14. Oftober des folgenden Jahres der König fich 
mit der Brinzeilin Srederife Wilhelmine Dorothea von Baden 
verlobt hatte, find in Abo Sofort Vorbereitungen getroffen worden 
jur würdigen Feier der Vermählung, — und zwar hat man die 
Seltlichfeiten nicht nur fplendider noch als die vorangegangenen 
geitalten wollen, fondern aus Vielem iſt auch erfichtlich, wie jede 
der Körperfchaften es den anderen hat zuvorthun wollen, und wie 
man bejtrebt geweſen it, ſich gegenfeitig zu übertrumpfen. Es 
muß bier darauf verzichtet werden, über die Einzelheiten der Feit- 
verlammlungen, über die dabei gehaltenen Reden, und über den 
von einem Feittage zum anderen fich jteigernden Enthufiasmus zu 
berichten. Als äußeres Zeichen für dieje Steigerung mag nur 
bemerft werden, daß bei Ausbringung des MWohles der hohen 
Neuvermählten, die Anzahl der gelöjten Salutſchüſſe von einem 


Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 289 


Tage zum anderen, fait bis zum Vermunderlihen, zugenommen 
hat. (Das DVermählungsfeit fiel am 1. November mit dem 
Geburts: und Thronbefteigungstage des Königs zulammen.) Man 
gelangte bald zur Zahl von 512 Salutihüffen, unter welcher es 
dann nicht mehr gethan murde. Aus der Mannigfaltigfeit der 
Feſte, aus dem Sichüberbieten derjelben und aus der Theilnahme 
der ganzen Bevölferung an dem lärmenden Jubel, geht deutlich) 
die Abficht hervor: darzuthun, daß man mehr an den Tag legen 
wolle, als die bei Huldigungen übliche Loyalität. 

Den Gipfel aber erreichte das Felt, und dauernd iſt fein 
Andenfen verewigt worden, durch die Stiftung der Finländiſchen 
Defonomifchen Sozietät. Darüber berichtet die Abo-Zeitung mit 
den ſchlichten Worten: „Eine zahlveihe Verſammlung von Mit: 
bürgern aller (sie!) Stände, welche fi unter dem Namen Finska 
Hushallningssällskapet vereinigt hatte, um zur Förderung der 
Landesfultur und zur Hebung unſeres finnischen Vaterlandes, und 
um zur Feitlichfeit des Tages etwas Bemerfenswerthes beizutragen, 
ift zum erſten Male beim Herrn Bilchof, Prokanzler und Kommandeur 
Gadolin zufammengetreten, zur Erwägung des Statuts und der 
Mittel, welche zur Forderung eines jo guten Vorhabens geeignet 
jeien. Möge dieſes nüpliche Unternehmen jo ſicher der Nation 
Mohlfahrt entipreden, wie es des Tages und der Zeitläufte 
würdig iſt.“ Der Verfaſſer der Yubelichrift hebt noch ausdrücklich 
den Umjtand hervor, daß es geglüdt war, alle Gejellihaftsklafien, 
die bei Weranitaltung der Fejtlichfeiten gejondert vorgegangen 
waren, bei Gründung der Finländiihen Oekonomiſchen Sozietät 
ju vereinigen. 

Das auf Anjuchen vom Lagman Dlaf Wibelius verfaßte 
Protofoll von der erjten Sozietätsverfammlung enthält nad) den 
formellen Cingangsworten Folgendes: „Das Grokfürftenthum 
Finland ift lange der Tummelplag für Krieger gemwejen. Die 
Nation, während des Krieges graufam behandelt, hatte es noch 
nicht vermodt, den Schutt der zerjtörten und blutgetränften Wohn: 
jtätten wegjuräumen, als Hungersnöthe hinzufamen, des Landes 
Arbeitskraft zeritörten und eine Kette allen möglichen Elends nad) 
fih zogen. Schrecklich it, was auf der Tafel der Gejchichte über 
jene unglüdlihen Zeitläufte hervorgehoben wird. Wie bejchaften 
fonnte wohl im Lande bei jeinen wiederholten un die 


‘290 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 


Mirthichaft fein, da während der kurzen friedlichen Ruhepauſen 
Aufklärung, Beiſpiel, Unterftügung und Aufmunterung fehlten. 
Und in jpäteren Zeiten gerieth aud) das größte Gut in Verfall 
und die allgemeine Ohnmacht nahm immer zu, da die Gutsherren 
ihre Cinnahmen außer Landes verzehrten. Unwiſſenheit, Bor: 
urtheile und Barteihader ſchienen Finland zu einer Dedemarf 
gemacht zu haben, welche mit ihren MWüjteneien einen überlegenen 
Feind ausiperren follte — (wie Chydenius gejagt hatte); — aber 
in lichteren Tagen haben gejundere Grundſätze gefiegt, und Die 
Regierung hat begonnen, fi) des MWerthes von Finland für die 
Ichwedische Krone zu befinnen, und für des Landes Aufihwung 
zu forgen. Unter den hauptjädhlichiten Mitteln, welche im Verlaufe 
von vierzig Jahren zur Förderung der Yandmwirthichaft angewendet 
worden find, verdient an erjter Stelle die Beranftaltung des 
Storjfift und an zmeiter die Freigebung des Getreidehandels 
genannt zu werben. Alle die neuen und unerprobten Maßnahmen 
erwarben nicht immer Beifall; fie blieben offenbar ohne Nuten, 
fo lange durch unfluge und unbillige Mittel, fie durchzuſetzen, 
nur Mikvergnügen erregt und unterhalten wurde; und da hiermit 
zugleich Willfür der Beamten fih geltend machte und zunahm, 
jo fann man fich nicht wundern, daß MWiderwille und Mißtrauen 
allgemein wurden. So iſt es aud mit den Veranjtaltungen des 
Storjfift in Finland ergangen, wie überhaupt im öffentlichen Leben 
es mit mancher guten Einrichtung ergeht, daß nämlich ein guter 
Zwed nicht ohne Erregung bitterer Leidenjchaften erreicht werden 
fann. Inzwiſchen und nad) Durchführung des Storjlift in Finland 
hat größere mirthichaftlihe Worjorge (hushallsaktighet) Platz 
gegriffen, und ſeit dem Zeitpunft hat Finlands Landwirthichaft 
ein anderes Anjehen gewonnen.) Vormals, als das Getreide 
ihwer Abſatz fand und geringen Werth hatte, iſt den Beamten, 
welchen die Pflege des Aderbaues oblag, diejes Gewerbe als das 
im geldleeren Lande am wenigiten lohnende erſchienen; jeßt fing 
man an, jih ihm mit mehr Luft zujumwenden. Immer mehr ward 
durch aufgeflärte und denfende Wirthe bejjerer Anbau eingeführt 
und paſſenderes Geräth verwendet, und murden viele vormals 
unbefannte und unerhörte MWirthichaftsfunftgriffe allgemein ver: 
breitet. Es erwies fi), daß dadurd) die Häufigkeit der Mikjahre 
vermindert und der Ertrag der Ernten vermehrt wurde, modurd) 


Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 291 


auch bei den Unfundigen und Einfältigen die Augen ſich öffneten, 
und auch der gemeine Dann es wagte, den Weg des Kortichrittes 
zu betreten. Der lebte finländiiche Krieg, viel erträglicher als 
die vorigen, brachte viel Geld ins Land; die Güter jtiegen im 
Preiſe, es gab nun Mittel und Wege fie zu verbeilern, und man 
begann die Landwirthichaft mit Enthufiasmus zu betreiben; in 
Sonderheit thaten es die Aufgeflärten der Nation. Nun ftrebt 
jedermann nach Zandbefig, jeder will die höchſten Ernten erzielen. 
Alle Beiprehungen, alle Geſellſchaften beichäftigen fid mit wirth— 
ſchaftlichen Gegenſtänden.“,“) In ſolcher Zeit, und da das Neid) 
von einem Könige geleitet wird, der ſich bemüht, durch kluge 
Wirthichaft dem Staate Telbjtändigfeit und den Unterthanen 
wahre Wohlfahrt zu fihern, — find einige Männer Finlande 
durch dieſe günjtigen Umſtände veranlaßt worden, zu einer 
Vereinigung zulammenzutreten, um unter dem Namen Finska 
Hushallningssällskapet den in der Nation erwacdten wirth: 
ihaftlihen Geijt zu unterjtügen, zu leiten und zum allgemeinen 
Beiten zu fördern. Die Mitglieder dieſer Gejellihaft Haben 
beobachtet, wie bei anderen Nationen Privatgejellihaften zu deren 
Aufſchwung beigetragen haben, wie dadurd) der Aderbau zu: 
genommen hat, wie Gewerbe und Handel gewonnen haben, und 
daher dürfen jie von ihrem Unternehmen alljeitig gute Folgen 
erhoffen; darum und nicht minder um durch eine gemeinnügige 
Stiftung das Andenken an den 1. November, der für alle vedlichen 
Mitbürger ein jo vielfach fejtliher Tag iſt, zu verewigen, find die 
Mitglieder diefer Gejellihaft übereingefommen, fich beim Herrn 
Biſchof, Profanzler und Kommandeur des föniglihen Nordjtern: 
ordens Doktor Jakob Gadolin einzufinden, der die Verſammlung 
mit einer furzen Anrede eröffnet und ein ihm übergebenes Projeft 
zum Öejellichaftsitatut verlefen hat.” Der Stalutenentwurf wurde 
zur Durchlicht einem aus fünf Perfonen bejtehenden Komite über- 
geben, welches ihn zur Prüfung und Genehmigung der Geſellſchaft 
unterbreiten ſollte. Mit geſchloſſenen Zetteln wurden ins Komite 
gewählt: Biſchof Gadolin, Lagınan Dlaf Wibelius, Kammerrath 
A. J. Winter und die Profeſſore Jakob Tengſtröm und Joſeph 
Pipping. Ferner wurde beichlojjen: „eine Proflamation an die 
Deffentlichfeit jollte ausgefertigt werben, wodurd die Errichtung 
der Geſellſchaft aller Welt fundaethan werde, wie aud) der. 


292 Die Kaiferl. Finländ. Delon. Soyietät. 


Geſellſchaft Vorausfegung, daß nicht nur die Herren Landshöfdinge 
des Landes, denen von Amtswegen die Förderung der Defonomie 
zufommt, jondern auch andere ehrenwerthe Beamte und Mit- 
bürger als Mitjtifter der Gejellidaft werden gelten, und ſich der 
Mitwirfung an einem jo guten Werke nicht werden entziehen 
wollen.“ 

Am 9. Dezember verjammelte ſich die Sozietät wieder beim 
Biihof Gabolin, um über ihr Statut zu beichließen. Der vom 
Komite durchgefehene, elf Paragraphen umfaljende, Entwurf ward 
beprüft und gutgeheißen. Ta diejes Statut bereits im J. 1799 
auf Grund gemwonnener Erfahrung wejentlid) abgeändert und er: 
mweitert worden ijt,2!) jo ift hier feine volljtändige Wiedergabe nicht 
erforderlih. Der erjte Paragraph, welcher der Sozietät urſprüng— 
liches Programm darjtellt, hat folgenden Inhalt: „Der Sozietät 
Zwed ſoll jein, die private Wirthichaftlichfeit im Allgemeinen und 
in Sonderheit die Landwirthſchaft mit allem, was hierzu gehört 
oder damit Verbindung haben mag, zu fördern. Die Sozietät 
erkennt, daß aufgeflärte und allgemein verbreitete Voritellung von 
den erwähnten Materien für den Fortichritt unjerer Wirthichaft 
die fiherfte Grundlage iſt. Die Sozietät wird, jo weit thunlich, 
bedacht jein, die Hand zu bieten zur Verbreitung ökonomiſcher 
Kenntnilfe jowohl unter Standesperfonen als aud beim gemeinen 
Dianne, einmal durd Ausgabe gedrudter, an die Bedürfniſſe und 
Verftändniffe der verſchiedenen Bewirthichafter angepaßter, Schriften, 
— jodann dur allgemeinen zu diejem Zweck eröffnelen Brief: 
wecdjel, und endlich durch Anſchaffung und Wertheilung von 
Seräthichaftsmodellen mit bezüglihen Bejchreibungen über bie 
Art fi ihrer zu bedienen, zur Prüfung, ob die jihere Erfahrung 
der Wirthe fie als zur allgemeinen Verwendung annehmbar gut: 
heißt, indem die Sozietät fi) dabei die Beihilfe der geneigten 
Landwirthe verſpricht, und zwar um jo ficherer, als nad) ſolchen 
Diodellen die Geräthichaften in natürlicher Größe zum Gebraudhe 
und zur Benußung angefertigt werden ſollen. Wenn zufünftig 
die Einnahınen der Sozietät es gejtatten Jollten, will fie es aud) 
nicht unterlajfen, mit entiprehenden Prämien und Aufmunterungen 
auf diejenigen Mitbürger hinzuweiſen, welche fid) in einem oder 
dem anderen Zweige der Landwirthſchaft oder in einem Damit 
zulammenhängenden Gewerbe vor Anderen auszeichnen.” Außerdem 


Die Kaiſerl. Finländ. Defon. Sozietät. 293 


enthielt das Statut folgende Beltimmungen: Der 1. November 
wird als Jahrestag gefeiert; die Sozietät verfammelt ſich am erjten 
Werktage jeden Monats; zur Beſchlußfaſſung müſſen, außer dem 
MWortführenden, mindejtens zwölf Mitglieder anweſend fein; neue 
Dlitglieder werden von den älteren vorgejchlagen, worauf über 
ihre Aufnahme mit einfacher Majorität ballottirt wird; der Jahres- 
beitrag bejteht aus drei Neichsthalern; die Beamte, die alle fein 
Gehalt beziehen, find: der Wortführende, der für ein halbes Jahr, 
immer am 1. November und 1. Mai, gewählt wird, und nicht 
vor zivei Jahren wiedergewählt werden fann, der Sekretär und 
der Schaßmeifter, welde am 1. November gewählt werden und 
wieder wählbar find; zur Unterjtügung des Sefretärs wird ein 
Vizejefretär gewählt. Zugleich wurde eine Inſtruktion für den 
Schatzmeiſter feitgejtellt, welcher nicht nur die Kaſſe, jondern auch 
die Bibliothek und die Modelllummlung verwalten jollte. Außerdem 
wurden Bejtimmungen für den Termin der JahresbeitragsZahlungen, 
jowie für Nehnungsabihluß und Budgetaufmahung getroffen. 


Nach Erledigung dieſer Angelegenheiten wurde zur Wahl 
der Beamten gejchritten. Da erbat ſich der erſte Hofgerichts— 
präfident Lode das Wort und ſchlug vor, die Gejellichaft möge 
für diefes Mal ohne Abjtimmung den ortführenden, und zwar 
in der Perſon des Biſchof Gadolin, erwählen, der die erjte 
Verfammlung geleitet hat. Diefer Vorſchlag wurde ohne Widerſpruch 
von den Anmwejenden angenommen, welce alsdann ebenfalls ein— 
hellig, aber mit geichlojfenen Stimmzetteln den Yagman Wibelius 
zum Sefretär erwählten und zum Schapmeijter endlich den Kammer: 
rath Winter. Da auf diefer Verfammlung nicht alle vorliegenden 
Sachen erledigt werden fonnten, jo verjammelte fid) die Sozietät 
wieder am 12. Dezember beim Wortführenden, der nun mitteilte: 
der Landshöfding E. ©. von Willebrand habe im Namen der 
Geſellſchaft ihre Stiftung bei Königlicher Majeftät unterthänigjt 
angemeldet und zugleih um des Königs gnädigen Schutz und 
Beiltand nachgeſucht, und daß fie fi „Königliche Finska Hushall: 
ningsfällifapet” nennen dürfe, und es könne auf Königlicher Majeſtät 
Beifall gerechnet werden, da das Anjuchen bereits vorgetragen 
werden fonnte... Die in der erjten Sitzung bejchlojjene und nun 
vom Sekretär vorgelegte „Proflamation” ward gutgeheigen und 


294 Die Kaiſerl. Finländ. Oekon. Sozietät. 


zur ſofortigen Drucklegung verfügt, nebſt dem Mitgliederverzeichniß. 
Damit war der Sozietät Wirkſamkeit eröffnet. 


Die vorjtehenden Angaben find aus dem Gejellichaftsprotofoll 
geichöpft. Diejes giebt garfeinen Aufſchluß über die eigentliche 
Initiative bei der Bildung der Gefellichaft. Darüber aber steht 
in Brofejjor Johann Gadolin's, bisher ungedrudter, Selbit: 
biographie: „Als erjten Urheber der Königlihen Finsfa Hushall- 
ningsjällffapet ſehe ich mich an, injofern als ums Jahr 1796 
zuerjt id) dafür gewirkt und im Verein mit meinem Freunde 
Profeſſor Pipping manchmal vor Vielen von unjerem Plane geredet 
haben, welcher ſoviel Beifall fand, daß die Sejellichaft geftiftet 
werden fonnte. Das Statut, weldes die Gejellichaft jpäter 
annahm, war auch inſoweit von mir verfaßt, als ein von mir 
anonym eingejandter Vorſchlag unter vielen anderen Projekten 
als der geeignetjte befunden wurde, um der Redaktion zu Grunde 
gelegt zu werden.” Daß der Gedanke zum Bilden der Gejelljchaft 
vom Profeſſor Johann Gadolin ausgegangen ift, kann nicht 
bezweifelt werden; da ev vorzjugsiweile Dann der Wiſſenſchaft 
war, dazu einer von den jüngeren unter den Stiftern der Geſellſchaft 
und als jolcher unter ihnen feine dominirende Stellung einnehmen 
konnte, jo iſt es begreiflid, daß das Bewuhtjein: die Sozietät 
habe ihre Entjtehung eigentlid ihm zu verdanfen, nicht zum Aus: 
drude gelangen fonnte. (Gadolin war einer der wenigen Stifter, 
welche das fünfzigite Jahresfeſt der Gejellichaft mitgemacht haben; 
auf demjelben ijt er als ihr Urheber nicht bezeichnet worden.) 
Ebenſo hat Gadolin aud in der wilfenjchaftliden Welt ſich Feine 
Mühe gegeben, jein Recht als Entdeder neuer Wahrheiten zu 
betonen; (In jeiner Arbeit: „Johann Gadolin. Ein Beitrag zur 
Geſchichte der induftiven Wilenichaft in Finland“ jagt Rob. 
Tigerftedt: „Für ihn Hatte die Wiſſenſchaft nichts zu jchaffen 
mit ‘Berjonen. Brad) nur eine Wahrheit ſich Bahn, jo war es 
für ihn gleiygiltig, wen die Welt als ihren Entdeder nannte.“) 
und jo jcheint es, daß er ebenjo nichts dafür gethan hat, um vor 
der Deffentlichfeit fi) als den eigentlichen Stifter der Hushall- 
ningsjällffapet Hinzuftellen. Man darf annehmen, daß er gerade 
abjihtli in den Hintergrund zurüdgetreten iſt im Dinblide auf 
Diejenigen Mitbürger, welche der Sozietät ferner jtanden, und in 


Die Kaiſerl. Finländ. Tefon. Soyietät. 295 


deren Augen jeine perjönlihe Mitwirfung weniger günjtig hätte 
ericheinen können. 

Die Vorbereitungen zur Bildung der Gejellichaft, und deren 
Verlauf während des Yeitraumes eines Jahres, Icheinen überhaupt 
nicht allgemeiner befannt geweſen zu fein. Das ergiebt fih u. A. 
daraus, daß Porthan davon nichts wußte. In einem an Galonius 
gerichteten Briefe vom 6. November 1797 jchreibt er: „Cine neue 
gelehrte Geſellſchaft (ich fürchte es niebt deren bereits genug!) hat 
ſich hier unter dem Namen Finska Hushalls Sällskapet gebildet. 
Ihr Zweck joll fein, in Wirthichaftsjachen bejonders den gemeinen 
Dann aufzuklären und aufzumuntern. Unter den Mitgliedern 
finden fich außer verjchiedenen Profejioren, unferem Sefretär und 
Kämmerer, dem Lagman Wibelius und Kammerratd Winter auch 
einige Kaufleute, einige Offiziere u. j. w. Sobald id) ihre Statuten 
gejehen habe, werde ich darüber mitteilen. Wan beabjichtigt, 
die Autorifation des Königs nachzuſuchen.“ 

Unter den etwa 260 ‘PBerjonen, welche zur Stiftung der 
Sejellihaft ji am 1. November beim Biſchof Gadolin ver: 
jammelten war der bedeutendjte der Wirth ſelbſt, ein Mann, der 
durch feine gejellichaftlihde Stellung, feine aründlichen Kenntniife, 
namentlid) in den öfonomiihen Wifjenichaften, und durch feine 
praftiihe Natur von großem Einfluß war. (Seine Studien hatten 
eigentlid der Phyſik, Mathematit und Ajtronomie gegolten; die 
wiſſenſchaftlichen Berechnungen, welche der in den 1740:er Jahren 
begonnenen Vermeſſung und Chartirung von Finland zu Grunde 
lagen, jtammten von ihm; nun, in jeinem vorgerüdten Alter, 
beichäftigte er ſich Hauptiächli mit dem Schleifen optiicher Gläſer.) 
Dian geht ficher nicht fehl, wenn man den glüdlichen Gedanken, 
die Stiftung der Gejellihaft an die Königlichen Vermählungs— 
fejtlichfeiten anzufnüpfen, ihm zujchreibt... Seit Guftavs II. 
Zeiten wußte man in Finland die Bedeutung der königlichen Gunſt 
jehr wohl zu jhägen. War dieje gewonnen, jo durfte man auf 
die Mitwirkung des lofalen Beamtenmehanismus rechnen, ohne 
welche auf einen Erfolg faum zu rechnen gewejen wäre. Dazu 
wurde auch durd Gadolins Stellung als Bischof die Geiftlichkeit 
im Intereſſe der Sache angejpornt; jowohl zu feiner Zeit als 
auch unter feinen Nachfolgern ſind nicht felten die Aufrufe der 
Gejellihaft zufammen mit den Zirfulären des Domfapitels erpedirt 


296 Die Kaijerl. Finländ. Oekon. Sozietöt. 


worden. Ohne Zweifel war Biſchof Gadolin durd feinen Sohn, 
den Profeſſor Johann Gadolin (geb. 1760), für das neue 
Unternehmen gewonnen worden. Diefem lepteren, bei feiner 
Kenntniß alles deilen, was im Auslande durch Affoziationen auf 
dem öfonomilchen Gebiete geleitet worden, und bei jeinem Scharf: 
blide, mit welchem er den damals in Finland für den Aderbau 
erwacdhten Eifer erkannt hatte, und die Möglichkeit, ihn nod zu 
jteigern, — Johann Sadolin muß das Verdienjt zuerfannt werden, 
rechtzeitig gewürdigt zu haben, wie erwünjdt es war, daß die 
Mitbürger fi zu planmäßiger Förderung von Finlands Aufſchwung 
zulammenfchlojfen... (Die Nüdjiht auf den hier verfügbaren 
Raum verbietet es, die interejlanten Nachrichten wiederzugeben 
über Johann Gadolins Studiengang, ſeine ausführliden Neijen 
in den vornehmjten Hulturländern, feine aller Spefulation abholden 
jtreng wiſſenſchaftlichen Ueberzeugungen, feine ufademijche Lehr: 
thätigfeit, und über jeine Betheiligung an gewerblichen Unter: 
nehmungen.) 

Daß unter den, wohl vornehmlid dur Johann Gadolin 
zulammengeführten, Anhängern der neuen Ideen, die am 1. No— 
vember jich vereinigten, ‘Borthan gefehlt hat, hatte eine natürliche 
Urſache. Geplagt durd jchwere rheumatiiche Leiden, war er den 
ganzen Herbſt 1797 ans Haus gefejlelt. Seine Unbekanntſchaft 
mit der Stiftung der Gejellichaft iſt dadurch erflärlid. Damals 
fanden ſich an der Univerfität Abo zwei deutlich hervortretende 
Parteien. In der Perſon PBorthan’s, mit feiner ruhigen fonjer: 
vativen Gründlichfeit, jahen die älteren Profeſſoren ihren Vor: 
mann. Johann Gadolin, mit einer anderen Anjchauung vom 
Leben, ein lebhafter, raſch denfender Optimift, hielt nichts von 
den Einwendungen und Bedenklichfeiten, und gehörte zur Oppofitiun. 
Aber ein Kampf zwijchen den beiden ‘Parteien hatte begonnen. 
In jeinen Briefen an Galonius erwähnt Porthan des öfteren mit 
Mißvergnügen „der Gadolin’s,“ und namentlid des Johann 
Gadolin, dejjen gründlichen Kenntniſſen und Farem Blide er 
indeilen jeine Anerfennung nicht verjagte. Man darf wohl an- 
nehmen, daß Johann Gadolin es nicht ungern jah, daß Porthan 
zufällig außerhalb der Sache jtand, und gehindert war, mit jeinen 
nit immer leicht zu mwiderlegenden „Zweifeln hervorzutreten. 
Zufolge jeiner, mit dem jo freudig geitifteten „Aurora-Bunde“ 


Die Kaiferl. Finländ. Oekon. Sozietät. 297 


gemachten, Erfahrungen: dab aud der wärmjte Enthufiasmus mit 
der Zeit erfaltet, hätte Borthan gegen das Stiften einer neuen 
Sejellichaft oder das Wiederaufnehmen der alten abgerathen, und 
hätte Johann Gadolin’s Hoffnung nicht getheilt, da nämlich aud) 
ohne direkte Mitarbeit, allein ſchon durc ihre Geldbeiträge, die 
Mitglieder den Erfolg der Sejellichaft würden fördern fönnen. 
Borthan, der es gewohnt war, von Allen und über Alles um 
feinen Rath befragt zu werden, ſah fich verlegt durd) den Umftand, 
daß er einem, dem Bellen des ganzen Landes gewidmeten, Unter: 
nehinen fremd geblieben war. Sein demjelben verliehenes Epithet 
„gelehrt” enthält wahrjıheinlid eine Spige gegen Johann Gadolin 
und dejjen oft beiprochene Gelehrtheit. Troß jeiner Jugend war 
Lepterer Mitglied vieler in: und ausländischen gelehrten Gejell- 
ihaften, während Porthan nur der jchwediichen Wiſſenſchafts— 
akademie angehörte. Dieje ablehnende Haltung hat aber nicht 
lange gewährt: zur Theilnahme an der GSejellihaft aufgefordert, 
und alsbald von den patriotiichen Abfichten, welche ihre Bildung 
herbeigeführt hatten, überzeugt, it Porthan eines ihrer thätigiten 
und wirkjamjten Diitglieder geworden. Es fonnte nicht ausbleiben, 
da derart zwijchen den verjchiedenen Aufajlungen eine Aus: 
gleihung jtattfand: nad) Verlauf eines Jahres war aus den 
Arbeiten der Sozietät erfichtlid, wie jehr eine anſprechende Idee 
geeignet iſt, auch Perſonen mit jehr verjchiedenen Anjchauungen 
und Intereſſen zufammenzuführen und zufammenzubalten. Porthans 
Beiträge zu den Arbeiten der Gejellichaft bilden von jeiner jo 
mannigfaltigen Wirkjamfeit eine der jchönjten Seiten. Auch aus 
einem anderen Umjtande erklärt es fi, daß zur Stiftung der 
Sozietät Porthan nicht herangezogen worden war: er war nicht 
praftiiher Zandwirth; wohl hatte ev ein Präbendegut in Arrende, 
diejes aber wurde von den Bauern bewirthichaftet,; mit einziger 
Ausnahme des Johann Sadolin aber waren unter den Stiftern 
nachweislic alle Brofeilore, alle Beamte und Gejchäftsleute — 
auch die Offiziere, als Inhaber von Regimentsgütern — alle 
waren fie praktiſche Landwirthe, deren Theilnahme in erjter Linie 
angeftrebt worden zu jein jcheint. Unter ihnen iſt namentlich der 
Gouverneur des Abo:Län, Emil Gultav von Willebrand, zu nennen, 
der bei jeiner amtlichen Verpflichtung, die öfonomijchen Intereſſen 
zu fördern, an den Vorbereitungen zur Stiftung ſich betheiligt 


298 Die Kaiſerl. Finländ. Defon. Sozietät. 


hatte, zur Zeit aber in Privatgeſchäften fih in Stodholm aufhielt. 
Seinen amtlihen Wohnſitz hatte er auf dem fönigliden Gute 
Nunfala, ihm gehörte aber das große Gut Jodis in Tammela, 
wo nicht nur eine umfangreiche Landwirthichaft betrieben wurde, 
fondern aud Sägewerfe, Diahlmühlen, fowie eine Stampfmühle 
und Zeugwalferei, welde legtere beiden Anlagen im Jahre 1804 
einem Etangeneifenwerfe lat gemacht haben — (diejes, wie 
man jagt, größte Beſitzthum Finlands ift im Jahre 1870 in Die 
Hände einer Schwedischen Nftiengefellichaft übergegangen). 

In nicht geringer VBerlegenheit befand ſich die Sozietät 
gegenüber dem erſt kürzlich ernannten erjten Präfidenten des 
Aboer Hofgeridhts Georg Wilhelm Lode. Diejer, ein gejdidter 
Juriſt und in der Freiheitszeit ein hervorragender Politifer der 
Mützenpartei, hatte während der Vormundichaftsregierung, dank 
feiner intimen Freundſchaft mit dem allmächtigen ©. U. Neuterholm, 
als Juſtizkanzler eine bedeutende Rolle geipielt. Durd König 
Suftavs IV. Adolph erfte Negierungshandlungen war Lode dieſes 
hohen Amtes beraubt worden, und er durfte fid) nun, mit zer: 
rütteten Vermögensverhältniſſen, nad) Abo zurüdziehen, deſſen 
eriter Hofgerichts: Präfidentenfig herkömmlich als Netraite für 
gefallene Staatsinänner gegolten hatte — (jo war 5. B. beim 
Sturze der Doljtein-Bartei im J. 1727 Akerhjelm dorthin ernannt 
worden). Seine hohe Würde fonnte nicht überjehen werden, aber 
es erſchien wenig pailend, den in Ungnade gefallenen Staatsmann 
mit der neuen Gejellichaftsftiftung in enge Verbindung zu bringen. 
Lode hatte die Situation richtig erfaßt und ſich bei Seite gehalten, 
und feine Nägjtuntergebenen waren jeinem Beilpiele gefolgt: 
unter den Stiftern der Gefellichaft befindet fich fein Glied des 
Hofgerichts. Lode's Amendement:VBorjchlag vom 9. Dezember, den 
Biihof Gadolin per Afflamation, ohne Zettelwahl, zum Wort: 
führenden zu ernennen, befreite die Wählenden aus einer unbe- 
haglihen Lage, da der vornehmſte Beamte des Landes felbit- 
verjtändlich hätte erwählt werden müſſen. Ueber den Widerſpruch 
mit dem foeben bejtätigten Statute, welches Zettelwahl vorichrieb, 
hat man gemeint ſich hinwegſetzen zu dürfen, da ja der Vorjchlag 
vom erjten Juriften des Landes ausgegangen war. Aber es 
wurde ausdrüdlih im Protokoll verichrieben, daß diefe Wahl nicht 
als Präjudikat zu gelten haben werde. 


Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 299 


Aus dem erften gedrudten Mitgliederverzeichniß werden 
Ichlieglich auf ganzen zwei Druckſeiten die durch ihre Stellungen 
hervorragenden Perſonen vom Verfaſſer hervorgehoben. Neben 
den vorherrichenden Gutsbefigern und zahlreichen Landesbeamten 
— (unter diefen nun auch Glieder des Hofgerichts) — finden ſich 
Seneralmajore, Kontreadmirale, Obrifte, Rittmeiſter, Bilchöfe, 
Dompröpfte, Großhändler, Fabrifanten, VBuchdrudereibefiter u. j. w., 
zweier Neichstagsdeputirten aus dem Bauerjtande nicht zu vergeilen. 
Erwähnt zu werden verdient noch, als ſehr bezeichnend für die 
Sinnesart, aus welcher die Sozietät hervorgegangen iſt, dab in 
der Eigung vom 9. Dezember feſtgeſetzt worden war, daß Die 
Reihenfolge, in welcher die Mitglieder vom gedrudten Verzeichniſſe 
aufzuführen feien, jedes Mal durchs Loos zu bejtimmen jei. 

Der Bericht über die Vorgänge bei tiftung der Finska 
Hushallningssällskapet wird durch die Bemerfung abgeſchloſſen, 
daß ihr als nächſtes Vorbild wohl die fchon erwähnte „Patriotiſche 
Geſellſchaft“ Schwedens, welche ihre Wirffamfeit auch auf Finland 
ausdehnte, aber doch vorzugsmweile in Schweden ſelbſt ausübte, 
vorgeichwebt haben mag, ſodann aber wohl auch die 1769 in 
Kopenhagen gegründete Koöniglihe danske Landhusholdnings- 
selskab, ſowie die im Jahre 1792 mit einer jährlichen Staats: 
fubvention von 3000 L. St. ins Leben getretene engliſche Gejellichaft 
The board of Agriculture; in den erjten Jahren des Gefellichafts: 
lebens jei übrigens der Zujammenhang mit den Gepflogenheiten 
der damaligen, den geheimen Klubs entnommenen, gelellichaftlichen 
Unterhaltungen unverkennbar gemwejen; denn zwiſchen den offiziellen 
Sisungen haben ſich die Mitglieder als folhe auch privatim 
verfammelt.”?) 


VI Das Organilationsjahr der Finländiihen Defono- 
miſchen Sozietät 1798 und 1799. 

Die in entiprechender Auflage gedrudte „Proflamation” 
war ins Land verfandt und von der „Nbo:Zeitung” in der erjten 
Nummer des Jahres 1798 reproduzirt worden. Es wird darin 
zunächſt auf die großen Erfolge hingewieſen, welde in England, 
Dänemark, Franfreih und der Schweiz durch öfonomilche Geſell— 
Ihaften erreicht worden; auch in manchen Landſchaften Schiwedens 
feien jolche patriotische Vereine entjtanden, nur Finland hätte einer 


300 Die Kaiſerl. Finländ. Defon. Sozietät. 


ſolchen nüglichen Einrichtung bisher entbehrt u. ſ. w. Nach einem 
Anszuge aus dem Statut schließt dann das Schriftjtüd mit den 
für die Ausdrucksweiſe der Zeit beseichnenden Morten: „Werthe 
Landsleute! Der Bürgerfinn nennt es eine Ehre, in ſolchem 
Anlaffe zu nützen. Laßt uns mit vereinten Kräften das All: 
gemeine zu fordern ſuchen. Ver niemals der Allgemeinheit Gutes 
that, iſt das unglücklichſte Glied der Geſellſchaft. Der Eine trägt 
durch fein Wien zum gemeiniamen Wohle bei, der Andere durch 
feinen Eifer und feine Betriebjfamfeit, wieder ein anderer durch 
feine Begütertheit. Cine brüderliche Qereinigung bildet das allen 
diejen Vermögen gemeinfame Band, und erhebt zum Gipfel des 
bürgerlichen Wohlſeins.“ Tie „Nbo:Zeitung” fügte der Profla- 
mation noch folgende Worte hinzu: „Was von den Beidhäftigungen 
und Unternehmungen der Sozietät das Publikum intereffiren fann, 
wird von dieſer Zeitung fortlaufend mitgetheilt werden; und es 
darf gehofft werden, daß unfere mohlmeinenden Mitbürger und 
Landsleute nicht unterlaiien werden, ungetheilten Beifall und 
Unterftüsung diejer patriotiihen Vereinigung zuzuwenden, welche 
geheiligt ift durch die reinſten mitbürgerlichen Gefühle fürs all: 
gemeine Bejte, für König und Vaterland.“ Die Zeitung 
bat mehr aethan, als fie verhieg: ſie ward zum richtigen Organ 
der Sozietät. 

Für diefe galt es zunächſt, die Zahl ihrer Mitglieder zu 
vermehren: in jeder Monatsfigung wurden neue aufgenommen. 
Unter den Neuaufgenommenen find viele höhere Militärperjonen 
zu nennen, wie Areiherr M. von Klingfpor, General en chef 
für Finland; General E. N. af Alerder, Nommandant von 
Speaborg; die Obriften J. 3. Aminoff und G. von Numers, 
Chefs der Negimenter von Björneborg und Waja, Obriitlientenant 
A. G. Nordenitjöld u. j. w.; ferner Juriſten, Glieder vom Waſa— 
Hofgericht, viele Geiftlihe wie M. J. Alopaeus, Dompropit zu 
Borga, Merzte, Landmeſſer, Schulmänner wie Lektor Joh. Borg: 
from zu Borga, Gelchäftsleute aus verihiedenen Landestheilen 
wie die für Bulterfabrifation jo befannten Nathmann ul. 
Sellmann in Brahejtadt und Superfargör P. J. Bladh, Apothefer 
Joh. Julin u. j. w., dazu viele Perfonen aus Schweden. In 
der gedrudten Mitaliederlifte vom 1. November 1798 finden ſich 
321 Namen. (Erwähnt zu werden verdient, daß zwei Perjonen, 


Die Kailerl. Finländ. Defon. Sozietät. 301 


Axel Neuterholm, Bräfident des Mafa-Hofgerichts, und Freiherr 
S. W. Carpellan, erjter Gouverneur in Kuopio und Dann 
Kommandant von Speaborg, welche ihre Sympathie für Die 
Sozietät zu erkennen gegeben hatten, leßterer durch Zulendung 
einer Schrift: „Gedanken über die Verbejlerung der Landwirthſchaft 
im Kuopio-Län,“ und zufolge deilen in die Zahl der Mitglieder 
aufgenommen worden waren, die Aufnahme abgelehnt haben — 
offenbar aus zarter Nüdjicht, weil fie von der Regierung, in deren 
Schutz die Sozietät ftand, nicht wohl angejehen waren. Um für 
die Zufunft jolchen unliebjamen Fällen vorzubeugen, ward bejtimmt, 
daß der Proponent fich zuvor darüber zu vergewitiern habe, ob 
der zu Broponirende die Wahl annehme.) Im zweiten Gefellichafts- 
jahre find 68 neue Mitglieder binzugefommen, meiſt Militär: 
perfonen, Geiſtliche, Juriſten, Aerzte, Gejchäftsleute u. |. w. Hervor— 
togend unter ihnen waren u. A. der berühmte Upfalajche Botanif- 
Profeſſor C. BP. Thunberg, der Landshöfding in Derebro C. D. 
Hamilton, der Generaldirektor des Mtedizinalrefforts Olaf af 
Arcell, der Kontreadmiral Carl Olaf Cronjtedt.??) 

MWährend der beiden eriten Betriebsjahre find gelegentlich 
des Yahresbeitrag-Erlegens nicht unbedeutende Leberzahlungen vor: 
gefommen; für beide Jahre zujammen haben dafür 434 Reichs— 
thaler Ertraeinnahmen gebucht werden können; auch liefen von 
vornehmen Damen Donationen (zumeilen für bejtimmte wede, 
3. B. zur Förderung des Hartoffelbaues) in verjchiedenen Höhen 
ein, von je 10 bis 100 Neichäthalern. Diefer Donationen it 
jedesmal in der „Abo-Zeitung” ehrende Erwähnung geichehen. 
Das Jahresſchluß-Kaſſenſaldo hat im erſten Betriebsjahre 909 und 
im zweiten 1703 Neichsthaler betragen. Aber nicht nur aus den 
verhältnigmäßig erheblichen Geldſpenden ward jchon mährend ber 
eriten beiden Jahre erfichtlich, daß die Geſellſchaft durch ihr reges 
Wirken und durch ihre merflichen Erfolge bei der Negierung und 
beim Publikum fich Anerkennung erworben hatte. Für ihre Korre: 
ſpondenz ward der Sozietät auf ihr Geſuch von der Regierung 
PVortofreiheit bis zu einem angemeljenen Betrage bewilligt — 
(und gleichzeitig auch auf die ſchwediſche „Patriotiſche Geſellſchaft“ 
ausgedehnt). — Seitens der Königlichen Befehlshaber der Provinz, 
der Univerfität, der ſchwediſchen „Patriotiſchen Geſellſchaft“ und 
auch zahlreicher Privater gingen der neugegründeten Sozietät jo 


302 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


zahlveihe Modelle zu, daß zu ihrer Nutzbarmachung ein bejonderer 
„Gerätheausſchuß“ niedergeiegt werden mußte. Am bemerfens: 
werihejten aber iſt, daß bereits am 2. Juli 1798 der Kronofogd 
Ahlmann ein Tejtament errichtet hat, mittelft deſſen er jein 
Landgut — nach Abzug der darauf fundirten Speziallegate auf 
10,000 Reihsthaler bei Eintragung der angenommenen Schenfung 
ins hofgerichtlide Hypothekenbuch geſchätzt — der K. Finska Hus- 
hallningssällskapet vermadte, mit der Bejtimmung, dab fie in 
Tammerfors und Umgegend die Hälfte der freien Gutseinfünfte 
zur Forderung des Unterrits armer VBauerfinder in Neligion 
und Schreiben und diverſen nüßlichen Kenntniſſen verwenden 
möge, die andere Hälfte aber zur Unterjtügung nüßlicher Inter: 
nehmungen von Bauern, für deren Durhführung ihre Mittel 
nicht ausreichten, auch zu Unterftügungen an Bauern in Mißwachs— 
jahren, und zur Belohnung hervorragender bäuerlicher Leijtungen. 
Bei Annahme der Schenkung beſchloß die Geſellſchaft zugleich die 
Aufjtellung von Ahlmann's Bildnik in ihrem Verſammlungslokal 
und die Niederjeßung eines beionderen Ahlmann-Stiftungsrathes 
bejtehend aus Perſonen, die der Sozietät nicht angehören ſollten. 
Außer den erwähnten Geld: und Mobdellichenfungen, find der 
Sozietät auch zahlreiche Geräthe und Bücher — leptere namentlich 
jeitens Wibelius' und Porthan's — zugegangen, jo daß fie 
Ihon zu Schluß des zweiten Geichäftsjahres eine anjehnliche und 
werthoolle Bibliothef aufzuweiſen hatte.**) 

Bald hat fich das Bedürfnig nad einem bejonderen Gejell- 
Ichaftslofale geltend gemacht, nicht nur zur Abhaltung der Sitzungen 
und zur YAufitellung der Modelljammlung und der Bibliothek, 
jondern auch zum Auslegen der Gejellichafts:-Verhandlungen und 
zum freien Verfehre der Mitglieder behufs ihrer Beiprechung und 
der Beratdung über bingehörige Gegenftände. Bis zum Juni 
1798 hatten die „zahlreich beſuchten“ Sozietäts:Verfammlungen 
in der Wohnung des Wortführenden, des Biſchof Gadolin, jtatt: 
gefunden. Von diefem Zeitpunfte ab wurde für die Gejellichafts: 
zwede ein für die Jahresmiethe von 53 Reichsthalern erworbener 
Saal nebjt drei Zimmern benußt; hierzu find vom 1. Juni 1800 
ab noch drei weitere Räume Hinzugefommen. Außer den, von 
der „Abo: Zeitung” befannt gemachten, ordentlichen Monatsfigungen 
haben hier nod), vom Herbjt 1798 ab, an jeden Mittwoch von 


Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 303 


4 Uhr Nachmittags an „bejondere Berathungen und Beiprediungen 
jeitens der Mitglieder, die ſich einfinden wollten,“ jtattgefunden. 
Das neue Verjammlungslofal gab Anlak zu einem wahren Klub: 
leben, wobei die Mitglieder auch andere gemeinnügige Zwede, 
außer den von der GSejellichaft in die Hand genommenen, verfolgt 
haben; jo ift z. B. aus der „Abo-Zeitung“ zu entnehmen, daß 
von einer Anzahl von Mitgliedern 108 Neidysthaler 24 Schillinge 
gejammelt worden find, welche am 27. Dezember 1799 an einige 
Zandleute von Greivilä in Afikfala, welche durch einen Hagelichlag 
ihre ganze Ernte verloren hatten, vertheilt worden jind. (Im 
Brotofoll der Dezember-Berjammlung 1798 findet jich gelegentlic) 
der Jahresabrechnung ein Ausgabepojten „für Dünnbier (svag- 
dricka) Tabaf und (Ihon:) Pfeifen 2c. bei den Gejellichafts- 
Verfammlungen,“ der ſpäter unter „Diverje Ausgaben“ gebucht 
worden fein muß.) In demjelben Lokale ijt auch vom 1. Januar 
1799 ab an zwei Nachmittagen der Woche von 3-—7 Uhr die 
„neue Leſegeſellſchaft“ zufammengefommen.?) 

Während der erjten zwei Jahre hat die Sozietät mehrfad) 
Beweije der Königlihen Huld und Gnade empfangen. Auf der 
Sitzung vom 1. März 1798 ward ein zu Gunjten der Sozietät 
erlajienes Dianifeit des Königs verlejen, durch welches ihr der 
Titel „Königliche Finska Hushallningssälskapet in Abo“ ver: 
liehen und jie gnädigen Schuges verfichert wird, wonach ſich jeder, 
den es angeht, zu richten habe.“ Unterm 1. September 1798 
hatte die Sozietät um die Erlaubniß nadgejudt, eine Diedaille 
mit des Königs Bildnik, zum Zwede „höherer“ Belohnung, prägen 
laſſen zu dürfen, — „da die Bauern den ertheilten Eilberbedern 
nicht genügend Werth beilegten und der Gejellihaft die Mittel 
zu fojtbaren Gaben fehlten.“ Das Gejud wird durd einen, an 
den derzeitigen Wortführenden, Baron Fabian Wrede, gerichteten, 
Brief bewilligt, in welchem der König ihn beauftragt, die Gejellichaft 
nochmals feiner, des Königs, gnädigen Gefinnung zu verfichern. 
Ein in ähnlihem Anlaije an dem derzeitigen Wortführenden von 
Willebrand erlaffener Königliher Brief vom 15. Oftober 1799 
enthält die erneute Verſicherung monardiicher Huld und Das 
Herabbitten göttliher Allmaht und Gnade auf die Sozietät. 
Durd von Willebrand ift für die Sozietät das Recht ausgewirkt 
worden, den Beiltand der Verwaltungsbehörden zu el 


804 Die Kaiferl. Finländb. Defon. Sozietät. 


Abſchlägig war aber auf ein Geſuch der Sozietät vom 1. Oftober 
1798 rejolvirt worden, wonach die Zandrenteien hätten beauftragt 
werden follen, von den Mitgliedern der Gejellichaft die Jahres: 
beiträge einzuziehen. 

Zu Anfang war über die vorliegenden Fragen entweder 
unmittelbar Beichluß gefaßt, oder mit ihrer Beprüfung waren 
zuvor Ausſchüſſe beauftragt worden. Am 1. Mai 1798 aber 
ward beichloifen, eine jtändige, aus zehn Perſonen bejtehende, 
„Geſchäfts-Vorbereitungs-Kommiſſion“ für je ein halbes Jahr mit 
geſchloſſenen Zetteln zu erwählen; ihr waren alle „Tomplizirteren 
Gegenftände, welche nicht unmittelbar erledigt werden fonnten, 
zur Kritif und Meinungsäußerung (utlatande) zu übergeben”; 
ihr Wortführer, der aud die Eigungen zu berufen hatte, war 
jedes Mal dasjenige Glied, welches bei der Mahl die meiften 
Stimmen auf ſich vereinigt hatte; die Kommiſſion Sollte beſchluß— 
fühig fein ohne Nüdjicht auf die Zahl der Anmwefenden. Der 
erite Kommiſſionsvorſitzende war Porthan, deſſen Strenge bei 
Leitung der akademiſchen Tisputationen befannt war, und der 
damals als Rektor der Univerfität fungirte; aus feiner vertraulichen 
Korreipondenz geht hervor, daß er ſich mit fteigendem Intereſſe 
der Gefellichaftsangelegenheiten annahm. Die Juni-Verfammlung 
1798 jeßte auch einen „Defonomie: oder Finanz Ausschuß” nieder, 
zu welchen jedes Mal der Gejellichaft Wortführender, Sefretär 
und Schagmeilter und außerdem neun auf ein halbes Jahr gewählte 
Glieder gehörten. Die Geſchäfte diefes Ausichuffes waren Anfangs 
jehr verantwortlidy wegen der damals noch geringen Mittel der 
Sozietät. 

Schon zeitig iſt beantragt worden, die Eitungsprotofolle 
druden zu lalfen und zu vertheilen, um größere Theilnahme zu 
erweden und um das Bewußtjein der Zulammengehörigfeit zu 
unterhalten. Das aber ward vom Vorbereitungs-Ausſchuß ab— 
gelehnt wegen der damit verbundenen Koſten und Verzögerungen ; 
ftatt deſſen aber ward befchlofen einen furzen Nahresbericht mit 
dem Nachweiſe über die Verwaltung der eingefloffenen Mittel, 
und mit einem vollftändigen Mitgliedsverzeichnilfe druden zu laſſen; 
nach dem Vorgange verjchiedener anderer Gefellichaften verſprach 
man ih davon die Wirkung einer Art Neflame. Cs follte auch 
eine regelmäßige „Korreſpondenz“ in Gang gebracht werden, durch 


Die Railerl. Finländ. Defon. Sozietät. 305 


welche eine Verbindung mit den in den verschiedenen Zandestheilen 
verftreuten Mitgliedern erhalten werde; die in Abo wohnhaften 
Mitglieder follten jelbit denjenigen Landestheil bezeichnen, wohin 
fie zu forreipondiren gedächten. Es wurden derart 16 Korreſpondenz— 
Bezirfe gebildet, aber das alles hat fich alsbald als unpraftiich 
und rejultatlos ermwiefen. Am Muguft 1798 ward aud ein 
„Geräthſchafts Ausſchuß“ niedergelegt mit dem Auftrage, die ein: 
gehenden Modelle und Geräthichaften erperimentell zu prüfen und 
darüber Gutachten abzugeben. 

Wiewohl es Anfangs als jelbjtverjtändlich gegolten hatte, 
daß auch das Sefretariat als unbefoldetes Ehrenamt verwaltet 
werde, Jo erwies fich doch bald feine Gejchäftsüberlaftung als eine 
zu große, namentlich da die in Aussicht genommene „Korreſpondenz“ 
als unfähig erfannt worden war, den Eefretär genügend zu ent: 
laften. Daher erfolgte zur Jahresverjammlung 1798 jeitens des 
„Vorbereitungs-Ausſchuſſes“ der Antrag: einen jtändigen Sefretär 
anzuftellen mit Jahresgehalt und freier Wohnung beim Gejellichafts- 
lofal. Nah Annahme diejes Antrages war Dr. Ruſtröm, der von 
1794— 1796 an der Univerfität Demonjtrant der Botanik geweſen, 
dann aber nach Schweden übergefiedelt war, für das Amt gewonnen 
worden, und er follte es im Frühjahr 1799 antreten, nahm aber 
vorher feinen Abichied, weil die „Patriotiſche Geſellſchaft“ ihn zu 
ihrem erjten Sefretär erforen hatte. Darauf wurde mit 200 
NReichsthalern Gehalt der Provinzialmedifus in Nyland, Aſſeſſor 
Johann Friedrid Wallenius durch 44 von 46 Stimmen 
erwählt; er trat feinen Dienjt im April 1500 an und hat ihn 
bis 1805 verwaltet. 

Außer diefen, ihre innere Organijation und Befugniſſe be- 
treffenden, Fragen — (wozu noch Verhandlungen über das anzu— 
nehmende Wappen und Siegel famen) — hat die Sozietät während 
ihrer beiden erjten Jahre Gegenftände behandelt, welche in den 
weiteſten Kreiſen das lebhafteite Intereſſe erregten; daher, und 
wegen ihres taftvollen Auftretens dabei, das Anfehen, deijen Die 
Sozietät von ihren erjten Anfängen an jowohl bei der Regierung 
als auch beim Publikum fich erfreut hat. 

Im Herbite 1797 waren viele Theile Finlands durch ſchwere 
Mikernte heimgefucht worden und drohende Hungersnot jtand vor 
ber Thür; der Beihluß der Sozietät vom 1. Februar um 


306 Die Kaiferl. Finländ. Oekon. Sozietät. 


eine Schrift über „Nothbrod“ herauszugeben, mußte daher 
allgemeine Aufmerfiamfeit erregen. Schon der Sitzung vom 1. 
März 1798 lag die von Profejjor Pipping im Anſchluſſe an 
eine Inftruftion des Collegium medicum vom J. 1784, ver: 
faßte und von Profeſſor Guftav Gadolin ins Finniſche über: 
fegte Arbeit vor, welche darlegte, wie durch Beimengung von 
(„isländiſchem“) Haidemoos und von NRennthiermoos ein gejundes 
und wohlſchmeckendes Brod hergejtellt werde, das auch in ge: 
wöhnlichen Zeiten als Eparbrod gut zu verwenden jei; fie wurde 
zur Öratisvertheilung würdig befunden (1. Auflage in 1000, 
2. Auflage in 3000 Eremplaren). Die „Abo:Zeitung” gab dazu 
noch Erläuterungen, und auf Biſchof Gadolin’s Antrag wurde die 
Heiftlichfeit durch das Domfapitel ermahnt, die Nothbrod-Bemü- 
dungen der Cozietät zu unterjftügen. Durch die Gouverneure 
wurden Proben von den beiden Moosarten zum Demonftriren auf 
Kirchipielsverfammlungen verfendet. Unter analogem Anlafje und 
gleihen Bedingungen ward im J. 1799 eine vom Profeſſor 
Hellenius verfaßte Schrift über Nothfutter für das ieh 
vertbeilt. 

Der vielfah geäußerte Wunſch, ein möglichit furzes, aber 
zugleich volljtändiges und Teicht faßliches Lehrbuch für den 
finniſchen Bauer über die wichtigsten Theile feiner Wirthichaft, 
nämlich Wiejenbau, Viehzucht und Aderbau, hergeitellt zu jehen, 
hat der Sozietät den Anlaß zur Aufftellung ihrer erjten Preis: 
frage gegeben. Gleichzeitig wurde auch am 2. April 1798 eine 
zweite Preisfrage aufgejtellt: „Welches find die Hinderniffe, 
die des finländischen Landmannes Emfigfeit feſſeln? Und welches 
find die fräftigjten und paſſendſten Mittel, ihn zu mehr Eifer 
und Umſicht in feiner Landwirthfchaft zu erwecken?“ (Wenn man 
fi) der bezüglichen Agitationen des Anders Chydenius erinnert, 
jo erhellt, wie umfafjende und weitgehende Fragen hierdurd) an— 
geregt wurden.) Die Preisfragen wurden nicht nur von Der 
„Abo-Zeitung“ fondern auch vom fchwebiichen „Inland“ ver: 
öffentliht. Die „Abo-Zeitung“ erläuterte zugleich die Abfichten 
der Sozietät und ermahnte, die Preisichriften mögen der Faſſungs— 
gabe des gemeinen Mannes angepaßt werden. Die Einjendungen 
wurden bis zum Auguſt 1799 erbeten. Die erite Frage follte 
ſchwediſch oder finniſch, die zweite nur ſchwediſch beantwortet 


Die Kaiſerl. Finländ. Oekon. Sozietät. 307 


werden. Für beide Arbeiten waren Preiſe von je einer Gold— 
medaille im Gewichte von zwanzig Dufaten und je zwei Zilber: 
medaillen als Afzejjite ausgeworfen. Auf jede der Fragen find 
drei Antworten, alle in jchwediicher Sprache eingereicht worden ; 
feine von ihnen aber ijt für vollfommen preiswürdig anerfannt 
worden; wegen richtiger Gedanken u. ſ. w. it dem Nils von 
Törne eine Silbermedaille zuerfannt worden. Die motivirten 
UÜrtheile wurden von der „Abo-Zeitung“ veröffentliht. Dieſelben 
Preisfragen wurden erneuert. 

Am 2. April 1798 iſt aud über eine Dritte ‘Preisfrage: 
„Dom Nugen oder Schaden der ESciffahrtsfreiheit der 
Bauern“ verhandelt worden — (se. eine Frage, die jchon 
mehrfach Gegenſtand der Neichstagsdisfuflionen und der Gejep- 
gebung gewejen war). Nach, wie es jcheint, heftiger Debatte ijt 
aber dieje Frage zurüdgeftellt worden, weil die Mehrzahl der 
Anwejenden der Meinung war, daß es für die Sozietät nicht 
räthlich jei, ji) auf Gegenjtände der „oeconomia publica“ ein: 
zulajlen, d. h. auf Fragen, welche die öfonomiiche Gejeßgebung 
betreffen. (Porthan jchreibt darüber an Galonius am 12. April 
1798: „die Frage habe Bedenken erwedt, woher gemeint worden 
fei, die Sadye könne noch ruhen.“ Im Jahre 18508 ift aber 
diefe Preisfrage doch aufgejtellt worden, jedoch unbeantwortet 
geblieben.) ??) 

Die auf der Jahresverſammlung von 1798 aufgeitellte 
Breisfrage wegen „Stromregulirungen” ijt alsbald zurüd: 
gezogen worden, nachdem 1799 die Stromregulirungs:Vireftion 
eingefegt worden war. Hinſichtlich der gleichzeitig in Worjchlag 
gebraten Preisfrage „Bon der Städte Handarbeit und 
Danufaftur” hat der Vorbereitungs-Ausihuß ablehnend jentirt: 
„weil von Einzelnen darüber ein generelles Urtheil nicht gefällt 
werden fünne, vielmehr die Frage für jede Stadt bejonders gejtellt 
werden müſſe“; die Sozietät aber ijt anderer Meinung geweſen. 
Eine dritte Preisfrage wurde auf derjelben Sitzung aufgeftellt: 
„Weber die Einrichtung von Kirchſpiels-Vorrathsmagazinen.“ 

Auf die Beantwortung der Preisfrage: die bejte Art, mit 
dem geringiten Körnerverluſte das von den Aeckern geerntete 
Getreide einzubringen, zu trodnen und zu dreichen, hat die 


308 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 


Sozietät den vom Propft G. W. Nydman in Tornea gejlifteten 
Preis von 25 Reichsthalern ausgeworfen. 

Da die im Laufe des 18. Jahrhunderts über Kirchſpiels— 
Beihreibungen gelieferten „Disputationen“ nicht nad ein: 
heitlihem Plane abgefagt worden waren, jo ijt darauf bezüglich) 
auf den Antrag des Sefretärs Wibelius am 2. Januar 1798 
ein Spezialausshuß eingejept worden, welder am 1. Mai 1798 
eine von Profeſſor Bonsdorff angefertigte Injtruftion vorlegte; 
diejelbe it mit einem Vorworte des Profeſſor Tengſtröm für 
Koſten der Sozietät gedrudt und in 1000 Eremplaren vertheilt 
worden. (Porthan bemerft darüber in einem Briefe an Galonius 
vom 2. Auguft 1798: es gebe darin mande unbeantivortbare 
Fragen; man habe wohl gemeint, superflua non nocent. Cs 
find darauf zahlreiche ſolche Beichreibungen eingegangen; Die 
meijten davon aber waren zu fragmentariih. Die bejte von 
ihnen iſt diejenige des Major Otto Friedrich Wetterhoff, 
betreffend Aſikkala-Kapell, welche jpäter in den „Verhandlungen“ 
der Sozietät abgedrudt worden iſt. Cie enthält den Vorſchlag 
zur Niedrigerlegung des Paijänes-Waſſerſpiegels und zu einer 
Etadtgründung. 

Die Sozietät erhielt die Fönigliche Genehmigung, zur Aus: 
zeichnung von Schriften, bezw. deren Verfaller, bejondere Medaillen 
mit des Königs Bildniß prägen zu Dürfen. Dieje Diedaille ijt 
mit entſprechender Inſchrift (auch in finnischer Sprache) in 13 
Größen geprägt worden. Davon ſind zwei goldene Eremplare, 
das eine ſchwediſch, das andere finniih, Sr. Majeſtät dem 
Könige verliehen und ihm durch eine, vom derzeitigen Wort: 
führenden angeführte, Deputation am 15. Januar 1800 übergeben 
worden, nebjt einer Verleihungsurfunde; ebenjo auch dem Reichs— 
fanzler Rojenblatt, welder in feinem Danfjchreiben bervorhebt: 
er habe nichts mehr als jeine Pflicht gethan, wenn er die gemein: 
nügige Sozietät unterſtützte. Cs würde zu weit führen, jollten 
hier alle die bis zum Schluſſe der erjten zwei Jahre verliehenen, 
im Knopfloche zu tragenden Diedaillen, vergoldeten Silberbecer, 
Ehrenfetten mit Medaillen, filbernen Hutbänder u. ſ. w. und Geld- 
belohnungen, fünfzehn an der Zahl, unter Angabe der jedesmaligen 
Berdienjte aufgeführt werden. Es mag nur im allgemeinen bemerft 
werden, daß auch hier, wie bei der Preisfragen-Kritif, das Urtheil 


Die Kaiſerl. Finländ. Defon. Sozietät. 309 


der Sozietät fein allzumildes geweſen iſt — (jo z. B. hat ber 
Bauer Johan Matſſon zu Wehinä-by in Lauffas es doch wohl 
verdient, für die auf jeinem Gute hergejtellten 70,000 Ellen 
(— 40 Wert) Gräben und 9000 Ellen (— 5 Werſt) Zäune 
dur Verleihung eines vergoldeten Chrenbehers von 22 Loth 
Silbergewicht ausgezeichnet zu werden). Solche Auszeichnungen 
und Belohnungen wurden in ganz bejonders feierticher Weiſe ver: 
liehen, auf SKirchipielsverjammlungen, mit einer Anſprache des 
Seijtlichen. 

Andere Einjender von Diemorialen, darunter mandje anonyme, 
find dadurd geehrt worden, dal die Sozietät die angeregte Sache 
zur ihrigen machte und fie durch ausgiebige Agitation förderte — 
jo ift 3. B. zufolge einer anonymen Einſendung ein erfolgreicher 
Kampf zu Guniten der Podenimpfung, unter wirkſamer Beihilfe 
des Domkapitels und anderer Behörden, und unter Ausjegung 
von Prämien an Impfer, in Szene gejegt worden. In ähnlichem 
Anlaſſe haben Gratisvertheilungen von Sartoffeljaat, von ver: 
bejjerten Bienenförben u. |. w. jtattgefunden. Auc find nüßliche 
Erfindungen von der Sozietät angefauft und zu beliebiger Benugung 
freigegeben worden. 

Anderen Einjendungen ift durch die Sozietät weitreichende 
Pubdlizität verliehen worden, nachdem ihr durd) liberales Entgegen: 
fommen der Frendell’ichen Druderei die Herausgabe des „Iage: 
budyes der K. F. H.“ (Mionatsbeilage zur „Abo: Zeitung”), ihrer 
„Verhandlungen“ und kleinerer Schriften zur Gratisvertheilung 
ermöglicht worden war. Unter den derart zur Disfujfion gejtellten 
Gegenſtänden mögen  beiipielsweile folgende genannt werden: 
Ankauf eines Kronsgutes zur Einrichtung einer Mufterwirthichaft, 
und zum Wiederverfaufe, wobei der Käufer zur Fortführung der 
neuen Wirthichaftseinrichtungen zu verpflichten Sei, (in dieſem 
Vorſchlage gipfelte eine ganze Neihe von Vorjchlägen zu Wirth- 
ihaftsverbejjerungen, und es hat lebhafte Verhandlungen gegeben, 
als der Verfaſſer, Wibelius, verlangte, jeine Arbeit jolle anonym 
gedrudt werden, da die bezüglichen Gedanken ſchon von Anderen 
ausgeſprochen worden feien.) — Anſtellung von Jnjtruftoren für 
gewille ländliche Betriebe; — Erridtung einer Waldhüterichule; 
— Bekämpfung des Luxus u. A. durd Einführung des Kartoffel: 
Kaffee's (hierdurch ijt ein vorübergehendes Fallen des Staffeepreijes 


310 Die Kaiferl. Finländ. Delon. Sozietät. 


von 40 auf 32 Scillinge hervorgebradht worden). ehr viele 
Zufendungen mußten, wegen Mangels an Mitteln zu ihrer Ber: 
öffentlihung, einfach ad acta genommen worden. 

Auch außer in den bereits angeführten Fällen hat ſich Die 
Sozietät während ihrer beiden erjten Jahre mehrfad an Königliche 
Majeftät gewandt mit der Bitte um Aenderungen der öfonomijchen 
Geſetzgebung, 3. B. hinfidhtli Verlegung des Termins für Die 
Dienjtboten-Anmiethung ; wegen Aufhebung des Zunftzwanges für 
manche ländliche Gewerbe; wegen Freigebung des Salpeterhandels 
u. |. w. Dabei hat es zuweilen, 3. B. in Betreff des leßteren 
Gegenjtandes, nicht an Widerjpruch feitens ängitlicher Mitglieder 
gefehlt, welche fürdhteten, es könne daraus eine „Staatsaffaire” 
entitehen. 

Vom Mai 1799 ab find die Verhandlungen der Sozietät, 
wegen erfahrungsmäßig nothwendiger Abänderung und Ergänzung 
ihres Statuts, zuweilen recht hitzige geweſen, obſchon es fich dabei 
um verhältnißmäßig wenig wichtige Fragen gehandelt hat, 3. B. 
ob die Strafgelder fürs Ausbleiben von Ausſchußſitzungen fort: 
fallen follen? — ob die Verhandlungen des Vorbereitungs-Aus- 
ſchuſſes geheim zu bleiben haben? — Das im November 1799 
gedruckte neue Statut ift bis 1821 unverändert beibehalten worden.?*) 

Damit hatte die Sozietät ihre organifatoriiche Thätigfeit ab— 
geichlofien; fie hatte alle öfonomish hervorragenden Kräfte des 
Landes um ſich verjammelt; fie war zum Spradrohr für alle 
öfonomilchen Intereſſen geworden und hatte den Beiltand der 
Seijtlichkeit, der Königlichen Beamten und der Landesbehörden 
jur Unterftügung ihrer Bejtrebungen erworben. Sie fonnte mit 
den beiten Hoffnungen der Zukunft entgegengehen. 

* a * 

Daß diefe Hoffnungen nicht getäuscht worden, fondern über: 
reichlidy erfüllt worden find, geht aus dem Inhalte der ferneren 
zehn Kapiteln der Jubeljchrift hervor, welche der Eozietät Wirk: 
jamfeit bis zum Jahre 1897 darlegen. Auf eine aud nur 
fragmentariihe Wiedergabe Ddiejes reichen Inhalts müßte bier 
ſchon darum verzichtet werden, weil die Heranziehung von Vergleichs: 
Daten aus dem Leben der Kaiferlichen Livländiihen Gemeinnügigen 
und Oekonomiſchen Sozietät nicht möglidy ift, wegen Fehlens einer 
Publikation darüber. 


Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 311 


Es mag hier nur angeführt werden, daß zum Jahresſchluß 
1897 die Kejserliga Finska Hushallningssällskapet 1155 Mit— 
glieder bejaß (worunter 24 weibliche), und mit Einfchluß der unter 
ihrer Verwaltung jtehenden neun Stiftungsfonds über ein Gejammt: 
vermögen im Betrage von 569,384 Marf 44 Penni finländifcher 
Währung verfügte. 


[Iossoseno uenaypow. Pura, 9. Oxrabpa 1898 r.) 


AUnmerfungenm. 


I) Unter den gleichen Bedingungen, d. h. bei Unabhängigkeit des Ver: 
fafjers, it auch zur ‚eier des hundertjährigen Beſtehens der „Allgemeinen 
Zeitung” die Feitichrift erichienen. Der Berichteritatter über legtere bemerkt in 
Nr. 296 der „Beilage zur Allg. Ztg.”, dab in anderer Weile, d. h. beim Hinein— 
arbeiten mit Aenderungen Seitens des Gejchilderten, eine jo objektive hiſtoriſche 
Daritellung nicht herzuitellen geweien wäre, — und „es jei ja auch nicht üblich, 
daß ein Jubilar ſich jelbit die Gratulationsrede halte.“ Wenn im Jahre 1890 
die K. Livländiſche Gemeinnübige und Dekonomiſche Sozietät zu gleichem Ber 
fahren ſich hätte entichließen können, jo würde die Geſchichte ihres hundertjährigen 
Beitehens ſchon längit erichienen jein. 

2) Dafjelbe fann nicht von Rußland und Livland gejagt werden; freilid) 
hatte Peter I. in weit höherem Grade noch als Karl XII. es veritanden, fein 
Land zu entvöltern und die Steuerfraft der dezimirten Bewohner zu lähmen; 
aber nad) Beters I. Dingange verging mehr als ein Menjchenalter, bevor Wieder: 
aufrichtung und iyitematische Ordnung der Verhältnifie des Reiches eruſtlich 
angejtrebt wurden. (Bergl. Ernit Freiherr von der Brüggen: „Wie 
Rußland europäiich wurde,” Yeipzig 1885, passim.) Wie ungünftig mußten 
die verwilderten Zuſtände des Reiches auf das durch den Krieg verwüjtete und 
ihm nunmehr angegliederte Yivland zurückwirken! 

3, Zu allen den in Schweden jich geltend machenden Beltrebungen für 
ſyſtematiſche Hebung der Volfswirthichaft finden jih in Kußland, jeit Peter 1. 
mindejtens bis zum Negierungsantritte Katharinas II., faum irgend welche 
Analogien. 


312 Die Kaiſerl. Finländ. Delon. Sozietät. 


% Auch in Rußland war der Aderbau unter dem Regime Peters I. 
jeitens der Groggrundbejiger arg vernachläijigt worden, nicht aber weil dieſe zu 
dem ruhmreicheren Ariegsdienite ſich mehr bingezogen gefühlt hätten, ſondern 
weil fie widerwillig zum bureaufratiihen Staatödienfte und durd Dielen zum 
Abjenteismus gezwungen worden waren. In der Folge ift von Mahregeln 
jur jtaatlihen Förderung des Aderbaues aus Rußland nichts zu vermelden 
geweien, es jei denn daß man die jeit dem Zar Boris Godunow jo häufig 
erlafjenen Zäuflingdordnungen dahin rechnen wollte. Nicht nur Gemengelage, 
logar Agrarlommunismus der TDorfichaften find in Rußland bis heute beis 
behalten worden, und eines der Ichlimmiten Dinderniffe, wodurd die Einführung 
einer Dypothefenordnung unmöglid; gemacht wird, bejteht in der Ihatjache, daß 
in Rußland die Liegenjchaften gar oft wohldefinirter Beſitzgrenzen ermangeln. 

5) Aus jener Epoche iſt von ſolchem merflihen allgemeinen Aufſchwunge 
der Landwirthſchaft aus Rußland nichts zu vermelden gewejen. 

d, Die phyſiokratiſche Entfeffelung des Gewerbes und Verkehrs und die 
Sorge für die Volfswohlfahrt, wie fie ſchon zeitig im 18. Jahrhundert in 
Schweden, jowohl in der Yitteratur als aud in Regierungsakten ſich geltend 
gemacht haben, mußten bier eingehend erwähnt werden, um den Gegenjaß, 
welchen das gleichzeitige Rußland iu diejer Beziehung Ddarbietet, hervorzuheben. 
Abgeiehen von den hierher gehörigen, freilich wohlgemeinten, aber durd) ihre 
Planloſigkeit und Berfrühung jteril gebliebenen ja desorganijirenden, Mabnaymen 
Peters I. ijt, bis auf Katharina II., faum eine einzige nennenswerthe Bejtrebung 
der Regierung zu erwähnen. VBollends die ruljiihe „Wiſſenſchaft“ und Litteratur 
jener Zeit, welche jogar ihre Sprache aus dem von Peter I. erfundenen Kanzleiftil 
erit zu entwideln batie, bieten abjolut garkeine Analogie zu den reichhaltigen 
ſchwediſchen Geiftesihöpfungen, es jei denn, daß man die eigenartigen Erzeugnifje 
des Aultodidakten Poſſoſchlow ihnen gleichitellen wollte, — ein Umſtand, der 
unberechenbar jchwer auf den Geſchicken des in Rußlands Kielmwajjer gerathenen 
Yivlands gelajtet bat, deſſen jtrebjamere Söhne ihre Bildung mit gewaltigen 
Schwierigkeiten und Opfern aus dem Auslande erwerben mußten. (Bgl. über 
dieje Schwierigfeit Julius Edardt: Yivland im 18. Jahrhundert. Yeipzig 1876, 
S. 377 ff.) 

*) Nicht einmal fo jpärlice jtaatliche Unterſtützung der Induſtrie iſt zu 
jener Zeit Livland gewährt worden; ja nicht einmal einiger Schonung hat das 
jo entieglich verwüjtete Yand ſich zu erfreuen gehabt. Vielmehr ijt währeud 
vieler Jahrzehnte das ohnehin erichöpfte Gebiet aufs Entieglichite gequält worden 
durch beitändige Truppendurchzüge, durd Stellung von Fuhren auf große Ents 
fernungen, durch Truppeneinquartirungen, durch Lieferungen aller Art für die 
Truppen auf hunderte von Werften in erichredlic veratoriicher Weile u. j. m. 
(Bl. Julius Edardt: I. ec. ©. 398 ff. und passim, auch Karl Ludwig 
Blum: Ein ruſſiſcher Staatsmann ꝛc. Leipzig 1857 u. 1858. IV. ©. 175 ff.) 

8) Auch nicht einmal ſolche „platonijche” Fürſorge mittels öfonomijcher 
Enquetestommiljionen hat Rußland jemals Livland gewidmet. Was Livland 
an Wohlfahrtseinrichtungen befigt, hat es, bis vor Kurzem, einzig und allein 
zäher Selbithilfe verdankt, keineswegs ſtaatlichem Beiltande, mit einziger Aus: 


Die Kaiferl. Finländ. Oekon. Sozietät. 313 


nahme der fat ganz unnüßen, mit dem Lineale projefiirten, und ſchon längit 
aufgelafienen Riga-Pleskauer Chauffee. Klagen aber und Bitten, Die liv: 
ländiicherjeitö hohen und höchſten Ortes angebracht worden, haben wohl aus: 
nahmelos der Abwehr von Hechisfränfungen gegolten und faum jemals materieller 
Unterftügung — außer binjichtlih Errichtung des Kreditvereind und der Bauer: 
rentenbanf; nicht jelten aber jind Geſuche um die Erlaubniß, ſich ſelbſt helfen 
zu dürfen, abichlägig beichieden worden. 


9, Zu allen den erfreulichen Anzeichen des Wiedererwachens wirthichaftlichen 
und nationalen Yebens, wie jie vom 3. und 4. Dezennium des 18. Jahrhunderis 
ab in „Finland aufgetaucht oder befjer: von erleuchteten Patrioten Finlands 
hervorgerufen worden find, — von alledem findet ſich in der Geichichte des 
gleichzeitigen Yivlands nichts Analoges, abjolut garnidyts. Wir erfahren aus 
ihr nur, daß Livland im jener Zeit, zufolge der vorangegangenen Gewaltjamfeiten 
Karl XI. von Schweden und jodann der wiederholten Verheerungen durch 
den Nordiſchen Krieg, jih im Zuſtande des äußersten wirthichaftlihen und 
moraliichen Riederganges befand, — in einem Zuſtande, von welchem wir uns 
heute eine anſchauliche VBorjtellung faum zu machen vermögen. Beim gänzlichen 
Aufhören von Handel und Wandel in den fajt zeritörten Yanditädten, waren 
dieje bei einem Grade der Berarmung angelangt, welcher fie gezwungen hatte, 
ihre Vertretung auf den Yandtagen aufzugeben. Selbit der Adel, der jeine 
Kinder mit Bertelbriefen ausziehen laſſen mußte und das Leben nur durd) 
Verſtärkung des Drudis auf die Hörigen zu friſten wußte, — ſelbſt der Adel 
vermochte die Landtage nicht zu beiuchen: er beichiefte fie durch Delegirte, weldye 
ſich vergebli mühten, die unabläjjigen Hequifitionen und Erprefiungen für 
durchziehende und einquartirte Truppentheile vam Yande abzuwenden. Wchflagen 
über dieſe Röthe und über die Bergeblichkeit der Berfuche, die Verwaltung und 
Juſtiz des Yandes aufs Neue zu ordnen, jo wie „Düjtere Bilder“ von den 
gleichzeitigen agrariichen Zuitänden, — jie allein füllen die Blätter der heimiſchen 
Zeitgeſchichte. Nicht mit Unrecht it gejagt worden: die neue Geſchichte Yivlands 
gehe fait gänzlich auf in der Geſchichte feiner agraren Entwidelung; dieſe aber 
hatte zu der in Rede jtehenden Epoche ihren niederjten Stand erreicht. Selbit 
die wärmjten Apologeten, weldye die damaligen Zuftände zu beihönigen juchen, 
geben zu, daß die Zeit der „Roſenſchen Deklaration“ des Jahres 1739 davon 
— miewohl diefe nur eine „flüchtige HanzleisArbeit” gewejen jei — doch ein 
„Düjteres Bild“ gewähre; bat doch auch der ebendamals abgefaßte, und jpäter 
oftmals durchgeſehene, „Schrader: Budbergiche Landrechtentwurf“ die livländiichen 
Erbbauern mit ihren Familien und Dabjeligfeiten zu den „beweglichen Gütern“ 
gerechnet, — über welde, fujt wie über das jonjtige lebende Inventar, der Herr 
jelbjtveritändlicdy nady Belieben verfügen durfte. (Vergl. von Tranſehe-Roſeneck: 
„Gutsherr und Bauer u. j. w.“, Straßburg 1590, ©. 146 u. 147, „Baltiiche 
Monatsſchrift“ XXVII, ©. 95 Anm. 1 und ©. 353.) Daß unter joldyen 
düjteren Berhältnifjen irgend welche Anzeichen ofonomifchen Wiederauflebens, 
wie jie uns gleichzeitig in Finland entgegentreten, ſich nicht haben zeigen fünnen, 
muß als jelbjtverjtändlich gelten. 


314 Die Kaiſerl. Finländ. Defon. Soyistät. 


10, Wenn gefunden wurde, dab während der in Hede jtehenden Periode 
der Finländiſchen Kulturgeihichte verhältnißmäßig nur wenige „ökonomiſche“ 
Schriften in finnischer Sprade erichienen feien, jo muß dem Livländer im 
Gegentheile dieſe Litteratur als eine überaus reiche ericheinen; denn von 
„weltlichen“ Schriften in den beiden livländiichen Landvolkſprachen werden nod) 
am Ende des 18. Jahrhunderts überhaupt nur fünf erwähnt, zwei lettiſche und 
drei ehitniihe (Edardt 1. ce, S. 449 u. 450); von legteren it allenfalls eine 
als „ökonomiſch“ anzujpredhen, nämlich das, in Dupel’S „Zopographiichen 
Nachrichten“ I, S. 567 erwähnte, um 1772 gedrudte ehſtniſche Arzneibuch; Die 
anderen beiden find offenbar die von Hupel ebendort II, ©. 89 u. 90 erwähnten 
ehſtuiſchen Grammatiken, die erjte v. J. 1637 und die zweite v. 3. 1732, welde 
aber beide eigentlich der deutſchen Litteratur angehören. Aljo ijt während der 
in Rede jtehenden Periode an ehſtniſchen und lettiihen „weltlichen“ bezw. 
„ökonomiſchen“ Schriften nichts, abjolut garnichtS erichienen, und die gleichzeitige 
finniſche „ölonomiſche“ Yitteratur muß vergleichsweile als eine überaus reiche 
gelten. Dieje totale Armuth iſt leicht erflärlid. Durch die Verwüftungen des 
Nordiſchen Krieges waren mit jehr wenigen Ausnahmen alle livländiichen 
Pfarren vafant geworden und es hat unfjäglicher, lange fortgejegter Mühen 
bedurft, um jie zwedentiprechend wieder zu bejehen. Gbenjo war das Yand 
durch den Nordiichen Krieg jeiner Univerjität beraubt worden, und, troß ihrer 
fapitulationsmäßig ausbedungenen und wiederholt übernommenen Verpflichtung 
zur Wiederheritelung der Yandesuniverjität, hat Die ruſſiſche Regierung Die 
zahlreihen Geſuche der Ritlerſchaft um Erfüllung dieſer Berpflicgtung (1730, 
1734, 1754, 1757 und 1764, vergl. Jul. Edardt 1. c. S. 299) doch während 
des ganzen 18. Jahrhunderts abſchlägig beihieden. Wer hätte wohl unter jolden 
beflagenswerthen Umjtänden in Yivland an „ökonomiſche“ Schriften für das 
Sandvolf denten fönnen, wie es in Finland geihehen ijt, das eine Univerjität 
bejaß und deſſen Pfarren alle, oft durch hervorragende Kräfte, bejegt waren! 

11, Alles das in der vorigen Anmerkung vom gänzlichen Fehlen ehſtniſcher 
und lettiicher „ofonomilcher” Schriften aus der eriten Hälfte des 18. Jahrhunderts 
Geſagte gilt aud) von Yivlands deutſcher Yitteratur jener Zeit. In Yivland jind 
damals nur einige Chronifen und einige rechtshiſtoriſche Abhandlungen nebit 
jehr wenigen Schriften religiöjen Inhalts verfaßt worden. Gegenüber dem in 
Finland erwachten regen Leben, gegenüber jeinen ſchon zahlreichen und verdienitlichen 
ötonomiſchen Schriften hat Yivland zu jener Zeit nichts, abiolut garnichts auf: 
zuweilen. Wie jollte es auch amders ſein bei der entjeglichen VBerarmung Des 
Landes in Folge lange währender Kriegsnöthe, wiederholter Heimſuchung durd) 
die Peit uud andere Seuchen und durch zahlreide Mißwachsjahre, — beim Leer: 
jtehen der Pfarren, beim fait vollitändigen Fehlen jeden Unterrichts im Yande, 


beim Mangel einer heimiſchen Univerjitüt und bei der — bereits in der Uns 
merfung 6 erwähnten — nur bödjit jelten überwundenen Schwierigfeit, aus: 


ländijhe Quellen der Bildung aufzuſuchen. 

2) Zur Bergleihung iſt hier die Regierungszeit Katharinas LI. heran: 
zuzichen. War fie wirklich die große Derricherin, als melde jie in den Augen 
Vieler noch gilt, jo hat jie jedenfalls, wie ihr Vorbild Peter J. mehr Größe im 


Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 315 


Wollen als im Vollbringen bemieien. Bon dem, was fie vollbracht bat, iſt 
wohl faum irgend etwas, als von bleibendem Segen begleitet, anzuerkennen. 
Wen haben ihre „großen Thaten“, die zur Befriedigung ihrer Eitelfeit und 
Herrſchſucht vollbracht wurden: die Siege über die Türkei, die Theilungen Polens 
und andere Grenzerweiterungen, — wem hat die Ermwerbung eines überwiegenden 
politiichen und diplomatischen Rreitige wirklich genütt? Welcher Einfichtige ſegnet 
noch heute alle jene Erfolge, welche weniger durch die Tüchtigfeit ihrer Werkzeuge 
erlangt wurden, als vielmehr durch ganz unverhältnißmäßig große Opfer und 
durch die Aurzlichtigfeit und Zerfahrenheit der Gegner? Hat etwa die ruſſiſche 
Nation für alle dieje entieglich theuren und verhängnigvollen Tanaergeichenfe 
KRatharinas II. zu danten? Tie nicht anders erworben werden fonnten, als um 
den ſehr hohen Preis der fürchterlichiten wirtbichaftlihen Zerrüttung des Reichs— 
haushaltes und vielleicht noch entieglicherer Demoralifation des gefammten Volkes, 
— einer Demoralilation, in mwelcder alle die jpäteren Verſchwörungen, größeren 
und fleineren Yufitände u. 1. m. und alle die wirthſchaftlichen Nothe der 
Gegenwart ihre Quelle haben. Wie anders und wirklich glüdlicher hätte Rußland 
fih entwideln können, wenn durch eine hochbegabte aber weniger eitele Herrſcherin 
feine Blide vorzugsweiſe nach innen, anjtatt fait ausſchließlich nach außen gelenkt 
worden mären!... Was jind denn die Erfolge der angeblid großen Ihaten 
Katharinas II. auf dem Gebiete der inneren Politif? Sind es etwa mehr als 
großartig inizenirte Anläufe geweien, wie 3. B. die rieſige Moskauer Geſetz— 
gebungstommilfion, die Farge! Zur Benrtheilung, bezw. zur Verurtheilung der 
wirthichaftlidgen Erfolge Katharinas II. genügt es, einen Blid in die Biographie 
des Hervorragenpditen ihrer Werkzeuge auf dieſem Gchiete, des Grafen Jacob 
Johann von Sievers, zu werfen. (Marl Ludwig Blum: „Ein rujjiicher 
Staatsmann ꝛc.“ Yeipzig u. Heidelberg 1857.) Welche Wohlthaten vollends 
bat Livland der Regierung Katharinas II. zu danfen?! ihren Anläufen zur 
Aufbefferung der traurigen Yandesverhältniffe, die unter ihrem Szepter feinen 
mejentlihen Umihmwung zum Beſſeren erfuhren? Schweden dagegen bat unter 
wohlwollenden und meiſt geſchickten Regierungen von 1772 bis 1800 vorberrichend 
der inneren Entwidelung gelebt, zu erhöhtem Wohlitande ſich emporarbeitend; 
und zu großem Theile dieſem Umſtaände hat Finland feinen jo jehr erfreulichen 
Aufſchwung zu verdanfen. 

13, Im ftrifteiten Gegenſatze zu Finland bat gleichzeitig Livland nicht 
eines einzigen Aftes jtaatlicher Wirkſamkeit ji zu erfreuen gebabt, deſſen die 
Nachwelt ſich dankbar hätte erinnern fünnen; irgend eines Aktes, der Zeugnik 
dafür abgelegt hätte, dab Rußlands Monarchie dem Beſitze diefer Provinz noch 
denjelben Werth beilegte, wie es Peter I. gethan hatte, als er durch Abichliehung 
eines bilateralen Kapitulationsvertrages fie unlöslicher mit dem Reiche verband, 
ald es durch Waffengemalt und internationale Verträge geichehen konnte; — 
Zeugniß dafür, dab Yivlands Auſſchwung mit der bejonderen Aufmerkiamfeit 
gefördert worden wäre, wie Gujtav III. und Guſtav IV. Adolph fie Finland 
gewidmet haben. Was hat Katharina II. gethan zur Erfüllung der — auch 
von ihr jelbit wiederholten! -- feierlihen Verheißung Peters J.: dab durd ihn 
und feine Nad,folger Yivlands Gerechtſame nicht mur erhalten, jondern noch 


316 Die Kaiferl. Finländ. Dekon, Sozietät. 


gemehrt werden follten? Freilich, zur Abitellung der ärgiten agraren Mißſtände 
hat Katharina II. im X. 1765 dem Landtage wohl „Rropofitionen” infinuiren 
laffen, (vergl. „Baltiſche Monatsichrift“ XVII ©. 439—H2; von 
Tranlche:-Rofened: „Gutäherr und Bauer ꝛc.“, Straßburg 1890, S. 168 ff. 
Jannau, „Sklaverei“ S. 97 ff.) — aber der Sache feine weitere Aufmerkſamkeit 
gewidinet, vielmehr durch den argen, auf die Provinz ausgeübten Drud es 
bewirft, dab ums Nahr 1795 dir agraren Zuſtände nicht nur im Wefentlichen 
diefelben, wie dreißig Jahre zuvor, geblichen waren, fondern fich jogar in mancher 
Beziehung noch verschlechtert hatten tvergl. von Tranfche-Rojencd, 1. c. 
©. 170, 175,183 — 2011. Und an Stelle der alten Yandesverfaflung, um deren 
organischen Ausbau wiederholt vergeblich petitionirt worden war, hat Katharina II., 
unter Einziehung der Landgüter, welche zur Unterhaltung der Yandesverwaltungs: 
Körperlihaft zu dienen hatten, — hat fie die nach theoretiiher Schablone zu: 
geſchniltene „Stattbalterichaftsperfajiung” eingelett, welche fih als impotent zum 
Guten, und zugleich als gar geeignet zum Zerſtören erweilen mußte. 


1, Ron Mahregeln auf dem ökonomiſchen Gebiete, die von der rulfiichen 
Staatöverwaltung zur Regierungszeit Katharina II. ergriffen worden, find nur 
zwei zu nennen: 1) die ſozuſagen nur platoniihe Norunterfuchung zur Errichtung 
einer Ranalverbindung, über Fellin, zmifchen dem Pernauer Hafen und dem 
Peipusbecken; und 2) die Gründung der Stadt MWerro, von welcher e8 noch vor 
Kurzem hieß, daß ſie „fein Schickſal“ habe, und daß man nicht ohne Wagnik 
fie erreichen fonne. Es märe ein arger Irrtum, wollte man das, zu Ende 
dieſer Periode jtattgehabte, Steigen der livländiſchen Güterpreile als ein Symptom 
wirthichaftlichen Aufſchwunges anſehen; vielmehr ging dieſe Ericheinung mit ber 
vollitändigiten Zerrüttung der wirthichaftlichen Verhältniſſe Hand in Band. 
Zufolge der Verlodungen zur Hingabe an den militärischen und zivilen Staats: 
dient war unter den Gutsbeſihern Yivlands in weitem Maße der Abienteismus 
üblih und ihr Luxusbedürfniß zugleich in hohem Grade gefteigert worden. 
Diejem leßteren zu genügen, mußten unwirthſchaftliche Erwerbsquellen herhalten, 
deren ungeltüme Ausbeutung eine Art von Spefulationsfieber im Güterhandel 
hervorrief: Die Waldverwüftung und der Trud auf die Hörigen erreichten noch 
nicht dageweſene Höhe; mittels vergrößerter Nödungen ohne Düngung wurde die 
Setreideproduftion fünjtlich gefteigert und der ärgite Naubbau betricben; das 
erzielte Korn aber wurde — auf primitiofte Weile und bei Meberlaftung der 
Banern durch neue Dienſte, namentlid) durch weite Fuhren — zur Produftion 
von Branntwein verwendet, welden ins Neichsinnere die Monopolverwaltung zu 
hohen Preiien anfaufte. (Rergl. v. Traniche:NRojened J. ec. ©. 173, 175, 
183, 185. „Eines Livländiſchen Patrioten Beſchreibung u. ſ. w.“ in 
„Sammlung ruſſiſcher Geſchichte des Herrn Kollegienraths Müller in Moscaw“, 
2. Aufl., Offenburg 1777, ©. 18, 22. Ueber den dermaligen Verfall der agraren 
Zultände auch U. W. Hupel: „Delonomiiches Handbuch zc.”, Riga 1796, ©. 
96-99 und ©. Merkel: „Die Yetten ꝛc.“, Leipzig 1797, ©. 35, 143, 151 
und 239.) 

15), Gegenüber Finlands überaus regem litteräriichen Yeben und der großen 
Zahl feiner verdienitlichen Schriftjteller auf dem ökonomiſchen Gebiete, gewährt 


Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 317 


die gleichzeitige Periode Livlands das Bild der kläglichſten Armuth. Nicht cinen 
einzigen Verfaffer hat es damals in Livland gegeben, defjen ökonomiſches Werk 
man nocd heute, wie Gadd's „Verſuch ꝛc.“ aus den Nahren 1773 und 1774, 
„mit Vergnügen und Nutzen“ leſen könnte. Daß man Wechjelwirtdichaft und 
Futterbau überhaupt betreiben könne, fcheint damals in Livland noch Niemandem 
überhaupt in den Sinn gelommen zu fein. Offenbar befand man ich bier noch 
auf dem Standpunfte, den im J. 1645 Samuel Gubert's „Aderitudent‘ 
und die übrigen öfonomilden Schriften Yivlands aus dem 17. Jahrhundert 
noch vertreten haben, — Schriften, welche der Kaiſerin Anna Ardiater Johann 
Bernhard von Fiſcher im J. 1753 auf ©. VIII—X der Vorrede zu jeinem 
„Lioländiichen Landwirthſchaftsbuche“ angeführt hat. Denn des Archiaters 
öfonomilche Weisheit gipfelt auf S. 15 in Nathichlägen zur Einrichtung von 
Dreifelverwirthichaft, se. an Stelle der offenbar noch vorzugsmeile betriebenen 
Feuerfultur. Auch in Wilh. Chr. Friebe's „Phyſikaliſch-ökonomiſch-ſtatiſtiſchen 
Bemerkungen x.” (Kiga 1794) jucht man vergeblih nad) Andeutungen über 
Beitrebungen zu zeitgemäßer Verbeſſerung der Landwirthichaft — ebenfo vergeblich 
in A. W. Hupel’s „Oekonomiſchem Handbuch ꝛc.“ (Riga 1796). Wenn ſomit 
Livlands ökonomiſche Litteratur mährend des ganzen 18. Nahrhunderts den 
trojtlojen Eindrud einer Wüjte hervorbringt, jo iſt dieſe Thatſache micht mur, 
und nicht jo jehr, der beflagenswerthen Lage der damaligen agrariichen Ber: 
bältniffe zuzuichreiben, welche jeden Gedanken an wirkliche landwirthichaftliche 
Verbefferungen als abjolut undenkbar ausichließen mußten, — fondern vielmehr 
der Armut) an mittleren Lehranitalten und dem abjoluten ‚Fehlen einer höheren. 
Troß, wie gelagt, zahlreichen Geſuchen um Erfüllung der fapitulationsmäßigen 
BVerheißung, betreffend die Wiedererrichtung der Landesuniverfität, hat Livland 
bis ins 19. Jahrhundert hinein der bildenden Anregungen durchaus entbehrt, 
welche Finland in jo reichen Maße während des 18. Jahrhunderts von jeiner 
Univerfität und jeitens der auf ihr ausgebiloeten Männer zu Theil geworden jind.*) 

16) Wie in Finland der Kegierungsantritt Guſtavs IV. Adolphs, nad 
dem von der Bormundjchaftsregisrung ausgeübten Drude, freudig begrüßt worden 
it, jo find auc für Livland das Ableben Katharinas Il. und die Thronbejteigung 
Kaifer Bauls I. freudige Ereigniffe geweien — (mard dod) dem Lande dadurd 
die Wiederherjtellung feiner alten Berfaffung!) — aber in wie anderem Sinne 
wurde der Regime-Wechſel für Yivland beveutiam! In Finland war dadurch 
erneute und verjtärfte Thätigfeit auf dem öfonomijdien Gebiete eingetreten; — 
wer dagegen hätte damals in Livland an ökonomiſche NReuſchöpfungen zu denfen 
vermodt, da man jich doc deffen bewußt geworden war, daß es ſich lediglich 
darum handle, die Erijtenz zu retten: in den Jahren 1785—1795 waren vie 
Baueraufitände bejonders häufig aufgetreten (Baltiiche Monatsſchrift XVIII, 
©. 457), und jowohl dadurch, als auch in ‚Folge der Ucherjpefulation im Güler— 


*) Im weiteren Sinne gehören freilich) aud die Schriften Merkels und 
ber Paſtore Eiſen von Schwargenberg, Jannau und Hupel zu den ölonomiſchen; 
jie jollen nicht, unter dem VBorwande ihrer vorwiegend agrarpolüiichen Ziele, 
hier übergangen werden; vielmehr wird ihre Erwähnung dem „Anhange“ zu 
dieſer Studie vorbehalien. 


318 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


handel waren zahlreiche Bankerotte eingetreten und noch mehr zu erwarten. Da 
erfannte man wohl, dab die Löſung der Bauerfrage eine Eriftenzfrage fei 
(iv. Traniche-Rojened |. e. S. 206) aber man vermochte nur jo ungenügende 
Konzeilionen zu bewilligen, das die Agrarfrage noch viele Jahre hindurd die 
wichtigſte Präoffupation bildeee. Auch für die Negierungsjahre Pauls 1. ift 
über eigentlich öfonomijche Errungenihaften für Livland nichts zu vermelden ; 
die „Pipländiiche gemeinnügige und ökonomiſche Sozietät” hatte jich noch im 
legten Regierungsjahre Katharinas II. fonitituirt (jr. Bienemann: „Georg 
Friedrich Parrots Jugendleben,“ St. Petersburg 1597, ©. 751. Die Gründung 
der Livländiſchen Adeligen Güter-Kreditſozietät, welche lediglich der Finanznoth 
der Gutsbejiger zu ſteuern hatte, und Anfangs faum irgend einem ökonomiſchen 
Unternehmen gedient bat, gehört einer jpäteren Zeit an und fällt aus dem 
Hahmen der vorliegenden vergleichenden Studie. 

1) Für die zweite Hälſte des 18. Jahrhunderts jind an meltlicher 
Yitteratur zu nennen im ehſtniſcher Sprache: ein Kochbuch (1751) und Belehrung 
über Rettung Erirunfener (1790), und iu leitiiher Sprade: Erzählungen 
(17661 weltliche Yieder (1774); Naturlehre (1774), Auszug aus Schubarth v. 
Kleefeld's Schriften (1750), ein Kochbuch (1796). Dazu ehitniiche und lettifche 
Kalender. Dieje Armuth an ökonomiſchen Schriften für das livländiiche Landvolk 
ift leicht erflärlih. War doch zu jelbiger Zeit auch in Ddeuticher Sprache die 
öfonomiiche Yitteratur Yivlands von kläglicher Armieligleit (ſ. hier Anm. 15); 
dazu famen noch die traurigen agrariihen Zuſtände und die immer dringender 
werdende Griitenzfrage für alle Schichten der Gejellihaft (j. vorige Anm.) Bor 
allem Anderen aber ijt bier zu berüdjichtigen, daß es damals um den Stand 
derjenigen, welche zunächſt Yehrer und Leiter des gemeinen Mannes jein follten, 
— daß «3 um den Stand der Yandprediger in der zweiten Hälfte des 18. Jahr: 
hunderts in Livland noch gar ſchwach beitellt war. Kaum erit war es unſäglichen 
Mühen gelungen, die verwüjteten Pfarren mit einigermaßen taugliden aus» 
ländilchen Prediglamtsfandidaten wieder zu bejegen. Beim Mangel einer Yandes: 
univerjität it man bis ins 19. Jahrhundert hinein gemöthigt gewejen, die liv— 
ländifchen Pfarren fait ausnahmslos mit ausländiihen Paſtoren zu beſetzen, die 
als Hauslehrer meijt nur nothdürftig das Lettiſche oder Ehitniiche erlernt hatten; 
erit in den dreißiger Jahren des gegenwärtigen Jahrhunderts iſt dieſes Paftoren: 
geichlecht ausgeitorben; von ibm hätte cine Bereicherung der lettiſchen und 
ehitniichen Yitteratur auf ſpeziell nicgtfirchlichem und nichtpädagogiihem Gebiete 
auch unter glüdlicheren Verhältniffen faum erwartet werden Dürfen, — mieviel 
auch im Webrigen von diejer Seite ber ums lettiiche und ehitniihe Schriftihfum 
Berdienite erworben worden ilt. 

Die Gelegenheit darf nicht unbenutt gelafien werden, um gegen bie 
Sefinnung, welche durd Treitichfe, in deſſen „hiltoriich-politiihen Aufſätzen“ 
3. Auflage S. 1-63, gegen Xivland jo ichwere Anklage erhoben hat, noch 
entichiedener Proteſt einzulegen, als ed dur Jul. Eckardt, in deſſen „Baltiichen 
und ruſſiſchen Kulturjtudien,“ Leipzig 1869, geichehen ift. Der hierauf von 
Treitichle nothgedrungen angetretene Rückzug iſt im Grunde nur ein jcheinbarer 
geweſen: in der Hauptlache ift die unbegründete Anklage nicht zurüdgenommen 
worden. 


Die Katferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 819 


Mittels Entftelung unbezweifelbarer Thatſachen find Livland fälſchlich 
Unterlaſſungsſünden aufgebürdet worden, vielleicht um dadurch preußiſche 
Begehungsſünden zu beſchönigen oder gar zu verdecken. Eine der ärgſten 
Entſtellungen von Thatſachen iſt es, wenn Treitſchke jagt: „Preußen wurde 
germaniſirt, in Livland, Kurland und Ehſtland lagerte ſich nur eine dünne 
Schicht deutſchen Elementes über die Maſſen der Urbewohner.“ 


Der Hiſtoriker hätte wiſſen müſſen und nicht verdunkeln dürfen die 
unanfechtbare Thatſache: daß keineswegs durch Einheitlichkeit der Sprache, ſondern 
durch ganz Anderes, nationalſtaatliche Gebilde entſtehen und gefeſtigt werden. 
Als ob die Begriffe Sprachgebiet und Nationalgebiet ſich decken! Als ob die 
Bretonen, Normannen, Pikarden, die Auvergnaten und Provencalen und Bearner, 
die ſich alle abſolut nicht unter einander zu verſtändigen vermögen, — als ob 
fie alle nicht ſtolz ſind, dem „einigen und untheilbaren“ Frankreich anzugehören! 
Als ob die Limuſiner von Katalonien bis Murcia, die Kaſtilianer und die 
Basken, wiewohl fie unter einander fich abſolut nicht zu verjtändigen vermögen, 
— als ob fie alle fih nicht al8 Spanier fühlen! — Als ob die Gälen Schott» 
lands und die Engländer und die feltifhen Wallifer, die mit einander in ihren 
Idiomen fich micht zu veritändigen vermögen, — als ob fie alle ſich nicht 
rühmen, Bollbürger Großbritanniens zu fein! 

Ganz anderer Borbedingungen, als der Sprade, bedarf es, um das 
Entitehen einer Nation zu ermöglichen. Gleich gewohnte ökonomiſche Verhältniffe, 
gleich gemohntes und liebgemordenes Recht, — fie find es, die den Kitt bilden, 
durch welchen Volferfchaften, auch bei Verichiedenheit der Sprache, zu Nationen 
vereinigt werben. 

Da fragt es fih nun aber doch, ob «3 echt germaniiches Weſen it, 
wodurch in Oſtpreußen Latifundien, „Kein Hüſung“, ländliche Soyialdemofratie, 
Sachſengängerei u. ſ. w. geichaffen werden? und ob die livländiſchen Zuitände, 
welche cin weit paffenderes Verhältniß zwiſchen Groß: und Kleingrundbeſitz auf: 
weifen, nicht viel echter germanifch find, als die oftpreußiihen? Es fragt ſich 
ferner, ob germaniicher tiefbegründeter Sinn für georonetes Rechlsleben und für 
den Sozialen und politiihen Werth auch des gemeinen Mannes in Oſtpreußen 
jo unauslöfchlich der Bevölkerung ſich eingeprägt haben, als in Livland? und ob 
nicht daher der linländiiche lettiih und ehſtniſch redende Mitbürger viel mehr 
moraliih „germanifirt” worden it, als der deutich redende Littauer und Kaffube? 
Oder vielmehr, Diele letzte Frage braucht garnicht geitellt zu werden: in dieſer 
Beziehung it Livland ohne irgend einen „Zweifel, in moraliihem Sinne, 
infommenjurabel höher und tiefer „germanifirt” als Dftpreußen; mit Laternen 
würde man vergeblich juchen einen Zelten oder Ehſten, der ſich von feiner Guts— 
herrichaft jemals das bieten liche, was alles der oftpreukiiche Landmann von ihr 
täglich erträgt. Im Vergleiche zu Letzterem fühlt fich der Lette und Ehſte ala 
ein ſelbſtbewußt freier Mann. 

Wem in aller eriter Yinie ift diefer Umitand zu danken? Sind auch in 
beiden Ländern die eriten Eroberer als gleih rüdjichtslofe Areuzfahrer, als 
Tizarros und Gorteze, aufgetreten, jo iſt doch einerjeits in Titpreußen bis heute, 
& Ja Treitichfe germanifirend, die herriiche Methode des „Vernichtungskrieges“, 


3 


820 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 


der iprachlichen Nustilgung der fremden Raffe, fortgeführt, und ift ein menig 
beneidenswerther Zuftand hoffnungsloſen fozialen Unfriedens geichaffen worden; 
— während andererjeits in Livland die Urbewohner im Beige ihrer nationalen 
Spracdye nie abjichtlich geftört, fondern vielmehr darin gefördert worden find; — 
woher denn auc bier, troß befannter tendenziöler Verhetzung, der Lette und 
Ehite zu frievlihem Zufammenleben auf gemeinlamem Aulturboden und zu 
gedeihlichem Zuſammenwirken mit dem baltiſchen Deutichen viel gemeigter ift, 
als der genuine Oſtpreuße mit feinem gleichipradhigen Zwingherrn. 

19) Gleichſam „mit Baufen und Trompeten” und bei febhafter allgemeiner 
Berheiligung iſt die Finländiſche Oekonomiſche Soyietät ind Leben getreten; 
unter bejtändig geiteigerter öffentlicher Theilnahme hat fie ihre Wirkſamkeit ftetig 
fortgefegt. Für die Livländifhe Gemeinnügige und Oekonomiſche Sozietät hat 
es, vom Vermächtniſſe des Stifters bis zur Konftituirung, unter bdrüdenditen 
allgemeinen Berhältniffen, einer Anfubationszeit von fait vollen vier Jahren 
bedurft; und während der längiten Zeit ihres Beitehens hat fie, fait im Ver— 
borgenen, eine nur beicheidene Eriftenz geführt. 

, Welcher Livländer reiferen Alters wird nicht durch diefe beiden Säge 
lebhaft an die erbitterten Kämpfe erinnert, die in feiner Heimath von 1845 ab 
mit wechlelndem Glüde geführt worden find, und nad) deren Beendigung — 
fo wie es um falt hundert Jahre früher am 1. November 1797 in Finland 
geichehen ift — geredet werden fonnte „von Stürmen die nun ausgeftürmt.” 
Heute, nad) Verlauf eines weiteren Jahrzehntes, find die bezüglichen Streitfragen 
objektiver Auffaffung, wie es ſcheint, zugänglicher geworden, und im Anhange 
zu diefer Siudie wird auf fie zurüdgefommen werden. 

©, Mer nad höherem Werthe nicht ftrebt, als die Ahnen befefien, und 
wer noc auf ihre Verdienſte allein jeine Anjprüche gründet, der mag die nad): 
ftehende Skizze beachten: fo hat fich unter den Augen noch Lebender Livlands 
öfonomilche Entwidelung vollgogen. 

Noch zu Anfang der 1840:er Jahre befand ſich der livländifche Aderbau 
ziemlich genau auf dem traurigen primitiven Standpunfte, den Lagman Diaf 
Wibelius mit wenigen Strichen jo lebensvoll gezeichnet hat. Richt etwa im 
Auslande, wie der finländiihe zu Anfang des 18. Jahrhunderts, verzehrte der 
livländiiche Gutsherr feine Einnahmen; aber auch ohne die Grenzen der Provinz, 
ja ſelbſt ohne diejenigen feines Landgutes zu überfchreiten, war er Abjenterit. 
Ob er jid bei Verwandtichaft und Freundſchaft auf der „Wuritfahrt” befand, 
oder ob er jelbit der Gaftgeber war, in feiner Wirthichaft ward er fait nie 
angetroffen. Nur auf größeren Gütern oder auf Güterlompleren wurden 
„Dilponenten” gehalten, die fic alles erlauben durften, auch das unrechtmäßige 
Füllen ihrer Taſchen auf Kojten ihrer Herrn, und zum Schaden von defien 
Fröhnern. Die Regel war, dab die Frohnwirthſchaft von einem gemwaltiamen 
und diebiihen „Aubjas“ oder „Starojt” geführt, und die Vorräthe von cinem 
gleich chrenmwerthen „Kletenkerl“ verwaltet wurden; beide fanden ihre Rechnung 
in gegenfeitigem Einveritändnifie. 

Für einen geichidten und großen Landwirth galt damals, wer es ver 
ftanden hatte, Krons- und Majoratsgüter ſich auf Arrende vergeben zu laflen, 


Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 821 


oder Güterfomplere Fäuflich zu erwerben, und auf ihnen die Frohne „praktiſch“ 
zu organifiren, d. h. ausgiebig auszubeuten. Dieje praktische Ausbeutung ift 
ja wohl in den weitaus meilten Fällen in wohlmollendem und humanem Sinne 
angeordnet geweſen. Verhängnißvoll aber mußte es werden, wenn inhumancs 
Weſen — nicht geſetzlich, aber doch faktisch — nicht etwa feitend des Gutsherrn, 
fondern feitens ihrer habfüchtigen und unfontrollirten Verwalter und Arrendatore 
ungeftraft vorfommen fonnte. 

Was aber noch damals in dieſer Beziehung, trog 1804 und 1819, 
ungeitraft hat vorfommen fönnen, und zu unläglider Schädigung des ganzen 
Landes nur zu häufig geduldet worden ift, mag folgender Fall vergegenmwärtigen. 
Das Gut Ayakar iſt zu Anfang der 1840:er Jahre mit durchweg „wüſten“ 
Frohngeſinden gefauft worden: es gab dort nicht einen einzigen Frohnwirth, 
der nicht vom Arrendator durch Ertorquiren übermäßiger Leiltungen, namentlich 
weiter Fuhren, bankerott gemacht worden wäre; und es hat unſäglicher Mühen 
und jummarifcher Strenge feitend des neuen Befigers beburft, um das verarmte 
und vermwilderte „Gebiet“ wieder in Ordnung zu bringen; ein Menjchenalter 
darauf, als die Ayakarſche Gemeinde längſt wieder die angejehenite und reichſte 
der ganzen Umgegend geworden war, haben die vormals jtreng Gemaßregelten, 
fie ſelbſt haben ihren verftorbenen jtrengen Wohlthäter gelegnet: „Wir waren zu 
Thieren geworden, er hat uns wieder zu Menichen gemacht, täglich danfen wir 
es ihm!“ Wie nur iſt es geichehen, eine große wohljituirte Bauerichaft Mann 
für Mann an den Bettelftab zu bringen? Sehr einfach. Der Arrendator hatte 
jih vom jorglojen PBupillenverwalter der befigenden Erbmaſſe einen Pachtkontrakt 
auszumirfen gewußt, nach weldhem er von jedem „belegten“ Hafen oder Thaler 
Landes joviel, vom „unbejegt” oder „wüſt“ gewordenen aber garnichts zu zahlen 
hatte; felbjtveritändlich lag e8 nun in feinem Intereſſe, jedes „Geſinde“ möglichit 
volljtändig „auszulutichen”: was es nun durd feine Cinlieger noch berthat, 
mar ja reiner Gewinn. 


Aber auch unter ſozuſagen normaleren Verhältniffen lag in dem damaligen 
Wirthihaftsigiteme fein Segen. Der alte „reiche Landrath von Wulf, feinerzeit 
Befiter der zahlreichiten Landgüter in Livland, ift befanntlich einer der wohl: 
wollendjten, intelligenteiten und fleißigiten Landmwirthe feiner Zeit geweſen; aber 
bei der großen Zahl feiner Güter konnten die Wirthichaftsbeamten nicht genügend 
fontrolirt werden. Mander hat es aus dem Munde jeines Sohnes wiederholt 
vernommen: der Vater wäre jicher banferott gejtorben, wenn er nod ein 
Dezennium weiter gewirthichaftet hälte; dermaßen waren feine Güter dem Ver: 
falle entgegengegangen. 

Und was war noch in den fünfziger Jahren das fait allgemein befolgte 
Aderbaufyitem? Yu Gunjten verhältniimäßig kleiner, nad Dreifelder: Methode 
bebauter, „Brujtäder“, mit deren Düngung es oft kläglich bejtellt war, wurden 
ausgedehnte Buſchländer und Außenichläge mittels Rödung und Küttisbrennen, 
unter entieglicher VBergeudung der Wrbeitsfraft, ausgeraubt. Die Spiritus: 
produktion geſchah noch fait ausichlichlih aus Getreide, mit Meiſtern und 
Anechten, die „für Tage” arbeitelen nnd oft gewechſelt wurden, in ber denfbar 
primitioften und unfauberjten Weile und mit entjprechendem Ertrage. Von der 

3* 


822 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


damaligen Viehhaltung maht man ſich heute faum eine Borftelung. Noh um 
die Mitte der fünfziger Jahre erinnerten ſich ältere Leute des Landwirths, der, 
dur Erfindung einer Maſchine zum Heben der „Schwanzfühe”, fih den Ruf 
eines „Rationellen“ erworben hatte. Zum Aufzählen der livländiihen Wirth: 
Ihaften, die damals Kleebau oder gar Meierei betrieben, hätten wohl die Finger 
einer Hand genügt. 

Diefes altväteriihe, von den Ahnen überfommene, Wirthſchaftsſyſtem ift 
nur ehr allmählich aufgegeben morben. Noch um die Mitte der 70:er Jahre 
famen ganz anſehnliche Wirthichaften vor — nomina sunt odiosa — deren 
Kühe zum Theil, wegen Schwähe vom Winter her, auf Schlitten von der 
Frühjahrsweide heimgebracht werden mußten. 

Entſchiedener hat der mirthichaftliche Umſchwung erit nad der Mitte der 
60:er Jahre eingelegt, erit nachdem, zufolge Iebhafter Agitation auf den Ver— 
fammlungen der Defonomiichen Sozietät, die Beleihung der Bauergüter durch 
die Mdelige Güterfredit-Sozietät durchgefeßt, der Verkauf der Bauergüter in Fluß 
und Geld in Umlauf gebradjt worden mar. 

Anfangs freilich iſt der wirthſchaftliche Umſchwung mehr ein finanzieller 
und Storjfift-ähnlicher geweien: das Ausbauen und Arrondiren der Bauer: 
gefinde hat zuerit fait alle Krälte in Aniprud genommen; gleichzeitig aber iſt 
Manchem der Umitand verhängnikvoll geworden, daß die Güterpreije mit dem 
Bauerlandverfaufe und bei hohen Getreidepreifen rapid ftiegen, und daß manches 
Gut überzahlt worden iſt. Die darauf folgenden landwirthichaftlihen Kalamitäten 
find nit immer allein durd die überfeeilche und fonftige Konkurrenz herbei, 
geführt worden. 

Erſt unter der Wirfung diefer relativen Noth — welche ja das Gute bat, 
dab fie „beten lehrt” — und der verbefferten Verkehrswege iſt im Laufe ber 
legten zwei Dezennien ein mirflic allgemeiner Aufihmwung im Betriebe ber 
Wirthichaften eingetreten — ob mit ganz befriedigendem Erfolge? — das dürfte 
fraglich fein, da allgemein über Schwierigkeiten des Abſatzes und der Beihaffung 
von Arbeitskräften geklagt wird. 

Sehr erfichtlih aber und verhältniimäßig ſehr rapid ift in Folge der 
Arrondirungen und des Bauerlandverfaufes ein totaler Umſchwung zum Beflern 
in jeder Hinficht bei den bäuerlichen Wirthichaften eingetreten: Wiejenmelioration, 
Kleebau, verbefjerte Vieh: und Pferdehaltung, Meiereiweſen haben bei den Bauern 
fajt im Handumdrehen Platz gegriffen. 

Das alles haben „die Stürme, die nun ausgeftürmt,” glüdlicher Weiſe 
in ihrem Gefolge gehabt; — aber es bleibt noch zu thun übrig — vielleicht das 
Schwerſte. Wird man das zu leiten vermögen? Dod nur wenn gewiffe Worte 
des unvergeßlichen finländiichen Batrioten Anders Chydenius beachtet fein werden. 

21) Im Gegenfage hierzu, wie es ſcheint in Folge eines eingewurzelten 
Mihverftändniffes, it nie unternommen worden, das uriprünglicde Statut der 
Livländiihen Gemeinnügigen und Oekonomiſchen Sozietät, im Einflange mit 
gewonnenen Erfahrungen und mit neuen Bedürfniffen, einer Abänderung oder 
Vervollitändigung zu unterziehen. 

2) Die voritehenden Daten über die Stiftung der Finländiſchen Dekono— 
milchen Sozietät bieten, im Xergleiche zu den durd Blum J. c. und Bienemann 


Die Kaijerl. Finländ. Defon. Sozietät. 323 


l. c. jedermann zugänglich gewordenen Angaben über die Stiftung der Liv: 
ländiſchen Gemeinnügigen und Defonomiichen Sozietät, freilich einige Analogien, 
aber dagegen eine viel größere Zahl außerordentlich bedeutiamer Gegenjäge. 

Wie jene, fo ift auch diefe das Ergebniß vorangegangener Beſprechungen 
geweien: „Seit ein paar Jahren“ ſchreibt Blum 1. ce. IV, 200, „waren mehrere 
livländiihe Edelleute übereingefommen, eine jolde (sc. ökonomiſche, gemeinnüßige 
Sozietät) auf jährliche Beiträge zu gründen, die Sache hatte Anklang gefunden, 
nahm aber erjt Fortgang, als ein reicher Kaufherr in Riga 40,000 Thaler Alb. 
dazu verlpradh“, und bei Bienemann 1. c. S. 69 und 70 leſen wir: „daß 
Bebürfnig nad einer gemeinnügigen Anjtalt zur Pflege der wirthſchaftlichen 
Interefien der Provinz war in Zivland jeit einigen Jahren rege geworden, unter 
einzelnen Männern bejprocden, aber jeiner Befriedigung hatte ſich der Mangel 
an ausreichenden Mitteln entgegengeitellt; da fpendete im Jahre 1792 einer der 
geachtetiten Kaufherrn Riga’ ... 40,000 Albertsthaler zum Stiftungsfapital.” 


Aber an Näherem über diefe vorbereitenden „Beſprechungen“ und „Ueber: 
einfünfte,“ über die dabei thätigen Perfonen u. |. w. ſcheint man aud in 
Livland nichts Beitimmtes zu willen. Für Finland hat fi nachträglich feit: 
ftelen lafjen, dab offenbar Profefjor Johann Gadolin bei den Vorbereitungen 
die treibende und jammelnde Kraft geweien iſt. Für Livland bleibt man 
lediglich auf Vermuthungen angewiejen. Und dieje führen auf den Grafen 
Jakob Johann von Sievers-Alt-Ottenhof als auf die bei allen Stiftungsver: 
bandlungen thätigite Perjönlichkeit, eng verbündet mit dem Gouvernements: 
Marichall Friedrid von Sivers-Ranhzen. Neben diejen beiden dürfen wohl aud) 
der Gerichtöhofpräjident Freiherr von Budberg, bei dem die Schenfungsurfunde 
niedergelegt worden, und der Kreismarſchall Friedrich Wilfelm von Taube, dem 
der Donator jeine „Gedanken“ über die Gejtaltung einer gemeinnüßigen Gejellicaft 
übergeben hat, als Eingeweihte gelten. 

Doch ſchon in dieſen allererjten Stadien der Stiftung jtoßen wir auf 
bemerlenswerthe Gegenläge. In Livland lagen über das Wirken derartiger 
Gejellichaften garfeine Erfahrungen vor, während man in Finland die Präcedenz 
bed „Aurora:Bundes“ vor ſich hatte. In Finland hat außerdem die ſchwediſche 
„Batriotiiche Geſellſchaft“ vorgejchwebt, während für Livland, nad Blum 1. c., 
durch den Grafen Jakob Johann von Sieverd ausdrüdlic) vor den prinzipiellen 
Fehlern der St. Peteräburger „Freien Dekonomiſchen Sozietät“ gewarnt worden 
it, welche Katharina II., wie mandes andere, alö todtgeborenes Kind in die 
Welt gejegt Hatte. Ferner tritt uns bei Stiftung der finländishen Geſellſchaft 
enthuſiaſtiſche patriotiiche Hingabe entgegen, während Sieverd darüber geflagt 
bat, daß „ieine Landsleute ... im der Sozietätsjache allenthalben Egoismus 
zeigten.“ (Blum, 1. c.) Daher wird es begreiflih, daß die Finländer, ohne 
anderes Kapital als ihre Gejinnung, an die Stiftung ſich berangewagt haben, 
während man in Zivland fich dazu erjt entihloß, als ein Stiftungsfonds dar— 
gebracht worden war. 

In Finland wurde die Stiftung dur autonome Entihließung der Stifter 
ofort, ohne Weiteres, perfeft, und das Entjtehen der Gejellihaft ward in ihrem 
Mamen, aljo von ihr jeldit, Sr. Königliden Majejtät, unter Erbittung gnädigen 


324 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


Beiltandes, lediglich angezeigt. (Der Ausdrud „Geſuch um Autorifation“ in 
Porthan's Briefe iſt auf deſſen Unkunde von den Vorgängen zurüdzuführen.) 
In Livland dagegen iſt die Nitterihaft mit „Erwirfung der Allerhöchſten Bes 
jtätigung” beiraut worden (Bienemann 1. e. ©. 71), und es bat, wie ſchon 
beinerft, eines Zeitraumes von fajt vier Jahren, gerechnet von der Schenkung, 
bedurft, bis die Gejellichaft im J. 1796 ſich fonjtituiren fonnte. Das Nachſuchen 
einer „Allerhöchſten Beitätigung”“ ſcheint nur auf die vorangegangenen monar« 
hilchen Vergewaltigungen und Einihüchterungen, nicht aber auf eine gefegliche 
Beltimmung zurüdzuführen gewejen zu jein, da Katharina II. rejolvirt hat: 
„Die Errichtung dergleichen Geſellſchaften bedürfte feiner bejonderen Bejtätigung, 
da ſolche kraft der jedem Stande ertheilten Gerechtſame erlaubt wären”. (Biene 
mann ]. c.) 

Die jpälteren Stadien der beiden Stiftungen zeigen noch grellere Gegenſätze. 
In Finland wurde gleihjam eine „offene” Geſellſchaft gegründet, in welde jeder 
patriotiiche Mitbürger, gleichgiltig weldem Stande er angehörte und welche 
geſellſchaftliche Stellung er einnahm, aufgenommen werden konnte; und die 
Gleichwerthigkeit der Mitglieder it durch das Ausloojen ihrer Reihenfolge im 
Mitglieververzeichniffe noch ganz bejonders betont worden. In Livland dagegen 
hut man die Ehre der Mitgliedichaft, mit der vom Grafen Sievers beflagten 
Engherzigfeit, allein den Gliedern der Ritterſchaft rejerviren wollen. 

In Finland beflcideten urjprünglid, dem Geijte der Stiftung gemäß, 
die für kurze Zeit erwählten Beamten der Geſellſchaft unbejoldete Ehrenämter. 
In Livland jind die Beamien glei) Anfangs auf Xebenszeit gewählt worden, 
und dem Sekretär wurde gleich in der erjten Sikung außer freier Dienjtwohnung 
ein Gehalt von 500 Alberisihalern, eine damals nicht unbedeutende Summe, 
ausgeworfen und alsbald auf 700 Thlr. Alb. erhöht (Bienemann 1. ec. 76, 83, 
102). Damit gewann in Livland die Stiftung jofort etwas wie einen Behörden: 
charakter, den jie in der Folge immer weiter ausgebildet hat. 


In Finland ward ein einheimiicher Sefretär gewählt, der, mit der vater: 
ländiihen Geſchichte und mit den lofalen Berhältnifjen wohl vertraut, nicht nur 
als Lagman geihäfisfundig war, jondern dazu, als praftijcher Landwirth, Die 
derzeitigen öfonomijchen Bedürfniffe aus eigener Erfahrung kannte. Im Livland 
dagegen hat man anicheinend feinen Augenblid gehofft, einen geeigneten ins 
ländiſchen Kandidaten für das Sekretariat zu finden, und man bat dazu einen 
erit vor wenigen Wochen in Xivland angelangten ausländiichen Hauslehrer, 
Georg Friedrich Parrot, bejtimmt, der wohl vom 15. bi$ 19. Lebensjahre 
mathematijchen und phyjilaliihen Studien obgelegen hatte (Bienemann 1. c. ©. 16), 
aber im feiner pädagogiſchen Wirkjamfeit faum Weltkenntniß und praftijche 
Fäpigleiten erworben haben konnte, und der, was das Auffälligite, jedem, 
namentlid aber dem landwirthichaftlichen, Gewerbe und den örtlichen bäuerliden 
Berhältnifien gänzlich fremd war: faum daß er in Alt-Öttenhof und bei Wenden 
einige Bauerhöfe von Weiten zu betradpten Gelegenheit gehabt hatte. Als zum 
Sefretariat qualifiziert, hat er ſich jelbjt durch eine Schrift: „Ueber eine mögliche 
öfonomijche Gejellihaft in und für Livland“ (Riga 1795) vorjtellen und 
refommandiren müjjen (Bienemann ]. e. ©. 72 fg.) „Feurigen Schwunges“ iſt 


Die Kaiferl. Finländ. Delon. Sozietät. 325 


dieje Schrift allerdings, aber nicht minder hohl und jtrogend von allgemeinen 
philanthropiichen Phraſen. 

Die finländiidhe Sozietät hat jofort für ihr emergiiches und praftifches 
Wirken bezeichnende und mahgebende Schritte gethan, welche ihr die Sympathie 
und Achtung der Mitbürger erwarben, und fie hat aud) in der nächſten Folge 
die ökonomiſche Entwidelung des Landes erfolgreicdy unterjtügt und geleitet; 
während nod im Jahre 1827 ein wohlunterrichteter und (wenn auch jcharf, jo 
doch) nicht unzutreffend urtheilender Zeitgenofje, Johann Wilhelm Krauſe, über 
Parrot’ und der livländiiden Sozietät Wirkjamkeit Folgendes ausjagt: „Die 
in der Sozietät „Berhandlungen“ niedergelegten Borichläge feien ohne Erfolg 
geblieben bis auf den heutigen Tag.” „Ohne prakliſche Kenntniffe des Ader: 
baues, der Viehzucht, des Forſtweſens, der arbeitenden Volksklaſſen und der aus 
der Landesverfaffung ſich ergebenden Grundbedingungen, ohne jelbit Hupel's 
Topographie gelejen zu haben, ohne mehr als etlihe Bauern: und Hofes— 
wirthichaften um Wenden:Salisburg etwas näher zu kennen, ließen ſich nun 
vielerlei wohllautende Vorſchläge, Forderungen und Erfolge niederjchreiben. Es 
fehlte am Wejentlichiten: am guten Willen der Herren, an Beharrlichleit im 
anerfannten Wahren, an Kapital etwas Wirkliches zu begründen, an Kenntnifien 
wie es anzufangen und durchzuführen jei, an Zeit und Kraft der durch Uebermaß 
erdrüdten Volksklaſſen, und an noch jehr vielen anderen Grundbedingungen. 
Parrot, voll Leben und Feuer und Hoffnungen, erwarb ſich Adtung und Ver: 
trauen bei einigen Mitgliedern, andere belächelien jeinen Wahn Seine Gr 
findungen nahmen ſich als Erperimente gut aus; die Sozietätsfafje bezahlte. 
Die Maſchinen verunglüdien faſt alle, leijteten das Verſprochene nicht, waren 
im Anſchaffen theuer und bei der Reparatur unerſchwinglich. Es blieb alles 
beim Alten.“ (Bienemann 1. ce. S. 56, 87, 88.) 

Das und Aehnliches find die thatjählichen Gegenläße, die ſich bei Be: 
trachtung der beiden Gejellichaftsitiftungen aufdrängen. Die Fragen: warum in 
Livland der unerfreuliche Abjtand? und ob es unter anderen Bedingungen nicht 
anders fich hätte gejtalten müjjen? Dieje Fragen jollen im Anhange zu diejer 
Studie berührt werden. 

23), Miederum begegnen uns, auch bier, die jchärfiten Gegenſätze. In den 
eriten Zeiten nad) ihrer Gründung bat ſich die livländiide Sozietät nicht im 
mindejten der Deffentlichkeit bedient: feine Proflamation hat fie erlafjen; durch 
fein Zeitungsorgan ijt fie vertreten worden, von einer Vermehrung der Mits 
gliederzagl konnte ja, ihrem vermeintlichen „Stiftungs“-Charakier im allerengiten 
Sinne des Wortes gemäß, feine Rede fein; durd nichts hat jie Anfangs ein 
reges Bewußtſein verrathen: im Dienjte der Allgemeinheit zu itehen und ihr 
Rechenſchaft jhuldig zu jein. Offenbar hat ſie gemeint, ihrer Aufgabe zu ents 
ſprechen und zu genügen, indem fie in ihrem bejchränfteiten Kreife ihr Weſen 
trieb, in welches von Außenjtehenden niemand zu bliden und dreinzureden habe. 

So jehr iſt Anfangs von der livländiſchen Sozietät ihr angeblich teſta— 
mentariiher Stiftungs-Charakter zugeipigt worden, daß bis zum Jahre 1511, 
aljo während jechzehn Jahren, die Gemüther ihrer Mitglieder allein durd die 
angebliche Prinzipienfrage erregt worden zu jein feinen: ob fic jtatutenmäßig 


326 Die Kaiferl. Finläud. Defon. Soizetät. 


befugt jei, ihren Sitz von Riga nad Dorpat zu verlegen, wo inzwilchen 
atademiiches Leben ſich zu regen beginnen jollte, bezw. begonnen hatte. (Biene: 
mann 1. c. 100, 106, 107.) 

Wie künſtlich dieſer engberzige, angeblich teftamentariiche, Stiftung: 
Charafter fonitruirt worden iſt, und wie wenig Diele künſtliche Konitruftion 
fähig geweien ift, den Zeitbedürfnifien gegenüber die Probe zu bejtchen, hat ſich 
übrigens ſchon jehr früb, ſchon bei Beginn jelbit der Thätigkeit, erwieſen — und 
zwar Durch eine Infraktion in die jtatutariihen Beitimmungen, wie fie jtrifter 
und ärger garnicht gedadyt werden fann. Dieje hatten auf Grund der „Gedanken“ 
des Stifters jelbit wohl die Dinzuziehung von Ghrenmitglicdern in Ausjicht 
genommen, aber dieſen ganz ausprüdlih nur beraihende und keineswegs ent: 
jcheidende Stimme und aud nicht das Borjchlagärecht zuerfannt. Gleich in der 
eriten Sihung aber ijt dieſem „Gedanken“ des Stifters jtrifte zumider dem 
jedesmaligen Generalgouverneur und Gouverneur als jolden nicht nur die 
Ehrenmitgliedichaft, jondern auch enticeidende Stimme und Vorſchlagrecht bei— 
gelegt worden (Bienemann 1. ce. 70, 77), ein klarer Beweis dafür, daß den 
„Gedanken“ des Stifters jogar oon denen, Die ihn noch gefannt hatien, an ſich 
abjolut fein bindender Werth beigelegt worden ift, jondern daß ein ſolcher nur 
injoweit ſittiv fonitruirt, und wohl au guten Ölaubens angenommen worden 
ift, als es das Maß der jedesmaligen Engberzigfeit erforderlich ericheinen lieb. 
Demgemäp it Denn auch jpäter die Enge des Kreiles der angeblid bindenden 
Vorſchriften gradatim immer mehr erweitert worden. Während z. B. bis in 
die jechziger Jahre für abjolut unzweifelhaft gegolten hat, daß dem Willen des 
Stifiers gemäß zur Lioländiichen Dekonomiſchen Soyielät nur lieder der 
Nitterichaft, nicht aber ſolche der Yandichaft, qualifizirt jeien, it dann erfannt 
worden, dab aud ein adeliger Yandjafje „livländiicher Edelmann“ jei, und als 
jolhyer fähig, der Sozietät als ordentliches Mitglied anzugehören; und es jind 
zahlreiche Filialgeſellſchaflen der Sozietät beigefügt worden, obwohl damit ver 
Rahmen der angeblid bindenden „Gedanken“ des Stifters unzweifelhaft über 
ſchritlen worden iſt u. ſ. w. 

Es iſt wohl ſchwer zu leugnen, daß zwiſchen des Stifters „Bedingungen“ 
und ſeinen „Gedanken“ (Bienemann l. c. S. 70) derart zu unterſcheiden ſei, 
daß nur den erſteren durchaus bindende Kraft beiwohne, den zweiten aber, als 
nur unmaßgeblichen Vorſchlägen, garfeine, und daß die „Gedanlen“ nur injoweit 
pietätvolle Berüdjichtigung beanipruchen können, als die Beachtung der jedes: 
maligen Bedürfniffe es erlaubt. Dieje aber, die Beachtung der jedeömaligen 
Bedürfniiie — salus rei publiecae summa lex esto — hat vom Stifter offenbar 
als bindende Vorſchrift hingeitellt werden jollen, und er hat der Sozietät offenbar 
ganz freie Hand laſſen wollen hinjichilich der Art, wie jie meinen werde, Den 
Bedürfniſſen am beiten zu entiprecdhen, — woher es ihr auch vollfommen zujteht, 
ihr Statut nad reifliher Erwägung und nad freiem Belieben in den aller 
weitejten Grenzen abzuändern. 

Hervorgehoben zu werden verdient, daß Diele leptere Ueberzeugung ſchon 
im Jahre 1800 vom Sekretär Parrot, der mit den Abjichten des Stifters wohl 
vertraut jein fonnte, aufs allerbejtimmtejte vertreten worden iſt; und daß dieſer 


Die Kaijerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 327 


Auffaffung — wie die Weberfiebelung nad Dorpat es beweilet — im Schoße 
der Sozietät nicht dauernd widerjprochen werden fonnte. In Parrot's Borichlage, 
die Ueberſiedelung beirefiend, heißt es: „Der edle Stifter diejer Gejelichaft nannte 
Riga als den Ort der Sigungen, weil damals fein pajlenderer in der Provinz 
war. Seht, da eim weit jchidlicherer da ijt, würde er jelbjt dieje Veränderung 
vorjchlagen. Auf jeden Fall hat jeine liberale Bejcheidenheit der Sozietät völlige 
Freiheit gelafjen, fid einzurichten und an ihren Einrichtungen Veränderungen 
vorzunehmen, wie es ihr beliebt. Seine binterlajjenen Ideen gab er 
nur als Rathſchläge, nit als Geſetze hin.“ (Bienemann 1. c. 101.) 

Gejeßestraft aber, im Sinne eines unantaitbaren Tejtamentes, haben 
offenbar nur die beiden einzigen „Bedingungen“, unter welden die Donation 
geichehen ijt (Bienemann 1. ce. S. 70): 1) dab der Name deö Darbringers, jo 
lange er lebe, verſchwiegen werde; 2) daß die von ihm zur Verfügung geitellten 
40,000 Thlr. Alb. „zum Stiftungsfapitale einer livländiichen gemeinnügigen 
Sozietät” verwendet werden. Hinſichtlich der Gejtaltung dieſer legteren bat der 
Stifter feine „Bedingungen“ bingejtellt, jondern — auch zeitlich und räumlich 
getrennt — nur „Gedanken“ zur Verfügung übergeben. 

Daß aber der in den „Bedingungen“ vorfommende Begriff einer „liv— 
ländiſchen gemeinnüßgigen Sozietät” nicht möglichſt eng, ſondern vielmehr möglichſt 
weit zu fallen jei, d. h. jo weit als es den jedesimaligen Bedürfniffen, nad 
Meinung der Soyietätsglieder, zu entiprechen jcheine, — das wird wohl aud) 
vom Standpuntte rigorojer Rechtsauffaſſung zuzugeben jein. 

Somit darf die Erwartung ausgeſprochen werden, dab die Kaiſerliche 
Livländiiche Gemeinnügige und Defonomifche Soyietät im wohlverjtandenen und 
zeitgemäß aufgefabten nterefje für die ökonomiſche Entwidelung des Yandes, 
in immer ausgedehnteren Maße von ihrem Rechte Gebrauch machen werde, ſich 
von den Banden zu befreien, durch weldye fie von einer engherzigen Vergangenheit 
widerrechtlich hat geſeſſelt werden jollen. 

Und es darf jchließlich wohl die Behauptung gewagt werden: dab, ſolches 
zu thun, der Kaiſerlichen Lioländiihen Gemeinnügigen und Dekonomiſchen Sozietät 
nit nur das Recht zuſtehe, ſondern aud, dem gelammten Lande gegenüber, die 
Verpflichtung obliege, da der Stifter jeine Donation ojfenbar zum Beften des 
ganzen Landes dargebradıt hat; und des Weiteren: daß mithin jedem um Das 
Landeswohl bejorgten Landesangehörigen dad Recht zuſtehe und die Pflicht 
obliege, darauf bezügliche wohlbegründete Wünſche, Anträge oder gar Forderungen 
öffentlich zu äußern. 

24, An inländiſchen Donationen zur Verfügung der Livländiichen Dekono— 
mijchen Sozietät hat es bis auf die neuejte Zeit, jo viel befannt, garfeine gegeben. 
Die von ihr verwaltete Sped-Siernburgide Stiftung itammt von einem Aus» 
länder ber, der die Verhältniſſe nicht kannte. 


25) Bienemann’s Erzerpt aus den Protofollen der Livländiſchen Delonos 
milden Sozietät für die Zeit des Sefretariatd von Parrot, aljo bis zum April 
1300, giebt a. a. O. nicht den mindeiten Anhalt zu der Vermuthung, daB jich 
in diejen vier erſten Jahren der Sozietäis:Wirfjamfeit auch nur eine Spur von 
ſolchem Geſellſchafis⸗Verkehre und »Zujammenarbeiten gezeigt habe, wie es in 


328 Die Kaijerl. Finländ. Defon. Sozietät. 


den eriten Jahren der Finska Hushallningssällskapet jo deutlich hervorgetreien 
ift. Vielmehr Hagt Parrot in jeinem Nundichreiben vom I. 1800 darüber, daß 
wegen des nie ganz zu behebenden „Mangels an häufigen und vollitändigen 
Sitzungen“ er in der Sozietät der einzige Wirfende fei (l. c. S. 103). Das 
ijt auch jpäter nicht viel anders geworden. 

*) Wohl jeher jpät ijt dem „bejtändigen Sekrelär“ der Xivländifchen 
Gemeinnügigen und Defonomiichen Sozietät die Auszeichnung geworden, die 
Zurechnung zum Stande der Staaisbeamten und die Zutheilung eines Klafjen: 
ranges beanipruchen zu dürfen. Erſt zu Anfang der 1860:er Jahre — da unter 
dem Präjivium des Herren Alerander von Middendorff freiere Auffafiung ihrer 
Zwede und Befugnifje Play zu greifen begonnen hatte — find der Lioländijchen 
Sozietät Bortofreiheit und das Prädikat „Kailerliche” verliehen worden. An die 
Befugniß, zur Förderung der Zwede der Livländiſchen Defonomilden Sozietät 
Verwaltungsbehörden requiriren, geichweige denn Immediatgeſuche an den Monarchen 
richten zu dürfen — wie leßtere jeit Anbeginn, eritere ſehr bald, der Finländiſchen 
Sozietät zugejtanden hat, — daran ijt wohl niemals auch nur gedadyt worden. 

2) Aus Gründen, welde den älteften Gliedern der Livländiihen Dekono— 
mijchen Sogietät nicht unbefannt jein fönnen, ift hier auf einen weiteren Gegenſatz 
hinzuweiſen, und die Frage aufzuwerfen: ob die Finländiſche Sozietät eine jtrenge 
Scheidung der Gegenjtände, weldye der veconumia publica angehören, von den: 
jenigen, welche nur die oeconomia privata berühren, im Dinblide auf ihren 
Wirkungskreis habe vornehmen wollen, und ob fie an folder Scheidung feſt— 
gehalten habe? Weder das Eine noch das Andere ift geichehen, und die oeconomia 
publica ift nur zu einem Opportunitätsargumente verwandelt worden; denn ber 
befanntlich fonjervativ:vorfichtige PBorthan ſpricht nur von einem „vorläufigen 
Ruhenlaſſen,“ nicht von einem definitiven Abjegen der zur veconumia publica 
gehörigen Frage, welche denn auch jpäter von der Sozietät unbedenklich auf: 
genommen worden iſt. Auch ſchon a priori ijt es flar, 1) dab eine dem Wohle 
des ganzen Landes gewidmete Gejellicyaft den Fragen der oeconomia publica 
nicht fern bleiben dürfe, jondern fie recht eigentlic) zu ihren wichtigiten Programm: 
Punkten rechnen müfje; und 2) daß es aud) rein unmöglich wäre, theoretijd) 
und praftiich die Grenze zu bezeichnen, wo die veconomia publica aufhöre und 
die oeconomia privata beginne. (Auch in den drei folgenden Preisfragen, 
jowie in den gegen Schluß dieſes Heferats erwähnten Jmmediatgejuchen, jind 
Gegenjtände berührt worden, welche recht eigentlich der veconomia publica an 
gehören.) Somit ermweijet ji, dab Die Frage ſolcher Scheidung garnichts anderes 
ift, alS eine Frage jozuiagen der publiken Kourtoifie und eines mehr oder weniger 
richtigen publifen Zaftes: Dekonomiſchen Sozietäten und anderen Organen der 
Deffentlichkeit jteht offenbar das Recht zu, auf Mängel der ökonomiſchen Gejep- 
gebung hinzuweiſen und ihre Abjtellung zu verlangen. Erjt wenn die bezügliche 
Frage den Weg der legislatoriichen Verhandlung bereits bejchritten hat, wird es 
den gejeßgeberijchen Faktoren erwünſcht jein dürfen, daß die Kreiſe ihrer Ermwä- 
gungen nicht weiter durch mehr oder weniger leidenjchaftliche öffentliche Dis: 
fufjionen darüber geitört werden, und dann iſt e8 Sadie der Organe der 
Oeffentlichkeit, ſolchen Wünjchen der Iegislativen Faktore Rechnung zu tragen 





Die KHaiferl. FZinländ. Teflon. Sozietät. 329 


oder nicht. Im Gegenſatze hierzu ijt zur Zeit der „Stürme, die nun ausgejtürmt“ 
in der livländiihen Sozietät nicht nur die Anjicht: dab Fragen, welche Gegenitand 
der Gejeßgebung werden fünnten, von ihr, bezw. in ihrem Organe, nicht behandelt 
werden dürfen, herrichend geworden; jondern es ijt jogar, ohne irgend einen 
Widerſpruch jeitens der Glieder der Sozietät, an ihren Sekretär dad — im jeiner 
angeblihen Selbjtverjtändligykeit gar jonderbare, aber ebenjo unwirfjiame — Ans 
finnen gejtellt worden: er möge um des Donorares willen gegen feine cigene 
Anſicht jchreiben, d. 5. fi zum Lohnichreiber degradiren lajjen. 

3) Gegenüber der voritehend bezeichneten aufßerordentlid) reichen, vers 
Idjiedenartigen und vielfach gelegneten, bei voller Deffentlichfeit und unter 
allgemeiner Theilnahme ausgeübten Wirkſamleit der K. Finska Hushallnings- 
sällskapet während der beiden eriten Jahre ihrer Thätigkeit, — dem allen gegen: 
über iit der Livländilchen Dekonomiſchen Sozietät fait volljtändige JIſolirtheit 
und Thatenlofigfeit während der eriten Jahre ihres Beſtehens ganz bejouders 
auffallend; neben der Kreirung einiger Ehrenmitglieder (Bienemann 1. c. ©. 96, 
97) ijt der allereinzigite wichtige Gegenjtand, der fie damals beichäftigt hat, die 
von Parrot angeregte Ueberjiedelungsfrage geweſen, zu deren Erledigung es fait 
voller elf Jahre bedurft hat. Offenbar hat Bienemann, als Biograph Barrot's, 
in den Sozietäts-Akten vergebli nad Spuren erſprießlichen Wirkens nad) 
geforiht. Die von ihm erwähnten Gegenitände, welche Parrot überhaupt in 
jener Zeit beichäftigt haben, jtehen entweder außer alem Zuſammenhange mit 
der Sozietät, oder find gar geeignet, Krauſe's abfälliges Uriheil über ihre 
damalige Wirkſamkeit zu rechtfertigen. 


Anhang. 


Comparer, c'est le vrai moyen de comprendre. 
Brunetiere. 


Woher die, aus Vorjtehendem ſich ergebenden, jo groben 
Segenfäge? Woher dort das unabläjlig opferfreudige Zuſammen— 
wirfen aller Stände und aller Gejellihaftsflafen, um mittels einer 


Stiftung, die von ihnen gemeinfam hervorgerufen worden, des 


330 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 


Landes materielle und geijtige Wohlfahrt zu heben? und woher 
bier dagegen, faſt gleichzeitig, lange währende Sfolirtheit einer 
analogen „gemeinnügigen“ Stiftung, die aber nur ein Einzelner 
ins Zeben gerufen hatte, und ihr indolent dumpfes Beharren in 
Engherzigkeit und Unthätigfeit? 

Zu einer erichöpfenden Erklärung: warum die beiden Er- 
icheinungen fo große Gegenjäge darbieten, bedürfte es nicht nur 
einer Wiederholung alles deſſen, was vor bald zwanzig Jahren 
über Livlands Vergangenheit Gegenjtand erregter Diskuffionen 
gewejen ift; jondern auch Finlands Vorgeſchichte vom 12. Jahr: 
hundert ab müßte ebenjo eingehend beiprodyen werden. 

Meder zum Einen noch zum Andern reicht der verfügbare 
Kaum. Es hätte aud, hinſichtlich Livlands Vergangenheit, feinen 
Zwed: renovare dolores; namentlid da jeitdem diejenige Thefis, 
welche den Mittelpunkt des ganzen Streites gebildet bat: daß die 
Konzejjionen von 1818 nicht freudig jpontane, jondern widerwillige 
und erzwungene geweſen find, nachdem dieſe Thejis vom vor: 
nehmjten Apologeten der „düſteren Zeit“ mit jeltenem Freimuthe 
als richtig anerkannt worden iſt (Baltiihe Monatsfhrift XXVII, 
Anm. zu S. 254); und da fomit die jpäteren Verſuche feitens 
Anderer, an dem alten Liede, d.h. an ſchönfärberiſcher, mechaniſcher 
Geſchichtsauffaſſung, feitzuhalten, heute ſelbſt in den mittleren 
Schichten der Gebildeten als Anahronismen erjcheinen, etwa wie 
eine „überwundene” altfränkiſche Modetradht, die nur nod vom 
Diaskenverleiher auf Lager geführt wird. 

Von der, in mancher Beziehung jo abweichenden, Vorgeichichte 
Sinlands aber muß hier eine, wenn auch nur ganz gedrängte, 
Sfizze gegeben werden,*) weil aus ihr eine Thatſache hervorgeht, 
welche vor zwanzig Jahren von feiner Seite gebührend gewürdigt 
worden it, obichon jie — in glei hohem Maße wie die damals 
jowohl behauptete als auch bejtrittene Verſchuldung — obſchon 
dieje Thatjache Livlands Geſchicke verhängnigvoll beeinflußt hat: 


*) An der Hand der Werke: Geijer (und Garlfon): „Geſchichte 
Schwedens" (Hamburg 1832 u. 1834 und Gotha 1874 u. 1887); Koskinen: 
„Finniſche Geichichte von der früheiten Zeit bis in die Gegenwart” (deutic, 
Leipzig 1374); und Dr. £. Medelin: „Das Staatsreht des Großfürjtenthums 
Finland“ in Heiner. Marquardſon's „Handbuch des öffentlichen Rechtes“ IV 
(Freiburg i. Br. 1888). 


Die Kaiſerl. Finländ, Defon. Sozietät. 831 


mohl faum meniger als die Sieger haben auch die Beftegten in 
Livland beigetragen, zu bes Landes Mißgeſchicken den erjten Grund 
zu legen; und die Nachkommen der vormals Befiegten follten, ftatt 
in müften Träumereien fih zu ergehen und ehrgeizige Streber 
unter fi zu dulden, — fie follten enticdhiedener, als es bisher 
geichehen ift, Die zur Heritellung des Zandesfriedens gebotene Hand 
ergreifen. Thäten fie es freudigen Derzens, fo könnte Livland 
deſſen noch theilhaft werden, worin von jeher des „armen“ Finlands 
jo großer Reichtum beftanden hat; fo fönnte auch in Livland 
erftehen, weſſen es von jeher am fchmerzlichiten entbehrt hat, — 
deſſen Mangel am meilten feine Zufunft gefährdet, und aus deſſen 
Abweſenheit die vorſtehend dargethanen Gegenfäge fih von ſelbſt 
erflären: aus dem Nichtvorhandenfein eines livländiichen Volkes. 

Wohl genügend ift von Livlands Leiden geredet worden: 
wie von außen her fein MWohlitand wiederholt durch graufame 
Verheerungen zerjtört, und mie feine Bevölkerung zu äußerfter 
Armuth und PVermilderung wiederholt niedergedrüdt, und mehr 
als dezimirt, bis auf geringe Reſte fait ausgetilgt worden ift. 
Kaum meniger ift auch Finland durch die Geihel der Kriege heim: 
geſucht worden, und es hat viel Aergeres noch erlitten, als Livland: 
gänzlich unverjchuldete und mwiderrechtliche, ſyſtematiſche Zurüd: 
fegung und Preisgebung. Nie aber und durch nichts ift in 
Finland das unbeugfam ftarfe, Alle dDurchdringende, Volksbewußtſein 
erjchüttert, noch iſt jemals die unverwüftliche, Allen gemeiniame, 
opferfreudige Liebe zur Heimath geihmwächt worden. 

Drei Dinge find es, durch die von Anfang an Finlands 
Geſchicke ſich günftiger geftaltet haben, als diejenigen Livlands. 
Nicht ift zunächſt von Schweden aus in Finland verfucht worden, 
ein Recht auf Handelsniederlaffung zu begründen; nicht it dem 
Händler der Miffionär auf dem Fuße gefolgt; micht iſt im 
„chriſtlichem“ Eifer, zu angeblihem Schuge der Miſſion, ber 
Kreuzfahrer rüdfichtslos erobernd vorgegangen; fondern zur Be: 
mwahrung feiner Küften vor den Verheerungen durch finnische See- 
räuber hat Schweden zuerjt das Schwert nad) Finland getragen; 
zu feiner Vertheidigung hat es in Finland feften Fuß gefaßt und 
feine Herrihaft dort begründet. Sodann war in Schweden jenes 
Lehns- und Feudalſyſtem fremd aeblieben, welches im Abendlande 
durch jeine verrufenen Auswüchſe unjägliches Elend über Die 


832 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


breiten Maſſen des Volfes gebradht hat; mie nirgend fonftwo im 
Abendlande hat es in Schweden ſtets einen freien, ftaatlich be- 
rechtigten Bauerjtand gegeben. Demgemäß haben die fchwediichen 
Heereszüge, namentlid diejenigen von 1157, 1249 und 1293, 
welche jchließlich zur dauernden Erwerbung Finlands durch Schweden 
führten, eine verhältnikmäßig gütliche Befigergreifung zu Mege 
gebracht: „Der Berbreitung jchwediihen Rechtes trat wenig 
Widerftand entgegen. Wenigitens find feine Klagen über gemalt: 
ſames Nufdrängen fremder Gejege an die Nachwelt überliefert 
worden, wie es in manchen anderen Ländern der Fall geweſen ift“. 
Drittens endlich ijt die verhältnigmäßig raſche und friedliche Ver: 
Ihmelzung der Finnen und Echweden zu einem gemeinjamen, fich 
feiner ſelbſt bewußten, finländiichen Volfsthume offenbar begünftigt 
und befördert worden durd einen gemwillen Grad von Kultur: 
fühigfeit der Finnen, welchen ihre jüdlihen Stammesgenoffen, Die 
Ehiten, anscheinend nicht in gleihem Maße bejeilen haben. Denn 
zu Zeiten, da in Livland von Bedrüdung wohl faum erſt bie 
Nede jein Fonnte, haben dieſe legteren durch jtarrfinnige Auf: 
lehnung gegen Anordnungen einer höheren Kultur und dur 
wiederholte blutige Aufitände harte Repreſſalien hervorgerufen; 
und es iſt wohl nicht ungerecht, zu vermuthen, daß bdergeitalt, 
durch ihre hartnäckige Wildheit, die alten Ehiten zu großem Theile 
jelbft den Druck herbeigeführt haben, der fpäter auf ihrer Nach— 
fommenjchaft gelaftet hat. Das Bewußtſein, auch ihrerjeits nicht 
frei zu fein vom Erbe jchlimmer Inftinkte, follte heute zu deren 
innerer Bekämpfung, und zur Verſöhnlichkeit im Intereſſe der 
Erhaltung der gemeinjamen Güter, geneigt machen. 

Kaum waren ſeit Eroberung Finlands zwei Menjchenalter 
vergangen, als in dem, durd Lagman Niels Bjelfe und den 
Biihof Hemming im Jahre 1362 vom fchwediichen Reiche aus: 
geiwirften, Finländifchen Freiheitsbriefe feitgejtellt wurde, daß 
neben dem finländiihen Lagman und dem dortigen Klerus zwölf 
finländiiche Bauern an der Königswahl theilnehmen ſollten. Seit 
jener Zeit, ohne Unterbrechung, jeit fünfeinhalb Jahrhunderten 
jteht der finländiiche Bauerſtand politiich vollberedhtigt da, eben: 
bürtig neben feinen Mitjtänden über alle Bejteuerungs: und Geſetz— 
gebungsfragen mitentjcheidend... Trotz ethnologiſcher Verjchiedenheit 
der Bevölkerung hat, von Anfang an, ohne Unterbrehung nod) 


Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 333 


irgend eine Störung, Finlands Volf das Bewußtſein feiner ge: 
ſchloſſenen Einheitlichkeit beſeſſen, — ein Bewußtfein, welches nicht 
im mindeften feine jprichwörtlich gewordene Reichstreue beeinträchtigt 
noch verringert hat. 

Die fetten Jahrhunderte der Zugehörigkeit Finlands zu 
Schweden, jeit der Zeit, da Schweden ein michtiger Faktor der 
nordilchen Politik wurde, find für das ohnehin färglich ausgejtattete 
Land nichts anderes geweſen, als eine ununterbrochene Kette von 
Leiden aller Art... Nur ein ganz bejonders charafteriftiiches 
Moment der hiſtoriſchen Cigenart Finlands, feine Reichs: und 
Königstreue, mag bier hervorgehoben werden... Seit den ältejten 
Zeiten iſt Finland ebenbürtiges, vollberechtigtes Glied des ſchwediſchen 
Neichsförpers geweſen: wie die übrigen Landichaften Schwedens 
betheiligte fich Finland an der Königswahl. Manche Beftimmungen 
des allgemeinen Landgeſetzes v. %. 1442 weiſen darauf hin, daß 
Finland ein den ſchwediſchen Landichaften ebenbürtiges Glied des 
Reiches geworden war... Wielfach heißt es fogar in fpäteren 
Geſetzen: „Schweden und Finland”... In Pommern, in den 
DOftfeeprovinzen gelangte ſchwediſches Necht nie zu voller Geltung, 
wogegen, ſowohl was die Vertretung auf den Reichstagen betrifft, 
als auch in den übrigen rechtlichen und politifchen Beziehungen, 
Finland mit dem eigentlichen Schweden volltommen gleichjtand; 
in Finland war das jchwediiche Hecht fein fremdes Necht, ſondern 
ein einheimifches, unter Mitwirfung von Vertretern des Landes 
entwideltes und auch bei der finnischen Bevölkerung eingemwurzeltes 
Ned... In praftiicher Hinficht aber gewinnt diefe Gegenüber: 
jtellung jeit der erwähnten Periode eine tief bedauerliche Bedeutung 
injofern, als Finland immer mehr und mehr in die — unverdiente 
— Stellung eines vernadjläffigten, ja benachtheiligten Stiefbruders 
verjtoßen wird, unverdient in ziwiefacher Hinficht: ſowohl wegen 
der Wichtigkeit von Finlands Grenzlandftellung, als auch wegen 
der ausnahmelos Forreften Haltung des Landes... Wiederholt 
werden Beſchlüſſe gefaßt und Anläufe genommen, Finlands Ber: 
theidigungszujtand herzuftellen; immer aber haben angeblich wichtigere 
Aufgaben die Aufmerkiamfeit von Finland und deſſen Wehrhaft: 
mahung abgelenkt... Erjt nah Brechung der Madt Schwedens 
wird an die Befejtigung der Eüdfüfte Finlands gejchritten, wobei 
übrigens das Land, wie bisher bejtändig, von Vertheidigungs— 


834 Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Soyietät. 


truppen faft gänzlich entblößt und faft nur auf die improvifirte 
MWehrfraft der lofalen Bevölkerung angewiefen blieb... Karl IX., 
Guſtav Adolph und rel Orenitierna haben allerdings Finland 
einige Sorgfalt gewidmet; der legtere hat mit Nahdrud bezeugt: 
ein gut vermwaltetes Kinland könne Schweden fajt gleichfommen, 
nur thatfächlih fei es der ſchwächere Theil; und Peter Brahe der 
Jüngere hat nad genauem Studium Finlands im Jahre 1638 
befannt: eigentlich ſei Finland ein Feines Königreidh... Wegen 
glänzender Zurüdwerfung Joan's IV, des Schredlichen, — deſſelben, 
der faft ohne Gegenmehr zu finden, Livland zu einer Einöde gemacht 
hat, — mar Finland im J. 1581 durd den König Johann III. 
zum „Großfürſtenthum“ erhoben worden... Guſtav Adolph trug 
als Thronfolger bei Karl's Krönung die Fahne des „roh: 
fürſtenthum Finland“... Nicht feine „Naturreihthümer” haben 
ed gethan — unverfiegbare Schäße anderer Art haben jederzeit 
des Landes unerichöpflihen, großen Reichthum gebildet: Schäße 
des Herzens und der Gefinnung der fernigen Bevölferung. Uner— 
Ihöpflih in der That; denn mit nur wenigen und feltenen Aus: 
nahmen ift feitens der Regierungen der ſchwediſchen Könige und 
der Ndelsherrichaften fait Inftematiich, möchte man jagen, darauf 
bingearbeitet worden, Finland abzuftoßen und dem ſchwediſchen 
Reiche zu entfremden. Nichtsdejtoweniger hat fich Finland, wiewohl 
es in höchiter Ariegsnoth jedes Mal vom Neiche im Stiche gelaflen 
worden ijt, allezeit und unausgejegt, jo lange es nicht thatlächlich 
aufgegeben und überliefert worden, mie feine andere Landichaft 
Schwedens, durch ftandhafte Treue und freudige Opferwilligfeit 
ausgezeichnet. An einigen Beilpielen mag das gezeigt werden. 
Nah wiederholten Drohungen find im J. 1573 die Schaaren 
Joan's IV. in Finland und Ehjtland eingebrochen, melde Land: 
ichaften beide ungeſchützt geblieben waren; finländifche Teputationen, 
die um Nbhilfe bitten, werden in Schweden nicht beadıtet; in 
beiden Küjtengebieten befindet fih 1577 nur noch Reval in 
Schwedens Beſitz. Dann aber werden, unter Führung der Fin: 
länder Tott, Fleming, De la Gardie und Tawwaſt, einzig und 
allein mit in Finland aufgejtellten Truppen und finländiichen 
bäuerlihen Bartilanen, in den Jahren 1580 und 1581 die Rufen 
aus beiden Küftengebieten wieder vertrieben, und werben auch 
Karelien und Kerholm miedergemwonnen. Dafür ward Finland 


Die Kaijerl. Finländ. Defon. Sozietät. 335 


freilich zum Großfürftenthum erhoben, im Uebrigen aber fchlecht 
gelohnt: nad faſt neunjährigen Kriegsnöthen und nad) Brand- 
Ihagung durch unbejoldete Eoldaten, iſt Finland als Beute 
erpreffungsluftigen ſchwediſchen Beamtenjchaaren, den „Geſetzes— 
lefern” u. ſ. w. überliefert worden. Weſentlich ebenſo wird 
Finland behandelt, als Boris Godunow’s Mongolenſchwärme ins 
unvertheidigt gelaffene Finland einbrachen, welchem dennoch gelingt, 
1585 den ehrenvollen Frieden von Teufina zu erfänpfen. 

Es folgen dann die ſchwediſchen inneren Mirren, die Kämpfe 
jzwiicdhen dem Herzog Karl und dem in Polen abwejenden red)t- 
mäßigen König Sigismund; zu dieſem hält Finland in unver: 
brüchlicher Treue, troß aller VBeratiomen und troß des vom 
föniglihen Statthalter Fleming ausgeübten ungeſetzlichen Drudes; 
durch dieſen wird der „Kolbenkrieg“ (1592—-1600) hervorgerufen, 
welcher erit durch Sigismunds gelegmäßige Abſetzung zu Ende 
geht. Mit alledem verjchränfen fi) die damaligen ſchwediſchen 
Religionswirren, in denen das ziwiefach bedrängte Finland eine 
doppelt ehrenhafte Stellung bewahrt hat: ſowohl gegen den 
ſchwediſchen Rigorismus, gegen die lutherijche Unduldjamfeit, als 
auch gegen die von Sigismund in Szene gelepte jejuitiiche Gegen 
reformation Front madend, hat Finland unentiwegt die Sahne der 
Religionsfreiheit hochgehalten. 

Die hierauf erlangten, Schwedens Großmadhtitellung ein: 
leitenden Erfolge Karls IX. bis zu dem 1617 geſchloſſenen Frieden 
von Stolbowa (1610 die „Errettung” Moskaus, die zweite Ge— 
winnung von Kerholm, die Erftürmung und Belegung von Groß: 
Nowgorod, Guſtav Adolph's, bezw. feines Bruders Karl Philipp, 
Berufung auf den Zarenthron u. f. w.), alles das waren wiederum 
Erfolge finländifcher Männer: der Klaus Boije, Arwid Wildeman, 
Emwert Horn, Jacob Dela Gardie (diefer geboren in Neval, aber 
aufgewachlen und erzogen in Finland), der Führer finländiſcher 
Truppen. So ift Schweden recht eigentlich durd; Finland empor: 
gehoben worden... 

Am unverfennbarjten wird Finlands Werth für Schweden 
im Dreißigjährigen Kriege. Won den durch Schweden ins Feld 
geitellten dreißig Negimentern find nicht weniger als zwölf, d. 5. 
zwei Fünftel der ganzen Heeresmacht, finländifche gewejen. Die 

4 


336 Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozistät. 


Kerntruppe der ganzen ſchwediſchen Armee bejtand aus der fin- 
ländifchen Neiterei, deren Schlachtruf: „hakka pääle* überallhin 
paniſchen Schreden verbreitete... 

Durch alles das waren Finlands Kräfte faſt aufgerieben und 
erichöpft worden: feine Bevölferung zählte nur noch 250,000 — 
300,000 Köpfe, Orenjtjerna bezeugt, daß ganze Gerichtsbezirfe 
gänzlich unangebaut waren. Aber nah kurz mwährender Fürjorge 
durch diefen erleuchteten Staatsmann beginnt jet die eigentliche 
Leidensperiode des nicht nur vernacdläfiigten, ſondern geradezu 
gemigbrauchten und mißhandelten Stiefbruders... Es folgen bie 
entjeglichen Werjchleuderungen der Königin Chriftine, die nicht 
weniger al8 18 Grafidaften, 42 Baronien und 400 Adels— 
gefchlechter Freirt Hat; in Finland hatte es nur eine Grafidaft 
und zwei Baronien gegeben, nun befißt es 8 Grafichaften und 
21 Baronien. Nach Chrijtinens Nüdtritte jah Finland aus wie 
ein Haufwerk Ffleiner Fürjtenthümer: zwei Drittheile des Landes 
und ein Drittheil der Staatseinnahmen waren an in Schweden 
lebende Arijtofraten, meijt Ausländer, vergeben worden. Finland 
war zum auszuraubenden PBachtgute von jchwedilchen Vornehmen 
geworden. 

Während Karl X. mit 20,000 Finländern in Polen einfällt, 
fteht Finland im J. 1656 ganz unvertheidigt gegen Die Ruſſen 
da, die des vertriebenen Wolenfönigs Johann Kaſimir fih an- 
nehmen. Schweden ordnet nun die Aushebung des zehnten waffen: 
fähigen Mannes an; die Finländer aber jtellen den achten Dann 
und bewilligen unerhörte Kriegsiteuern; 1657 entjegen fie Kerholm; 
und von feiner neu aufgebrachten Kriegsmacht giebt Finland Die 
Hälfte zur Fortführung des Krieges in Livland ab — und empfängt 
als Gegengabe, von Polen her, die Reit... 

Es hatte nun allerdings eine Steigerung des Verhältnifjes 
von Schweden zu Finland jtattgefunden, in Folge der Großthaten 
des legteren: Finlands Treue war ſprichwörtlich geworden, aber 
das Werhältnig war nur ein tbeoretiiches und afademilches. 
Sobald Schweden feine Grenzen gegen Süden zu erweitern 
beginnt, erfaltet jein Intereile für Finland: immer deutlicher und 
deutlicher prägt es jid aus, dab Finlands Treue zum Reiche eine 
einfeitige, unerwiderte ift... Die vormaligen Berbeilerungen waren 


Die Kaiferl. Finländ. Defon. Sozietät. 337 


hinfällig geworden, und wiederum wird Finland von raubfichtiaen 
und bejtechlichen ſchwediſchen Nichtern und Beamten ausgefogen. 
Schwedischen Handelsfompagnien und ſchwediſchen Handelsplägen 
werden Monopole bewilligt, und Finlands Handel und Gewerbe 
dadurch gelähmt. Bier finden Antelligenz und Vegütertheit feine 
Verwendung mehr; fie fiedeln nad) Schweden über; Finfand beginnt 
fulturlich zu veröden... 

Karls XI. Regierung bringt freilich zwanzigjährigen Frieden 
und Ordnung der Verwaltung — aber mehr für Schweden als 
für Finland; Ddiefes wird immer noch ftiefmütterlicd) behandelt; 
1689 werden alle Finländer von den Offizierftellen ausgeichloffen. 
In wirthichaftliher Hinjicht aber ift diefe Periode für Finland 
fajt die unglüdlichite gewejen. Während fortgeiegter künſtlicher 
Lähmung jeines Dandels und Gewerbes wird das Land durd) 
eine lange Reihe von Mißwachs- und Hungerjahren und durd) 
ſchreckliche Feuersbrünſte heimgejucht. 

Bei Karls XII. Regierungsantritt wären Jahrzehnte ſorg— 
fältiger Schonung zur Heilung der Schäden erforderlich geweſen, 
— Statt deijen andauernde Kriegsnoth, wie fie noch nie erlebt 
worden war, — und zwar augenfällig in Kolge gänzlicher Ver: 
nachläſſigung und Preisgebung Finlands durch Schweden... Nad) 
dem großen Siege bei Narwa, den zu voller Hälfte Finländer 
erfämpft hatten, wurde Finland durchaus von Truppen entblößt 
und ihm die Aufitellung einer zweiten Armee auferlegt. Allein 
während des erjten Kriegsjahres (1700) hat das menichenleere 
Land nicht weniger als 20,000 Soldaten geliefert, wovon fein 
volles Drittheil genügt hätte, die heimische Scholle zu vertheidigen. 
Die Aushebung hatte jchon auf die Hauswirthe und Hofbauern 
zurücdgreifen müſſen. Trotz alledem läßt die hartnädige Reichs— 
und Königstreue noch außerdem bejtändig bäuerliche ‘Bartifanenzüge 
ins Werk jegen!... Das durch vierzehnjährige Kriegsnoth voll: 
kommen erjchöpfte Land wird ein drittes Mal zur Beute der 
Rufen, welche hier 1714—1721 unumſchränkt haufen und wüjten 

. aber mitten unter der ruſſiſchen Herrichaft wird der finländijche 


Der Friede zu Nyitadt giebt Finland (außer Wiborg) an 
Schweden zurüd, und es beginnt die von Guſtav Cygnaeus ge: 


4* 


338 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


ichilderte Epoche, während welcher Finland, trotz mander Wider- 
mwärtigfeiten, aus eigener Initiative und Kraft feine wirthichaftliche 
Wiedergeburt angebahnt und bewirkt hat. 


* * 
* 


Mag es auch dahingeſtellt bleiben, ob Livlands oder Finlands 
Leiden an ſich größer und ſchrecklicher geweſen ſind; ſo kann doch 
nicht beſtritten werden, daß Finland ausnahmelos von unver— 
ſchuldetem Mißgeſchicke betroffen worden iſt, und daß es, wiewohl 
des gebührenden Schutzes ermangelnd, doch unausgeſetzt in feſtem 
innerem Zuſammenſchluſſe ſich aufrecht erhalten und mit eigener 
Kraft und Anftrengung fich emporgearbeitet hat; daß gleichzeitig 
dagegen Livland... Es ijt ja ſchmerzlich, den Gegeniag hervor: 
zubeben, aber doch wohl unerläßlich jener Selbitgenügfamfeit gegen 
über, die noch immer fi) rühmt, das Merkmal des Patriotismus 
zu fein, — und melde ja wohl auch narkotiſch fchmerzbetäubend 
wirken mag, jedoch zugleich lähmend — und daher jicherlich nicht 
als heilſam gelten darf. 

Während jeiner „angeltammten Periode“ iſt auch Livland, 
ſowohl vom Neiche, dem es angehörte, als aud) von den hanſeatiſchen 
Genoſſen im Stiche gelaffen worden, am verhängnißvolliten zulegt. 
Aber nicht vornehmlih aus diefem Umitande leitet der Verluſt 
feiner Selbjtändigfeit ih her: im Beſitze unvergleichlid größerer 
materieller Machtmittel würde Livland, wenn es über Finlands 
moraliſche Kraft und Einheitlichfeit geboten hätte, — ohne irgend 
einen Zweifel hätte es ji dann der Horden Joan's IV. jchleuniger 
noch ermwehrt, als Finland es zu thun vermocht hat. Die moraliihe 
Untücdhtigfeit feiner „verruchten Zeit”, fie ift es, die das alte 
Sejammt-Livland zu Fall gebradht hat; und auf fie, auf jene 
moralijche Untüchtigkeit, ift alles nachfolgende Elend zurückzuführen: 
die Nachfommen haben jchwer zu büßen gehabt für die Sünden 
der Vorfahren, — jo lange fie, anitatt von der böſen Erbichaft 
ſich loszufagen, vielmehr zu alter Schuld noch neue Hinzufügten —: 
von Polen durfte das Land mit Füßen getreten werden, — von 
Schweden mußte es jich ausrauben und mißhandeln lafien, u. ſ. w. 
Konnte doch von Abwehr aus innerer Kraft feine Nede fein, wo 
die Bevölkerung durch tief reichende Zerflüftung gelähmt war, 


Die Katierl. Finländ. Oekon. Sozietät. 339 


und der führende Stand immer jchroffer feine Engberzigfeit zur 
Schau trug. Mupten da nicht Zuſtände ſich herausbilden, welche 
zu Finland Gegenläge hervorgerufen haben, wie fie in den An: 
fängen der beiderfeitigen Defonomilchen Sozietäten jo deutlidy zu 
Tage getreten find?! 

Freilich, mit nicht geringem Etolze darf man im Baltifum 
feiner Heimat fi) bewußt fein. Welches andere Land hat in 
der furzen Zeitipanne zweier Menjchenalter jich dermaßen verjüngt? 
Welch anderes hat unter jo jchwierigen Verhältniffen, gänzlich ohne 
jtaatliche Beihilfe, jeine Agrarverhältniffe in jo glüdlider und 
jolider Weiſe geordnet, daß die Krönung des Gebäudes jederzeit 
erfolgen fönnte? Welch anderes Yand der abendländiichen Welt 
hat durch alle Wechjelfälle hindurch jeine Bewohner fo volljtändig 
vor PBauperismus und ihnen jo große Selbjtverwaltungstüdhtigfeit 
bewahrt, und dazu — vergleidhsweile — jo jtrammes Nüdgrat? 

Aber verhängnifvoll wäre der Stolz, wenn er fi nicht 
paarte mit heilfamer Selbjterfenntnig. it etwa jchon erreicht 
worden, was die Zukunft zu fihern vermöcdhte? Darf das Baltikum 
derjelben Zuverficht fich erfreuen, welche Finland belebt? Jit ſchon 
jedes, aus „düjterer” Vorzeit überfommene ſchädliche Unkraut 
gänzlich vertilgt worden? Ad, nod viel blieb zu thun übrig! 
Und die jchlimmen Reſte der Vorzeit — nicht genug fann es betont 
werden — gleich einer Schuld lajten fie nody auf der Gegenwart. 
Ein tiefer Sinn liegt in den Worten: daß von den Nachkommen 
heimgejucht werden joll, was die Voreltern gefehlt haben. Pflicht 
und Schuldigfeit ijt es, Kindern und Kindesfindern die Zukunft 
zu bereiten. So lange dazu nicht Alle gemeinjam zujammen: 
gewirkt haben, jchickt ſich Selbſtgenügſamkeit nicht. 

Ganze Berge von dringenden Aufgaben liegen noch vor 
und harren der Löſung. Wie wenig befriedigend die Zujtände in 
Livland noch find, wird dem blödejten Auge alleın jhon an einem 
Merkmale fenntlih: die Volkszahl iſt in Livland eine höchſt unbe- 
friedigende geblieben; die Klage über Arbeitermangel ijt allgemein; 
der Bevölferungszumvachs iſt beihämend gering (vergl. ©. 36 u. fg. 
des Separatabzuges meiner „Landmwirthichaft Finlands“ in „Balt. 
Wochenſchrift“ 1897) und, gerade wie in Finland vor 150 Jahren, 
ift er gering geblieben zufolge jtarfer Auswanderung. Allerdings 


340 Die Kaiſerl. Finländ. Dekon. Sozietät. 


wird dieſe ja auch begünſtigt durch Umſtände, an denen nichts 
geändert werden kann: den Leiten und Ehſten werden im Oſten 
lodende Stellungen bereitet; nidt nur als Anjiedler, aud als 
Wirthichaftsbeamte, als Dandwerker, als Hotelportiers u. |. w. 
werden fie mit offenen Armen aufgenommen; aud die Induſtrie 
der heimischen Städte raubt dem flachen Lande zahlreihe Arme. 
Tas allein aber erklärt nicht genügend Livlands Volfsarmuth. 
Genau Ddiejelben Umjtände beeinflulfen ja aud Finlands Volks— 
bewegung; und doch jteigt Finlands Volfszahl mehr als doppelt 
jo ralch als diejenige Livlands (vergl. ebendort ©. 45), obſchon 
bier, zufolge beijerer Naturbedingungen, der natürliche Volks— 
zuwachs ein günjtiger it. Aus Livland findet eben ein jtärlerer 
Abflug der Bevölferung ftatt, als aus Finland, und nad) Yivland 
ift der Nüdjtrom ein geringerer als nad Finland. Wer aus 
Finland zum Erwerben fortgezogen war, Fehrt zumeijt mit jeinen 
Kindern und mit jeinen Erjparnijjien zurüd und widmet jich daheim 
der Landeskultur. Daſſelbe zu thun iſt aber dem auswärts wohl: 
habend gewordenen Yetten und Ehſten verwehrt, und zwar durd) 
einen Reſt aus der „düſteren“ Vorzeit. 


Dan it in Livland übers Ziel binausgeichofien, als man 
zum „Dlarimum‘“:Sejege das „Minimum“ binzufügte; und in dem 
Irrthume ift man bejtärkt worden dadurd), daR in aberwigiger 
Weile die befannten „Schadhbrett:Zandvertheilungen” vorgenommen 
wurden, wo jie durch Ffeinerlei Nachfrage hervorgerufen worden 
waren und das Üntjtehen von Verbrecher-Kolonien begünjtigen 
mußten. Gejunde, weil wirthichaftlich begründete, Nachfrage aber 
nad) fieinen Yandjtellen muß, dank dem „Minimum“-Geſetze, zu 
allermeijt unbefriedigt bleiben; und dieſer unheilvolle Umjtand ift 
jiher eines der wichtigjten, den Bevölkerungszuwachs hindernden, 
Diomente. Anders Chydenius hatte Hecht, indem er jagte: der 
Menſch jei nicht abzuhalten, er verziehe dauernd dorthin, wo es 
ihm leichter wird, eine jelbjtändige Eriftenz ſich zu begründen; 
es locke ihn nicht, dorthin zurücdzufchren, wo ihm jelbjtändige 
Wirthichaft erjchwert oder gar verjagt wird. Der ländliche Arbeiter: 
mangel wird in Livland ganz fiher immer drüdender werden, jo 
lange der Kleine Dann nicht, wie in Finland, wo es ihm beliebt 


Die Kaijerl, Finländ. Oekon. Sozietät. 341 


und wo er dazu Gelegenheit findet, auf eigener Scholle ſich nieder: 
laſſen darf.*) 

Es würde zu weit führen, jollten bier alle die übrigen 
Dinderniffe angedeutet werden, welche in Livland allgemeinem 
Aufſchwunge, und namentlich vapidem Anwachſen der Volkszahl, 
im Wege jtehen, — Hinderniſſe, welche nur durch freudig ſelbſt— 
vertrauende Unternehmungsluft in Volfserziehung, in Sanitätspflege, 
Kulturtechnit und Induſtrie bejeitigt werden können. 

Wo aber joll das freudig jchaffende Selbitvertrauen her: 
fommen, jo lange die Bevölferung noch immer jo wenig Neigung 
zeigt, fich zu einem VBolfsganzen zu verichmelzen? jo lange in ihren 
breiten Schichten noch nicht die Erfenntniß zu allgemeiner Klarheit 
aufgegangen ift, daß fie jeit Dezennien von verblendeten Schwärmern 
und ehrgeizigen Streben ſich hat mißleiten lajjen, und fo lange 
diefen noch heute möglich wird, Erzeſſe der Verhegung in Szene 
zu jeßen? 


*) Den Verkretern und Berfechtern des livländiſchen „Minimum“-Geſeges 
mögen zur Belchrung und Beherzigung die folgenden Betrachtungen und Angaben 
Moritz Nobbe's empfohlen werden, die er in „Preufiiche Jahrbücher“ NUIL 
(1898) ©. 233 und fg. gegeben bat, bei Beiprehung der inhaltreihen agrar: 
politiihen Schrift: „Die Siedelungsgenojfenichaft. Verſuch einer pofitiven Ueber: 
windung des Kommunismus durch Löſung des Genofjenichafisproblems in der 
Agrarfrage* von Franz Oppenheimer. 

Hiernach unterjcheiden ſich die öfllichen und weitlidien Provinzen Preußens 
wejentlid von einander durch die Geſchichte und Entwidelung ihrer agraren 
Zuſtände. Die oftdeuticen Befigverhältniffe (wie bis vor wenigen Dezennien 
auch die livländiichen es waren) jind das Schlußergebniß einer friegeriichen 
Kolonijation, der Deutſchland ... den Befig des Yandes jelbit zu verdanken hat. 
Bon den geldbedürftigeu Asfaniern erfauften die Nitter das Yehnsrecht über die 
Bauerdörfer, und dieſes urjprünglich jtaatlid) gedachte Grundreht nahm nad) 
und nad) den Charalier des Privateigenihums an; ja im 15. Jahrhundert ent: 
widelte ji) mehr und mehr die Lehre: die Nitter beſäßen das Bodenregal, und 
hieraus leitete ſich (mie auch in Yivland bis zu Anfang diejes Jahrhunderts) 
das „Legungsrecht” ab. Run wird die Großgrundwirthichaft fapitalijtiih, ver: 
fhuldet ... die Auswanderung jteigert jid) immer mehr und mehr ... Arbeiter: 
mangel ftellt jid) ein ... Im Dezennium 19881— 1890 jind aus den Dftprovinzen 
Preußens nicht weniger als 521,130 Perjonen ausgewandert, während aus den 
agrarifh glüclicher jitwirten und jtärfer bevölferten Wejtprovinzen gleichzeitig 
nur 69,365 Berfonen auswanderten.... Das Endrejultat ift, dab die preußiichen 
Ditprovingen vor einem agraren Elende jtchen, zu deſſen Abwendung jie vom 
Staate unerjhwingliche Opfer auf Kojten der übrigen Bevölferung mehr oder 


342 Die Kaiſerl. Finländ. Oekon. Soyietät. 


Den wahren und erleuchteten Volksfreunden liegt es ob, die 
Heer kalt zu jtellen, und der Ueberzeugung Herrſchaft zu ver: 
ſchaffen, daß Schon jeit Jahrzehnten in Livland eine neue Wera 
eingeleitet worden ift: eine Wera des Yandfriedens; daß ſchon feit 
Sahrzehnten geſchehen it, was überhaupt eine Seltenheit, in 
Livland aber bis dahin unerhört gewejen war: die Nachkommen 
ber Sieger haben ungejtört bejejlene Vorrechte freiwillig dem 
Gemeinwohle zum Opfer gebradt; freiwillig haben fie die Hand 
an die Wurzel gelegt, das alte Agrarſyſtem mit Stumpf und 
Stiel auszurotten; freiwillig haben fie auf das ausschließliche 
Ritterguts Beſitzrecht verzichtet u. |. w. 

Und wenn dennody heute noch Erbichuld verhängnißvoll ſich 
geltend macht; wenn nod) heute Echranfen trennenden Mißtrauens 
ltehen geblieben find; jo haben nun vorzugsweile diejenigen an 
die Brujt zu Schlagen, welden es, zufolge Zauheit und Halbheit, 
noch nicht gelungen ift, in den Herzen ihrer Volksgenoſſen, in 


weniger tumultuariich verlangen. Der Großgrundbejit hat ſich jelbit eine Lohn: 
konkurrenz geichaffen, die ihn heule erwürgt, er fieht ſich durch den von den 
Vätern verſchuldelen Arbeitermangel gezwungen, jtatt zu höheren Intenfitätsitufen 
aufzuiteigen, auf niedere zurüdzufinfen. Die Entvölferung aber des platten 
Landes bewirkt den Ruin der kleineren und mittleren Städie, und verjchuldet 
durd; die lebervölferung der Großjtädte die Stodungen und Kriſen der Induſtrie, 
und damit zugleich das Elend der arbeitenden Klaſſen. 

Das „Legungsrecht“ hat Livland glücklicher Weile theoretiſch ſchon ſeit 
Beginn dieſes Jahrhunderts aufgegeben, und ſeit einigen Dezennien ſeine Aus— 
übung auch prafiijch (durch den „rothen Strich“ und durch das „Marimum“: 
Geſetz) ſich verfagt. Durch das gleichzeilige „Minimum“-Geſetz aber ift dabei 
nicht nur mißverſtändlich übers Ziel hinausgeſchoſſen, jondern auch, vermeintlid) 
zu Gunften der „Gejindes": Inhaber, ein Zujtand geichaffen worden, der, ganz 
analog wie in Ojtdeutichland das „Xegungsrecht,“ dem fleinen Mann den Boden: 
bejig verfagt, ihn gleichſam heimathlos macht und geneigt zur Auswanderung. 

Dieje, die Auswanderung, wird auch keineswegs durch die Agitationen, 
welche den „Warmland":Schmwindel, den „Sſamara“-Schwindel u. j. w. hervor 
gebracht haben, in Yivlaud verurjacht, nur veranlaßt. Warum ijt in Finland 
auch nicht einmal verſucht worden, jolde Agitationen und Scwindeleien zu 
injzeniren? Offenbar doch weil es bekannt iſt, daß in ‚Finland der Meine Mann 
zu ſeßhaft ift, als dal er für ſolche Schwindeleien und Agitationen zu haben 
wäre. Und warum ijt der fleine Wann in Finland jehhaft? Weil er aud 
tleine Erjparnifje in Landbeſitz eventuell anlegen und dieſen gelegentlich ver: 
größern und arrondiren kann; weil ihm die Erlangung von Grundbejig durch 
fein „Minimum“-Geſetz erſchwert oder unmöglich gemacht wird. 


Die Kaiferl. Finländ. Dekon. Sozietät. 343 


den Nachlommen der vormals Befiegten, die gleiche Liebe zur 
gemeinjamen Heimath zu weden und den ererbten wilden Troß 
zu breden. 

Ein Schönes tröftendes Wort verheißt vollen Lohn auch denen, 
bie erjt in zwölfter Stunde kommen. Um 150 Jahre ipäter als 
in Finland hat in Livland rüftige Arbeit zu ökonomiſcher Wieder: 
geburt begonnen; wird dieje Arbeit durch freudig einhelliges Zu- 
jammenwirfen Aller gefördert, fo fann fie noch — troß alledem — 
gleich herrliche Früchte tragen wie dort. 


(‚Aoasoseno ueraypow. Upper», 10. Okraöpa 1898. N 1340.) 








Corrigenda. 


S. 299, 3. 16 v. u. lies: L. St. ftatt Lire. 

„30, u Lu u u Hellmann jtatt Felmann. 
„30, „ Tann Kapitel jtatt Kapiteln. 
„313, „ 16 u. 0 m neuere jtatt neue. 

„315, » Po nn Momarhin jtatt Monardjie. 
„38 „ Duo m Find Itatt iſt. 





Litteräriſche Streiflichter. 


Prinz Kraft zu Hohenlohe Ingelfingen, Aus meinem Leben. — Paul 

Rohrbach, Durch Turan und Armenien. — Germanieus, Bebel im Lichte 

der Bibel. — Joſeph Müller, Philoſophie des Schönen in Natur und Kunſt. 

— Heinrih von Stein, Vorlejungen über Neitherit. — ©. Körting, Gedichte 
des Iheaterd. — D. Verbed, Einiam (Noman). 


Es war früher eine oft vernommene Klage, daß, während 
Frankreich und England reich feien an Vlemoiren aller Art, in 
Deutichland der empfindlichite Mangel auf diefem für die Geſchichte 


344 Litteräriſche Streiflichter. 


der Vergangenheit und der Gegenwart jo wichtigen Litteratur: 
gebiete berrihe. Das bat ſich feit einem Menſchenalter völlig 
verändert. Nicht nur Schriftiteller und Dichter, Geiftlihe und 
Parlamentarier, aud Staatsmänner und hohe Militärs haben über 
ihre Thätigfeit und ihre Erlebnifje mehr oder weniger umfang: 
reiche Aufzeichnungen verfaßt und entweder jelbjt der Derfentlichkeit 
übergeben oder zur Veröffentlihung durd ihre Angehörigen hinter: 
lajjen; jelbjt von dem größten aller Zeitgenoſſen jtehen ja in 
nächſter Friſt Denfwürdigfeiten feines Lebens in Ausſicht, denen 
alle Welt mit Spannung entgegenharrt. Wo hervorragende Männer 
jelbit feine Memoiren über ihr Leben geichrieben haben, da find 
aus den Briefen und Papieren ihres Nachlaſſes ihre Erlebnijje 
von naheftehender Seite dargejtellt worden, wie 3. B. in den vor: 
trefflihen Denfwürdigfeiten des Feldmarjchalls Albrecht von Roon. 
So treten jeßt jedes Jahr mehr oder weniger wichtige Diemoiren- 
werfe ans Licht und an Stelle des früheren Mangels herricht 
jetzt faſt Ueberfülle. Zu den hervorragenditen Erjcheinungen auf 
diefem Gebiet find ohne Frage die Aufzeichnungen des Prinzen 
Kraft zu Dohenlohe:Ingelfingen. Aus meinem Leben, 
von denen zunächſt der erjte, von 1848-—1856 reichende Band *) 
vorliegt, zu rechnen. Prinz Kraft zu Dohenlohe war General der 
Artillerie und ift durch die von ihm geleitete Beſchießung von 
Baris 1871 allgemein befannt geworden. Obgleih Militär mit 
Leib und Seele nahm er, nody im rüftigjten Mannesalter ftehend, 
1879 jeinen Abſchied, weil ein jüngerer General als er zum 
Seneralinipeftor der Artillerie ernannt worden war, und lebte 
jeitdem zurücdgezogen meijt in Dresden, wo er 1892 gejtorben ift. 
Die hier veröffentlichten Memoiren hat der Prinz in den Jahren 
1581— 1853 niedergelchrieben. Als militärischer Schriftfteller hat 
er nicht wenige, von Fachmännern hochgeſchätzte Schriften ver: 
öffentlicht, er galt als Autorität auf dem Gebiete des Artillerie: 
wejens. Der Herausgeber der Memoiren, der General A. von 
Teihman, darakterifirt den Prinzen Kraft als einen Dann ohne 
Denichenfurdt, der rüdhaltlos jeine Meinung ausſprach, als einen 
unbeugjamen Charafter, der jtets nad) den höchiten Zielen jtrebte. 
Die Vlemoiren bejtätigen dieſes Urtheil vollfommen und zeigen 


*) Berlin, Ernft Siegfried Mittler & Sohn. EM. 


Litteräriiche Streiflühter. 34 


außerdem, daß Hohenlohe ein fein gebildeter Mann, ein jcharfer 
Beobachter und tiefer Menjchenfenner war. Seine Jugend und 
jeine verwidelten NJamilienverhältniffe berührt Prinz Hohenlohe 
nur kurz, die ausführlide Erzählung beginnt mit der März 
Nevolution von 1848 in Berlin, wo der Prinz jeit 1845 als 
Lieutenant der Sardeartillerie fich befand. Schon über die Gährung 
in Breußen während des Jahres 1847 berichtet der Prinz mancherlei 
jehr Bezeichnendes. Den 18. März und die folgenden Tage, Die 
er als Mithandelnder, wenn auch in untergeordneter Stellung, 
durchlebt hat, Schildert er eingehend und anſchaulich; mit drama: 
tiiher Lebendigkeit jehen wir die für das preußiiche Konigthum 
jo traurigen Ereignifje jener Tage an uns vorüberziehen. Des 
Prinzen Erzählung gewährt dem Leſer einen tiefen Einblick in die 
verzweifelte Stimmung der unbegreiflicher Weile durch Befehl des 
Königs zum Verlaſſen der Stadt genöthigten Truppen, da fie eben 
überall fiegreih den Aufſtand niedergeichlagen; die Macht der 
Disziplin hat jich vielleicht nie jo glänzend als hier bei den vom 
Pöbel beichimpften und verhöhnten Offizieren und Soldaten bewährt. 
Der Prinz von Preußen war in Dielen dunklen Tagen, da der 
König Sich felbjt aufgab, der Hort und Trojt der Armee, wofür 
in dieſen Aufzeichnungen charafteriftiiche Zeugniſſe mitgetheilt 
werden. Auch über den Wiedereinzug der Truppen unter Wrangel 
im November 1848 finden fich bier interefjante Details. Obgleich 
einer der ältejten und vornehmjten Familien Deutichlands angehörend 
verfügte Prinz Hohenlohe nur über bejchräntte Mittel und lebte 
jehr einfach. Weber das Xeben der Offiziere und die inneren 
Zujtände der Armee erfahren wir viel Lehrreiches, auch manche 
ihr damals anhaftenden Echattenjeiten und Mängel werden nicht 
verjchwiegen; viele charakteriftiiche Figuren unter den höheren 
Offizieren jener Zeit werden uns vorgeführt. Es iſt bezeidhnend 
für den in der preußiichen Armee herrſchenden Geiſt, daß dem 
Prinzen feine hohe Abkunft durchaus nicht zu raſcherem Avancement 
half, daß er von jeinen Vorgejegten ſogar mancherlei Zurüciegung 
und Ungerechtigfeit zu erfahren hatte. Zu feiner weiteren Aus— 
bildung bejuchte er die Kriegsichule, von deren Chef und Lehrern 
er wieder jehr unichauliche Charaiterbilder zeichnet; angenchm 
berührt die danfbare Sefinnung, mit der er mehrerer jeiner Xehrer 
gedenkt. Sehr viele Perſonen ziehen in diefen Aufzeihnungen an 


346 Litterärifche Streiflichter. 


dem Lejer vorüber, furz und flüchtig ericheint auch Bismard. 
1854 wurde Prinz Hohenlohe als Berichterjtatter über die wirklichen 
Verhältnifie der öfterreichiichen Armee nad Wien abfommandirt 
ohne eine bejtimmte Inſtruktion zu erhalten. Sehr interejjant 
find nun die Mittheilungen des Prinzen über die Wiener 
BZuftände, die wahre Beichaffenheit des öfterreichiihen Heeres, 
das jeinem glänzendem Rufe keineswegs entſprach, ergößlic) 
und lehrreich zugleid die Darftellung, wie er ſich auf ſchlaue 
und gewandte Weile alle erforderliden Auskünfte zu ver: 
Ihaffen wußte, obgleih ihm von Seiten der Heeresleitung jede 
Diittheilung verweigert wurde. Hohenlohe erkannte, daß ſchon 
damals Preußen den Kampf mit Defterreich zuverfichtlich hätte 
aufnehmen können, er durchſchaute die feindjelige und perfide Ge— 
finnung der öjterreichiichen Heerführer gegen Preußen. Nur 
Benedek machte eine Ausnahme, er war ein ehrlicher, aufrichtiger 
Charafter und hielt einen Krieg zwiſchen Oeſterreich und Preußen 
für das größte Unglüd; ein herbes Verhängniß hat gerade ihn 
jpäter zum unglüdliden Führer in ſolchem Kampfe an die Spike 
gejtellt. In Italien lernte Hohenlohe auch den damals ſchon 
altersihwachen Nadepfi kennen und gewann einen Elaren Einblid 
in die Haltung der Bevölkerung Oberitaliens Oeſterreich gegenüber. 
Das Rejultat aller feiner Beobadhtungen und Wahrnehmungen war 
die Heberzeugung, dab Preußen nicht eher von den Dejterreichern 
für voll und gleichberechtigt angejehen werden würde als bis „wir 
ihnen einmal die Jade vollgehauen hätten.” 1856 wurde Hohen: 
lohe zum Flügeladjutanten des Königs ernannt und verließ darauf 
Wien. Damit jchlieht diefer erjte Band. Des Prinzen harflichtiger 
Beobadhtung entgeht nicht leicht eine Schwädhe der Menſchen, er 
ift ein vortreffliher Erzähler, die Daritellung jtets einfah und 
lebendig. Kleine Jrrthümer und Gedächtnißfehler verringern den 
Werth des Buches nicht, das eine wahre Bereicherung der Diemoiren- 
litteratur iſt und eine ebenjo anziehende wie belehrende Lektüre 
gewährt. Ein Bild des Prinzen und eine LXebensjfizze deſſelben 
vom Herausgeber, die nur zu ftreng militärisch gehalten ift, find 
den Aufzeichnungen vorangejtellt. Mit lebhafter Erwartung jehen 
wir dem zweiten Bande diejer Denkwürdigfeiten entgegen. 

In mweitentlegene, von Europäern nur jelten bejuchte Ge: 
genden Afiens, die aber gerade gegenwärtig vielfach die allgemeine 


Litteräriſche Streiflichter. 347 


Aufmerkſamkeit auf fih lenfen, führt uns das Bud von Paul 
Nohrbad, Durdh Turan und Armenien auf den Pfaden ruf: 
fiicher Weltpolitik; *) die darin enthaltenen Reiſeſchilderungen find 
Ihon früher in den preußiſchen Jahrbüchern erichienen, werden 
bier aber in umgearbeiteter Form dargeboten. Die Abſicht und 
das Ziel feiner Reife bezeichnet der Verfaſſer im Titel des Buches 
deutlich; der Kaukaſus, Samarkand, Merw und auf der Rüdfahrt 
Etſchmiadſin find die Hauptpunfte feiner Darftellung. Rohrbach 
giebt theils Neifeeindrüde und landichaftlihe Echilderungen, theils 
politiihe Beobachtungen und Wahrnehmungen; er erfennt die 
hohe Kulturmilfion Rußlands in Mittelafien volllommen an und 
legt eingehend die große gelicherte Machtitellung Nußlands in 
Turan dar. Dabei führt er aus, daß die ruffiiche Regierung und 
ihre Vertreter es viel beifer als die Engländer verftehen die Orien- 
talen zu behandeln und daß daher jene, meiſt Mohammedaner, bei 
den gegenwärtigen freundlichen Beziehungen Rußlands zum Padiſchah 
und Khalifen ſich die ruſſiſche Herrfchaft, die ihnen Ordnung und 
Sicherheit gebracht, willig gefallen laſſen. Der Verfaſſer fieht die Dinge 
doch wohl etwas zu optimijtiich an; daß unter den Mohammedanern 
auch in Turan nocd immer der alte Hal; gegen die Chrijten im 
Verborgenen glimmt und es nur der Aufreizung durch Fanatifer 
bedarf, um große Unruhen hervorzurufen, hat noch jünaft die Er: 
fahrung gelehrt. Andrerjeits ericheint ihm Englands Anſehen und 
Machtſtellung in Mittelafien doch wohl gar zu jehr zurüdgedrängt. 
Allerdings hat die englische Bolitif durch ihr jtetes Zurücweichen 
vor Rußland und ihre jchwanfende ſchwächliche Haltung viel von 
ihrem Preſtige im Drient verloren, aber Englund gebietet immer 
noch über überreiche Hilfsmittel und wenn es einmal zum Ent: 
icheidungsfampf um den Beſitz Indiens kommt, wird England 
alle jeine Kraft und Macht aufbieten und der Sieg wird fein 
leichter fein. Man darf nicht vergeilen, daß des Verfaſſers 
Aufenthalt in den von ihm geichilderten Gegenden ein zu furzer 
war, um die Verhältniffe genau fennen zu lernen und daß er, 
was als ein nicht geringer Uebelſtand anzufehen it, die Sprache der 
Devölferung der von ihm befuchten Gegenden nicht verftand. Bes 
fondere Abenteuer hat Rohrbach auf feiner Reiſe nicht erlebt und 


*) Berlin, Verlag von Georg Stille. 3 M. 


348 Litterärifche Streiflichter. 


manches rein Perſönliche, das er mittheilt, hätte ohne Schaden 
wegbleiben können. Nufgefallen ift uns feine Bewunderung des 
furchtbaren Menfchenichlächters Timur oder Tamerlan, dieſes echt 
orientalifchen Deipoten. Uebrigens find Rohrbachs Schilderungen 
recht anſchanlich, ſo namentlich was er von Samarfand und Merm 
berichtet. Intereſſanter noch als der erfte ift der zweite Theil 
des Buches, der des Verfaſſers Aufenthalt in Armenien, namentlich 
in Etichmiadfin beim SKatholifos der Armenier jchildert; befonders 
der Nbichnitt über das armenische Wolf und feine Kirche ift ſehr 
leſenswerth. Rohrbach beurtheilt die Armenier viel günjtiger als 
es allgemein geichieht, er erklärt ihre ſchlechten Eigenichaften nicht 
mit Unrecht aus ihrer jahrhundertelangen Unterdrückung und 
Nechtlofigkeit und bemerft, daß die Armenier in ihrer Heimath 
ganz weſentlich fich von ihren in der fremde lebenden Yandsleuten 
unterfcheiden; während diefe nur Handel und Geldgeichäfte treiben, 
find jene ein echtes und rechtes Bauernvolk. Die armenilche 
Kirche iſt durchaus Nationallirdhe, ihr verdanfen die Armenier, 
deren Zahl ſich geaenmärtia auf drei Viillionen beläuft, die Er: 
haltung ihrer Volkseinheit, wie der Verfaſſer belehrend ausführt. 
Mit vollem Rechte rügt Rohrbach nachdrücklich die Gleichgültigkeit 
des chriftlichen Europa geaen die entieglichen Gräuel im türfischen 
Armenien, gegen die ſcheußlichen Mißhandlungen von Taufenden von 
hriftlihen Männern und rauen; er berichtet von dem Schmerz 
und der Klage der Armenier über diefes ſchmähliche Verhalten der 
abendländiichen Chriiten. Rohrbach führt dann einleuchtend aus, 
warum Rußland aus Gründen der höhern Politif den Armeniern 
nicht hilft und nicht helfen kann; allerdings Icheint ‚er uns hier 
wie an manchen andern Stellen des Buches etwas gar zu ſicher 
und jelbitgewiß in der Darlegung der verichlungenen Fäden der 
höhern Bolitif zu fein. Im Übrigen finden fih in Rohrbachs 
Nude viele gute Beobachtungen und treffende Urtheile. ine 
beigefünte Karte des ruſſiſchen Gebiets zwiſchen dem Schwarzen 
Meer und dem Pamir dient in zweckmäßiger Weiſe zur Erläuterung 
der Neifeichilderungen. Rohrbachs Mar und einfach aejchriebenes 
Buch gewährt eine empfehlenswerthe Lektüre. 

Die ſoziale Frage ſteht in Deutschland im Mittelpunft aller 
Intereſſen. ft auch die durch Naumann hervorgerufene national: 
jojiale Bewegung zum Stillitand gefommen, ift aud) die von ihm 


Litterärifche Streiflichter. 349 


der Sozialdemokratie weit entgegengeftredte Hand von diefer Schroff 
zurüdigewiejen worden, die bei den Anhängern jeiner Richtung 
herrichende Neigung das Berechtigte in den Forderungen und 
Anſchauungen der Sozialdemokratie hervorzuheben und anzuerfennen, 
beiteht noch immer fort. Aus diefer Anſchauung it auch ein eigen: 
artiges Buch hervorgegangen, deilen anonymer Verfailer zwar fein 
Anhänger Naumanns tft, fich aber doch wohlmwollend zu ihm verhält, 
wir meinen die Schrift: Bebel im Lichte der Bibel. Der 
Sozialismus und die Frau in Vergangenheit, Gegenwart und 
Zufunft von Germanicus.*) Der erjte, zumächit vorliegende Theil 
behandelt den Sozialismus überhaupt nad) feiner wirthichaftlichen 
und politilchen Seite, der zweite wird dann wohl die Stellung des 
Sozialismus zur Frau erörtern. Der Verfailer ijt ein überzeugter 
Ehrijt und ein Mann von echt fonfervativer Gefinnung, trogdem 
geht er in feinem Bejtreben das Berechtigte im Sozialismus 
anzuerfennen, jehr weit; er it ein Bemwunderer und Verehrer 
Bismards, troßdem ift er mit deilen Haltung in den fozialen 
Fragen vielfach nicht einverjtanden umd ein entjchiedener Gegner 
aller Ausnahmegeſetze; er Steht feit auf dem Boden der Bibel 
und findet doch in Bebels höchſt unchriftlichem, frivolem Buche 
„der Sozialisnus und die Frau” viel fittlichen Ernſt, väumt ihm 
überhaupt eine viel zu große Bedeutung ein. Dieje Gegenſätze, 
ja Widerjprühe in den Anjchauungen des Verfaſſers finden darin 
ihre Erklärung, daß nad) jeiner Neberzeugung die Bibel durch und 
durch ſozial ift und im Chrijtenthum alle fozialen Forderungen ver: 
wirflicht werden. Die Ehrlichfeit und Aufrichtigfeit, der religiöfe 
und fittlidhe Ernjt, die echt patriotische und monarchiſche Sefinnung 
des Verfaljers berühren jehr angenehm und der wahrhaft deutiche 
ideale Geijt, der in dem Buche weht und in vielen Bemerkungen 
und Ausführungen hervortritt, macht einen erfreulichen Eindrud. 
Doch erregen viele Stellen der Schrift lebhaftes Kopfihütteln 
und wir glauben, daß der Verfaſſer weder bei den Sozialdemo- 
fraten noch bei den Sapitaliften und Negierungsmännern Anklang 
finden wird. Er behandelt Bebels unbewiejene und willfürlich 
aufgeitellte Süße oft als ausgemadte Wahrheiten und fommt 
dadurch nicht jelten zu bedenklichen, jehr anfechtbaren Konjequenzen. 


*) Yeipzig, A. Deichertiche Berlagsbuchhandlung Nachfolger. 2 M. 60. Pf. 


350 Litterärifche Streiflichter. 


Uud doch hat der Verfalfer ein klares Bewußtſein von dem Grund: 
unterichiede zwiichen feinem und dem fjozialdemofratiichen Stand: 
punft, denn er jagt: was uns trennt it, daß die Sozialiften 
religiös Atheiften, ethisch Nihiliften, wirthichaftlih Hommuniften, 
politifch Nepublifaner find. Das hindert ihn aber nidt in dem 
Soztalismus die größte chriftliche Revolution des 19. Jahrhunderts 
zu erbliden, mobei er allerdings in der Sozialdemokratie die Ber: 
zerrung chrijtlicher Gedanken findet. Sermanicus Grundüberzeugung 
faßt fih in dem Satz zufammen: Wer Chrift ift, ift fozial, ein 
jedenfalls ſehr anfehtbarer Ausſpruch, denn ficherlich wird er Dod) 
nicht allen Chriften, die nicht feinen Standpunft theilen, das 
Chriſtenthum abiprechen wollen. Der Verfaſſer richtet viele ernite, 
beherzigenswerthe Mahnungen an die Befigenden und Negierenden, 
er hebt mit Necht hervor, daß das Bewußtſein der Verantwortlichkeit 
gegen Gott und Dienichen in den höhern Kreilen des Volfes ge: 
ſchwunden jei und bemerkt ſehr wahr: in refigiöfer Beziehung 
denken die höhern Stände nicht viel anders als die Gozialdemo: 
fraten. Wir find mit feiner Ausführung nach diejer Eeite, feinen 
Marnungen und Klagen ganz einverftanden, aber warum richtet 
er fie nur an die Befigenden? Warum wendet er fich nicht ebenfo 
entjchieden gegen die Sozialdemokraten, die der nachdrüdlichen 
Mahnungen und des ftrengen Tadels doch wahrlich) nicht weniger 
bedürfen? Das it eine große Einfeitigfeit, deren ſich die meijten 
chriftlichen Sosialiften gegenwärtig ſchuldig machen. Der Verfaſſer 
geht in der Anerfennung der Wünfche und Forderungen der Sozial 
demofraten viel zu weit, er beruft fich dabei ftets auf die Bibel, 
vergißt aber, dab die heilige Schrift ebenſowenig ein Lehrbuch 
der Sozialmiljenichaft wie der Naturkunde ift, jondern Gottes 
Offenbarung darüber entyält, was dem Menschen zu feiner Bes 
fehrung und Seligfeit notthut. Bei allem, was wir ablehnen und 
dem wir mwiderjprechen müjlen, folgt man dem Berfafler doch mit 
Theilnahme und Intereſſe; er iſt ein Idealiſt und Optimift, aber 
ein Dann voll echter Menſchen- und Nädjitenliebe, der herzliches 
Erbarmen mit den Armen und Elenden fühlt. Germanicus läßt 
nur die harte Wirflichfeit zu oft aus den Augen und vergißt, daß 
in diefer Welt der Sünde feine vollftommene Organifation ber 
Sejellichaft, feine befriedigende Ausgleihung zwiſchen den Reichen 
und Armen möglich ift. Nur wenn der Geijt des ChrijtentHums 


Litterärifche Streiflichter. 351 


wieder in den Bölfern lebendig werden wird, ift wahre und ge 
deihliche Ummandlung dev ſozialen Verhältniffe zu erhoffen. Des 
Verfaſſers Darjtellung it feine fireng folgerichtig ſich entwidelnde, 
ſondern mehr aphoriftiich, oft vom Thema abjchweifend; er jtellt 
feine Gedanfen mehr hin, als daß er fie beweiſt, ijt mehr anregend 
als erichöpfend. Aber das Buch enthält viele treffliche Aus: 
führungen, tiefe echt chriftlihe Gedanken und zeugt von den 
mannigfachen Kenntniſſen des Verfaſſers; es iſt durchaus lejens- 
werth, aber mit aufmerfjamer fritifcher Prüfung. 

Wieviel iſt nicht Schon über das Schöne in Natur und 
Kunft geichrieben worden, wie viel Verjuche find nicht Schon gemacht 
worden, das Weſen der Schönheit zu ergründen und zu erklären! 
Feder fühlt, was ſchön ift, und doc ift es jo ſchwer das Gefühlte 
in Worte zu fallen. Die Aeſthetik ift befonders in Deutjchland 
während der Epoche der großen Denkſyſteme als ein wichtiger Theil 
der Vhilofophie ausgebildet und entwidelt worden. Ter legte und 
größte Vertreter der Spefulativ:philojophiichen Behandlung der 
Aeſthetik war Friedrich Viſcher; die ftreng ſcholaſtiſche Form feiner 
Lehrjäge hat den ganzen in feinem groben Werfe aufgehäuften 
Reichthum von feinen und geiftreichen Beobachtungen und trefflichen 
Ausführungen, die ganze Gedanfenfülle des Autors nicht völlig 
zur Geltung fommen laſſen. Seitdem find mannigfache Verſuche 
gemacht worden der Aeſthetik eine völlig neue Grundlage zu geben, 
man hat fie von rein empiriihem Standpunft aus behandelt, fie 
induftiv nach naturwiffenichaftlicher Diethode zu begründen unter: 
nommen; es find dabei die ſeltſamſten Rejultate herausgefommen, 
wahre Karikaturen deſſen, was man früher unter Nefthetit begriff. 
Heute liegt uns ein neuer Verſuch einer Aefthetif vor, der ſich von 
den Abjtraftionen der alten fpefulativen Aeſthetik ebenjo fern hält 
wie von den Verirrungen der eraftempirifchen Methode: Joſeph 
Müllers Philoſophie des Schönen in Natur und Kunft.*) 
Der Verfaſſer hat fi) ſchon durch ein umfallendes Werf über 
Jean Baul als ein verftändnikvoller Berwunderer und Verehrer 
des großen Humoriften und als Kenner der Poeſie erwiejen. Sein 
neues Buch wendet fi an alle Gebildeten, alle abjtraften willen: 
Ichaftlihen Schulausdrüde find darin vermieden, die Norm der 


*) Mainz, Franz Kirchheim. 5 M. 


or 


352 Litteräriſche Streiflichter. 


Daritellung iſt Mar und allgemein verftändlihd. Wenn Müller 
auch mehr auf empiriichem als Ipefulativem Boden jteht, wenn 
feine Nejthetif auch mehr der formalen Richtung ſich anichließt — 
das Schöne iſt Form — jo iſt feine Auffaſſung des Schönen doch 
auch eine idealiltiihe, die Kunſt macht das Göttliche fichtbar. 
Auf eine Kritif von Müllers Grundanihauung müllen wir bier 
natürlich verzichten, jeine Stärfe liegt auch nicht fo jehr in dem 
ſyſtematiſchen Aufbau und der ftrengen Durchführung eines einheit- 
lihen Prinzips als in der Behandlung und Beleuchtung der ein- 
zelnen Erſcheinungsfformen des Schönen in Natur und Kunſt. 
Wir wollen daher einzelne Abjchnitte hervorheben, die uns bejonders 
gelungen ericheinen oder gegen die wir Einwendungen zu machen 
haben. Eigenthümlih find gleih Müllers Ausführungen über die 
KRunftfehler in den Grundprinzipien d. h. Fehler gegen die Wahrheit 
und gegen die Bildhaftigfeit; fie enthalten Fehr viel Richtiges und 
Treffendes. Sehr beachtenswerth it ferner der Abſchnitt: das 
Schöne und das Gute, worin der Verfaller an vielen Beiipielen 
zeigt, wie wenig Einfluß die Kunſt auf die fittliche Veredelung der 
Menichen ausgeübt hat und ausübt. Die Darlegungen Müllers 
find wohlbegründet, aber etwas zu peilimiftiich jcheint er uns doch 
von dem Einfluß der Kunſt zu urtheilen, man denke nur an das, 
was die Griechen von der Wirfung, melde der olympilche Zeus 
des Phidias auf den Beichauer ausübte, berichten, an die Kriegs: 
lieder der Schweizer und an den Einfluß von Schillers Tramen 
auf die deutiche Tugend. Sehr gut ftellt Müller das Schöne 
in Natur und Kunft in feiner Eigenart gegenüber und jchließt 
daran eine gedrängte Lleberficht über die Entwidelung des Natur: 
gefühls von der älteften Zeit bis zur Gegenwart; er beflagt 
dabei das Fehlen des echten und tiefen Sinnes für die Natur 
in der jeigen Zeit, in der, wie alles, jo aud der Natur: 
genuß als Sport betrieben werde. In dem Abjchnitt über das 
MWunderbare jchränft der Verfaſſer die Rechte der Phantafie etwas 
zu jehr ein und verwirft daher vieles in der romantiichen Poefie, 
was uns durchaus ftatthaft erjcheint; er vergikt hier wie an 
manchen anderen Stellen jeines Buches, daß die Nefthetif der 
Kunft nicht die Gefege zu geben jondern fie vielmehr aus den 
Schöpfungen der großen Dichter und Künitler zu entnehmen und darzu— 
legen hat. Anziehend und lehrreich ijt weiter das Kapitel über 


Litterärifche Streiflichter. 358 


das Komische, das Lächerliche, den Wit, worin ragen erörtert 
werden, die zu den jchwierigiten der Aeſthetik gehören. Weniger 
befriedigt haben uns Müllers Auseinanderjegungen über den 
Humor, in denen er die jchon früher von ihm in einer eigenen, 
von uns feiner Zeit angezeigten Schrift ausgeiprocdhene Anficht 
wiedergiebt. Aus jeiner Behandlung der verfchiedenen Dichtungs- 
arten jeien des Verfallers treifende Bemerfung über den Noman 
„das verwilderte Epos der Gegenwart“ hervorgehoben. In dem 
Abſchnitt über das Drama befremdet des Verfaſſers lebhafte Ab- 
neigung, beim tragiichen Helden eine fittlihe Schuld anzuerkennen, 
er polemifirt heftig gegen eine folche Annahme. Doc) ift es un- 
zweifelhaft ein bleibendes Verdienſt Degels dieſe tragiihe Schuld 
als Erforderniß der echten Tragödie dargelegt und nachgewiefen 
zu haben. Schon die Alten haben eine ſolche Schuld als noth: 
wendige Rorausjegung für die ethiihe und äjfthetiiche Wirkung 
des Dramas anerkannt; das Leiden und der Untergang eines 
vollfommen unjchuldigen Helden fönnte feine äſthetiſche Befriedigung 
und Erhebung erzeugen, müßte vielmehr peinlich und niederdrüdend 
auf den Zuhörer wirken. Beifpiele aus dem wirflihen Leben 
beweifen dagegen nichts, weil wir da Urſache und Wirfung nicht 
vollig zu überjchauen vermögen und der Tod der Märtyrer wirft 
nicht dramatiih. Es hat uns ſehr gefreut, daß Müller in dem 
Abſchnitt über die Muſik entichieden gegen Danslids längere Zeit 
berrichende Theorie vom mufifaliih Schönen als allein in dem 
MWohllaut des reinen Tones, des bloßen phyſiologiſch wirkenden 
Klanges bejtehend ſich erklärt und ihre ideale Bedeutung anerkennt. 
Seine Definition, die Mufif ſei Ausdrud des ſeeliſchen Lebens ift 
freilich etwas zu allgemein uud nicht begrenzt genug, denn dajjelbe 
fonnte man auch von der Lyrik jagen. 

Müllers Buch enthält viele originelle Gedanfen und Die 
Fülle von angeführten Beilpielen zeugt von der reichen Belejenheit 
des Verfallers. Er jchreibt einfach und natürlid, in der Be: 
fampfung moderner Verfehrtheiten und falicher Theorien ift er 
manchmal etwas derb. Gin außerordentlich reicher Stoff ift bier 
in einer Echrift geringen Umfanges durdhgearbeitet und dargeltellt. 
Daß Müller Ratholif ift, macht ſich nur felten bemerkbar, jedenfalls 
bemeilt jeine Verehrung Göthes und feine Bewunderung Shafe: 


Ipeares und Jean Pauls, daß er fein ultramontaner Fanatifer 
5* 


354 Litterärifche Streiflichter. 


ist. Diefe Philofophie des Schönen verdient von allen Freunden 
des Idealismus in der Kunft gelefen zu werden. 


Einen völlig anderen Charakter als Müllers Buch zeigen die 
Vorleſungen über Nefthetif von Heinrid von Stein;*) fie 
find von zwei Freunden des früh verftorbenen Verfaſſers nach deſſen 
Aufzeihnungen bearbeitet und herausgegeben. 9. von Stein als 
eifriger und begeifterter Anhänger Richard Wagners bekannt, 
hat ſich viel mit Aeſthetik befhäftigt und mehrmals über fie Bor: 
lefungen an der Berliner Univerfität gehalten, die nun hier dar: 
geboten werden. Es ilt fein vollftändig ausgearbeitetes Werf, das 
wir erhalten, jondern zum Theil aphoriftiicdh gehaltene Auseinander: 
jeßungen, die der Verfaffer felbjt gewiß für den Drud ausgeführt 
und erweitert hätte. Aber auch fo wie fie find, bieten diefe Vor: 
lefungen des Anregenden nicht wenig. Etein hält an der Nefthetif 
in ihrem urfpünglihem Sinne als Lehre vom Gefühl feit und 
entwicelt daraus ihren Inhalt und ihre Aufgabe. Der fürzere 
ſyſtematiſche Theil behandelt zunächit die elementaren Grundbegriffe, 
dann die äſthetiſchen Vorftellungsfomplere und Worjtellungsgebiete, 
endlich die Kunft jelbit, als deren ſeeliſche Grundthatſache jo mie 
des Schönen überhaupt Stein in eigenartiger Weife die Erhebung, 
die Verföhnung, die Stimmung und die Mittheilung bezeichnet 
und betrachtet. Diejer erfte Theil, vielfah nur Andeutungen 
gebend, enthält doch manche feine Bemerfungen. Von allgemeinerem 
Intereſſe ijt der zweite hiſtoriſche Theil, der eine Geſchichte der 
Aeſthetik und des äjthetiichen Empfindens von der Nenaiffance bis 
auf R. Wagner umfaßt. Stein beginnt mit der NRenaillance, 
weil diefe erjt die Perſönlichkeit entdedt Hat und in ihr das 
bewußte Empfinden des Schönen zuerſt hervortritt. Auch hier ift 
vieles nur angedeutet und aphoriltiich gehalten. Zulegt folgt noch 
ein lurzer Abjchnitt: Anwendungen, in dem die großen Kunſtwerke 
der verichiedenen Zeiten ald Material für eine Geſchichte ausgeführt 
werden. Die Gejchichte der Aeſthetik wird Leſern, denen Die 
großen MWerfe von R. Zimmermann, M. Schasler und 9. Lotze 
zu umfangreich und zu ſchwierig find, viel Belehrendes bieten. 
Einen Theil des hier Nusgeführten hat Stein jchon früher in feinem 
Buche „Die Entjtehung der neuern Aeſthetik“ eingehend behandelt. 


*) Stuttgart, Verlag der J. ©. Cottafchen Buchhandlung Nachfolger. 3 M. 


Litterärifche Streiflichter. 355 


Driginalität und ernſte Gedanfenarbeit wird man Steins Auffaſſung 
und Behandlung der Aeſthetik nicht abiprechen können, doch ift nicht 
zu verfennen, daß er fich vielfad von den Anfichten und Theorien 
N. Wagners beeinflußt zeigt. Diefe Vorlefungen mit ihren 
techniſch wiſſenſchaftlichen Ausdrüden verlangen eine gewiſſe wiſſen— 
ſchaftliche Vorbildung und ernſtes Nachdenken; Leſern, die dazu 
geneigt ſind, werden ſie eine intereſſante Lektüre bieten. 

An Geſchichten des Dramas fehlt es in der deutſchen wie 
in anderen europäiſchen Litteraturen nicht, dagegen exiſtirte eine 
Geſchichte des Theaters in deutſcher Sprache bisher noch nicht; 
R. Prutz's Vorleſungen beziehen ſich nur auf Deutſchland und 
ſind längſt veraltet, Eduard Devrients noch immer ſchätzbare 
Geſchichte der deutſchen Schauſpielkunſt beſchränkt ſich ebenfalls 
auf Deutſchland und behandelt nicht das ganze Theaterweſen. Es 
iſt daher ein neues großes Unternehmen, das Guſtav Koerting 
in ſeinem auf drei Bände angelegten Werke „Geſchichte des 
Theaters in ſeinen Beziehungen zur dramatiſchen Dichtkunſt“ 
begonnen hat; bisher iſt der erjte Band,*) die Geſchichte des 
griechischen und römischen Theaters enthaltend, erjchienen. Koerting's 
Buc beruht auf den neueften Forihungen und Unterjuhungen der 
Archäologen, doch hat er das reiche weitzerjtreute Material jelb- 
ftändig durdharbeitet und bei der Benugung der Vorarbeiten jein 
eigenes Urtheil fih bewahrt. Sehr zu bedauern ijt es, daß der 
Verfaffer das Theater der under, Chinejen und „Japaner von 
feiner Darjtellung ausgejchlofien hat; wenn es auch auf die Ent: 
widelung des Theaters im Abendlande ohne jeden Einfluß geblieben 
iit, jo wäre eine Darftellung des ganz eigenartig gejtalteten Theater: 
wejens diefer Völker der Vergleihung und des Sontrajles wegen 
doch von nicht geringem Intereſſe; vielleicht gewährt ihm Koerting 
noch nachträglich einen fleinen Raum in feinem Werke. Diejer 
erjte Band zerfällt in zwei Theile, der erjte enthält die Geſchichte 
des griechiſchen und römischen Theaters in fortlaufender Darjtellung 
ohne jede gelehrte Anmerkung; der zweite liefert dann in chrono- 
logiihen, lerifaliichen, bibliographiichen Weberfichten und Ber: 
zeichnilfen der Realien den gelehrten Apparat zu der vorhergehenden 
Schilderung. Es liege fid wohl darüber jtreiten, ob der Ver: 


*) Paderborn, Verlag von Ferdinand Schöningh. 9 M. 


356 Litteräriſche Streiflichter. 


faſſer nicht richtiger gehandelt hätte, Einiges aus diefem zweiten 
Theile, namentlich die chronologiſchen Ueberſichten, in den erjten 
Theil zu verweben. Wie dem nun aud) jei, Koerting hat jedenfalls 
ein Bud) geliefert, das in feinem erjten Theile vollfommen ver: 
jtändlicy für jeden Gebildeten, umfajjende Auskunft über das antife 
Theater bietet und allen Theaterfreunden eine Quelle reicher 
Belehrung erjichließt. Die große Verſchiedenheit des antifen Theaters, 
bejonders des griechiichen, von dem modernen in den wejentlichiten 
Punkten tritt dem Xejer aus Koerting’s Darjtellung ebenjo flar 
entgegen wie andererjeis manche Nehnlichfeit zwiichen beiden. 
Während das griechiſche Theater faſt garfeine Einwirkung auf 
das der anderen Bölfer geübt hat, iſt dagegen der Einfluß des 
römiſchen auf jpätere Zeiten ein mannigfacdher geweſen. Aud die 
Verjchiedenheit in der Entjtehung des Theaters bei den beiden 
klaſſiſchen Völkern tritt aus Koerting's Darjtellung deutlich hervor 
und jo iſt denn auch die Entwidelung des Theaters bei den 
Griechen eine ganz andere als bei den Römern. Die gejelljchaftliche 
Stellung der Scaufpieler bei den Griechen unterjcheidet ſich 
wejentlid; von der bei den Nömern; während fie in Athen eine 
wenn auc nicht hochgeachtete, jo doch bürgerlich unangetajtete 
Stellung einnahmen, waren jie in Nom veradtet und oft wie 
Sklaven behandelt. Sehr injtruftiv ift Koerting's jtete Vergleichung 
der antiten Theaterverhältniije mit den modernen. Es zeugt von 
dem Ernjte jeiner Auffallung, daß er bei Beſprechung der modernen 
Theaterverhältnijie den Hauptgrund der unfichern und angefochtenen 
gejellihaftlihen Stellung der Schaufpieler in der in der Theater: 
welt herrjchenden laren Moral erblidt und daher vom Theater: 
perjonal jtrenge Sittlicyfeit verlangt, eine Forderung übrigens, 
die, jo wohl gemeint fie im nterejje der Hebung des Schaujpieler- 
jtandes ijt, doch zweifellos eine utopiiche bleiben wird. Munde 
uns fvemdartig ericheinende Eigenthümlichleit des griechiſchen 
Theaters finden in dem Verfaſſer einen gejchidten Vertheidiger, 
jo die Darjtellung der weiblichen Nollen durch Männer und was 
er dafür anführt, verdient volle Beachtung. Dan jtaunt über Die 
Mannigfaltigkeit und Komplizirtheit der Dlafchinerie bei den Auf: 
führungen der griediihen Dramen. Auch zu der vielumftrittenen 
Trage nad Geſtalt und Beichaffenheit der Orcheftra nimmt Koerting 
klare und bejtimmte Stellung; feine Auffaſſung jcheint uns im 


Litteräriiche Streiflichter. 357 


Mejentlihen durchaus begründet. Vorausgeſchickt hat der Ver— 
faller jeiner Darjtellung eine längere Einleitung. Soweit fid) 
dieje auf Wejen, Entitehung, Charakter des Drama bezieht, ift fie 
gewiß am Pla; wenn aber Koerting diefen Auseinanderjegungen 
eine längere philoſophiſche Betrachtung über den Begriff des 
Schönen, Luſt und Unlujtempfindungen vorausgehen läßt, jo hat 
er damit des Guten etwas zu viel gethan. Als Vorbemerkungen 
zu einer Gejdichte des Dramas könnte man ſolche philojophiiche 
Erörterungen noch gelten lajjen aber als Einleitung zu einer 
Gedichte des Theaters erjcheinen fie uns durdaus deplazirt; 
die meijten Leſer werden fie einfach überjchlagen, einige vielleicht 
ſich durch fie von der Lektüre des inhaltreihen Buches abjchreden 
laſſen. Eine gewiſſe Breite der Darjtellung madt ji überhaupt 
bemerkbar. Des Verfaſſers Urtheil it gejund und wohlüberlegt, 
aber nicht jelten etwas nüchtern. In dem zweiten Bande, der 
das Theater des Mittelalters behandeln joll, wird Koerting ſich 
auf dem Gebiete eigener langjähriger .Studien bewegen, man fann 
daher von ihm eine wejentlihe Förderung unferer bisherigen 
Kenntnifjfe erwarten. Möge er dem erjten in nicht allzu ferner 
Frift folgen. Vollendet wird Koerting’s verdienjtvolles Werk ein 
wichtiger Beitrag zur abendländifchen Kultur: und Xitteratur: 
geſchichte fein. 

Durd fein Novellenbudh: Der erjte Beite und Maria Neander 
bat fih DO. Verbeck — wie wir hören, joll fih unter dieſem 
Pjeudonym eine Dame verbergen — mit einem Schlage einen 
hervorragenden Platz unter den Erzählern der Gegenwart erworben; 
das Darjtellungstalent und die Gabe feiner und jcharfer pſycho— 
logiſcher Entwidelung ließen Bedeutendes von dem Autor erwarten. 
Mit nicht geringer Spannung nahmen wir daher D. Verbed’s 
Roman Einjam*) in die Hand. Das Thema des Nomans ift 
ein altes, oft ſchon von Dichtern und Nomanjchreibern behandeltes: 
die Folgen einer von Seiten der Frau nit aus Neigung und 
Liebe geichlojfenen Ehe, es kam aljo alles auf die Motivirung 
eines ſolchen Schrittes und die pſychologiſche Entwidelung des 
Broblems an. Die Heldin Hanna Wajenius ift die Tochter eines 
Berliner Oberlehrers, der fie und ihre kranke Mutter mittellos 


*) Leipzig, Fr. Wild. Grunow. 7 M. 


358 Litterärifche Streiflichter. 


hinterlaifen hat. Wir werden zuerſt in ein freundliches gemüth— 
liches Stillleben froher arbeitseifriger Armuth eingeführt. Der 
Mittelpunft des Eleinen Kreiſes ift Hanna, zu ihm gehören der 
joviale Kantor Günther und der ftille verjchloffene Lehrer Nedten- 
bacher, der im Herzen eine tiefe Liebe zu Hanna trägt; aud Hanna 
heat innige Neigung für ihn, ohne es jelbjt zu willen. So geht 
alles aut, bis die Noth hereinbridht. Der Bankier Thomas, der 
der Mutter den Verluſt des Neites ihres Heinen Vermögens mit: 
theilt, wird von heftiger Liebe zu Hanna ergriffen und trägt ihr 
jeine Hand an. Hanna verlobt fih mit ihm aus Liebe zu ihrer 
Mutter, um diejer ein behagliches Dafein zu Ichaffen und dadurch 
ihr Leben zu verlängern und um alle Mittel zur Wicderheritellung 
der Gejundheit des ihr theuerſten Weſens anmenden zu fönnen. 
Im legten Augenblid, als es ſchon zu ſpät ift, fühlt fie, daß fie 
eigentlich Nedtenbacher liebt. Tem vielverheißenden Anfang entipricht 
nun der Fortgang nicht ganz. Die Mutter jtirbt bald nad der 
Heirath, das Opfer iſt alfo umſonſt gebracht, das Ziel verfehlt, 
Hanna hat ihr Lebensglück vergeblid Hingegeben. Nun bricht das 
Unheil unaufhaltiam herein. Sie iſt zuerjt in verzweifelten 
Schmerz wie erjtarrt, denn an das ewige Leben glaubt fie nicht, 
bis der Pfarrer, ihr väterlicher Freund, ihr einen Brief der 
Mutter bringt, worin dieſe im Gefühl nahenden Todes ihr unter 
Anderem jchreibt: fei gegen Deinen Mann von ganzem Herzen 
immer jo als ob ih nod da wäre. Das nimmt fie nun zur 
Richtſchnur ihres Lebens und Verdaltens, verfucht es, freundlich 
und herzlich gegen ihn zu fein, jcheitert aber immer wieder troß 
innerer Selbjtüberwindung an Thomas vohem und egoiſtiſchem 
Charakter. Er will fie zur Liebe zwingen und hat für ihr ſeeliſches 
und geiltiges Leben gar fein Intereſſe und gar fein Verftändniß; 
er zeigt ſich ftets launenhaft und brutal und will fie wie eine 
ſchöne Puppe nad) feinem Willen lenken, fie joll nur für ihn 
leben und er hat doch fein innneres Leben. Hanna bebt unmill: 
kürlich vor feinen brutalen Liebfofungen zurüd und Thomas ent: 
widelt fih nun immer mehr zu einem modernen Blaubart. Er 
ahnt die in ihrem Herzen tief verftedte Liebe zu Nedtenbacher, er 
beargwohnt und quält feine Frau aufs Naffinirtejte, hält alle ihre 
alten Bekannten von ihr fern, verbietet ihr die Mufif, er nimmt 
und entzieht Hanna alles, was ihr das Leben erträglich machen 


Litteräriſche Streiflichter. 359 


fönnte und verfolgt und peinigt fie fortwährend mit feiner wahn- 
finnigen Eiferfuht. Thomas Charakterentiwidelung entipricht nicht 
feinem eriten Auftreten, bei dem er als praftiiher nüchterner 
Geihäftsmann von alltäglicher Art erjcheint. Hanna erträgt alles 
trog der furchtbaren Qualen ihrer Seele. Hier müſſen wir einen 
Fehler in der Charakterzeihnung diefer Frau Fonjtatiren. Hanna 
wird durchaus nicht als ein janftes, bingebendes, weiches Weſen 
geichildert, fie ericheint vielmehr von Anfang an als energiiche, 
jelbjtändige, willensfräftige Natur. Wie läht es fi da verftehen, 
daß fie dieſes Höllenleben aushält? Was allein ihr Verhalten 
erklären würde, fehlt ihr, der chrijtliche Glaube, aus dem jie die 
Kraft und die Feitigfeit entnehmen könnte in diefem Elende aus: 
zuharren. Ohne ihn aber wäre für eine Frau ihrer Art nur 
zweierlei möglich: der jelbjtgewählte Tod oder Flucht und Ent- 
fernung von einem ſolchen Menſchen. Daß Danna feines von 
beidem thut, jondern bleibt, erjcheint uns pſychologiſch falih. Am 
Uebrigen iſt die Schilderung ihrer Seelenfämpfe, ihres immer 
wieder ſich Aufraffens und ihrer vergeblidhen Verſuche, doch nod) 
eine Harmonie mit ihrem Gatten herzujtellen ausgezeichnet, wenn 
fie zuletzt auch peinigend auf den Xejer wirkt. Thomas Tod 
bringt die etwas gewaltjam herbeigeführte Löſung des Konflikts. 
Hanna hat ihn aufopfernd während feiner Stranfheit gepflegt und 
macht fih nun bittere Vorwürfe, daß fie ſich nicht fo gegen ihn 
verhalten, wie es ihre Pflicht geweſen wäre. Sie fcheint uns 
darin ſich ſelbſt Unrecht zu thun, denn äußerlich bat fie ja alles 
geleiftet, nur die Liebe, die fie nicht empfand, hat fie ihm nicht 
bezeugt und er hatte wahrlich nichts gethan, dieſe zu erweden. 
Sie zieht fih nun in die Cinjamfeit zurüd, licht alle Menjchen 
und verbringt ihre Tage in Unthätigfeit und Gelbjtvorwürfen. 
Das erinnert ganz an die Gräfin Irma in Auerbachs „Auf der 
Höhe,” aber dieje büßt dod) eine wirkliche Schuld. Nedtenbader, 
ber joeben Direktor des Gymnaſiums in einer entfernten Stadt 
geworden, jucht fie auf und bejchwört fie ihm ihre Hand zu reichen. 
Sie lehnt das entichieden ab, obgleich fie ihn liebt, fie dürfe es 
nicht thun. Er bittet fie den Entihluß ſich noch zu überlegen, er 
werde nad) einiger Zeit wiederfehren. Damit, mit der Perjpeftive 
auf die mögliche Aenderung ihrer Enticheidung endet der Noman. 
Bei allen Vorzügen im Einzelnen befriedigt er doch nidht. Hannas 


360 Litteräriſche Streiflichter. 


Charakter ift, wie jchon bemerkt, nicht Far und folgerichtig durch: 
geführt, man fann Feine rechte Sympathie mit ihr haben; ihr 
jpäteres Verhalten erjcheint geradezu wunderlid und unnatürlid. 
Thomas ijt eine rein abjtoßende Gejtalt, die Perſonifikation des 
kleinlich Böſen ohne irgend einen menſchlich anmuthenden Zug. 
Auch Nedtenbaher ijt in jeiner jteifen Verſchloſſenheit etwas 
undeutlic gezeichnet. Unter den NWebenperjonen ijt der Kantor 
Günther mit jeiner Ehrlichkeit, feiner weltunfundigen Naivetät, 
jeinem Neden jtets zur Unzeit und feinem Leben nur für und in der 
Kunft eine treffliche, ergögliche Charakterfigur. Auch Nedtenbachers 
Bruder und Schweiter find anziehende Gejftalten. Ganz blaß und 
verſchwommen ift dagegen der Pfarrer Erdmann, der wider Willen 
Theologe geworden iſt und nichts von einem chrijtlichen Geiftlichen 
an fich bat, eine Figur ungefähr wie der Pfarrer in Sudermanns 
Heimath. Handlung ift im Ganzen wenig in dem Roman, die 
pſychologiſche Entwidelung ijt die Dauptjadhe. Das Leben, das 
uns darin vorgeführt wird, ift rein weltlich und irdiſch, ein Leben 
ohne Gott. Bei dem großen Talente des Berfaflers iſt Diefe 
Auffaſſung und Behandlung des Lebens jehr zu bedauern. Ein 
moderner großftädtifcher Geift weht durch das ganze Bud, ihm 
entipricht auch die pointirte, manchmal etwas gejuchte Darjtellung, 
im übrigen ijt die Form vorzüglid. Die fonjequente Durchführung 
des Berliner Jargons, in dem Thomas jtets ſpricht, ijt beivunderns= 
würdig; die Darjtellung erhält dadurd etivas lebendig Realiſtiſches. 
Zulegt wirft aber diefe Manier zu reden doch ermüdend, man 
empfindet bei ihrer jteten Miederfehr in aller Stärfe, weldye Ver: 
zerrung der echten Syrache dody in dieſer raffinirten großſtädtiſchen 
Redeweiſe liegt. Als Ganzes betrachtet ift der Noman fein Fort: 
Schritt gegenüber den Novellen. Leſer wird er genug finden und 
mit Recht, denn, was wir aud) an feinem Inhalt auszujegen haben, 
über die Maſſe der Durchſchnittsbelletriſtik erhebt er ſich weit. 


—* 


Aus dem Briefwediel 
zwilhen Viltor Hehu und Georg Berkholz. 


Neue Folge. 


Auch die nachſtehend mitgetheilte neue Neihe von Briefen 
der beiden Freunde kann ficherlid auf daſſelbe Intereſſe aller 
gebildeten Leſer in unjeren Provinzen rechnen wie die frühern. 
V. Hehn iſt der eifrigere und lebhaftere Briefichreiber, was zum 
Theil mit der von ihm für die „Balt. Mionatsichrift” gelieferten 
Betersburger Korreipondenz zulammenhängt. Berkholz hatte ſich 
in dieſer Zeit Schon mehr in Niga eingelebt, doch tritt der frühere 
Mißmuth und die ihn oft beherrjchende melancholiiche Stimmung 
auch in den folgenden Briefen nod häufig zu Tage. Er berichtet 
dem Freunde außer über feine eigenen fitteräriichen Abjichten und 
Unternehmungen über die politiſchen Ereigniſſe in den Provinzen 
und ſpricht ſich mit Xebhaftigfeit über die damaligen brennenden 
Tagesfragen aus, während Hehn von den Vorgängen in der 
höheren Gejellihaft und in Negierungsfreifen Nachricht giebt; des 
Palais Michel, der Großfürftin Helene und Frl. Edith von 
Rahden's wird naturgemäß häufig gedadt. Daneben werden aud) 
Fragen gelehrten Charakters zwiſchen den Freunden erörtert. 
Die in diejer Zeit eifrig betriebene Berufung Berkholz's an Die 
faijerliche öffentliche Bibliothek zerichlug ſich zu jeinem großen 
Bedauern; man wird es aber doch als eine glüdlide Fügung 
anjehen müjjen, daß er in Riga blieb. Der fosmopolitiiche 
Idealismus und der von feinem praftiichen Bedenfen angefochtene 
religiöje und politiiche Liberalismus der beiden Areunde tritt 
in höchſt bezeichnenden Neußerungen aud hier ganz unverhüllt 
zu Tage; jo find dieſe Briefe lebendige Stimmungsbilder der 
berrichenden Anſchauung jener Tage. 

Außer ein paar rein perlönlihe Dinge betreffenden Stellen 
find, abgejehen von einigen nothbwendigen Auslaſſungen jadhlicher 
Art, nur einzelne herbe und ungeredhte, aus momentaner Ber: 
jtimmung bervorgegangene Urtheile über noch Lebende beim Abdruck 


der Briefe fortaelallen worden. 
ſe fortgelaſſ H. Diederichs. 
* 


* 


862 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 


Anfang 1864. 
Lieber Freund! 


Die dee eines Doppelheftes ijt aufgegeben, und aljo bitte 
ih um eine Januar-Correipondenz. Das Heft wird dider als 
gewöhnlich werden, aljo auch nicht bejonders frühzeitig erfcheinen 
fönnen und jedenfalls warte ich in infinitum auf Deinen Beitrag. 
Tür diejes, das Abonnement bejtimmende erjte Heft bin ich deijen 
vorzugsweile benöthigt. 


Der Landtag it auf den März verichoben. Die beiden 
brennenden Fragen hier zu Lande find jegt: 1) das Güterbeſitzrecht, 
d. h. entweder die Wiederheritellung des 99-jährigen Pfandredhts 
oder ein anderer Modus der Aufhebung des betreffenden Adels: 
privilegiums; 2) die Erringung der kirchlichen Parität bei gemifchten 
Ehen u. j. w. In legterer Beziehung füngt fid) eine größere 
Tapferkeit zu entwideln an, als bisher landesüblich gewejen. Bei 
gemifchten Ehen den Kindern eine proteftantiihe Nothtaufe zu 
geben, iſt ein ſchon Häufig vorfommendes Ausfunftsmittel. In 
den deutichen Gejellihaftsihichten giebt es davon drei Aufſehen 
machende Fälle: bei den Bauern fehr viel mehr. Der B.jdhe 
Fall ift geritlicd anhängig gemacht worden und wird eine Krifis 
herbeiführen. Das Hofgericht wird ſich wahrſcheinlich tapfer dabei 
halten und foviel it ficher, daß die Negierung fein Erempel von 
harter Beitrafung zu ftatuiren wagen wird. Der mögliche Lärm 
in europäijchen Zeitungen ijt ihr zu unbequem. 


In Nr. 1 des diesjährigen Dorpater Tageblatts jtand ein 
Artikel über die Neligionsfrage, den die hiefige Cenjur der Rig. 
Ztg. nicht nachzudrucken erlaubte und auf deſſen weiteren Effekt 
— ob er 3. B. nicht dem Tagesblatt jeine Erijtenz koſtet — id) 
neugierig bin. Jedenfalls würde oder werde ich in der Monatsichr. 
über dieſes Thema jelbjt die verwegenften Dinge druden! Ent: 
Ihuldige! über andere Gegenjtände, die ich noch im Rückhalt habe, 
find in diefem Moment meine Gedanken nicht flüjfig; ich begnüge 
mid aljo mit diefem Brieffragment. 


Der Deinige ©. Berfholz. 


Briefe von Biltor Hehn und Georg Berfholz. 363 


23. Januar 1864. 
Lieber Berfholz! 

Mein Ianuarelaborat ift nun hoffentlich in Deinen Händen 
und nicht allzuiehr unter Deiner Erwartung. Ich bin neugierig, 
was Du zu meinen partbhiichen Streifzügen auf das Feld der 
Provincialpolitif jagen wirft, und fürchte, Eure feine Taftif und 
complicirte Strategif damit zu ftören. Ich ſpreche ja aber als 
ein Fremder und aus weiter Ferne; einem foldhen pflegt man 
jonderbare und freimüthige Urtheile hingehen zu laſſen. Uebrigens 
belebt ſich ja der Ton auch bei Euch merklich; in dem Aufſatz 
gegen W. B. in der Rig. Zeitung (von Böttcher?) habe ich zu 
meiner freude beiftehende Perfönlichfeiten genug gefunden: das 
wird den taumelnden, verworrenen, in die widerjprechenditen 
Gedankenfyiteme fich einfpinnenden Mann zur Befinnung bringen. 
Schwer miderftand ich der Verſuchung, gegen den eftländifchen 
Landtag meinen Zorn und Spott auszufchütten, aber erjtens wußte 
ih nicht, wieviel davon unter den localen Verhältniſſen möglich) 
und nüglich gewejen wäre, zweitens durfte ich nicht allzufehr aus 
der Rolle des Betersburger Correipondenten fallen. Die Herkunft 
des im Feuilleton der Nationalztg. befindlichen Artifels über den 
in Livland herrichenden Glaubenszwang glaube ich zu errathen. 

Mehrere Deiner Briefe liegen vor mir, auf die ich Die 
Antwort Schuldig bin. Du jchreibit: „Auf die Wirkung der ver: 
einigten November: und Decembercorrejpondenz bin ich ſehr neu: 
gierig, jo etwas ift hier zu Yande noch nicht dageweſen.“ Glückliches 
Land — für Schriftiteller ein wahres Eldorado —, wo man mit 
ein Baar unbedeutenden Journalcorrefpondenzen hoffen fann Auf: 
ſehen zu maden und Merger und Freude zu bereiten. Du 
Ichmeicheljt mir, alter Freund, oder hältft Dein Journal, da Du 
jelbjt drin lebjt und webſt, für gleich wichtig auch in den Augen 
aller übrigen Menfchen. Hier in Petersburg habe ich der Gorre: 
Ipondenzen auch mit feiner Eilbe nody erwähnen hören, ſelbſt 
Sciefner, der Alles herausichnüffelt, weiß von ihrer Eriftenz 
nichts. Nur Brevern fagte mir in Bezug auf das Octoberheft: 
die Correipondenz ift ja wohl von Ihnen; er fannte fie aber 
offenbar nur, meil in demjelben Heft Deine Beurtheilung 
Schleidens*) ſtand. 


*) Baltiiche Monatsſchrift 1863, S. 365—376. 


364 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 


Für meinen italienischen Aufſatz halte ich Dich beim Wort, 
d. h. Tu mußt ihn abdruden. Du haft unvorfichtiger Meife das 
Schwein im Sad gefauft. Ich denfe ihn Dir im Sommer zuzu: 
jtellen, damit er dann ein Paar Hefte fülle und Du ohne 
Manufeript:Sorgen das Seebad brauchen oder eine Reife machen 
fannft. Das Ding liegt bis auf einige Kleinigfeiten fertig und 
ift Höchit langweilig. Vor einiger Zeit mußte ich bei Fräulein 
Rahden in Gegenwart der Prinzeifin Wied*) Stüde draus 
vorlefen: Der Abend verlief ganz in der Meife, wie Du fie 
kennſt. Man machte mir Complimente über meinen jchönen Stil, 
ih nahm fie für das, was fie werth find d. h. für gar nichts. 
Die deutsche Prinzeffin, ein Naturfind nach hiefigen Begriffen, 
mit recht viel Benfionsbildung, gefiel mir jehr wohl und ich hätte 
ihr gern einen Kuß geraubt; daß fie am hiefigen Hofe, wo feiniter 
Taft und maliciöfe dialogiſche Epigrammatif Erforderniß find, 
gefallen fönne, bezweifle ich. Die deutichen Prinzeifinnen find 
immer noch bürgerlicher, als die geringjte franzöfiiche Portiersfrau. 
Frl. Nahden ift jo liebenswürdig gemejen, einen im Redaktions— 
bureau von Katkoff in Moskau jeit Johren verloren gegangenen 
Aufſatz für mich aufiuchen zu laffen und mir wieder zujuftellen; 
als ich eines Morgens fie bejuchte, um dafür zu danfen, fragte 
fie mid) zum Schluß, ob es mir Vergnügen mache oder nid, 
Abends zu ihr eingeladen zu werden? Ich möchte mit freijter 
Aufrichtigfeit antworten, ganz die reine Mahrheit jagen. Ich 
ftand in der ungeheuerjten Verlegenheit da, war aber doch zu 
ſchwach zu antworten: laffen fie mich in Ruh, das gefällt mir 
am meiften, und ftotterte allerlei unbeſtimmte Nusflüchte. Vielleicht 
hat fie mich verjtanden, denn ich habe jeitdem feine Einladung 
erhalten. Oder vielmehr — fie bat mich doch nicht verjtanden. 
Mein allergeheimjtes Bemwußtfein jagt: fie follte mich jo lange 
mit gewaltiamem SHeranziehen quälen, bis die Sadhe mir bequem, 
gewohnt, leicht geworden, dann würde id gern fommen und gewiß 
viel Nußen und Vergnügen davon haben. Ich merke es durch, 
daß fie ein herzensgutes Gejchöpf iſt, daß ich ihr Freund werden, 
daß der Schaß ihrer Erfebniffe und Erfahrungen mich bereichern 


*) Die jehige Königin Elifabetb von Rumänien, als Schriftitellerin 
unter dem Namen Carmen Syldba allgemein befannt, 


Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 365 


könnte. Wie würde ein Anderer dieſe gebotene Gelegenheit 
ergreifen! Daß id) es unterlaffe, ſpricht ebenjo jehr für mich als 
gegen mid). 

Ich habe Dir fchon einmal Berg*) zu meinem Nachfolger 
vorgeichlagen und weiß nicht, warum Du den Verſuch nicht machen 
willft. Ich würde gern den Unterhändler abgeben. itelfeit, der 
Heine Geldgewinn, Luft ſich zu verfuchen find ebenjo viel Motive, 
die den Mann zur Annahme bejtimmen würden. und, der viel 
Befanntichaften in höhern und diplomatischen Girfeln bat, iſt 
ſchon jegt Gorreipondent mehrerer Blätter, auch der Augsburger 
A. 3. und joll die Feder mit Gemwandtheit führen: ſollte man 
nicht auch mit dem ein Erperiment machen, das ja zu weiter 
nichts verpflichtet? oder mit Minzloff? Auf meine Mitarbeiterichaft 
ift Schwerlich noch lange zu rechnen. Der monatliche Tribut jtört 
mich in MWichtigerem und die Vorbereitungen nehmen mir zu viel 
Zeit und zerjtreuen mich. Daß Du jelbjt auch garnichts lieferſt 
und nicht durch Fleine Beiträge den Anhalt manigfacher madjit, 
ift Sträflich, unverzeihlih, Sünde wider den heiligen Geijt. Dein 
Griffel ift Scharf, Dein Geift flar, Deine Bildung meit und tief 
— warum läjleit Du die Zeit verjtreichen, worüber brüteft Du? 
Menn fein anderer Grund, jo follte Did) der Ehrgeiz treiben. 
Daß Bötticher Deine Faulheit oder Verzagtheit duldet, wundert 
mid; er jollte alle Neizmittel brauchen, die ihm zu Gebote jtehen. 
Du willit, was Du machſt, zu aut machen, bedenkſt aber nicht, 
wie ephemer ein Nournalheft ift, wie bald es vergeflen wird und 
daß daher der Zufall walten muß, der das Gejchriebene einmal 
gelingen, ein ander Mal mißlingen läßt. An dem einen und an 
dem andern liegt nicht viel — nur die Hände regen, nur Die 
Drehorgelmelodie derielben Grundſätze immer wieder aufipielen, 
bis fie den Leuten zulegt im Ohre bleibt. 

Weiß der treue Eckart von der rig. Zeitung, daß ich der 
Gorreipondent bin? Ach erfläre mir aus diefem Umſtand den 
Weihrauch, den er mir ftreut. 

Verfäume nicht, mir bald zu fchreiben, die Antwort foll in 
Zufunft nicht jo lange ausbleiben. Grüße Müller recht herzlich 


*) Carl Ernit v. Berg, damals am botanifchen Garten in St. Petersburg 
angeitellt. 


366 Briefe von Vektor Hehn und Georg Berfholz. 


und fage Bod, daß ich jehr beihämt bin, ihm zwei Mal meine 
Karte geſchickt zu haben: mein elender Kopf hatte die erite Sendung 


total vergeſſen. 
In bewährter Freundichaft Dein V. Hehn. 


Riga, d. 13. Febr. 1864. 
Lieber Hehn! 

Jh habe eigentlid, feinen Augenblick geichwanft in meinem 
Entihlufe*), aber ich muhte doch einige Tage vergehen laſſen 
bis zum Schreiben, um meiner jelbjt durchaus ficher zu fein. Ich 
fann nicht von bier wieder abziehn, wenigitens nicht auf den 
Sturz, ih bin zu jehr engagirt. Die Monatsjchrift zwar würde 
mir wenig Sfrupel verurſachen, dejto mehr aber die Stadtbibliothef. 
Ih habe darin die frühere Ordnung, zwar eine ſchlechte und nur 
oberflächliche, aber doc) Ordnung, zum Theil aus den Fugen 
gebracht und bin mit den neuen Einrichtungen noch zu feinem 
relativen Abſchluß gekommen; ich habe für bedeutende Acquifitionen 
ınamentlid durd Ankauf der Napierskyichen Bibliothef) gelorgt 
und davon noch Vieles nicht einrangirt; vor allem aber habe ich 
den von mir in Ausficht gejtellten und in der That notwendigen, 
wenn auch nicht jährlid zu miederholenden Bericht noch nicht 
geleijtet. Ein Nachfolger würde bei dem jeßigen Stande der 
Dinge nicht ganz leicht fich hineinfinden, und würde ich Zeit haben 
die Wahl eines Nachfolgers abzuwarten? Soll die Bibliothek unter: 
deſſen ganz geſchloſſen werden? Ich würde, wenn id) jegt Niga 
verließe, nit mit dem Gefühl des Schmerzes, wie einſt von 
Betersburg, Jcheiden, aber mit dem der Scham, der Schuld, der 
Niederlage. Damit nun ijt alles gejagt und die übrigen Motive 
pro und contra fünnten unerörtert bleiben. Im allgemeinen bin 
ich ſoweit, alle großen Hoffnungen und Lebensaufgaben abgedanft 
zu haben und nur an zwei Dinge zu denfen: 1) die nächſte Pflicht, 
2) das nächſte mäßige, insbejondere Förperlidhe Behagen. In der 
zweiten Beziehung ijt nun mein Sinn vor allem auf 6 Wochen 
Seebad gerichtet, mit recht viel Sonnenschein, Dünenfand und 
Tannenduft; und das wäre bei einer neuen Weberfiedelung doc) 


*) Die Aufforderung, an die kaiſerliche öffentliche Bibliothek zurüdzulchren, 
abzulehnen. 


Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 367 


gewiß mieder aufzugeben, jogut wie anno 1861. Ueberhaupt 
wäre meine neue Stellung bei Euch zunädjt wieder die eines 
BOJBHOTPyARıiÄeH, von dem möglichjt viel Arbeit in möglichit 
furzer Zeit verlangt wird, bis man fich eingepauft hat. So 
wenigitens für ein Baar Jahre, und ich habe feine Jahre als 
bloßes Mittel zuzujegen. An der Großfürjtlihen Stelle bedauerte 
ih eben, eine halbe Sinecure leichtfinnig und zum Bejten eines 
X aufgegeben zu haben. Bytſchkow hat ganz Recht, von 2000 Nub. 
zu ſprechen, denn nur die Höhe des Gehalts lodt mich; aber ich 
halte es für eine Yllufion, einem Boabuorpyaamiien doppelt jo 
viel als den Oberbibliothefaren (bei bisherigem Etat) auswirken 
zu wollen. Morgen jchreibe ich an Bytſchkow ſelbſt. Wenn es 
nöthig it, entjchuldige mid) unterdejjen bei ihm. Es ijt jehr 
möglih, daß ich einit nicht leichten Herzens zurüddenfen werde 
an die von der Hand gewiejenen Diöglichkeiten (3. B. dann, wenn 
die legte Stunde der Balt. Monatsichrift gekommen fein wird); aber 
jetzt kann ich nicht anders. Ich jchreibe wohl nächſtens noch Einiges 
über Diejes Thema, Dir oder Vetterlein. Die Hauptjadhe ift gelagt. 

Auf Deine Februar:Eorreipondenz warte ich, jo lange Du 
willſt. Ohnehin wird es mit diefem Hefte jpät werden, da einige 
ungelegte Eier hineinfommen follen. Falls Dir die Sade im 
Moment gar zu unbequem it, jo wünjchte ich lieber, daß Du 
einen Monat ausläfjeit, als daß Du fie Dir überhaupt verleidejt. 

Wenn etwas die Monatsichrift heben fann, jo find es Deine 
Correipondenzen, die allmählih immer mehr Wirkung zu üben 
anfangen. Und merkwürdiger Weile, ohne bisher auf irgend eine 
Weiſe lauten Zorn hervorzurufen; nicht einmal bei den Dorpater 
Theologen, wie id) von jemand höre, der einem ihrer Thee’s bei 
Lectüre der November:December:Correipondenz beigewohnt Hat. 

Ich wurde durch einen unnügen Beſuch unterbroden und 
muß jest eiligjt in die Bibliothef. Fortſetzung folgt. 

Der Deinige G. Berkholz. 


14. Februar 1864, 
Lieber Berkholz! 
Wenn Du fommit, jo made Dich darauf gefaßt, daß Dein 
Stand nicht jo leicht jein, daß es ohne Anfeindung nicht abgehen 
6 


368 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 


wird. Auf jeden Fall fei nicht blöde in Deinen Anſprüchen und 
fomme nicht anders als auf ganz bejtimmte jchriftliche Zu— 
jiherungen, auf Grundlage jchriftlicher officieller Berufung. 

Ich Habe dody noch eine Februarcorreipondenz in Arbeit. 
Ein Baar Seiten find ſchon fertig, die mir ganz wohl gefallen. 
Le mehr Friſt Du mir läßt, dejto Beſſeres fann ich leiſten. 
Schreibe mir doch welches der äußerſte Termin ift. Ich bin von 
jo mannigfadhen Dingen in Anſpruch genommen, daß ich zum 
Zeitungslefen nicht fomme — das Haupthinderniß. Sieben 
Familien, darunter Lingens, Schrends, Grünewaldts, Stundes, 
haben ein Leſekränzchen mit Thee, Naſchwerk und Souper gebildet, 
lauter liebenswürdige, aber nad meinem Begriff ungelehrte Leute. 
Ich habe ſchon zwei Vorträge in diefem Girfel gehalten, bei 
Lingen und Schrend und ſoll nächſte Woche wieder bei Stunde 
mit einem dritten vorrüden. Sie find jehr dankbar und haben 
mich zum Ehrenmitglied ernannt. Mir nimmt die Sache aber 
mehr Zeit, als jie werth. it. 

Ich warte mit Schmerzen auf einige Zeilen von Dir. Id 
ſehe aus Deinem Brief an Soboltihifow, daß Tu wieder in Niga 
biſt. Wie jteht es mit Deiner Gejundheit? Die meinige it 
diefen Winter unbegreiflicdh gut. Ich jchreibe das dem ungewöhnlich) 


milden Wetter zu. 
Unveränderlid Dein alter Freund Hehn. 


Riga, d. 25. Feb. 1864. 
Lieber Hehn! 

Beiliegend die Abſchrift eines Aktenſtückes, das Dich interefliren 
wird. Soeben hat Tideböhl es mir, Jan upourenin zugeſchickt. 
Müller wird es mit gutem Humor aufnehmen. — Mit dem 
Februarheft ift ein unerhörtes Malheur gejchehen, das ich Bod 
verdanfe. Er Hatte einen Aufſatz über die Vorgeichichte Der 
Univerfität Dorpat vor — aus ardivaliihen Quellen beweijend, 
daß das Verdienſt diejer Stiftung nicht allein der faijerlichen 
Weisheit und Gnade gebühre, wie fejtredneriiche angelſächſiſche 
Profeſſore dargejtellt, jondern zum guten Theil aud dem patri: 
otifschen Eifer der baltiſchen Ritterſchaften — ihm war, ich weiß 
faum warum, jchredlid) viel daran gelegen, daß diejes Opus vor 


Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 369 


dem Landtage gedrudt werde, obgleich erjt der Anfang, gegen 2 
Drudbogen betragend, geichrieben war — auf fein Trängen und 
feine Verfiherung, daß er ganz nahe vom Ende fei, gebe id) 
nach, laſſe druden, während er weiter jchreibt — aber er fchreibt 
und fchreibt — und es werden 51’ Bogen daraus, dazu noch 
ohne Ende und mit Vertröftung auf einen zweiten Artikel. In 
dem Hefte hätte höchitens noch die Petersburger Gorreip. laß. 
Ih fann dem Publikum, das den Schriftiteller W. B. gar nicht 
mag, ein jo conjtruirtes Heft unmöglich bieten. Einzige Nettung: 
ich laſſe dieſes Mal ein Doppelheft, für Febr. und März zus 
fammen, ericheinen. Folglich hat die Correſpondenz noch Zeit, 
bis gegen Mitte März ungefähr, bis zum 10. wenigitens. Sch 
werde Dir in einigen Tagen, oder fobald ich den Termin etwas 
ficherer vorausjehen fann, nochmals darüber jchreiben. 

Wann rückſt Du mit Deinem italienischen Aufſatz heraus? 
Es ijt gut, daß Du Deinen Humanijten-Aufjaß wieder zurüd hajt; 
auch dieſen druden wir einjt. Ich komme nämlich allmählich zu 
der lleberzeugung, daß die Monatsichrift, da fie nun einmal faft 
nur in den Oſtſeeprovinzen gelefen wird, gut thun wird, Die 
jpecielle Landespolitit immer mehr den Zeitungen zu überlaflen 
und ihrerjeits den Hebel immer mehr bei allgemeinen Bildungs: 
objecten anzuſetzen. Sie würde nur um jo mehr gelefen werden 
und nachhaltiger wirken. Wegen unjeres Freundes vom botanischen 
Garten (Berg) bin id) Dir die Antwort jchuldig geblieben. Ich 
halte ihn für einen jehr Eugen Practicus. Wenn er meine Stelle 
bei der Großfürſtin gehabt hätte, was hätte er daraus zu ſchmieden 
verstanden! Ferner Halte ich jehr viel von feinen herausgegebenen 
Katalogen. Aber für einen Gorreipondenten halte id) ihn gerade 
nicht. Indeſſen will ich es eintretenden Falles verjuchen. 

Habt Ihr einen Begriff von der Polemik über Schleiden im 
Dorpater Tagesblatt und der Dörptſchen Ztg.? 

Middendarf fommt zum Landtag, aber ohne Stimme. Auf 
die Nejultate diefes Landtages kann man wol geſpannt fein. Die 
liberale Geſinnung der Herrn ift eben nicht ungeheuer, aber allerlei 
Preifion ijt vorhanden, von oben und unten. Unter Anderm 
wird es mehrere Petitionen geben, daß der Landtag eine folenne 
Deputation in Toleranzjachen abjende. 

Der Deinige G. Berkholz. 


870 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 


1. März 1864. 
Lieber Berkholz! 

Geſtern ift meine neuefte Sendung an Dich abgegangen. 
Du wirft dem Ding anmerfen, daß ich mwidermwillig dran gearbeitet 
babe und daß die alten, diesmal nur mechaniſch angewandten 
Künfte nicht mehr verfangen wollen. Beim ſchließlichen Durchlefen 
fam mir gleich Anfangs die Ironie bei Belpredhung des Pfand: 
rechts zu grob vor; die Stelle über den zoologiihen Garten 
hält V. für zu feindjelig, das über Finnland Geſagte ift ehr 
ſtark und vielleicht fann die Nedaction in einer Anmerkung Hinzu: 
fügen, daß, wie die Zeitungen melden, die Todesftrafe bereits ab- 
geichafft ift und der förperlichen Züchtigung ein Gleiches bevorjteht; 
die Polemik gegen die Nevaliche Zeitung wäre vielleiht am bejten 
zu Streichen, da fie Eitelfeit des Verfaſſers zu verrathen jcheint. 
Und doch war Eitelfeit nicht das Motiv, ſondern Halden nad) 
Gelegenheit zu belujtigen, Furcht den Leſer zu langweilen und 
dadurch dieſen flüchtigen Beiträgen ihr Hauptverdienft zu entziehen. 
Vebrigens ärgert mich an der Revalſchen Zeitung ihre Bor: 
nehmheit, die Miene von Euperiotät, die fie annimmt. Und doch 
pajlieren ihr lächerliche Fehler genug. Dies Alles jage ih nur, 
um Div zu Gorrefturen, Auslaſſungen, Zulägen u.  w. Muth 
zu machen und ausdrüdlih das Net zu verleihen. Fremde 
Augen jehen Farer als die des Verfailers, der von lauter ent- 
gegengelegten Bedenken rechts und links getrieben zulegt ganz den 
Compaß verliert. Schreibe mir ein aufrichtiges Wort des Urtheile. 

Daß das mitgetheilte Aktenſtück mich intereffirt hat, fannjt Tu 
Dir denfen. Ich glaube, daß die Scheinbar Zürnenden, indem fte den 
Verweis ertheilten, jelbjt im Herzen gelacht haben. In der Provinz 
nimmt man aber jolche Zeichen der Ungnade ernfter auf als bier; 
Vermweile gehören bier zum täglichen Brode der Genforen. Damit 
will ich nicht fagen, daß Müller der Mann wäre, fih dadurd) 
bemüthigen zu laflen, wohl aber z. B. Wilgelm Karlowitich*) und 
feine Diener. Die Sache befteht aber gerade darin, mit der Preß— 
behörde im täglichen Fleinen Kampf zu liegen, jie durch ewigen 
Widerftand und unabläſſige Vertheidigung mürbe zu maden und 
jo ſich allmählich freiere Gewohnheiten zu erobern — wie das hier 


*) Der Generalgouverneur Baron Wilhelm Lieven. 


Briefe von Viktor Hehn und Gcorg Berkholz. 371 


zum Theil gelungen ift, — nicht aber nad) dem erjten Verweiſe 
gleich die Flügel einziehn. in hieſiger Cenſor würde wahricheinlich 
wegen der Ejelsohren reclamirt und jelbjt noch den Ankläger 
geipielt haben, was ſich freilich aus der Kerne nicht thun läßt. 

Schlimmer ift es dem Moskauer Cenſor mit dem Nunuarheft 
des Ruſſkiy MWieftnif gegangen. Dort jtehen aefammelte Gedichte 
von Maikoff, darunter eins: „an meinen Freund Ilja Iljitſch.“ 
Dies wird als Satire auf zwei allerhöchjte Perſonen nedeutet und 
der Cenſor ift vorläufig eingefteeft worden. Der Dichter ift ein 
franfer Mensch, der ſelbſt nicht wußte, was er mit feinem Gedichte 
eigentlich wollte. Die Frage ift, ob Katkoff, aefliffentlih auf 
Efandal ausgegangen ift — des Abjages wegen — oder fi 
gleichfalls hat täufcheu laſſen: zum Erftern ift er fchlau genug. Er 
hat mehr politifches Talent, als die übrigen Alle, ift aber ein ganz 
ebenſolcher podletz. 

Unſer Protektor Korff, der eine vierzigjährige Hoferfahrung 
hat, ijt wieder einmal in fein eigenes Net gefallen, iſt überichlau 
geweſen und hat einen tiefen Fall getan. Du weißt, daß er auf 
6 Monate ins Ausland reifen ſollte. Damit nun unterdeß fein 
Anderer fih auf feiner Stelle fejtjege, wählt er zu feinem Ver: 
treter einen jungen 30-jährigen Mann, Namens Solsfy, Sohn 
eines hiefigen Arztes, und läßt diefen an einem und demfelben 
Tage zum wirf. Staatsraih, zum Staatsfecretär und zu feinem 
Gehülfen mit den Rechten eines Miniftercollegen ernennen. Das 
erregte gerechtes Aufſehn, alle Miniſter, die hohen arijtofratifchen 
Kreife find ummwillig, der wahre Stand der Sache kommt dem 
Kaijer zu Ohren. Korff wird plöglich feiner Stelle enthoben und 
zum Bräfidenten des Gejegdepartement im Neichsrath ernannt d. 6. 
zur Ruhe geſetzt. Dahin ift der perfönliche Doflad beim Kaiſer d.h. 
der unmittlbare Verkehr mit ihm. Panin, der Schredliche und 
Gefürchtete, ift Chef der zweiten Abtheilung. Er hat den Solsky 
nicht einmal empfangen, jondern ihn im Vorzimmer abmweilen lajien, 
als Einen, „der ihn nichts angehe.“ Korff ſoll äußerlih ganz 
ruhig jein, die neue Yage als mit feinen Wünſchen ganz überein: 
ftimmend bezeichnen — aber allgemein in der Stadt und bei Hofe 
gilt er jebt als ein verlorener, abgeihaner Diann. Uns, deren 
Schickſal an das jeinige gelnüpft ift, fann dabei nicht anders als 
bange fein. Tu haft Korff noch vor Thoresihluß Deine Grati- 


372 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 


fication zu verdanfen gehabt. Danfbar müſſen mir ihm beide fein, 
jo wenig wir feine Schwächen verfennen. Mein Phlegma ſchützt 
mich vor Sorgen und Befürchtungen. 

Die Ankunft des Groffürften Konftantin, die für den April 
bevorfteht, wird auch als dus Signal zu Perſonen- und Spyitem: 
wechjel angelehn. Die Einen fürchten, die Andern hoffen von ihm. 
Vielleicht daß Golownins und Neuterns Stellung fich befeftigt. 

Daß Tu nicht haft berfommen wollen, bedaure ich perſönlich, 
fann Dir aber, Alles wohl erwogen, nicht anders als Recht geben. 
Die ganze Berufung war eigentlich nichts als ein Paroli, das 
dem Sobolichifoff gebogen wurde. Das Geld ift nod nit da 
und wird es überhaupt fommen? Der neue Etat ijt am Ende aud) 


nur eine Luftipiegelung — — — 
Dein Hehn. 


(Schluß folgt.) 





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Ans dem Briefwenjel 
zwilhen Viktor Hehn und Georg Berkhol;. 


Neue Folge. 
(Schluß.) 





Riga, d. 1. März 1864. 
Lieber Hehn! 

Kannft Du nicht in der nächjten Correip. wieder von Midas 
ſprechen? — ohne Beziehung auf den Banf:Direftor, aber mit 
Auseinanderjegung des Unterfchiedes zwijchen der Gejchichte von 
den Efelsohren und der von dem Golde? Das ijt ein Vorichlag, 
den ich gejtern im Slofterfeller (einem der vorzüglichiten Inſlitute 
Nigas) in Gejellichaft des Cenſors Müller und Tideböhl’s aus: 
gehedt habe und den Beide lebhaft approbirten. — Von dem 
Doppelheft, das mindeſtens 10 Bogen jtarf werden muß, find 
nun 6 jchon gedrudt und der 7. beinahe. Ich möchte aljo Deinen 
Beitrag bis jpäteftens den 10. März jchon hier haben. Kannſt 
Du noch früher, dejto beijer! Wenn die lumpige Druckerei (bei 
der wir doch noch verblieben find) darauf eingehn kann, jo werden 
wir bejondere Unfoften nicht jcheuen, um den Drucd mit ver: 
jtärkten Kräften möglichjt bejchleunigen zu laſſen. Der Landtag 
füngt am 9. an, und ein Aufſatz „über den Pfandbefig” iſt Ipeciell 
auf ihn berechnet. In der Güterbefipfrage find — durch die 
Rigaſche Zeitung, durch Bocks Elaborate und endlich durd einen 
Beihluß der Nigafchen Bürgerjchaft erfter Gilde — alle politifchen 
Leidenjchaften in einem bisher unerhörten Grade aufgeregt worden. 
In Saden der religiöfen Toleranz und PBarität gegenüber der 


874 Briefe von Vektor Hehn und Georg Berfholz. 


griechiſchen Kirche giebt es verfchiedene Eingaben und Monſtre— 
petitionen an den Landtag, die Beförderung des Bauerlandverfaufs 
durch Neorganifation der betreffenden Bodencreditanftalten bildet 
eine der ſchwierigſten Aufgaben und eine der am meilten von 
unſern Junkern beherzigten, weil damit die Miöglichleit einer 
litauifchpolnischen Maßregelung parirt werden fol. Dazu nod 
die YJuftizreform und Anderes. Der Löwe Middendorf hat wieder 
Etimme und fann mitbrüllen. Cr fommt über Petersburg und 
wird am 8. hier eintreffen. Wenn nicht früher, To könnteſt Du 
durch ihn die Correſp. ſchicken. Wetterlein jchreibt, daß es Deine 
vorlegte iſt. Ich kann nichts Unbilliges verlangen und hoffe 
auf Fortfegung im nächſten Winter. Halt Du bemerkt, daß die 
Nationalzeitung Deinen Ausfall auf den baltischen Zunftzwang 
entlehnt hat? Ich habe immer noch nicht auf Euren Vorjchlag 
einer Behandlung baltischer Fragen in einer ruffiihen Zeitung 
geantwortet und will es hiemit nachholen. Im vorigen Frühjahr, 
als ich in Petersburg war, wurde ih Ichon von zwei Seiten auf 
diefe Idee gebracht. 1) durch Profefior Utin, der die Ueberjegung 
ins Ruffiihe und die Unterbringung in den ©. II. B. übernehmen 
wollte; 2) dur Lyihin in derjelben Weiſe für den Somremennif. 
Ich Hatte Luft dazu, bin aber immer nicht zur Ausführung 
gefommen, und jet muß man die Entwidelung der ſchwebenden 
Dinge abwarten. Ein Hauptgefihtspunft würde mir dabei die 
Mitichuld des ruffiichen, Petersburger Bureaufratismus jein, als 
welcher nach dem Maaß feiner Kenntnik und in bewußtem oder 
unbewußtem Affimilationsbeftreben nur von zwei Ständen, Adel 
und Bauern, etwas hat mwiljen wollen, die Kyumpt und mbmane 
für eine Abart der Bauern haltend und daher den deutſchen 
Bürgerftand, den weſteuropäiſchen tiers-Etat, bei uns nicht auf: 
fommen lafiend. 

Die abjtract-gelehrten Liebhabereien glimmen bei mir nur 
ſchwach fort. Indeſſen möchte ich mir doc) eine betreffende Auskunft 
von Dir erbitten. Du weißt wol von der Ehrentafel des Protogenes 
(Boeckh Corp. Inse. n. 2058 B. 2, 1, p. 122); mas ift Die 
neuejte und ſicherſte Beltimmung über das Zeitalter derjelben? 
Hat nicht etwa Köhne*) der Große, als befonderer Kenner der 


*) Bernhard v. Köhne, Archäolog, Numismatifer und Heraldifer, geb. 
1817 in Berlin, jeit 1844 in Petersburg, 7 1856 in Würzburg. 


Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 375 


Olbiſchen Dinge, darüber etwas ausgemacht? ch habe feine File 
damit, aber gelegentlich Tuche doch nad). 
Der Deinige ©. Berkholz. 


Gründonnerstag, 16. April 1864. 
Lieber Berkholz! 

Geftern Abend ift der alte Popoff geftorben. Unſere beiden 
Direktoren, Delianoff und Bytichkoff, haben mir die Stelle an- 
geboten und ich habe nad einigem Schwanken angenommen. 
Mein jegiger Poſten (außeretatmähig) mit 125 R. monatlid wird 
aljo frei. 

Nun Hat Delianoff, darin ein Schüler der Frl. Rahden, 
und ebenjo Bytſchkoff, der Dich perſönlich kennt und nad) Gebühr 
mürdigt, die größte Sehnjucht, Dich wieder für die Bibliothek zu 
gewinnen. Ich habe alſo officiell Auftrag, Dir die Etelle 
anzubieten. Leider konnte ich heute troß wiederholter Verſuche 
Fräulein Rahden, die ich in der legten Zeit viel gejehen habe, nicht 
zu Daufe finden; aber ich erinnere mich, daß fie mir verfichert 
hat, im Falle Deiner Ueberfiedelung hierher jtehe für Dich eine 
MWohnung im Palais in bejtimmter Ausficht. 

Ich Toll Dich ebenso officiell bitten, im Fall einer bejahenden 
Antwort diefe telegraphiſch hierher zu befördern, damit gleich 
die nöthigen Schritte beim Minifter und bei Korff gethan werden 
fönnen. 

Du weißt, welcher Art die angetragene Stelle iſt. Sie 
ihwebt in jo fern in der Luft, als alles vom Leben Korffs und 
gutwilliger Zahlung des Minijteriums des Hofes abhängt. Aber 
Du wirft dennoch viel weniger Gefahr laufen, als ih. Wohnſt 
Du im Palais und bleibt Dir die PBroteftion der Großfürſtin oder 
auch nur ihrer Hofdamen, jo fann fein Miniſter ſich weigern Dir 
Deinen Gehalt auch ferner zu zahlen. Und unterdeß jtirbt wieder 
ein Mitglied der Bibliothef oder eins geht mit Penſion ab, mie 
ih denn aus Muralts eigenem Diunde weiß, daß er jih um 
Benfion bemüht und mit diefer nächjtens in die Schweiz zu ziehen 
hofft. Die erjte Vacanz würde Di in den mmmarp bringen. Die 
nädjte Arbeit, die Dir aufgetragen werden würde, wäre der 
Katalog der Russica, wobei ein Ertra-Stüd Geld abfallen würde. 

1* 


376 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 


Die Finanznoth it hier groß, alle Aufmerkſamkeit auf die 
auswärtige Politik, wozu ich auch die polniſchen Angelegenheiten 
rechne, und auf Heer, Kanonen, Rüftung u. ſ. w. gerichtet. Daß 
diefe Politik alle Mittel verichlingt ift natürlich. Unfer neuer Etat 
verliert in demjelben Maße an MWahricheinlichfeit des Erfolges. 
Der neue Etat für die Univerfität Dorpat war vom Finanzminifter 
gebilligt und durch alle Inſtanzen gegangen, da jchreibt gejtern 
Reutern an Golownin, es ſei bei Aufnahme des Budgets ein fo 
großes Deficit zu Tage gefommen, daß er ſein Wort zurüdziehe 
und die 80,000 Rbl. nicht bewilligen könne. Auch die Univerfität 
Odeſſa wird ein Entwurf auf dem Papier bleiben. Das Alles 
iſt wohl zu bedenfen. 

Da id gar fein Wort von Dir befommen habe, jo fete ich 
voraus, daß Du Deinen Plan zu Oftern herzukommen aufgegeben 
haft. Gleih nah Dftern (Dienstag Abend) reift das Palais 
Michel nah Moskau. 

Wie Du gefehen haft, ift meine April-Gorreipondenz aus: 
geblieben. Das Ding war mir zu jehr zur Laſt geworden. Wielleicht 
Ichreibe ih etwas für den Mai — vielleiht, Du fannit mit 
fehlen vorläufig auch zufrieden fein. Auf meine Anträge, Dir 
einen Stellvertreter zu jchaffen, wenn auch nur verjuchsweile, bift 
Du nicht eingegangen. Lebe wohl. Wielleiht machſt Du Did 
nad) Empfang dieſes Briefes jelbit hierher auf, jtatt zu fchreiben 
oder zu telegraphiren. Unverändert 

der Deinige Hehn. 


Anfang 1864. 
Lieber Hehn! 

Den Ueberbringer diejes, Edardt, brauhe ih Dir nicht 
weiter zu recommandiren. Er wünſcht aud) einige ruffiiche Größen 
fennen zu lernen; daher gebe ich ihm Anweilung auf Beſobraſow 
und Kawelin. Ob der Legtere zu Haufe ift und wo er wohnt, 
möge Betterlein die Freundlichkeit haben Eckardt wiſſen zu laſſen, 
eventuell ihn hinzugeleiten. Beſobraſow's Adreſſe mußt Du jchaffen, 
oder Vetterlein bei Kawelins erfragen. 

Zum erjten Dial, folang er die Monatsſchr. cenfirt, wurde 
Müller bei der legten Gorreip. ängſtlich. Mit einigen unbedeutenden 


Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 377 


Schwädhungen wird fie doch gedrudt. Der Ausfall auf das Pfand: 
recht fam mir wie gerufen, um den Eindrud einer vorausgehenden 
Bötticherihen Nbhandlung zu contrabalanceiren. Das Aergſte 
babe ich mir bei der Barallele Woſtokows!) mit Miklofih?) und 
Dobrowjfy?) erlaubt. Es war genug, diejen Arensburger Ruhm 
gegen Jacob Grimm in den Schatten zu Stellen. Mit Miklofich 
hält er, alles in allem, doc den Vergleich aus. Erſterer ijt ein 
gebildeter, aber faſt mechaniicher Arbeiter in dem von Grimm 
gegebenen Rahmen. Woſtokow hatte mehr Genie und das Glüd, 
früher geboren zu fein, um den Schmant abzufchöpfen. Zu mehr 


nicht Zeit. Der Deinige ©. Berfholz. 


Frühling 1864. 
Lieber Hehn! 

Weil ih Dir einen jehr langen Brief Schreiben wollte, fo habe 
ic) feinen gejchrieben. Sept aber muß ich die Hoffnung auf Zeit 
und Stimmung erjt recht aufgeben und entichließe mich daher zu 
ein Baar nothiwendigen Zeilen. — In mir fieht es ziemlich) ver: 
ftimmt aus. Jh mußte aud) etwas gegen die Mosf. Ztg. los: 
lajjen, und es war gerade vor Thoresihluß; das Manuſkript 
ging fait nah in die Druderei. Die Folge davon iſt, daß ich 
dieſes Mal nicht wie ſonſt binterdrein zufrieden mit mir bin, 
ſondern allerlei Ungeichielichfeiten bereue. So freilid nur im 
Einzelnen, nicht im Ganzen. Aber bei einer jo wichtigen Sadıe 
fommt es auch auf jedes Komma an. Scirren iſt in feiner Manier 
ins Zeug gegangen; Walujew hat 8:monatlide Suspenjion des 
Tagesblattes vorgejchlagen, darauf mit Lindes Abjegung vom 
Genjoramt ſich zufrieden jtellen lajien. Aber was hilft’s? Der 
neue Genjor (Schwabe) füngt fein Gejchäft damit an, den aller: 
ſtärkſten Aufſatz durchzulaſſen. Nun ift von dem um alle Seelen: 


1) Alerander Woftofow, eigentlich ein Ehſte Namens Oſtenek, geb. zu 
Arensburg 1781, + zu St. Petersburg, Autodidalt, Dichter und Sprachforſcher, 
Begründer der wiſſenſchaftlichen ruſſiſchen Grammatit. 

2) Franz Mikloſich, der Begründer der vergleichenden Grammatik der 
jlawifchen Sprachen nad) dem Mujter und im Geiſte Jakob Grimms. 

3, Joſef Dobrowify, geb. 1753 + 1329, der Begründer der jlawilchen 
Sprachforſchung, aud) als Hiſtoriker jehr verdient um die Erforschung der älteren 
Geſchichte Böhmens. 


378 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 


ruhe, die er jucht, gebrachten Wilhelm Karlowitich alle Polemik 
gegen die ruſſiſchen Zeitungen überhaupt verboten worden. Ich 
bin ganz einverjtanden damit, denn was fann herausfommen? Die 
Holle der Unterdrüdten iſt noch die vortheilhaftejte. Ich glaube, 
dab Wilhelm Karlowitſchs Stellung nicht jehr gefichert fein mag. 
Dan wird ihm vorwerfen, daß er die Provinzen nicht fejt genug 
zu halten verfteht. Walujews alter Lieblingsgedanfe ſoll jein, 
daß diejelben überhaupt feines Generalgouverneurs bedürfen; wenn 
er das in’s Merk jegen jollte, jo find wir gründlidy ruinirt. Und 
doch ijt W. unſer bejter Schuß; was würde unter einem Mini— 
jterium Miliutin fein. Mer weiß, was fi) auc jegt Schon für 
uns vorbereitet? Zwangsablöfung der Bauern? IyGepuckin 
yupesszenis? Alle hiefigen Dinge und Stimmungen zu erzählen 
und zu beurtheilen iſt wirklich zu weitläufig. Am beiten wäre es, 
wenn Du herfämjt; Deine Kritif fönnte uns in Vielem helfen. 
ber freilih will ih Dir das nicht zumuthen. Es iſt natürlic) 
daß Tu Deine 4 Wochen in Ruhe zu genießen eilt. Zwar 
würden auch hier nicht befondere Ovationen und Gajtereien Did) 
beläjtigen; die Menschen find im Sommer aus der Stadt weg- 
gejtoben und ich felbjt will vom 1. Juli an in Dubbeln rejidiren. 
Je nahdem Du wollteit, wäreft Du entweder dort oder auch in 
der verödelen Stadt ziemlich ungeichoren mit mir und Müller 
und höchſtens noc einem Paar der Beſſeren. Aber immerhin iſt 
es ein Umweg und vermehrte Neifebeichwer und Unruhe. Thue 
nach Deiner Bequemlichkeit! Wir jehen uns dod) wol nädjtens 
wieder, obgleich ich nicht weiß, wo und wie, An Muralts Stelle 
it nicht zu denken; ic) kann nicht ab, und eine Stelle von 1000 
Rub. pour tout tripotage ijt in meinen Jahren auch nichts 
Bejonderes mehr. In WBetersburg findet ſich wol leichter als 
anderwärts irgend ein Ertra, aber auf jo eine Mlöglichkeit zu 
jpeculieren müßie doch der unmittelbarjte Zwang fein. Außerdem 
— wer weiß, ob id) mich nicht durch die legte „Livl. Correſp.“ 
für Petersburg mehr oder weniger unmöglid) gemacht habe. Ich 
bin nun einmal bier und werde mich an der hiefigen politiichen 
Aufgabe, jo Flein fie it, verbrauchen. Selbjt mit meinen zwei 
erwähnten Abhandlungen — wer weiß ob id) zu Stande fomme? 
Zwar babe id) mid) gerade in den letzten Zeiten in Bezug auf die 
eine derjelben ſehr vollaejogen, jo daß ich ganz reif wäre, an Die 


Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 379 


Ausarbeitung zu gehen. Sie hat größere Dimenfionen angenommen 
und würde jet etwa heißen: Beiträge zur Urgeſchichte Ofteuropas. 
Aber die nächſte Folge davon ift nur gewejen, daß id) das vorläufig 
Aufgefchriebene, bis auf die betreffenden Erxrcerpte, zerrilien und 
weggemworfen habe, und wer weiß, wann id) zur neuen Abfaſſung 
fomme. Du mußt Div nichts befonders Großes darunter vorjtellen; 
namentlich ijt der linguijtiihe Weg, den Du in Bezug auf die 
finniſche Urgeichichte andeuteft, viel zu wenig von mir betreten. 
Aber was gehört ſich aud) dazu? Wieviel Zeit wenigſtens. Indeſſen 
habe id) auch auf meinem engern Pfade einige ausgezeichnete 
GColumbuseier gefunden, von denen es mir leid thun würde fie 
wieder verloren gehen zu laſſen. Beiläufig! Deine Meinuug, daß 
die Ejten nad) Tacitus feine Pferde gehabt, iſt grundlos. Die 
Fenni des Tacitus find die Bewohner des hohen jfandinaviichen 
Nordens, welches Land von Plinius und Tacitus nach Ojten ver: 
ihoben wird. Das ift eine von den Mahrheiten, die die Welt 
längjt Schon weiß und immer wieder vergißt. Am genügendften 
auseinandergejeßt ijt fie in Lehrbergs*) Unterfuhungen pag. 199 
fgg. Ich Fünnte feine Argumente nod) verjtärfen. Ich habe eine 
Neihe von Fragen notirt, die Du mir aus Büchern, die ich nicht 
habe, beantworten jollit. Für jetzt laſſe ih Did nod in Ruhe, 
außer mit einer: was jteht in Kuhn und Schleicher Beitr. 1858, 
III, pag. 275, über die Etymologie von bog? Könnteſt Du nicht 
das MWejentlichjte davon ausschreiben und mir gelegentlich zuftellen? 

Beiliegend eine Anweilung von Kymmel, der fich entichuldigen 
läßt, daß er jo lange Dein Schuldner geblieben. Er habe es hin: 
gezogen, weil er vermittelft Amwveijung auf einen jeiner Peters: 
burger Debitoren habe zahleu wollen und weil bei legteren früher 
vielleicht ein Mangel an Bereitwilligfeit zu fürchten gewejen wäre. 
Kt nun alles liquidirt? 

An Vetterlein auf jeinen heute erhaltenen Brief baldigjt 
Antwort! Ihn und Dich herzlid; grüßend 

G. Berkholz. 


*) Aug. Chr. Lehrberg, geb. 1770 zu Dorpat, * 1813 zu St. Petersburg, 
it durch feine trefflichen kritischen Forſchungen in der älteiten Gejdichte ber 
innen und Ruſſen befannt. 


380 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 


Niga, d. 20. April 1864. 
Lieber Hehn! 

Dieſes Dial war der Seelenfampf in dem Maße jdywerer 
als im Februar, als der Antrag bejtimmter, das Geld vorhanden 
und feine \ntrigue im Spiel war. Aber an den Gründen der 
damaligen Ablehnung ijt nichts geändert und ich fann nidht. Ich 
fühle — um es romantiidy auszudrüden — meine Ehre verpfändet. 
Bei wen? eigentlich bei einem Abjtractum ; denn allerdings fümmern 
fih die einzelnen Bürgermeijter, Nathsheren ze. wenig um eine 
Bibliothef. Wärs ein Waifenhaus, ein Hoſpital, das läge ihnen 
näher am Herzen. ber das Abſtractum, diefe materialijtifche 
Handelsjtadt, hat doc, eine erjtaunliche Anjtrengung gemadt, als 
fie das Bibliothefargehalt von 150 auf 1000 Rubl. erhöht; ein 
MWohledler Nat hat auf mich ?/s Jahre gewartet; er hätte, wenn 
ich nicht gefommen — das war wenigitens Müllers Plan — aus 
dem Nuslande ein gelehrtes und arbeitiames Zubject bezogen, 
das wenigitens in gewiller Hinſicht mehr geleijtet hätte, als ich je 
leijten werde. Jetzt denkt niemand an Die Bibliothef, aber bei 
meinem Abgange würde dod) die Frage rege werden, was id) 
getrieben und ob es lohne, die 1000 Rbl. weiter zu zahlen. Kurz 
ih fann nicht weggehn, ehe ich ein gedrudtes Monument meines 
Dajeins gejeßt, dadurd das Intereſſe für die Sache genährt und 
eine Nichtichnur gezogen habe, von der meine Nachfolger nicht 
ohne Motivirung abzugeben befugt fein werden. Von der zu 
hinterlajjenden äußern Ordnung ganz zu jchweigen. Es it freilidy 
Har, daß die Gelegenheit nicht wiederfehrt. Nun, jo mag jie 
nicht wiederfehren; ich habe mich vollfommen drin gefunden. Ich 
bin jegt ſogar abergläubijcd in diefem Punkte geworden, ich babe 
eine apofalyptiiche ‚eitrechnung für mich gefunden; 9 Jahre und 
etwas darüber war ich in der ägyptiichen Sklaverei des Haus: 
lehrerdienjtes; ebenfo lange in dem Ganaan der großen Weltjtadt 
und dev Hofgunjt; ich glaube, daß id) wiederum 9 Jahre hier 
mid) zu mühen habe und 1870 oder 1871 jterben werde, ohne 
Benfionsbedürftigfeit. Jedenfalls muß ich mir erft in der Neflerion 
zurechtlegen, daß mir die Petersburger Verhältniſſe, jobald ich 
mid nur wieder hineingelebt, adäquater fein würden als die 
biejigen; mein unmittelbares Gefühl oder das mit dem Alter zu: 
nehmende Bequemlichkeitsbedürfniß jagt mir: nicht mehr fid) rühren, 


Briefe von Biktor Hehn und Georg Berkholz. 381 


nicht wieder ſich jelbjt untreu werden und nebenbei — nicht dus 
Seebad in diefem Sommer aufgeben. Ein folches kleines aber 
nahliegendes Opfer, wie das legterwähnte, fällt Einem oft ſchwerer 
als an fich größere. Ich habe nämlich ſchon ein Haus am Strande 
gemiethet, wo id) meine zwei Schwejtern den ganzen Sommer 
über wohnen laſſen und jelbjt 4, hoffentlich jogar 6 Moden zu: 
bringen will. Ih Hoffe davon viel für meine Gejundheit, die 
fih ohnehin gebeilert hat, aber einer ſolchen Nachhülfe doch nicht 
unbedürftig ift. Dort am Strande werde id) auch mein zu 
dDrudendes „Monument“ aus der Rigaſchen Stadtbibliothef aus: 
arbeiten, nachdem ich mir vorher die Materialien zurechtgelegt. 
Da Du im nädjiten Sommer doch wohl nad Bernau gehſt, jo 
verlange ich von Dir, daß Du die Reiſe diejes Mal über Kiga 
madjit und ein Paar Tage bei mir in Dubbeln zubringjt. ‘Ber 
Eijenbahn Hierher und von bier nad) Bernau per Dampfidirf. 
Noch weniger hängt mein Herz an der Balt. Monatsſchrift, die 
ih von heute auf morgen aufzugeben, feinen Anjtand nähme, 
obgleich fie mid jegt mehr angenehm als unangenehm be: 
Ihäftigt. Die ‘Petersburger Gorrejpondenzen haben ihr etıvas 
Schwung und — coppemennoerp [Zeitgemäßheit] gegeben; ich 
jelbjt gedenfe die fogenannten „Livländiihen Correſpondenzen“ 
(ein unglüdlicher Titel, der ſich zufällig gemacht hat und nicht 
gut aufzugeben ijt) wieder aufzunehmen und eine Weile lang 
allmonatlich fortzuführen. Das Ding macht mir jedes mal viel 
Mühe und Efel, aber hinterdrein bin ich gewöhnlich zufrieden 
damit und werde wahrjcheinlich immer mehr Leichtigfeit in dieſer 
Art Production gewinnen. Die Dauptiadhe it, dab ich weiß was 
ih will und das weiß ich bejonders nad dem legten livländiichen 
Landtage. ch werde, wie Du es einmal verlangtejt, immer 
deutlicher mit der Spradye herausfommen. Pro ordine civico*) 
und die bereits gedrudte „Livländiſche Correſpondenz“ im Aprilheft 
find noch jehr gemäßigt, obgleih in der Sade aufrichtig gemeint. 
Für das Maiheft ſpitze ich jchärfere Pfeile. Ein günftiger Umſtand 
für meine Zeitjchrift ift, dag die Nigajche Zeitung durch einige 
beflagenswerte Zaftlojigfeiten jich alle Welt zu Feinden gemacht 
hat. Sogar ein jo durch und durch liberaler Menſch wie unjer 


*) Baltiihe Monatsichrift 1864, S. 264— 274. 


382 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 


Techniker Samjon will nichts mehr mit ihr zu thun haben. Die 
Stimme der fonjt gemäßigten und allerlei Börde und Käuze nicht 
ausichliegenden Monatsſchrift wird dejto nachdrüdlicher fein. Das 
Langweiligſte it, daß ih auf religiöfem Gebiet protejtantiich- 
rationaliftiich jein muß. Sch wäre lieber fatholiih! Aus Rüdjicht 
auf die abonirenden Pajtore und weil feine Petersburger Corre— 
ipondenz da war, habe id; ſogar die Entgegnung auf Deinen 
YJudenaufiag im Aprilheft endlih (!) abgedrudt. Der Bajtor 
Kauzmann*) war übrigens doch ein Diann von rejpectabler Courage, 
wirkliche Tiefe oder Gonjequenz iſt am Ende nicht zu verlangen, 
ich bin neugierig, was die von ihm gejichimpften „veactionären 
Theologen” dagegen thun werden. Herr Bärens von der Nigajchen 
Zeitung vergallopirte fich legtens in religiöfen Dingen, Nr. 79 im 
Feuilleton über Nathan den Weilen (falls Did) das nadyzujehen 
interejjiren jJollte); num hat er aud die liberalen Theologen gegen 
ih. Doch was jollen Dich dieſe Winfelpreffengeidyichten interejfiren, 
die auch mich nur interejfiven, weil ich mitten drin bin. Sie find 
ungefähr ebenſo unwejentlich als die bei einem Katalog der Ruſſica 
zu entfaltende Dlifrologie. Aber in Petersburg genoß ich auch 
Schöneres oder Ewigeres, das mir hier mehr und mehr abhanden 
kommt. Es war eine jonderbare Thorheit, fortzugehn, aber aus 
den angegebenen Gründen kann ich nun einmal nicht zurüd. Es 
macht mir das Herz fchwer, dab außer Dir aud Frl. Nahden 
(wie beneide ih Dich darum, fie in der legten Zeit, wie Du 
Ichreibit, oft gejehen zu haben!) und jogar auch Brevern, durch 
Delianoff veranlagt, in diejer Angelegenheit mir geichrieben haben. 
Erjtere überjchicfte mir zugleidy ein bezügliches Billet von Delianoff 
ſelbſt. Sch habe jchon heute an Frl. Rahden telegraphirt, werde 
aud; wegen des jchuldigen Danfes an Delianoff jchreiben. Wie 
ih Dir ſchon einmal jchrieb: ich denfe jet im allgemeinen nur 
an die nächſte Pflicht und das nächſte Behagen, und ich denke 
das ijt ein Standpunkt, den Du zu würdigen weißt. 

Yun nod eine Bitte! Möchteft Du nicht diejen Brief, 
nachdem Du ihn gelefen und wo gehörig das Nöthige daraus mit: 
getheilt, an Fräulein Rahden nad) Moskau ſchicken? Er ift zwar 
nachläſſig genug, aber mit einer Breite, geichrieben, die ſchwer 

*) M. Kauzmann, Zur Streitfrage über die Entwidelung der Kirche, 
Balt. Monatsichrift 1864, S. 194— 218. 


Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 383 


fofort zu wiederholen iſt und die am beiten meinen Seelenzujtand 
und meine Motive überjehen läßt. Ich glaube, es wird ihr jo 
recht fein. Unterdeſſen jchreibe ihr direct einen hierauf vermweilenden 
Brief. Der Deinige ©. Berkholz. 


Beilage. 

Vebrigens magjt Du den Brief Frl. Rahden aud) erft zu: 
jtellen, wenn fie aus Moskau zurücgefehrt fein wird. Dort hat 
fie an Anderes zu denfen. 

Tideböhl, der Did) im Klubb zu treffen gedenkt, ift ein 
feiner Kopf, auch Verfajfer des von Dir wegen der Form gelobten 
Aufjages über die Neallajten.*) — Wann Ididjt Du mir Deinen 
italieniichen Aufſatz? 


25. April 1864. 
Lieber Berkholz! 

Ich brauche Dir nicht zu jagen, mit welcher Theilnahme ich 
Deinen Brief gelejen babe. Es malt fid) darin der Drang der 
Gefühle eines ohnehin elegiicy geftimmten Gemüthes, im Augenblid, 
wo ein Scheideweg ſich öffnet und eine alte Sirenenftimme wieder 
erklingt. Sch jah Deinen Entihluß voraus, ic) würdige Deine 
Motive, und gebe Div ganz und in Allem Recht. Unſerer 
Bibliothek anzugehören, ijt in jeßiger Zeit fein Glück. Die Herren 
von der Akademie entpuppen ſich immer mehr als gräuliche Bhilijter 
und Kaiſ. Ruſſ. Wirkliche Staatsräthe. In der officiellen und 
Literaturwelt herricht ausjchließlih Antipolonismus mit Allem, 
was damit zujammenhängt. Die frühere breite, von Sfrupeln 
freie Wirthihaft, in deren Element es jo angenehm war zu 
ihwimmen, iſt eimer bittern Geld: und Finanznoth gewichen. 
Rechne dazu das hyperboräiſche Sumpftlima und Du haft das 
Petersburger Leben, das Did hier erwartet. 

Deine apofalyptiihe Rechnung ift hoffentlid nur geiftreicher 
Spaß. Sonderbar, daß ich früher einen ganz ähnlichen Aber: 
glauben hegte: nur dal meine Periode fürzer war und fi) auf 
5 Jahre belief. Da aber in den Jahren 1856 und 61 garnichts 


*) Dir Ariſis der firhlichen Neallaiten, Balt. Mon. 1864, ©. 1-43. 


384 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 


Beſonderes mich betroffen hat, fo habe ich widerjtrebend mid) über: 
zeugen müflen, daß das Frühere einfady Zufall gewejen. 

Mit freudiger Ueberrafhung empfange id) die goldene 
Meldung, daß Dir zwei „zum Theil ſchon geichriebene” Ab: 
handlungen vorliegen: zur Urgeichichte der Litauer und Letten 
und zur alten Geographie Litauens und Kurlands. Eine dritte 
Abhandlung möchte ich mit Dir zufammen jchreiben: „Ur: und 
Kulturgeſchichte der Ejten, reſp. Finnen, erjchloffen aus der Sprade 
derfelben.” Es ijt merkwürdig, wie ſich die ältejten Berührungen 
der Ejten mit Germanen, Slaven, Litauern, die Völkerſtellung 
dieſer nordöjtlihen Gegenden in den Namen für Kulturbegriffe 
ipiegeln. Es giebt Wörter, Die nach Aſien weiſen und von den 
ungetrennten Indogermanen aufgenommen jcheinen, 3. B. Todter, 
Schweiter; andere, die germaniich find, aber vor der beutichen 
Lautverfchiebung entlehnt, z. B. kana Huhn, kara Haber; andere, 
die Jcandinavisches Gepräge tragen; noch andere, die rein jlaviich 
find u. ſ. w. Dazu kommt ein jchwerwiegendes, chronologiſch be- 
jtimmtes, ausführliches Zeugniß, das des Tacitus, aus dem wir 
unter Anderem erjehn, dab die Eſten am Ende des erjten Jahr: 
hunderts nad) Chr. den Aderbau, das Pferd u. j. w. nicht Fannten. 
Ich habe Manches für diefen interejianten Gegenjtand gejammelt, 
aber ein bejonders mächtiger Kultureinfluß war der der benad)- 
barten Litauer — deren Sprache mir unbelannt ift, jo daß ich 
nicht beurtheilen fann, was im Eſtniſchen lettiſch oder vielleicht 
umgefehrt im Lettiſchen eſtniſch iſ. Und da müßteſt Du ein: 
treten. Was meinjt Du zu einer jolden Dioskuren-Nrbeit und 
lohnt ſichs das Ding weiter zu verfolgen? Jetzt Gloſſen zu einer 
andern Stelle Deines Briefes. Ih hatte gejagt, Dein Auflak 
pro ordine civieo jei zu gedrängt, und Du fügit hinzu: „Daraus 
erjiehft Du meinen mangelnden Beruf zur politiſchen Schriftjtellerei.” 
Du haft zu jeder Art Schriftitellerei Beruf und zwar eminenten, 
und was Dir fehlt ift nichts als Entichloffenheit. Ich wollte mit 
meinem Urtheil feinen Tadel, ſondern gerade das höchſte Lob 
ausiprechen. Ich meinte nur: da Du nicht lauter Leſer haft, wie 
mich, der ich eine joldhe Behandlung zu genießen weiß, fo ift es 
Verſchwendung, Scüjjeln von purem Golde aufzutragen. Ein 
Hermerer als Du hätte daraus zwei lange Artikel gemadt. Du 
fährjt fort: „Mir fehlen aud allerlei Worbedingungen, ich bin 


Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 385 


z. B. in der hiftoriichen Literatur ungemein unbelefen.” Wieder 
nur Deine Nengitlichkeit! Wer kann Alles lefen! Gebildete Leute 
von unjerm Sclage erjegen durch Witterung, was Andere durch 
mübjelige Autopfie nicht erreihen. Glaubſt Du, ich hätte das 
Alles genau jtudirt, worüber ich mir erlaubte in den Petersburger 
Gorreipondenzen ein Urtheil abzugeben? Ich horchte halb hin 
und verließ mich auf mein Gefühl. Und wenn auch etwas mit 
unterläuft — — die nächſte Welle verjchlingt das Richtige und 
das Falſche! Journaliſtik ift emphemer und Deine Kenntnik und 
Belejenheit reicht für die baltiſche Monatsfchrift taufendfach aus. 

Daß wieder livländiiche Correipondenzen fommen jollen, it 
eine zweite höchſt erfreuliche Nachrich.. Warum wäre der Titel 
unglüdlih gewählt? Er ijt unbeitimmt genug, um für Alles Raum 
zu laffen. Daß Du bei der Production Mühe und Ekel empfindet 
und binterdrein zufrieden bit, ift ganz mein all und das Gejek 
alles Gebärens. Dein „Monument“ aus der Stadtbibliothek 
läßt mich falt. Verſchwende doch nicht zu viel Zeit und Nerven: 
ſubſtanz an ſolche Banaufia. Wozu find die Nathsheren anders 
da, als um einem Genie, wie Du Brot zu geben? Daß Dir der 
Muth fehlt, an die Ausarbeitung gewiſſer philoſophiſcher Themata 
zu geben, begreife ih; Du haft ſchon zu lange damit gezögert; 
man glaubt den Schak wohl geborgen zu haben, man glaubt fich 
Meifter ihn jederzeit zu heben: unterdeß aber wird er immer 
leihter und verfinft zugleid immer tiefer und fängt man einmal 
zu graben an, jo ift, ehe man noch an das Dietall gelangt, Die 
Stunde der Weihe verflogen. Nicht einmal, — zwanzig Mal ijt 
es mir jo im Leben gegangen. Werke: Gehe an feine Arbeit 
unvorbereitet, aber laſſe auch Feine Idee ſich verliegen. Verdrießlich 
ſtimmt mich die Nachricht, daß den Redacteuren der Rig. 3. ge: 
kündigt worden. Und von wem? von einem unverſtändigen Buch— 
drucker. Taktloſigkeiten habe ich in der Ferne Feine bemerkt; läſtig 
war mir umgekehrt das ewige Spiel con sordino. it denn bei 
uns folcher Ueberfluß an politischen Talenten und journalijtiichen 
Kräften? Eine neue Zeitung gründen, ift ein jchwieriges, weit- 
ausſehendes Geichäft, etwa wie einen Obſtbaum pflanzen: erjt nach 
zehn Fahren fommen die Früchte. Da aud) Kapital dazu gehört, 
wäre es nicht am beiten, die Rig. Zeit. dem jetigen Beſitzer ab: 
zufaufen? Rege doc) das Ting an, ftiftet eine Compagnie dazu, 


386 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 


ſchafft Geld herbei. Ein bejtehendes, weitverzweigies Organ darf 
eine Partei fih nicht aus Händen gehen laſſen. Dem Hermann 
Samjon, mit dem ich bier über die Sache geiprodyen habe, jchienen 
feine Angriffe gegen das Blatt leid zu fein, er empfand offenbar 
Reue und bat mich zuleßt, Dir über die Idee des Anfaufs zu 
Ichreiben, damit Du fie weiter verbreiteft. 

Zu Dftern find unendliche Avancements erfolgt. Stieglig 
hat die Krone auf feinen Annenjtern befommen, eine winzige 
Auszeichnung, die aber die jühlanre Stimmung gegen ihn bezeichnet. 
Brantwein wird hier und im ganzen Neich im ungeheuerften Maß 
gejoffen, man freut ſich über die unverhoffte Einnahme und bedenft 
nicht, daß in nächiter Zukunft alle übrigen Stenerquellen um jo 
Ipärlicher fließen müſſen. 

Schleiden iſt bier und hat eine Vorlefung gehalten, die Die 
Gelehrten trivial gefunden haben, die aber dem Niveau des hiefigen 
deutichen Bublifums angepaßt war. Die Alademie der Wiffenichaft 
fürchtet, er werde ihr als Mitglied octroyirt werden und feindet 
ihn an. 

Dein Brief ift an Frl. Rahden nad) Moskau abgegangen. 


Schreibe doch recht bald Deinem ®. Hehn 


26. April 1864. 
Lieber B.! 

Da fite ich wieder und jchreibe an Did, nachdem mein 
voriger Brief faum troden geworden. Deine Contreordre wegen 
der Ueberfendung an Frl. Rahden Fam zu jpät, der Brief war 
Ihon nah Moskau abgegangen. Ich fand nichts Anftöhiges darin, 
auch wird es ihrem Herzen jchmeicheln, jo ins Vertrauen gezogen 
zu werden. Du fragjt mich, ob Delianoff an Deiner Herkunft 
wirflih gelegen ſei? Da ihm an garnichts in der Welt ernftlich 
gelegen iſt, da er feines Aftekts, Feiner Willensregung fähig ift, 
da er in afiatiicher Weife immer nur auf die Vergeblichfeit des 
Menſchenlebens überhaupt zurüdfommt, jo war er aud in diefem 
Fall nur das Werkzeug der beiden Hoffräulein, deren er vielleicht 
einmal zu bedürfen glaubt. Er ift gebildeter als Korff, aber 
Ichlaff über alle Vorftellung, ohne eine elaſtiſche Fiber. Er iſt 
gutmüthig, d. h. zum Böjen zu ſchwach. Etwas Ehrgeiz und 


Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 387 


armeniſche Schlauheit ftedt im Hintergrunde. Mie fi) Sobolſch— 
tichifoff*) zu Dir verhält, ijt mir ebenjo unklar, als Dir, Deine 
wiſſenſchaftliche Neberlegenheit, Deine fittlichen Forderungen müßten 
ihm eigentlih unbequem fein; andrerjeits aber fennt er Dich als 
einen unfchuldigen, von perfönlichen Motiven freien, in Intriguen 
neuen, alſo ungefährlihen Jüngling, der, wie er glaubt, fein 
Spiel nicht durdyichaut und feine Kreife nicht ftört. 

Dich amüfirt, was Du von Greiffenhagen fchreibit. Wenn 
id) einen Einfluß auf die Sache hätte, jo würde ich den Nevaler 
Herrn Folgendes vorftellen. Wozu Polemik, wo es fih um feinen 
prinzipiellen Gegenfaß, fondern um eine bloße Reibung zum Spaß, 
um Nederei handelt? Mache er ein Baar Wise in heiterm Ton 
gegen mich, die wird der Cenfor doch durchlafien. Daß der Artikel 
geftrihen worden, beweilt, daß Hr. Greiffenhagen die Sache zu 
ernithaft genommen hat, — ja welche Sache ceigentlih? Ich weiß 
es wahrhaftig nicht. Dieler Herr Cenfor Blagomeichticheniti ift 
derjelbe, der in feiner Broichüre „Der Eſte und fein Herr“ fo 
liberal that — gegen die Deutichen! — Die Jdee mit ejtländifchen 
Gorreipondenzen ift prächtig, das ift die Art die Monatsschrift zu 
heben. Empfiehl ihm einen recht lebhaften Ton: mich braucht er 
garnicht zu Schonen, wenn es ihm der Mühe werth jcheint, ich 
mache mir garnichts daraus. 

Mit der gewöhnlichen Bitte, mein jchnelles Gefchmier feiner 
Stilfritif zu unterwerfen, vielmehr durch ein gleiches zu erwiedern, 

Dein alter Freund ®. Hehn. 


Du jchreibft mir nie etwas über Müller — feid Ihr aus: 
einander? Grüße ihn herzlichit von mir. 


Den 18. Juni 1564. 
Lieber Berfholz! 
Es ift höchſt ärgerlich, da die Ball. Mon. den Weg von 
Niga hierher jo langiam zurücdlegt. Das Aprilheft ift noch immer 
das neuefte für uns und ich Tann Dir daher über Teine leßte 
Eorreipondenz nichts jagen. Ich bin im Voraus überzeugt, daß fie 
vortreftlich — gedanfenreich und metalliih — ausgeprägt — Jein 


*) Oberbibliothekar an der K. D. Bibliothek. 


388 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 


wird und daß Dein nachträglicher Kleinmuth aus Hypochondrie 
hervorgeht. Schirrens lange Antwort wird von Einigen als 
Meifterftüf bewundert, ich finde fie immer noch verfünitelt. 
Spaßhaft ift es, daß die Mosf. Zeitung aus den Drafeln des 
Tageblatts das eigentliche Syſtem und die wahre Abficht vergeblich 
herauszufinden fucht. 

Deine Befürchtungen als fönnte Jwangsablöjung der Bauern, 
Brovincial- yapesgenin u. ſ. w. bevorjtehen, halte ih für 
verfrüht. Die Oſtſeeprovinzen haben erjtens einflußreiche Vertreter, 
zweitens iſt doch Fein Aufitand vorangegangen. Aber in der 
Nationalität der Bauern wird man fi ein Werkzeug für alle Falle 
vorbehalten und daſſelbe ſich nicht entwinden laſſen. Gewiſſens— 
freiheit it jeßt in mweiterm Felde als jemals. Ließe der Fana— 
tismus fie zu, Politit würde dagegen fein. Auf die Volksſchulen, 
glaube ih, wird der Angriff zunächſt gerichtet fein: man wird 
verlangen, dab der Unterricht, wie in Littauen, in ruſſiſcher Sprache 
gegeben werde, vielleicht daß fortan alle lettii hen Bücher, wie die 
littauifchen in Wilna, mit cyrilliichen Lettern gedrudt werden u. |. m. 
Die Sprade, fann man jchon jegt lejen, eignet fih als eine 
halbſlaviſche vortrefflih dazu, fie hat gleichlam auf das cyrilliſche 
Alphabet nur gewartet u. |. w. Neulich fand ich gedrudt Pyccko- 
Maxanuckan HapoanoeTps: in dem Gompofitum drückt fich die 
im Werf befindliche Schmelzarbeit gut aus. 

Zu meiner Nechtfertigung in Betreff der Finnen führe ich 
an, dab, da Tacitus die Finnen in einem Athem mit den Sar 
maten und Wenden nennt, mir Sfandinavien natürlicher Weiſe 
nicht in den Sinn fommen fonnte, zweitens daß aus feiner Nachricht, 
die Veneter führten ein Näuberleben in den Wäldern und Bergen 
zwiſchen Peucinen (im Südojten in der Karpathen: und Donau: 
gegend) und den Finnen, der Schluß erlaubt fchien, feine Finnen 
jeien das große Jumala-Volf, das von der Oſtſee quer durch 
Rußland bis zur mittlern MWolga und zum Ural von der Jagd 
lebte und Pferde, Häuſer und den Gebrauch des Eiſens nicht 
fannte. Die von Dir angeführte Stelle Yehrbergs habe ich nad): 
gelejen, finde aber dort eigentlich nur den einen Grund, die mira 
feritas und foeda paupertas (zu Tacitus Zeit) paſſe nicht zu 
dem Kulturjtande der Finnen und Eſten (zu Lehrbergs Zeit). 
Und doch Haben beide ihr Wort für Schaf direft aus dem 


Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 389 


Sothifchen, für Wolle aus dem Xettifchen, für Bett (cubile) 
aus dem Altnordilchen; auc) die Nusprüde für Bferd, Kupfer (das 
ältejte Metall) und Pflug find des Jndogermanismus verdächtig. 
Das Wort für Haus (maja) jtammt aus dem Yettifchen.*) Was 
bleibt übrig als mira feritas? und brauchen wir unjere Zuflucht 
in den hohen jfandinaviihen Norden zu nehmen, um Tacitus 
Schilderung wahr zu finden? 

Deine Fragmente über Jtalien ſchicke ih Dir unfehlbar von 
Bernau mit dem Dampfboot. Du wirft dann jehen, ob fie ſich 
für Dein Blatt eignen. Denn daß Du fie nicht etwa murrend 
aufnehmejt, aus Freundichaft oder früheren Verjpredyens wegen, 
darum bitte ich ernjtlih. Das Ting ift 1) an ſich langweilig, 
2) für die Balt. Mon. fremdartig, 3) halb belletrijtiich, halb 
gelehrt, mit lateinischen und griediichen Citaten, alfo nicht Fiſch, 
nicht Fleiſch. Zugleih jo lang, daß es durch wenigjtens drei 
Nummern geht. Webrigens ijt das Ganze zu jo verjchiedener Zeit, 
mit wechlelndem Intereſſe zulammengeftoppelt und dann wieder 
durch Ueberarbeitung jo künſtlich zu jcheinbarer Einheit gebracht 
worden, daß ich felbit alles fichere Urtheil darüber verloren habe 
und Deine Hritif erwarte. — Ueber den mir gemachten Vorjchag, 
Neijebegleiter in Jtalien zu fein, fchreibit Du fein Wort — Nbficht 
oder Vergeplichkeit? Warum läßt Du mich mit Deinem Rath und 
Deiner Erfahrung im Stih? Wahr ift freilid, dab das Neden 
bei einer Sache, die ficherlid nicht zu Stande fommt, doch ver: 
geblich ift. Lieber wäre es mir natürlid, wenn die dee dort 
aufgegeben wird, als wenn ich der Verweigernde bin. 

Vorftehendes Blatt hatte ich geitern vollgejchriebeu, da leſe 
ich Heute einen Artikel im Denj, der meine Vorausfagungen be: 
ftätigt. Es find Klagen eines Eſten über Bedrückung — nicht 
politiich bürgerlicher Art, jondern Bedrückung durch Deutichthum, 
deutiche Sprache, gewaltſame o6ubmeuenie; lauter freche Lügen 
oder perfide Halbwahrheiten, verfaßt wahrjcheinlich von irgend einem 
rulfiichen Lehrer oder Beamten in den Oftieeprovinzen. Die Mos— 
fauer Zeitung nimmt den Artifel auf und fügt Hinzu, fie habe 


*) Zu dem hier Bemerkten ift Thomfens epochemachende Arbeit: Beröringer 
mellem de finske og de baltiske Sprog, Kopenhagen 1890 zu vergleichen, 
durd die Hehns Annahmen theils berichtigt theils beitätigt werden. 


7 


⸗ 


890 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 


ähnliche Artifel von Letten befommen, fie aber nicht aufgenommen, 
um die Verfaller nicht Verfolgungen auszufegen! Jener 
Eſte im Denj jagt, wenn fein Volk einmal auf dem Wege einer 
fremden Sprache ſich bilden follte, To ſei die ruflifche, die all: 
gemeine Reichsſprache, dazu paflender, als die deutſche, u. ſ. w. 

Noch niemals war die Yage der baltischen Yänder eine fo 
gefahrvolle als jegt! Der Kaukaſus ift unterworfen, Polen gründlich 
gebändigt, Finnland arm, hungernd und vorläufig nad Hauſe 
geſchickt. Und die Landtage, die nichts oder jo gut wie nichts 
gethan haben! Noch immer glaube ich, daß liberale Reformen, 
und zwar in kühnem unbejchränfterm Geilte, das befte Mittel 
gewejen wären, den Sturm zu beichwören. Die papiernen Frei: 
briefe find nur in den Augen von Stubengelehrten, die die Welt 
nicht kennen, oder von frommen politiichen Kindern eine Schußwehr, 
in Wirklichkeit find fie ein Spielwerf und noch weniger. 

Dein Wedel it realifiri und der Erlös mit Vetterlein 
getheilt. ch reife zu Johanni nach Pernau, dahin erbitte id) 
Deine Antwort. Laſſe fie nicht wieder fo lange ausbleiben. 

In alter Freundichaft Dein V. 9. 


Bernau, 24. Juli 1864. 
Lieber Berkholz! 

Beiliegend das verjprochene Mſer. Du wirft über drei 
Fragen zu enticheiden haben: 1) der Gegenjtand zu fremdartig 
oder nicht? 2) das Ganze zu umfangreich? 3) die Behandlung 
zu gelehrt für den Leſerkreis der Balt. M.? Entſchließeſt Du Did) 
zu der Aufnahme, jo könnte dreifady getheilt werden: Pr. 1—4, 
5—7 und 8. Thu Dir im Uebrigen feinen Zwang an; fannjt Du 
das Ding nicht brauchen, jo bleiben mir ja immer nod) Auswege 
genug. Cine neunte Nummer ift in der Subſtanz jchon fertig, 
aber noch nicht ausgearbeitet; fie betrifft die italieniſche Sprade 
und würde halb geiftreih, halb philologiich ausfallen, natürlich 
auf dem Grunde von Diez und ‘Bott. Füge ich) dazu noch ein 
Nachwort, das ich auch ſchon im Kopfe habe, jo würde das Ganze 
ein Bücelchen geben, nicht Ichlechter als jo manches Andere, was 
gedrucdt wird. Einen paſſenden Titel will id) mir noch ausdenfen. 


Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 891 


Deine Antwort erbitie ich mir nad Petersburg — da mein biefiger 
Aufenthalt zu Ende läuft —, To wie eben dahin das Manufcript 
bei erjter Neife:Selegenheit, im alle es Dir nicht zuſagt. Wie 
id) aus einer Inhaltsanzeige in der Nigiichen Zeitung ſehe, haft 
Du ja einen neuen Petersburger Correipondenten, ich bin jehr 
neugierig auf die Art, in der diefer das Ding angreift; jo wie 
darauf, ob ich den Namen des Mannes errathen werde. Deine 
Antwort an die Moskauer Zeitung im Maiheft ift ausgezeichnet, 
würde: und gedanfenvoll, und zugleich wie far im Vergleich mit 
dem gemwundenen und orafelnden Halbdunfel Schirrens im Dorpater 
Tagesblatt! Einzelne Stellen freilih mußte id) beim Genuß des 
Ganzen bei Seite laſſen 3. B. das Rechenexempel, wonach jo und 
jo viel Millionen Köpfe die entiprechende Anzahl Genies geben 
müffe, ohne Rückſicht auf die Qualität der Köpfe. Doch vielleicht 
waren das nur Ddiplomatilche Gonceffionen und vielleicht gehört 
eben dahin die angenehme Ausficht, die Du uns eröffneit, nad) 
vier bis fünf Generationen — warum gerade jo viele — moskowitiſch 
zu werden? In Summa, das Mihtrauen, mit dem Du in einem 
Briefe von diefer Deiner Arbeit ſprachſt, iſt ganz ohne Grund. 
Das hätte Keiner beſſer gemadt. Noch hat ſich der veriprochene 
Nevaler Correipondent, Greiffenhagen, nicht hören laſſen. In 
Neval hörte ich von ihm, er jei ein Schüler Stahls, ein frommer 
Ehrift, feudal gelinnt, und der Liberalismus der Nev. Zeit. nur 
Stadtbürger-Empfindlichfeit gegen den Adel, alſo gleichfalls ſtändiſchen 
Urſprungs. 

Von Frl. Rahden habe ich bis auf den heutigen Tag keine 
Zeile. Die Zeitungsnachricht, daß die Kaiſerin einen Ausflug nad) 
Italien maden werde, läßt mich hoffen, dab die Großfürftin 
ihren Reifeplan geändert und ic) aus dem Spiele bleiben werde. 
Ich lebe Hier ſybaritiſch, ganz in einem jchönen Garten, unter 
Blumen und Bäumen, bin nach Herzenslujt dumm und faul, und 
fämen nicht jo viel Falte, regneriiche Tage dazwilchen vor, jo 
würde mir garnichts fehlen. Ic hoffe, Dubbeln wird Dich ftärfen 
und erfriichen. Als Briefichreiber fann ih Di aber garnicht 
mehr loben; zur Zeit als ich noch Monats-Mitarbeiter war, da 
erhielt ich zum Lohn häufig ein Blatt von Dir; jetzt läßt Du 
mich laufen und vergeblich auf Antwort harren. Auch Vetterlein 


in Petersburg ift jtumm und hält jein Wort nicht. 
2* 


892 Briefe von Beltor Hehn und Georg Berkholz. 


Lebe wohl, erjchrid nicht allzufehr vor dem dien Mſer., 
das Du durchftudieren jollit, und jchreibe bald 
Deinem alten Freunde V. Hehn. 


St. Peteräburg, Mittwoch Abend, d. 12. Auguft 1864. 


Lieber Berkholz! 

Meine Sendung nebjt Brief haft Du doc wohl erhalten? 
Ich warte mit Ungebuld auf Dein Urtheil und irgend eine Ent: 
Iheidung. Erjt dann fann ich wieder an eine bejtimmte Arbeit gehen. 

Deine Antwort an die Moskauer Zeitung hat, jo weit id) 
einfichtsvolle Leute babe urtheilen hören, ungetheilten Beifall 
gefunden. Im biefigen Höchjten Divan ijt darüber Berathung 
gepflogen worden und man hat bejchloiten, die Genforen anzu: 
weiſen, feinerlei Erwähnung oder Widerlegung des Artikels in 
ruffiihen Blättern zuzulaſſen. Du weißt, daß die rujfiihe St. 
Petersb. Zeitung noch das einzige unabhängige unter den hiefigen 
Blättern war und dab es deßhalb unermüdlih von der Genjur 
verfolgt wurde. Nun bat man dem Nedacteur Korich (Bruder 
der Frau Kawelin) plötzlich unterjagt, die ausländiichen Blätter 
cenjurfrei zu beziehen, was doch allen übrigen Nedactionen geitattet 
it. Auf feine Beſchwerde hat er zur Antwort erhalten, die 
Haltung eines Journals jei mißliebig; wolle er mit der Regierung 
gehen, jo werde man ihm dieſen und nod andere Vortheile zu: 
geitehn; in Nebenfachen wolle man ihm freie Hand laſſen, aber in 
wejentlihen Fragen (Kpynuble Bonpoert) verlange man Überein: 
fimmung; jo dürfe er 5. B. in Agrarangelegenheiten nicht gegen 
die Mosfauer Zeitung auftreten, die die Anfichten der Regierung 
darjtelle u. j. w. Korſch iſt noch ungewiß, was er thun fol. Du 
fiehit aber, daß Malujeff das Ding verfteht und daß ihn feine 
Sfrupel plagen. Im einem nur ijt jein Regiment ſanft und wohl: 
thätig: er hat fi) religiöje Freiheit auf die Fahne gejchrieben 
(wie doch Jeder ein Abzeihen haben muß; es hätte aud ein 
anderes fein fönnen), freilich nur in Bezug auf die Eecten Rußlands, 
aber bei der Nnalogie beider Verhältniffe kommt dies aud) der pro- 
teſtantiſchen Kirche und den Djtjeeprovinzen zu Gute. In den 
nächſten Tagen joll wieder ein Stüd Toleranz gegen die Rasfolnifs 
vor den Reichsrath kommen. — Bon Frl. Rahden iſt mir bis 


Briefe von Viltor Hehn und Georg Berkholz. 393 


heute feine Nachricht zugefommen. Sch bin überzeugt, daß der 
Brief geichrieben worden, aber verirrt ilt. Unmöglid kann fie 
nach dem direct formulirten Vorichlag die Sache ſchweigend begraben 
und mid) in der Ungewißheit bangen und bangen laſſen wollen. 

Von meinem Aufenthalt in Bernau ift garnichts zu melden 
— darin liegt das höchjte Lob. Die Nüdreije war durch Sturm 
und Regen höchſt peinvoll. Auf jeder Station nnterhielt ich mic) 
mit den Poſtkommiſſären, fand aber feine Ideen vor als Anfichten 
über Weg, Wetter und Erndte; Nichts von der Juſtizcommiſſion, 
vom Delegirtenlandtag oder vom Privilegium Sigismundi Augusti. 
In Belgien it gleichzeitig jeder Scinderfneht und Taubjtumme 
voll geweſen von dem Kampf der Kirche und des Liberalismus 
und dem Benehmen der Hlericalen Deputirten. Bei uns jchläft 
noch Alles tief, tief. (a propos Belgien: Dort ift der Katho— 
licismus mädtig in den Provinzen mit vlämiicher Bevölkerung, 
der Liberalismus überwiegend in den walloniſchen Gegenden; ein 
Deputirter ift gewählt worden, bloß weil er Vlame war, troß 
abweichender politischer Gefinnung. So hängt der allgemeine 
Bincipienfampf mit feinen Wurzeln doch wieder im nationalen 
Erdreich und das Zujammenleben von Wölfern verjchiedenen 
Blutes und bejonders verjchiedener Kulturberfunft ift und 
bleibt ein fchwieriges Problem und nicht immer förderlid. Dod) 
darüber wäre viel zu jagen.) In Neval hörte ich wieder 
manches Curioſum. Die Stadt iſt wirflid ein Pompeji des 
Mittelalters. Sie bauen jept zwei eſtniſche Kirchen gleichzeitig, 
beide fich gegenüberliegend, die eine gehört dem Dom, die andere 
der Stadt. Beide find arm und man fürdtet, der Bau werde ins 
Stoden fommen, aber vereinigen wollen fie ſich nicht, erboßen fid) 
vielmehr immer mehr gegen einander. Der Häuferwerth ſinkt 
immer mehr. Dir fiel ein, daß es doch fein jchöneres Symbol 
und Wahrzeichen für das heutige Neval giebt, als den Duc de 
Groir:*) er jcheint lebend, iſt aber todt, er ijt jehr leicht, aber 

*) Carl Eugen Herzog von Eroir, geb. 1661, kämpfte zuerſt in Faijerlichen 
Dienjten tapfer gegen die Türken, jtand dann 1697 in ſächſiſch-polniſchem Dienite, 
fommandirte das ruffiiche Heer in der unglüdlichen Schlacht bei Narwa 1700, 
mußte fi den Schweden ergeben und wurde nad Reval gebracht, hier ſtarb er 
am 20. Januar 1702 und wurde in der Kapelle der Nikolaifirche beigejeht. Sein 


unverwejter Leichnam wurde als Merkwürdigkeit gezeigt, bis ihm der General: 
gouverneur Sumorom bejtatten ließ. 


394 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berfholz. 


nur weil er ganz vertrodnet ift; er trägt nod) Spißen und jeidene 
Kleider, aber fie find ganz verichoflen und verjchollen. Reval ift 
nur noch Badeort und lebt von den Broden Petersburgs. Waſſili— 
Oſtrow ift Neu Reval, bevölfert von Nevalitern, die dort als Hand: 
werfer ohne Zünfte und als Kaufleute mitten im Kurs: und 
Kreditweſen des neunzehnten Jahrhunderts leben. Einen Fortichritt 
habe ich indeß in Neval bemerkt. Es giebt jet eine Landungs— 
brüde; früher lief der Petersburger Badegaſt Gefahr, im Angeficht 
des Dlai wie Fiescho ins Meer zu fallen. 

Ich nehme das neue Blatt bloß um zu ſchließen. Ich habe 
mid) wieder verſchwatzt und möchte Deine Kunjt kurzer Briefe 
befigen. Schreibe mir bald, damit ich erfahre, wie es Dir gebt, 
was Du vorhajt und wie Dir Dubbeln bekommen, insgleichen 


was aus dem Manujcript wird 
Deines Freundes VB. Hehn. 


Zur Baerjtiftung find 6 bis 7000 Rbl. zufammengefommen, 
eine lumpige Summe, bejonders wenn man bedenkt, wie unerbört 
gebettelt worden ift im ganzen Reich und daß Stieglig allein 
taujend Rbl. gegeben hat. 


Higa, d. 16. Aug. 1864. 
Lieber Dehn! 

Dein Opus dankbar erhalten und joeben auch Dein neuejtes 
liebenswürdiges Schreiben. Im Bewußtjein meiner Schuld und 
gerade heute wegen ungeheurer Verjchnupftheit und wegen eines 
chrijtlichen Feiertages zu Haufe figend, eile ih Dir endlich auch 
wieder zu jchreiben. 

Das Dubbelniche Unternehmen befam mir nicht, d. h. id) 
machte die Erfahrung, daß es mit dem Seebad nidhts für mid) ilt. 
Es rief den im Sommer jchlummernden Nheumatismus gerade 
hervor, jo daß id es aufgab und faum 14 Tage zufammenhängend 
am Ztrande gelebt habe. Das falte Bad it für die Jugend, den 
Alten geziemt Gaſtein oder Wildbad, vielleiht auch Nemmern. 
Im Uebrigen fühle ich mein Thun immer unmejentlicher und 
meine Lebenslujt immer jchwäcder werden. So lange man fich 
einbilden fann: Das Rechte fommt noch, iſt es ganz etwas Anderes, 
als wenn man fih verfichert hat, über lauter inadäquate Beſchäf— 


Briefe von Biltor Hehn und Georg Berkholz. 395 


tigungen nicht mehr hinausfommen zu fönnen. Tibdeböhl, der 
Landmarjchall*) und noch Andere utilifiven mic) oder möchten mid) 
utilifiren, immer im Namen des ‘Patriotismus, Ddiejes mir doch 
aud) inadäquaten Princips, und unterdeijen häufen ſich die Biblio- 
thefarbeiten bergehoh. Nun kommt noch der Tilly Peterſen, der 
hier ein Herder-Vionument jegt und, ein Tyrann wie er ift, mid) 
nicht losläßt, daß ich die Rede halten joll.**) Das fann idy ja 
eigentlich garnicht. Wo haft Du denn das her, dal meine Antwort 
an die Mosf. Ztg. im „Divan“ vorgelegen hat? Das wäre das 
größte Compliment zu den vielen, die ic) von jehr verjchiedenen 
Seiten, aud) von unjern Junfern, zu hören befomme. Nur der 
Zandmarjchall bewies mir, daß er ein wirklich gebildeter Menjd) 
ift, indem er meinen Aufſatz „Zur Nationalitätenfrage* im Juni- 
heft weit über jene „Livländiichen Gorrejpondenzen” ***) jtellte. Denn 
wenn man die Umjtände fennt, jo muß man allerdings den erjt: 
erwähnten Aufſatz für das Beſte halten, was id) in politieis 
geschrieben. Aber dem Gros it dergleichen zu fein. — Ich will 
Did) doc) darüber aufklären, warum Du die B. M. jo jpät zu 
leſen bekommſt. Es liegt nicht an der Verfendungsart; denn alle 
nad) Petersburg gehenden Eremplare werden jofort, jogar vor der 
hiefigen Austheilung, per Poſt abgeichidt. Es liegt an der jchechten 
Wirthichaft im Klub. 

Was nun „Italien“ betrifft, jo beträgt das Ganze nur 
4'/4 Bogen in dem Drude der B. M. und ijt aljo feinesiwegs 
zu umfangreih. Ich würde es nad) der von Dir angegebenen 
Dreitheilung im Uctober, November und December ericheinen 
lajjen, den nod in Ausſicht gejtellten Nachtrag, je nachdem, ent: 
weder mit dem dritten Stüd zujammen oder in einem der erjten 
Hefle des Jahrgangs 1865. Zu fremdartig ijt das Thema mir 
nicht, komme ich doch immer mehr zu der Anficht, daß unjerem 
Publikum allerlei Prämiſſen fehlen und daher von weitem aus: 
geholt werden muß. In der nächſten Zeit wird es aud aus 
Genfur: und andern Gründen mit local-baltiichen Aufjägen ziemlid) 
ſchwach gehen. In das gegenwärtig in der Mache befindliche Heft 


*) Fürſt Paul Lieven. 

**) Die vortreffliche, des Gegenſtandes volllommen würdige Rede ilt 
abgedrudt in J. v. Siverd Schrift: Herder in Riga, 1569. 

**) Balt. Monatsichrift 1864, S. 93— 96. 


396 Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 


nehme ich ſogar einen ſehr trivialen Reifebericht aus Egypten und 
vom Suezfanal auf, eigentlih nur weil der fich unterfchreibende 
Verfaffer ein livländiicher Yandrath und Graf iſt, alfo ſämmtliche 
eonfratres mit Neugier darnach greifen werden; wie follte ich denn 
einen Aufſatz verichmähen, der von einem im Lande ebenjo populären 
Autor kommt und nicht trivial it? Und die Hauptſache ift das 
Gift, welches der frommen Denfart ziemlich unbemerkt beigebradht 
wird. Hätte man nur mehr dergleidhen. Hätteft Du mir den Aufſatz 
nicht ganz geben wollen, jo würde ich Dir vorfchlagen, doch den 
Abſchnitt Pro populo Italiano und vielleicht noch den einleitenden in 
der B. M. „aus einem nächitens erjcheinenden Buche B. Hehns“ 
drucden zu fallen; jo aber fchlage ih Tir vor, das Ganze doch 
auch als Buch herauszugeben, indem ein paar hundert Separat: 
abdrücke auf beiierm Papier und ganz in Buchform gemacht würden. 
Vebel ift es dabei freilid, daß das Format der B. M. nicht das 
geeignete und die Schrift zu Fein und auch nicht eben ſchön it. 
Kleineres Format und größere Schrift würden das Büchlein dider 
und eleganter machen. Die often der Separatabdrüde wird 
Kymmel Dir natürlich vom Honorar abziehen, aber jo kämeſt Du 
doch aucd ins Ausland. Schreibe darüber. — Schreibſt Du nicht 
gelegentlich wieder, wenn aud) feine „PBetersb. Gorreip.” mehr, 
doch unter anderem Titel etwas VBerwandtes? Man hat freilich 
jest weniger Nedefreiheit als zu Deiner Zeit? Der Gouverneur 
hat Fürzlich zwei Verweiſe nadeinander vom Miniſter erhalten 
wegen der Licenz der biefigen Preife. SKarnifel bat jetzt an- 
gefangen. Unter diefe Rubrik von mepacnoaomenie fam aud) 
meine neue Petersburger Correſp. zu jtehen, ein fchlagender Beweis, 
wie ſehr die Brille fih verändert hat, durch welche man die Dinge 
anfieht. — Aeußerlich, d. h. was das Abonnement betrifit, geht es 
der B. M. nicht glänzend. Indeſſen haben wir noch c. 1000 
Rub. von der urjprünglich aufgebrachten Subvention und damit 
deckt fich die Sache wohl für 2 Jahre. Ja, die Rigaſche Ztg. — 
die brachte ihrem Eigenthümer jchon vor ein paar Jahren einen 
Nettogewinn von 13,000 Rub. und bringt jeßt wahricheinlich noch 
mehr. Cage Netto, nad) Abzug der Redactionskfoften, des Papiers, 
des Drudes u. ſ. w. Mit Baerens und Edardt ift der Contract 
wieder erneuert und die Kündigung bat nur die Folge gehabt, 
daß Herr Buchdruder Müller jedem Nedacteur 400 Rbl. hat zu: 


Briefe von Viktor Hehn und Georg Berkholz. 397 


legen müſſen. Sie erhalten jet jeder 1600. Außerdem ift ein 
Eubject da für Veberjegungen aus den ruffiihen Zeitungen, das 
mit 700 Rub. gagirt wird, und eines für das jogenannte „Locale“ 
auf der dritten Seite mit 500 Rub; dazu ein paar ausländiicher 
Correipondenten, ein dito Petersburger und endlich die Telegramme, 
jo dab die Nedactionsfoften gegen 7000 R. betragen follen. 
Wenn id Buchdrucker Diüller wäre, welche Rolle wollte ich ſpielen! 
Was den Bürgermeilter Müller betrifft, jo bemuttert er feine 
Kinder, jchreibt eifrig Urtheile (eine früher von ihm etwas ver: 
nachläffigte Branche) und treibt dafür weniger Politik, läßt auch 
Faltin nady Dorpat zur Gentraljuftizceommiffton gehen. Ich glaube, 
er hat einen wundervollen Dämon oder Inſtinkt, der ihn nicht 
leeres Stroh dreſchen läßt, ſondern für den Moment der Thaten 
vefervirt. Letztens hat er in feinem Landvogteigericht eine humo— 
rijtiihe Scene aufgeführt. Ein Haufen Struſenruſſen beflagt 
ſich über ihren Arbeitgeber, vor den Schranken des Gerichts fallen 
die Kerls alle auf die Kniee; Müller ftellt ſich ernithaft Hin und 
hält eine förmliche Nede: Ahr alfo jeid das große Volk auf der 
Höhe der Civilijation, welches nur mitleidig auf unjere verfommenen 
Zuftände herabfieht 2c., alles natürlicd in deutſcher Sprache zu deito 
ehrfurchterregenderer Wirkung auf die inieenden. — Ic jehe übrigens 
Müller Höchit jelten. 

In Deiner Angelegenheit mit der Grokfürjtin weiß ich feinen 
Nath. Fräulein Nahden hat mir zweimal geichrieben, ohne Deiner 
zu erwähnen. Sch denke nur, dab dieje Pladerei garnichts für 
Di wäre. 

Mit Tacitus’ Fenni haft Du dennoch Unrecht; ich Schreibe 
darüber ein ander Mal. Maja im Eſtniſchen fommt wol nicht von 
den Xetten, jondern umgefehrt. Die Littauer haben diejes Wort 
nicht. Die den Letten und Littauern gemeinfame Bezeichnung 
von Haus namas, vielleiht domus — 1omp x. ©erade der 
Anlaut ift im Littauifchelettiichen häufig entartet. Hängt maja 
nicht zufammen mit maa oder mois oder beiden? 

Von Schedo ijt eine nicht unmerfwürdige Broſchüre über 
Bolen*) erſchienen. Dieje erhält der Gouverneur zugeſchickt in 
einem Gouvert, worauf gejchrieben: orp Muunerpa Hap. IIpo- 


*) Que ferat on de la Pologne? 1864 Berlin. 


398 Briefe von Biltor Hehn und Georg Berfholz. 


epbimenist; beiliegend ein nicht unterfchriebener Zettel ungefähr 
folgenden Inhalts: „Diefe Schrift von Schédo-Ferroti (Baron 
Firds) hat folgende Vorzüge: 1) fie zeigt, wie großmüthig die 
Abfichten des Staifers in Bezug auf die Polen gewejen find, 2 
daß diejenigen ruffifhen Batrioten auf einem ganz faljchen Wege find, 
welche die Vernichtung der polnischen Nationalität predigen, 3) fie 
giebt denjenigen Perſonen, welche über den Großfürſten Gonjtantin 
gerecht zu urtheilen vermögen — und ſolche Perjonen giebt es leider 
jehr wenige — Material zur Bildung ihres Urtheils.“ — Es wird 
ausführlich gegen die Moskauer Zeitung zu Felde gezogen. Sollte 
das nicht der Anfang vom Ende jein? Adieu! 
Der Deinige ©. Berfholz. 


u 


Geheimbände. 


(Aus binterlaffenen Papieren.) 


Wenn der Zeiten, der Umgebungen Drang, mächtig auf 
jtarfe Seelen wirfet, wird in ihnen jede Kraft zur Handlung auf- 
gerufen; fie beugen ſich den Umſtänden nimmer, wohl aber be- 
berrichen fie ſolche. So war die Zeit, in welder der alte, 
jugendlihe Bund entitand. Kein freier Sinn mehr und aljo feine 
Achtung fremder Freiheit, Weichlichfeit des Herzens, Härte der 
Sitten, wenig Sinn für Wiſſenſchaft, noch weniger für Kunft und 
Poefie, das war in jener Zeit der Charakter der Jugend. Ihm 
„lich entgegen zu dämmen” unternahm ein Jüngling. Bernhard 
Friedrich Echüß, in Pommern geboren, ftudirte jeit 1772 in Halle 
mit Geilt und Ernit. Schwächeren Sinnes hätte er dem Unweſen 
zugejehen und bloß ſich rein erhalten, er aber ermog, welche 


Seheimbünde. 399 


Männer ſolche Jünglinge werden mußten und wie ſelbſt manche 
Kraft in dem Gemeinen unterging, eines beſſeren Schickſals würdig. 
Dem wollte er begegnen dadurch, daß er den Belleren eine Ver: 
einigung gab und fie begeijterte mit geſammter Kraft das Gute 
zu fördern und werdenden Männern für eine jchönere Zufunft 
Hilfe und Freunde zu fein. Er entwarf die Konjtitution des alten 
Bundes der Eintracht [Umitas, nicht Concordia). 

Den Namen gab er ihm weil er anſpruchslos, doch voll 
inniger Bedeutung. In Eintradt jollten die Söhne feines 
Bundes das Rechte, das Gute wollen, in ihr ſich jtärfen zu Kampf 
wider das Gemeine, zu That für die Menichen. Das Sireuz des 
Hlaubens gab er ihnen zum Symbol. Zwei Schwerter kreuzen 
ih auf demjelben zu Erinnerung des Hampfes, zu Ermu— 
thigung des Kämpfenden. Ein Herz, eine fünfblätterige Roſe 
und die heilige Drei follten denn auch nody Symbole jein: das 
Herz deutete das innigite Vertrauen, die innigjte Liebe; Die 
Roſe die Berfchiwiegenheit, fie mahnt jonder Geräuſch, das Gute 
zu thun und nie laut zu werden über den Zwed des Bundes, 
weil das Geheimniß inniger bindet und redlicher handelt; die 
heilige Drei verfinnlicht das Fundament des Lebens, die Treue. 
Allem zur Deutung gab Schü zwei Inſchriften: Unitas Jungit 
Amicos Fideles und pour l’unite, auf da in Glaube, Kampf 
und Schweigen die Treue bewahrt werde. 

Zuerjt forderte die SKonjtitution Glauben und Liebe der 
Neligion des Kreuzes; männlichen Einn verlangte der Zweck des 
Bundes, darum war die Grundfejte der Konjtitution: Gewöhnung 
und Uebung in Selbjtbeherrihung; der Zwed der Sonjtitution 
verlangt Achtung für fremde Nechte, daher wurde fittliher Wandel 
und Vermeidung jeglicher Rohheit gefordert. Weil der Mann, 
wenn feine Jugend ohne Nutzen vorüberging, jelten zu Thaten 
fähig, mußte Fleiß geübt werden. Mit zwei von ihm erwählten 
Jünglingen, beihwur Schüß unfern der Saale, nahe Naumburg, 
den erjten Bund unter der Miorgenröthe des 2. März 1774. Sei 
es der winterlichen Morgenröthe Farbe, die hierzu Anlaß gab, 
oder, was fajt wahrjceinlicher, die alte ſymboliſche Bedeutung, 
Drange ward die Farbe des Bundes. 

In zwei Jahren gab es ſchon 19 Bundesbrüder in Halle. 
Im Jahre 1776 verließ der Stifter und erjte Senior die Univerfität 


400 Gcheimbünde. 


und wurde nad wenigen Jahren Prediger in Pajewalf, wo er 
im Jahre 1808 gejtorben ift, hochverehrt von feinen Bundes 
brüdern. Schütz war ſchon auf der Univerfität jehr religiös. Er 
verlangte von jeinen Bundesbrüdern Bejuch der Kirchen und Genuß 
des Mahles des Deren. Auch dadurch beurfundete ſich jein Sinn, 
daß er bei der feierlihen Aufnahme eines neuen Bruders in den 
Bund den Eid der Treue nicht auf die Konjtitution, ſondern auf 
das Evangelium ſchwören ließ. Er und die eriten Brüder waren 
ſehr arm. Um nun ein Kruzifir bei der Aufnahme zu haben, ab 
Schütz jo lange feine warme Speije, bis er fi jo viel erdarbt 
hatte, daß er ein bleiernes Bild des Gekreuzigten anichaffen fonnte. 
Als Schüß Halle verlaflen hatte, wurde der Bund bald in Leipzig, 
Sena, Göttingen, Nojtod, Greifswald, Frankfurt a. d. O. verbreitet. 
Zu Königsberg in Preußen hat er fih, wenngleich in veränderter 
Hejtalt, doch am längjten und reinften erhalten. Bier wurde er 
weniger ein Bund für Jünglinge, mehr für Männer. Da ge: 
dachten ſeine Verweſer des Wortes: Viele find berufen, nur wenige 
auserwählt. Sie jtifteten einen engeren Bund und einen weiten, 
einen erjten Grad und einen zweiten. Zu dem engeren Grade 
wurden aus dem zweiten nur die Bemährteften erwählt. Der 
zweite Grad war bloß eine Pflanzichule, eine Anjtalt, in welcher 
ein VBerjuch zur „Veredelung“ der größeren Menge gemacht wurde; 
er wußte nichts von der Exiſtenz des erjien Grades.*) Als Un- 
vorjichtigfeiten von Mitgliedern des zweiten Grades die Loge der 
Entdeckung nahe gebracht hatten, halfen fid) die des erjten Grades 
jo, daß ein Mitglied (Lehmann) unter dem Anicheine des Verraths 
alle Papiere des zweiten Grades hinwegnahm, fie aber heimlich 
dem erjten Grad übergab. Die Furcht vollendete, was er begonnen, 
die Loge des zweiten Grades ging auseinander. In Göttingen 
war aufgenommen: Graf Horn und jpäter durch diefen in Greifs— 
wald, Ankarſtröm.“) Die Scidjale Beider find befannt. Daß 
der Bund fie nicht zu ihren Thaten trieb, willen alle Eingemweihten. 
Was fie in jpäterer Zeit thaten, als fie, wahricheinlid, des Bundes 


*) Das iſt Etwas, was in der Gejchichte der Geheimbünde ſich wiederholt. 
Es liegt darin eine Folgerichtigfeit und Nemejis. Auch die Glieder des eriten 
Grades werden fi nicht ficher gefühlt haben, ob wicht unter ihnen Glieder eines 
nod höheren, erflufiveren Grades gemwejen find. 

**, Mörder Guftavs III. von Schweden (+ 16. März 1792). 


Geheimbünde. 401 


wie er damals war, längſt vergeſſen, kann ihm nicht zur Laſt 
gelegt werden. Schlözer, der berühmte Göttinger Profeſſor, ſagte 
einſt in einer öffentlichen Vorleſung: Nicht Freimaurer oder 
Illuminaten ſind zu fürchten, wohl aber die Peſt, welche im Finſtern 
ſchleicht, die Unitiſten; ſie brüten Königsmörder aus. Schütz vergieb 
ihm! er wußte nicht, was er ſprach. 

Bei dem ſchnellen Wechſel der Glieder des Bundes war der 
Sinn des Stifters bald untergegangen. Entartet zu einem Verein 
trogiger Jünglinge, die unter der Aegide eines engen Bundes nur 
nad) der Präpotenz unter ihren Jugendgenoſſen jtrebten, war jein 
wahrer Zweck vergeiien. Das Geheimniß war verichwunden, das 
Gelübde des Schweigens gebrochen. Da konnte es nicht fehlen, 
daß die Obrigfeiten ihn mit den Studentenorden alltäglicher Art 
in eine Klaſſe werfend, gegen ihn alle Maßregeln ergriffen, welche 
diefe trafen. Die Urkunden des wahren Bundes famen hierbei 
abhanden. Yon nun an ift der Bund an feinem Orte dauernd. 
Nicht zu leugnen ift es, daß auch in diefer böjen Zeit Männer 
aus dem Bunde hervorgingen, die ihm Ehre machten. Dabelow 
(ipäter Profeſſor in Dorpat), Green, Neil (ſpäter Profeſſor in 
Berlin) find Namen, die allgemein geachtet werden. „Was aber 
den Unwerth des Bundes jo wie er damals war,. am deutlichjten 
beurfundet, iſt die Schlechte Meinung von ihm, welche jene Männer 
dadurch auffallend äußerten, daß fie, faft alle, zu den Sreimaurern 
übertraten.” Alle Verbindung zwilchen den Logen hatte aufgehört, 
obwohl fie einen Namen, ein gemeinfchaftliches Zeichen hatten. 
Damals hatte falt jede Loge ihre eigenen willfürlichen Geſetze, den 
übrigen fremd, oft unvernünftig, wie das fchöne Geſetz, daß wenn 
Jemand in dem Bunde nicht zufrieden war und aus demjelben 
treten wollte, es nicht anders als nad einem Duell mit mehreren 
Bundesbrüdern geſchehen folle. In Jena war diefe Thorheit nicht, 
wohl aber in Roſtock, Frankfurt, Greifswald. Darauf aber lief 
damals der Zinn aller Logen hinaus, daß man einträchtiglich bei 
einander wohnen, jedem Studentenorden die Spige bieten oder 
wenn das nicht allein vollbracht werden fönne, durch Verbindung 
mit einem anderen jchwächeren Orden (mie es der Bund mit den 
Amiziften war) jene demüthigen müjle. 

In Halle jelbjt war unterdeifen der Bund untergegangen 
und waren die Weberrejte ihrer Schriften und der Apparat um 


402 Geheimbünde. 


ein Stüd Geld einem Gaftwirth bis zur Cinlölung verpfändet 
worden. Diefe Dinge, beitcehend in einigen Rezeptions-Reden, 
ſonſt gar feinen Schriften, einem Schwarzen Zimmerbehang, Schwarzer 
Dede, einigen Bundeszeichen, einem Bundespofal, löſte die Loge in 
Jena im Jahre 1797 für fich ein. 

Um das Jahr 1790 fam eine beilere Zeit und zwar in 
Jena.“) Es waren dort in den Bund getreten Dahl, der Däne, 
und ein Jahr fpäter Seinrih Dahl aus Livland. Männlichen 
Geiſt hatte der Däne, tiefes Gefühl und hohe Beſonnenheit; er 
gab dem damaligen Bunde eine andere Richtung, nicht Die 
urſprüngliche, fondern die feiner Zeit und feinen Genoſſen zu: 
Jagende. „Zu inniger Freundichaft follten die Brüder fich einigen. 

Dieſem Logenmeilter folgte Heinrich Dahl, voll überichwenglicher 
Kraft und Heldenfinn, feine Bundesgenofjen waren ihm feiner gleich. 
Nicht den Bund allein, jondern die Schaar aller Fünglinge feines 
Ortes, feiner Zeit umfaßte jein Streben, Heldenmuth, Ausdauer 
und Freiheitsdurſt wollte er ihnen geben; vergaß aber die Herzen 
und das ungleiche Maß der Kräfte. Er wirfte für den Bund 
als deal ſelbſt, an dem fich die jugendlichen Streber Begeilterung 
fuchten, nicht der Bund wurde der Zwed. Seine Wirkung auf 
das innere des Bundes felbit war eine geringe, Seit dem Auszug 
von 1792,**) an deiien Spige er ftand, fieht man ihn, nicht mehr 


*) In der Geſchichte des Jenaiſchen Studentenlebens von Nidyard und Robert 
Keil, 1858, heilt es, nad) einer Nachricht aus dem Ende der achtziger Jahre des 
vorigen sace., von den damaligen Unitiſten: fie zeichnen ſich durd gute Kleidung 
vor den anderen aus und jtreben mit auffallendem Eifer dahin, möglich viele 
reiche und angeichene Leute an ich zu feſſeln, wahrscheinlich um durch dielelben 
einen deito größeren Einfluß im Staatölchen zu erlangen. (©. 185.) 

**) Der große Auszug endete mit feierlicher Einholung der Ausgezogenen 
und ihrem Siege. Es war am 19. Juli 1792, Morgens 3 Uhr, als ſich die 
Sandsmannidaften mit ihren Fahnen im Paradies verjammelten. Der liv: 
ländiſchen Yandsmannichaft ließ man, da ihr Anführer Dahl („der Ancht Dahl 
aus dem Lande der Liven“), zugleich der Dauptanführer des großen Zuges war, 
den Bortritt, mehrere Feine Landsmannſchaften ſchlugen ſich zur Fahne einer 
größeren. Voran die Yivländer, Kurländer, Polen und Danziger mit weißer 
Fahne — u. ſ. mw. jo zogen fie etwa 500 Mann ſtark mit klingendem Spiel und 
fliegender Fahne über den Marft nach Weimar zu. (Geidyichte des Jenaiſchen 
Studentenlebens von Kichard und Robert Heil 1858, S. 270.) — Nach J. Eckardt, 
Erzählungen meincs Großvater 1883, S. 39, war Heinrih Dahl ein 1770 
zu Goldenbeck in Ehſtland geborener Predigersiohn, der unter Kaiſer Paul zum 


Geheimbünde. 408 


über den Bund vorzüglich, fondern über die gefammte Anzahl der 
Jenenſer wachen, forgfältig ihre Nechte, die er erjwang, gegen 
Senat und Herzog ſchirmen. Seit jener Zeit war er Vater aller 
Studirenden und hatte zu wenig Muße für den Bund. 

Mit ihm und nad ihm war in dem Bund Theodor Beder 
aus Roſtock ein fleißiger, qutmüthiger Menſch. Das Wejen des 
damaligen Bundes erichien diefem jo Hein, daß er eine gänzliche 
Umſchaffung dejjelben unternahm, nicht aber in dem alten, großen 
Sinne, fondern zu einem litteräriich-moralischen Inftitut ihn prägend. 
Er entwarf eine weitichichtige Konftitution. Den Zweck des Bundes 
fuchte er in der vollfommenjten litteräriichen Ausbildung Der 
Brüder; daher die jtrengen Gejege für den Privatfleiß und Die 
ganze nachgebildete Akademie mit allen ihren Fakultäten. Sittlicher 
Wandel follte erzwungen werden durch die ftrengite Zenfur und 
durch Beamte, welche die Bundesglieder in guter Zucht erhielten. 
Beders Konftitution wurde angenommen. Beder war der Mann 
nicht, welcher fie geliebt machen fonnte. Er war damals auch 
fein Jüngling mehr, ſondern hielt ſchon Vorlefungen und jtand 
daher nicht mehr im ftudentifchen Leben. Den litterärifchen Arbeiten 
entzogen ſich Viele, fobald jie nur Fonnten, die jtrenge Inſpektion 
der Zenforen drüdte die Fröhlichen und daher meijtens Bejten, 
vorzüglid. Dft wurden fie im Genuß unfchuldiger Freuden aus: 
einandergedrückt, weil der Zenfor anfagte: es jei Zeit zum Fleiß. 
Beder der jüngere erhielt dieſe Konjtitution noch aufrecht, als er 
geschieden hörte fie auf. War vorher jchon ein jeltjames Gewirre 
vorhanden, jo wurde es jeßt noch ſeltſamer. Was den Bund vor 
jeinem Untergange in Jena noch damals rettete, war das glüdliche 
BZufammentreffen mehrerer trefflicden Herzen in demjelben. 

Im das Jahr 1794 war in den Bund getreten Zewenhagen, 
mit Allem ausgerüjtet, was den gewaltigen Menſchen verfündet, 


gemeinen Soldaten degradirt, als Feldjäger nad Omsk geihidt wurde und 1807 
jih) das Leben nahın. Nach einem Bricfe in den „hinterlaffenen Papieren” vom 
Oktober 1801 (7 Monate nach dem Tode Hailer Bauls) meldet ein Bundesbruder 
dem andern, daß Heinrich Dahl, der im Jägerkorps angeitellt geweien war, jetzt 
in Wittenberg ſei und nächſtens nad Ehſtland zurüdtchren werde. Der Brief: 
fchreiber fügt hinzu: Soviel von den Daähl's (von dem jüngeren Bruder wird 
erzählt, dab er Chirurgus bei einem Regiment in Polen ſei). Obgleich ich nod) 
jchr Vieles hinzufügen könnte und möchte, jo darf ich es doch nicht dem Papiere 
anvertrauen, 


404 Geheimbünde. 


Adolf Herrlich aus Meklenburg, ein Charakter voll Kraft und Feuer, 
mit unendlicher Herzensgüte, ſpäter Guſtav Ambroſius Wilhelm 
Bergmann (aus Livland, in St. Petersburg im Anfang des neuen 
Jahrhunderts), ein redlicher, tüchtiger Menſch, den jpätere Unfälle 
nicht brachen, nur beugten. Karl Chriftian Dahl (fpäter ruſſiſcher 
Militärarzt), Heinrichs jüngerer Bruder, ein eherner Menſch voll 
Hüte und Treue, voll Glut und Liebe, aber verſchloſſen wie das 
Grab; Karl Beterjen (der befannte livländiiche Dichter) „mit 
fräftigem Gemüth und großen Anlagen, damals noch fämpfend 
mit Yeidenschaft und Ueberfülle, wie fpäter diefes Meer fich jtillete 
jahen wir”; Karl Saß (aus Kurland) der Genannten werth.*) 

Zu feltener Liebe und Treue vereinten fi) mit ihnen die 
neuen Brüder. Unvergeßlich bleibe folgender Zug: Schröder aus 
Mecklenburg fam an den Tod, fein Arzt war Succow (mohl 
Wilhelm Karl Friedrich, Ipäter Profeſſor in Jena), auch Bundes 
bruder aus früherer Zeit: des Sterbens Angſt drüdte den 
Sceidenden, da ſagte er mit legter Manneskraft zu feinem Arzte: 
„Nicht wahr, Gott verläßt Feinen Unitiften in feiner Todesnoth?“ 
„immer“ jprady der Arzt; Thränen erjtidten jeine Worte. 

Das Jahr 1795 gab dem Bunde Wilhelm Wolter aus 
Kurland, damals Schon Mann im eigentlichen Sinne des Wortes, 
Wilpert (Später Prediger in Kurland) aus gleihem Vaterland, voll 
zarten, attiihen Sinnes, weich ohne Schwäche, treu und gut. 
Wolter, Wilpert und Dahl verabredeten einft, daß, wenn fie heim: 
gekehrt fein würden in ihr Vaterland, dort eine Zivil:Zoge zu 
errichten. Sie luden hierzu aud) Dumpf (Ipäter Kreisarzt in Fellin) 
ein. Das Schidjal wollte es anders. In einigen Jahren ftarben 
Wolter und Wilpert an gebrocddenen Herzen; Dahl’s Leben oder 
Tod ijt völlig ungewiß (im J. 1808), doch mehr Wahrſcheinlichkeit 
dafür, daß auch er ſchon ruhet. Die Eidesformel für die Auf: 
genommenen lautete in Jena damals dahin: 1) Eid der Treue 
dem Bunde, 2) Gebot der Ehrfurdt gegen die Kreuzesreligion, 
3) Gebot fittlihen Wandels, 4) Gebot des Fleiges. Zeitgenoſſen 
willen, wie jchlecht e8 mit Einhaltung von Punkt 2 und 3 jtand. 
Es herrihte eine große Konfufion. Man müfje bei dem Alten 


*) Zu dem Bunde gehörten aud) nod (der ältere) Zangenbed, ſpäter 
Kreisarzt in Lemſal, Schön aus Kurland, Thiel in Riga. 


Geheimbünde. 405 


bleiben, war das Gefchrei jeder VBerfammlung, aber Keiner fannte 
das Alte, ja Niemand las die wenigen nod) vorhandenen Papiere. 
1796 trat in den Bund Karl Ewald Halfing aus Wenden in 
Livland (vgl. über ihn J. Edardt, Erzählungen meines Großvaters 
©. 120). hm hatte die Natur die glänzenditen Talente und ein 
Feuerherz gegeben, das aud den Kalten in jeine Glut viß; wer 
fi) ihm nicht freiwillig gab, den erjtürmte er; Anüpfer (fpäter 
Prediger in Ehitland) in anjpruchslofer Tugend, ehrwürdig; Martin 
Herold, fein Wejen ift Güte. — Göttingen wurde von Neuem belebt 
durch die Brüder aus Jena: Dahl, Saß und Lenz. Es traten in 
Jena in den Bund: Johann Herrenschwand von Murten, Echmidter 
von Warburg, 3. Schmuziger von Yarau, J. A. Pflüger von 
Solothurn, Johann Gugelmann von Wietlisbad, alle Schweizer, 
Seelen von Kraft und Treue. Dem Bunde war dieles Jahr fonft 
nicht günftig. Innere Barteiungen entitanden. Dahl, Zogenmeifter, 
war zwar von allen jehr geachtet, aber den meiften, fajt allen 
fremd. Sein Nachfolger war Langenbed d. j. Die Auswahl 
neuer Bundesbrüder geſchah jept ohne Wahl und Vorficht. Das 
Ende nahte, aud wenig Scharflichtigen Augen ſichtbar mit Eile. 
Im Ballhaufe, wo Abends nur Unitiften zufammenfamen, hielt 
ein ganzes Jahr lang Nieben, ein Bundesbruder, eine Pharao- 
Bank und Böfendahl, ein anderer Bundesbruder, war fein Ktroupier; 
ihr Erwerb betrug 450 Thaler; alles dieſes Geld war ihren ohnehin 
armen Brüdern abgenommen. 

Im Anfang des Jahres 1798 war Haffing Logenmeiſter 
geworden. Er wecdte neue Hoffnungen, weil die bejleren, ſowie 
die minder guten Brüder alle mit gleicher Liebe an ihn gefettet 
waren. Ihm aber fehlte damals nod) Beſonnenheit und Die 
ununterbrochen fortwirfende Energie, durch welde allein Wer: 
beiferungen herbeigeführt und dauernd gemacht werden. Sein 
feuriger Geijt entbrannte ſchnell und unbezwinglich, aber feine 
Phantaſie riß ihn über die Schwelle der Vorficht hin und leitete 
ihn ab von dem vorgelegten Ziele. Weberdieß war er nicht lange 
Logenmeijter und fein Nachfolger Andrei aus Kurland, ein jehr 
begrenzter Mensch, ihm durchaus unähnlid. Einige Zeit vorher 
war in den Bund aufgenoimmen Herrlich der jüngere, ein eitler, 
aufgeblajener Menſch, der durch den Namen feines edlen Bruders 
und eine jtarfe Stimme fih unter den Schwachen des SANDER 


406 Geheimbünde. 


eine zahlreiche Partei gemacht hatte. Herrlich ließ ſich durch feine 
Partei zum Logenmeifter wählen, nachdem es ihm gelungen ben 
liebenswürdigen Schröder verhaßt zu machen, deſſen Anfehen und 
Charakter ihn ſonſt überwogen hätte. Der Bund war nun ganz 
entartet, fein Vertrauen, feine Treue mehr unter feinen Gliedern. 
Da ſetzte Herrlich feiner Schledhtigfeit die Krone auf, er verrieth 
den Bund und feine Brüder um jchnöden Lohn. 

Herrlich war durd den Geheimrath Loder (Prof. der Anatomie 
und Chirurgie, Leibarzt), welcher feiner Eitelkeit fchmeichelnd, ihn 
zum Doctor juris zu maden veriprad), überredet worden und 
hatte die jämmtlichen Schriften und den ganzen Apparat der 
Loge Loder überliefert. Hierauf wurden an einem Tage alle 
Bundesbrüder verwiejen und die von ihnen, welche Lanbesfinder 
waren (deren Aufnahme übrigens ein Geſetz der Loge verboten 
hatte) zu Soldaten gemadht. 

In der kläglichen Zeit vor diefem Verrath hatte man das 
Kruzifir, zwei und einen halben Schub hoch, das Schüg unter fo 
viel Entbehrungen erworben und das dann nad Jena gekommen 
war, dort im Jahre 1798 verfauft und das Geld, weldes dafür 
gelöft wurde, für eine Flaſche Wein zur Aufnahme eines Bruders 
ausgegeben. — 

Die Geſchichte des alten Bundes ift nun geendigt. Wie 
fih nad) dem Jahre 1800 die Logen an anderen Orten weiter 
entwidelten, darüber fehlen Mittheilungen.*) In Leipzig war von 
Jena ber durch Wagner aus Kurland eine Loge um das Jahr 
1798 wieder errichtet worden. In Halle hatte die neubegründete 
Loge ſich erhalten und foll fih durd einen jchönen Geijt aus: 
gezeichnet haben. Es ijt zu vermuthen, daß fie dem Geifte des 
Stifters ſich wieder genähert habe. iner ihrer vorzüglichiten 
Männer war Jahn, der jih in Greifswald Frig nannte.**) 


*) Nach der zitirten Gefchichte des Jenaiſchen Studentenlebens find in 
Jena um 1809 die geheimen Orden durd die Yandsmannicaften verdrängt (8.321). 

**) Friedrich Ludwig Jahn (der Turnvater) jtudirte in Halle 1796 bis 
1800 Theologie. Wegen feiner Berfeindung mit den Yandsmannicafien lebte 
er zeitweile in einer Höhle bei Giebichenftein, ſpäter ftudirte er in Greifswald. 
Jahn bezeichnet man vor Allen als den eigentlichen geiftigen Urheber der Burjchenichaft 
(vgl. auch Geichichte des Jenaiſchen Studentenlebens S. 358). Er war es, der 
das Schwarz⸗Roth-Gold als deutsche Farben hervorgeiucht hatte. 


Geheimbünbe. 407 


Befonders unbefriedigt durch den in den legten Jahren des 
Bundes in Nena herrichenden Geiſt hatten ſich die Echmweizer 
gefühlt. In Geſprächen mit Dumpf (dem jpäteren Felliner Hreisarzt) 
waren fie auf den Gedanken gefommen, eine Zivil-Zoge nad den 
alten Schütz'ſchen Grundfägen in der Schweiz zu gründen. Tumpf 
warf dabei den Gedanfen hin, daß mit der Schüß’schen Konftitution 
fih auch eine politiiche Tendenz vereinigen ließe. Das ergriffen 
die Schweizer, ſämmtlich Demokraten, und fajt alle von unter: 
thänigen Orten, mit Feuer und übertrugen Dumpf den Entwurf. 
Die Grundzüge waren: Männliches Streben zum höchſten Ziel — 
tendre à la perfeetion sans jamais s’y pretendre (Malebranche) 
— Einigkeit, Freiheit, Gleichheit. Weil die meijten Schweizer der 
franzöfiihen Sprache mächtiger waren, als der deutjchen, jo wurde 
die Konftitution ihres Vereins franzöfiich abgefaht. Dumpfs Entwurf 
wurde einmüthig angenommen und jchon am 9. April 1798 jchwuren 
in den Räumen der Xobedaburg für Dielen Bund die Schweizer 
Schmidter, Schmußiger, ‘Pflüger, Joh. Derrenihwand aus Murten 
und Gugelmann. Die Schweizer eilten bald in ihr Vaterland. 
In diefer Zeit war die alte Schweiz untergegangen. Sobald der 
Kampf wieder anhub, jchaarten fi die Bundesbrüder unter Die 
Fahne der alten Freiheit, fie mußten gegen eigene Bürger kämpfen. 
Zürih ging über. Von Herrenſchwand, vorher Generalcdirurgus, 
nun Oberjt, wurde die Kapitulation geſchloſſen. Da fam der 
geäßliche Tag in Grauholz. Gugelmann und %. U. Pflüger aus 
Solothurn janfen in Todeswunden hart an dem Banner von 
Schwyz. Sie jtarben den Heldentod, begeiftert ihr Leben dem 
Vaterlande, dem Bundesſchwur opfernd. Auch Bern fiel, von 
Herrenihwand wurde die Kapitulation abgeſchloſſen.“,“ Cs wurde 


*) Hier liegen verichiedene Jrrthümer vor. Nach Eintragungen in ein 
vorliegendes Stammbuch ijt der Bund in der That am 9, April 1798 auf ber 
Lobedaburg geſchloſſen. Am 5. März 1795 wurden aber ſchon vor dem Graubolz 
die Braven, die die alte Schweizer Waftenchre reiteten, durch die Franzoſen 
unter Brune und Schauenburg geichlagen. Am 5. März 1798 iſt die Kapitulation 
von Bern, gezeichnet von Friſching, abgeſchloſſen und weder bier, noch 
viel weniger bei der Kapitulation von Zürich die Rede von Herrenſchwand; Die 
Herrenihwands find eine Patrizierfamilic von Murten geweſen; der berühmteite 
diejes Namens Koh. Friedr. Herrenihwand (1715-1798) war Yeibarjt des 
Königs von Polen und jeit 1793 Bürger von Bern, der Bundesbruder in Jena 
Herrenichwand wird daher wohl jein Sohn gewejen fein. Anton Pflüger von 

3* 


408 Geheimbünbe. 


dem Blutvergießen durch höhere Hand geiteuert. Die Söhne alter 
Freiheit wurden geächtet, mit ihm Herrenihwand und Schmidter. 
So war dieſer Bund zerftört, den Jugendgluth geichloffen. 


Des neuen Bundes Urjprung. 


In den ruſſiſchen Oftfeeprovinzen fammelten fich jeit 1794 

der Brüder viele, von denen die meilten dem Bunde in Liebe 
zugethan blieben. Große Entfernungen und der Geiſt des Miß— 
trauens einer vorübergegangenen Regierung (Kaiſer Pauls) hinderten 
Unternehmungen für den Bund. Doch entitand endlid in Neval 
die erite Loge, geitiftet von Herold, deſſen Name früher ſchon 
genannt worden. Cie hat die Konftitution der jpäter geftifteten 
Xoge der Hyaden*) angenommen. Am 2./14. März 1803 wurde 
in St. Petersburg die Loge zu den Hyaden des Bundes der 
Eintracht eröffnet. Haſſing war Logenmeifter. Stifter maren 
außer ihm, die früher ebenfalls genannten Bergmann und Dumpf. 
Aufgenommen in den Bund wurden Lenz, Dornburg, Kaubert und 
Scheilin. Ueber die Grundfäge des Entwurfes der Konititution 
hatte man fich fchnell geeinigt, des alten Bundes Formen blieben; 
den Nitus der Aufnahme und der Eidesformeln hatte Halfing 
entworfen. Schütz hatte, foviel von feiner Konftitution befannt 
geworden, nie den Namen feines Zweckes ausgelproden, wohl 
aber durd feine Fundamentalgeſetze deutlih genug ihn bezeichnet. 
Eintracht fonnte der Zweck des Bundes nicht fein, weil dieſe bloß 
Mittel fein fann zum Zwed zu gelangen. Nun entjtand in St. 
PVetersburg die Frage: welchen Namen der Zwed erhalten jolle? 
ihn fühlte jeder beftimmt. Er wurde bezeichnet: mit Vollendung. 
Nein ſprach Halling, foviel können wir nicht verfprechen, genug, 
wenn wir danach jtreben; und jo einigte man fi ohne Streit zu 
dem Begriff: Vervolllommnung. 
Solothurn, der von 1779—1858 Iebte, Hat in Jena Naturmwiffenichaft ftudirt, 
in Solothurn eine Apotheke gekauft, und it ein in der Schweiz befannter 
Naturforicher. Höchſt mwahricheinlic ift er identifch mit dem obengenannten 
J. 9. Pflüger aus Solothurn, der in Jena 1798 Pharmazie ftudirte. Nur 
fann dann vom Heldentod nicht die Rede fein; bei Grauholz ift weder ein 
Gugelmann noch ein Pflüger gefallen, wie aus der Feitichrift: die Märztage des 
Jahres 1798, von Dr. 9. Palner, Bern 1898, S. 127—132 hervorgeht (nad) 
freundlichen Mittheilungen von ſchweizeriſcher Seite). 

*) Hyaden (Töchter des Atlas) die Sterne am Kopfe des Stiers. 


Geheimbünde. 409 


Im Jahre 1806 wurde dann durd K. Peterfen (den Dichter) 
und Päßler (jpäter Paſtor in Tarwaft), denen fih Schumann 
(Advofat in Dorpat) und ©. Peterſen (jpäter livländ. Gouvernem.: 
PBrofureur) zugejellten, in Dorpat die Loge der Eintracht zum 
Drion errichtet, die im Jahre 1808 alternirend nad) Hallift Baftorat 
(28 Werft von Fellin), wo damald Berg Paſtor war (jpäter 
Seneralfuperintendent), und Tarwalt:PBaftorat (25 Werft von Fellin), 
wo Päßler Paſtor geworden war, verlegt wurde, weil in Dorpat 
eine Ueberwahung von K. Peterſen jtattfand, über den Die 
Univerfitätsobrigfeit erfahren Hatte, daß er Logenmeiſter fei. 


Dr. Lohmann aus Woiſeck wurde jetzt Logenmeiſter. Nad) 
der Konjtitution der Logen der Eintracht zu den Hyaden und zum 
Drion war ihre Aufgabe: „Kultur und gegenjeitige moralijche, phyſiſche 
und äfthetiiche Hilfe und Unterſtützung.“ Während des fonjtitutions- 
mäßigen PBrüfungsjahres wird ein Mitglied zur Beobadhtung und 
Prüfung der Kandidaten bejtimmt, welches ein gewillenhaftes 
Journal über den Charakter und die Handlungen dejjelben zu 
führen hat. 

„Die jchönen Zwede des Bundes fonnen getrojt das Auge 
der ganzen Menjchheit ertragen. Da wir aber noch in Zeiten 
leben, in denen das Gute und Schöne an und für fi von jo 
wenigen geſucht und von jo vielen angefeindet wird, jo iſt es 
eine unverlegliche Pflicht, die jtrengite Verichwiegenheit zu beobachten 
und das Dajein des Bundes in die dunkle Nacht des Geheimniſſes 
zu büllen. Verſchwiegenheit jei aljo die heilige Pflicht jedes 
Bruders.” „Kultur erfordert Aufhellung des Geiftes und Erwärmung 
der bejjeren Gefühle. Zu dem Ende jei es ein Grundgeſetz: daß 
jeder Bruder am Schluſſe des Bierteljahres von feiner Erijtenz, 
feinen Handlungen in Betreff des Bundes, genaue Nachricht gebe, 
und, wenn es jeine Zage erlaubt, eine Abhandlung über einen 
beliebigen Gegenjtand, die gewiſſermaßen der jprechende Beweis 
feiner Thätigkeit jei. Da nun imoralüche Kultur nur durch eine 
hohe äjthetiihe Bildung in den jogenannten beſſeren Ständen 
erreicht wird, jo ſoll jeder Bruder dieje, ſoweit jeine Kräfte reichen, 
erringen und wenigitens feine Mutterſprache zum Gegenjtand 
feiner Bemühung wählen. In feinem ganzen Wirkungsfreije fol 
er diejen Zwed vor Augen haben. Alle Abenteuerlicjfeit der 


410 Geheimbünde. 


Sitte und Außenſeite werde vermieden, weil ſie abſtößt. Jede 
Unſittlichkeit iſt ohnehin unterſagt. 

Das Direktorium ſoll über jedes einzelne Mitglied ſeine 
Bemerkungen in einem geheimen Buche niederſchreiben, welches 
der Tribun (der Vertreter der nicht zum Direktorium gehörenden 
Brüder) in jeder Seſſion durchfieht und unterjchreibt. Jedoch 
wird, bei Strafe der augenblidlichen Abſetzung verboten irgend 
einen bitteren oder jatyriihen Ausdrud zu gebrauchen, ſondern 
die facta müſſen kurz, ohne Bemerkungen und mit triftigen 
Gründen und Zeugniſſen beglaubigt und regiftrirt werden. Menn 
ein Mitglied ſich DVergehungen zu Schulden kommen läßt, 
jo joll das Direktorium dem genauejten Freunde des Inkulpaten 
den geheimen Auftrag geben, ihn zu warnen. Hilft das Nichte, 
jo kommt die Sache vor das Direktorium und endlid) in die Loge, 
wenn die Erinnerung des Direktoriums Nichts fruchtete. Jeder 
Streit zwiiden Brüdern wird innerhalb des Bundes gejchlichtet. 
Jeder Bruder in Noth hat fih an feine Mitbrüder zu wenden, 
die ihm zu helfen verpflichtet find. 

Bei der Aufnahme eines neuen Mitgliedes erjcheinen Die 
Brüder ohne Kleid, dem Unterjchied der Stände, nur bis auf den 
Gürtel weiß gefleidet, mit dem Bundeszeichen auf der Bruft. 
Das Zimmer ift nad der alten Sitte deforirt (wohl ſchwarz aus- 
geichlagen). Erjt ſchwört der Kandidat den Eid der Verfchiwiegenheit, 
dann, nachdem ihm die Grundgeſetze der Verbindung vorgelejen 
find und er ihre Annahme bejaht Hat, ſchwört er über zwei ſich 
freuzenden Klingen den Eid der Treue, des Gehorfams und wieder 
der Verjchwiegenheit. Darauf ertheilt der Yogenmeilter das Bundes: 
zeichen, läßt den Bundesbecher umgehen und jchließt darauf mit 
einer Schlußrede. Der zu einem Amt Gewählte hat einen Amtseid 
zu ſchwören. — 

Die Bundesbrüder der Loge der „Eintracht” zum Orion, 
die in großer Freundichaft zu einander fanden, waren um das 
Jahr 1808 wohl Alle (mit Ausnahme K. Beterjen’s) dreißig oder 
mehr Jahre alte Leute. In ihren Arbeiten werden Fragen über 
Geheimbünde, fittlihe Einwirkung auf die Brüder, über „Ver: 
edelung” der Dienjchheit zwar in ſchwungvollen Worten, doch in 
jo allgemeinen Betrachtungen behandelt, wie fie jeßt wohl Niemand 
mehr macht oder lieſt. Unter den Brüdern regte ſich indeß die 


Geheimbünde. 411 


Erfenntniß, daß es ſpeziellerer Arbeiten bedürfe, um Förderung 
zu erfahren. Es wird vorgeichlagen, dab das Direktorium Jedem 
aufgeben ſoll, womit er ſich beichäftigen müjje, damit er wahre 
Förderung erfahre und an feinem Theil Nutzen den Brüdern und 
der Welt bringe. [Einem joldhen Auftrage iſt die Geſchichte der 
Unitas zu verdanfen, aus der im Vorſtehenden der mefentliche 
Inhalt wiedergegeben war.) Auch jolle ein Anfang mit dem 
Seheimbuhe gemacht werden. Zwei Mal im Jahre jollten Die 
allgemeinen Zufammenfünfte in Dalliit oder Tarwaſt ftattfinden. 


Auf einer Neife nach Hallift, um unter Anderem vermuthlich 
auch einer Zogenjigung beizwvohnen, brach dann am 23. Dezember 
1822 8. Beterjen ins Eis des Wirkjeriws, was feinen Tod herbei: 
führte. Es jcheint, als ob mit K. Peterſens Tode der „Orion“ 
aufhörte oder ſich verwandelte. 

Zum Schluß jtehe bier noch ein unter den „binterlaflenen 
Bapieren” erhaltenes Bundeslied, das von K. Peterſen gedichtet 
it, wie aus deſſen poetiſchem Nachlaß (S. 152) hervorgeht. Im 
Zufanmenhang mit dem Bunde der „Eintracht“ iſt es eigentlich 
erſt zu verftehen. In dem poetiichen Nachlaß folgt e8 mit der 
Ueberſchrift „Bundeslied“ dem Verzeichniß der Mitglieder des 
„Winkel-Clubb“ bei Volkmann (1814), der, wie es in der Ein- 
leitung heißt (S. XV), feinen Kreis nur durch einjtimmige Wahl 
erweiterte. Ob diejer „Elubb“ eine Loge der „Eintracht“ bildete, 
geht aus den hinterlaſſenen Papieren nicht hervor. Jedenfalls 
waren mehrere jeiner Mitglieder Unitijten. Charafteriftiih für 
den Abdruf im poetischen Nachlaß ift es, daß dort der Chor 
wieder ſingt: „Ichwärmender Brüder beim Becherkflang”, jtatt 
„Inniggeweihter beim Becerflang”, was als Abänderung von 
dem gewohnten Nefrain des „Hoch vom Olymp“ bejonders hätte 
auffallen müſſen. Das Lied lautet nach der in den „hinterlailenen 
Bapieren” befindlichen Handſchrift: 


Bei diefer Schönen Stunde laßt uns Ichwören: 
Der Eintraht Bund ſoll ewig jtehn, 

Wir wollen unirer Brüder Schwäche ehren 
Und ihre Tugenden erhöhn. 


Chor: Feierlich ſchalle der Jubelgefang 
Inniggeweihter beim Becherklang! 





412 Geheimbünde. 


Wir wollen ihren Pfad mit Blüthen ſchmücken! 
Gern unire Freuden ihnen mweihn! 
Und ihre treue Liebe, ihr Entzüden 
Soll unſre ſchönſte Freude fein. 
Chor: Feierlich jchalle der Jubelgejang 

Juniggeweihter beim Becherflang! 
Drauf geh’ der Bundesbecher in die Runde! 
Wenn je ein Zwiſt die Eintradht jtört 
Dann denft an dieſe feierliche Stunde 
Und jeid des Bundes wieder werth! 
Laßt brüderli uns Arm in Arme jchmiegen! 
Wenn Unfall unirem Bunde drobt: 
Dann wollen wir durd feite Eintradt fiegen 
Und fcheuen nicht für fie ben Tod. 

Solo: 
Sei mir willfommen! Tod für meine Brüder! 
Du meiner Wünjche höchſtes Ziel! 
ich preifen nicht der Nachwelt hohe Lieder 
Mid) preift ein brüderlich Gefühl! 
Chor: Heil dem Geweihten! Er fliegt im den Tod, 
Spottend des Sturmes, der der Eintracht droht. 


S. 


Ar 
— \en 


Die Verfaſſung der Stadt Kiga im eriten Jahrhnudert 
der Stadt. 


Auguft von Bulmerincq: Die Verfafjung der Stadt Niga im 
eriten Jahrhundert der Stadt. Ein Beitrag zur Gefchichte 
der deutichen Stadtverfaffung. Peipzig 1898. 8%, 144 ©. 

Nie das Erjcheinen des Buches „Der Urſprung der Stadt: 
verfaſſung Rigas“ von Bulmerincq im J. 1894 als ein hervor: 
ragendes wiljenichaftliches Ereigniß begrüßt wurde, jo darf aud 
die vorliegende Arbeit, die Fortiegung der früheren, als Die 


Die Berfaffung der Stadt Riga. 413 


bebeutendjte willenichaftliche Leiftung betrachtet werden, um welde 
das verflofene Jahr den baltischen Büchermarkt bereichert hat. 
Zwar hat der Verfaſſer das Wort „Fortiegung“ im Titel ver: 
mieden, auc die Abficht uns im Laufe der Zeit eine vollftändige 
Verfaffungsgeihichte Rigas zu bieten, an feiner Stelle ausgeſprochen. 
Mir dürfen aber wohl der Hoffnung Ausdrud geben, daß er es 
nicht auf einen Torfo abgejehen hat und uns feine Anſicht von 
der weiteren Entwicelung der Verfaſſung Rigas nicht vorenthalten 
wird. Die Unterwerfung Rigas unter den Orden im Jahre 1330, 
mit der diejes Buch jchließt, it allerdings ein für die Gefchichte 
Rigas wichtiges Ereigniß, bildet aber verfaſſungsrechtlich nur für 
das Verhältniß der Stadt zu ihrer Herrichaft einen wirklichen 
Abſchnitt. 

Die Vorzüge der erſten Arbeit, welche von allen Seiten 
bereitwillig anerkannt wurden, zeichnen auch die vorliegende in 
hohem Grade aus. Scharfe Durchdringung und Gliederung des 
Stoffes, vollſtändige Beherrſchung des Quellenmaterial® und der 
einschlägigen rechtsgeihichtlichen Litteratur, ſowohl der baltijchen 
wie der allgemeinen, Unabhängigfeit von allen bisher geltenden, 
vorgefaßten Meinungen ſind auch diefem Buche nachzurühmen. 
Ueberall ſieht B. auf eigenen Füßen und, wo der Boden nicht 
ganz ſicher ift, da hat er ihn ſich doch wenigitens ſelbſt bereitet. 
Er behandelt nicht nur Dinge, welche ſchon früher der Gegenjtand 
willenjchaftlicher Arbeit gewejen find, fondern er leuchtet mit 
feiner fritiihen Fackel auch in manche dunfele, halbvergefiene Ede 
feines Forichungsgebietes hinein und zwingt zur Etellungnahme 
oder zum Nachdenken in Fragen, die vorher faum aufgeworfen 
waren. Wo er nicht überzeugt, regt er wenigitens an. Unter 
anderen erfahren die Fragen nad) dem Charakter der Stadtmark 
und den auswärtigen Beligungen der Stadt hier zum erjten Dial 
eine gründliche fyftematische Behandlung. Um noch einige andere 
Forichungsrejultate anzudeuten, weile ich darauf Hin, daß hier 
auch, joweit ich che, das Amt des Vogtes zum erjten Mal all: 
jeitig unterfucht worden iſt. DB. liebt es gleichſam im Vorbeigehen 
einige landläufige Dleinungen zu forrigiren. In Bezug auf den 
Vogt zeigt er, daß die freilich erſt einer ſpäteren Zeit angehörende 
Bezeichnung „Erzvogt“ nicht in begrifflihdem Zuſammenhange mit 
„Erzbiichof” oder „Erzbisthum“ ftehe, jondern unter ihm nur der 


414 Die Berfaffung der Stadt Riga. 


erſte Stadtrichter im Unterjchiede vom zweiten oder jeinem Stell— 
vertreter veritanden werde. — Weber den Rath der Stadt, feine 
Wahl und Zujammenfegung iſt ſchon früher wiederholt gearbeitet 
worden. Diejen Fragen widmet natürlich auch B. die eingehendjte 
Aufmerfiamkeit. Er fommt zu dem Ergebniß, daß der Rigaſche 
Rath aus zwölf, jpäter ſechzehn auf ein Jahr gewählten Perſonen 
beftanden hat und daß Bunge’s Hnpotheje von dem jährlichen 
Wechſel eines alten und jungen Nathes, deſſen Mitglieder auf 
Lebenszeit gewählt waren, nicht haltbar jei. Die Zuläffigfeit der 
Wiederwahl derielben Perſonen führte dann, auch nad) B., allerdings 
allmählich dazu, dal die einmal Gewählten zeitlebens im Amte 
blieben. Die Wahl erfolgte Anfangs in der Bürgerverjammlung, 
ging aber bald ganz auf den Rath über. Nur vudimentär waren 
Ipäter die ehemaligen Befugniſſe des Naths in der Buriprafe 
erfennbar, in der die Bürgerjchaft die Veittheilung von der ohne 
ihr Zuthun erfolgten Wahl entgegen nahm. Ebenſo verhielt es 
jih mit der Wahl des Stadtridhters, des Vogtes. DB. betont, 
daß in der von ihm behandelten Zeit der Vogt, obwohl vom 
Nath gewählt, dody nicht als Beamter oder Mitglied dejjelben zu 
betrachten ift. Er jtand ihm vielmehr als bejonderes Organ der 
Stadt zur Seite. Erſt jpäter wurde das Wogteigeriht in den 
Organismus der Rechtsverfaſſung eingegliedert. Als drittes Organ 
der Stadt gilt B. die Bürgerverfammlung. Ueber fie ijt nur jehr 
wenig befannt, da ihre wichtigiten Befugnifle jehr bald auf den 
Math übergingen und jeit dem 14. Jahrhundert an ihre Stelle 
die Verfammlungen der Großen und Sleinen Gilde traten. 
Bürger der Stadt war nad B. jeder, der über Jahr und Tag 
in ihr Kaufmannichaft in weiterem Sinne, d. h. Handel und 
Gewerbe, trieb. An den Erwerb von Grundbefig war das Bürger: 
recht nicht gebunden. 

Die Dispofition des Buches ijt Far und überfihtlihd. Es 
beginnt und jchließt mit der Erörterung der geichichtlichen Ereigniſſe, 
die am Anfange und Ende des behandelten Zeitraumes jtehen, der 
Verträge von 1225/26, welde die Freiheit der Stadt zur An- 
erfennung bradten, und des Friedens von 1330, durch den Riga 
dem Orden unterworfen wurde. Die Diitte nimmt der ſyſtematiſche 
Theil ein, der in vier Abtheilungen von den Grundlagen, den 
Organen und der Verwaltung der Stadt handelt. Dak im Ganzen 


Die Verfafjung der Stadt Riga. 415 


mehr der Juriſt als der Hijtorifer zum Worte fommt, ift natürlich 
und joll an ſich nicht beanftandet werden. Doch will e8 mir 
jcheinen, daß die Syftematifirung oder Scheimatifirung an einzelnen 
Stellen zu weit getrieben iſt, indem dazwiſchen Untericheidungen 
gemacht und Begriffe definirt werden, die den Bewohnern Alt- 
Rigas thatjächlich fremd waren und die, nur logiſch im Geiſte 
des denfenden Verfaſſers erzeugt, jenen alten Verhältniſſen applizirt 
werden. 

Wenn id) im Folgenden einige Punkte berühre, welde zu 
begründeten Bedenken Veranlaflung geben, jo bemerfe ih von 
vornherein, daß nur Einzelheiten beanjtandet werden, deren Kritik 
dem Eingangs geäußerten Urtheil, daß wir es mit einer bedeutenden 
wijfenschaftlihen Leiftung zu thun haben, nichts von feiner Geltung 
nimmt. Da B. von den Ergebnijjen und Hypotheſen feiner erjten 
Arbeit ausgeht und fich wiederholt auf fie bezieht, jo werde aud) 
ich gelegentlid auf fie zurücgreifen müjlen. 

Der verwundbarjte Punft der Bulmerincg’ichen Darjtellung 
bleibt die jchon im „Urjprung der Stadtverfaſſung“ behauptete 
Verihwörung der Nigaer vom Jahre 1221 gegen den Bilchof 
Albert, deren Frucht die jtädtifche Freiheit Nigas gemwejen fein 
fol. B. erhält diefe Behauptung jeinen Angreifern gegenüber, 
unter denen bier Hollander an erjter Stelle zu nennen ijt, in 
vollem Umfange aufrecht. Er geht dabei von der formell unbe- 
wiejenen und jachlih unmotivirten Vorausfegung aus, daß Albert 
in jeiner Politif dem Könige Waldenar von Dänemark gegenüber 
weniger der Noth als dem eigenen Triebe gehorchte, ſodaß er an 
dem VBertrage mit dem Könige auch dann noch feithielt, als gar 
feine Nöthigung mehr vorlag und das ganze Land mit Ausnahme 
des Schwertbrüderordens fich gegen die dänische Herrſchaft erklärt 
hatte. Mit diejer vorgefaßten Meinung tritt er an die Chronif 
Heinrihs heran und thut ihr, ergänzend und deutend, Gewalt an. 
Es ijt nicht meine Abſicht hier die ganze Streitfrage noch einmal 
aufzurollen. Ich weile nur darauf hin, wie DB. ſich den that: 
jächlichen Verlauf des Ueberganges der biichöflichen Herrichaft auf 
die Organe der Stadt denkt. Bekanntlich wurde der von Waldemar 
nad Riga geſchickte dänische Vogt vertrieben. Wie das geichah, 
ijt nicht überliefert. B. behauptet nun, es fünne feinem Zweifel 
unterliegen, „daß im Einklang mit Biichof Alberts Verzicht auf 


416 Die Verfaffung der Stadt Riga. 


die mweltlihe Gewalt über Riga der bifchöflihe Vogt, advocatus 
de Riga, vor dem angefommenen föniglihen Vogte wird zurück— 
getreten fein. Denn erjt damit, daß der königliche Vogt die mit 
der Vogtei über Riga verbundenen Obliegenheiten auszuüben ver: 
judhte, war für die rigajhen Bürger der Anlaß zu feiner Ver: 
treibung gegeben. Nachdem aber die rigaſchen Bürger durd) Ver: 
treibung des föniglichen Vogtes der Herrichaft König Waldemars 
über fie ihre Anerkennung verjagt hatten, waren fie thatjächlich 
ohne Herren... Denn Biſchof Albert fonnte auf fein Herrenrecht 
in Riga Anjprud erheben, da er ja auf jeine weltliche Macht— 
jtellung zu Gunjten König Waldemars verzichtet hatte...“ So 
wurden nad) Bulmerincqg die Bürger ihre eigenen Herren. Das 
ift doch reine Phantaſie! Nirgends ift berichtet, daß der bijchöfliche 
Vogt jeine Befugniſſe dem dänischen formell abgetreten oder jein 
Amt niedergelegt habe, nirgends daß die Bürger diejen feierlichen 
Akt erſt abwarteten, bevor fie den verhaßten Fremdling vertrieben. 
War denn der bloße Anſpruch auf die Uebernahme des Stadt: 
vegiments für die erregte Bürgerjchaft nicht ſchon ein genügender 
Grund, ihm die Thür zu weifen? Dab aber der bifchöfliche Vogt 
freiwillig dem Dänen feinen Platz eingeräumt haben ſoll, wird 
nur unter der eben noch unbewiejenen Vorausſetzung denkbar, daß 
Biſchof Albert auch jegt nod) an dem Bertrage fejthielt, wo er 
der thatkräftigen Hilfe ganz Livlands ſicher war und die Dänen 
jelbjt die Undurchführbarfeit des Vertrages erfannt hatten.*) Der 
von B. fonjtruirte Dioment der Herrenlofigfeit, in dem die Freiheit 
Nigas geboren wurde, als nämlich der bijchöfliche Vogt zurüd- 
getreten und der dänische vertrieben war, hat nie erijtirt oder ift 
durd) nichts erwiejen. Wie die freie Verfaſſung Nigas entjtanden 
ift, willen wir einfach nicht. Feſt ſteht doch nur, daß die that: 
ſächliche Macht der Nigaer jo jehr erjtarft war, daß der Bilchof 
in der Zeit zwilchen 1221 und 1225 auf die Ausübung feiner 
früheren Rechte Verzicht leiften mußte und daß Riga in Diejer 
Zeit aus einem Ort ohne fommunale Selbjtändigfeit zu einer 
Stadt mit vollfommener kommunaler Autonomie wurde. Ohne 
Zerwürfnifje und Spannungen wird es dabei nicht bergegangen 


*) Ich denke dabei an das Verſprechen des Erzbiichofs von Lund, Livland 
zur früheren Freiheit zu verhelfen. 8.8 Behauptung, dab Riga in diejes Ver: 
Iprechen nicht einbegriffen mar, hat Dollander widerlegt. 


Die Verfaffung der Stadt Riga. 417 


fein. Das giebt uns aber noch lange nicht das Necht die Ver: 
faffungsänderung auf einen Aufſtand zurüdzuführen. Nun ftügt 
fih B. auch darauf, daß 1225 zwiſchen Biſchof und Stadt Friede 
geichloffen wurde. Bier kommt einiges auf die lateiniichen Aus— 
drüde in unferen Quellen an. Compositio et transactio nennen 
die Urfunden jenen „Frieden“, discordia nennt der Chronift 
Heinrich den vorausgehenden Streit. Sch halte diefe Worte für 
jo allgemein, daß fi aus ihnen nichts für den Charakter des 
Friedens und Streites entnehmen läßt. DB. aber deutet die Worte 
durch ſchärfere Afzentuirung und eine willfürliche Begrenzung ihres 
Sinnes fo um, dab er erhält, was er braudt. Nachdem er die 
Ausdrüde compositio und transaectio angeführt hat, fährt er fort: 
„Die Stadt ſpricht alfo von einem Frieden, einem Vergleich. Ein 
Friede hat aber einen vorausgegangenen Kampf zur Borausjegung. 
[Ein Vergleih auch? Diejer Kampf, Zwift, discordia, wie ihn 
der Chroniſt Heinrich nennt, fann aber nur in dem Aufitande der 
Nigaer geliehen werden...“ 

Nach Bulmerincq beitand die Gründung Rigas in der An: 
legung eines Diarftes und der Anfiedelung von Kaufleuten an 
demjelben. Ich Halte mich nicht für fompetent in Bezug auf die 
Marfttheorie eine jelbjtändige Meinung zu äußern. Nehmen wir 
aljo an, dab das den Anfiedlern verliehene gotländiiche Necht ein 
Marktrecht, daß der rigafche Vogt ein Marftrichter war, und jehen 
wir ganz davon ab, da die deutihe Sprache unter Markt ent: 
weder ganz allgemein ein Abjaggebiet oder in lofaler Begrenzung 
des Begriffes einen Verfaufsplag in einer Ortichaft verfteht, daß 
mithin nad bisherigem Sprachgebraude die Worte „Marktrecht, 
«gericht, polizei, verwaltung” einen viel begrenzteren Sinn haben, 
als den, welchen B. ihnen beilegt. B. verfteht unter Markt 
offenbar nicht einen Verfaufsplag fondern eine Ortichaft, in welcher 
nur oder vorzugsweife Handel und Gewerbe getrieben werden.*) 
Diefer Marktcharafter erſchöpft aber doch die Gründung Biichof 
Alberts und die Abfichten, weldye er mit ihr bezwedte, keineswegs. 
Riga ſollte doch feine Nefidenz, nicht nur der Fommerzielle, Jondern 
auch der firchliche, politiiche und militärische Stütz- und Mittelpunft 
der ganzen Kolonie fein. Kirchen und Klöfter, die Kurie des 


*) Auffallend it, dab B. fein einziges Beiſpiel zitirt, in dem Kiga 
„Markt“ oder „forum“ genannt wird. 


418 Die Verfaffung der Stadt Riga. 


Biſchofs, das Schloß der Schwertbrüder ꝛc., — fie bildeten zugleich 
mit dem Marftplag und den Häujern der „am Markt” Angefiedelten 
die neue Ortichaft. Ach verfenne nicht, dak es B. in erjter Linie 
darauf ankommt, die Entwicdelung der bürgerlichen Bevölkerung 
Nigas zu einer Stadtgemeinde darzulegen, daß er unter dieſem 
Sefichtspunfte schreibt und feine Ausdrüde wählt. Immerhin 
bedürfen mehrere ganz allgemein gehaltene Süße, wie 3. B. im 
„Urſprung“ S. 12 die Zerlegung des Gründungsaftes in drei 
nur auf den „Markt“ bezüglihe Handlungen einer jolhen Er: 
gänzung, wie ich fie vorhin andentete, da fie in ihrer präzifen 
Faſſung alle anderen Gefichtspunfte als die rein fommerziellen 
ausschließen. 

Die „am Marfte” angefiedelten Kaufleute [und Handwerker] 
haben nach B. eine Gilde gebildet, an deren Spike die Seniores 
ftanden. Als Riga fi gegen den Biſchof empörte und fich 
herrenlos jah, wurde die Gilde zur Bürgerichaft; die Seniores 
verwandelten fih in den Nath.*) Durch die 1225/26 von dem 
Legaten Wilhelm von Modena zwiſchen der Stadt und dem Bilchof 
vermittelten Verträge erhielt diejer Zuftand der Dinge feine formelle 
Anerkennung. 

Das Vorhandenfein einer alle bürgerlihen Elemente der 
eriten Anſiedler in Niga umfaffenden Kaufmannsgilde läßt ſich 
urfundlich nicht nachweilen. Erijtirte fie aber und umfaßte fie 
alle Handwerker und Kaufleute, fo fielen auch die Intereſſen des 
tigafchen Gemeinweſens und der rigafchen Kaufmannsgilde völlig 
zulammen. Hatten doch die Vorjteher der Gilde, die seniores 
Rigensium, aud nad) Bulmerincg's Darlegungen, wenn auch nur 
in beichränftem Maße Theil an der Kommunalverwaltung, waren 
fte doch vermuthlich Beiliger im Gericht des Vogtes und jeine 
GSehilfen in der Kontrole über den Marktverfehr. Kurz dieſe 

*) „Uriprung“ 3.58: „Die universitas eivium Rirensium bejtand aber 
aus den burzenses in Kiga manentes. Cives RKigenses waren die in Riga 
anjälfigen mercatores. Die rigaihe Kaufmannicaft übernahm aber nidyt die 
Verrichtungen der Bürgerſchaft; vielmehr erwies ſich die neue Bildung wegen 
des größeren Umfangs und der höheren Bedeutung ihrer Befugnifie als jtärfer. 
Dieſer Say iſt mir ganz unverftändlich und mwiderjpricht dem folgenden. Indem 
die Gilde der Kaufleute jich zur Vürgerichaft umgejtaltete, übernahm jie dod) 
gerade die Verrichtungen einer ſolchen. So geſchah es denn, daß die Gilde der 
rigafchen Kaufleute in die rigafche Bürgerfchaft aufging...” 


Die Verfaffung der Stadt Riga. 419 


Vertreter eines privaten Vereins übten als folche öffentlich-rechtliche 
Sunftionen aus. Wodurch kann ſich in folchem Falle die Gilde 
der Kaufleute überhaupt noch von einer politischen Gemeinde der 
Bürger unterjchieden haben? Meiner Anficht nach ijt daher die 
Frage, ob die rigafche Stadtverfaffung aus einer Gildenverfaſſung 
hervorging von untergeordneter Bedeutung. Die Hauptjahe war, 
daß die bürgerliche Bevölferung organifirt war und durch ihre 
Vertreter an der Kommunalvermwaltung theilnahm. ch ſehe darum 
in den unbefannten Vorgängen zwiichen den Jahren 1221 und 
1225 auch keineswegs eine Bejeitigung der bisherigen Ordnung 
und den revolutionären Anfang einer neuen Verfallung, fondern 
eine ftetige, organische Weiterbildung der früheren Zuftände. Läßt 
man eine Kaufmannsgilde im Sinne B.'s gelten, jo ift man dod) 
in feiner Weiſe genöthigt, eine formelle Auflöfung derjelben und 
eine beiondere Beſchlußfaſſung der Gilde und ihrer Seniores an- 
zunehmen, daß fie von jekt ab Bürgerfchaft und Rathmannen fein 
wollten. Es fpricht, wenn man die Hypotheſe von dem Aufitande 
der Nigaichen verwirft, nichts gegen die Vermuthung, daß Biſchof 
Albert, wenn auch widerjtrebend, dem Freiheitsdrange der Rigaſchen 
nachgebend und den wirklichen Machtverhältnifien Rechnung tragend, 
eine Erweiterung der mageren fommunalen Rechte der Einwohner 
bis zu voller ſtädtiſcher Autonomie gewährte oder geichehen lich, 
wie jo mande weile Fürften in anderen deutichen Städten es 
auch gethan gethan. Ich wiederhole, daß es dabei gewiß viel 
„discordia“ gab und über mande Fragen eine Einigung nicht 
eher zu erzielen war, als bis der Yegat Wilhelm als Nermittler 
auftrat. Streit und Zerwürfniffe schließen die Möglichkeit in 
feiner MWeife aus, daß die Sontinuität der Nechtsentwidelung 
gewahrt murde. So betrachte ich Riga als einen Flecken, eine 
Ortſchaft oder meinethalben einen „Markt“, deifen Bewohnern oder 
Bürgern Anfangs nur jehr geringe politiihe Rechte zuftanden. 
Diefe wurden im Laufe der Zeit erweitert,*) bis das aufitrebende 
Gemeinweſen, deilen Glieder 1221 einen jo Fraftvollen Bürger: 
und Freiheitsiinn an den Tag gelegt hatten, endlich das volle, 
uneingeichrünfte Selbjtbejtimmungsrecht gewann. B. madıt ©. 21 
felbjt die Bemerkung, dab durch die VBerfaflungsänderung in den 


+, Es iſt Doch wohl anzunehmen, dab die von B. den Seniores der 
Gilde zuerfannten Befugniffe gleichfalls allmählid erworben fein werden. 


420 Die Verfaffung der Stadt Riga. 


thatfächlihen Verhältniifen faum ein großer Umſchwung äußerlich 
hervorgetreten jein werde; dertelbe werde viel mehr auf das Gebiet 
des Rechts zu verlegen fein. Den rechtlich ſehr bedeutenden 
Unterfchied zwifchen der unter dem Regiment des Biſchofs ftehenden 
und mit fehr geringen Befugniffen ausgeftatteten Kommune vor 
1221 und der Verfaſſung Nigas im Jahre 1225, das jest von 
einem gewählten Rath regiert wurde, verfenne ich natürlich nicht. 
Ich gebe aber nicht zu, daß durch die Berfalfungsänderung überhaupt 
erit eine Kommune, eine Bürgerjchaft, ein politisches Gemeinweſen 
geihaften worden ift. In diefer Beziehung iſt meinem Dafürhalten 
nad) der Unterſchied der Verhältniffe vor und nad) 1221 mehr ein 
gradueller als prinzipieller geweſen. 

Seine Anficht ſucht B. durch mehrere andere Behauptungen 
zu ftüßen, denen ich gleichfalls widerfprehen muß. Nach ihm 
hießen die Mitglieder der Gilde burgenses in Riga manentes; 
erft als fie eine politifche Gemeinde geworden find, erhalten fie 
die Bezeichnung eives Rigenses, zum erjten Mal in einer Urfunde 
von 1226, deren Siegel aber noch die Umjchrift sigillum bur- 
gensium in Riga maneneium trägt. Es iſt flar, daß ber 
legtere Umſtand für mich Ipricht, daß bier zwiichen burgenses ꝛc. 
und cives Rigenses gar fein Unterfchied gemacht wird. Nahmen 
aber die eives feinen Anftoß daran, ſich offiziell noch 120 Jahre 
lang burgenses in Riga manentes zu nennen, jo vermuthe ich, 
daß fie fih auc früher ohne Bedenken eives Rigenses genannt 
haben werden. Bon Anderen wurden fie jedenfalls fo bezeichnet. 
Der Chroniſt Heinrich nennt ſchon die erjten Ankömmlinge in Riga 
primieives, Worte, die B. freilich meift mit Anführungszeichen 
wiedergiebt; ©. 27 zitirt aber B. jelbjt den im J. 1209 urkundlich 
bezeugten Ausdrud ceives für die dem Vogt unterjtellten Bewohner 
Nigas. Als Beweis dafür, daß die Bürger jeit 1221 ſich deſſen 
bewußt waren, „dal die Stadt ſelbſt Perlon jei, Nechtsperfönlichkeit 
befige,” führt B. an, daß die Stadt ein Siegel hat! Wenn damit 
mehr als etwas Selbjtverjtändliches gelagt werden joll, jo fann 
nur gemeint fein, dab dem, was jett die Stadt war, die Rechts— 
perjönlichfeit früher fehlte. Es handelt fi) aber um genau daſſelbe 
Siegel, das nah B. ſchon die Kaufmannsgilde vorher führte. 
Der Umftand, daß dieſelben Perfonen dajfelbe Siegel nad) wie 
vor führen, kann doch nicht als Beweis dafür herangezogen werden, 


Die Verfaffung der Stadt Riga. 421 


daß der Charakter ihrer Gemeinschaft fi geändert hat, daß aus 
der privaten Kaufmannsgilde eine politische Bürgergemeinde geworden 
ift. Biel näher liegt der andere Schluß, daß, da doch auch der 
frühere Inhaber des Siegels Nechtsperfönlichkeit beſaß, die beiden 
Gemeinſchaften, die ſich ein und deffelben Siegels bedienten, identisch 
waren. Schließlich ift B. der Anficht, die Umwandlung des 
Marktes in eine Stadt zeige fich auch darin, daß jener namenlos 
geweſen jei, diefe aber den Namen Niga erhalten habe. Sowohl 
im „Uriprung ꝛc.“, wie in der vorliegenden Nrbeit ſpricht fih B. 
darüber aus, ohne aber etwas Beweisfräftiges anzuführen. Er 
jagt nun, der Markt jei allerdings nad) dem Flüßchen Nighe 
benannt worden, deutſch, „tho der Righe, van der Righe“, 
lateinijch einfah „Riga“. Mit diefem Namen wurden aber nur 
der Ort, nicht Bewohner und Ort zugleich bezeichnet. Das Letztere 
trat erjt ein, als Riga Stadt wurde. Dieſer Spisfindigfeit vermag 
ih faum zu folgen. Cinen Beweis dafür, daß vor 1221 das 
Wort Riga nur auf den Ort bezogen wird, führt übrigens B. 
nit an. Er hat vermuthlih den Umſtand im Auge, dab Riga, 
jo lange es unter biichöflihem Negimente ftand, in den Urkunden 
nicht als handelndes Nechtsfubjelt nah außen auftritt. Wie fann 
man ihm aber desiwegen den Beliß feines Namens beftreiten! 
Hätte man denn bei einer Wendung wie etwa: Riga wurde von 
einem jchweren Unglüd betroffen — nur an den Ort und nidt 
an die Bewohner denfen dürfen? „Eine jo nahe lebendige Beziehung 
zwilchen dem Orte und feinen Bewohnern, daß fie als ein Ganzes 
erichienen“, muß aud für den „Markt“ und die zu dauerndem 
Aufenthalt auf ihm Angefiedelten angenommen werden. Moher 
weiß aber B., daß Bilchof Albert feiner Gründung nicht den 
Namen Riga gegeben hat, fondern daß fie nur fo genannt wurde? 
Eine Unterfheidung, auf die übrigens jehr wenig anfommt, da 
jedenfalls auch das fpätere Niga feinen Namen nicht durch einen 
bejonderen Akt erhalten Hat, jondern ebenfalls nur fo genannt 
wurde. Aus B.’s Ausführungen ift nicht zu erjehen, ob er aud) 
den Dinmweis auf die Bezeihnung stat tho der Righe als Beweis 
dafür verwerthen will, daß der Drt einen eigenen Namen nicht 
gehabt hat, fondern damit nur feine Belegenheit bei dem Nighebache 
angegeben werden ſollte. Jedenfalls ift es nicht zu ermweilen, daß 
„tho der Righe* am Righebach bedeuten foll. Vielmehr Bea 


422 Die Verfaffung der Stadt Riga. 


nur an bie auch B. gewiß befannte Thatfache erinnert zu werden, 
dat die Norddeutichen und Romanen bei Ortsbezeichnungen das 
Appellativum vom Proprium durch eine Präpofition zu trennen 
pflegen (la eitta di Roma, la ville de Paris, stat tho der 
Righe). Aus dem weiblichen Artifel an fich ift ebenjowenig auf 
einen Flußnamen zu ſchließen. Mehrere nieberdeutihe Städte 
führten ihn regelmäßig, jo 3. B. die Narve, die Mitau, Die 
MWismer (noch heute gebräudhli). Stat tho der Righe heißt 
alfo foviel wie Niga und es bleibt dabei, daß Riga jeinen Namen 
von vornherein gehabt hat. 

Angefihts der fehr minutiöfen, ins Einzelne gehenden 
Scheidung und SKlaffifizirung der verfaſſungsrechtlichen Begriffe, 
welche B. in feinem Werfe unterfucht, ift es mir aufgefallen, daß 
feinem Syſteme der rigafhen Stadtverfaffung gleihlam der Kopf 
fehlt. Dem Verhältniß der Stadt zu den ihr übergeordneten 
Gewalten ijt in dem Syſtem fein befonderer Paragraph eingeräumt 
worden und der Leſer fieht ſich hierfür auf feine eigenen Schluß: 
folgerungen aus den hiftorischen Partien des Buches angemwielen. 
Es fehlt an einem beftimmten terminus, aus dem zu erjehen 
wäre, zu welcher Klaſſe deuticher Städte der Verfaſſer Riga im 
13. Jahrhundert rechnet. War Riga eine ganz freie Stadt, Die 
nur eine übergeordnete Gewalt, die des Königs, über fich aner- 
fannte, oder blichb es eine bifchöfliche Stadt, die in ihrem Bijchof 
troß der thatſächlichen Befeitigung aller realen Macdtbefugniife 
deſſelben doch noch wenigitens theoretiich ihren Landesherrn jehen 
mußte? Wäre ein Angriff der Stadt Niga auf ihren Bilchof 
Empörung oder nur Vertragsbruch geweſen? B.'s hierher gehörige 
Neußerungen laſſen feine Meinung nicht Far erfennen. ©. 10 
jagt er, die Anerkennung der Münzhoheit und Gerichtshoheit des 
Biihofs waren Zugeftändniffe nur äußerer Natur und fonnten 
nicht als Einjchränfung der Freiheit der Stadt angejehen werden. 
©. 12 heißt es: „Die Stadt Riga und der Orden ſahen aljo in 
dem Biſchof von Riga nicht ihren weltlichen Herrn, fondern nur 
ihren geiftlihen Vater, wie fie die rigaſche Kirche als ihre geiitliche 
Mutter verehrten.” *) Rigas Selbjtändigfeit war mithin nad) 

*) Das iſt aber feine genaue Interpretation der von B. jelbjt angeführten 


Urfundenitelle: „... boni sint et fideles episcopo Rigensi tanquam domino 
et spirituali patri item Rigensi ecclesie tanquam domine et spirituali matri.“ 


Die Verfaffung der Stadt Riga. 423 


Bulmerincq eine vollftändige, d. h. die Stadt hatte feinen Landes: 
herren. „Yon einer Unterordnung Rigas oder des Ordens unter 
den Biſchof von Niga findet ſich aud nicht die geringite Ans 
deutung” (S. 14). Andererfeits giebt B. ©. 89 zu, daß das 
Recht der Anvejtitur des Stadbtvogtes durch den Biſchof nicht nur 
eine äußerliche Anerfennung der Gerichtshoheit des legteren in 
ſich Schloß, Tondern auch von großer fachlicher Bedeutung hätte 
fein fünnen, wenn fraftvolle Bischöfe es unternommen hätten, durch 
die Drohung mit Verweigerung der Inveſtitur fi einen Einfluß 
auf die Bejegung des wichtigen Stadtrichterpoftens zu verichaffen.*) 
Erft ganz am Ende des Buches in dem Abjchnitt über die Aus- 
gaben der Stadt findet jih der Sag „dem Stadtherren war Riga 
auf Grund des Friedens zu Niga zu feinen Leiftungen verpflichtet.” 
Da aber an diefer Stelle auf den Ausdruf „Stadtherr” Fein 
Nachdruck gelegt, derjelbe vielmehr beiläufig oder zufällig gebraucht 
it, und auch feine Folgerungen aus ihm gezogen werden, jo bleibt 
es zweifelhaft, wie der Verfaſſer über diefen Punkt denkt. Die 
Frage gewinnt ein bejonderes Intereſſe im Binblid auf die 1330 
erfolgende Unterwerfung der Stadt durch den Orden, durch melde, 
ſoweit ich jehe, ihr VBerhältniß zum Erzbiichof gar feine Ver: 
änderung erfuhr. Ich habe mich Schon früher einmal dahin aus: 


geiprodhen,““) dab Riga jeit 1330 vechtlih unter zwei Herren 
jtand, deren Befugniſſe freilih ihrem Umfang und Wejen nad) 


jehr verjchieden geartet waren. Es wäre mit Dank zu begrüßen, 
wenn B. fich zu diefer Frage äußern wollte. 

Auf eine Neihe anderer nicht einwandfreier Stellen lenke 
ih noch in aller Kürze die Aufmerkſamkeit. ©. 11 und S. 13 
finde ich einen offenbaren Wideriprud in den Aeußerungen des 
Verfalfers über die Berechtigung der Ordensglieder zur Nutznug 
der rigaſchen Stadtmarf. Dort heit es, ihnen jei jeder Antheil 
an der Mark abgejprochen worden, hier dagegen, dem Orden ſei 
Antheil an der Nukung der Mark zugeiprochen worden. 


Alſo: Dem Herrn und geiftliden Bater ... und der Herrin und geiltlichen 
Mutter. Während einer Sedisvafanz z. B. gewann auch die Herrichaft der Kirche 
praftifche Bedeutung. 

*) An einer anderen Stelle, ©. 10, heit es allerdings, dab der Biſchof 
die Inveſtitur nicht verweigern dürfte. 

**) In der Anzeige von Mettigs Geſchichte der Stadt Riga, Baltiiche 
Monatsicrift 1897, S. 3495 — 347. 2 


424 Die Berfaffung der Stadt Riga. 


©. 89 heißt es: „Nach der Unterwerfung Rigas unter den 
Orden im Jahre 1330 ift von der Inveſtitur des Etadtvogts 
dur den Erzbiichof nicht mehr die Nede. Erft 1376 wird fie 
wieder vorgenommen, gerieth aber wiederum in Vergeſſenheit.“ 
Von der Inveſtitur iſt jedoch 1342 die Nede geweſen, als der 
Nath auf die Frage des Ordensmeilters, welche Rechte der Erz 
biichof in der Stadt habe, bezeugte, daß er den gewählten Vogt 
dem Erzbiihof „zur Beſtätigung“ (presentare ab eo confir- 
mandum) vorzuitellen habe (LUB. Nr. 821). Desgleihen im 
Jahre 1356 (Index missivarum 3. J. 1356, Mitth. XIIL, von 
Bulmerincqg jelbit S. 88 angeführt). Sollte B. aber mit jenem 
Sap gemeint haben, der Erzbiichof habe in diefem Zeitraum Die 
Inveftitur nicht ausgeübt, jo wäre das eine unbewiejene Be: 
hauptung. Die Art wie des nvejtiturrehts an den genannten 
Stellen und feiner Ausübung im J. 1376 (gleichfalls Index missi- 
varum) Erwähnung geſchieht, ſpricht vielmehr dafür, daß die 
Inveſtitur noch nicht außer Gebrauch gefommen war. Daß nur 
aus dem J. 1376 die Inveſtitur eines Vogtes durd den Erzbiſchof 
urfundli bezeugt ift, bemweilt natürlich nicht, daß eine folche nicht 
auch vor und nad dieſem Jahre jtattgefunden hat. 

Auf S. 135 wird von den ſtädtiſchen Gelandten gehandelt, 
die, wenn fie aud für Gejandte der Stadt galten, dody nur im 
Auftrage des Raths handelten, Beglaubigungsbriefe und beim 
Abſchluß von Verträgen das Siegel der Stadt mit fidy führten. 
Ganz unklar ift der auf dieſe Auseinanderjfegung folgende Sap: 
„Wenn es nun auch jo zwei Formen von Beglaubigungen und 
zwei Arten von Gelandten gab, fo wurde doch dieje Unterfcheidung 
in Riga nicht gemacht.” Wenn diefe Interjcheidnng in Niga nit 
gemacht wurde, jo ijt fie wohl aud an diejer Stelle müſſig, ganz 
abgejehen davon, daß nicht klar wird, welche zwei Arten von 
Geſandten gemeint find. 

Der legte nur drei Seiten umfallende Abfchnitt des Buches 
„Der Friede am Mühlgraben” ift für das Viele, das er zu jagen 
unternimmt, fichtlih zu kurz ausgefallen. Er hätte dur eine 
etwas eingehendere Behandlung der Materie ſehr gewinnen fünnen. 
Wie im „Uriprung 20.” die Geſchichte der Stadt fo eingehend 
behandelt wird, als es für das Verftändnik der Rechtsfragen 
erforderlich ift, jo war auch hier eine verftändliche, nüchterne Er: 


Die Verfaffung der Stadt Riga. 425 


örterung der den Ieflerionen und Echlußfolgerungen des Verfaſſers 
zu Grunde liegenden Thatjahen am Pla. Wie diefer legte Ab: 
ſchnitt jeßt vor uns liegt, mit feinem etwas gejuchten Stil und 
feinen feltfamen, theils unbewiejenen theils übertreibenden Behaup— 
tungen, madt er den Eindrud eines entbehrlihen Anhanges, 
der zu dem mwerthvollen Inhalt und dem ernten wiljenichaftlichen 
Charakter des Buches in einem merkwürdigen Gegenjage fteht. 
Wir begrüßen ihn aber troßdem und laſſen ihn gelten als einen 
Ausblid in die fpätere Zeit der Verfaſſungsentwickelung Nigas, 
welde in Bulmerincq hoffentlich einen ebenſo fundigen, erfolg: 
reichen Bearbeiter finden wird, wie er es für das erjte Jahr: 


hundert gewejen ijt. 
Dr. W. Bergengrün. 





Hene Helletrikit, 


Dit freudiger Genugthuung werden die baltiichen Lande die 
Kunde vernehmen, daß die Berlagsbuchhandlung von Belhagen 
und Klaſing eine Gejammtausgabe von Theodor Hermann 
Bantenius’ Romanen veranjtaltet.*) Kennen wir doch in ihm 
ſchon lange den unbejtritten größten Erzähler, den unſere Heimat) 
hervorgebradht, den meilterhaften Scilderer insbejondere der 
furiihen Verhältniffe, einen Dichter von ungewöhnlicher Ge: 
jtaltungsfraft, der Schon längſt auch in Deutichland fid einen 
hochangeſehenen Namen erworben hat. Ein jchöneres Weihnachts— 
geſchenk Fonnte der deutjche Buchhandel dem baltiihen Lande faum 
machen. 

Als erjter in der Neihe ericheint der allbefannte vorzügliche 
Noman „Allein und Frei.” Da treten fie wieder vor uns, Die 
jo wunderbar charakterijtiichen, marfigen Geſtalten der Familie 
Eichenftamm, des wilden Otto von Schweinsberg, des prächtigen 
treuen Dieners Weinthal und jo vieler Anderer, denen allen man 


*) Th. 9. Bantenius, Gefammelte Romane in 9 Bänden, Berlag von 
Velhagen & Klafing in Bielefeld u. Leipzig. Bd. Lu. IL, 1893, Allein und Frei. 


426 Neue Belletriftik. 


es anjieht, daß der Dichter fie aus dem Leben gegriffen hat, fo 
durchaus wahr und echt und überzeugend find fie gezeichnet. Es 
find echte Menſchen, in ihren Fehlern wie in ihren Vorzügen, 
weder von einem falichen Sdealismus verichönert, noch nad) moderner 
Art Grau in Grau gemalt. Darum leben wir mit ihnen und 
verfolgen ihre Geſchicke mit dem tiefjten inneren Antheil. Wohl: 
thuend berührt aud) das fchlichte, durchaus nicht aufdringlid hervor: 
tretende Chriftenthum, das die Welt: und Lebensanjhauung des 
Verfaſſers, des chemaligen Theologen, charakterifirt. Es wirft 
dajielbe um jo eindringlicder, je weniger es aufdringlich iſt, je 
mehr es nur als die ganz natürliche Baſis diejes abgeflärten, 
verjöhnten Urtheils über Welt und Menjchen erjcheint. Möge die 
baltiihe Deimath, die diefen Dichter mit Stolz den Ihren nennen 
fann, der Sejammtausgabe feiner Werke eine warme Aufnahme 
bereiten. Sie follten in feinem baltiidhen Hauſe fehlen. Iſt doch 
Bantenius der klaſſiſche Erzähler des Baltenlandes. 

Heben dieſen Mkeijterwerfen nehmen fih Victor von 
Andrejanoffs „Pater Johannes und andere Novellen” *) 
allerdings vecht mager aus. Die Daupterzählung „Pater Johannes“ 
leidet an jtarfen Unwahricheinlichfeiten und wirft nichts weniger 
als überzeugend. Auch die beiden anderen Erzählungen des 
Bändchens, „Mehr Liebe“ und „Im Banne der Nacht” Tonnen 
nur mäßig befriedigen. In ihnen allen fehlt es nicht an einzelnen 
Schönheiten, als Ganzes find fie faum von bleibendem Werth. 
Andrejanoff iſt durchaus mehr Lyriker als erzählender Dichter. 

Das allgemein anerfannte große Erzählertalent der Nuten 
offenbart fih in glänzender Weile auch in Anton Tſchechoffs 
„Starter Tobaf und andere Novellen,” die Wladimir Czumikow 
trefflih ins Deutjche überjegt hat.**) Der Titel „Starker Tobaf” 
fonnte unrichtige Vermuthungen weden, weswegen id) nicht unter: 
lalfen will zu bemerken, daß es ſich dabei um eine durchaus 
harmloſe, höchſt ergögliche Gejchichte handelt. Zu Anfang ebenjo 
ergöglich, dann aber tragiſch endend ift die Geſchichte „Tragikomiſch“. 

*), Bater Johannes und andere Novellen von Victor von Andres 
janoff, Yeipzig, Philipp Heclams Univerjalbibliothef Nr. 3840. 

**) Anton Lihehoff, Starker Tobaf und andere Rovellen. Autorijirte 
Ueberjegung aus dem Ruſſiſchen von Wladimir Gzumifom. Paris, Yeipzig, 
Münden, Verlag von Albert Yangen (Kleine Biblisihef Yangen Bd. XVII). 





Neue Belletriftik. 427 


Für bejonders gelungen halte ich zwei Erzählungen, die uns in 
die Kinderwelt führen, welche der Verfaſſer meijterhaft jchildert: 
„Ein Ereigniß” und „Die Kinder”. Von tiefer Tragik ijt die 
Geſchichte „Auftern”, aud) „Das rothe Haus“. Die den Rufen 
eigene, erbarmungslos realiſtiſche Ecdilderung verrotteter Zuſtände, 
gejunfener Menſchen madt fid in einer ganzen Reihe von Er: 
zählungen geltend. So wie fie uns hier entgegentritt, mit über: 
jeugender, erjchütternder LYebenswahrheit, kann fie nicht verlegen. 
Ich erwähne die meijterhafte Skizze „Im Alter.“ Auch wo der 
Verfaſſer heifle Gebiete berührt, wie in „Ein Verhängnik,“ 
„Mnemotechnik“ u. A. hält er ſich in angemejjenen Schranfen. 
Wir können nur wiünjcen, von diefem Dichter bald noch weitere 
Darbringungen zu erhalten. 

Mit Clara Viebig it ein Erzählertalent erjten Nanges 
auf den Plan getreten. Mit jeltener Einmüthigfeit haben die 
Blätter der verſchiedenſten Nichtungen gleich die erjten poetijchen 
Gaben der geijtvollen Frau freudig begrüßt und warm anerkannt, 
und das Intereſſe an ihren Schöpfungen iſt in der Folge jtetig 
gewachien. Diejer große und in jeiner Widerjprucdhslofigfeit ganz 
außergewöhnliche Erfolg muß als ein vollberedhtigter rüdhaltlos 
anerfannt werden. Wir bewundern an Clara Viebig die jcharfe 
und klare Beobadhtung des menschlichen Lebens in jehr verichiedenen 
Negionen, in den Hütten der Eifelbauern jo gut wie in den 
Salons der Großjtadt; wir bewundern die Kraft ihrer Gejtaltung, 
die Feinheit der Charakteriftif, die Tiefe der piychologiichen Analyie. 
Wir freuen uns an ihrem verjtändnißvollen, tiefen Blid in die 
Schönheit der Natur, in die Neize wie in die Schauer des Werdens 
und Vergehens, und nicht zum mindeften an der maßvollen, edlen 
Art, wie fie Alles zu behandeln pflegt. Man könnte die Künſtlerin 
ebenjowohl realijtiich wie idealiftiih nennen. Sie ift das Erjtere 
in der treuen Schilderung der Wirklichkeit, das Leptere in ihrem 
Glauben an die ſiegreiche Macht des Guten und Wahren. Heiklen 
Sragen gegenüber ijt fie von vollendeter Decenz ohne Prüderie. 
Führt fie uns im Ganzen mehr düſtere als jonnige Bilder des 
Lebens vor, jo dürfen wir darum mit ihr nicht rechten. Die 
Urt, wie fie es thut, it die Art einer edlen, einer vollendeten 
Künſtlerin. 


428 Neue Belletriftik. 


In das Volfsleben der Eifel führte uns die meilterhaft 
geichriebene Novellenfammlung „Kinder der Eifel“,*) durd 
welche die Verfaſſerin uns ein in der Litteratur Faum noch hervor: 
getretenes Gebiet Deutichlands geradezu neu erſchloß, — ein Gebiet, 
das jo ſehr werth iſt, gefannt zu werden, ſowohl um jeiner Be- 
mwohner, wie um feiner eigenartigen Naturichönheit willen. In 
fraftvollen, immer charakteriſtiſchen Schilderungen treten uns Die 
Gejtalten der Eifelbauern, ihren eigenartigen Dialekt redend, ent: 
gegen. Meiſt find es dunkle, oft erjchütternd tragiiche Bilder, die 
an uns vorüberziehen, nur „Margareths Wallfahrt” ijt jonniger 
gehalten. Ueberall hat man den Eindrud der Lebenswahrheit. 
Durd dies Bud ebenjo wie dur den Roman „Rheinlands— 
töchter” **) eroberte fih Clara Viebig faſt über Nacht die Gunft 
des Publikums wie der Kritif. Der Roman ijt in feiner Art 
nicht weniger bedeutend als die Bauernnovellen und er liegt den 
Intereflen der Gegenwart naturgemäß näher. Vor Allen werden 
wir aufs Lebhaftejte gefejjelt durd die Gejtalt der Heldin, Nelda 
Dallmer, eines Mädchens aus guter Familie, das durd ſchwierige 
Verhältniſſe und Konflikte aller Art mit ungewöhnlid) viel Charakter 
fi) durchringt und aud die Fehler, die fie begeht, durch die große 
Ehrlichkeit, Wahrheit und Treue ihrer Natur zu jühnen weiß. 
Wer wollte fie nicht lieb gewinnen, dieje gute, tapfere, flare und 
wahre Nelda? wer gönnte ihr nicht nad) jo vielem Leid Die 
Ausfiht auf das endlich ſich anbahnende volle Lebensglüd? Auch 
in der reihen Fülle der Nebenperfonen bewährt die Verfaſſerin 
ihr fünftleriiches Vermögen, die Kraft ihrer Charafterijtif, wenn 
auch einige derjelben — wie die Oberfonfijtorialräthin Zänglein 
und die höhere Töchterſchulvorſteherin Frl. Amalie Planfe — an 
das Karrifaturenhafte jtreifen. Alles in Allem iſt es ein vor: 
trefflicher, tief angelegter, gehaltvoller Roman. 

Yun bat Clara Viebig den genannten zwei weitere Werfe 
von hervorragender Bedeutung folgen laſſen: die Novellenfammlung 
„Bor Tau und Tag” und den Roman „Dilettanten des 
Lebens“.“*) Bor Tau und Tag führt uns in drei Erzählungen 
Kinder der Eifel, Novelle von E. Biebig, Berlin 1897, 3. Sontane& Co. 

**) Berlin 1807, 5. Fontane & Go, 

***x) Bor Tau und Tag, Novellen von E. Viebig, Berlin 1398, 5. 


Fontane u. Go. Dilettanten des Lebens, Roman von E. Viebig, Berlin 
1808, F. Rontan’ u. En. 


Neue Belletrijtit. 429 


junge, liebedürftende Srauenherzen vor, die verlangend ausichauen 
nad) der Lebensjonne, im grauen Morgennebel — ob fie wohl 
fommen wird, die Eonne der Liebe? An den erjten beiden Er: 
zühlungen harren fie vergebens, — Trennung und Tod zerjtören 
das Glück, ehe es wirflid gefommen. In der dritten bricht die 
Sonne durd den Wolfenjchleier mit herrlichem Glanz, aber erit 
nad) langem, ſchwerem Dangen und Bangen, nad) furdtbaren, 
verzweifelten Kämpfen mit der Finſterniß. Die erjte, Ipeziell „Vor 
Tau und Tag” betitelte Novelle halte ich für die vollendetite. 
Sie iſt ein Mieifterftüf von erichütternder Tragif. Die dritte, 
„Seipenjter” betitelt, behandelt mit großer Decenz ein ſchwieriges, 
etiwas heifles Problem. Auch fie verdient hohes Lob. Am wenigiten 
will mir die mittlere Erzählung „Wen die Götter lieben” gefallen, 
doch zeigt fih das große Talent der Verfaſſerin aud hier, wie 
mid) dünft freilid mehr in der Zeichnung der Nebenfiguren; und 
feſſelnd und interejlant ift Schließlich jede Gejchichte aus der Feder 
diefer DVichterin. Als ein Meijterwerf erjten Ranges aber möchte 
ih den Roman „Dilettanten des Lebens“ bezeichnen. Vor 
Allem von dem erjten Augenblid, wo Xena und Richard Breden: 
hofer ſich im Eifenbahnwaggon treffen, bis zum erjchütternden 
Abſchluß ihres Furzen, nur zu jehr getrübten Eheglücks verfolgt 
man die mit unabweisbarer Folgerichtigfeit jich entiwidelnde Handlung 
mit geipanntem Intereſſe, mit wachlender Theilnahme und Er: 
griffenheit. Sie find beide Dilettanten der Kunſt wie des Lebens, 
dieſe Yena und diejer Richard, er in noch höherem Grade wie fie, 
— und an der mangelnden Straft, das Leben zu regieren, mehr 
nod) als an dem unzureichenden Talente, gehen fie zu Grunde. 
Aber unjere tiefite Theilnahme begleitet fie. Sie find beide jo 
gute, liebenswerthe Menſchen, voll der beiten Intentionen, voll 
begeijterten, idealen Strebens, und in ihrer gegenjeitigen Liebe 
echt und treu, — nur unflug, unpraftiich im Leben, unfräftig in 
ihren Leiſtungen, — und das läßt fie erliegen im rauhen Kampf 
ums Dajein. Sind es Typen jpeziell unjerer Zeit der Schwäche, 
der Kraftlofigfeit, der Dekadence, — wie wohl gejagt worden iſt? 
Ich weiß es nicht, — ich meine, es find Typen von größerer, 
allgemeinerer Bedeutung, als einer nur temporären. Die Tragödie 
des Dilettantismus gehört nicht bloß unſerer Zeit an, fie hat ſich 
ichon oft vorher abaeipielt und wird fich leider nod oft abipielen. 


430 Neue Belletriftik. 


Ihr einen klaſſiſchen Ausdrud gegeben zu haben, ift Clara Viebigs 
hohes Verdienft. Auch die Nebenfigquren diejes Nomans find faft 
durchweg vorzüglich gezeichnet: der alte bärbeißige Onfel Herrmann 
mit der guten ängjtlihen Tante Hannchen; Richards nervöfe, jelbit- 
ſüchtige Schweiter Eufanne, die Berliner Salondame mit ihrem 
Manne; Yenas Mutter; der reiche Dilettant Doftor Reuter, ber 
mit jeinem enthufiaftiichen Urtheil dem armen Richard nur gründlid) 
ſchadet u. a. m. Es ijt zweifellos einer der beiten Nomane, die 
wir befißen, und mit Spannung muß man den weiteren Schöpfungen 
Clara Viebigs entgegenjehen. Nur Eins ſei noch zum Schluß 
bemerkt. Es ericheint bedauerlich und nicht ganz gerecht, daj Die 
Vichterin das Chrijtentbum und feine Vertreter jtets in wenig 
günftigem Lichte ericheinen läßt. Sie hat hier offenbar eine aus: 
geiprochene Abneigung. Da fie indejien hier wie in Allem maßvoll 
iſt, dieſer Punkt auch mehr flüchtig, vorübergehend berührt wird, 
wenn auch faum mihverjtändlich, fo haben wir zu Vorwürfen fein 
Recht. Aber bedauern darf man es doch, daß der DVichterin, wie 
es ſcheint, aus chriſtlichen Streifen wenig Erfreulidhes entgegen: 
getreten ift. 

Neben die Dorfgeihichten aus der Eifel tritt aus einem 
anderen deutſchen Sau „Madlene” von 3. 9. Löffler, eine 
Erzählung aus dem oberfränfischen Volksleben, die uns der treifliche 
Verlag von Fr. Wild. Grunow Ddarbietet.”) Es ijt ein merk— 
würdiges Bud. Der Ton der Erzählung hat etwas Altmodiſches, 
flingt bier und da an Jean Paul an, ijt wohl aud nicht ganz 
frei von Geſuchtheit. Dennoch iſt es ein treffliches Bud, das 
uns mitten hineinſchauen läßt in das oberfränfiiche Bauernleben. 
Die Charaktere find fein und liebevoll gezeichnet, an dem Derzens- 
roman der Heldin nehmen wir mit warmem Intereſſe Anteil und 
freuen uns jeines glüdlichen Ausganges. Es jtedt Poeſie und 
Charakter in dem Buch und darum gewiß auch in dem talentvollen 
Verfaſſer. 

Eine Dichtung im idealen Stile iſt „Laskaris“ von Arthur 
Pfungſt.“) Der Verfaſſer iſt als lyriſcher Dichter durch ſeine 


*) Madlene, Erzählung aus dem oberfränkiſchen Volksleben von J. H. 
Löffler, Leipzig 1898, Fr. Wilh. Grunow. 

**) Laskaris, eine Dichtung vou Arthur Pfungſt. dritte Auflage 
(Bolfsausgabe). Berlin 1898, Ferd. Dümmler's Verlagsbuchhandlung. 


Neue Belletriftit. 431 


„Lolen Blätter” und „Neuen Gedichte” vortheilhaft befannt; 
ebenfo durch ſeine deutiche Ueberſetzung von Edwin Arnold's 
„Leuchte Ajiens“ (Light of Asia), einer epilhen Berherrlichung 
Buddhas. eine Weltanſchauung iſt eine entichieden pejjimiftische 
und feine Hinneigung zu den Lehren des großen indischen Neligions- 
jtifters eine ausgeiprochene. Das tritt auch in der durchaus edel: 
gehaltenen, gedanfenreichen epiichen Versdichtung „Laskaris“ deutlich) 
hervor. Wie viel Anklang diejelbe gefunden, das bezeugen nicht 
nur die Kritiken, jondern ebenjo der Umjtand, daß fie bereits in 
dritter Auflage, und zwar in einer Vollsausgabe, erjchienen iſt. 
Der Held ift ein junger Grieche, in deſſen Brujt ein weiler Greis, 
fein väterliher Freund Bhilaleth, chen früh den Samen peſſi— 
mijtiicher Weisheit geftreut hat. Das Yeben bringt ihm nochmals 
vecht bewegte, ja abenteuerlihde Echidjale, es Führt ihn an den 
Hof Augujts des Starken nah Sachſen, dann zum Schwedenfönig 
Karl XI. nad) Grodno, nad) Schoonen, endlich nad Griechenland 
zurüd, doch nur damit er hier Angejichts des heimathlichen Geſtades 
im Meere jeinen Tod findet. Er hat in jeinem Leben eine lange 
Reihe jchwerfter Leiden und Enttäufchungen durchzumachen, die ihn 
endlich zu der legten Weisheit führen: Das Leben ijt nicht werth 
gelebt zu werden! 

Es ijt eine trübe Weisheit, doch wer hätte das Necht, dem 
Dichter jeine Weltanichauung jtreitig zu machen! zumal er diejelbe 
mit jo manchem hervorragenden Denker und Dichter theilt. Die 
edle Haltung des Sedichtes berührt gerade in unjerer Zeit durchaus 
wohlthuend. 

Baul Heyſe, der alte Meifter der Novelle, der wie ein 
ewig Junger noch immer vüftig weiter jchafft, hat joeben zwei 
Novellen, „Medea” und „Er joll Dein Herr jein“ ericheinen 
lajfen.*) Es iſt ein elegant ausgejtattetes Büchlein mit hübjchen 
Illuſtrationen. Die Erzählungen zeigen die reife Kunſt des Meiſters, 
jeine vollendete Form, die uns jchmeichelnd beftrict, feine feine 
Pſychologie. Medea ijt feine Lektüre für junge Mädchen; reifen 
Lejern wird fie zu denfen geben. 

Auf einem Gebiete, das ihm ſonſt fernliegt, bewegt ſich 
Beter Nojegger in feiner neuejten Veröffentlichung: „Das 
Wedea. Er ſoll Deiu Herr fein. Zwei Novellen von Paul 
Heyſe. Illuſtrirt von Rene Reinike. Stuttgart, Verlag von Carl Grabbe, 


432 Reue Belletriftik. 


ewig Weibliche“.“) Es find Jugendarbeiten, die nad dem 
eigenen Geſtändniß des Verfallers aus einer Zeit ſtammen, „in 
der der ganze Menſch nod) eitel Nomantif if,” — zwei Erzäh- 
lungen, die uns in vergangene Jahrhunderte zurüdführen. Die 
erjte der beiden, „Das ewig Weibliche”, ſpielt zur Zeit der Bauern- 
friege im 16. Jahrhundert. Sie ift friih und hübſch erzählt und 
lieſt fi recht angenehm. Dean ijt überrafdht, das Talent des 
Dichters auch auf diefem Gebiete fi) bewähren zu jehen, und 
freut fi auch hier an feinem gejunden Humor. Iſt es eine 
Jugendarbeit, jo darf fie eine jehr rejpeftable genannt werden. 
Die zweite Erzählung, „Die Königsjucher”, iſt bedeutend ſchwächer, 
vor Allem etwas zerfahren, ohne rechte Einheit, vermag daher 
auch nur mäßig zu felleln. 

W. H. Niehl hat jeinerzeit viele Freunde in den Ditjee- 
provinzen gehabt. Es dürfte Manchen interejfiren, daß eine 
Sejfammtausgabe der gediegenen, vom beiten Geiſte erfüllten 
Geſchichten und Novellen des kürzlich verjtorbenen Kulturhiftorifers 
und Dichters im Erſcheinen begriffen ijt.**) Die erjte Lieferung 
bringt die hübjche, gehaltvolle Erzählung „Der Stadtpfeiffer.” 
Sie muthet uns an wie ein Klang aus alter Zeit, — aber vielleicht 
gerade darum wird fie und was ihr folgt Manchem nicht unwill- 
fommen jein. 

Zwei elegant erzählte, graziöje Novellen „Ein Akkord“ und 
„Die Libelle“ bietet uns NW. von Berfall in einem fchlanfen 
Bändchen dar.*"*) Sie find fejlelnd gejchrieben und entbehren des 
poetiichen Neizes nicht. Die vorgeführten Lebensſchickſale find in 
beiden Fällen tragiih. Hinter dem jonnigen Bilde des Lebens 
taucht die dunkle Gejtalt des Todes auf. Im „Akkord“ wirft 
verheimlichte alte Schuld ihren Schatten über das Todtenbett, in 
der „Libelle” fällt aus vergangenen Tagen übermüthiger Luft 
ein mwehmüthig zitternder Sonnenftrahl in die trübe, jchmwere 
Todesitunde. 


*) Das ewig Weiblide. Die Königsjuder von Peter Ro: 
jegger. IUuftrirt von 3. Klein. Stuttgart, Verlag von Carl Grabbe. 

++, W. H. Riehls Geſchichten und Novellen. Gejammtausgabe. Verlag 
der J. ©. Gottaihen Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart. 

***) Gin Alford. Die Libelle Novellen von 4. von Berfall, 
Berlin, Rich. Editein Nachf. (H. Krüger). 


Neue Belletriftif. 433 


Leicht, bisweilen allzuleicht ift die Art, wie Maria Janitſchek 
erzählt. Sie gehört zu den Modernen und ift nicht prüde. Ihre 
Novelle „Ueberm Thal”,!) die im Thale des Inn, in Georgen: 
berg, Schwaz und Innsbruck ſpielt, lieſt ih ganz angenehm, wenn 
fie aud tieferen Werth nicht beanspruchen kann. Die Verfafferin 
bewegt fich hier auf einem Boden, der ihr augenscheinlich wohl— 
befannt iſt. Geradezu abftohend finde ich dagegen „Raoul und 
Irene” ?) dur die ſchwüle Sinnlichkeit, die darin waltet und 
mit einer an rivolität grenzenden Ungenirtheit zu Tage tritt. 
Daß eine Dame derartiges fchreibt, kann den unangenehmen Eindrud 
natürlich nur erhöhen. 

Da ift man bei Hans Hoffmann dod in harmlojerer und 
beſſerer Gejellihaft. Seine Fleinen Gejchichten „Aus der 
Sommerfrifche“ ?) find freifih von ungleihem Werthe, aber 
dafür läßt fi von der erſten derjelben, „Auf nie erftiegenem 
Gipfel”, rühmen, daß fie mit wirklich köſtlichem, kerngeſundem 
Humor geichrieben ift. Wer fie lieft, darf einer heiteren Stunde 
gewiß fein und wird die grotesfe Sejtalt der wirklich imponirenden 
Schwiegermutter Wittwe Päsfe fchwerlich vergeflen. „Die Sänfte“ 
ift ebenfalls eine hübſche Feine humoriſtiſche Geſchichte und auch 
„Die Zaunrübe” it ganz nett. Weniger gelungen finde id) den 
etwas outrirten „Kommiſſär“ und die ernite Erzählung „Das 
[lebende Muttergottesbild”, auffallend ſchwach aber die ebenfalls 
ernjte Erzählung „Im Vaterhaufe”. Sie leidet an großen Kompo— 
fitionsfehlern, die Far am Tage liegen, und ermwedt nur ſehr 
mäßiges Intereſſe. 

Freunde echten quten Humors will ich bei diefer Gelegenheit 
auf ein paar Bücher aufmerfiam machen, die zwar fchon vor einigen 
Fahren herausgefommen, aber, wie id) glaube, in den Oſtſee— 
provinzen nur wenig befannt find und doch in weiteren Kreiſen 
befannt zu werden verdienen, — Bücher, die uns in das Tiroler 
Volksleben bineinführen. ch meine vor Allem die köſtlichen, in 


I) Ueberm Thal. Novelle von Maria Janitſchek, Breslau 1898, 
S. Scottländer. 

2) Raoul und Irene von Maria Janitjichef, Berlin 1897, Verlag 
von ©. Fiſcher. 

3), Aus der Sommerfrifche, Kleine Gefchichten von Hans Hoff: 
mann, Berlin 1898, Verlag von Gebrüder Paetel (Elwin Pactel). 


434 Neue Belletriftik. 


ihrer Art geradezu unübertrefflihen „Geſchichten aus Tirol“ 
von Karl Wolf.) Man darf fie mit den beiten vollsthümlichen 
Sachen von Rofegger auf eine Stufe jtellen. Der berühmte jteirifche 
Dichter hat ihnen ein Vorwort auf den Weg gegeben, in welchem 
er von den MWolfichen GSefchichten jagt: „Ach wäre ftols darauf, 
fie geichrieben zu haben.” Und in der That, es find höchſt 
gelungene, in ihrer Art klaſſiſche Sachen, von einem Humor, dem 
der ärgite Hypochonder faum wird wideritcehen fönnen. Und fie 
find zugleich von hohem Intereſſe als getreuefter Spiegel des 
Ziroler Volkes in feinem intimften Leben, Denfen und Empfinden. 
Geſchichten wie „'s Wallfaprer Lenerl,“ „Der Protzenwirth,“ 
„Wie der Knecht den Bauer kurirt,“ „Wie 's Michele horcht, wos 
's Vieh redet in der heiligen Nacht,” „Der Sirt und der Hartl 
gehn in die Etadt zur Kumedi“ u. a. m. dürften wohl nur bei 
MWenigen ihre Wirkung verfehlen. Wolf gilt jest wohl mit Recht 
als der beſte Kenner des Tiroler Volkes. Und wie verfteht er 
von ihm zu erzählen! — Den Wolfichen Geſchichten ftellen fich 
würdig an die Seite „Allerhand Kreutzköpf'“ von Karl 
Schönherr.*) Auch er bietet Eaffische kleine Gefchichten aus 
dem Tiroler Bolföleben, von den beiten Humor, wie z. B. „Der 
Pfannenflider Naz” und Aehnliches. Wolf und Schönherr find 
beide Meifter der Charafteriftift und führen uns in bunter Reihe 
eine Menge Scharf umriffener Seftalten aus den Tiroler Bergen 
vor die Augen. Mögen diefe meine neuen Landsleute den lieben 
alten Yandsleuten am Oſtſeeſtrande recht viel Freude bereiten! 
L. v. Schroeder. 
Innsbrud. 


*) Sejhichten aus Tirol von Karl Wolf. Mit einem Vorwort 
von J. K. Hofegger, Innsbrud 1592, A. Edlingers Berl. IV. Samml. 1898. 
**) Berlin 1505, Verlag von Haeſſel. 


a re 


Daltifhe Chronik 


1897198. 





Berihtigung. 


In der Baltiihen Chronif unter dem 9. Mai 1808, ©. 115 muß es heißen: 
Kommandanten des Kaiſerl. Konvoi's jtatt Kaijerl, Hauptquarticrs. 


Baltiſche Chronik 


1897/98. 


— 





Baltiſche Chronif. 


1897. 


1. Oktober. Die Baltiſche Bratſtwo feiert in Petersburg den 
Jahrestag ihres 15-jährigen Beſtehens. Es präſidirt M. N. 
Galkin-Wraſſki, unter den anweſenden Ehrenmitgliedern 
befinden ſich Erzbiſchof Arſſenij, W. K. Sabler, Gehilfe des 
Oberprokurators des heil. Synods, und E. N. Skalon, 
Gouverneur von Ehſtland. Gleichlautende Berichte über dieſe 
Sitzung ſind im Regierungsanzeiger (Nr. 216) vom 3. Okt. 
und in der Eparchialzeitung (Nr. 20) vom 15. Oft. c. 
abgedrudt. Der Präfident berichtet über die Verhältniffe der 
Orthodorie in den Djtieeprovinzen, wie fie ihm bei einer 
vor Kurzem unternommenen Revifionsreije vor Augen getreten 
find (Balt. Chr. I, 115). Auf feine Mittheilung, daß Die 
Friedrichjtädtiiche orthodore Gemeinde um die Errichtung 
einer Bratjtwo : Abtheilung in Friedrichjtadt petitionire, 
bejchlieft die Verſammlung, dem Gejud zu entiprechen. 
Ferner theilt er mit, daß die Rigaſche weibliche Gemeinschaft 
jur heil. Dreieinigfeit mit der Errichtung eines Frauen: 
Klofters zur Verklärung Chriſti bei Mitau bejchäftigt ſei, 
wobei fie einem Bittgejuche der örtlichen orthodoren Arbeiter: 
Bevölkerung nadfomme; die Bratjtwo habe der Nigajchen 
Gemeinschaft zu diefem Zwecke bereits verjchiedene Firchliche 
Gegenitände gejendet. Der Präjident erklärt, daß Die 
Bratjtwo die Herausgabe einer neuen Auflage der „Unter: 
weilung im Rechten Glauben“ zu bejchließen habe, da die 

I 


legte Auflage von 10,000 Gremplaren verariffen ſei. 
Erzbiſchof Arſſenij fordert zu weiterer Unterjtügung ber 
orthodoren baltiihen Gemeinden auf, bejonders jei eine 
bedeutende Verbeſſerung der materiellen Lage der orthodoren 
Volfsichullehrer nothwendig. Der Gouverneur Sfalon ver: 
bindet mit dem Danfe für die Ernennung zum Chren- 
mitgliede die Erklärung, daß er ftets bereit jein werde, bei 
der Ausführung aller Nufgaben, die die Bratſtwo ſich ftellt, 
mitzumwirfen. 

Die „Nomoje Wremja” referirt, daß Galkin-Wraſſki fih in feiner 
Nede auch über die Fortichritte der Orthodorie in den Oſtſeeprovinzeu 
geäußert und gemeint habe, dal bie Orthodoxie dort zwar nicht ſchnell, 
aber muthig und feit Boden faſſe. Am 8. Uftober erfucht darauf der 
Geheimrath Galkin-Wraſſki die deutiche „St. Petersb. Ztg.“ mitzutheilen, 
dad Die Baltiiche Bratitwo feinerlei milftonirende Beſtrebungen verfolge, 
ſondern nur beitrebt jei, die in den Oſtſeeprovinzen bereits beitehenden 
orthodoren Gemeinden zu unterjtügen. (Vgl. Seite 24 der 2. Beilage zur 
Balt. Chr. vom 1. Januar ce.) 


1. Oft. Die „Aurl. Gouv.Ztg.“ theilt mit, daß auf Anitiative 


" 


der Frau Staatsjefretär Manſſurow ein Frauenflofter bei 
Wolgund in der Nähe von Mitau errichtet werden ſoll und 
die Krone dazu bereils$ ein real von 150 Dejlätinen 
angemiejen hat. 

„ Das bei der Haijerlich livländiihen gemeinnügigen und 
ökonomiſchen Sozietät in Jurjew (Dorpat) errichtete „Liv- 
Ehftländiiche Bureau für Yandesfultur” eröffnet feine Thätigfeit. 
Landesfulturinipeftor iſt B. Roſenſtand-Wöldicke. (Balt. Chr. 
L, 5 und 19.) Ebenſo iſt die landwirthichaftliche Verſuchs— 
jtation mit einem entiprechenden Yaboratorium unter Zeitung 
von K. Sponholz dajelbjt in Thätigfeit getreten. Beide 
Anftalten find weſentlich aus Mitteln der Nitterfchaften von 
Livland und Ehitland mit Hülfe privater Beiträge ins 
Leben gerufen. 

„ Das Minilterium der Vollsaufflärung bat beſchloſſen, 
daß alle lutherischen Kirchen:Clementarfchulen hinfichtlich ihrer 
Verwaltung und der Auflicht je nah den Grenzen ihres 
Schulkurſus entweder den zweiflaffigen oder den einklaffigen 
orthodoren Gemeindeichulen gleichzuftellen find, wobei aber 
der lutheriſchen Geiitlichfeit das Recht erhalten bleibt, den 


Religionsunterricht in diefen Schulen zu überwachen. — 
Bekanntlich gehören die orthodoren Kirchenſchulen zum Reſſort des heil. 
Synods, während die lutheriichen Kirchenſchulen nicht mehr unter firdhlicher 
Verwaltung (beim Miniiterium des Innern) stehen, jondern dem Minis 
fterium der Volfsaufflärung übergeben find. (Balt. Chr. L, 16.) 


1. DOM. KRortichritte der Etaatsfirche in Livland: dem livländ. 
evangeliich-[utheriichen Konfiitorium find aus dem Jahre 1896 
482 Webertritte vom Lutherthum zur Staatskirche befannt 

geworden. Die Zahl der in demielben Jahre in Livland 
geichloffenen Chen zwiſchen Orthodoren und Lutheranern 
betrug 574. — 1896 wurden 17 livländiiche Pajtoren darauf 
verflagt, daß fie an von der orthodoren Kirche reflamirten 
Perſonen Amtshandlungen vollzogen hätten. Eine in 
Petersburg zur Begutachtung folcher Klagen niedergeſetzte 
Kommilfion, zu deren Beitande auch der Oberprofurator des 
heil. Synods gehört, hat es für möglich befunden, Die 
Verfolgung diejer Klagen zu unterfagen. In diefem Jahre 
find 14 neue Klagen gegen livländische Paſtoren erhoben 
worden; die Enticheidung der Petersburger Kommijfion hat 
das Scidjal diejer Klagen noch nicht bejtimmt. 

”„ „ Sn Petersburg wird Die jtädtiiche Feiertagsordnung 
(Balt. Chr. I, 110) von den meijten Händlern nicht beachtet, 
nachdem ein friedensrichterliches Urtheil erflärt hat, daß dieſe 
Ordnung feine geſetzlich zwingende Kraft habe, weil ihre 
Faſſung von der Negierungsbehörde für jtädt. Angelegenheiten 
einfeitig abgeändert worden ſei. 

3. „In Wilna findet die feierlihe Grundfteinlegung zu 

einem Denkmal des Grafen M. N. Muramjem ftatt, der 

1863—65 als General-Souverneur den Aufſtand unter: 

drüdte und die Ruhe wieder heritellte. 

„ Seit dem 25. Sept. hält fi) der livländ. Gouverneur 

auf der nel Oeſel auf, um dort entjtandene Unordnungen 

in den bäuerlichen Verhältniſſen zu jchlichten. 

29. Sept. — 4. DE. In Berlin tagt eine internationale medizinische 
Zeprafonferenz, an der aud) die baltischen Lepra-Spezialiſten 
mehrfach vertreten find. Die Schluß-Nelolution der Konferenz 
erklärt die Iſolation der Kranken für das bejte Dlittel, um 
die Verbreitung der Seuche zu verhindern, und empfiehlt 

I* 


3. 


—— 


allen Nationen mit autonomen Gemeinden: und einer hin— 
länglihen Zahl von Merzten das norwegiſche Syitem Der 
obligatoriihen Anmeldung, der Ueberwahung und der 
Holation. — Der Bericht der deutichen Beamten, die im 
April e. die baltiichen Lepraaſyle befuchten, fpricht in Aus: 
drüden der höchiten Anerfennung von der freien Thätigkeit, 
die die balt. Vereine und Privatperjonen zur Belämpfung 
der Lepra entwidelt haben. 


5. Of. Das Finanzminifterium hat verfügt, daß in Kurland 


6. 


alle Fabritanlagen, deren Arbeiterbeitand 16 Perjonen über: 
fteigt und zu deren Betrieb Dampf: oder Waſſer-Motore 
angewandt werden, durch beiondere Schäßungsfommilfionen, 
die aus den Steuerinjpeftoren und ſachverſtändigen Technifern 
beitehen, umgeſchätzt werden jollen. 

»  Nigafche Stadtverordneten-Verjammlung: Es werden 
„Ergänzungsregeln zu den Ortsitatuten über den Viehhandel, 
die Viehſchlachtung und die Fleifchbeihau” einftimmig an- 
genommen; die Mittel für die Poſten von einem Revier: 
aufieher und ſechs Schupleuten im Schlahthaufe und Vieh— 
hofe werden ebenjo bewilligt. Abgelehnt wird mit großer 
Majorität ein Geſuch von 26 Fleifchermeiltern um Erridtung 
eines zweiten jtädtiihen Schlahthaufes in der Mitauer 
Vorftadt. — Der Kurator des Lehrbezirks fragt durd das 
ſtädtiſche Schulfollegium an, ob die aus dem Budget von 
1897 zur Gröffnung neuer ſtädtiſcher Clementarjchulen 
bewilligten 5000 Rbl. auch für die Zukunft budgetmäßig 
feitgejegt jeien. Die Stadtverordneten halten fih nicht für 
befugt, die Stadtverwaltung für alle Zeiten zu verpflichten, 
und beicdhließen, daß die Bewilligung der 5000 Rbl. den: 
jenigen Beichlüffen gleichgeftellt werden ſoll, auf Grund deren 
alljährlih die Ausgabepoften für die übrigen ſtädtiſchen 
Elementarichulen in das ftädt. Budget eingeftellt werden. 

„ Der „Rühiti Weſtnik“ verlangt die fofortige Einführung 
des Ruſſiſchen als ausschließlicher Geichäftsiprahe in allen 
Gemeindegerichten. Die Gerichtsreform von 1889 habe in 
den ($emeindegerichten und für deren Verkehr mit den 
DOberbauergerichten als Gerichtsiprache außer dem Ruſſiſchen 
zeitweilig, bis zur Herausgabe bejonderer Regeln, 


a 


auch das Lettiiche, Ehſtniſche und Schwediiche zugelaflen, 
d. h. dasjenige örtliche Idiom, das von der Mehrzahl der 
ländlichen Bevölkerung im Bezirk des Gemeindegerichts oder 
des Oberbauergerichts geiprocdhen werde. Trotzdem dieſe 
zeitweilige Regel nun ſchon acht Jahre eriltire, ſei Doch 
bei der Strömung zur Abfonderung, die in der frembd- 
ftämmigen Bevölferung herriche, die definitive Einführung 
der rufliichen Gerichtsiprahe nur zu erwarten, wenn Die 
Regierung fie rückſichtslos dekretire. Man müſſe ſich an das 
Wort erinnern, das der verjtorbene Juftizminijter Manaſſein 
an die in das Gebiet neu berufenen ruſſiſchen Kräfte richtete: 
„Sie, meine Herren, verftehen freilich nicht die lettifche oder 
die ehſtniſche Sprade; aber das iſt vortrefflid — mögen 
jene rujjisch lernen.” Das jei das einzig Richtige: „ihre 
perjönlichen und materiellen Intereſſen werden die Fremd: 
jftämmigen ſchon veranlaflen, ruſſiſch zu lernen, wenn fie 
eben auf feine andere Weile beim Gericht Hilfe und Ver: 
jtändniß finden.” Erjt wenn Seriht und Schule von jedem 
unbedingt die Kenntniß der rujfiihen Sprache forderten, 
würde ſich die örtlihe Bevölkerung mit dem Vaterlande 
vereinen. In den littauiichen und ſhmudiſchen Gemeinde: 
gerichten habe man jchon längjt die ruſſiſche Gerichtsiprache 
eingeführt, und trogdem es dort noch immer Orte gebe, wo 
die Bevölferung das Nujfische nicht verjtehe, leide die Sache 
darunter ganz und gar nicht. 


7. Oft. Die Soldbedihe Gemeinde des Walkſchen Kreiſes hat 


den Vorſchlag ihres Bauerkommiſſars angenommen und 
petitionirt um Die Umwandlung ihrer Gemeindejchule in 
eine zweiflajjige minijterielle Schule. — Der Negierungs: 
anzeiger (Nr. 219) giebt eine Befchreibung von der Ein: 
weihung des neuen Echulgebäudes der zweiflajfigen mini: 
jteriellen Schule in Bolderaa, die jet 170 Lernende zählt. 
Den Grund und Boden für diejelbe jchenfte die Baroneije 
Burhöwden, unter den Geldjpendenden ragt ein Kaufmann 
Kleinberg mit 3000 Rbl. hervor. 

„ Eine Mittheilung des Miniſteriums der VBolfsaufflärung 
erklärt, daß jeit der bei diefem Dlinifterium im Febr. 1893 
erfolgten Errihtung einer bejonderen Abtheilung zur Leitung 


— 


der Gewerbeſchulen die techniſche und profeſſionelle Bildung 
ſich in Rußland bedeutend entwickele. Anfang 1897 gab es 
50 Gewerbeſchulen, und in dieſem Jahre werden noch 14 
eröffnet. Ferner ſtehen unter der Leitung des Miniſteriums 
5 höhere Spezialanſtalten, 60 verſchiedenartige techniſche 
Schulen und über 450 Handwerksklaſſen. Es hat ſich gezeigt, 
daß es unmöglich ift, die Bezirks- und Volksſchul-Inſpektoren 
mit der Beaufjihtigung aller diejer Schulen zu betrauen. 
Daher will das Vlinifterium auf legislativem Wege mit dem 
1. Januar 1898 zwei bejondere Jnjpeftorenämter für dieſe 
Schulen freiren. 


7. Ott. Der Dirigirende Senat hat entichieden, daß in Blanco 


10, 


cedirte Hupothefariihe Obligationen auch vom Schuldner 
jelbft zur Ingroſſation vorgeftellt werden dürfen. Die Felliner 
Hnpothefen-Abtheilung und das Friedensrichter- Plenum hatten 
die Frage verneint. Es bleibt aljo bei der alten Praris. 

„ Die „Kurländ. Gouvern.Ztg.“ (Nr. 81) konftatirt, daß 
in Kurland die Zahl der Landfrüge jehr bedeutend ab- 
genommen bat: während 1890 noch 1177 erijtirten, gab es 
1896 nur 682 Landfrüge. 

„ Die Neichsfontrolle hat dem Neichsrath den Rechenſchafts— 
bericht über die Ausführung des Budgets für das Jahr 1896 
vorgejtellt. Der „Wejtnik Finanzow“ giebt dazu Erläuterungen, 
die das Jahr 1896 als eins der glänzenditen und erfolg: 
reichjten Jahre in der ruffiichen Finanzentwidelung erfennen 
laſſen follen. Die gewaltige Höhe der Budgetpojten muß 
gewiß Staunen hervorrufen, wenn man ſich erinnert, daß 
nod) vor faum zehn Jahren die Ziffern des ruffiichen Budgets 
zweimal fleiner waren. Bei einem Vergleiche des realifirten 
Yudgets mit jeinem Voranjchlage zeigt ih, daß fait in 
allen Berwaltungsgebieten die angewiejenen Ausgabe- Summen 
überjchritten werden mußten. Nur in den Reſſorts der 
Volfsaufflärung und der Landwirthichaft lag dieſe Noth- 
wendigfeit nidyt vor. — Mit Bezug auf die in der Balt. Chronif 
Seite 62 aufgenommenen ungenauen Ziffern ijt zu bemerfen, dab das 
Defizit des Gejammtbudgeis 72,, Million Rbl. beträgt, Die aus den jo 
reihlic) vorhandenen Baarmitteln gededt wurden. Auch ſind dajelbit 
fälſchlich die Poſten der Losfaufszahlungen, der Branntweins und der 


— — 


Zucker-Akziſe als Mindereinnahmen ergebend aufgeführt. Dieſe Einnahme: 
poſten ergaben im Gegentheil eine Steigerung um ca. 18 Mill. Rbl. 


10.—15. Oft. [Livländiiche Provinzial-Synode zuMWenden.] 


Unter den vorgelegten wiitenjchaftlichen Arbeiten und gehaltenen 
Vorträgen jeien erwähnt: Ueber die Nothiwendigfeit und die 
Mittel, das evangeliich-lutheriihe Gemeindebewußtiein zu 
jtärfen; Bibliihe Gedächtnißmittel im Neligionsunterricht; 
Ueber die Abendmahlslehre; Die Pädagogik in den evangel.: 
lutherischen Volksichulen während der legten zehn Jahre. Die 
fettiiche Bibelemendation ift beendet, und die Trudlegung 
der neuen Bibel joll demnächſt beginnen. Dieje große Arbeit 
haben ausgeführt die Baftoren: Auning, Bernewig-Neuenburg, 
Dr. Bielenftein, Kundfin:-Smilten, Neuland Wolmar. Der 
lettiiche Tert der neuen Kirchenagende wird gleichfalls demnächſt 
fertiggeftellt fein. 


15. Oft. Ein Ufas des heiligjten Synodes giebt dem Rigaſchen 


orthodoren Konfijtorium zu willen: Der Herr und Kaiſer hat 
am 4. Oft. d. J. eine allerunterthänigjte Unterlegung des 
heil. Synodes Allerhöchit beftätigt, wonach Arjjenij, bisheriger 
Erzbiichof von Riga und Mitau, zum Erzbiichof von Kaſan 
und Swijalhif und Agathangel, bisheriger Biſchof von Tobolsf, 
zum Bilchof von Riga und Mitau ernannt ift. 

» Die Rigajche Eparchialzeitung (Nr. 20) veröffentlicht einen 
vom 21. April d. J. datirten Kaiſerlichen Ukas aus dem 
heil. Synod an den Erzbiichof Arhjenij: Der bochwürdige 
Erzbiſchof Arjienij hat darum nachgeſucht, daß für Die 
Rigaſche Epardie der 8. Januar zu einem nach dem Uſtaw 
für große Feittage zu feiernden Feſttage beitimmt werde — 
zum Andenfen an den heiligen Märtyrer Iſidor und Die 
72 Märtyrer, die mit ihm zujammen in Jurjew den Tod 
erlitten. Daraufhin bat der heil. Synod befohlen: Die von 
dem bochwürdigen Sergius, Erzbiihof von Wladimir, zu— 
jammengejtellte Bejchreibung von dem Leiden des heiligen 
Märtyrers Iſidor und feiner 72 Mitmärtyrer, die 1472 in 
Jurjew für den orthodoren Glauben jtarben, joll ebenjo wie 
der für dieſe Märtyrer von demjelben hochwürdigen Sergius 
regulirte „Kirchendienjt” dem Drud übergeben werden, und 
die eier des Andenkens der genannten Märtyrer hat am 


BR 


8. Januar in der Nigafchen Eparchie jtattzufinden. — Zu 
diefem Ukas gab der Erzbiichof Arſſenij am 20. Auguft die 
Nejolution: „Gelobt jei Gott! In der ganzen Eparchie ijt 
am Vorabend des 8. Januar 1898 ein Abendgottesdienit 
und am 8. Januar ſelbſt eine Liturgie und ein Gebets— 
gottesdienjt mit einer angemejjenen Predigt abzuhalten.“ 


15. Oft. Die „Nowoje Wremja” theilt mit, daß die Ausdehnung 


18. 


der Thätigfeit der Baueragrarbanf auf die Baltiſchen Gou— 
vernements von den Miniftern des Innern umd der Finanzen 
im Prinzip fejt beichlojien jei; die Gouverneure von Ehſt— 
und Livland hätten fich ftrift dahin ausgeiprochen, daß Diele 
Ausdehnung durchaus nothwendig jei. Es ſei zunächſt ein 
Beamter zur Sammlung von Daten in die ‘Provinzen ab- 
delegirt. Die ruffiihe Baueragrarbanf werde die Beziehungen 
der Bauern zu den Gutsbeſitzern jchleunigft zu liquidiren 
und den landlojen baltiihen Bauern beim Ankauf von Land: 
parzellen behilflich zu fein haben. 

„ Der „Rihifi Weſtnik“ (Nr. 231) veröffentlicht den Brief 
eines angeblichen „lettiichen lutherischen Paſtors.“ Der 
Verfaſſer verjuht die Nothwendigfeit der Gründung von 
„nationalen“ theologiichen Profeſſuren durch die ſchamloſeſten 
Lügen zu begründen. Nachdem er die deutich:baltiiche ‘Breite 
geſchmäht Hat, bezeichnet er die gegemwärtige theologiſche 
Safultät als einen „Nijtplag” zur Germanifirung der Yetten 
und Ehjten; dort werde nur für deutidj-nationale Bedürfniſſe 
gejorgt, die deutſchen Paſtoren verjtänden deshalb mit wenigen 
fümmerlidhen Ausnahmen garnichts von der Eprade ihrer 
Gemeinden; die Konſiſtorien eraminirten ihre Schüßlinge nur 
pro forma, die lettiihen Theologen dagegen hielten jie von 
den baltischen Paſtoraten möglichit fern, ließen ſie nad) 
Eibirien und in die Kolonien gehen u. j. w. 

„ Der Dirig. Senat hat zu den gejeglichen Bejtimmungen 
über das Recht der Stadtverordneten-Verſammlungen, ver: 
bindlide Verordnungen zu erlajfen, Erläuterungen gegeben. 
Danach haben die Stadtverordneten nicht das Recht, in 
ihre Verordnungen Bejtimmungen über die kriminelle Ver: 
antwortlichfeit der ‘Berjonen, die dieſe Verordnungen verlegen, 
und über die den Charakter einer Ergänzungsitrafe tragende 


—— 


Konfiskation des Vermögens ebenderſelben aufzunehmen; die 
Feſtſetzung des Grades der Verantwortlichkeit und des Um— 
fanges der Geldſtrafe für eine Verletzung der verbindlichen 
Verordnungen der Stadtverordneten-Verſammlung ſteht nur 
dem Gericht zu. — Der Miniſter des Innern erläutert durch 
ein Zirkular den Modus der Beſchwerdeführung über die 
Gouvernements-Behörden für ſtädtiſche und landſchaftliche 
Angelegenheiten. Wenn es ſich um Verfügungen handelt, 
die die gen. Behörden in ihrer Eigenſchaft als Reviſions— 
inſtanzen bezüglich der ihnen zur Prüfung überwieſenen 
Beſchlüſſe der Stadtverordneten- und Landſchafts-Ver— 
ſammlungen getroffen haben, ſo müſſen die Beſchwerden an 
den Dirig. Senat durch das Miniſterium des Innern 
gehen; dagegen find die Beſchwerden direkt an den Dirig. 
Senat zu rihten in allen den Fällen, wo die gen. Behörden 
als anordnende Ndminijtrativorgane gehandelt haben, 3. B. 
bei Feſtſetzung des Gehaltes der ſtädtiſchen oder landjchaftlichen 
Beamten und überhaupt bei allen ungerechtfertigt erjcheinenden 
Verfügungen adminijtrativer Natur. 

19. Oft. Reformationsfeſt. Das 15. Flugblatt der Unterjtügungs: 
fajje für die evangelijcdy-Iutheriichen Gemeinden Rußlands 
theilt mit, daß die Kalle an Kolleften, Beiträgen, Ver: 
mächtniſſen und Darlehns-Rüdzahlungen 83,920 bl. ein: 
genommen bat und an Unterftügungen 81,301 Rbl. aus: 
gezahlt hat. Damit fonnten aber viele dringende Bedürfnifie 
noch lange nicht genügend berüdjichtigt werden. — Die Auf: 
hebung von 11 Militärpredigerſtellen (Balt. Chr. L, 31) hat 
die Ausgaben der Unterſtützungskaſſe erhöht. Eine Anzahl 
von Pfarren fann ohne den Erjag des Ausfalls der bis- 
herigen Militärprediger-Gagen nicht bejtehen und die Unter: 
ſtützungskaſſe muß diefen Eriaß aus ihren Mitteln hergeben. 
— Die meijten Unterjtügungen erhielt der Konfijtorialbezirf 
Moskau; in den Djtjeeprovinzen hat Kurland nicht einmal 
die im eigenen Gebiet nothiwendigen Unterjtügungen volljtändig 
aufgebradht, während das fleine Chftland (ganz bejonders 
hervorragend und jogar Riga jtarf übertreffend Neval) bei 
2! Mal größere Einnahmen einen bedeutenden Ueberſchuß 
erzielte. 


20. Oft. In Wolmar wird das 200-jährige Beitehen der Wolmarjchen 


23. 


evangelifch-tutheriichen Gemeindeichule gefeiert. Aus dieſer 
Schule war. einjt das jegt eingegangene livländische Schul— 
lehrerjeminar, das jogen. Ziemjeiche, hervorgegangen. 

» In der Betri:, Dom- und Gertrudkirche zu Niga findet 
eine Gedenkfeier der Antrittspredigt jtatt, die vor 375 Jahren 
an diefem Tage Andreas Knopken, der erfte lutherijche Prediger 
Livlands, in der Petrikirche hielt. 

„»  Stadtverordnetenverfammlung zu Jurjew (Dorpat): Zwei 
furatoriihe Schreiben theilen der Berfammlung die Kopien 
von zwei inhaltlich gleichen Anordnungen mit, die der Minijter 
der Vollsauflflärung im Mai d. J. getroffen hat. Danach 
jind zwei bisher der Stadt Jurjew (Dorpat) gehörige Kapitale 
— die Pereiraihe Stiftung von 2000 Rbl. und die von 
U. Wulffius gemachte Schenkung von 1000 Rbl. — in das 
Eigenthum der Jurjewſchen (Dörptichen) Regierungs: und 
Stadtihulen überzuführen und die Zinjen diefer Summen 
in Zufunft von dem Schulfollegium im Einvernehmen mit 
dem örtlichen Volksſchulinſpektor zu vertheilen. Die Ver: 
jammlung beichließt daraufhin einftimmig, über dieſe vom 
Minifter verfügte Abänderung einer Stiftungs- und einer 
Scenfungsurfunde beim Dirig. Senat Beſchwerde zu führen 
(vgl. die gleichen Fälle in Pernau und Walf, Balt. Chr. L, 
112 und 124). Ferner liegt ein Zirfular aus dem Miniſterium 
des Innern vor. In ihm wird die Anjtellung von Polizei— 
Herzten für jehr wünjchenswerth erflärt und angefragt, in 
welchem Maße ſich die Koften eines ſolchen Amtes aus der 
ftädtiichen Mitteln bejtreiten ließen. Die Verjammlung 
bejchließt zu antworten: Da der Polizeiarzt von der Negierung 
und nicht von der Stadtverwaltung eingefegt werden joll, 
hält legtere es für unmöglid, aud nur einen Theil der 
Koften von fih aus aufzubringen. — Die Felliner Stabt- 
verordnneten haben am 10. Dftober auf Ddiefelbe Anfrage 
geantwortet: In Fellin jei ein Polizeiarzt völlig überflüſſig, 
da der Studtarzt dort ohne jede Schwierigkeit alle Pflichten 
eines ſolchen erfülle; falls aber die Negierung durchaus eine 
ſolche Charge freiren wolle, werde die Stadt von ſich aus 
eine Jahresgage von 221 Rbl. zu dieſem Zweck bewilligen. 


24 


to 


25. 


IL 
Sy) 


27. 


tt 
=] 


—— 


. Oft. Ein Allerh. Befehl bewilligt zur Vollendung des Baues 


der Nevaler Kathedrale 75,000 Rbl. aus den Summen der 
Neichsrentei und verfügt, daß zu demjelben Zweck eine gleiche 
Summe in das Budget des heil. Synods von 1899 ein- 
geitellt werde. 

„ An der Warjcauer Univerjität fommen Unordnungen unter den 
Studenten vor (Demonjtrationen gegen das Muramjew:Denfmal). 244 
Studenten werden zur Verantwortung gezogen. Die Strafen werden 
aber jpäter im Einvernehmen mit dem Öeneralgouverneur gemildert, jo 
daß nur 30 Studenten die Univerjität verlaffen müſſen. 


5. Oft. Der Dirig. Senat hat in Veranlajjung eines fonfreten 


Falles eine Nechtserklärung gegeben, die für die rechtlichen 
Beziehungen zum Auslande von großer praftiicher Bedeutung 
it. Es lag die Frage vor, ob die irrige Auslegung aus: 
ländiſcher Geſetze durch ruſſiſche Gerichte zu Geſuchen um 
Verwerfung von Gerichtsurtheilen auf dem Kaſſationswege 
berechtige. Der Senat hat dieſe Frage bejaht, indem er 
erklärte: Das ruſſiſche Geſetz (Art. 707 u. 708 der Krim.: 
Ger.-D.) jchreibt vor, daß im Auslande abgejchloffene Verträge 
und Alte auf Grund der Gejeke des betreffenden Staates, 
in dem fie abgejchlojfen wurden, zu behandeln find, und 
giebt damit für jolde Fälle den ausländischen Geſetzen die 
gleiche Rechtskraft wie den einheimischen; eo ipso hat deshalb 
das ruſſiſche Geſetz auch die Möglichkeit einer irrigen Aus: 
legung ausländiicher Gejege durch ruſſiſche Nichter im Auge 
gehabt. 

„  Erzbiichof Arſſenij vollzieht die Einweihung eines Platzes 
zum Bau einer athedrale (cobopuaro xpama) für die Rigaſche 
weibliche Gemeinſchaft zur heil. Dreieinigfeit. 

„ In der ruſſiſchen Preſſe werden die Angriffe der nationalijtiichen 
Organe gegen die „Peterburgsfija Wedomoſti“ und den Fürften Uchtomski 
immer heftiger und leidenichaftlicher, wobei es ſich in erjter Linie um 
polnijcye Berhältnijie handelt. Ter „Smjet” bezeichnet es als ein höchſt 
jonderbares Faktum, Daß in einem der Negierung gehörigen Blatte eine 
Politif getrieben werde, die der Einheit des Staates jtrift feindlich jei. 


. Oft. Aus dem Zirkular für den Rigaſchen Lehrbezirk (Nr. 8, 


vom 1. Auguit datirt, erſt jegt erichienen): Ein am 24. Dlärz 
d. J. Allerhöchſt bejtätigtes Neichsrathsgutachten lautet: 1. 
Die am 22. Mai 1862 Allerh. bejtätigten Anjchlags-Negeln 
(für das Staatsbudget) jind durd folgende Bejtimmungen 


1 .— 


zu ergänzen: 1) Die vorfommenden Geldjpenden zu bejtimmten 
Zweden, die in der feitgejegten Ordnung genehmigt find, 
werden den Epezialmitteln desjenigen Reſſorts zugezählt, zu 
deſſen Dispofition dieje Spenden gejtellt find, ohne daß dazu 
ein Allerh. Befehl auf gejeßgeberiihem Wege zu erportiren 
ift. Die betreff. Reſſorts haben von allen derartigen Spenden 
der Gtaats-Kontrole unverzüglid Mittheilung zu maden. 
2) Die erwähnten Summen werden in die Anjchläge ein- 
getragen, die die betreff. Reſſorts dem Neichsrath vorzuftellen 
haben. II. Die vorjtehenden Regeln find auf alle Spenden 
anzumenden, die unter die Depofiten gezählt werden und nod) 
nicht in die Anjchläge der Spezialmittel eingetragen find. — 
Ein Allerh. Befehl vom 30. Juni d. J. verfügt, daß der 
Lümmadaſchen Gemeindeſchule (vgl. oben zum 3. Dftober, 
minijterielle Schule) fünf Jahre hindurch jährlid 29 Kubik— 
faden Brennholz aus den SKronswäldern unentgeltlich zu 
liefern find. — Der Miniſter der Volfsaufflärung hat auf 
ein Geſuch der Gemeindeverjammlung von Tihorna im 
Jurjewichen (Dörptiden) Kreiſe die Gründung einer zwei- 
Elajfigen minifteriellen Schule in Tſchorna verfügt und zum 
Bau des Schulgebäudes 2000 bl. angewiejen. — Der 
Kurator des Lehrbezirts hat die Schließung der pädagogijchen 
Ergänzungsklajje (zur Ausbildung von Gemeindejchullehrern ) 
bei der Goldingenichen zweiflaffigen minijteriellen Schule 
verfügt und die Eröffnung einer ſolchen Klaſſe bei der zwei: 
klaſſigen minijteriellen Volksſchule zu Yohowes im Jurjewſchen 
(Dörptſchen) Kreiſe angeordnet. (In Goldingen befindet ſich 
bekanntlich ein frequentirtes ruſſiſches Volkslehrerſeminar.) — 
Dem Miniſter der Volksaufklärung iſt vom Miniſterkomité 
bekannt gegeben: in dem allerunterthänigſten Bericht über 
den Zuſtand des kurländiſchen Gouvernements im Jahre 1895 
iſt zu der Erklärung des Gouverneurs, daß die ruſſiſche 
Sprache immer mehr auf friedlichem Wege den ihr im 
Gebiet gebührenden Platz einnehme, folgende Allerhöchſte 
Bemerkung erfolgt: „Das iſt eine ſtarke Bürgſchaft für die 
Einigung mit den übrigen Gebieten Rußlands.“ 

28. Okt. Ernannt werden: der Gehilfe des Finanzminiſters Senator 
Iwaſchtſchenkow zum Gehilfen des Reichskontroleurs, der 


Gehilfe des Minifters des Innern Fürſt Obolenifi und der 
Dirigirende der Reichs-Adelsagrarbank Fürſt Lieven zu 
Mitgliedern der Bejondern Konferenz in Sachen des Adels- 
ſtandes. 


29. Okt. Auf den Konferenzen der Volksſchullehrer des St. Peters— 


30. 


burger Gouvernements iſt als durchaus nothwendig erkannt 
worden, in den Schulen der im Gouvernement anſäſſigen 
Fremdvölker, der lutheriſchen Ehſten und Finnen ebenſo wie 
der orthodoxen Iſhoren, möglichſt ſchnell und vollſtändig die 
Mutterſprache dieſer Fremdvölker durch die ruſſiſche Sprache 
zu erſetzen. Dagegen ſchreibt das geiſtliche Reſſort den 
Schulkonſeils der Eparchialſchulen vor, an den Schulen der 
Fremdvölker das Lehramt, wenn irgend möglich, nur ſolchen 
Perſonen zu übertragen, die die betreff. Fremdſprache gut 
beherrichen und gegebenen Falls auch den Neligionsunterricht 
in dieſer Sprache ertheilen können. 

„ Für die Beamten des Minifteriums der VBolfsaufflärung 
it eine neue Uniform Allerh. bejtätigt worden. Obligatoriſch 
wird das Tragen derielben am 1. Januar 1900. 

„ An der Jurjewſchen Univerfität find populär-willen- 
Ichaftliche Vorträge eröffnet worden. Cs follen regelmäßige 
Kurje in den einzelnen Disziplinen zunächſt der phyſiko— 
mathematilchen Fakultät fein. Damit joll etwas in der Art 
der jebt viel beiprochenen und jehr verichieden beurtheilten 
„Volks-Hochſchulen“ geichaffen werden. An der alten Univerfität 
Dorpat wurden von jeher populär-wiljenichaftliche Vorträge 
gehalten; jie erfreuten jich (als „Aulavorträge”) beim Bublitum 
einer lebhaften Sympathie. Es handelte ſich dabei aber um 
frei gewählte, von einander unabhängige Themata. — An der 
gen. Univerfität iſt jet auch eine ruſſiſche „gelehrte litterariſche 
Sejellichaft” gegründet worden. 

„ Zum weltlichen Mitgliede des evangeliſch-lutheriſchen 
General-Konſiſtoriums für das laufende Triennium iſt der 
Staatsrath von Aderkaß, Nanzleidireftor der Verwaltung der 
Kinderaiyle bei den Anjtalten der Kaiſerin Maria, ernannt 
worden. 

„ Im „xiſhſki Weſtnik“ wird lebhaft darüber geflagt, daß 
die Abiturienten der ruſſiſchen Lehrerſeminare im baltiſchen 


— 


Gebiet bei der Beſetzung der Volkslehrerſtellen noch immer 
viel zu wenig berückſichtigt würden. Die Regierung müſſe 
durchaus noch ſtärker den örtlichen Einflüſſen entgegentreten, 
die der Anſtellung ruſſiſcher Volkslehrer feindlich geſinnt ſeien. 


30. Oft. Zu den Verurtheilungen wegen des Tragens von Kor— 


31. 


porationsfarben und Schmüdung der Häufer während der 
Subiläumstage der Livonia (Balt. Chr. L, 145) ift noch eine 
ganze Reihe von weiteren Fällen binzugefommen, und alle 
Berurtheilten haben appellirt. Neun Fälle werden jest in 
zweiter Inſtanz vor dem riedensrichterplenum verhandelt. 
Vergebens weilt der vertheidigende Advokat nah, daß eine 
ganze Reihe von Senatsenticheidungen der Polizei aus: 
drüdlich das Recht abipricht, „zur Aufrechterhaltung der 
öffentlichen Ordnung und zum Schutze des Publikums“ 
Forderungen zu ftellen, die nicht durch ein pofitives Geſetz 
geftattet find und die zugleich die perjönlichen Rechte von 
Privatperfonen oder deren Tispofitionsrechte über ihr 
Vermögen beichränfen. Sämmtliche friedensrichterliche Ver— 
urtheilungen werden bejtätigt. 

„Drer Libauſche Polizeimeiſter Konkewitſch wird als Beamter 
zu beſonderen Aufträgen ins Reſſort des Finanzminiſteriums 
übergeführt. — Der Dirigirende des ehſtländiſchen Kameral— 
hofes M. V. Simin wird in der gleichen Stellung nach 
Penſa verſetzt; ſtellvertretend tritt an ſeine Stelle der Chef 
der I. Abtheilung A. Armſen. — Der ehſtländ. Medizinal— 
Inſpektor Dr. med. M. W. Sſaweljew iſt in gleicher 
Stellung nad) Jekaterinoſſlaw übergeführt, und der bisherige 
Jekaterinoſſlſawſche Mtedizinalinipeftor Dr. med. Lipski wird 
fein Nachfolger in Ehitland. 

„» Der Negierungsanzeiger lenkt häufig und ausführlich Die 
Aufmerkſamkeit feiner Zeier auf die Gründung neuer und 
die Umbildung alter Volksſchulen in den Djtjeeprovinzen. 
So erzählt er (Nr. 238) von der am 17. Oftober c. voll- 
zogenen Einweihung eines neuen Schulgebäudes in Echwedthof 
bei Mitau, das 160 Lernende aufnehmen fönne und der 
Gemeinde mehr als 8000 Rol. gefoftet habe, troßdem Die 
Krone alles zum Bau nöthige Holz unentgeltlich hergegeben 


15 — 


habe. Noch mehr, heißt es etwas ſpäter (Nr. 240), hätten 
die Bauern zu Kerſel im Jurjewſchen Kreiſe für den Bau 
eines Gebäudes aufgebracht, das eine zweiklaſſige miniſterielle 
Schule aufgenommen habe. Am 5. Oft. fei es feierlich in 
Gegenwart von Negierungsbeamten und Profeſſoren der 
Jurjewſchen Univerfität eingeweiht worden. Zum Zuftande- 
fommen diejes IWerfes habe die eifrige Thätigfeit des Bauer: 
kommiſſars und des Volksſchulinſpektors jenes Bezirkes viel 
beigetragen. Die beiden neuernannten Lehrer, Tutherifche 
Ehiten, jeien Zöglinge aus den legten Yahrgängen des 
Surjewichen und Walkſchen Lehrerfeminars. — Verſchiedene 
Erjcheinungen laſſen erfennen, dab die Abjicht vorliegt, 
möglichit viele evangel.lutheriiche Volksschulen in minifterielle 
Schulen umzumandeln, die man jegt auch als „konfeſſionsloſe“ 
zu bezeichnen pflegt. Schon im Auguſt e. hat der furländ. 
Gouverneur, einem Wunſche des Kurators entjprechend, die 
furländifchen Bauerkommiſſare angewieſen, alle ihnen unter: 
jtehenden &emeindeverwaltungen zur Ummandlung der 
Gemeindeichulen in minifterielle aufzufordern. Diejen Auf: 
forderungen haben bereits mehrere Gemeinden zu entiprechen 
begonnen, obgleih ſie nicht verfennen, daß dadurch Die 
Gemeindekaſſen, ungeachtet der von der Krone zugejagten 
Subvention, mehr als früher belajtet werden und die Schule 
der Einflußiphäre der Semeindeverwaltung dabei noch mehr 
entzogen wird. Auch in Yivland hat der Kurator die Bauer- 
fommilfare aufgefordert, für die Gründung minifterieller 
Schulen zu wirfen tebenfo in Ehjtland, Balt. Chr. J, 103). 
Der „Riſhſki Weſtnik“ weiß zu berichten, daß bereits viele 
Geſuche von Gemeinden zur Umwandlung ihrer Schulen 
vorliegen; nad ihm erklären die Gemeinden, daß fie gern 
die höhern Kojten tragen wollen. Ehſtniſche Blätter berichten, 
daß man im MWejenbergichen Kreiſe in jedem SKirchipiel 
1--3 minifterielle Schulen zu eröffnen beabfichtige; dadurch 
werde man dort den vielen geheimen Schulen ein Ende 
bereiten, die meijt von den alten, wegen „Unfähigfeit” von 
ihrem Amt entfernten Lehrern unterhalten werden. — Nach 
dem „Riſhſki Weſtnik“ hat ſich die Rigaſche Yehrbezirks: 
Verwaltung, da die miniteriellen Schulen fid jo vortreftlich 


— 16 


bewährten, an das Miniſterium um Aſſignirung größerer 
Geldmittel zur Vermehrung ſolcher Schulen gewandt. 


1. November. Der „Riihifi Weſtnik“ führt wieder einmal aus, daß die Studenten: 


" 


Korporationen in Jurjew (Dorpat) Produkte eines rein deuiichen Geistes 
feien, deshalb bei den Ehiten und Letten nie Sympatbien gefunden 
hätten und jih auch nie dem ruffiichen Geiſte anpafjen könnten. Jetzt 
hätten verschiedene Einwohner Aurjems (Dorpats) bei der Regierung 
dringend um definitive Aufhebung dieſer Korporationen nachgeſucht, da 
diefelben die gewohnheitsmäßige Ordnung und den regelmäßigen Lauf 
des ſtädtiſchen Lebens zeritörten. — Dafjelbe Organ verfichert, daß die 
Sache der „nationalen“ Profeffuren in Petersburg lebhaft betrieben werde 
und einen fehr günitigen Verlauf nchme. 

„ Aus dem Rechenjchaftsbericht der Geſellſchaft zur Ver: 
breitung der Bildung unter den Juden in Rußland iſt zu 
entnehmen, daß von diejer Gejellichaft im 9. 1896 für ihre 
Zwede 138,806 Rbl. verausgabt wurden. Davon fielen 
auf die Dftfeeprovinzen, wo die Gefellichaft 59 Mitglieder 
bat, 5148 Rbl. 

„  &s wird fonftatirt, daß der Dirig. Senat in den legten 
zwei Jahren über 87°/o der Verfügungen und Verordnungen 
der Gouvernements-Behörden, gegen die die Landichafts- 
verfammlungen flagbar geworden waren, aufgehoben hat. 
Außerdem wurde noch eine ganze Neihe von Verordnungen 
der Souverneure und von Verfügungen der Gouv. Behörden, 
über die der Senat Erflärungen allgemeinen Charakters abgab, 
von ihm als nicht fompetent befunden. — Der Senat hat 
entichieden, daß die Stadtverordnetenverfammlungen beredtigt 
find, ſtändige Nevilionsfommilfionen zu wählen oder Die 
Kommillfionen zur Prüfung der Hechenfchaftsberichte in 
ftändige zu verwandeln, wobei die betreffenden Kommiffionen 
aber nur einen fontrolivenden Charakter haben follen und 
fih in die anordnende Thätigfeit der Stadtämter nicht ein: 
mijchen Dürfen. 

„ Ein Mlerhöchit bejtätigtes Neichsrathsgutachten hat ent- 
ichieden, daß die Seemannsſchulen wieder dem Reſſort des 
Ninanzminijteriums unterzuordnnen feien. Die Organijation 
diefer Schulen fand im J. 1867 unter dem Finanzminijterium 
ftatt. Als 1881 die Durchführung des Prinzipes der „Ein: 
heitlichfeit im Unterrichtswejen” begann, gingen fie mit 
andern unter demjelben Miniſterium jtehenden Lehranjtalten 


— — 


an das Miniſterium der Volksaufklärung über und kamen 
unter die Auflicht der Wolfsichulinipeftoren. Von dem nun- 
mehr eintretenden äußerſt unbefriedigenden Gange der 
Seemannsbildung legten bald zahlreiche Klagen und Eingaben 
der Vertreter der Handelsichiffahrt und der Kaufmannicaft 
in den Eeeftädten Zeugniß ab. Das Minifterium der Volfs- 
aufflärung war troßdem der Anficht, daß die Beitimmungen 
von 1881 aufrecht erhalten werden mühten; das Finanz: 
minijterium aber erflärte es fir nothwendig, die Seemanns— 
Ihulen wieder in feine eigene Verwaltung zu nehmen. 
Demgemäß hat nun der Neichsrath entjchieden und zugleich 
dem Finanzminifterium anheimgeftellt, eine Vorlage zur 
Reform des gegenwärtigen Standes der feemännifchen Aus: 
bildung auszuarbeiten. 


1. Rov. Lettiiche Zeitungen ſprechen von einem den Landgemeinden zus 


ftchenden Nechte, ihre Lehrer felbjt zu mählen. Dem gegenüber wird 
darauf hingemwicien, dat bie „temporären Regeln vom 17. Mai 1887" 
ein Wahl: oder auch nur ein Vorſchlagsrecht der Landgemeinden nicht 
erwähnen. De facto hängt es von dem guten Willen der Volksſchul— 
inipeftoren ab, ob und wie die Gemeinden ihre Wünſche in Betreff der 
Lehreranftellung äußern dürfen. Die Inſpektoren haben jedenfalld das 
Recht, von ſich aus die Lehrer zu entlaffen und durd nur ihnen geeignet 
ericheinende Perfönlichfeiten nach Belieben „proviloriich“ zu erſetzen. 


2. Nov. In Neval findet die feierliche Weihe und Aufrichtung 


des Kreuzes auf der Hauptfuppel der neuen Nlerander: 
Nemwjfi-Hathedrale vor dem Schloß auf dem Domberge jtatt. 


„ Der Negierungsanzeiger (Nr. 240) meldet: „Der Herr 
und SKailer genehmigte die Entlaſſung des hochwürdigen 
Arjienij, Erzbiihofs von Kaſan, in feine Eparchie und Die 
Berufung des hochw. Theognoſt, Erzbischofs von Nomgorod, 
jowie des hochw. Dimitri, Biſchofs von Twer, nad) Petersburg 
zur Theilnahme am heiligiten Synod.“ Erzbiſchof Arjjenij 
gehörte bisher zu den refidirenden, d. h. auf bejtimmte Zeit 
berufenen Mitgliedern des heil. Synodes. 

5 Rejidenzblätter melden, dai das Finanzminiſterium im Verein mit 
dem Kriegsminiſterium und dem Minifterium der Landwirthichaft eine 
Enquete der deutſchen Kolonilation im Wejtgebiete veranitalten werde; 


dabei werde auch erforicht werden, aus welchen Gründen eine Ausjicdelung 
der rulfiihen Bauern aus diejem Gebiet ftattfinde. 


II 


3. Nov. Megen des Morgengebetes in den Schulen (Allerh. Befehl nom 
25. Juni c., Balt. Chr. I, 140) fommt es in der ruffiihen Prefie fort: 
gelegt zu den lebhafteſten Erörterungen. Man erfährt, daß der Minifter 
der Bolksauffl. im Juli den betreff. Schulverwaltungen mitgetheilt habe: 
da die ‚frage nicht geflärt jei, in welcher Sprache das Gebet abzuhalten 
fei, folle man fih in dieſer Beziehung auch fürderhin nad ben 
beſtehenden, hierauf bezüglichen Berfügungen richten. Man lieſt ferner, 
daß in einigen Schulen das Morgengebet „bis zum Eintreffen betaillirter 
Initruftionen” völlig aufgehoben jei, in andern nur noch von den 
orthodoren Schülern abgehalten werde. 

5. Nov. Die im Gauvernement Stamwropol eriftirenden deutſchen 
Kolonien find offiziell folgendermaßen umbenannt worden: 
Martinsfeld in Martynowkla, Bethel in Iwaſchtſchenkowa, 
Friedrichsfeld in Solotarewfa und Johannesdorf in 
Molotichnaja. 


5. Nov. Der Miniſter der Wolfsaufflärung hat gejtattet, in der 
Illuxtſchen Stadtichule als Ergänzungsfad den Unterricht in 
der deutſchen Spradye zuzulaſſen, und zwar barf bderjelbe 
wöchentlid in drei Stunden während der jchulfreien Zeit 
denjenigen Schülern der oberen Klaſſen ertheilt werden, Die 
ihn wünſchen und ein jährliches Ertra:Honorar von 2 Rbl. 
bezahlen fönnen. — Die rujfiihen Stadtichulen traten 
befanntlich mit dem völligen Ausihluß der deutichen Sprache 
an die Stelle der Kreisichulen, in denen Die deutſche 
Unterrichtsiprache herrichte. 

4. u. 5. Nov. Auf dem Finniichen Meerbuſen herrſcht ein jehr 
ftarfer und anhaltender Sturm, der aud in den Wäldern 
Ehjtlands bedeutenden Schaden anriditet. In Petersburg 
begleitet den Sturm eine Ueberſchwemmung, die nad) ihrer 
Höhe im laufenden Jahrhundert die dritte Stelle einnimmt 
(die Höhe von 8 Fuß 1 Zoll über der mittleren Norm wurde 
nur im November 1824 und im Auguſt 1890 überjchritten). 

6. Nov. Die Ehſtländiſche Gouvernementszeitung (Nr. 44) ver: 
öffentlicht eine Allerhöchit bejtätigte Nejolution des Minijter: 
fomites, durch die der ehjtländifche gegenfeitige Feuer: 
verjicherungsverein das Recht erhält, alle den Bauern 
gehörigen Gebäude zur vollen verficherungsfähigen Summe 
zur Verficherung anzunehmen, ohne daß dieſe Gebäude, wie 
bisher, vorher mit dem gejeglichen Minimalwerthe bei der 


— —— 


Gouvernementsverſicherung verſichert zu ſein brauchen. Eine 
Bedingung iſt dabei, daß jede Erhöhung des in der Geſellſchaft 
für dieſe Gebäude geltenden Prämienſatzes nur mit bejonderer 


Genehmigung des Minifters des Innern beſchloſſen werden darf. 
7. Nov. Erzbiſchof Arſſenij verläßt Niga, um ſich nach feiner 
neuen Mirfungsftätte Kaſan zu begeben, Bei feiner Abreije 
wie an den vorhergehenden Tagen werden ihm von dem 
Klerus der Nigafchen Epardie, von den Xertretern aller 
Regierungsrefforts und von der in den Oſtſeeprovinzen 
weilenden ruffiihen Gejellihaft überaus zahlreiche Chren- 
bezeugungen dargebradt. — Auf einem ihm am 30. Oftober 
gegebenen Abichiedsbanfett feierte den Erzbiſchof unter vielen andern auch 
ber Rektor Budilomwitich in einer Rebe, deren Wortlaut der „Riſhſti 
Weſtnik“ veröffentlicht: Der Name des Erzbiichofs ſei für immer untrennbar 
verbunden mit den Reformen im biefigen Grenzgebiet, die thatlächlich bier 
die Grundlage des religiöjen, jtaatlihen und überhaupt des ganzen Kultur; 
lebend verändert hätten. In Jurjem jeien noch vor zehm Jahren Die 
Spuren deö Ordens, der Nitterzeit, der Hanſa jehr lebendig geweſen; 
noch vor fo furzer Zeit habe dort auf dem Dome Jaroſlaws eine Inſti— 
tution beitehen können, Die ſich nach ihrem Geifte, ihren Aufgaben und 
Hielen fait durch nichts von den ähnlichen Inſtituten in Königsberg, 
Roſtock, Kiel unterichieden habe. Nunmehr jei man aber dort endlich 
von dem Vermächtniſſe Guſtav Adolfs befreit; mit dem Kamen Jurjew 
jeien dort auch die Traditionen Jaroſlaws auferjtanden. Als ein 
Mittelpunft ruffiicher Kulturarbeit müſſe die Jurjewſche Univerſität in 
enger Verbindung mit den übrigen Faktoren der rufftichen Bildung jtchen, 
insbejondere mit der orthodoren Kirdye. Er babe die Zuverſicht, daß 
das jittliche Band zwilhen dem Erzbiichof und der Univerfitätsgemeinde 
auch in Zukunft beftchen bleiben werde; denn nur in der fittlichen 
Semeinichaft mit den beiten rufjiichen Männern der That könne bie 
Jurjewſche Univerfität die Kräfte zu würdiger Erfüllung ihrer biftoriichen 
Aufgabe ſchöpfen und ein Herd rujfticher Bildung fein auf der Grenz— 
Ichjeide der Welt des Oſtens und des Weſtens, des Slawenthums und 
des Germanenthums. — Der Erzbiichof jelbit hob in jeiner Rede beionders 
die enge Verbindung hervor, in der er mit den Vertretern des baltilchen 
Schulreſſorts geitanden; nachdem Hapuftin und Speſchkow, dieſe von ihm 
hochverehrten rujjiihen Männer der That, abberufen jeien, habe Gott ihn 
und das Gebiet doppelt belohnt, indem er Yawromifi, dieſe auf dem 
Gebiet der Bolfsbildung ganz unjichägbare Kraft, bergeiandt habe, — 
Durch alle Reden, die von der Eparchialzeitung (Nr. 22) ſämmtlich ver— 
öffentlicht find, klingt die ſoziale und politiihe Bedeutung des Erz: 
biſchoſs durch. — Am 2. November volljog derſelbe in der Rigaſchen 
Kathedrale einen feierlichen Abſchieds-Gottesdienſt, wobei er in feiner Hede 
II* 


— 20 — 


u. A. ausſprach, die letzten zehn Jahre ſeien in der That für das baltiſche 
orthodoxe Leben eine Zeit der wahrhaften religiöſen Erweckung geweſen 
und er könne nur wünſchen, daß dieſe Erweckung nicht ſchwinde, ſondern 
mit ihr die Zahl der rechtgläubigen Kirchen und Bekenner ſtetig im 
baltiſchen Gebiet wachſe. 


7. Rov. In Anlaß der Reviſion der Bauerverordnungen wird in der Peters: 


burger öfonomiichen Gejellichaft über „das perjönliche Prinzip in der 
Struftur des bäuerlichen Lebens“ verhandelt. Der Bortragende (A. P. 
Nifolsfy) ſucht nachzuweiſen, daß die gegenwärtige ruffiihe Gemeinde: 
organilation und die folidariiche Daft der Bauern meilt Zuftände herbei: 
geführt babe, die nicht beffer feien als die frühere Leibeigenichaft. Jede 
Entwidelung der Bauern zu befieren ökonomiſchen Verhältniffen fei völlig 
gchemmt. Es fei daher unbedingt nothwendig dic gegenwärtige Gemeinde: 
organijation abzuichaffen und vor allem den Gemeindebefi in volles 
Eigenthum umzuwandeln. — Dieſe im inneren Heiche jchr verbreitete 
Auffaffung ftcht in cinem ſeltſamen Kontraſt zu den NAgitationen der 
„Männer der That“ im baltischen Gebiet, vgl. 3. B. die Hede des Profeſſors 
Kriwzow, Balt. Chr. L, 36. 


8. Nov. Das Minifterium der Volfsaufflärung Hat entichieden, 


11: 


daß die Normirung des Prozentjages jüdischer Schüler fid) 
nur auf Lehranftalten für das männliche Geichlecht bezieht 
und in ſämmtlichen weiblichen Lehranftalten die Aufnahme 
von Jüdinnen unbeſchränkt ift. 

„ Tas Minifterium des Innern hat den Gouvernements: 
und Kreislandichaftsämtern geftattet, die Situngsberichte der 
Verfammlungen ohne die vorherige Zenfur der Gouverneure 
zu druden. Die Vorfigenden der Aemter haben die Ver: 
antwortung für diefe Berichte zu tragen. 

„» Der Negierungsanzeiger berichtet über den Nechenfchafts- 
bericht der Kommilfion für ruſſiſche Volksvorleſungen in Riga. 
Es fanden im legten Jahr in Niga 42 folder Vorlefungen 
ftatt, die von 9557 Perſonen bejucht wurden. Gelejen 
wurden Broſchüren religiöien, hiſtoriſchen, litterärischen u. |. w. 
Inhaltes. Die Kommilfion unterftüßte außerdem die in 
verjchiedenen Yehranftalten Rigas abgehaltenen religiös: 
fittlihen Unterhaltungen, die meiſt jehr gut beiucht waren, 
und ebenfo die ruſſiſchen Vorlefungen in Wenden, MWerro, 
Dapfal und Pernau. 

„ Eröffnung des Verfehrs auf der neuerbauten Bahn 
Pſkow-Bologoje. Damit ift der Fürzejte Eifenbahnweg zwiſchen 
Rybinsk und Riga hergeftellt, 174 Werft fürzer als der 


— 21 — 


bisherige Weg über Gatſchino. Das Getreide, das bisher 
den Winter über bis zum Beginn der Navigation aus 
Petersburg in Rybinsk lagerte, wird jetzt, wie man annimmt, 
ohne Aufenthalt zum Export nach Riga und anderen balt. 
Häfen gebracht werden. 


12. Nov. Der livländiſche Verein zur Verpflegung von Epileptikern 


14. 


und Idioten eröffnet das Aſyl „Marienhof” bei Fellin, das 
zunächſt Raum für 20 Pfleglinge bietet. 

» Der Konjeil der Jurjewſchen Univerfität wählt den Finanz— 
minijter Witte zum Chrenmitgliede der Univerfität. 

„ Eine Senatsentjcheidung bat fejtgejtellt, was bisher nicht 
beachtet wurde, dab der VBermögenszenjus für das Necht der 
Betheiligung an den ruſſiſchen Adelsverjammlungen nad) dem 
Semjtwogeleß von 1890 zu bejtimmen ijt. Dana) muß fid) 
der Beltand der Ndelsverfammlungen bedeutend erweitern. 
Einerjeits werden viele Edelleute, die bisher als Kleingrund- 
bejiger galten, jetzt zu jtimmberechtigten Theilnehmern der 
Adelsverſammlungen, andererjeits wird auch die Zahl der 
Delegirten des adeligen Kleingrundbejiges eine viel größere. 
Die „Ruſſkija Wjed.“ meinen, daß danad die Wahlbeamten 
des Adels bald mehr als Vertreter des kleineren Grund: 
befißes erjcheinen werden. 

„ Ein Allerh. Erlaß an den Finanzminifter bejtätigt eine 
Vorlage deijelben über die Prägung und Inverkehrſetzung 
einer neuen fünfrubeligen Goldmünze im Werthe des dritten 
TIheiles eines Imperiales. — Ein zweiter Aller). Erlaß an 
den Finanzminiſter beftätigt eine Vorlage dejjelben über die 
Aenderung des Wortlautes der Aufichriften auf den Staats- 
Ktreditbilleten. Es hat dajelbit von nun an zu beißen: 
„Die Staatsbant wechjelt Streditbillete gegen Goldmünze 
in unbejchränftem Betrage um“ (bisher in Silber: 
oder Goldmünze); dem entiprechend jagen die folgenden 
Aufichriften, daß die Umwechſelung gegen Goldmünze durd) 
das gejammte Staatseigenthum fichergeftellt iſt und Die 
Kreditbillete im ganzen Reich ebenio wie die Goldmünze 
verfehren. — Damit hat die Goldwährung als Grundvaluta 
des ruſſiſchen Neiches die endgiltige Sanftion erhalten. 


— 22 — 


15. Nov. Den Reſidenzblättern iſt mitgetheilt worden: „In Ausführung des 


2. Punktes im Allerh. Befehl vom 25. Juni ec. bat der Miniſter der 
Vollsaufklärung im Einvernehmen mit dem Warjchauer Öeneralgouverneur 
durd Vorlagen vom 2. und 15. Oftober ©. für den Warjchauer Lehr: 
bezirf folgende Ordnung des Gebetes vor und nad dem Unierricht 
verfügt: Alle orthodoren Schüler einerjeitsS und alle Schüler eines anderen 
chriſtlichen Befenninifjes andererjeits haben ſich vor Beginn und, joweit 
fie noch in der Schule anmwejend find, aud nah Schluß des Unterrichtes 
in verichiedenen Räumen zu verjammeln und jollen dann das Gebet 
nach) den Regeln eines jeden Belenninijfes verrichten und zwar Die 
orthodoren Schüler in ruſſiſcher Sprade, die katholiſchen in polnilcher 
oder, wenn jie littauisch zu beten pflegen, in littauiſcher, die Broteitanten 
in Ddeuticher oder in ruljiiher Sprade. In den Elementarſchulen, wo 
wegen Raummangels beim Gebet eine Trennung der Schüler nad Kon: 
fellionen nicht durchführbar ijt, werden die Gebete der Reihe nad von 
den Yernenden der verſchiedenen Konfeſſionen abgehalten — zuerſt von 
den Orthodoren, darauf von den Katholiken und Protejtanten.” — Anders 
it dieſe Sache für die Katholifen der neun Gouvernements des nördlichen 
und ſüdweſtlichen Gebietes geregelt worden. Hier theilt ein Zirkular Des 
Minijters den Schyulverwaltungen mit, dad Minijterium ſei nad) Vereins 
barung mit dem fatholiiheu Metropoliten zu dem Schluffe gelangt, daß 
die fatholiihen Schüler das Gebet in lateinijher Sprade abhalten 
fönnten, und zwar fünnten jie, da das Bild Chriſti von Katholiten und 
Orihodoren in gleicher Weije verehrt werde, ihre Gebete vor diejem Bilde 
verrichten , widerjehe fich aber der betreffende Priejter letzterem, jo habe 
das Minijterium auch nichts dagegen, wenn ein fatholiidyes Deiligenbild 
aufgehängt werde. 


15. Nov. Der „St. Petersburger Zeitung“ wird vom Miniſter 


des Innern der Drud von Brivatannoncen unterjagt. Diefelbe 
Maßregel trifft auch drei in ruſſiſcher Sprache erfcheinende 
Refidenzblätter. Sie erfolgt wegen Wiederabdrudes eines 
„untergeichobenen Aufrufes verbrecheriichen Inhaltes,“ den 
ber „Swjet“ wenige Stunden vorher veröffentlicht. Dem 
„Swjet” wird dafür die erjte Verwarnung ertheilt. (Der 
Aufruf enthält den Proteſt der Warjchauer polnischen 
Etudenten gegen die Betheiligung von jede Warjchauer 
Profeſſoren an der Grundfteinlegung zum Wilnaer Murawjew— 
TDenfmal.) 

» Nachdem der Dinifter der Landwirthichaft das Reglement 
für die IV. baltiſche landwirthichaftliche Zentralausjtellung 
im Jahre 1899 zu Niga bejtätigt hat, wird in Riga ein 
Erefutiv:fomite der Ausitellung gemwählt. 


17 


19, 


— ., — 


. Nov. Die neue Bahnlinie Wologda-Arhangelsf wird eröffnet. 


Damit haben nun aud die Ujtjeeprovinzen eine Bahn: 
verbindung mit dem Weißen Meer. 

»  Nigafche Stadtverordnetenverijammlung: Es wird be: 
ſchloſſen, Plätze anzumweiien zum Bau eines Ergänzungs 
gebäudes für das Polytechnikum, eines ruſſiſchen Stadttheater 
und eines jtädtiichen Kunftmufeums, aud ein Haus anzu— 
faufen für zwei neue Elementaridyulen, die in der Moskauer 
Vorjtadt eröffnet werden jollen. Die der livländiichen 
Gejellihaft der Korrektions-Aſyle und Aderbau:Kolonien 
gezahlte Subfidie wird von 1000 auf 2000 Rbl., die Unter: 
ftügung des Rig. Vereins gegen den Bettel von 6000 auf 
10,000 Rbol. erhöht. 

» Die bisher in Dwinsk (Dünaburg) jtehende Feltungs- 
Sappeur-Hompagnie ijt als ſtändige Sarnijon nad) der Feſtung 
Zibau übergeführt worden. Dwinsk (Dünaburg) iſt nicht 
mehr Sejtung, jondern Feſtungs Depot. 

„ Unter den vielen vom Livonia- Jubiläum ber Verklagten 
und vom Friedensrichter Verurtbeilten werden ſechs vom 
Sriedensrichterplenum freigeſprochen; aber der Profureur 
übergiebt aud) diefe Sachen dem Senat. 


» Die vom Miniſterium des Innern im Nordiweftgebiet 
niedergejeßten Spezialftommijfionen, die die Frage der Ein: 
führung der Landjchaftsinftitutionen beraten jollten, haben 
dem Dkinijterium ihre Gutachten eingejandt. Die Wilnajche 
Kommilfion hat fih für die Einführung ausgeiprocen, aber 
zugleich vorgeichlagen, den Adel von jeder aktiven Theilnahme 
an den Landichafts: Angelegenheiten auszuichließen. Die 
Grodnoſche Kommiſſion ift gegen die Einführung der Semjtwo 
und wünjcht nur einige Neformen der gegemwärtigen Admini— 
jtration. Dagegen bat jich die Kownoſche Kommiſſion für 
die Semjtwo ohne jede Einjchränfung und Modifikation aus: 
geſprochen. 

Erzbiſchof Arſſenij weiht in Kaſan eine neue Kirche für getaufte 
Tataren, nachdem er vorher eine tatariihe Familie getauft bat. Beim 
Gottesdienit fingen zwei Chöre von Tataren in tatariicher Sprade, ein 
dritter Chor aus Tichumwalchen, Ticyeremifjen, Wotjafen und Mordwinen 
in firhenjlavonijcher Sprade. 


— 24 — 


19. Nov. Die „Moskowſkija Wed.” laſſen ſich aus Jurjew (Dorpat) ſchreiben, 
daß die finanziellen Berhältniffe der ruſſiſchen Studenten Jurjews, 
namentlich der 180 Seminariiten, äußerit traurige jeien. Früher habe 
es hier einen Ucberihuß an vermögenden Siudenten gegeben, die einen 
bedeutenden Theil der Hoften des Unterhaltes der Lehrkräfte und Yehr: 
mittel getragen hätten, jest fünnten die meilten ohne fremde Hilfe die 
Univerjitätsiteuer und die Kollegiengelder nicht bezahlen, ja überhaupt 
nicht exiſtiren. Stipendien feien für die rufjiichen Studenten ſehr wenig 
vorhanden, denn die Privaritipendien, die ſich allerdings auf 190,000 Rbl. 
beliefen, jeien größtentheil® für Cingeborene und jogar für Protejtanten 
beitimmt. Auch die Stiftung des ruffiihen Kaufmanns Schamajew 
(200,000 Rbl.) werde nicht von der Univerfität, fondern von einem 
Speziallomite des Waijengerichts verwaltet und käme nur zur Hälfte 
Orthodoren aus dem Kleinbürgeritande, zur anderen Hälfte aber Prote: 
ſtanten und einem Juden zu Gute. Dabei jeien die deutichen Studenten 
an und für jich wohlhabend und betheiligten ji an den Slorporationen, 
die die Bedürftigen auf jede Weile unterjtügten. Ter Korreſpondent 
richtet einen Appell an die Wohlihäter Moslaus und geht dann zu 
Beihuldigungen und Berdächtigungen der „Sorporanten“ über. 

20. Nov. Libauſche Stadtverordnetenverfammlung: Das Etadthaupt 
theilt mit Bezugnahme auf einen Beichluß der Verfammlung 
vom 27. Januar 1897 mit, daß ſein allerunterthänigites 
Geſuch in Angelegenheiten der Umwandlung der Stabt- 
Töchterſchule in ein Mädchengymnaſium ohne Verfolg gelaſſen 
worden ſei. In Folge deſſen beſchließt die Verſammlung 
mit 35 gegen 11 Stimmen: Die Libauſche ſtädt. Töchterſchule 
it in ein Mädchengymnaſium umzumandeln nad) dem Statut 
vom 24. Mai 1870 und unter der vom Miniſter des Innern 
in jeinem Reſkript vom 22. Januar 1897 zugejtandenen 
Bedingung, daß von den jechs Gliedern des Echulfollegiums 
drei von der ib. Stadtverordnetenverfammlung gewählt 
werden dürfen. Die Stadt zahlt zum Unterhalte des Mädchen- 
Gymnaſiums jährlih 3000 Rbl. und überweiſt demjelben 
das Gebäude der bisherigen Stadttöchterichule zur Nutzung, 
wahrt ſich aber ihr volles Eigenthumsrecdht an dem Grundſtück 
und dem Gebäude. — Dazu jchreiben die „Libawſtkija Now.“: 
„Wir fönnen diefen Beihluß der Verfammlung nur will 
fonımen heißen; die Stadtverordneten haben noch einmal 
ihr breites Verftändnik für die ſich vollziehenden Thatſachen 
offenbart. Wir können dabei nicht umbin, die aftive Wolle 
des Direktors des Anabengumnafiums zu erwähnen, deſſen 


— 25 — 


perſönlicher Einfluß viel dazu beigetragen hat, um den 
Gedanken des ſchon längſt herangereiften Bedürfniſſes nach 
der Eröffnung eines Mädchengymnaſiums zu realiſiren.“ 
Gemeint iſt der Direktor Albert von Wohlgemuth. — Die 
Libauſche Stadtverordnetenverſammlung hatte an den Miniſter 
der Volksaufklärung das Geſuch gerichtet, der Miniſter möge 
geſtatten, daß die Lib. Stadttöchterſchule in ein Mädchen— 
Gymnaſium umgewandelt werde und daß das Recht zur 
Wahl der Direftrice der Stadtverordnetenverfammlung, das 
Recht zur Wahl der Lehrkräfte dem Schulfollegium zuftehe. 
Der Minifter verfügte aber, daß dies Geſuch ohne Folge zu 
lajien jei. Darauf reidhte das Libauſche Stadthaupt im 
Auftrage der Stadtverordnetenverfammlung eine Bittjchrift 
auf den Allerh. Namen ein, die eine Beichwerde gegen die 
Verfügung des Minifters in ſich ſchloß. Am 23. Dftober c. 
wurde dann Allerh. befohlen, dieje Beichwerde ſowie das 
Geſuch des Fib. Stadthauptes überhaupt ohne Folge zu laſſen. 

20. Nov. In Nömme bei Reval wird von der ehjtländiichen 
Sejellihaft zur Errichtung von Handwerfsafylen und land- 
wirthichaftlichen Kolonien für minderjährige Verbrecher ein 
ſolches Aſyl eröffnet. 

”» „Die evangeliſch-lutheriſche Kirche Kurlands erleidet einen 
großen Verluſt durch den Tod ihres Seneralfuperintendenten 
Julius Böttcher. Sein Amt wird vorläufig durch den 
Konſiſtorialrath Band-Viejohten vertreten. 

21. „ Im Birkular für den Rigaſchen Lehrbezirk (Nr. 9), das 
vom 1. Sept. Datirt ift, wird nunmehr der Allerh. Befehl 
vom 25. Juni e., betreffend die Ordnung des Diorgengebetes 
in den Schulen, veröffentlicht. 

19.— 22. Nov. In Petersburg tagt eine auf Veranlaſſung der 
baltiichen Landwirthe (Balt. Chr. 1,145) vom Finanzminifter 
berufene Kommijfion, um über die Zölle auf Düngemittel 
zu berathen. Die in ihr vertretenen Zandwirthe beantragen 
eine Aufhebung diejer Zölle, weil diejelben die ſchon ohnehin 
bedrängte Landwirthichaft ganz niederdrüden ; Dagegen wünjchen 
die gleichfalls vertretenen ruſſiſchen Fabrikanten Fünftlicher 
Düngemittel dringend die Verdoppelung des Zolles auf Super: 
phosphate und pulverijirte Thomasſchlacken und halten eine 


21 


* 
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s 


— 26 — 


Aufhebung des Zolles nur bei ſolchen Düngſtoffen für möglich, 
die in Rußland überhaupt nicht produzirt werden. Cine 
Einigung kommt nicht zu Stande. Das Verhalten der 
Negierungsvertreter zeigt, daß die Landwirthe wejentlidhe 
Erleichterungen nur dort erreichen fünnen, wo ihre Intereſſen 
mit denen der Induſtrie nicht follidiren. Thatjählic find 
freilich, wie in der Kommijfion aud geäußert wurde, einjt- 
weilen die Oftfeeprovinzen und die wejtlichen Gebiete Rußlands 
faft die einzigen Konjumenten von künſtlichen Düngemitteln. 
— Das Nigajhe Börjenfomite befürwortet die allmähliche 
Aufhebung der betreffenden Importzölle. 


. Nov. Die vom Ministerium der Wegefommunifationen im 


Pernauſchen Hafen vorgenommenen Arbeiten haben, wie der 
Negierungsanzeiger mittheilt, das Fahrwaſſer von der Rhede 
bis zum Dafen auf eine Tiefe von 16 Fuß gebradt. 

„» Das Ingenieurfonjeil beim Dlinifterium der Wege: 
fommunifationen bat den Ausbau des Windauſchen Dafens 
näher bejtimmt. Danach jollen Schiffe von einem Tiefgange 
bis zu 22 Fuß zu jeder Zeit vollfommen gefahrlos in den 
Dafen einlaufen und in ihm manövriren fünnen. Für bie 
Arbeiten des Jahres 1898 find von dem zum Ausbau des 
Hafens für die nächiten fünf Jahre allignirten Kredit von 
3,390,000 Rbl. 800,000 Rol. bejtimmt. 

ö Baltiſche Zeitungen halten es für nöthig, weil in weiteren Kreiſen 
nod) immer Zweifel über die Konjequenzen der in den Jahren 1865— 1835 
vorhandenen Befreiung der Miſchehen vom Neverlalzwange bejtehen, an 
eine Senatsenticheidung vom Jahre 1893 zu erinnern. Durch Ddiejelbe 
wurde fonjtatirt, daß in der Seit, wo der Allerhödyite Befehl von 1865 
zu Kraft beitand, bei Ehen zwilchen Cvangeliichen und Orthodoren fein 
Heverjal über die orthodore Kindererziehung verlangt werden durfte und 
diejenigen Neverjale, die damals dennod) ausgejtellt find, auch jetzt nad 
Wiedereinführung des Neverjalzgwanges feine rechtliche Bedeutung haben, 
mithin ihre Nichtbefolgung feine Strafe nach ſich ziehen fann. 

„ Die Infel Oeſel, die bisher als Akziſebezirk der ehſt— 
ländijchen Akzijeverwaltung unterjtellt war, ijt nunmehr dem 
Reſſort der livländiichen Gouvernements- Azifeverwaltung 
einverleibt worden. 

u Ter „St. Peteröburger Herold“ veröffentlicht einen hiſtoriſchen 
Nüdblid auf die Entſtehung der ausſchließlichen Krugsberehtigung der 
Nittergüter in den baltiidhen Gouvernements. Der Verfafler fonitatirt 


— 27 — 


die befannte Thatſache, daß die Krugsberechtigung ein Realrecht der betreff. 
Güter darſtellt und mit dem Stande der Gutsbeſitzer garnichts zu thun 
hat. Er weit darauf hin, daß dies Recht durchaus feine Ipezielle 
Eigenthümlichfeit der Oſtſeeprovinzen jei, ſondern aud anderweitig Jahr: 
hunderte lang bejtanden habe und erjt im letter Zeit durch jtaatliche 
Erpropriation bejeitigt ſei. Kine ſolche Erpropriation ſei durch die alls 
gemeinen Reichsgeſetze und das baltiſche Privatrecht näher bejtimmt. Es 
fünne garnicht daran gezweifelt werden, daß auch bei der Einführung 
des jtaatlichen Vranntıweinmonopols in den Ditjeeprovinzen für die Aufs 
hebung der Krugsberechtigung eine volljtändige Entihädigung geleiitet 
werden würde, ıwie eine jolche durd den Art. 863 im dritten Bande des 
Privatrechtes garantirt jei. — Der Verfaſſer plaidirt dann dafür, den 
baltiihen Rittergütern bei Ablöjung ihres Schank- und Arugredites das 
Het des Branntweinbrennens zu lajjen, da eine Aufhebung des legtern 
wieder eine empfindliche Schädigung der baltiihen Landwirthſchaft bedeuten 
würde — troß aller gejeglihen Entſchädigungen. 


24. Nov. Das Diinifterium der Yandwirthichaft hat, wie der 


25. 


„Riſhſti W.“ mittheilt, im Jahre 1896 der Rigajchen redht: 
gläubigen Dreifaltigfeits-Gemeinshaft zur Vermehrung ihrer 
materiellen Mittel 108 Dejlätinen Heuſchläge bei Riga 
foitenlos abgetreten. 

" Tie „Mostowjfija Wed.” bringen einen „ein Ehſte“ unterzeichneten 
Artifel, in dem verlangt wird, dag an der theologiichen Fakultät der 
Jurjewſchen Univerjität nur noch ſolche Profefjoren angejtellt würden, 
die in ruſſiſcher Sprache leſen. Die neue ehjtniiche Kirchenſprache jei 
vollfommen unnüg, denn fie werde ſchon gegenwärtig von den Bauern 
garnicht veritanden und in Zukunft werde erjt recht fein Publikum für 
ſie exiſtiren. Dan müfje num dod) endlich begreifen, daß die Ehſten bei 
fortichreitender Bildung ihre Nationalität nicht aufrecht erhalten fünnten: 
für jie jei nichts anderes möglidy, als mit einem jtarfen und fultivirten 
Volke zu verihmelzen, und das könne natürlich nur das ruſſiſche jein. 
Die Ehjten jelbjt jeien aud) davon bereits überzeugt. — Der Artikel ijt 
durchwoben mit Xügen von der bisherigen Germanijirung,von der Knechtung 
der Volksjcdyullehrer durch Gutsbejiger und Pajtoren u. j. w. 

„ An MWeißenitein hatte die lutheriſche Kirchenſchule ein: 
gehen müſſen; den Kindern der unbemittelten lutheriſchen 
Einwohner fehlte jeitdem jeder Unterricht. Nunmehr ijt eine 
ruſſiſche zweiklaſſige Elementarſchule eröffnet worden, in die 
zunächſt 22 Kinder eingetreten find. 

„ Ver Dirigirende Senat hat verfügt, daß ein Zirkular 
des Miniſters dev Bolfsaufllärung vom 10. November 1879 
an die Lehrbezirfs:-Kuratoren im Negierungsanzeiger (Nr. 258) 
wieder zur allgemeinen Kenntnig gebracht werde. Danad) 


— 28 — 


dürfen alle Lehrämter in den Lehranſtalten des Miniſteriums 
der Volfsaufflärung nur mit folchen Perſonen beſetzt werden, 
deren moraliihe Cigenichaften und politiihe Zuverläfligfeit 
vom örtlidhen Gouverneur atteftirt ift. Bon derſelben 
Bedingung ijt die Ertheilung von Dauslehrerdiplomen und 
Konzeifionen zur Eröffnung von Privat-Lehranitalten abhängig. 
28. Nov. Die livländiihde Oberlandichulbehörde madt in Der 
„Livl. Gouv. Ztg.“ (Nr. 122) befannt, daß zur Zulammen: 
jtellung der vom Minifter der Volfsaufflärung verlangten 
Daten über den Beitand der evangeliich-lutheriihen Bolfs- 
ſchulen die meltlihen und geiftlichen Kreis-Schulrevidenten 
in nädjter Zeit Nevifionen der Volksſchulen ausführen 
würden, wobei ihnen nad) dem Geſetz das Recht zuftebe, 
für ihre Nevifionsfahrten Schießpferde zu verlangen. — 
Die Oberlandichulfommilfionen in Kur- und Ehitland find 
dur das Gefeg vom 25. April 1875 verpflichtet, dem 
Dlinijterium der Volksaufflärung jührlide Rechenſchaften über 
den Zuſtand der Volksschulen vorzujtellen; für die livländ. 
Oberlandſchulbehörde lag ſolch eine Verpflichtung bis 1896 
nicht vor, jondern hier ftellte die livländ. Ritterſchaft ihrerjeits 
auf Grund der Kechenichaften, die fie von der Oberland: 
ichulbehörde empfing, dem Minifterium der Volfsaufflärung 
jährliche Berichte über das Volksichulweien vor. Als aber 
das Geſetz vom 17. Mai 1887 die direkte Verwaltung 
jämmtlicher Volkoſchulen den von der Negierung ernannten 
Volksichuldireftoren und -inipeftoren übertragen hatte, fehlten 
der livländ. Oberlandſchulbehörde die erforderlichen Daten, 
um die bisherigen Berichte an die Nitterichaft fortzujegen, 
und in Folge deſſen Konnte auch die Nitterichaft dem 
Dinifterium feine Nechenjchaftsberidhte mehr vorstellen. Ein 
Antrag des Minifters der Volksaufklärung, den livländiichen 
Zandmarichall zu weiteren Berichten über die livländ. Volks— 
ichulen zu veranlafen, wurde vom Minifter des Innern ab- 
gelehnt. Darauf verfügte der Dlinijter der Volfsaufflärung 
am 22. Dezember 1896, daß die livländ. Oberlandſchul— 
behörde ſolche NHechenichaftsberichte in Zukunft jährlich der 
Verwaltung des Nig. Lehrbezirks einzujenden habe. In Folge 
deſſen bejchloß die Oberlandichulbehörde am 3. Mai c., ihre 


er 


Kreisichulrevidenten mit der Nornahme von Lofalrevifionen 
Jämmtlicher evangelifch-Tutheriicher Parochial- und Gemeinde: 
Ihulen zu beauftragen und die örtlichen Volksſchulinſpektoren 
durch den Nigafchen Volksſchuldirektor, der ſelbſt ein Glied 
der Oberlandichulbehörde ift, zur Theilnahme an Dielen 
Nevifionen auffordern zu laſſen. Die Nevifion ſoll ſich auf 
die Geſammtzahl der im ſchulpflichtigen Alter jtehenden Kinder, 
auf die Zahl der thatjächlich die Schulen bejuchenden Kinder, 
auf den Kenntnißſtand derjelben, auf die Qualififation der 
Lehrer und auf die Unterhaltungskoften der Schulen beziehen. 

29. Nov. Der Minister de8 Innern gejtattet der „St. Pebersb. Ztg.”" wie den 
drei von derielben Strafe betroffenen ruffiischen Preßorganen wieder den 
Drud von privaten Anjeraten. 

30. Nov. Nah den vom Minifterium der Landwirthichaft ge 
jammelten Daten ift die Getreideernte des europäilchen 
Rußlands im laufenden Jahr ſtark unter Mittel ausgefallen. 
Das Gefammtdefizit in allen Getreidearten wird im Vergleich 
mit einer mittleren Ernte auf ca. 70 Millionen Tichetwert 
beziffert. In 24 Gouvernements fteht man wieder der 
Gefahr einer Hungersnoth gegenüber. In vielen Gegenden 
des inneren Rußlands wird über den völligen Niedergang 
der bäuerlichen Wirthichaften geflagt; die Bauern verkaufen 
ihr Vieh in großen Mengen, und die Zahl der Höfe ohne 
jedes Arbeitsvieh jteigt erichredend. Der Negierungsanzeiger 
(Nr. 259) theilt mit, daß an Wintergetreide die baltischen 
Gouvernements die beiten Erfolge des Neiches aufwieſen, 
indem fie 26,4°/n mehr ernteten, als die allgemeine ruſſiſche 
Durdichnittsernte der legten fünf Jahre betragen hätte. In 
den Djtjeeprovinzen ſelbſt bezeichnet man aber die Geſammt— 
ernte dieſes Jahres als eine durchaus nicht befriedigende. 
Geklagt wird bejonders über die Mifernte der Kartoffeln. 
Eine jolche hat auch in den weitlichen Gouvernements jtatt: 
gefunden, und man erwartet daher nur einen jehr geringen 
Spirituserport aus den baltischen Däfen. 

1. Dezember. In Abweichung von der Negel der direkten Er: 
nennung der Profeſſoren durch das Minifterium der Wolf: 
aufflärung iſt in letzter Zeit einige Mal Fakultäten ver: 
ſchiedener Univerfitäten erlaubt worden, von id aus dem 


— 80 — 


Miniſterium Kandidaten für vakante Profeſſuren vorzuſtellen. 
Im vorigen Semeſter war auch der medizinischen Fakultät 
der Jurjewſchen Univerſität erlaubt worden, einen Kandidaten 
für die vakante Profeſſur der Gynäkologie und Geburtshilfe 
vorzuſchlagen. Die Fakultät ſchrieb darauf eine Konkurrenz 
aus, und es meldeten ſich einige Privatdozenten von der 
Moskauer Univerſität und von der Petersburger mediko— 
chirurgiſchen Alademie. Unter ihnen hat jetzt ein langjähriger 
Moskauer Privatdozent, Dr. Muratow, die Mehrzahl der 
Stimmen der Fafultätsglieder erhalten. 


2. Dez. Nad amtlichen Angaben find in den legten 15 Jahren 


im Ganzen 25,000 Perſonen ins Amurgebiet übergejiedelt. 
Gegenwärtig jcheint die Meberfiedelung dorthin wenig lodend 
zu fein, da im vorigen Jahr nur 93 Perfonen ſich zu 
ihr entichlojfen, während 1894 die Zahl der dorthin Aus: 
gewanderten 6000 betrug. 

» Die Nevifion der livländischen Volksſchulen wird im 
Kirchipiel Nanden begonnen. 

„ Stabtverordnetenwahlen in Libau: Von 395 Wählern 
(gegen 50°; der Wahlberechtigten) werden 55 Stadtverordnete 
gewählt. Von den 51 bisherigen Stadtverordneten hatten 
2 auf die Wiederwahl verzichtet, die übrigen werden ſämmtlich 
wiedergewählt. Die Gejammtzahl ift um 4 gejtiegen. Alle 
Gewählten gehören der Liſte einer Partei an. Die Oppo: 
fitionspartei hat auch bei der Wahl der 11 Kandidaten feinen 
Erfolg. 

„ Mit dem Uebergange der Seemannsichulen zum Finanz- 
minifterium (Balt. Chr. Il, 16) wird von leßterem eine 
befondere Inſpektion diefer Schulen begründet, die das 
Material zu den äußerſt nothwendigen Neformen zuſammen— 
jtellen fol. — Das Finanzminifterium gründet zugleich zur 
Hebung der rulfiihen Handelsichiffahrt: a) einen Seeſchiffahrts— 
Konjeil, der aus Beamten und Grperten bejtehbt und den 
Finanzminiſter zum Präſidenten hat; b) eine bejondere Ab: 
theilung für Seeichiffahrt mit fünf Unterabtheilungen und 
19 Beamten. Dafür find jährlich 60,120 Rbl. ausgemworfen. 
— Bisher it die ruſſiſche Dandelsflotte eine äußerft geringe 
gewejen. Am 1. Januar 1897 gab es in allen ruſſiſchen 


—— 


Meeren zuſammen nur 377 ruſſiſche Dampfer, von denen 
faſt die Hälfte Kronsfahrzeuge waren und nur 37 ſich zu 
ausländiichen Reifen eigneten. Nur 5% aller rulfiichen 
Dampfer waren in Rußland gebaut. Von den 1684 Segel: 
Ihiffen waren mehr als zwei Drittel Feine Küftenfahrzeuge. 


5. Dez. Durch einen Allerh. Ukas wird eine Vorlage des Finanz— 


” 


” 


1 


2] 


minifters bejtätigt, wonad) folgende 4'/2’o und 5"/o Eijen: 
bahnobligationen in 4°’ Papiere fonvertirt werden: Die 
41/29/ Obligationen der Emiſſion vom Jahre 1858 der 
ehemaligen Großen Ruſſ. Eifenbahn-Gelellichaft und die 5° 
Obligationen der Mosfau:Smolensfer und der Trans: 
faufafiichen Eifenbahn. Alle diefe Bahnen find gegenwärtig 
verjtaatlicht. — Dies ift die erjte ruſſiſche Konverfion, die 
ohne Konverfionsprämie volljogen wird. 

„ Ein Mllerh. Ukas ernennt den Kommandirenden des 
Wilnaſchen Militärbezirts, den Generaladjutanten Trozfi, 
zum Öeneralgouverneur von Wilna, Kowno und Grobno 
unter Belafjung in feiner gegenwärtigen Stellung. — Tamit 
it eine in der Preffe vielerörterte Frage entichieden. Während in der 
polniichen Preffe nach dem Tode des Generalgouverneurs Orihewifi viel 
von der gänzlichen Aufhebung dieſes General-Gouvernements die Rede 
war, jehen jetzt rufftiiche Blätter der Ernennung Trozki's und in ber 
Vereinigung der Militär: und Zivilgewalt einen neuen Beweis für die 
fonlequente Fortſetzung der bewährten Grenzmarfenpolitif, 

„ Die „Beterb. Wed.“ theilen mit, daß für die Oſtſee— 
provinzen mehrere orthodore Miiftonärpojten freirt werden 
follen und zwar ſowohl für die Altgläubigen wie für die 
ehſtniſchen und lettiichen Sekten. 

„ In Libau werden rufliiche Volksvorlefungen eröffnet; in 
Mitau ift ihre Eröffnung gleichfalls bejtimmt. Der „Riſhſki 
Weſtnik“ fpricht feine Freude darüber aus, daß der ruſſiſche 
Rultureinfluß und die Erfolge der ruſſiſchen Vereine und 
Sejellichaften fich jo fräftig entwidelten. 

» Der Generalgouverneur von Kiew, Podolien und Wol— 
hynien, Graf A. P. Ignatjew, wird auf jein Anjuchen feiner 
Stellung enthoben, bleibt aber Mitglied des Keichsrathes. 


. Nov. — 8. Dez In Petersburg findet die dritte Seſſion 


des Konſeils beim Miniſterium der Landwirthſchaft jtatt. 
Beſchloſſen wird das Projekt eines neuen Geſetzes für Die 


— Me 


Benusung des Waſſers zur Trodenlegung und Bewäſſerung 
von Yändereien. Am Konfeil nehmen 18 Landwirthe aus 
den verichiedenjten Theilen Rußlands theil, darunter aus den 
baltiihen Provinzen v. Eſſen Kaſter. — In der Blenarfigung 
des Konfeils vom 2. Dezember wurde einftimmig angenommen: 
Die baltischen Gouvernements unterliegen nur ſoweit diejem 
Waſſergeſetz, als es die örtlihe Sonderheit geitattet (d. i. 
in Bezug auf rechtliche und wirthichaftliche Verhältniſſe). 

In den Ditiecprovinzen find feit dem Jahre 1845 von privater Seite, 
von der öfonomilchen Sozietät und von den Nilterichaften mwicderholt 
Projefte eines allgemeinen baltischen Waſſergeſetzes ausgearbeitet worden, 
fie mußten aber in Ausficht eines allgemeinen Reichsgeſetzes ſtets zurüd: 
geftellt werden. Mit dem PBaucrlandverfauf entitand eine neue Kom— 
plifation der Grenzverhältniffe, die den Fortichritt der fulturtechniichen 
Arbeiten oft erichwerte und die mwafferrechtlihen Beltimmungen des 
Provinzialrechted immer ungenügender machte. An Folge deſſen theilte 
1879 die furländiiche Ritterfchaft den Nitterichaften Liv: und Ehſtlands 
ein ausgearbeitetes Wafferrehtsprojeft mit und proponirtce eine gemeinſame 
Vorſtellung an die Regierung. In Pivland murde das Furländiiche 
Projeft in den Jahren 1879— 1882 von einer Ritterichafts:Kommiljton 
durchgearbeitet und theilmeile abgeändert, aber megen der bevoritchenden 
Herausgabe eines Neichsgefches der Regierung nicht vorgelegt. Die von 
Kurland und Ehitland vorgeitellten Brojefte wurden im Minijterium 
feiner Durchſicht unterzogen, da gegenüber dem vorhandenen Projefte 
eines Reichsgeſetzes Fein Grund vorliege, mit den baltiſchen Provinzen 
eine Ausnahme zu machen. Aber das Reichd:Waffergeieh fand nicht die 
Billigung des Reichsrathes, und erit nach der Krcirung eines Minifteriums 
der Yandwirthichaft wurde die Waflerrechtsfrage als nothwendigite Vor: 
bedingung der landwirthichaftlichen Melioration mit mehr Energie auf: 
genommen. Im Sommer d. %. beendete eine Kommiſſion des gen. 
Minifteriums ihre Arbeiten, die nun dem landwirthfchaftlichen Konſeil 
vorgelegt werden fonnten. Das Projeft war vom Miniiter der livländ. 
öfonom. Sozietät mit der Aufforderung überjandt worden, in Anbetracht 
der Eigenart der Provinzen etwa vorhandene Wünſche zum Ausdrud zu 
bringen. Troß der ſehr furzen Zeit war es der Sozietät möglid, das 
Projekt zu prüfen und ſehr weientliche Aenderungsvorichläge zu machen, 
die dank dem Bejtchen des kulturtechnifchen Burcaus mit gutem technilchen 
Material begründet werden fonnten. Im landwirthichaftlihen Konſeil 
wurden Diele Vorichläge darauf mit dem beiten Erfolg von dem Bize— 
präjidenten der livländ. Sozietät, Baron ®. Stadelberg, vertreten, nachdem 
der Miniiter denfelben eingeladen hatte, an den Berathungen dieſer 
Seſſion theilzunchmen. Wenn nun aber auch die Abitimmungsreiultate 
im landwirthichaftlichen Konieil die provinziellen Intereſſen durdaus 
gewahrt ericheinen laſſen, fo ift doch nicht ausgeichlofien, daß das gegen: 


— 3— 


wärtige Projekt in den Miniſterien des Innern und der Juſtiz und zuletzt 
im Reichsrath ſehr großen Veränderungen unterworfen wird. 

8. Dez. In der ruſſiſchen Preſſe wird ein ſtatiſtiſches Werk von ©. J. 
Preobraihenjfi über die orthodox-griechiſche Kirche in den Jahren 1840 — 
1890 beſprochen. Nach P. iſt die Zahl der Bisthümer, Klöſter und Kirchen 
ſowie die der Geiſtlichen in den 50 Jahren zwar recht ſtark gewachſen, 
ſteht aber immer noch nicht in dem richtigen Verhältniß zum Wachsthum 
der orthodoxen Bevölkerung. Lebtere hat in dieſer Zeit um 28 Millionen 
Seelen zugenommen. Davon wurden durch die Milfion 1,172,758 Seelen 
gewonnen und zwar 311,279 Raskolniki, 250,812 Unierte, 166,625 
Proteitanten, 162,587 Katholiten, 2930 Armenier, 46,795 Juden, 65,891 
Muhamedaner und 155,186 Heiden. — Intereffant ijt die große Zunahme 
der Klöjter in den Jahren 18850—1890 (um 110. In dieſer Beziehung 
jtcht, wie P. meint, dies Dezennium in der ganzen ruſſiſchen Geſchichte 
einzig da. Er jchreibt dieſe Zunahme der Klöjter ausſchließlich der in 
jenem Zeitraum erfolgten Hebung des religiöien Gefühls zu. Die „Nomoje 
Wremja” ijt jedoch der Anficht, daß hier auch dic Verarmung der 
Bevölterung Zentralrußlands eine Nolle ſpiele. 

9. Dez. Die Lettifch-litteräriihe Gefellichaft halt in Mitau ihre 
69. Jahresverfammlung ab. Der Präfident betont in der 
Eröffnungsrede, daß die Gejellihaft Männer der mannig- 
fachiten Berufe und verichiedener Nationalität vereinige und 
allen, die zu der gelunden geijtigen Entwidelung des Letten— 
volfes beitragen wollten, offen jtehe; gejchieden jei man blos 
von denen, die in nationaliftiihem Treiben nur niederriſſen, 
aber nicht bauten. Er nimmt auch zu der vielventilirten 
Frage der nationalen Profeſſuren Stellung: man mülle 
Sprade und Theologie, praftiihe Anforderungen des Lebens 
und wiljenichaftlihe Aufgaben der Hochſchule auseinander: 
halten; der Zehrjtuhl für praktiſche Theologie könne ſich nicht 
mit Spradjlehre abgeben; unbejtreitbar jei, daß das Fach 
der praktischen Theologie mit unvergleichlich größerem Erfolge 
in der Sprade gelehrt werden fönne, der immenje Quellen 
zu Gebote jtänden, als in der, der legtere fait gänzlich 
fehlten. „Wollte man aber etwa das lettiihe und ehſtniſche 
Lektorat der theologiihen Fakultät aggregiren, die ſprachlichen 
Vorlefungen noch weiter ausbauen, für die Theologen obli: 
gatoriih machen, praftiidhe Uebungen in der Sprade ein: 
ridhten, jo würde das eine Sache fein, über die fih alle 
und unſere Gejellichaft erjt recht freuen würden.” — Nad 
den in der Verſammlung gegebenen Berichten über die lettifche 

II 


—— 


Litteratur des vergangenen Jahres gab es in derſelben, wie 
naturgemäß auch in früheren Jahren, wenige Originale, 
dagegen recht viele Ueberſetzungen, Referate und Kritiken; 
die lettiſchen Zeitungen erweitern ſich immer mehr und 
nehmen viele Schriftſteller ganz in Anſpruch. Hervorgehoben 
wurden als litterariſche Ereigniſſe des letzten Jahres die in 
Paris erſchienene franzöſiſche Ueberſetzung des Lautenbachſchen 
Epos „Needriſchu Widwuds“ von Wiſſendorff, der erſte Band 
der großen Volksliederſammlung Barons „Latwiju dainas“ 
und die Ueberſetzung der beiden Theile des Goetheſchen Fauſt 
von Aſpaſija und Rainis. 


10. Dez. Die ehſtländiſche Gouvernementsbehörde für Fabrikſachen 


ſchreibt vor, daß der ehſtniſche Tert der in privaten Typo— 
graphien gedrudten Arbeitsbücder von dem vereidigten Trans: 
lateur der Gouvernements Typographie beglaubigt fein muß, 
dab aber für die Enticheidung von Mißverſtändniſſen und 
Zweifeln bei der Benugung diefer Bücher nur der Sinn und 
der Mortlaut des ruſſiſchen Tertes maßgebend ift. 

„ Die „Dünazeitung” (Nr. 268) brachte an leitender Stelle 
ein Referat über Verhandlungen auf einem Disfutirabend 
des Nig. Kaufmänniſchen Vereins. Danach war dort unter 
allgemeiner Zuſtimmung ausgelproden morden, daß Die 
Qualität des furländiichen Getreides fich feit den achtziger 
Jahren ganz auffallend von Jahr zu Jahr verichlechtere und 
tief unter der Qualität des rujfiichen Getreides jtehe; dagegen 
jei der livländiiche Getreidebau ſeit Eröffnung der Riga: 
Pilower Bahn qualitativ und quantitativ geitiegen. Offenbar 
beginne in Kurland der Boden ſich zu verichlehtern oder 
das dortige Korn degenerire. An das Referat waren in 
der „Dünazeitung“ Betradhtungen gefnüpft, die die Furiiche 
Landwirthſchaft zu größeren Anftrengungen mahnten. Diele 
Mahnungen werden nun ebenjo wie die Ausführungen auf 
dem Disfutirabend von fompetenter kurländiſcher Seite ſcharf 
zurüdgemiejen und als aus völliger Unfenntnig der Ver— 
hältniſſe Kurlands und des Getreidehandels dajelbjt hervor: 
gegangen bezeichnet. Cs wird Fonjtatirt, daß in Kurland 
für die Verbejlerung des Bodens gerade jekt in den Noth— 
jahren der Zandwirthichaft mehr denn je zuvor geichehe und 


BE — 


daß man es dort an Saatwechſel und Einführung neuer, 
empfehlenswerther Getreidevarietäten durdhaus nicht fehlen 
laſſe. Wenn das nad Riga gebrachte „Eurische” Getreide 
von Schlechter Qualität fei, jo ſeien daran nur die jüdiſchen 
Zwilchenhändler jchuld, deren fich alle Rig. Getreidefirmen 
zu bedienen pflegten. Von den Zwiſchenhändlern werde das 
gute Getreide ganz ſyſtematiſch mit der billigiten Schundwaare 
vermiſcht. Wergebens hätten die kurländiſchen Landwirthe 
direfte Beziehungen zu den Nig. Getreidefirmen anzuknüpfen 
geſucht; die letzteren hielten es immer für vortheilhafter 
große Bolten von duch Juden zufammengefauften Getreide 
auf einmal zu beziehen, als mit den einzelnen Yandwirthen 
direft zu verhandeln oder eigene Agenturen in den kleinen 
Städten zu etabliren. Anders jtehe es in Libau: dort hielten 
es die Großhändler nicht unter ihrer Würde, direft von den 
Produzenten zu faufen, und daher fei dort von einer fintenden 
Qualität des kuriſchen Getreides gar feine Rede. — Die 
„Düngzeitung“ erflärt darauf, daß fie die Fortichritte der 
furiichen Landwirthſchaft durchaus anerfenne und die Schlünje 
ihres Referenten bedauere. 

12. Dez. Die Jurjewiche Univerfität feiert den „95. Stiftungstag 
der Univerfität” durch einen Kejtaltus. Nach dem Gelange 
eines Kirchenchores und nad der Feſtrede des Profeſſors 
Filippow verlieft der Rektor den Jahresbericht und theilt 
mit, daß nunmehr betreffs der Lehrprogramme fein wejentlicher 
Unterichied zwiſchen der Jurjewichen Univerfität und anderen 
ruſſiſchen Univerſitäten beſtehe. Aus dem Jahresbericht jei 
erwähnt, daß der Profeſſor Kriwzow von dem Lehrjtuhl für 
das in Liv:, Kur, Ehjtland geltende Provinzialvecht zu dem 
Lehrituhl des römischen Rechts übergeführt ift, aber den 
Auftrag hat, zugleich Vorlefungen im Provinzialrecht zu 
halten; außerdem bejichäftigt ji) noch ein Dozent mit dem 
legteren. Die Zahl der Studenten wird auf 1026 angegeben 
(darunter 22 in der hiftorifch-philologiichen Fakultät. Abjtrahirt 
man von den 180 Seminariften, jo ergiebt fi, daß die 
Frequenz feit Anfang des Schuljahres 1896/97 um 86, jeit 
1890/11 aber um 818 abgenommen hat). — Vor diejer Feier 
in der Jurjewichen Aula hatte man den Tag in der a 


lutheriſchen Univerfitätsfirche mit einem Gottesdienſt begangen. 
Prof. F. Hörichelmann hielt eine Feitpredigt über Matthäus 
21, 13, und fennzeichnete den Tag als einen ernjten Gedenktag, 
der dem Gefühl der Dankbarkeit für die Vergangenheit 
und der Einfehr in fich jelbft geweiht fei. 


12. Dez. Die 4/0 ruffiiche Staatsrente überfchreitet den Parifurs, 


eine Erjcheinung, die für den ruffiichen Gtaatsfredit große 
Bedeutung hat. — Die Emiſſion diefer Rente wurde 1894 
für ein Nominal-Kapital von 1120 Mill. Rbl. zum Kurje 


von 9212 —93/ eröffnet, um die 5°/o inneren Anleihen 
auszufaufen. 1895 begann dann aud die Verwandlung 
der 4°/o inneren Anleihen in den Nententypus. 


»  Mgathangel, Biſchof von Riga und Mitau (geb. 1856, 
1881 cand. theol. der Mosfauer Afademie, Lehrer an einer 
geiftlihen Schule, 1885 Mönch, bald darauf Abt und Inſpektor 
des Tomsfer Seminars, dann Rektor des Seminars zu Irkutsk, 
1889 Vikar-Biſchof in Kirensf, 1891 bei der Anmejenheit 
©. 8. 9. des damaligen Thronfolgers in Irkutsk befonders 
ausgezeichnet, 1893 Bilchof von Tobolsf), trifft in Riga ein 
und mwird von den Spigen der ruſſ. Sejellichaft empfangen. 
— Der „Riſhſti Weſtnik“ (Nr. 275) begrüßt den zum Dienſt für die 
Rechtgläubigfeit auf einen jo mühevollen Schauplatz Berufenen. Biel jei 
zwar von feinem Vorgänger zur Befeitigung der Orthodorie im Grenz« 
lande gethan worden, dennoch jtänden noch viele Sorgen und Müben 
bevor, um das große Werk zu vollenden. Der erjprieiterliche Dienit fei 
ſchon in den redhtgläubigen Gegenden Rußlands cin fchwieriger, ſehr viel 
mehr aber hier, wo die indigene Bevölkerung erjt jeit relativ furzer Zeit 
die rechtgläubige Predigt gehört habe, mo die Orthodoren von einer Maſſe 
Fremdgläubiger umringt jeien und mo eine andersgläubige Kirche noch 
nicht der Verfuchung entiagt babe, eine berrichende Stellung einnehmen 
zu mollen... Obgleich das Gebiet in Bezug auf die äußere Bildung 
der Bevölferung unter den übrigen Theilen Rußlands einen anichnlichen 
Platz einnehme, gebe es doch in ihm für die Sache der Aufllärung der 
Volksmaſſe — und zwar einer Aufflärung im Geiite der Orthodoxie — 
noch jehr viel zu thun. Bei diefer Aufklärung könne es ſich nicht nur 
darum handeln, die rechtgläubigen Jndigenen definitiv in der Wahrheit 
zu befejtigen, jondern es handle fi darum, überhaupt den religiöfen 
Durſt zu stillen, unter dem die Maffe der örtlichen Bevölkerung leide 
und der jet, weil er eben nicht geitillt werde, einerfeits zum Seftirertfum, 
andererfeitS zu religiöiem ndifferentismus, ja Sogar zu Atheismus 
führe... Die Hingebung des Biſchofs an einen jolden Dienjt werde 


— 87 — 


nicht nur bei der ganzen orihodoren Geiftlichkeit der Rigaſchen Epardhie, 
fondern auch in der ganzen ruſſiſch-orthodoxen Geſellſchaft des Gebietes 
einen vollen Widerhall finden. Diele Geſellſchaft jei bereits daran gewöhnt, 
nicht nur in Worten, jondern in Thaten ihre Theilnahme an den Arbeiten 
ihres Erzpriefterd zu beweilen und zum Nuten der Urthodorie und gerade 
deshalb auch zum Nuten des ruffiichen Staates und der ruf. Nationalität 
mitzumirfen. 

4.—13. Dez. Beſchlüſſe des livländiihen Adelsfonventes]: 
Der Adelsfonvent erklärt feine Webereinjtimmung mit den 
Schritten, Die der Kandmarjchall zur Ausführung des Konvents- 
beichluffes vom Mai e. in Saden der Volksſchulen gethan 
bat (Balt. Ehr. I, 107 und II, 44). — Es werden nad): 
träglid die Maßnahmen ratihabirt, die von der Nefidirung 
im Einvernehmen mit dem Landmarſchall für die Vornahme 
einer Revifion der Volksſchulen durch die weltlichen und 
geiftlihen Schulrevidenten getroffen find. Dies geichieht 
unter der Borausjegung, daß dieſe Nevifion eine einmalige 
zu jein Hat und dab folches durch eine Verhandlung mit 
der Verwaltung des Lehrbezirfs Flargeftellt wird; daß ferner 
die Zulälfigfeit der Wahl der zur Durdführung der Revifion 
erforderlichen Suppleanten jowie der Anwendung der lettiichen 
und ehftniichen Sprache bei den Prüfungen von den Organen 
der ſtaatlichen Schulobrigfeit anerfannt wird und daß, wenn 
legteres nicht zu erlangen fein follte, die Enquète jchon in 
ihrem gegenwärtigen Anfangsftadium fofort definitiv zu ſiſtiren 
it. (In einem Schreiben aus der Verwaltung des Lehr: 
bezirt8 vom 12. Dezember werden darauf die genannten 
Bedingungen für unannehmbar erklärt. (Balt. Chr. IL, 42 f.) 
In Betreff der von der Ritterſchaft jubventionirten Privat: 
penfionate in Niga und Jurjew (Dorpat) wird beſchloſſen: 
Einem bevorjtehenden Landtage ijt eine Abänderung Des 
bisherigen Subventionirungsmodus vorzubehalten, und um 
demjelben eine nad) jeder Richtung freie Dispofition in diejer 
Sache zu ermöglichen, find die gegemwärtig gezahlten Sub- 
ventionen zum Auguſt 1898 zu fündigen. — Der Bräfident 
der Kommillion für die Vorbereitung einer Grundſteuer— 
reform berichtet über die Beendigung der Arbeiten diejer 
Kommiifion. Der Ndelsfonvent beichließt in Folge deſſen, 
um die Öenehmigung zur Einberufung eines außerordentlichen 


— 88 — 


Landtages nachzuſuchen und für deſſen Einberufung den 
kommenden Märzmonat in Ausſicht zu nehmen. — Der 
Gouvernementsverwaltung war eine Vorſtellung gemacht 
worden, nad) der die Delegirten vereinigter Gemeinden in 
die Kirchen- und Schulkonvente von bejonderen, den früher 
jelbftändigen Gemeinden entjprechenden Wahlförpern gewählt 
werden jollten. Diele VBorjtellung wurde am 8. November c. 
abgelehnt. Der Adelsfonvent fonftatirt, daß die Intereſſen 
der einzelnen mit einander vereinigten Gemeinden an den 
auf den gen. Konventen verhandelten Angelegenheiten oft 
jehr verichiedenartige find, und erſucht deshalb die Nejidirung, 
bei der Gouvernementsverwaltung dahin zu wirken, daß die 
betreffenden Gemeinden foviel Delegirte in die Kirchen: und 
Schulkonvente zu wählen haben, als früher jelbjtändige 
Hemeinden zu ihrem Bejtande gehören, und daß dabei jede 
diejer früheren Gemeinden durch einen zu ihr gehörenden 
Delegirten repräfentirt werde. (Balt. Chr. L, 151.) — 
Die Kommiljion für die Ausarbeitung von Vorſchlägen zur 
Negelung des Fideikommißweſens wird vom Adelskonvent 
erſucht, ihre Arbeit dem nächſten ordentlichen Landtage zur 
Beſchlußfaſſung vorzulegen, wobei ihre urjprüngliche Arbeits: 
direftive eriweitert wird. Der Bericht, den die Kommiſſion 
für die Ausarbeitung des Projektes zu einem Anerbenredht 
für den Großgrundbeſitz vorgejtellt hat, joll nody von einem 
praftiihen Juriſten begutadhtet werden und darauf dem 
bevorjtehenden Yandtage zur Beſchlußfaſſung vorgelegt werden. 
— Der Adelstonvent nimmt Kenntniß von den Verhandlungen 
zur Ausarbeitung eines Gejeßesprojeltes zur Negelung des 
Waſſerrechts (Balt. Chr. IL, 32) und erſucht die Nefidirung 
und den Yandmarjchall, den weiteren Verlauf der VBerhand- 
lungen im Auge zu behalten und nad) Möglichkeit dahin 
zu wirfen, daß die einschlägigen Beſtimmungen des provinziellen 
Privatrechtes nicht verändert werden, bevor die ritterichaftliche 
Vertretung Gelegenheit gehabt hat, ſich geeigneten Ortes zur 
Sache zu äußern. — Ein Schreiben des Gouverneurs wegen 
Suboventionivung der meteorologijchen Station der Kaiſerl. 
Doslauer landwirthichaftl. Gejellihaft und wegen Namhaft— 
madhung von PBerfonen, die bereit wären, für die Geſellſchaft 


— 39 — 


meteorologiſche Unterſuchungen anzuſtellen, ſoll in ablehnendem 
Sinne erwidert werden. Dem entſpricht ein Gutachten der 
Kaiſerl. livländ. gemeinn. und öfonom. Sozietät, wonach die 
Beobadhtungsreiultate der unter Zeitung der Sozietät jtehenden 
Stationen in Livland der Mosfauer Gejellihaft zur Ver: 
fügung jtehen, den Zwecken der livländiihen Landwirthichaft 
aber durch die von der Cozietät geleiteten Beobachtungen 
genügt wird. (Balt. Chr. L, 152.) — Ein anderes Schreiben 
des Gouverneurs wegen Bewilligung einer Unterfiüßung aus 
der Landeskaſſe für die ehſtniſche Aleranderjchule bei deren 
Einrihtung zu einer mittleren Ackerbauſchule wird gleichfalls 
abgelehnt, weil der Adelsfonvent der Ueberzeugung iſt, daß 
nicht ſowohl mittlere als vielmehr zunächſt niedere Ackerbau— 
ſchulen nöthig find. Zugleich wird beſchloſſen, ſich über die 
einleitenden Echritte zu informiren, die von der Kaiſerl. 
livländ. gemeinn. und öfonom. Sozietät zur Begründung 
niederer Ackerbauſchulen gethan find, und darüber dem nächjten 
Landtage zu berichten. (Balt. Chr. IL, 40.) Cbenjo wird 
abgelehnt ein vom Gouverneur mitgetheilter Antrag auf 
Subventionirung einer bei Plesfau zu begründenden der: 
bauſchule. — Zur Förderung der IV. baltiidhen Zentral: 
ausjtellung im Juni 1899 bejchließt der Ndelsfonvent: 1) 
ber gemeinn. und öfonom. Sozietät zum gen. Zwede aus 
der Nitterfajfe einmalig 2000 Rbl. zu bewilligen und für 
Nechnung derjelben Hajje eine Sarantiefunme von 8000 Rbl. 
zu zeichnen; 2) den livländ. Zandmarjchall als Delegirten in 
den Ausjtellungsfomite zu wählen. — Zur Eubventionivung 
der projeftirten Zufuhrbahn Reval Sellin jollen nad) ein- 
geholter Genehmigung der Gouvernementsobrigfeit aus den 
Mitteln der Poſtkaſſe 500 Aktien der I. Zufuhrbahngejellichaft 
angefauft werden. — Die übrigen Verhandlungen betrejfen 
Mabregeln zur Debung der Pferdezucht, zur Chauffirung von 
Zufuhrwegen, zur Schiffbarmadhung livländijcher Flüſſe, zur 
Regelung der Holzflögung auf öffentlichen Flüſſen, u. a.; 
endlich eine Neihe von Geldwilligungen aus den verjchiedenen 
Kaſſen. 

13. Dez. Ein Allerh. Erlaß an den Dirig. Senat verleiht dem 
Gehilfen des Chefs der Gendarmen die Rechte eines Miniſter— 


sh. 


gehilfen mit dem Sig im Neichsrath, Minifterfomite und 
Dirig. Senat zur Vertretung des Viinijters des Innern in 
Angelegenheiten, die das Gendarmenkorps betreffen. 


15.—16. Dez. Sitzungen des ehſtländiſchen ritterfchaftl. 
Ausihujjes]: Der ehitländifche Gouverneur hat beantragt, die 
ehitländ. Ritterſchaft möge der ehſtniſchen Nleranderichule in 
Oberpablen bei ihrer Umwandlung in eine landwirthichaftliche 
Schule eine einmalige Eubvention gewähren. Der Antrag 
wird abgewiejen: die Bewilligung einer jolhen Subvention 
erjcheine zur Zeit verfrüht, da die Leitungen der Schule 
abzuwarten ſeien und andererjeits in Betracht zu ziehen 
fei, daß die Schule vorausfichtlih in erjter Linie von der 
ländlichen Bevölkerung Livlands befucht werden würde. — 
Das Stadthaupt von Arensburg juht um eine Subvention 
für die Seemannsichule zu Arensburg nad. Der Ausſchuß 
weilt das Geſuch ab, weil in Ehitland jelbjt zwei Seemanns— 
ſchulen bejtehen und die eine von ihnen bereits eine Sub— 
vention aus Zandesmitteln erhält. — Es wird beichlojien, in 
Folge praftiiher Schwierigkeiten von der Vornahme einer 
Enquete in Betreff des Zechstel-Yandes abzujehen. (Balt. 
Chr. I, 152.) — Es wird Kenniniß genommen von einem 
Schreiben des ehitländ. Gouverneurs, der mittheilt, daß das 
Minifterium des Innern es abgelehnt habe, das Projeft der 
Ehrengeridhtsordnung zur Beltätigung vorzuftellen. (Balt. 
Chr. 1, 92.) — In Anlaß einer Anfrage der Landesjteuer- 
kommiſſion wird beichlojfen: Der Verkauf von Dofsaderland 
auf Gütern, die den im Art. 601 des Ill. Theiles des 
Provinzialrechts für ein Rittergut bejtimmten Umfang von 
150 Deflätinen Aderland nicht haben, kann in dem alle 
geitattet werden, wenn foviel Ader, als verfauft wird, neu 
aufgenommen wird und das nadhbleibende Areal an Wieſe 
und Weide noch dem Ackerareal entipridt. — Dem Aus: 
jtellungsfomite des ehitländiihen landwirtbichaftl. Vereins 
werden für die nächſtjährige Austellung 500 Rbl. zu Preiſen 
bewilligt. 


17. Dez. In Reval konſtituirt ſich eine Sejellichaft zur Fürjorge 
für Geijtesfranfe im Gouvernement Chjtland. 


— 41 — 


17. Dez. Das Zirkular für den Rigaſchen Lehrbezirk (Nr. 10, vom 


18. 


1. Oft. datirt) enthält u. A. jehr ausführliche Vorjchriften 
für eine Allerh. betätigte Uniform der Gewerbeihüler und 
Studenten höherer technifcher Zehranftalten, ferner das Verbot 
Scüleruniformen im Auslande zu tragen. — Der Minifter 
der Volksaufklärung hat beichloffen, die Zahl der wöchentlichen 
Unterrichtsftunden für evangeliſch-lutheriſche Neligion in der 
I. und II. Klaſſe des baltischen Lehrerjeminars (zu Goldingen) 
bis auf drei zu vermehren. 

» Rigafche Stadtverordnetenverfammlung: Das von dem 
Stadtamt für das Jahr 1898 vorgejtellte Budget wird mit 
einigen von der Budget Kommiſſion vorgejchlagenen unmwejent: 
lihen Abänderungen angenommen. Es balancirt mit ca. 
2,725,000 Rbl. (der vom Stadtamt vorgejehene Ueberſchuß 
von ca. 13,000 Rbl. ift auf ca. 1000 Rbl. reduzirt worden). 
Damit ijt das Budget des Jahres 1897 (Balt. Chr. L, 13) 
um mehr als 400,000 Rol. überjchritten, eine Thatſache, 
die das rapide Wahsthum Nigas deutlich kennzeichnet. — 
Das realifirte Budget von 1896 zeigt die bei der Budget: 
Aufftellung in Riga übliche Vorſicht: die ordentlichen Ein: 
nahmen ergaben ein Blus von 138,018 Nbl., die ordentlichen 
Ausgaben ein Minus von 18,831 Nbl., der Gejammt: 
Ueberſchuß betrug 87,567 Rbl. Die Vermögensbilany erhöhte 
fid) im Jahre 1896 um faft eine Million Rbl., und zwar 
traten werthvolle Objekte gemeinnügigen und theilweiſe 
eminent produftiven Charakters zum Vermögen der Stadt 
hinzu. — Es ift nicht zu verfennen, daß die Refultate der 
Rig. Finanzverwaltung erfreuliche find und einen großen 
Gegenſatz zu den Finanzreſultaten jehr vieler Städte im 
Reiche bilden. Trotzdem iſt die finanzielle Vorficht der Nig. 
Stadtverwaltung oft Angriffen und Vorwürfen ausgejegt: 
einerjeits richten ſich nationaliftiich-deftruftive Tendenzen mit 
Vorliebe auch gegen fie, andererjeits treten gutgemeinte 
Wünſche nad einem jchnelleven Tempo in der Entwidelung 
der Mohlfahrtseinrichtungen hervor. 


19. Dez. Die Unficherheit der Lage des Brennereigewerbes, die 


durch die einjchneidenden Veränderungen ber ruſſiſchen Steuer: 
gejeßgebung bedingt iſt, hat ſchon feit längerer Zeit einen 


— 42 — 


großen Theil der baltiſchen Landwirthe in eine äußerſt 
bedrängte Lage gebracht. Bei dem völligen Preisniedergange 
der Körnerfrüchte war man dort, wo der Boden den Flachsbau 
nicht geſtattete, vor allem auf den Kartoffelbau für die 
Spiritusproduktion angewieſen. Nun hat aber der Niedergang 
der Spirituspreije aud) den Kartoffelpreis um mehr als die 
Hälfte herabgedrüdt. Die jtaatlihen Einnahmen aus ber 
Spiritusinduftrie find dabei im Gegenſatz zu den Berluften 
der Landwirthichaft ungeheuer gejtiegen. Das veranlaßte 
im Juni 1896 die Saijerl. livländ. gemeinn. und öfonom. 
Sozietät, durch ihren Präfidenten dem Minijter der Land— 
wirthichaft eine Denkichrift überreichen zu laſſen, in der auch 
ein an den Finanzminiſter zu richtendes Geſuch enthalten 
war. Letzteres ijt am 31. Oktober 1897 vom Finanzminijter 
beantwortet worden, und die „Balt. Wochenſchrift“ ver: 
öffentliht nun das ganze Material. Der Finanzminijier 
fehnt — ſoweit nicht mittlerweile Theile des Geſuches durch 
die Gejeggebung jchon beantwortet find — das Gejud in 
feinen wejentlihen Punkten ab: in Bezug auf Erhöhung 
der Erportprämie, auf Einführung eines zwedmäßigen 
Denaturicungsgejeges, auf wirfamen Schutz der landwirth: 
ihaftlihen Brennereien gegen die induftriellen und auf 
günjtigere Eijenbahntarife. 


20. Dez. Wendenſche Stadtverordnetenverjammlung: Der Gou— 


verneur hat die Berwendung ftädtiicher Mittel zur Gründung 
und Unterhaltung landwirthichaftliher und techniicher Schulen 
beantragt. Es wird beichlojfen, diefen Antrag nit in 
Erwägung zu ziehen, bevor Diejenigen Bolten aus dem 
jtädtiichen Ausgabe-Budget von 1897 bejtätigt find, Die jich 
auf die Unterftügung von Privatichulen in der Stadt Wenden 
beziehen. 

» Die begonnene Reviſion der livländiichen evangel.-luth. 
Vollsſchulen durch die livländ. Oberlandſchulbehörde (Balt. 
Chr. 11, 28,30) muß eingeftellt werden. Die Verwaltung 
des Lehrbezirts hat die vom livländ. Adelskonvent als noth- 
wendige VBorausjegungen firirten Bedingungen, die Zuläffigfeit 
der Wahl der zur Durdführung der Nevilion erforderlichen 
Suppleanten der Kreisichulrevidenten und die Anwendung 


PER vun Ta 


EN — 


der lettiſchen und ehſtniſchen Sprache bei den Prüfungen, 
und damit überhaupt die Yegalität der Nevifion bejtritten. 
Vergeblich it dagegen geltend gemacht, daß die Euppleanten 
in früheren Fällen unbeanjtandet gewählt und thatſächlich 
in Funktion gewejen find, daß ohne diejelben eine Reviſion 
der ca. 1200 Landſchulen uno actu ganz unmöglich iſt und 
daß das Gejeg für die von den 16 etatmäßigen Kreis— 
ichulvevidenten auszjuführenden gewöhnlichen Nevifionen einen 
Zeitraum von 3—6 Jahren bejtimmt. In einem Antwort: 
ichreiben auf dieſe Darlegungen der Oberlandichulbehörde 
erflärt der Kurator des Lehrbezivks, daß die Suppleanten 
gegenwärtig zur Nevilion nicht zugelajien werden fönnten, 
für die Zukunft aber ihre Zulaſſung möglich fei, wenn ber 
Miniſter fie genehmige. Zugleich erflärt er, dab in allen 
Fächern, in denen bereits ruſſiſch unterrichtet werde, Die 
Srageftellung der Nevidenten nur ruſſiſch jtattzufinden habe. 
Damit iſt die Fortjegung der Reviſion unmöglich gemadıt. 
Die Oberlandſchulbehörde jtellt das in einem Schreiben an 
den Miniſter der VBolfsaufflärung far. — Wereinzelte 
Nevifionsberichte liegen aber doc) bereit$ vor. Sie find 
außerordentlih injtrultiv. Im Tarwaſtſchen Kirchſpiel 
fonnte 3. B. die Reviſion zu Ende geführt werden, und Die 
Nevidenten berichteten dem Kirchen- und Sculfonvent in 
Hegenwart aller Lehrer des Kirchſpiels über die Nejultate: 
in der Religion und im Gejange von Chorälen waren Die 
Yeiltungen ausgezeichnete, im ebjiniichen Leſen gute, in 
ehſtniſcher Orthographie und in der Kalligraphie jchledhte, in 
der Arithmetik jehr jchlechte, in der allgemeinen und in der 
ruſſiſchen Gejchichte ungenügende; Dlelodien von Volksliedern 
fannten die Kinder nur wenig; Die ruſſiſche Sprade fiel 
ihnen jchwer, und wenn fie aud) allenfalls erträglich lafen, 
jo konnten jie doch den Sinn des Gelejenen nicht angeben. 
Symptomatiih war die lebhafte Freude, mit der das Wieder: 
erjheinen der Schulrevidenten vom Volk begrüßt murde. 
Sie ließ deutlich erlennen, daß die frühere Thätigfeit der 
ritterichaftlihen Schulverwaltung troß aller VBerhegungen 
weiten Schichten der Vevölferung in Ddanfbarer Erinnerung 
geblieben ijt. 


— 4 — 


20. Dez. Entſcheidung über eine Supplik der livländ. Ritterſchaft: 
Der livländiiche Adelsfonvent hatte im Mai d. 3. den livl. 
Landmarichall erfuht, in Betreff des livl. Volksſchulweſens 
eine Supplif einzureichen. (Balt. Chr. 1,107.) Dieje Supplif 
fonnte exit im November d. J. eingereicht werden. ie 
enthielt nad) einer Schilderung der gegenwärtigen Volks— 
ichulverhältniiie die Bitte um die Erſetzung der temporären 
Negeln vom 9. 1887 durch ein definitives Geſetz, das eine 
religiös-fittliche Erziehung des Volkes ficherjtele, mit Berüd- 
fihtigung folgender Grundlagen: 1) des Fonfelfionellen 
Charakters der Volksſchule; 2) der örtlichen Mutterfprachen 
als Unterrichtsipradye bei gleichzeitiger Erlernung der Reichs— 
ſprache in den Grenzen der Möglichkeit; 3) der nußbringenden 
Theilnahme der Selbjtverwaltungsorgane an der Volksſchul— 
verwaltung. Damit war die Erklärung verbunden, daß die 
gegenwärtig geltenden temporären Negeln vom J. 1887 die 
religiös-fittliche Erziehung des Volkes nicht ficherftellen und 
die livländ. Nitterichaft der Möglichkeit berauben, an ber 
Verwaltung der Volksſchule theilzunehmen. Am 28. Nov. 
wurde dem livl. Landmarſchall über den Inhalt der Supplif 
Gehör gewährt. Durd ein Schreiben des Dirigirenden der 
Bittichriften-Hanzlei vom 10. Dez. d. J. wurde darauf dem 
Landmarjchall die Entiheidung vom 4. Dez. mitgetheilt: 
„Das Geſuch um Erjegung der temporären Negeln über die 
Verwaltung der Elementarichulen in den balt. Souvernements 
vom 17. Mai 1887, die gegemwärtig in die im Jahre 1893 
emanirte Sammlung der Berordnungen über die gelehrten 
Inftitutionen und Zehranitalten des Nefjorts des Minifteriums 
der Volksaufklärung (Reichögeleg Bd. XL, Th. 1) aufgenommen 
und in den Artifeln 3568— 3641 der gen. Sammlung ent: 
halten find, — durch ein neues Geſetz, ſowie um Ertheilung 
des Unterrichts in den Landſchulen des livl. Gouvernements 
nicht in ruffiicher, ſondern in der örtlichen lettiichen oder 
ehſtniſchen Sprade, — it ohne Folge zu laſſen.“ 

22, Dez Gemäß einer Vorftellung des Finanzminifters wird durch 
ein Allerh. bejtätigtes Neichsrathsgutachten der Ausfuhrzoll 
auf Kreditbillete aufgehoben. 


45 — 


23. Dez. Der Jurjewſche Univerfitätsfonfeil wählt zu Ehren— 


24. 


29. 


mitgliedern der Univerfität Jurjew den Oberprofurator des 
heil. Synods K. B. Pobjedonoszew (mit 23 gegen 13 Stimmen) 
und den Senator Semenow und beichließt, die Annahıne 
der Ehrenmitgliedfchaft von ©. 8. 9. dem Großfürften 
Mladimir Alerandrowitich zu erbitten. 

„Dreſn ruſſiſchen gelellichaftlichen Vereinen zu Riga, Reval, 
Mitau und Jurjew (Dorpat) wird die ftaatlihe Subvention 
für weitere drei Jahre bewilligt und zwar den drei erſt— 
genannten in der Höhe von 3000 Rol. jührlih, dem legten 
500 Rbl. jährlih. — Der „Riſhſki W.“ plaidirt dafür, daß 
man diefe Subfidien lieber den ruffiichen Vereinen in den 
fleinen Städten zumende; in Riga aber verdiene nicht Die 
„O6mnecTBennoe coöpanie“, jondern viel eher die „Cemeiinoe 
co6panie*, deren Mitglieder arın feien, eine jtaatliche Unter: 
ftügung. — In Niga erijtiren feit einigen Jahren drei 
ruffiiche Klubs. 

„ Der Bräfident des Nig. Bezirksgerihts Marimomitich 
wird zum Departements: Bräfidenten des Betersburger Gerichts: 
bofes ernannt, an feine Stelle in Niga tritt der ‘Präfident 
des Mitauer Bezirksgerichtes Valerian Fedorowitich v. Klugen 
und an deilen Stelle in Mitau der Gehilfe des Chefs der 
Gefängniß-Hauptverwaltung Kowalenſti. 

» In Folge der Vermehrung der Schul-Auffichtsbeamten 
(Balt. Chr. I, 80) werden auch die Inſpektions-Rayons neu 
beftimmt: für Yivland 9, für Kurland 4, für EChitland 3, 
mit durchichnittlih 160-200 Schulen pro Nayon. Volks: 
Ichuldireftor für Yivland bleibt der nad Ausdienung von 
30 Jahren auf weitere 5 Jahre bejtätigte Sſomtſchewſki, 
für Ehitland iſt ftatt des zurüdtretenden Blagoweſchtſchenſki 
der Pſkowſche Volksſchulinſpektor Pawlow ernannt, für Kurland 
it der bisherige Lehrer an der Wilnafchen Realſchule 
Brjanzew (ein Bruder des Erzbiihofs Arſſenij von Kajan) 
defignirt. 

„ Graf %. D. Deljanow, Minifter der Volfsaufflärung, 
jtirbt zu Betersbnrg im 80. Lebensjahre. Er war Minifter 
der Volfsaufflärung jeit dem 16. März 1882. Unter jeiner 


—— 


Aegide iſt die Reorganiſation aller baltiſchen Lehranſtalten 
vollzogen worden. 

31. „ Ein Allerh. Reſkript gewährt dem Generaladjutanten 
Obrutſchew feine Bitte um Enthebung vom Amte eines Chefs 
des Generalftabes wegen zerrütteter Gejundheit, beläkt ihn 
aber als Mitglied des Neichsrathes. 


Berihtigung. 


Der Feſtpredigt des Prof. F. Hörlchelmann am 12. Dezember 1897 
(vgl. oben ©. 35) lag als Zert nicht Matthäus 21, 13 jondern Matthäus 21, 14 
zu Grunde. 


Subifriptionseinladung. 


Der „Berein zur Kunde Oeſels“ hat auf feiner Sitzung vom 
9. März c. beichlojlen, die Herausgabe des im Manujfript voll: 
endeten 2. Bandes von „Dejel einit und jetzt“ von dem 
Verfafler der „Baujteine zu einer Geſchichte Oeſels“ M. K. in 
die Hand zu nehmen. Es ergeht daher an alle Diejenigen, Die 
diefes Unternehmen fördern wollen, die Einladung, an der eröffneten 
Subſkription Antheil zu nehmen. Der Subjfriptionspreis ijt auf 
2 Rubel feitgejegt worden und werden Subjkriptionsanmeldungen 
von oben genanntem Verein (unter dev Adreſſe: d. 3. Sekretär 
des V. 5. 8. O. Oberlehrer E. Wilde, Arensburg, Schloßſtraße 
Nr. 6) und der Nedaftion des „Arensburger Wochenblattes” (unter 
der Adreſſe: Arensburg, Kaufitraße Nr. 17) entgegengenommen. 
Aus der unten folgenden Inhaltsangabe it erfichtlich, welche Fülle 
interefjanten Stoffes diefer 2. Band enthält und es darf der 
Verein wohl annehmen, daß das Intereſſe für dieſes Merk, welches 
Ihon durdy den 1. Band in hohem Grade gewedt worden ift, in 
diefem 2. Bande nad allen Seiten die gewünschte Befriedigung 
finden wird. An die Redaktionen der baltiichen Blätter ergeht 
die Bitte, durch Veröffentlichung diefer Zubjkriptionseinladung 
ihrerjeits an der Förderung diejes Unternehmens ſich betheiligen 
zu wollen. 

Nrensburg, den 16. März 1898. 


Prajes U. v. Güldenjtubbe. 
Sekretär C. Wilde. 


Oeſel einſt nnd jet. 
Zweiter Band. 
Land und Leute. Die Stirchipiele Muſtel, Kielkond, Anfefüll, 
SJamma, Wolde und Pyha 
von dem Verfaſſer der „Baufteine zu einer Gefchichte Oeſels“ M. K. 


Inhalt. 
Yand und Yente. 
I. Das Kirchipiel Muſtel. 
1. Allgemeines. 2. Die Annenfirhe. 3. Der Libanon. 4. Der Pant. 
5. Die beiden Strudel. 6. Die Eijenerzgruben bei Wöhma. 7. Der Hafen von 
Mujtel. 8. Ein Meteorjtein. 9. Volksſagen. a. Der Pank, b. Die Geldhögle. 
10. Generalmajor Georg Wilgelm von Dilmar. 


II. Das Kirchſpiel Kielfonbd. 

1. Allgemeines. 2. Die Michaelisfire. 3. Das Nonnenklofter zu Katvel. 
4. Eine verſchwundene Stadt. 5. Ein Berg. 6. Bolfsiagen. a. Ein großer 
Schatz, b. Die Stirhenglode, e. Schwarz oder weiß, d. Todesitrafe zu heidniſcher 
Zeit, e. Die Duellenngmphe, f. Die Waldnymphe, g. Die fleinen MWaldgeiiter, 
h. Die feltfjame Tanne, i. Der bedeutjame Steinhaufe, k. Der Schat im Meere, 
l. Die Trauerebene, m. Der lud der ſchönen Els. 7. Tas Mädchen von 
Marienburg. 8. Ein Familiendofument v. 3. 1752. 9. Ein ungewöhnliches 
Raturereignib. 10. Strandung und Bergung. 11. Grenzwache und Schmuggel. 
12. Admiral Fabian von Bellinghaufen. 


III. Das Kirchſpiel Anſeküll. 
1. Allgemeines. 2. Die Marienfirche. 3. Der Meeresitrand von Jerwe. 
4. Die Inſel Abro. 5. Das Goldſchiff. 6. Eine Brautichaft vor 200 Jahren. 
7. Das erite ehſtniſche weltliche Konzert 1862. 8. Der Zauberer. 9. Ein jeltiamer 
Wahnglaube. 10. Die große Dürre und Hungersnoth. 11. Das erſte ehſtniſche 
Sängerfeft. 12. Rollsjagen. a. Entitehung der Schworbe, b. Die Meerfühe, 
e. Der Froſch auf der Hochzeit. 13. Der öfeliche Nationalheld. 14. Während 
des Arimkrieges. 
IV. Das Kirdipiel Jamma. 
1. Allgemeines. 2. Die Trinitatisfirhe. 3. Die Ruine in Zerel. 4. 
Der Popenbaum. 5. Der Eibenbuum. 6. Der Epheu. 7. Bolfsjagen. a. u. b. 
Der Zereliche Riff, c. Das Geldfeuer, d. Der Deimgänger. 8. Ein „Denkbuch“ 
von 1699. 9. Eine Kriminalgeichichte. 


V. Das Kirchſpiel Wolde. 
1. Allgemeines. 2. Die Martinsfirhe. 3. Der Bauerberg (in Wolde). 
4. Eijenerjlager. 5. PBollsiagen. a. Der Fiſcher, b. Die Wolfsipeijung vom 
Himmel, c. Der Imverbefferliche, d. Die Wahl der Stätte zur Kirche, e. Die 
verjunfene Sirchenglode. 6. Eine Beerdigungsfeier von 1771. 


VI Das Kirchſpiel Pyha. 
1. Allgemeines. 2. Die Jakobifiche. 3. Der Krater von Sall. 4. 
Eine Gemäldefammlung. 5. Das Ende der Frau von Gahlen. Der Mord in 
Sall. 6. Eine jeltene Feier. 7. Um ein Rind. 8. Cine Volfsjage. 9. Ein 
Ahnenjaal. 10. Zwei Männer: Dr. Artyur v. Saß und Generalmajor Wilhelm 


v. Nolcken. 


— Sr . 


Herausgeber und Redakteur: Arnold v. Tideböhl. 





Aoasoneno menaypow. Pura, 30. Mapra 1898 r. 
Druderei der „Baltiſchen Monatsichrifi”, Riga. 


1898. 


. Januar. Ein Allerhöchſtes Reſkript gewährt dem General: 
abjutanten, General der nfanterie Mannowffi auf feine 
Bitte wegen volljtändig zerrütteter Gejundheit den Abjchied 
vom Amte eines Kriegsminifters und ernennt ihn gleichzeitig 
zum Mitglied des Neichsraths. Zum Verweſer des Kriegs— 
minijteriums wird der Generallieutenant Kuropatfin, Chef 
des Transfafpigebietes, ernannt. 

. Geheimrath Anitſchkow, Gehilfe des Mlinifters der 
Volfsaufflärung, wird zum zeitweiligen Verweſer des Mini: 
fteriums der Vollsaufflärung ernannt. 

” Generaladjutant, General der Infanterie Dragomirom, 
Kommandirender der Truppen des Kiewſchen Militärbezirks, 
wird zum Generalgouverneur von Kiew, Podolien und 
Wolhynien ernannt unter Belaſſung in feinem bisherigen 
Amte. 

fr Nah dem Neichsbudget für 1898 balanciren die 
Staats-Einnahmen und Ausgaben dieſes Jahres mit 
1,474,049,923 Rbl. Der Ueberfhuß der ordentlichen Ein- 
nahmen über die ordentlichen Ausgaben beträgt 14,373,004 
Rbl. Zu außerordentlichen Ausgaben find 123,964,710 
Rbl. und zwar für Eifenbahnbauten bejtimmt, die gedeckt 
werden jollen durch im Budget veranichlagte 3,300,000 Rbl. 
außerordentliher Cinnahmen, durch den Ueberſchuß von 
14,373,004 Rbl. aus den ordentlichen Einnahmen und durd) 
106,291,706 Rbl. aus dem freien Baarbeitande der Reichs— 
ventei. Durch Kreditoperationen wird alſo wieder ein Defizit 
von 106,3 Millionen gededt. Wie im Jahre vorher giebt 
der Sinanzminifter über den Zujtand des Geldweiens im 
Reiche eingehende Aufſchlüſſe und erörtert einige Moda— 
litäten der Staats: und Finanzverwaltung, die für die 
Sicherjtellung dev Währung vor zukünftigen Schwankungen 
feiner Meinung nad) von Bedeutung find. Durd) die Aller: 
höchſten Befehle v. 3. Jan., v. 29. Aug. u. 14. Nov. 1897 
(ef. Balt. Chronik, unter diefen Daten) jei die Werthbejtimmung 

— IV 


— 


der neuen Goldmünze und ihrer Repräſentanten, der Kredit— 
billete, in Rubeln zu 1/5 des Imperials feſtgeſetzt und dadurch 
der Rubel mit einem Feingehalt von 17,424 Doli Gold als 
ruſſiſche Münzeinheit erflärt worden. Somit fei der Rubel 
aus einer umbejtimmten, ſchwankenden Größe zu einem 
feften Wertbe geworden, gleih dem engliihen Pfund 
Sterling und den Miünzeinheiten der übrigen Staaten mit 
normaler Währung. Damit fcheint der Uebergang zu einer 
Kreditwährung mit obligatoriicher Cinlösbarfeit der Noten 
in Gold in der That durchgeführt. Der Finanzminijter 
erachtet es aber für durdaus erforderlich, daß das Metallgeld 
thatlächlich in den Verkehr eindringe und um dies zu erreichen 
betont er die Nothwendigfeit einer weiteren Reduzirung der 
Kreditbillete, namentlich der fleineren Werthe. Die Gold— 
beftände des Neiches waren zu Ende des Jahres 1897 auf 
1315 Millionen (gegen 1206 Millionen zu Ende 1896) 
angewachſen, die Kreditbillete bis auf 999 Millionen (gegen 
1121, Millionen zu Ende 1896) verringert worden. Der 
Silbermünze joll in Zufunft nur die Eigenschaft als Hilfs— 
geld vindizirt werden. Als Ziel des Finanzminijters ericheint 
ſomit die effeftive Goldwährung für das Reich. — Die ruſſiſche 
Preſſe rühmt im allgemeinen den Scharfjinn und die Vorficht des Finanz« 
miniſters bei Aufitellung des Budgeis pro 1898. Bemerkenswerth ift, 
daß wie die „Ruſſk. Wed.” zutreffend ausrechnen, das Steigen der 
ordentlichen Cinnahmen im WBergleih zum Vorjahr faftiih auf nicht 
mehr ald 3 Millionen für das geſammte Reich veranschlagt wird. Diejes 
geringe Plus will der Finanzminiſter Durch die Mikernte im Jahre 1897 
und durch die Befürchtungen, die für Die fünftige Ernte gehegt werden, 
erffären. In Anbetracht vieler Thatſachen hat der Finanzminiſter in 
Erfenninii des „innigen Zuſammenhanges — mie es im Allerunter- 
thänigiten Bericht deffelben lautet — zwiſchen dem Gedeigen der Finanzen 
und den reichen Ernten” nicht umhin können, „dem Reichsrath eine 
Bedenken in Bezug auf die Möglichkeit einer Störung oder fogar eines 
Rüdganges im inflichen der Abgaben und ciniger indirefter Steuern 
darzulegen.“ — Hinſichtlich der Müngreform ift nicht zu vergefien, daß 
durch die dauernde Feſtlegung des Areditrubels zu 1/,, des Imperials 
(Allerh. Befehl v. 14. Nov. 1897) die Einlöfung der ruffiichen Noten zu 
2/, ihres Merthes im Inlande in Permanenz erflärt worden iſt, mas 
für alle Beſitzer ruffticher Kreditbillete den definitiven Berluft von 1/, 
ihres Beſitzes bedeutet. 


—— 


1. Jan. Auf den allerunterthänigſten Bericht des Gehilfen des 


# 


Minijters der Wolksaufflärung über das am 29. Dezember 
erfolgte Ableben des Minijters der Volfsaufflärung, Staats- 
jefretärs Grafen Deljanom, geruht Se. Majeſtät der Kaiſer 
Höchſteigenhändig zu bemerken: „Fin unerfeglicher Verluſt.“ 
— Die ruſſiſche Preffe hebt hervor, daß die Hauptthätigfeit des Grafen 
Deljanow ſich auf die „Reform der Schulen der Grenzmarken“ und ihre 
„Unterwerfung unter die Aufſicht und Verwaltung der Regierung“ 
beichränfte (Now. Wrem.) Dieje Ihätigfeit des veritorbenen Miniſters 
it zur Genüge befannt, und auch darüber, wie weit fie einen kulturellen 
Fortſchritt bedeutet, dürften feine Zweifel mehr obmwalten. Bemerkenswert) 
iſt das Eingeitänonik der „Nomoje Wr.“ daß die Sorge des Minifters 
um Die jtaatlihe Stellung des Interrichts in den Orenzmarfen die 
„bedeutenditen organilatoriichen Kräfte des Unterrichtsreſſorts abgelenft hat 
und dadurch die Sache der Rolfsjchulen in Kernrußland im dieler Zeit 
eigentlich nur Schr wenig vorwärts gelommen it," obgleich dem Grafen 
fomohl wie jeinen nächiten Rathgebern belannt gemejen wäre, „wie gering 
das Budget der großruſſiſchen Bolfsichule ift, wie ungeheuer groß dagegen 
der Prozentjat der Analphabeten in den großruffiichen Gouvernements.“ 
In Sechzehn Jahren jei das Budget des Miniiteriums der Volksaufklärung 
unter dem Grafen Deljanow um beinahe 71/, Millionen geitiegen, d. h. 
jährlid um meniger als eine halbe Million. Bei einem jo geringen 
Budget fonnte für die Volfsichulen Kernrußlands nur wenig geicheben. 
— Die „Most. Med." laſſen nicht undeutlich durchbliden, daß fie einen 
Bruch mit dem bisherigen Schuligitem befürchten. 


R Dem Rektor der Kaiferl. Univerfität Jurjew Budi— 
lomwitih wird der St. Annenorden I. Klalie, dem Tireftor 
des Libaufhen Gymnaſiums Albert von Wolgemuth der 
St. Wladimirorden III. Klaſſe (Balt. Chr. I, 69, 70 u. IL, 
24, 25), dem befannten Profeſſor der medizinischen Fakulät 
an der Univerſität Jurjew Wafftljem der St. Annenorden 
II. Klaſſe verliehen. 


a; Die Navigationsichulen des Rigaſchen Lehrbezirks find 
mit dem 1. Jan. d. %. dem Reſſort der Volfsaufflärung 
entzogen und dem Finanzminiſterium unterjtellt worden (Balt. 
Chr. IL, 16 u. 30); man hofft, daß damit ihrem Rückgange 
ein Ziel gejegt ift. Im Dandels: und Dianufakturdepartement 
wird für dieſe Schulen das Amt zweier Inſpektoren mit 
einem Gehalt von 4000 Rbl. und den nöthigen Inſpektions— 
reifegeldern errichtet werden. 


Iy* 


—— 


1. Jan. Zum Jahresſchluß erinnert die „Balſs“ in einem 


längeren Artikel daran, daß mit dem Jahre 1897 hundert 
Jahre ſeit dem Erſcheinen der erſten lettiſchen Zeitſchrift 
vergangen ſind. Dieſe Zeitſchrift führte den Titel „Latwiſka 
gada grahmata” (Lettiſches Jahrbuchj und wurde von dem 
Predigtsamtkandidaten Matthias Stobbe, einem Freunde des 
Paſtors Stender, des Begründers der lettiichen Litteratur, 
herausgegeben. Etobbe war ebenjo wie Stender ein Deuticer. 
ä Ueber den von der Aurländiichen Hitterichaft dem Minifter des 
Innern vorgejtellten „Entwurf der Grundzüge zu einer Umgejtaltung der 
Präjtanden:Berwaltung im furländiichen Gouvernement” (Balt. Chr. IL, 
87—M) regiftrirt die „Now. Wr.“ das Gerücht (! der Entwurf iit 
bisher nicht publizirt worden): „So viel befannt, iſt das Projeft im 
baltiihen Geiſte abgefaßt und joll den Cindrud nicht nur äußeriter 
Einjeitigfeit, Sondern auch volllommener Unbrauchbarleit gemacht haben...“ 
z In Fellin unterblieb die Herrihtung eines Weihnahtsbaumes für 
die Gefangenen des Kronsgefängnifies in Folge Verbote aud im Jahre 
1897. Tas Berbot jtüht ſich darauf, daß nach dem Geſetz „Belus 
ftigungen” (es Handelt fih um eine von einem evangeliſch-lutheriſchen 
Geiſtlichen mit Geſang und Gebet geleitete Weihnachtsbaumfeier) innerhalb 
der Gefängnißräume ausgeichloffen ſeien. In Riga dagegen wurde für 
das Meihnachtsfeit 1897 die Aufhebung des Verbotes erlangt. 

" Ter heil. Synod hat von der Epardial:Geiftlichleit Gutachten 
eingefordert, welche Mahregeln zu ergreifen find, um möglichit viele 
Kinder der Seftirer in die Kirchen-Gemeindeichulen heranzuziehen, da 
eine ſolche Mafjregel als das beite Mittel erfannt worden jei, der Aus» 
breitung des Sektirerthums entgegenzuwirfen. 

m Se. Majeftät der Kaifer geruhte Allerhödhit, am 5. 
Dezember 1897 auf den allerunterthänigiten Bericht des 
Minifters der Wegefonmunifationen den Herren v. Schubert, 
9. v. Wahl und v. Keußler zu geftatten, im Laufe eines 
Jahres vom Tage der erfolgten Genehmigung die Linien 
der breitipurigen Cijenbahnen: 1) Riga-Bauske-Poneweſh— 
Kowno, 2) Poneweih:Wilfomir:Kowno und 3) Poneweſh— 
Wilna abjteden zu lajjen. 

" Der „Eeiti Roftimees” hebt in jeiner Neujahrsbetradhtung jene 
Verfügung des Minijters der Volksaufklärung vom 6. Dez. 1896 (Balt. 
Chr. I, 13) hervor, nad; der in den Volksichulen der Dftieegounernements 
in den beiden eriten Schuljahren neben der Mutteriprache auch die ruſſiſche 
angewandt werden foll und zwar zur allmählichen Vorbereitung der 
Schüler für das dritte Schuljahr, in dem alle Fächer — ausgenommen 
die Neligion und die Mutteriprahe — ausſchließlich ruſſiſch zu ertheilen 


— — 


find. Das Blatt meint, aus der Verfügung ginge hervor, wicht die 
ruffiihe Sprache ſei während der beiden erjten Schuljahre die Haupt; 
unterrichtäipracdhe, jondern die ehſtniſche. „In wie weit man — heißt 
es dann weiter — in unjerer Heimath nad) Ddiejer Verfügung gegangen 
ift, willen wohl am beiten die Schullehrer; wir haben hierüber feine 
näheren Nachrichten erhalten. Zu wünjchen wäre aber, daß Diele Vers 
fügung ſorgfältig erfüllt würde, denn daraus fann den Sculfindern 
nur Bortheil erwachlen.“ 


1. Jan. In den Libaufchen Hafen liefen im Jahre 1897 ein: 


.« U. 


1017 Dampfer und 246 Segler mit 253,834 Laften vom 
Auslande und 252 Dampfer und 483 Segler mit 37,794 
Laſten als inländiiche Küftenfahrer. Das bedeutet gegen das 
Vorjahr einen Nüdgang um 189 Dampfer und 39,509 
Laſten aus dem Auslande, um 12 Dampfer, 10 Segler 
und 4956 Xajten aus dem Inlande. 

In Bernau verbietet der Kreischef M. U. Fadejew 
das Blajen eines Chorals vom Kirchthurm in der Sylveſter— 
nacht, wie jolches dort früher Braud war. 

N Die Zahl der in Riga im Jahre 1897 im Bauamt 
eingereihten Geſuche um Bejtätigung der Baupläne beträgt 
1695, während im Sahre 1896 1458 eingereidht waren. 
— Jurjew (Dorpat) führt die oſteuropäiſche (St. Peters: 
burger) Zeit als Normalzeit ein. Weißenſtein hat dies bereits 
einige Tage früher gethan. Der Unterjchied zwiſchen der 
Jurjewer (Dorpater) Lokalzeit und der oſteuropäiſchen beträgt 
14 Minuten. 

5. Jan. Fuhrmanns«Droſchlenkutſcher-ſtrike in Riga. Veranlaßt wurde 
der Strike durch das vom Polizeimeiſter erlaſſene Verbot vom 1. Jan. 
ab ungeſtempelle d. h. von der Polizei ausrangirte Equipagen zu benugen 
und durch die gleichfalls vom Polizeimeiſter getroffene Verfügung, 
fämmtliche dejjen bedürftige Drojchten bis zum 1. Januar neu ladiren 
zu Safjen. Im Folge des ſchneeloſen Winters waren die Fuhrleute 
thatjählid; außer Stande geweſen, den polizeilichen Anordnungen an 
ihren Sommerfuhrwerfen nadzufommen. Der livländiiche Gouverneur 
bezeichnet in einer an den Strabeneden angeichlagenen Berfügung den 
Strife als ein „verbredyeriiches Komplott“ und befiehlt den Fuhrleuten 
unter Androhung von Strafe bi$ zum 6. Jan., 9 Uhr früh, ihr Gewerbe 
wieder aufjunchmen. Die Bekanntmachung theilt jedody zugleich mit, 
daß der Gouverneur dem Polizeimeiſter anheimgegeben habe, den von 
legterem bereitö bis zum 1. März verlängerten Termin zur Einführung 
der polizeilichen Vorſchriften noch weiter bis zum 1. Mai auszubehnen. 
Daraufhin beginnen die Zuhrleute am 6. Jan. wieder mit ihren Fahrten. 


—- 52 — 


6. Jan. Der „Praw. Wejtn.“ publizirt das vom Finanzminiſter 


| 
“ 


bejtätigte Neglement für die Erponenten dev rulfiichen Ab— 
theilung der Pariſer Weltausftellung des Jahres 1900. Die 
ruſſiſche Abtheilung ift einem bejonderen Kommiſſar (Kanzlei 
in Petersburg) und deſſen Gehilfen übertragen. Finnland 
hat einen eigenen Agenten. 

* Die Zeitungen berichten über ein von einer Kommiljion 
aus Lehrern der Petersburger Gymnaſien auf Veranlaſſung 
des Kurators Kapujtin ausgearbeitetes und im Petersburger 
Lehrbezirf verſuchsweiſe angewandtes vereinfadhtes Gymnaſial— 
programm. Ein vom Wlinifterium der VBollsaufflärung ein: 
gelebte Kommiſſion bereitet gegenwärtig die Einführung 
dDiejes Programms in die übrigen Lehrbezirfe vor. Nach 
ihm joll der grammatiiche Unterricht in den alten Sprachen 
und die allgemeine Geſchichte noch mehr als bisher ein: 
geichränft werden. 

“ In Mitan tagt eine auf Anordnung des Miniſteriums 
des ‚Innern fonjtituirte Kommilfion, die Maßregeln gegen 
die Verbreitung der Snphilis vorschlagen joll. Der Kom: 
miſſion präfidirt der Wizegouverneur Murawjew, während 
zu ihrem Bejtande gehören: Kreismarſchall Baron M. v. d. 
Kopp, das bejtändige Mitglied der Behörde für Bauer: 
angelegenheiten Baron Meyendorff, die Stadthäupter von 
Ditau und Libau, die Aerzte Waſſiljew, Boettcher, Otto, 
Schulz und Beljajew und der Gouvernements Medizinal: 
injpeftor Woizechowſki. Es wird fejtgejtellt, daß in Kurland 
in den legten vier Jahren gegen 5000 Fälle diejer Krankheit 
regiftrirt wurden. 

— Auf Verfügung des heil. Synods iſt der Gehilfe des 
Oberprokureurs des heil. Synods W. K. Sabler „in An— 
betracht ſeiner Verdienſte um die Volksbildung“ als Ehren— 
Kurator der Kirchen-Gemeindeſchulen und der Leſe- und 
Schreibejhulen beftätigt worden. 


i; In Jurjew (Dorpat) findet zum erjten Dial die vom 
heil. Synod alljährlich für diefen Tag angeordnete griechiſch— 
orthodore Kirchenfeier zum Gedächtniß des Presbyters Iſidor 
und der anderen 72 Dlärtyrer ftatt (Balt. Chr. 1,70, 71,80, 


— 583 — 


129). An der Feier, die aus einem Gottesdienſt in der 
Uſpenſki-Kathedrale, einer Prozeſſion durch die Hauptſtraßen 
der Stadt und einem darauf folgenden Diner beſtand, 
nahmen u. U. Theil der Biſchof von Niga und Mitau 
Agathangel, der livländ. Gouverneur, Generalmajor W. D. 
Sjurowzew, der Korpsfommandeur Generallieutenant L. I. 
Adamowitſch, der Profureur des Rigaſchen Bezirksgerichts 
Pojarfow und Vertreter der Jurjewſchen Univerfität. Das 
Stadthaupt von Jurjew (Dorpat), fein Stellvertreter, der 
Stadtjefretär und der Aeltermann Freymuth ſind beim Diner 


anweſend. 

Der Rektor Budilowiſch erklärt in einer Rede auf dem Diner, daß 
der hiſtoriſche Vorgang der gefeierten Heldenthat dunkel ſei; wenn darüber 
lofale Aufzeichnungen vorhanden geweſen, jo ſeien fie — zufällig oder 
abſichtlich — wie die Gebeine der herrlichen Märtyrer zu Grunde gegangen. 
Um jo mehr jei dem Monde des 16. Jahrhunderis zu danken, der Die 
Heldenthat überliefert habe. Nach ihm haben im Jahre 1472 73 Anhänger 
der griechiſchen Kirche, unter ihnen der Presbyier Iſidor, der zwangs— 
weilen Belehrung zur fatholiichen Kirche Durch den Bilchof von Dorpat 
den Märtyrertod im Embach vorgezogen. Cine in ruſſiſcher und ehſt— 
niiher Sprade in Riga 1892 publizirte Flugſchrift ſchildert den ans 
geblihen Vorgang und jagt dann: „So verfuhr man mit ihnen, wie 
mit Böjewichten, für ihren orihodoren chriſtlichen Glauben und die 
heilige ruſſiſche Kirche; es waren außer dem Yehrer Jjidor 72 Märtyrer, 
weldye alle ihre veinen Seelen in Die Hände des lebendigen Gottes 
legten und mit unverwelflichen Kränzen gekrönt wurden.“ Weiter heißt 
es dann im Bericht: „Unter ihnen wurde auch eine junge Mutter mit 
einem dreijährigen Kinde auf dem Arme herbeigeführt. Die ruchloſen 
Deutſchen entrijjen ihr das Kind und warfen jie in den Fluß. Als das 
Kind die Mutter mit den gejegneten Märtyrern ertränfen ſah, begann «8 
in den Armen der Peiniger zu webhllagen, und wie man es aud zu 
beruhigen ſuchte, es entriß fid ihren Händen, indem es ihnen die 
Gejichter zerfragte. Da warfen es die graujamen Peiniger neben ein 
Eisloch und jahen, was aus ihm würde. Tas Kind aber kroch 
zum Eisloch, befreuzigte ſich drei Mal und jagte, jich zu dem ums 
itehenden Volle wendend: „Auch ich bin ein Chrift, glaube an den Deren 
und will ebenjo jterben, wie unjer Lehrer Iſidor und meine Mutter.” 
Nachdem es Dies gejagt hatte, jtürgte es fi) unters Eis...“ — „Der 
Frühling brach an und der angeichwollene Fluß Omowſha (Embadh) Irat 
über jeine Ufer; da erſchienen auch alle Körper der chriſtlichen Bekenner, 
drei Werft von der Stadt Jurjew, oberhalb des Fluſſes, unter einem 
Baume am Berge, in feiner Weije bejhädigt, als ob jie von Menſchenhand 
hingelegt worden wären: jo verherrlichte Gott jeine heiligen Gerechten. 


= u 


Tann nahmen die orthodoren Gäfte (Kaufleute) der Stadt Nurjew die 
Gebeine der Märtyrer und begruben ſie mit allen Ehren in derjelben 
Stadt, bei der Kirdye des Wunderthäterd Nifolai, wo fie ruhen werden 
bis zur zweiten Wiederkehr Chrifti, wo uns Alle Gott auferjtchen läßt.“ 
— Yuf dem Diner wurde bejonders der frühere Bilhof von Riga und 
Milau Arfieni, jegt Erzbiihof in Kajan, gefeiert, dem die Ginführung der 
Feier hauptſächlich zu danken wäre. Generallieutenant Adamowitſch gab der 
Ucberzeugung Ausdrud, „daß die Yicbe der orthodoren Kirche die Anders: 
gläubigen diejes Gebietes mit der Orthodorie ebenjo vereinen werde, wie 
durch Dieje Kraft (die Liebe) auch die gegenwärtigen Erfolge der Urthodorie 
in unjerem Gebiet erreicht worden jind.“ Profeſſor Dr. Pujtorufjlew, 
Dekan der juriſtiſchen FJafultät, wünjcdte in dem ‚seit die Bedeutung 
einer Feier zu Ehren der hohen Ideale der Menſchheit zu erbliden und 
feierte alle diejenigen Ruſſen, welche ſich mit Selbitverleugnung in den 
Dienſt der Ideale höherer Ordnung jtellen: der Ideale des Glaubens, 
der Pilicht, des Guten, der Geredhtigfeit, der Wahrheit; er erhob jein 
Glas darauf, „dab es ſolcher Bertreier hoher Ideale bei uns mögligit 
viele geben möge.“ 


8. Jan. Die Stadtverordnetenverjammlung von Hapſal wählt 


[4 


” 


zum Stadthaupt Graf Ewald Ungern-Sternberg-Linden, zum 
Vorjigenden der Stadtverordnetenverfanmlung für die im 
Art. 120 der Stüdteordnung vorgejehenen Fälle den berjt 
N. Sjofolow. 

“ Das Miniſterium der Volfsaufflärung hat in letzter 
Zeit angefangen, PBerjonen, welde die Realſchulen abjolvirt 
haben, zu gejtatten, an klaſſiſchen Oymnafien Ergänzungs: 
eramina in den alten Spraden abzulegen behufs Erlangung 
des Rechts zum Eintritt in die Univerfitäten. Gegenwärtig 
joll beim genannten Dlinijterium eine bejondere Konferenz 
zujammentreten, um dieſe Frage geſetzlich zu regeln. 

— Das Departement der Volksaufklärung hat allen Volks— 
Ihuldireftoren vorgejchrieben, genaue Daten über die Anzahl 
der Schulen, die Zahl der Yehrer und den Betrag der Sagen 
einzuziehen und dem genannten Departement zuzujenden. 
Dieje Maßnahme hängt nad) den „Ruſſk. Wed.“ mit der 
geplanten Gründung einer allgemeinen Eremitalkaſſe für 
Xehrer und Xehrerinnen der von der Negierung unterhaltenen 
oder unterjtügten Volksſchulen zujammen. 

= Die Gejellihaft der Süd-Oſtbahnen hat die minijterielle 
Erlaubniß zur Errichtung jtädtiiher Stationen in Riga und 


— 55 — 


Libau erhalten und beabſichtigt demnächſt ihre Operationen 
in den genannten Städten aufzunehmen. Dieſe ſtädtiſchen 
Stationen werden Frachten empfangen und Diejelben nad) 
allen Stationen des ruſſiſchen Eifenbahnnepes befördern, 
wenn jie das Nep der Süd-Oſtbahnen zu pailiren haben. 
Außerdem wird die Sejellihaft umfangreiche Niederlagen zur 
Aufbewahrung von Frachten anlegen, wird Vorſchüſſe auf 
Waaren ertheilen, und jede Slarirung, MWeiterbeförderung 
von Waaren u. j. w. übernehmen. 


8. Jan. In Jurjew (Dorpat) trifft die endgiltige Genehmigung 


der Feier des 75-jährigen Jubiläums der „Fraternitas 
Rigenſis“ gemäß dem Minifterium der Wolfsaufflärung 
vorgejtellten Programm ein. Cs hatte wiederholter Jnter: 
vention in Petersburg bedurft, bis es gelang alle Hinderniſſe 
zu bejeitigen. Die Genehmigung enthält die Bedingung, 
daß die Feier einen internen Charakter trage. In Anlaß 
zahlreicher, in dieſer Sache ergangener Anfragen wird die 
Redaktion der „Nordlivländ. Ztg.“ erſucht, alle diejenigen, 
weldye die Abficht gehabt haben, ihre Häujer zur Feier zu 
Ihmüden, auf dieſe Bedingung aufmerffam zu machen und 
an jie die Bitte zu richten, von einem jegliden Schmücken 
der Hänfer, und ſei es aud nur mit Grünwerk und eins 
fahen Guirlanden im Intereſſe des Jubiläums Abjtand zu 
nehmen. 

— Bon den großen Faſten an werden, wie die „Now. 
Wremja“ berichtet, fait in allen orthodoren Kirchſpielen des 
baltiihen Gebiets außergottesdienftlidye religiöſe Geſpräche 
abgehalten werden. 

” Auf Verwendung des Moskauer evangeliich-Lutheriichen 
Seneralfonfiftoriums beim Kurator des Moskauer Lehrbezirks 
hat Letzterer den Mittelichulen jeines Amtsbezirks die Auf: 
forderung zufommen fafjen, lutheriſchen Neligionsunterricht 
einzuführen, wo die Zahl der lutheriichen Zöglinge es er: 
forderlih macht, und den lutheriſchen Neligionslehrer nad) 
Möglichkeit aus den Spezialinitteln der Schule zu gagiren. Cs 
ijt leider nichts über die Zahl der Yutheraner in einer Lehr: 
anjtalt gejagt, welche zur Einführung des lutheriihen Religions: 


10. 


11. 


— 56 — 


unterrichts zwingend wäre, oder aber über den Prozentſatz 
der Lutheraner zur Gejammtzahl der Schüler, da nur 
hierdurch jubjeftiven Auffaſſungen der betreffenden Lehrer: 
fonferenzen, denen eine weitere Belajtung der jogenannten 
Spezialmittel im Prinzip niemals genehm ift, vorgebeugt 
werden fann. So haben einige Schulen die Einführung 
des lutheriichen Religionsunterrichts bei drei bis vier Prozent 
Lutheranern als unnöthig abgelehnt. 

u In Heljingford it das Konfiitorium Akademikum beim Kanzler 
der Univerfität um die Cinrichtung einer neuen Profefjur für ſlaviſche 
Philologie vorjtellig geworden. Gegenwärtig ijt die ruſſiſche Sprache und 
Litteratur an der Helſingforſer Univerjität durch einen Profejjor und einen 
Lektor vertreten. 

R Das Finanzminijterium bat die Verfügung getroffen, 
daß der Bau für die Kronsbranntweinniederlagen mit dem 
fommenden Frühjahr in Liv-, Kur: und Ehftland in Angriff 
genommen werde, damit die 16 Bauten zum Termin ber 
Einführung des Monopols, den 1. Juli 1900, in allen 
Theilen fertiggejtellt jeien. 

= In Sachen des Prozejles, den die Herren v. Dettingen 
gegen die Univerfität Jurjew wegen der Statue des „Vater 
Rhein“ angejtrengt hatten (Balt. Chr. J, 35), ijt vom 
Petersburger Gerichtshofe die Enticheidung des Nigalchen 
Bezirksgerichts bejtätigt worden. 

r Ter Inſpektor an der deutichen St. Petrikirchenſchule zu Petersburg 
Eduard von Collins feiert jein vierzigjähriges Jubiläum. Bei diejer 
Gelegenheit preift Oberlehrer Ed. Koerber unter dem Beifall der An: 
wejenden die Traditionen der ehemaligen Perrijchüler, zu Denen nad 
dem zutreffenden Wort eines Aufjen vor allem die „Fosmopolitijche 
Geradlinigfeit” (Kkocwonoautuueckas upawoanneinoerh) gehöre, 

F In Folge „leichſinniger und ſchädlicher Tendenz“ der Zeitung 
„Mirowije Otgoloski,“ welche ſich in einem am 7. Januar c. veröffent⸗— 
lichten Artikel manifeſtirt hat, der von Ergänzungs-Bauerland-Antheilen 
handelt und in dem der Autor nachzuweiſen ſucht, daß die einzige gerechte 
und fundamentale Entſcheidung in der Sache der Bauerorganijation Die 
jwangsweije vorjunehmende Erpropriation der Xändereien des Privat: 
bejiges jei, um Ddiejelben ergänzend den Bauern zuzutheilen, — wird auf 
Befehl des Minijters des Innern der genannten Zeitung, rejp. dem 
Herausgeber und Redakteur Konjtantin Trubnikow der erſte Verweis 
ertheilt. 


— 57 — 


11. Jan. In ſeinem Januarheft tritt der „Weſtnik Jewropy“ für ſtudentiſche 


Verbindungen an ruſſiſchen Univerſitäten ein. Anerkanntermaßen hätten 
dieſe ſehr viele gute Seiten aufzuweiſen und ſeien in Rußland nur 
deshalb von ihrer urſprünglichen Aufgabe abgewichen, weil ſie nur im 
Geheimen eriitiren fonnten. Wenn man gegen die Yandömannicaften 
einwende, daß die Mitglieder durch die Bertrebungen materiellen 
Charakters von wijjenichaftlihen Intereſſen abgelenft und anderen, 
nicht wünichenswerthen Einflüſſen ausgeſetzt ſeien, jo beruhe dieſer 
Einwand auf einem Mißverſtändniß. Gerade dadurd) dab die Glieder 
der Landsmannſchaften einen Iheil ihrer Zeit den Intereſſen ihrer Ber: 
bindung opfern müjjen, würden jie verjhiedenen „unerwünjdten” Ein: 
flüſſen entzogen. 

. Die baltiſche orthodore Bratſtwo wählte auf ihrer am 
11. Januar abgehaltenen Generalverfammlung den Gouverneur 
von Livland, Generalmajor Sſurowzew, und den Bijchof 
von Riga und Mitau, Agathangel, zu Ehrenmitgliedern. 

. Ueber folgende Maßnahme der Schulobrigfeit berichtet der „Nilhegor. 
Liſtok“: Dieſer Tage iſt den Lehrern der Landidaftsicyule im Kirchdorfe 
Jurino der mündliche Befehl des Präjes des Schulkonſeils zugegangen, 
alle Kinder von Seftirern, welche die kirchlichen Gebräuche nicht verrichten 
wollen, aus der Schule auszjujcließen. Dieſer Befehl jol zum großen 
Zeidivejen der Mololanen ausgeführt werden, welche jich darüber beflagen, 
dab ihnen auf diefe Weile die Elementarbildung nicht zugänglid) jei. 

— Im Halliſtſchen Kirchſpiel in Livland wird eine Parochial— 
mädchenſchule eröffnet. 

” Die Geſellſchaft zur Unterjtügung der ruſſiſchen Induſtrie 
und des ruljiihen Handels hat unter dem Vorſitz des Grafen 
Ignatjew bejchlojjen, beim Miniſter der Landwirthſchaft 
darum zu petitioniren, daß Mahregeln zur Verminderung 
der Zahl von ausländischen Technifern und deren Erjeßung 
durch ruſſiſche in der metallurgiichen und Gifenindujtrie 
getroffen würden. 

u [Stadtverordnetenverjammlung zu Niga.] Der 
Gouverneur hatte beantragt, beim Stadtkranfenhauje je eine 
Abtheilung für Männer und Weiber zu eröffnen, die an 
Syphilis und venerijhen Krankheiten leiden, wobei unent: 
geltliche Behandlung nicht nur den zur Nigajchen Gemeinde 
angejchriebenen Perſonen, jondern aud anderen bejtändigen 
Einwohnern der Stadt Niga zu Theil werden jollte, die zur 
armen Bevölferungsflajie gehören. Dem Antrag des Stadt: 
amts gemäß wird bejchlojien, beim Stadtfranfenhauje eine 


— 58 — 


Syphilis-Abtheilung für Männer, die zur Rigaſchen Steuer: 
gemeinde gehören, einzurichten, dagegen aber den Antrag 
auf unentgeltliche Unterbringung der nicht zu Riga gehörigen 
Kranfen abzulehnen, da die Stadt geſetzlich dazu nicht ver: 
pflichtet jei. Ebenjo wird auf Vorſchlag des Stadtamts 
der vom Militärrefiort ausgehende Antrag des Gouverneurs 
abgelehnt, den Offizieren des 115. Wjasmaichen Infanterie: 
vegiments die Quartiergelder aus Stadtmitteln um 45—50°/o 
zu erhöhen, weil die Stadt 1896 bei Bewilligung der 
Quartiergelder ausdrüdlich erklärt habe, daß ihr daraus 
feinerlei Verpflichtungen über das einmal geſetzte Maß 
erwachjen dürften. Nach Anficht des Stadtamtes wäre eben 
der von der Krone angewiejene Betrag der Offiziers- 
Quartiergelder zu erhöhen, zumal die Stadt ohnehin über 
die ihr von der Krone gezahlte Subfidie hinaus aus eigenen 
Mitteln gegen 50,000 Rbl. jährlid für die Militäreinquar— 
tirung zu leiten habe. — Die Verjammlung verhandelt 
weiter über die Vorjchläge der Pferdebahngefellichaft in Riga 
wegen Umbaues einiger ihr gehörigen Linien in eleftriiche 
und Anlage zweier neuen eleftriichen Linien durd fie. Die 
Vorichläge der Gejellihaft werden einjtimmig abgelehnt und 
neue Verhandlungen mit ihr bejchlojfen. 

12. Jan. Der zur Hilfeleiftung in die von Hungersnoth heimgeſuchten 
Kalmüdeniteppe abtommandirte Staatsrath Anjalew iſt am 7. Januar 
nad Petersburg zurüdgefehrt. Er vertheilte von 50,000 bewilligten Rbl. 
37,000. Der Reſt joll demnädit zur Vertheilung fonmen. Wohl: 
thätigkeitsgeſellſchaften und Privatperjonen haben gleichfalls große Summen 
geipendet. Trogdem it die Noth jo groß, daß ihr faum mit Dundert: 
taujenden abzuhelfen ijt. Ebenjo trübe ijt das Bild in anderen Gegenden 
des Innern. Im Drelichen Gouvernement arbeiten die Bauern mit 
eigenen Pferd für 20 Kop. Tagelohn, und in zahlreihen Gemeinden 
betragen die Abgabenrüditände bis zu 50,000 Rbl. 

13. Jan. Anfang Januar gelangte die neue Agende für Die 
evangeliich-lutherifchen Gemeinden im ruſſiſchen Neich zur 
Verjendung an die einzelnen Gemeinden. Sie wurde am 
19. März 1897 vom Miniſter des Innern bejtätigt. Zu 
Grunde liegt ihr ein vielfady umgearbeiteter und approbirter 
Entwurf eines von der livländ. Synode mit dieſer Arbeit 
betrauten Komites aus dem Jahre 1887. Die alte Agende 
jtammte aus dem Jahre 1832. 


— — 


13. Ian. Ueber die Feſtſtellung allgemeiner Regeln für die 
Hundeſteuer in den Städten veröffentlicht der „Pram. Weſtn.“ 
ein Allerhöchſt beftätigtes Neichsrathsgutahten. Die Ein- 
führung einer Dundejteuer zum Beſten der Städte hangt 
von den Stabtverordnetenverfammlungen ab. Die Jahres: 
jteuer pro Hund joll aber ohne bejondere Genehmigung des 
Minifters drei Nbl. nicht überfteigen. 

Pe Der Gejegesfammlung zufolge, hat der Minijter der 
MWegefommunifation am 13. September v. 3. das von ihm 
betätigte Neglement über das Flößen des Holzes auf der 
MWindau dem Dirigirenden Senat zur Veröffentlihung vor: 
geftellt. Bisher fand das Flöffen auf der Windau ohne jede 
Kontrole jtatt. Das neue Reglement tritt im Frühjahr a. e. 
in Kraft. 

— Zum Unterhalt der orthodoxen ſtädtiſchen und Land— 
geiftlichfeit find einem Allerhöchſt bejtätigten Reichsraths— 
Gutachten vom 17. November v. J. zufolge, in Ergänzung 
der bisher alfignirten Summen, vom 11. Januar c. weitere 
500,000 Rbl. jährlich aus Staatsmitteln angemwiejen worden. 
Ebenfo fommen vom 1. Januar 1898 alljährlid weitere 
150,000 Rbl. zum Unterhalt der geijtlichen Lehranftalten 
zur Auszahlung. 

13.—15. Ian. In Jurjew werden die Sigungen der Kaiſerl. 
livländ. ökonomiſchen Sozietät und die Generalverfammlungen 
der mit der Sozietät in Verbindung ſtehenden Vereine ab: 
gehalten. Die Betheiligung it ſehr zahlreih. Auch die 
landwirthichaftlichen Vereine Kurlands und Chjtlands find 
vertreten. Außerdem nehmen zwei Gäſte aus Dänemarf, 
Hofjägermeifter v. Tesdorpf als Delegirter der königlich 
dänischen Gejellihaft für Landwirthichaft und Jujtizrath 
Friis, an den Sikungen theil. Der Jahresbericht des 
Präfidenten erweilt, daß die Thätigfeit der Sozietät ſich 
nad) den mannigfaltigiten Nichtungen erftredt hat, um die 
baltiiche Landwirthſchaft in ihrer ſchwierigen Yage zu fördern. 
Zu einem Gefuh in Sachen des Branntweinmonopols hat 
fih der Finanzminijter ablehnend verhalten, cbenjo konnte 
eine Herabjegung des Zolls auf fünjtlihe Düngemittel im 
Sinanzminifterium nicht erwirft werden. Dagegen wurde 


—60 — 


ein von Juriſten und Technikern im Auftrage der Sozietät 
ausgearbeitetes Gutachten zu dem Entwurf eines im Ackerbau— 
Minifterium fertiggeftellten Waſſergeſetzes von diefem Mini: 
fterium mit Mohlwollen aufgenommen. Die frage ber 
Aderbauichulen hat die Eozietät lebhaft in Anipruch ge- 
nommen. Bei Prüfung der Normalitatuten hat fie fih nur 
für Schulen niederiten Grades enticheiden fönnen, die den 
Kleingrundbefiger jeiner Scholle nicht entfremden. Cs handelt 
fih jetzt um die Beichaffung der erforderlichen Mittel und 
die Erlangung eines günftigen Neglements. — Die Bildung 
von Genoſſenſchaften wird dadurch weſentlich erichwert, daß 
die Normaljtatuten nur eine jehr beichränfte Haftpflicht zu— 
laſſen. — Das im legten Jahr ins Leben gerufene fultur- 
technische Bureau und die damit verbundene Verjuchsitation 
haben bereits gute Dienjte geleiltet. 


14. Ian. Das kurländiſche Getreide (Balt. Chr. IL, 34 u. 35) 


iſt in den rigischen Blättern fortgeſetzt der Gegenitand einer 
Polemik zwiichen kuriſchen Yandwirthen und rigiichen Kauf— 
leuten. Auf einem Disfutirabend des Nig. Kaufmänniſchen 
Vereins, an dem auch einige furiihe Landwirthe theilnehmen, 
wird aufs neue fonitatirt, dab die Hauptichuld an der 
Ichlechteren Qualität des auf den Markt gebrachten fur- 
ländischen Getreides die Zwiſchenhändler hätten, die gute 
MWaare mit schlechter vermiichen. Uneinig bleibt man 
darüber, wie der Kalamität abzuhelfen fei. Die Landmwirthe 
verlangen, dab die Rigaſche Börfenfaufmannicdhaft durch 
Verweigerung der Annahme minderwerthigen Getreides den 
Manipulationen dev Zwiſchenhändler ein Ende mache, die 
Kaufleute führen aus, daß Verſuche ehrenwerther Firmen 
in den jtebziger Jahren durch entlandte Kommiſſionäre fur: 
ländiiches Getreide direft zu beziehen in Folge der Konkurrenz 
der Zwiſchenhändler mißglückt feien, daß cs Somit Sache 
der Yandwirthe ſei, die Zwiſchenhändler fernzuhalten, indem 
fie fi) zu einer Genoſſenſchaft zufammenthun und für eigene 
Lagerräume in den Bafenftädten ſorgen oder ganze Silos 
des Clevators miethen. 

ps Das MVeterinär-Inftitut in Jurjew (Dorpat) begeht 
jein fünfzigjähriges Jubiläum. Die Anftalt verdankt ihre 


ne — 


Bedeutung und ihren hervorragenden Ruf im Neich dem 
Umjtande, daß fie unter dem wiſſenſchaftlichen Einfluß der alten 
Dorpater Univerfität jtand. Sie wurde in der Zeit ihres 
Beitehens von 1330 Studirende bejucht, von denen 664 den 
Kurfus beendigten. Das TDorpater Veterinär-Inſtitut war 
das erjte und lange Zeit das einzige im Reich. In den 
achtziger Jahren wurde es ruflifizirt. Gegenwärtig zählt 
das Inſtitut 260 Etudirende — darunter 169 griechiſch— 
orthodore, 57 römisch-fatholiihe und nur 29 evangeliichen 
Bekenntniſſes, während der Reſt auf andere Konfeljionen 
kommt. Don 80 im Laufe des Jahres 1897 Cintretenden 
famen 19 aus griechiich:orthodoren Priefterfeminaren. 


14. Yan. Mittels Allerhöchiten Befehls im Reſſort des Juſtiz— 


minifteriums vom 9. Januar ijt der Profureursgehilfe des 
Rigaſchen Bezirfsgerihts Kollegienralh Moſhewitinow zum 
Vorſitzenden des Friedensrichter-Plenums des Oeſelſchen 
Bezirks ernannt. 

a Hinfichtlih des Zolles auf Edhiffe, die im Auslande 
erworben werden, hat die beim Finanzminiſterium nieder: 
geiegte Spezialfommilfion im Prinzip dahin entichieden, dab 
zwiſchen Schiffen der inneren und ausländiichen Fahrt jtreng 
zu untericheiden ſei, wobei vorgeſchlagen wird, Ceeichifte, 
d. h. alio für Auslandfahrten bejtimmte, gänzlich” von der 
Zollerlegung zu befreien, nicht aber die Fahrzeuge, die für 
die inneren Flüſſe, Seen und Deere bejtimmt find. Schiwierig- 
feiten verurfadht nur der Ladoga-See, deſſen weitliches Ufer 
zu Finnland gehört, wo ein Zoll auf Schiffe fait garnicht 
erijtirt und die Konkurrenz der Finnländer ſich bejonders 
fühlbar macht. 

£ In Libau wird eine Gefellichaft zur Verbreitung und 
Einfuhr holländiicher Viehracen in Rußland gegründet. Die 
Statuten derjelben jind vom Minijter der Landwirthſchaft, 
nad; Uebereinkunft mit dem Miniſter des Innern, am 17. 
Dezember v. J. bejtätigt. Die Gelellihaft hat ſich zum 
Ziele geſetzt: 1) die örtliche Viehzucht durd Import und 
Vermehrung holländiiher und oitfriefiiher Wiehracen zu 
fördern; 2) ihren Mitgliedern den An: und Verkauf von 
Nacevieh zu erleihtern und 3) die Verbreitung holländiſcher 


und oitfriefiiher Viehracen durch Veranitaltung von Aus— 
ftellungen, Gründung von Farmen, Erpertije der Mtolferei- 
produfte und Führung von Stammbücdern nad) Möglichkeit 
zu befördern. Gründer der Geſellſchaft find: der furländiiche 
Landesbevollmäcdhtigte Graf Keylerling, Graf Pahlen-Groß 
Aug, Graf Medem-Stockmannshof, Baron Medem-Berghof 
und Baron Bahn-Finden. 

14. 5 In der „Livl. Gouv.Ztg.“ wird ein vom livländiichen 
Gouverneur erlaflenes neues „Ortsjtatut über das öffentliche 
Fuhrweſen in Riga“ publizirt, das mit dem 14. Febr. a. c. 
in Kraft treten ſoll. 

15. Jan. Die Zeichen: und Malichule des Fräul. E. v. Jung-Stilling begeht 
den 25. Gedenktag ihres Beltchens. 

15. Jan. Die „Rig. Stadtblätter” veröffentlihen den Jahres: 
bericht über die Hauptkaſſe der Litterärifch-praktiichen Bürger: 
verbindung für die Zeit vom 1. Dez. 1896 bis 1. Dez. 1897. 
Es wurden im Necdnungsjahre 15,060 Rbl. 3 Hop. ver: 
einnahmt und 14,166 Nbl. 14 Kop. verausgabt; ſomit betrug 
der Ueberihuß der Einnahmen 893 Rbl. 89 Hop. Das 
Kapital der Verbindung bezifferte fi zum 1. Dez. 1897 
auf 112,302 Nbl. 35 Kop.; hierzu fommen nod) die Kapi- 
talien, deren Jinsertrag der Verbindung zufteht, im Betrage 
von 34,207 Rbl. 86 Kop. Unabhängig von diejen Kapitalien 
werden in der Hauptkaſſe Ziwedlapitalien verwaltet, die zu: 
fammen 247,392 Rbl. 30 Kop. betragen. 

16. Jan. — 13. Febr. Bericht des Nigiichen Stadtpropjtes über 
den Zujtand der evangeliſch-lutheriſchen Gemeinden und Kirchen 
Kigas für die Zeit vom 1. Oft. 1896 bis 30. Sept. 1897. 
Das Schnelle äußere Wachsthum der Gemeinden erweilt fich 
aus der Zunahme der Täuflinge (5071 gegen 4679 im 
Jahre vorher). Für das lebendige kirchliche Bewußtſein 
Iprechen die jteigende Kommunifantenziffer (2500 Theilnehmer 
mehr als im Vorjahr), der befriedigende Kirchenbeſuch und 
das gute Kejultat der Firchlichen Kolleften und Beifteuern 
zu Kirchenzweden. Schr zu denfen giebt, was der Bericht 
über den Konfirmandenunterricht mittheilt. Die Kollifion 
mit dem Schulunterricht macht ſich jehr empfindlid) bemerkbar. 
Auch bei den Schülern aus den bejjeren Klaſſen trat vielfach 


— 


überraſchende Unkenntniß zu Tage. Noch beſorgnißerregender 
wäre dieſe bei den Kindern aus den unteren Schichten der 
Bevölkerung, namentlich lettiſcher Gemeinden. Der Grund 
ſei in dem Umſtande zu ſuchen, daß dieſelben häufig garfeine 
Schule beſucht hatten. Die Kirchenichulen jeien überfüllt, 
die übrigen Schulen für viele zu theuer. Es drohe ein 
Proletariat heranzuwachſen, das den heilfamen Einfluß der 
Schulzucht und die fittlich-religiöfe Einwirkung des Religions: 
unterrichts nie erfahren habe. Manche entzögen ſich überhaupt 
dem Konfirmandenunterriht, um dann zu anderen Kirchen 
überzutreten, wo auf religiöfe Kenntniſſe feine Anjprüche 
gemacht werden, oder als halbe Heiden dahinzuleben. Din: 
fichtlich der projeftirten Kirchen: und Paſtoratsbauten Fonjtatirt 
der Bericht, daß man den in Ausficht genommenen Zielen 
erfreulich näher gerüdt ſei. Miſchehen mit Katholiken wurden 
69 (gegen 87 im Vorjahr), dagegen mit griediidj:orthodoren 
137 (gegen 121 im Vorjahr) geſchloſſen. Aus Miſchehen 
mit Orthodoren wurden nur noch 16 Kinder evangelifch- 
lutheriſch getauft. 

16. Jan. Das in Tiflis in armeniſcher Sprade erjcheinende 
Blatt „Ardſagank“ ijt jeiner Schädlichen Richtung wegen vom 
Zivil-Landeschef auf acht Monate juspendirt worden. 

16. Ian. jtirbt der Profeſſor für Arzneimittellehre und der Leiter 
des pharmafologiichen Inſtituts an der Univerfität zu Heidel— 
berg Dr. Woldemar v. Schroeder. Er war ein Sohn des 
Dorpater Gymnafialdireftors Julius v. Schroeder und hatte 
in Dorpat Anfangs Medizin, dann Chemie jtudirt und hier 
den Kandidatengrad und ſpäter in Leipzig den Doktortitel 
erworben. Die „Münchener Allg. Ztg.” ehrt den Verjtorbenen 
durch einen ausführliden Nachruf in ihrer wiljenichaftlichen 
Beilage. 

18. Jan. jtirbt in Dago-Kertell Robert Baron Ungern-Sternberg, 
der Begründer und Direftor der Dago-Kertellſchen Tuchfabrif. 
Diefe Fabrik ift eine der ältejten der baltischen Provinzen. 
Sie zeihnet ſich nicht nur durd ihre trefflihen Fabrikate 
aus, Jondern auch dadurd), daß fie für die Bedürfnifie ihrer 
Arbeiter in der umfaſſendſten Weile Sorge trägt. Baron 
Ungern:Sternberg hat fie jechzig Jahre hindurd) geleien 


— — 


18. Jan. Der Miniſter des Innern verfügt auf Grund des Zenſur-Preßgeſetzes, 


der Zeitung „Sibir* in der Perjon ihres Herausgeberd und Redakteurs 
Kollegien⸗Aſſeſſors Konſtantin Michailom die dritte Verwarnung zu ertheilen 
und auf fie die Anmerkung zum Art. 144 des genannten Geſetzes anzu— 
menden. 

» Desgleihen verfügte der Miniiter des Innern auf Grund dejielben 
Gefehes, dem „Graſhdanin“ den Drud privater Annoncen zu verbieten. 


18. Ian. Die „Zirfuläre für den Rigaer Lehrbezirk“ (Nr. 11 v. 


1. Nov. 1897) veröffentlichen eine Allerhöchite Enticheidung, 
durch welche die Unterlegung des Minijters der Wolfe: 
aufflärung vom 18. September 1897 bejtätigt und der Ver: 
mwaltungsrath des polytechniichen Inſtituts zu Riga beauftragt 
wird, neue Gebäude für die chemiſchen und phyſikaliſchen 
Laboratorien, für Auditorien und Zeichenfäle zu errichten. 
Die für die Neubauten erforderlidien Geldmittel find dem 
am 8. Auguſt 1897 auf Allerhöchſten Befehl angemwiejenen 
Kredit im Betrage von 200,000 Rbl. zu entnehmen. Weiter 
werden mehrere minijterielle Verfügungen über die Einführung 
von Lehrſtunden der deutichen Sprache in Stadtichulen publizirt. 
Wie in den bisherigen Füllen, wo die minifterielle Geneh— 
migung zur Cinführung deutfcher Stunden in einzelnen 
Schulen ertheilt wurde, bildet die deutiche Sprache nur einen 
fafultativen Unterrichtsgegenjtand. Der deutihe Sprad- 
unterricht ift in der nicht durch den Stundenplan in Aniprud 
genommenen Zeit zu ertheilen und die Schüler, die fich be 
theiligen wollen, haben eine Ertrazahlung von 2 Rbt. jährlich 
zu entrichten. Der Unterricht, der in zwei Stunden wöchentlich 
ertheilt wird, darf erit beginnen in der II. Klaſſe, in der 
Mejenbergihen Stadtichule erit in der älteren Abtheilung 
der II. Klaſſe. Die vorliegenden Verfügungen beziehen fich 
auf die Peter: Bauls-Schule in Riga und die MWejenbergiche 
und Haſenpothſche Stadtichule. Ueber die Abhaltung der 
Morgenandachten für römiſch fatholiihe Schüler in lateinischer 
Sprache auf Grund des Allerhöchiten Befehls vom 25. Juni 
1897 mwird eine minilterielle Verfügung v. 18. Oft. 1897 
publizirt, die im Anſchluß den vom Erzbiſchof von Mohilew 
feitgelegten Wortlaut des Gebetes in lateiniiher Sprade 
befannt giebt. 


— — 


20. Jan. Der „Praw. Weſtn.“ bringt einen längeren Artikel 


über „das fiskaliſche Branntwein-Monopol,“ in dem dargelegt 
wird, von welchen Grundſätzen die Regierung ſich bei Ein— 
führung deſſelben habe leiten laſſen. Das Finanzminiſterium 
ſei zu der Anſicht gelangt, daß das i. J. 1863 eingeführte 
Akziſeſyſtem mit ſeinem Prinzip des freien Spirituoſendetail— 
bandels Moral und Gejundheit des Volkes ſchädige; außerdem 
hätte bei dieſem Syitem die von dem Fisfus aus Der 
Branntwein:Afziie bezogene Cinnahme bei weitem nicht den 
Ausgaben der Bevölkerung für den Branntwein entiproden, 
wenn man die hohen Preiſe im Detailhandel, den dem Volke 
theuer zu jtehen fommenden Branntweinfredit, ſowie den 
Ihädlihen Einfluß der Trunffuht auf die Wolfswirthichaft 
in Betracht zöge. Aus Dielen Gründen habe das Finanz— 
minijterium die Einführung des fisfalifchen Branntweinverfaufs 
für geboten eradtet. Da dem Fisfus aber die Errichtung 
von Etablijjements mit Verfauf zum Trinfen am Orte, in 
denen den Bejuchern Speilen, ein Unterfommen für Reilende 
und Futter für die Pferde geboten wird, zu große Schwierig- 
feiten bereitet hätte und andererjeits ſolche Etablifjements 
nicht zu entbehren find, beſchloß das Finanzminijterium den 
Verkauf zum Trinken an Ort und Stelle unter gewiſſen 
Bedingungen Privatperfonen zu überlaflen, den Verfauf der 
Spirituojen zum Forttragen dagegen allein dem Fiskus 
vorzubehalten. Der Branntweinbrand bleibt vollitändig den 
Händen privater Perfonen überlailen, der ganze von den 
Brennern erzeugte Spiritus aber, falls er nicht über Die 
Grenzen des fisfaliichen Monopol:Rayons ausgeführt wird, 
muß dem Fiskus zu einem vorher bejtimmten ‘Preile oder 
auf dem Wege des Ausgebots überliefert werden. 

” Nah den von der jtatijtiichen Abtheilung des Zoll 
Departements über Rußlands auswärtigen Handel im Jahre 
1897 gezogenen Totalfummen erreichte der ruſſiſche Erport 
die Werthziffer von 745,205 Mill. Rbl. gegen 688,185 Mill. 
Rbl. im Jahre 1896 und 689,1. Mill. Rbl. im Jahre 
1895, demnach hat ſich der Erport bei Vergleichung mit 
dem Jahre 1896 um 56,12 Mill. Rbl. oder 8,20 und bei 
Vergleichung mit dem Jahre 1895 um 56,183 —— 


oder 8,1 °/o geiteigert. Der Import des Jahres 1897 befief 
ih auf 572,102 Mill. Rbl. gegen 589,210 Mill. Rbl. im 
Jahre 1896 und 537,108 Mill. Nbl. im Jahre 1895. Der 
Import des Jahres 1897 iſt gegen 1896 um 16,0: Mill. 
Rbl. oder 2,5 "/o zurüdgegangen, während er gegen 1895 
um 35,03 Mill. Rbl. oder 6,5 %/o gewachſen ift. Beim Ziehen 
der Bilanz; pro 1897 ergiebt jich, daß der Erport den Import 
um 172,23 Mill. Rbl. übertroffen hat. Im Jahre 1896 
überjtieg dev Erport den Import nur um 99,145 Mil. Rbl. 
und im Jahre 1895 um 151,orı Mill. Rbl. — Aus der 
Hanbelsbilanz eines Landes darf durdaus nicht ohne weiteres 
auf den öfonomijchen Zujtand des Landes geichloffen werden. 
Ein folder Rüdihluß ift nur dann zulällig, wenn man die 
Art der ein: und ausgehenden Güter genau berüdfichtigen 
fann. Gerade die reichiten Staaten Europas — England, 
Deutihland, Frankreich — haben jchon lange paflive Handels- 
bilanzen. 


21. Ian. Generallieutenant Sſacharow, Stabschef des Odeſſaer 


Militärbezirfs ift zum Chef des Generaljtabs ernannt worden. 
„ Wie die Refidenzblätter wieder einmal wiſſen wollen, 
wird der Entwurf zur Einführung der Zandichaftsinititutionen 
in den Oſtſeeprovinzen vom Minifterium des Innern in 
diefem Frühjahr ausgearbeitet werden, jo daß er im Herbſt 
an den Reichsrath gelangen Fönnte. 

” Rufftiche Sprachkurſe werden, wie die „Nowoſti“ melden, in diefem 
Sommer in Finnland an verichiedenen Orten für die Volksſchullehrer 
abgehalten werden. 

„ Am 28. Dezember v. %. wurde in der Korreftions- 
Kolonie für minderjährige Verbreder in Nodenpois bei Riga 
eine aus Privatipenden erbaute Kirche des heil. Wunder: 
thäters Nifolai vom Bilchof Agathangel von Riga und Mitau 
eingeweiht. 

„ In der Petersburger Duma macht der Stabtverorbnete Krüger eine 
Eingabe wegen eines unter dem Titel „Quousque tandem, o Catilina!, 
im „Graihdanin“ erichienenen Artifels, in dem die Kommunalverwaltung 
der eriten Reſidenz- und SDauptitadt ganz unverhohlen des Diebitahls 
geziehen wird. Krüger beantragt gerichtliche Verfolgung des „Graſhdanin“. 
Der Stadtverordnnete Kedrin führt aus, daß die Angriffe ihrer Form wegen 
allerdings nicht zu vertheidigen jcien, ibrem Inhalt nadı aber viel Richtige, 
enthielten. Wit allen gegen drei Stimmen beihloß die Duma, die Ein: 


Pa, 0 


gabe Krügers ohne Folgen zu laſſen, da jie über ſolche Vorwürfe 
erhaben jei. „Politiſch, meint die „St. Petersburger Ztg.“, mag dieſe 
Handlungsweiſe jein, von Korpägeiit und fommunalem Stolz zeigt fie 
nicht.“ 


21. Jan. Nach einem Bericht des Kalugaſchen Gouvernements-Landſchaftsamt 


an die Gouvernementslandihaftsverfammlung erijtiren gegenwärtig im 
Kalugaihen Gouvernement 697 Schulen, und zwar 13 minijterielle, 
414 Landſchafts-, 265 Kirdhengemeinde-Schulen und 5 Privatidulen. 
Eine Schule emtfält auf 28, Quadratwerſt bevölferten Flächen— 
raumes, auf 5, Drtichaften und auf 1585 Bewohner beiderlei 
Geſchlechts. Die Zahl der Kinder im fchulpflichtigen Alter beläuft 
jih auf 41,142 Knaben und 48,617 Mädden. Bon 571 Scdulen, 
über melde Daten vorliegen, jind 366 überfüllt, in 78 iſt die 
Normalzahl erreiht und 127 Schulen find ſchwach beſucht. Nach 
Erachten des Gouornements:Landicdaftsamtes liege ein dringendes Be: 
dürfniß vor, noch 219 neue Schulen zu eröffnen, worauf im Gou— 
vernement eine Scuie auf 1102 Bewohner beiderlei Geſchlechts und auf 
20 Quadratiwerjt entfallen würde. Ferner weilt dad Landſchaftsamt auf 
zwei jehr fühlbare Mebeljtände im Schulweſen des Gouvernements hin, 
die der Abſtellung dringend bedürfen, nämlich auf den unbefriedigenden 
Zujtand der Schulgebäude und auf das niedrige Bildungsniveau der 
Lehrenden. Bergleid;e mit den Ojtjeeprovinzen, wo auf ca. 500 Seelen 
eine Elementarichule fällt, jind injtruftiv. 

— Anfang des Jahres wird in polniſcher Sprache der Proſpekt eines 
demnächſt ericheinenden evangeliihen Kirchenblattes „Zwiajtun ewangelicany“ 
(Evangeliicher Bote) veröffentliht. Schon vor Jahren wurde ein joldes 
von Baitor Otto herausgegeben, hörte dann aber mit jeinem Tode zu 
erjcheinen auf. Nach fünfzehnjähriger Unterbrediung erfolgt jegt unter 
der Redaktion des Paitors Julius Burjche Die Fortſetzung. Begründet 
wird im Brojpeft das Bedürfniß nach einem evangeliichen Kirdyenblatt 
in polnilcher Sprache durd den Hinweis, wie auffallend ſchnell die deutſch— 
evangeliichen Familienkreife im Königreich Polen, und bejonders in 
Warſchau, ihre angejtammte Spracde und Eigenart abjtreifen und ji 
für echte Polen ausgeben, oder vielmehr re vera im echte Polen ſich 
verwandeln, viel jchneller und allgemeiner, als Ihresgleichen in anderen 
fremden Ländern deren Sprache und Sitten ſich anzueignen pflegen. 
„Die Kinder jolher Eltern,“ heißt es im Projpeft, „die deutſch reden 
halten oftmals dieje Sprache nicht mehr für die ihrige, jondern fühlen 
ſich eins mit unjerem Lande und denfen und reden polniſch.“ 


21. Jan. Der befannte Profejjor Jlowaijfi veröifentlicht in jeinem in Moskau 


21. 


ericheinenden Blatt „Kreml“ eine Träumerei über den großen „Zufunfis: 
krieg“ zwiſchen Rußland und Oefterreich Deutichland, in der er jeinem 
Hab gegen alles Germanenthum unzmweideutigiten Ausdrud verleiht. 

„Die ſtädtiſche Jmmobilienjteuer pro 1898 ijt nad) einem 
im „Bram. Weſtn.“ veröffentlichten, Allerhöchit bejtätigten 





— 66— 


Reichsrathsgutachten auf die baltiſchen Provinzen wie folgt 
vertheilt: Yivland partizipirt mit 328,000 Nbl., Kurland 
mit 94,000 Rbl., Ehſtland mit 63,000 Rbl. In der Reihe 
der die höchſte Immobilienjteuer leiftenden Gouvernements 
nimmt Livland die fünfte Stelle ein. Außer den beiden 
Rejtdenzgouvernements geben ihm nur noch das Cherſſonſche 
Souvernement (Odeſſa) mit 650,000 Rbl. und das Kiewiche 
mit 367,000 Rbl. voraus, Für das ganze Neich beträgt Die 
ſtädtiſche Immobilienſteuer pro 1898 — 8,444,000 Rbl. 


21. Jan. Der Sinanzminijter giebt durd den Dirigirenden Senat 


21. 


befannt, daß bei Zollzahlungen ein Eilberrubel (aud) in 
Kreditbilleten oder Scheidemünze) gleich 66°; Kop. Gold gilt. 
„ Zum “Bolizeimeifter von Libau it der ältere Gehilfe 
des Wolmarjchen Streischefs, Hofrat Eugen von Nadedi, 
ernannt worden. 

" Die afademiihe Studentenverbindung „Fraternitas 
Rigenſis“ begeht zu Jurjew (Dorpat) ihr fünfundjiebzigjähriges 
Jubiläum. Die Theilnahme an diefem Felt iſt eine ſehr 
große. Das bezeugen die überaus zahlreihen Sympathie— 
fundgebungen, die der Nubilarin aus Niga, den Lftjees 
provinzen, dem Neicdhsinnern und dem Nuslande zugehen. 
Die Felttheilnehmer erneuern das Gelöbniß, getreu Den 
alten Traditionen der „Fraternitas,“ auch in Zufunft allzeit 
feitzuhalten an den geiftigen und jittlihen Gütern der 
Heimath. In einem Telegramm bitten fie den Mlinifter 
des Innern, Seiner Majejtät dem Kaiſer den Ausdrud ihrer 
unbegrenzten Treue und Grgebenheit zu Füßen legen zu 
wollen. Ein Telegramm gleihen Inhalts wird von den an 
dem Feſte theilnehmenden Tamen Rigas an Ihre Majeſtät 
die Kaiſerin entjandt. 

„ In vielen Däufern Rigas find zu Ehren des Jubiläums 
der „Fraternitas“ die Fenjter illuminirt. Auf Befehl des 
rigaichen Polizeimeijters jchreiten die Polizeihargen ein und 
fordern Mbjtellung der llumination. inige Bewohner 
weigern jich, dies zu thun, weil die Polizei zu ſolch einem 
Verlangen nicht berechtigt wäre, und ihre Wohnungen bleiben 
troß des Einſpruchs beleuchtet. 


u —— 


22. Jan. In einem Tagesbefehl macht der Bolizeimeijter Nigas 


nadhträglidy die Priſtawe darauf aufmerfiam, daß fie am 
21. Jan. „in jedem Fall verpflichtet waren, in ihren Bezirfen 
Maßnahmen zur Einitellung der Jllumination zu ergreifen 
und den Einwohnern deren unrichtige Dandlungsweile aus: 
einanderzujegen.“ Der Bolizeimeijter jchreibt vor, letzteres 
auch am 22. Jan. genau zu erfüllen. Von einer Anfangs 
in Ausjicht genommenen gerichtlichen Belangung der Nenitenten 
wird Abjtand genommen, da fi die Berechtigung der Polizei 
zum Einjchreiten nachträglich als höchſt zweifelhaft erweiſt. 

= Die Statuten der livländiichen Gejellichaft zur Unter: 
weijung und Ausbildung taubjtummer Kinder der evangelilch- 
lutherifchen Kirchipiele Yivlands find, wie der „Praw. Wejtn.“ 
befannt giebt, am 19. Dezember v. %. vom Miniſter des 
Innern bejtätigt worden. 

" An diefem Tage jtellen fih die Beamten ſämmtlicher 
Reijoris dem neuen Generalgouverneur von Wilna, Kowno 
und Grodno und Kommandirenden der Truppen des Wilnajchen 
Militärbezirks, Generaladjutanten W. N. Trozfi vor. Die 
nichtorthodore Geijtlichkeit apojtrophirt Trozfi mit folgenden 
Worten: „Denken Sie daran, daß wir einen Gott haben, 
zu dem wir beten, einen Haren, dem wir Dienen, ein 
gemeinjames Vaterland, für deiien Wohl wir Alle arbeiten. 
Haben Sie, meine Herren, den Zinn dejjen, was id) Ihnen 
jagte, verjtanden?“ Nachdem er eine zujtimmende Antwort 
erhalten, fuhr der Generalgouverneur fort: — „Jetzt habe 
id eine Bitte an Sie: beten Sie für mid) zu Gott, dab er 
mir Kraft und Verftand verleihe, um das Vertrauen unjeres 
Kaijers zu rechtfertigen, mit Seftigfeit Seine guten Weiſungen 
zu verwirfliden und mit Nutzen für das Wohl unjeres 
gemeinjamen iheuren Vaterlandes zu wirken.“ Zu jämmtlichen 
zur Vorjtellung erjchienenen Beamten gewandt, jagte der 
Seneralgouverneur: „Alles Ehrliche, Gute, aufrihtig Wahre 
und wahrhaft Ruſſiſche wird in mir Sympathie, Unterjtügung, 
Rüdhalt, Vertheidigung und Schutz finden. Es verjteht ſich 
von jelbjt, daß das Gegentheil die entgegengejegte Handlungs- 
weije herausfordern wird. Sch danfe Ihnen, meine Herren, 
für die Begrüßung; ich wünjche Ihnen Gejundheit und Kraft 


— 70 — 


zu einer nützlichen Thätigkeit für das Wohl unſeres theuren 
Vaterlandes. Bei der weiteren gemeinſamen Arbeit werden 
wir uns näher fennen lernen; bis dahin — auf Wiederjehn!“ 
Ron Dielen Worten des neuen Generalgouverneurd meint der offiziöle 
„Wilenifi Weſtnik,“ jie müßten dem rufftichen Arbeiter Muth einflößen, ihm 
eine klare, beitimmte Anſicht von den Tingen geben und ihn vor Trägbeit 
und Unichlüfligfeit bewahren, die oft durd die Furcht hervorgerufen 
worden jeien, ein Opfer der Intrigue und verleumderiicher und meiſtens 
anonymer Denunziationen zu werden, wie joldye eine nicht jeltene Erſcheinung 
in der Gejellihaft wären. Die „Now. Wr.” begrüßt die Rede des General: 
gouverneurd im Namen der patriotiichen ruſſiſchen Gejellichaft auf das 
freudigite und giebt aud) die Anjprache des Erzbiſchofs Jeronim von Wilna 
an den Generalgouverneur und defien Antwort nad den „Yitow. Epard). 
Wedom.“ wieder. In diefer erzbiichöflichen Anſprache wird der 
Zuverfiht Ausdrud gegeben, daß die griechiich-orthodore Kirche 
in „dieſem altrulfiihen griechiidy-orthodoren Gebiet“ in der 
Perſon Trozfi’s einen zuverläſſigen Beſchützer ihrer heiligen 
Intereſſen finden werde, einen Förderer aud) der griechijch- 
orthodoren Kirchenſchulen des Gebiets, in welchen „alle, ohne 
Unterschied des Glaubens und der Nationalität, in brüderlicher 
Liebe und im Geiſt der driftlichen Lehre“ vereinigt werden 
fönnten. In feiner Antwort betont Trozfi, daß das Ziel 
feiner Thätigfeit als Chef „diejes altruffiichen, von jeher 
griechiſch orlhodoren Gebiets” die vollfommene Löſung der 
Aufgaben fei, die ihm durd das hohe Vertrauen des Kaijers 
und durch die Hoffnungen und Sympathien der Ruſſen geitellt 
wären. Zu der Antrittsrede Trozki's jchreibt der „Swet“: „Durch dieje 
Rede ijt der Nebel, der dur eine \ntrique über unfere inneren Staats: 
angelegenheiten gebreitet worden war, endlich zeritreut worden. Die Ber: 
leumder waren bereit nahe daran, ein gejondertes Königthum Polen zu 
bilden und das Weichielgebiet von Rußland zu trennen; die Feinde 
Rußlands verbreiteten unmahricheinliche Erfindungen über den Triumph 
des römiſchen Katholizismus und über das heimliche Katholiichiverden 
mächtiger Perſonen; die Feinde Rußlands ſprachen lärmend von neuen 
Richtungen, bei denen das ruſſiſche Neich bereits nicht mehr ruſſiſch jein 
werde! .„..? Slleine Neuerungen, die augeniceinlich keinerlei Rolle jpielen 
follten und jpielen fonnten, wurden für Borboten eincs kommenden 
radifalen Umichwunges ausgegeben... So redt daran glauben fonnte 
man allerding$ nicht, aber Alle waren erregt: jest iſt dieſe ganze trügerijche 
sinjterniß wie ein Hauch zergangen. Ein Yichtitrahl, und die Finſterniß 
Ihwand. In der Form ift die Rede N. W. Trozki's recht ungewöhnlid. 
Sie iſt ganz eigenartig und läßt den Charakter des neuen Regenten 


— yes 


erkennen. Ihrem Lakonismus fommt nur ihre machtvolle Logik gleich. 
Daher ihre Kraft und Bedeutung. Wir aber müflen uns über das 
Ereigniß doppelt freuen. Die Klärung ijt nicht nur in Wilna, jondern 
in der ganzen weitlihen Grenzmark vor ich gegangen. Die Ernennung 
M. J. Dragomirow's, dieſes durd Geiſt, Talente, dienitliche Verdienite, 
Scharfjinn und richtige Anichauungen über Rußlands hiſtoriſche Aufgaben 
befannten Mannes, zum Generalgouverneur von Kiew hat auch dieſe 
Örenzmarf vom Albdrud befreit. Allen ift es befannt, daß General 
Dragomirow und General Trozfi eines Sinnes find. Das jtaatliche 
Programm iſt einheitlich, und was am Njemen und am Dujepr geichieht, 
das geichieht augenicheinlich auch an der Weichiel oder muß dort geichehen. 
Bei der Auffafjung des jtaatlichen Programmes und der jtaatlihen Auf; 
gaben an der Weichiel fonnten bis jegt Mikverftändnifie, und zwar nur 
zeitweilige, vorfommen, neue Abjichten fonnten aber nicht vorhanden jein.“ 


24. Jan. Das Warlchauer geiſtliche Blatt „Przegloud Katolicki“ bringt einen 


24. 


Artifel „Tas Lahr 1897 im Leben der Satholifen unter ruſſiſchem 
Szepter,“ in dem nochmals die Allerhöchiten Gnadenerweiſe, die den 
Katholiken im Jahre 1897 zu Theil wurden, aufgezählt werden. Das 
Blatt nennt: Tie Erlaubnig zur Rejtaurirung alter Heiligthümer und 
zur Errichtung neuer; die Erlaubniß, das Schulgebet in der Mutterſprache 
der Schüler abzuhalten, die nichtorthodoren Schülern ertheilte Erlaubnis, 
vom orthodoren Gottesdienit an den hohen Feiertagen fernbleiben zu 
dürfen, die Erlaubnii zur Eröffnung des geiitlihen Seminars in Kielce 
und die Beſetzung der Bisthümer. „Alles das — jagt das Blatt — 
verpflichtet und ſowohl als Geijtliche, wie ald Bewohner des Yandes, 
Laßt uns durch unjer Betragen beweijen, daß die Anfläger, welche den 
fatholiichen Klerus als ein unruhiges und aufrühreriſches Element bins 
itellen, ji irren oder faliches Zeugniß reden. Der fatholiihe Klerus 
it Fih wohl bewußt, was im irdischen Yeben die Dauptaufgabe der 
Geiſtlichkeit ſein muß: die Yeidenichaften zu beruhigen, Liebe und Frieden 
in die Herzen der Menichen zu bringen.“ Die polnische Preſſe legt dieſer 
Friedens: und Berjöhnungsfundgebung in dem geiltlicden Blatt eine 
„ungeheure Wichtigkeit“ („Hurjer Polski“) bei. 

— Der in Kiew erſcheinende „Kiewljanin“ giebt in ſeiner Wr. 20 
bekannt, daß der Miniſter des Innern am 10. Jan. ihm die Erlaubniß 
zum Erjcheinen ohne Präventivgenjur ertheilt habe, Damit wird zum 
eriten Mal eine politische Provinzialzeitung des europäiſchen Rußlands 
von der Präventivzenſur befreit. 

„ Von 11 in Rußland überhaupt erijtirenden Taub— 
ſtummenſchulen fommen allein 7, wie die „Nowoſti“ hervor: 
heben, auf Finnland und die Oftjeeprovinzen. Letztere haben 
5 ſolche Anjtalten, nämlich Kurland eine zu Mitau, Yivland 4, 
in Strasdenhof bei Riga, zu Wolmar, Fennern und Pölwe. 


Alle werdeno hne jede materielle Beihilfe des Staates unterhalten. 


70 
— — 


24. Jan. Der Miniſter des Innern bat auf das Geſuch des Gouverneurs 
von Taurien, den Yandichaftsämtern den Trud ihrer Berichte ohne 
Präventivgenjur unter der Verantwortung der VBorfigenden zu geitatten, 
erwidert, daß dieſes zunädit geichehen fünne, da die Berichte ja nicht 
zu allgemeiner Kenntniß gelangten. Er geitatte den Drud der Berichte 
ohne Präventivgenjur aber nur jo lange, als die Rückkehr zur früheren 
Ordnung nicht möthig gemacht werde, 

”" » In der Dritten Abteilung des Kriminal-Kaſſations— 
Departements des Senats gelangen 21 Kajlationsjachen der 
wegen Schmüdens ihrer Häuſer und Sarbentragens bei ber 
eier des Tä-jährigen Jubiläums der Livonia (Balt. Chr. J, 
137, 145, IL, 14, 23) Verurtheilten reſp. Freigeſprochenen 
zur Verhandlung. Sämmtlihe Angeklagten werden vom 
Senat freigejprodhen, und zwar weil, wie der Oberprofureurs- 
gehilfe ausführt und der Senat anerkennt, nur eine Aus— 
Ihmüdung der Häufer mit Flaggen der polizeilihen Erlaubniß 
bedürfe, jede jonjtige ohne Cinholung irgend welder Er: 
laubniß zuläſſig jei, und weil feine Bolizeivorjchrift eriltire, 
die Nichtjtudenten (Bhiliftern, um joldhe handelte es ſich) das 
Tragen von Farben verbiete; in beiden Füllen läge jomit 
in den einzelnen Klagejadhen fein Thatbejtand und aljo auch 
nichts Straffälliges vor. 

ni Einem Zentralverein zur Ausbreitung der ruſſiſchen 
Kultur in den baltiihen Gouvernements, nad) dem Mujter 
der in Deutichland und Oeſterreich bejtehenden Allgemeinen 
deutichen Schulvereine, vedet der „Riſhſki Wejtnif” an leitender 
Stelle das Wort. Das Blatt denft ſich die Zentralverwaltung 
des Vereins in Petersburg und berichtet, daß vor Jahren 
bereits der Sedanfe von ihm angeregt und von vielen Ver: 
tretern der ruſſiſchen Sache jympathiichh aufgenommen worden 
jei. „Aus ihrer Zahl erwähnen wir die unvergehlichen Nik. 
Awkſenkewitſch Manaſſein und Fürſten Wlad. Andrejewitich 
Schachowſkoi. Schon war ein lebhafter Meinungsaustauſch 
eingeleitet, als der umerbittlide Tod Dieje denfwürdigen 
rulliichen Arbeiter abberief und die Sache auf günjtigere 
Zeiten vertagt werden mußte.“ Der „Riſhſti Wejtnif“ hält 
jegt den Augenblid für gefommen. 


24. Jan. Die „Nom. Wr.“ weiſt auf den hohen Gewinn hin, den nad dem 
Rechenichaftsbericht pro 1896/97 die Geſellſchaft der Weitfäliihen Tuch— 


— 78 — 


induſtrie in Niga erzielte und klagt dabei in beweglichen Tönen über 
die „armielige Lage“ der rufjiichen Technit und „das Weraltete und 
Berwahrlofte der techniichen Bildungsiache” im Reich. „Aus Mangel an 
Kenntniſſen it unjer Unternehmungsgeift Sahmgelegt und kann ſich jelbit 
unter dem Schuß des hohen Zolltarifs nicht, wie erforderlid), entwickeln.“ 


25. Jan. Wie befannt wird, hat das gelehrte Komité des 


26. 


„ 


Minifteriums der Bolfsaufflärung ſchließlich ſich mit der 
vom Kurator des Petersburger Lehrbezirks Kapuſtin verjuchs: 
weile durchgeführten Neform des Gymnaſialprogramms doc) 
nicht einverjtanden erflärt und überhaupt jeinen Bedenken 
Ausdrud verliehen, die Nothwendigfeit einer Einſchränkung 
des bejtehenden Programms gelten zu fallen. Indirekt giebt 
das Miniſterium der Volfsaufflärung das Bedürfniß nad) 
einer Reform doch wieder zu, indem es jein gelehrtes Komite 
betraut hat, die Neformjache weiter zu verfolgen. In der 
„Beterb. Wed.” führt ein Herr R. Stworzow unter Berufung auf deutſche 
Scyulautoritäten aus, der Grund für den empfundenen Mangel jei nicht 
jowohl in den fehlerhaften Programmen, als vielmehr in den jchlechten 
Lehrkräften zu ſuchen. Hier aljo hätte eine Reform einzujchen. 

iR Die „Nedelja“ flagt über das Sinken des Petersburger Getreide: 
erporthandels. Den erſten Schlag bättedem Petersburger Dandel der 
Bau jener Linien, die das Wolga: und Hama:Gebiet und die Schwarz: 
erdregionen uuter Beileitelafjung der Reſidenz Ddireft mit der Oſtſee 
verbanden, zugefügt. Jetzt folge der Bau der Bologoje:Plestauer 
und der Arhangeler Bahu. Würde dieje nicht nach Petersburg, jondern 
nad; dem Knotenpunkt Toſſno geführt, jo wäre der Endpunft für 
die Frachten wieder das für den Export bequemere Reval, und 
Petersburg ginge wieder leer aus. „Werden die Getreidefrahten endgiltig 
von Petersburg abgezogen, jo ift die Bedeutung des Petersburger Ausfuhr: 
hafens dahin und alle Neueinrichtungen — der Clevator, welcher Dem 
Fiskus jo fabelhaft viel fojtete, und der neue Hafen — jind überflüjjig. 
Es wird eben nichts zu verladen jein.‘ 

» Der „Weſtnik Finanzow“ beipricht den Ausbau des 
Windaufhen Hafens. Bei Aufwendung eines verhältniß: 
mäßig geringen Kapitals fünne er eine ungeheure Erport- 
fähigfeit entwideln. Sümmtlihe Anlagen jeien mit 5—6 
Millionen Rbl. zu bejtreiten und die Gejellichaft der Rybinſker 
Eijenbahn habe jich zur Uebernahme aller Koften bereit erklärt. 
„Die Regierung aber, heißt es dann in dem Artikel, hielt 
es nicht für geeignet, dieſe Angelegenheit einem Privat: 
Unternehmer zu übergeben, weil ſie bejorgte, die Staats: 


— 74 — 


intereſſen möchten hierbei vor den Intereſſen dieſes einzelnen 
Unternehmers in den Hintergrund treten.“ 


26. Jan. Der Miniſter des Innern hat verfügt, den Druck von Privat: 


30. 


31. 


Annoncen in der Zeitichrift „Srafhdanin“, der am 18. Januar ec. ver: 
boten wurde, wieder zu gejtatten. 


= Ein Alerhödhiter Ukas iſt publizirt worden, betreffend 
die Konverfion der 4!/2-prozentigen Pfandbriefe der Reichs— 
Adels-Agrarbanf im Nominalbetrage von 172,785,200 Rbl. 
und die zweite Emilfion 3/2-prozent. Pfandbriefe dieier Banf. 
„ Ges findet in Niga unter Vorſitz des wirfl. Staatsraths 
Ingenieurs PB. v. Goette eine Berathung über das Projekt 
der Anlage eines Zentral-Güterbahnhofes jtatt. An der 
Sitzung betheiligen ſich die Spigen der Riga-Oreler Eijen- 
bahnverwaltung, das Stadthaupt von Niga und Vertreter 
des Rigaer Börjenfomites. Werhandelt wurde über die Anlage 
der Hafenerportitation am Andreasdamm, die zunädjt zur 
Ausführung gelangen joll, da fie für den rigiſchen Handel 
ein dringendes Bedürfniß ift. Der Andreasholm joll, dem 
Wunſche der Stadtverwaltung entipreddend, unverfürzt be— 
jtehen bleiben, jo dab das erjte Hafenbaſſin um 140 Faden 
weiter jtromabwärts verlegt wird, als urjprünglich projeftirt 
war. Der Andreashafen wird foweit verjchüttet, daß er in 
einer Breite von 50—60 Faden beitehen bleibt. (Balt. 
Chr. I, 125.) 


1. Februar. Der „Bram. Weſtn.“ publizirt die Ernennung des 


bisherigen Wolfsichulendireftors des Pleskauſchen Gouver- 
nements Staatsraths Pawlow zum Volfsichulendireftor Des 
Souvernements Ehjtland. 

& Die Summe von 75,000 Nbl., die zur Vollendung 
des Baues der Nevalichen Kathedrale für das Jahr 1898 
ausgejeßt worden ijt, wird, den „Peterb. Wed.“ zufolge, 
aud für das Jahr 1899 erforderlich jein. 

u Zur Statiftif der ſemitiſchen Bevölkerung Rigas theilt 
das „Rig. Tgbl.“ mit, daß im Jahre 1897 die Zahl der 
Juden, die in Niga ihren bejtändigen Wohnfig hatten, 
18,817 (gegen 17,915 im Jahre 1896) betrug. Geboren 
wurden 1897 641, es jtarben 315 und ließen fid) neu nieder 
576 Juden. 


— — 


3. Febr. Auf Grundlage des Preßgeſetzes verfügte der Miniſter des Innern, 


„ 


” 


" 


der Zeitung „Glaſſnoſtj“ den Einzelverfauf der Nummern zu unterlagen. 
„ Zum fommandirenden des abgetheilten Gendarmerieforps 
it der bisherige Gehilfe des Gendarmeriehefs General: 
lieutenant Pantelejew ernannt worden. 

„ Die Statuten eines „Walfichen ruſſiſchen Mäßigkeits— 
vereins“ find, nad dem „Malf. Anz.“, unterm 18. Nov. 
1897 vom Minijterium bejtätigt worden. 

be In der ruffiichen Prefic wird eine Reihe von Vorträgen, die General 
von Wenndrich während des Januars in Petersburg über das 
ruſſiſche Eiſenbahnweſen hielt, mit lebhaften Anterefie beiprodyen. General 
v. Wenndrih it aus dem Nothjahr 1892 befaunt. Tamald wurde er 
zum Generalinipeftor der Kijenbahnen mit faſt unumschränften Voll» 
machten ernannt. Die „Diktatur Wenndrich“ dedte Damals, wie der 
„Herold“ ſagt, die abiolute Stagnation im ruſſiſchen Eilenbahnmeien 
auf; das ftaunende große Publikum gewann den eriten Einblick in die 
von periönlihem Behagen jtrogenden Mpiterien des Verkehrsweſens, das 
im Laufe der Jahre die Bedeutung einer durch Tradition erworbenen 
Sinefure für cine feit geichweißte und ſchwer anyugreifende Koterie erlangt 
hatte. Routine und oder Aanzleiformalismus, jo führte v. Wenndrich 
aus, hielten die Eifenbahnen jo feit in ihrem Bann, daß nur die An— 
wendung außerordentlich meitgehender Mahregeln dem hungernden Bolt 
die Zufuhr von Lebensmitteln fichern Fonnte. Dieſelbe ſouveräne 
Verachtung aller Staatsintereffen bewieſen die Konzelfionäre und ihre 
Scyleppenträger, die Ingenieure, während des ruſſiſch-türkiſchen Krieges, 
wo die jaloppe Leitung der Eilenbahnangelegenheiten in den offupirten 
Rayons Rußland enorme Berlufte an Menschenleben und Geld zufügte. 
Hätten damals die Gebietiger des Eilenbahnmweiens weniger Apathie und 
mehr Thatkraft bewieien, jo würde vielleicht der Berliner Kongrek unnothig 
geweſen jein. (Balt. Chr. I, 64.) 

„ In Walk wird das bisherige Stadthaupt Woldemar 
von Dahl wiedergewählt. 

2 In Bernau wird das bisherige Stadthaupt Oskar 
Bradmann wiedergewählt. 

» IIn Libau wird das bisherige Stadthaupt Hermann 
Adolphi wiedergewählt. 

„Mittels Allerhöchiten Befehls im Rejlort des Minifteriums 
der Wolfsaufflärung vom 31. Januar iſt der Lehrer der 
Wilnafhen Realſchule Staatsrath Brjanzew zum Direktor 
der Volksichulen in Kurland ernannt worden. 

» Inder Jurjewer ( Dorpater) Stadtverordnetenverfammlung 
berichtet der Stadtjefretär über die Arbeiten einer im März 


— 76 — 


1896 niedergeſetzten Kommiſſion zur Umtaration der ſtädtiſchen 
Immobilien. Danach giebt es in der Stadt im Ganzen 
1750 jteuerbare Immobilien, deren Werth insgefammt auf 
7,133,060 Rbl. gegen 7,218,260 Rbl. bei der früheren 
Taration, aljo um 85,200 Rbl. weniger als früher geihäßt wurde. 


5. Febr. Das Zentralitatiftiiche Komité hat mit der Veröffent: 


=] 
* 


lihung der Details der Volkszählung von 1897 begonnen. 
Die vom Komite publizirten Daten ericheinen als das 
Reſultat der jorgfältig revidirten und verbeflerten Zählungs: 
fiften, während die im April 1897 herausgegebenen Daten 
auf vorläufiger Benugung der Liſten beruhten. Nach diejen 
genaueren eititellungen des Komités beträgt die Bevölkerung 
des ganzen ruſſiſchen Reichs mit Einihluß der rulfiichen 
Bevölferung Finnlands, Chiwas und Budaras und der 
Darine-Offiziere und Soldaten, die jih im Auslande be- 
finden, 126,411,000 Berjonen, davon 63,253,000 Männer 
und 63,158,000 rauen. Von der Gejammtheit fommen 
auf die Städte 16,289,000 d. h. 13°. Vergleicht man 
die Bevölferungszahl mit dem Flächenraum, jo ergeben die 
MWeichjelgouvernements die größte Dichtigfeit der Bevölferung, 
davon Betrifau mit 130,7 pro Quadratwerft, dann folgen 
die zentralen Gouvernements, an deren Spite Moskau mit 
83,2 ſteht. Yivland hat 32,, Kurland 28,3, Chitland 23,8 
Bewohner pro Quadratwerit. 

e An der Univerfität zu Charkow wird ein neuer Lehrſtuhl 
für ojtieeprovinzielles Recht eröffnet; die Abjolventen dieſes 
Faches werden beim TDienjte in den Üftfeeprovinzen den 
Vorzug genießen. 

„ Für das rigaſche Polytechniftum find vom Mtinifter der 
Volfsaufflärung auf vier Jahre (gerechnet v. 8. Oft. 1897) 
bejtätigt worden: Profeſſor Benedikt v. Wodzinjfi als Gehilfe 
des Direktors und ferner als Defane: der Architekten-Ab— 
theilung Profeſſor Johann Koch, der Angenieur-Abtheilung 
Profeſſor Heinrich Malcher, der chemiſchen Abtheilung Pro— 
feſſor Maximilian Glaſenapp, der mechaniſchen Abtheilung 
Profeſſor Karl Lovis, der landwirthſchaftlichen Abtheilung 
Profeſſor Dr. George Thoms und der Handels Abtheilung 
Profeſſor-Adjunkt Auguſt Lieventhal. 


277 — 


7. Febr. Der Miniſter der Landwirthſchaft und der Reichs— 


10, 


domänen theilt in einem Schreiben vom 23. Januar der 
Kaiſerlich livländischen gemeinnüsigen Sozietät mit, Seine 
Majeität der Kaiſer habe zu gejtatten geruht, daß Seine 
Kaiferlihe Hoheit der Großfürſt AM ladimir Nlerandrowitich 
die von der Gefellichaft im Sommer 1899 in der Stadt 
Riga zu veranftaltende IV. baltiihe landwirtbichaftliche 
Zentral: Ausstellung unter Seinen Hohen Schuß nehme. 
Zugleich wird die Sozietät benachrichtigt, daß Seine Kaiſerl. 
Hoheit jeine Zuftimmung zum Beluche der Ausitellung ertheilt 
habe. 

" Der Miniiter des Innern juspendirt Die Ausgabe der Zeitung 
„Niſhegorodſki Liſtok“ auf acht Monate. 

Pr Der livländiihe Gouverneur bejtätigt den Arzt Iſidor 
Michelſohn für das Triennium 1898--1900 im Amte eines 
rigaichen Stadt:Rabbiners. Tie Obliegenheiten eines „gelehrten 
Hebräers“, der im Iivländiichen und furländiichen Gouvernement, dem 
moſaiſchen Ritus gemäß, die verſchiedenen kirchlichen Gebräude und 
Handlungen zu vollziehen hat, die eine bejondere Kenntniß des mojaiichen 
Glaubens und des Talmuds erfordern, wird nad) wie vor der bisherige 


Rigaſche Stadt-Nabbiner, der „gelehrte Hebräer” Herr Salomon Pucher 
veriehen. 


— Der Miniſter des Innern verbietet der Zeitung „Ruſſki Trud“ den 
Berfauf einzelner Nummern und juspendirt die Zeitung „Arymifi Weſtnik“ 
auf acht Monate. 

= Der Kurator des Mosfauichen Lehrbezirks Geheimrath 
Bogoljepow iſt zum Verweſer des Miinijteriums der Wolfe: 
aufflärung ernannt worden. Bogoljepomw iſt Juriit und war, 
ehe er Kurator wurde, Profeſſor und Nektor an der Moskauer 
Univerfität. Die ruſſiſche Preſſe giebt ihrer Befriedigung 
über die Ernennung Ausdrud, Die „Most. Med." heben hervor, 
daß mit Bogoljepom zum eriten Mal aus der Zahl der ruffiichen Gelehrten 
der Minijter der Volfsaufflärung erwählt wird, und hofft, daf er in den 
Bahnen des Grafen Teljanow wandeln werde. Die „Birihew. Wed.” 
ichen die Hauptaufgabe des neuen Miniſters in der ‚Förderung der 
Elementarbildung. Nur die Aufklärung des Volkes könne Rußland von 
der Ichweren Kriſis befreien, weldye es durchmache. 

rt Eine den Kameralhöfen zugegangene Anordnung des 
Sinanzminifteriums fordert die gänzliche Einftellung der Aus- 
gabe von Ein: und Dreirubelicheinen und außerdem eine 


> 


— 


13. 


— 


möglichſte Zurückhaltung in der Ausgabe von Fünf- und 
Zehnrubelſcheinen. 


Febr. Das Zirknlär des Kurators des Rigaſchen Lehrbezirks 


vom 1. Dez. 1897 veröffentlicht einen Allerhöchſten Befehl, 
dem zufolge Seine Majejtät der Kaiſer gerubt hat, eine in 
Vollmadt der Libauichen Stadtverordnetenverfammlung vom 
Stadthaupt Adolphi eingereichte Bittichrift, die eine Beichwerde 
über eine Verfügung des Minijteriums der Bolfsaufflärung 
in ſich Schloß, ohne Folge zu laſſen. Jene Verfügung des 
Miniteriums der Wolfsaufflärung betraf die Ablehnung 
eines Geluches der Libauſchen Stadtfommune, die örtliche 
ſtädtiſche Mädchenſchule 2. Ordn. in ein Mädchengymnafium 
umzuwandeln und dabei der Stadtverordnetenverfammlung 
das Hecht der Wahl der Direftrice und dem Vermwaltungsrath 
das Recht der Wahl des Perjonalbeitandes des Gymnafiums 
zu gewähren. 

— Das ehſtniſche Blatt „Sakkala“ und der „Riſhſki W.“ 
äußern ſich ſehr befriedigt über das Reſultat der im Februar 
vollzogenen Stadtverordnetenwahlen zu Fellin. Nach dem 
„Riſhſti W.“ gehören von den gewählten 23 Stadtver— 
ordneten 15 zu der Zahl der Anhänger der neuen Ordnung 
der Dinge im Gebiet und nur 8 zu den „vor-reorganiſa— 
toriſchen“ Elementen. 

„ Zum Bau von griechiſch-orthodoxen Kirchen in der 
Rigaſchen Eparchie jollen, wie Petersburger Blätter zu melden 
willen, bis zum Jahre 1906 aus der Sronsrentei jährlich 
50,000 Rbl. ausgezahlt werden. 

Br In Petersburg tagt der ſlawiſche Wohlthätigkeitsverein. 
Der Vorſitzende Graf Ignatjew verlieft den Rechenſchafts— 
bericht, dem zufolge die Mitgliederzahl 587 (gegen 2000 in 
den fiebziger Jahren) beträgt. Graf Ignatjew madt ber 
ruffiichen Sntelligenz den Vorwurf, daß ihr Intereſſe an der 
ruſſiſch-ſlawiſchen dee ſtark erfaltet fei. Das Ehrenmitglied 
der Gejellihaft A. S. Budilowitih, Rektor der Nurjewer 
Univerfität, hält einen Vortrag über den Untergang des 
baltiihen Slawenthums, das einit bis zur Elbe gereicht 
habe, wofür die Legende von der im Meer verfunfenen 
ſlawiſchen Stadt Vineta vollgiltiges Zeugniß ablege. 


—70 — 


16. Febr. In Wenden wird das bisherige Stadthaupt G. Trampedach 


19. 


" 


20. 


21. 


wiedergewählt. 
„ In Jurjew (Dorpat) findet die Wahl der Stadtver: 
ordnneten jtatt. Der frühere Stadtverordnete und Nedafteur 
des „Olewik“ A. Grenzitein hatte in feinem Blatt heftig 
gegen die Wahl von deutichen Vertretern agitirt. „Sort 
mit dem deutichen Schulmeijter!” war die von ihm für die 
Ehjten ausgegebene Lofung. Bon 60 Stadtverordnetenfigen 
beanjprudht der „Olewik“ 53 für die ehftniiche Bevölkerung, 
6 werden den Nullen, ein einziger den Deutichen zugeftanden. 
Troß dieſer Agitation wurden die Kandidaten des allgemeinen 
Wahlfomites mit großer Majorität gewählt. 
Mr Der „Weſtnik Finanzow“ veröffentlicht die Verfügung 
des vereinigten Dinifterfomites über die Baufonzeifion einer 
Sefundärbahn von der Station Swenziany der Petersburg: 
Warſchauer Bahn nah der Station Boneweih der Libau- 
Romnyer Bahn mit einer Zweiglinie nad) Wilfomir. Aus 
der Verfügung geht hervor, daß der eriten Gejellichaft zum 
Bau von Sefundärbahnen in Rußland, eine Konzeſſion zum 
Meiterbau diefer Linie nach Kowno, Wilna und Riga nicht 
ertheilt werden wird. 
w Die „Now. Wr.” weiſt auf das Beilpiel des Rigaſchen Polytechnifums 
bin, das feit längerer Zeit durd freiwillige Beiträge und geringe Gagen— 
abzüge ein beträchtlidyes Hilfskapital angeſammelt habe, welches zur Aus: 
zahlung von Penfionen für die Angejtellten des Anftituts und für deren 
Wittwen und Wailen und zur PVejtreitung für einige Stipendien verwandt 
würde. Die „Now. Wr.” empfichlt dies Beiſpiel zur Nachahmung für 
die ſonſtigen Lehranitalten, da an ihnen für die Wittwen und Waijen 
der Lehrer feine Fürſorge getroffen ſei. 
r In MWerro wird das bisherige Stadthaupt Alerander 
von Moeller wiedergewählt. 
— Der Miniſter des Innern gejtattet der Zeitung „Glaſſnoſtj“ wieder 
den Einzelverkauf. 
— Die lettiſche Zeitung „Deenas Lapa“, die am 23. Juni 1897 auf 
acht Monate ſuspendirt worden war, erſcheint ſeit dieſem Tage wieder. 
„ Im Ingenieur-Konſeil des Kommunikations Miniſteriums 
gelangt das Projekt der Erweiterung des Windauer Hafens 
zur Prüfung. Nach den „Peterb. Wed.“ ging der Befund 
des Konſeils dahin, daß die fortlaufenden Hafenbauten mit 
VI 


— 80 — 


der Berechnung auszuführen ſeien, daß die Möglichkeit nicht 
ausgeſchloſſen bliebe, den Hafen hinkünftig auf 26 Fuß zu 
vertiefen, welche Tiefe auch alle Anlegeitellen zu erreichen 
haben würden. Zugleich wurde beichlojien, den Hafen aud) 
mit einem eigenen Eisbrecher zu verjehen. 


26. Febr. Ueber die Thätigfeit der kurländiſchen Landſchulen im 


Jahre 1895/96 veröffentlicht die kurländiſche Oberlandſchul— 
fommilfion einen Bericht, nad) dem in Kurland 1895/96 
347 Schulen (eine mehr als im Vorjahr) vorhanden waren. 
Die Zahl aller Schüler und Schülerinnen betrug 21,080, 
von welchen im erjten inter 8067, im zweiten 7083 und 
im dritten nur 5930 die Schule bejuchten. Gegen das 
Sahr 1894 hat fih die Zahl derjenigen Schüler, die, wie 
vorgeichrieben it, drei Winter die Schule befuchten um 367 
verringert. Vergleicht man die Zahl der Schüler, welche im 
Jahre 1894 im zweiten Winter die Schule befuchten mit 
der, welche im Jahre 1895 im dritten in der Schule ſich 
befanden, jo ergiebt fich, daß 1338 Schüler den obligatorischen 
dreiminterlichen Schulbejuch nicht abfolvirt haben. Im dritten 
Winter wird befanntlich der Unteriht in ruffiiher Sprade 
ertbeilt. 

„ Kin Prozeß anläßlich des Jubiläums der afademilchen 
Verbindung „Livonia” findet vor dem Friedensrichterplenum 
in Wenden feinen Abjchluß. Der Ehrenfriedensridhter Edgar 
v. Nüder war in Jurjew (Dorpat) wegen Tragens eines 
Sarbendedels zu 40 Rbl. Strafe, wegen Beleidigung eines 
Sorodomois zu fünf Tagen Arrejt verurtheilt worden und 
hatte gegen diejes Urtheil Beihwerde erhoben. — Der Senat 
hatte die Sache dem Menden: Walfichen Plenum übermwiefen. 
In feiner Vertheidigungsrede führte der Angeflagte u. N. 
aus, daß der Senat ſchon am 24. Januar erläutert hätte, 
daß dans Verbot des Farbentragens fih nur auf Studirende 
beziehe. Er hätte gern eine Kopie einer der Genatsurtheile 
vorgejtellt, aber der Präſes des biefigen Plenums babe dem 
Bellagten, reip. dem Advofaten die Herausgabe der Kopien 
vom Genatsurtheil mit der Miotivirung verweigert, daB der 
Ufas des Senats an das Plenum, nicht aber an die An- 
geflagten ergangen ſei. — Der Brofureursgehilfe Danilemjfi 


— — 


gab ſein Gutachten dahin ab, daß die Anklage wegen Ver— 
letzung des Art. 29 nicht aufrechterhalten werden könne, da 
das Verbot des Farbentragens ſich nur auf immatrikulirte 
Studenten beziehe und Verfügungen des Minijters der Volks— 
aufflärung nur für die zu diefem Reſſort gehörigen Perionen 
verbindlich feien. Die Anklage wegen Beleidigung eines 
Gorodowois (Art. 31) dagegen hielt der Profureursgehilfe 
aufrecht, beantragte aber die Arreftitrafe, die im gegebenen 
Falle dem Thatbeitande nicht entipreche, in eine Geldjtrafe 
zu verwandeln. Tas Plenum entichied dem entipredhend und 
verurtheilte den Fıiedensrichter Edgar v. Nüder wegen Ver: 
letzung des Art. 31 zu zehn Rbl. Strafe. 


27. Febr. Ein anderer Prozeß in ähnlichem Anlaß wie der vorige 


gelangt im Friedensrichter- Plenum in Jurjew (Dorpat) zum 
Abſchluß. Angeklagt war der Arzt Friedrich Maurach wegen 
Tragens eines Farbendedels während des Jubiläums der 
„LZivonia”. Der Friedensrichter hatte den Angeflagten auf 
Grund des Art. 29 zu 15 Rbl. reſp. drei Tagen Arreſt 
verurtheilt. — Nach einem ausführlichen Aftenreferat des 
Vorſitzenden gab der Vertreter der Prokuratur feine Meinung 
dahin ab, daß im vorliegenden Falle eine Uebertretung des 
Art. 29 nicht vorliege und da das Verfahren auf Grund 
des Art. 1 des Strafprozeffes und des Art. 1 des Straf: 
gejegbuches zu kaſſiren ſei. Das Plenum ſchloß ſich dieſer 
Anſicht an und ſchlug die Sache mit allen Folgen nieder. 
„Auf der Generalverſammlung des „Mitauer landwirth— 
ſchaftlichen Vereins“ wird befannt gegeben, daß die Geſellſchaft 
ihren Mitgliedern, die keine Landarbeiter haben auftreiben 
können, 200 Arbeiter aus den Gouvernements Kowno und 
Wilna gedungen habe. Auch Nichtmitgliedern können Arbeiter, 
an denen in Kurland großer Mangel herrſcht, beſchafft werden. 


1. März. In den letzten Tagen des Februar haben ſich außer 


dem livländiſchen Gouverneur noch in Dienjtangelegenheiten 
nach “Petersburg begeben: der Profureur des Rigaſchen 
Bezirfsgerichts, der Chef der Livländiichen Gendarmerie: 
Verwaltung, der Dirigirende der baltischen Domänen 
Verwaltung und der ältere livländiiche Fabrikinſpektor. — 


VI 


Dies wird mit der Merhaftung mehrerer Fabrifarbeiter 
wegen fozialiftiicher Umtriebe in Niga in Zulammenhang 
gebradt. 


1. März. WVerabichiedet wird auf eigenes Erſuchen Odinzow, 


Dirigirender des furländischen Kameralhofes, wegen Krankheit. 
„ Der „Regierungs-Anzeiger” theilt mit, daß die Gründung 
eines Rigaſchen Vereins zur gegenjeitigen Verfiderung von 
Sabrifanten und Gemwerbetreibenden gegen Unfälle ihrer 
Arbeiter und Angeftellten am 30. Januar c. Allerhödjit 
genehmigt worden iſt, wobei es dem Dlinifter des Innern 
überlafjen fei, im Einverftändniß mit dem Finanzminijter, 
aud in Zukunft ähnliche Statuten nad) dem Mujter des 
Rigaſchen Vereins zu bejtätigen. 

»  Tagesbefehl Sr. Kailerl. Hoheit des General-Admirals 
an das Marine-Reſſort, demzufolge Seine Majeftät der Kailer 
durch Allerhöchjten namentlichen Erlaß an den Finanzminijter 
vom 24. Febr. d. J. zu befehlen geruht hat: Abgejehen von 
der Erhöhung des Anmweilungsbetrages der gemöhnlidhen 
Ausgaben des Miarine-Minijteriums im Laufe der Jahre 
1898— 1904 gegenwärtig aus dem freien Baarfonds der 
Staatsrentei 90 Millionen Rbl. für die Erfordernifie des 
Schiffsbaues zu verabfolgen. 

„ Die „Beterb. Gaſ.“ meldet, daß eine neue ehjtnifche 
orthodore Bruderschaft auf den Namen des Märtyrers 
dor von Jurjew demnächſt ihre Thätigkeit eröffnen wird. 
Die neue Gejellihaft will die religiöfe Pflege der in der 
Reſidenz lebenden orthodoren Ehſten ausüben. Die Mittel 
der Gelellichaft werden fich aus den Vlitgliedsbeiträgen, Die 
auf 1 bl. jährlich oder 25 Rbl. einmalig feitgelegt find 
und freiwilligen Spenden zuſammenſetzen. Auch jollen an 
den Kirchen Sammelbüchſen ausgeftellt werden. In eriter 
Neihe will die Gejellichaft fi bemühen, die Mittel zum 
Bau einer ebitnischen orthodoren Kirche aufzubringen. Am 
1. März hatten fich die „Bratichifi” zum erjten Mal ver: 
jammelt. 


2. März. Zur Einführung der rujfiihen Sprache in Finland bringt die letzte 


Sammlung der Senatsbeftimmungen des Großfürſtenthums „Finland 
folgende Verfügung: „Die Polizeimeifter, Polizeiaufeher und Polizei: 


ei 


jefretäre müſſen ruſſiſch veritehen. Bei der Ernennung der Polizei— 
fommiffare, der Oberfonitabler und Konitabler wird den Perjonen der 
Vorzug gegeben, die ruljiich veritehen. Die Oberfonjtabler und Konjtabler 
werden außerdem in der Weile ernannt, daß die Polizei ſtets über die 
nothivendige Anzahl von rufjiich veritehenden Konftablern verfügen kann. 
Die Sammlung der Bolizeivorichriften wird in ſchwediſcher, finniſcher 
und ruſſiſcher Sprache gedrudt und zu geringen Preiſen an das Publikum 
verfauft.“ 


2. März. Das neue Statut der ehitländiichen adeligen Kredit: 


Kalle ift am 16. Februar d. J. Allerhöchſt bejtätigt worden. 


3. März. Der offizielle „Ueberblid über die Thätigkeit des 


Minifteriums der Landwirthſchaft und der Reichsdomänen 
im Jahre 1897“ führt u. A. an, dab zur Förderung der 
ruffiihen Fiichzuht und zur Negulirung des Fiſchfanges 
im vorigen Jahre Schritte gethan worden find. In Jurjew 
(Dorpat) und an der Mündung der Luga ſind Fiſchzucht— 
anftalten eröffnet worden und demnächſt ſollen auch an ver: 
Ihiedenen anderen Stellen des Reichs ſolche eingerichtet 
werden. 

» Die Nevaler Blätter melden, dab der Protohierei ©. 
%. Bopow diejer Tage unter allgemeiner Theilnahme der 
Autoritäten und der orthodoren Sejellichaftsfreiie jein fünfzig: 
jähriges Amtsjubiläum gefeiert bat. In diefem Anla wurde 
dem Jubilar durch den ebitläudilchen Gouverneur eine Adreſſe 
feiner Verehrer überreicht, die folgenden Paſſus enthält: 
Als es nun Gott dem Herrn genehm war, feine Diener 
zur Berpflanzung der Nechtgläubigen Kirche in das baltifche 
Gebiet zu entjenden und der hochwürdigſte Platon ewigen 
Andenfens, nahmals der große Hierard) der Kirche Rußlands, 
Sie vor 48 Jahre zum Dienſte der Beil. Kirche unter der 
ehitnischen Bevölkerung berief, da verwandten Sie all Ihren 
flammenden Glaubeu und Ihr ganzes heißes Streben auf 
den Dienft an den neuerworbenen Sliedern der vechtgläubigen 
Kirche und wurden ein treuer Mitarbeiter und Gehilfe nicht 
nur für den Erzhirten, der Sie berief, jondern auch für die 
jehs würdigen Nachfolger feines apoftoliichen Amtes.“ 

„ Die „Beterb. Wed.” jchreiben: Die deutichen Kofoniften 
evangelifch-lutherifcher Konfeſſion petitioniven um die Konzeſſion 
zur Erridtung von Xehrerjeminaren, aus denen tüchtig vor: 


— 84 — 


bereitete und geſchulte Lehrer hervorgehen könnten, die an 
die Stelle der heutigen ihrem Beruf nicht gewachſenen Schul— 
meiſter treten ſollten. 


5. März. Die „Erſte Zufuhrbahnen-Geſellſchaft“ übernimmt den 


" 


” 


6. 


Bau und die Grploitation der Bahn Fellin-Heval. Die 
Hegierung hat fich zu einer Subfidie verjtanden, die örtlichen 
Hutsbejiger haben Aktien und Obligationen im Betrage 
von 900,000 Rbl. erworben. Die Hauptlinie und Zweig: 
linie zujammen haben eine Länge von 158 Werft. Die 
Cijenbahnlinie acht durd drei Kreiſe, den Fellinſchen, 
Weißenſteinſchen und Nevalichen, und berührt 13 jehr dicht 
bevölferte Kirchſpiele. 


» Der Minifter der Landwirthichaft und der Reichsdomänen 
bejtätigt nadı Uebereinfunft mit dem Miniſter des Innern, 
die Statuten der neugegründeten landwirthichaftlichen Vereine 
zu Soldingen und Rappel. 

„Der „Rijſhſki Weſtnik“ läßt fih aus Jurjew (Dorpat) 
berichten, daß der Rektor Budilowitih am 27. Febr. e. zum 
Beſten bedürftiger Studenten in der Aula einen Vortrag 
„Weber die Bedeutung der Schlacht bei Tannenberg (1410) 
für die ſlaviſche Gejchichte” gehalten hat. Der Neferent des 
„Riſhſti W.“ jagt über den Anhalt diejes Vortrages u. A.: 
„Die Bedeutung derjelben (d. h. der gen. Schlacht) iſt 
wirflid) enorm. Sie hat gezeigt, daß das Zentrum der 
Schwere und der Straft in den Ddemofratiidhen nationalen 
Elementen liegt. Sie bewies den Slaven die Möglichkeit 
des Kampfes und Sieges über den, wie es jchien, allmächligen 
Orden. Sie zerftörte im Keim und in der Wurzel Die 
Möglichkeit eines lateinischen Reiches an der baltischen Küſte.“ 
— Die „Slaven,“ die bei Tannenberg fiegten, waren befanntlid Polen 
und Yiltauer unter Jagello, einem Fatholiichen König, und die Polen 
und Yittauer wurden und blieben die Verfechter des römiich-fatholiichen 
(lateinifchen) Prinzips. 

= Die landwirtbichaftlihen Vereine Nuplands haben ein 
Normaljtatut erhalten, das ihnen gewiſſe Vergünftigungen 
gewährt. So wird ihnen u. A. unter Verantwortlichkeit 
des Vereinspräfidenten der zenſurloſe Drud von Rechenſchafts— 


— 85 — 


berichten, Programmen, landwirthſchaftlichen periodiſchen 
Blättern u. ſ. w. freigegeben. 


6. März. Der ſtellvertr. Architekt und Dozent der Elemente der 


Baukunſt an der Univerjität Jurjew, Reinhold Guleke, iſt 
ſeiner Bitte gemäß, entlaſſen worden. 

— Der „Reg.Anz.“ veröffentlicht den am 28. Nov. 1897 
Allerhöchſt bejtätigten MiniſterkomitéBeſchluß, dem zufolge 
der Stadt Niga gejtattet wird, eine Obligationen-Anleihe 
von 500,000 Rbl. zur Erweiterung und Verbeſſerung des 
ſtädtiſchen Wajferwerfs abzujchließen. 

a Bei der Kurländiichen Oekonomiſchen GSejellihaft wird 
eine bejondere Sektion für Pferdezucht begründet. Es melden 
fih 51 Perſonen zu Vlitgliedern. 


6. März. Die Bevorzugung, die im letzter Zeit der Induſtrie in mancherlei 


Dinfiht zu Theil wird, veranlaßt die „Nomwoje Wremja“ im einem 
Artikel über „Schule und Fabrik” die Frage zu unterfuchen, welche von 
diejen beiden Anjtalten die Kulturentwidelung eines Volkes mehr fürdert. 
Das Blatt fommt zu dem Schluß, dab das heutige Fabrikweſen Rußlands 
auf das Schulweſen und die Kultur der Bevölferung nacdhtheilig ein: 
wirfe, da die Arbeiter ihre Hinder der Schule entziehen und jie Des 
Verdienjtes halber möglichit früh im die Fabrik ſchicken. Die Fabrik: 
bejiter huldigten aber dem Grundjag: einerlei, wie e8 mit dem Menfchens 
material bejtellt ijt, wenn nur das Gejchäft blüht. Daher jehe man, 
daß in den Gegenden, wo die Großindujtrie erblüht jei, es mit der 
Voltsbildung ſchlecht bejtellt jei. Die „Now. Wr.“ ſchließt ihre Bes 
trachtungen mit den Worten: „So iſt denn in unjeren Tagen die Fabrik 
eine Feindin der Schule. Mit ihrem eiiernen Finger entzieht fie eine 
große Anzahl Kinder dem erzicehenden Cinflufje derjelben und degradirt 
eine Menge Menihen zu medaniichen Werkzeugen, die ihr zu dienen 
haben. Solche aber, die aufmachen in der Finiternig, deren Geiſt und 
Herz in feinerlei Weiſe ausgebildet werden, find auch moraliſch untüchtig 
und werden nicht jelten Glieder der Gejellichaft, die ſchädlich und zu 
fürdten find.“ 

u Die „Balt. Wochenjchrift” veferirt über einen Bericht, 
den der Präfident der Livl. ökonomiſchen Sozietät auf der 
Eikung am 12. Januar zur Frage der Zölle auf land: 
wirthichaftlihe Maſchinen und fünjtlihe Düngemittel ab: 
geftattet hatte. Ueber dieſe Frage jei auf Anjuchen der 
Landwirthe in verichiedenen, bei den Minifterien beftehenden 
Kommiljionen berathen worden, aber man gewinne aus den 
Verhandlungen den Eindrud, daß die Intereſſen der Induſtrie, 


— 6 — 


denen das Finanzminifterium Gewicht verleihe, viel einfluß— 
reiher als die Intereſſen der Landwirtbichaft, die vom 
Aderbauminifterium vertreten werden, feien. Unter folchen 
Verhältnifien habe die Landwirthichaft Feine Ausficht dort 
Gehör zu finden, wo ihre Intereſſen zu denen der Induſtrie 
in Gegenſatz treten. 


7. März. Der „Siew. Weftn.“ knüpft an die Ernennung des ehemaligen 


— 


Profeſſors R. P. Bogolepow, eines gelehrten Juriſten und Spezialiſten 
auf dem Gebiete des römiſchen Rechts, zum Verweſer des Miniſteriums 
der Volksaufklärung an und plaidirt für eine Reform des juriſtiſchen 
Studiums. Die Zeitichrift tritt namentlich für eine Derabießung ber 
dem römischen Hecht gewidmeten Stundenzahl ein und beruft fich dabei 
auf „ketzeriſche“ Stimmen in Deutichland, die für die dortigen Verhältnifie 
dafjelbe verlangen. Tie „St. Bet. Ztg.” meint, hier gelte das Wort: 
Si duo faeiunt idem, non est dem. Daß in Rußland das Studium 
des römischen Rechts trog der großen Stundenzahl feine hohe Stufe 
erreicht habe, beweiſe die Thatjache, daß es in den achtziger Jahren noth— 
wendig wurde, an einer deutichen Univerfität — in Berlin — für an» 
gehende ruſſiſche Profefforen ein romaniftiiches Inſtitut zu gründen. 

» Die Sommerferien der Yehrerinititute werden, nad den „Pet. Wed.“, 
auf Verfügung des Minifters der VollSaufflärung von nun an nid 
mehr wie bisher ſechs Wochen dauern, jondern zwei Monate. 


7. März. In Jurjew (Dorpat) finden die Wahlen der Stadt: 


verordneten Suppleanten ftatt, bei denen die Partei Des 
radifalen jungehſtniſchen Blattes „Olewik“ volljtändig unter- 
liegt. 

e Der „Weſtnik Jewropy“ jpricht der Niſhninowgoroder Adelsver: 
jammlung jeine Anerfennung dafür aus, dal fie offen und mutbig für 
eine Neform der mittleren Zehranjtalten eingetreten jei. Die Zeitichrift 
ift zwar mit manchem in dem Programm des Nilhninowgoroder Adels 
nicht einverjtanden, jo 3. B. nicht mit dem völligen Ausſchluß der 
griechiihen Spradje, fie erblidt jedod den Vorzug des Programms darin, 
dab die Frage von der Unzulänglichfeit des bejtehenden Syſtems der 
Mittelichulbildung in gerader, offener und weitgehender Weile aufgeworfen 
wurde. Der Adel behandle dieſe Frage nicht zum eriten Mal und habe 
dafür bereits früher ein wahres Gewitter von der reaftionären Preſſe 
über ſich ergehen lafien müſſen. Und jet werde man wahriceinlich 
neue Wariationen über das Thema: „Schufter bleib bei deinen Leiſten“ 
hören, die jedesmal ertönen, jobald der Adel es wagt, nicht nad dem 
Ukas zu verfahren, den Katfoı verfündet hat. 

— Der Miniſter des Innern verfügt, das Erſcheinen der Zeitungen 
„Odeſſki Liſtol“ und „Odeſſkija Nowoſti“ auf einen Monat und der 
Zeitung „Donſkaja Retſch“ auf zwei Monate zu verbieten. 


— 87 — 


7. März. Außerordentliche Stadtverordneten-Verſammlung in 
Sellin: Die Sitzung iſt von 23 Stadtverordneten und dem 
Vertreter des griechiichsorthodoren geiftlihen Nejjorts bejucht. 
Die Gage des Stadthauptes wird von 500 Rbl. auf 400 
Rbl., die des Stadtjefretärs von 1200 Rbl. auf 1000 Rbl. 
herabgejegt. Bei der Wahl des Stadthauptes erhält der 
fonfervative Kandidat Baron Otto Engelhardt 12 Stimmen 
und fein Gegenfandidat Herr A. A. Nofenberg gleichfalls 
12 Stimmen, jo daß das Loos zwilchen ihnen enticheiden 
muß. Bei der Beltimmung der Dienjtzeit des Stadtjefretärs 
werden 12 (fonjervative) Stimmen für vierjährige und 12 
(radifale) Stimmen für einjährige (!) Amtsdauer abgegeben. 
Der Vertreter des griechiich:orthodoren geiſtlichen Reſſorts 
ftimmt mit den Radikalen. Der Vorſitzende giebt den 
Ausschlag und enticheidet für vierjährige Amtsdauer. Der 
bisherige Stadtjefretär A. Kühn reicht jeinen Abjchied ein. 

BB: In der lutheriichen Kirche in Oberpahlen wird der 
Baltor beim Deraustreten aus der Safrijtei von vier Weibern 
— die bereits wegen Unfugs in der Kirche vorbeitraft find — 
angefallen, wobei ihm der Talar zerriiien wird. Der Gottes: 
dienjt wird fortgejeßt. Vor der Polizei erflärt eins der 
Weiber mit dürren Worten, der Unfug ſei aus Rache verübt 
worden. Sie wille, welche Strafe ihrer harre, denn fie 
habe ſich erjt aus dem Gejegbuch darüber unterrichten lafjen, 
doch das jchrede fie nicht, fie werde mit dem „Kronsbrode” 
ganz zufrieden fein. 

9%. „ [Stadtverordnetenverjammlung in Riga.) Der 
Kurator beantragt durch den Gouverneur die Abänderung 
des Statuts. und Lehrplans der Stadttöchterichule.. Nach 
Verlefung des jehr umfangreichen Gutachtens des Stadtamts 
bemerkt das Stadthaupt, daß die StadtverordnetenverJammlung 
bereits wiederholt auf diesbezügliche Anträge des Kurators 
des Rigaſchen Lehrbezirks in Berathung der Frage getreten 
it, ob nidt eine Anwendung des allgemeinen Statuts 
der Mädchengymnafien auf die Nigajche Stadttöchterichule 
wünſchenswerth jei. Jedes Mal habe die Stadtverordneten- 
verjammlung es abgelehnt, von dem bisherigen Statut, 
weldes die Allerhöchſte Sanktion jeinerzeit erhalten babe, 


— 88 — 


und welches gewiſſe Vorzüge vor dem allgemeinen Statut 
aufweiſe, abzugehen. Obgleich der Kurator nur von einer 
Abänderung des bisherigen Statuts in redaftioneller Hinſicht 
ipreche und das projektirte neue Statut als an das alte 
ſich anlehnend bezeichne, jo fküme dod die Annahme des 
Antrags des Kurators gleich einer Aufgabe des bisherigen 
Statuts, da das neue Projeft jehr weſentliche Abweihungen 
enthalte. Die Verſammlung beichließt, das vom Kurator 
durch den Gouverneur vorgelegte Projeft der Abänderung 
des Statuts und Lehrplans der Stadttöchterichule abzulehnen 
und das Gutachten des Stadtamts dem Gouverneur vorzu: 
jtellen. 


9. März. Cine Rigaſche Korreipondenz der „Now, Mr.“ klagt 


11. 


über die geringen Erfolge der ruſſiſchen Sache: „Die rujfiihen 
gejellichaftlihen Elemente, die einjt trog ihrer geringen Zahl 
viel für den Triumph der neuen Prinzipien im Gebiete 
gethan haben, in den legten Jahren der Verwaltung des 
verjtorbenen Generals Sinowjew aber in ſich uneins und 
geſchwächt wurden, haben ſich jeitdem nicht vereinigt, find 
nicht erjtarft und lafjen feine Männer der Aktion hervortreten. 
Die Organe der Negierung verlieren aber viel, wenn fie 
die Unterftügung der genannten Elemente, dieſer erfahrenen 
gejellihhaftlihen Xotien, denen das Fahrwaſſer der baltischen 
Bolitif, alle ihre Klippen und Ausgänge, wohl bekannt find, 
nicht befigen. Die ruffiihe Sache macht feine neuen fittlichen 
und fulturellen Eroberungen im Gebiet, ja fie büßt jogar 
von dem bereits Errungenen mandes ein. Die Gegner der 
Neformen jchlummern nicht, gönnen ſich feine Ruhe. Die 
Balten willen jeden Tag auszunugen. Als Beweis fann 
die Thatjache dienen, daß die Stadtverordnnetenwahlen in 
den baltiichen Städten überall mit dem Triumph der Partei 
geendigt haben, die auch vor der Neform in der ſtädtiſchen 
Verwaltung die Herrichaft hatte. Wieviel Jahre angejtrengter 
Bemühungen — und feine greifbaren Nefultate!” 

„ Ein Neidsrathsgutachten verfügt die Umwandlung der 


in Walt bejtehenden Einnahme: und Ausgabekaſſe in eine 
Kreisrentei. 


—80 


11. März. Stadtverordneten-Verſammlung in Reval: Der Gou— 
verneur theilt in einem Schreiben mit, daß er auf Grund 
der Senatsentjcheidung vom 12. Dez. 1895 es nidt für 
möglih hält, den am 14. Jan. d. J. zum Stadtrat) ge: 
wählten Herrn Roman von Antropoff in diefem Amt zu 
bejtätigen. 

— Der „Prib. Liſt.“ meldet: Im Pernauſchen Kreiſe fand 
unlängſt eine Reviſion ſämmtlicher Gemeindeſchulen durch 
den Volksſchulinſpektor ſtatt. Im Allgemeinen waren Die 
Schulen in befriedigendem Zuſtande, nur der Unterricht in 
der rujliichen Sprade war, nad) Vieinung des Inſpektors, 
nicht vollfommen genügend. 

”„ nv». Zum Dirigirenden des Kurländiichen Kameralhofs wird 
Hofrath Baron Wlerander von Tiejenhaujen, bisher Ab— 
theilungschef dieſes Kameralhofs, ernannt. 

4.—7. und 10.—12. März. Sitzungen des ehſtländiſchen 
ritterijhaftliden Ausſchuſſes.) Der ritterichaftliche 
Ausihuß nimmt zur Kenntniß ein Schreiben des ehit: 
ländiſchen Gouverneurs vom 28. Febr. a. ec. sub Nr. 73, 
in dem mitgetheilt wird, daß der Miniſter des Innern den 
Souverneur davon benachrichtigt Habe, dag im Hinblid auf 
den engen Zuſammenhang der Stirchipielsordnung mit der 
allgemeinen Frage der Neform der Landſchaftsverfaſſung 
in den baltischen Gouvernements eine gejonderte Prüfung 
des Projekts der Kirchipielsordnung nicht zweckmäßig erjcheine, 
jowie daß dieſes Projekt deshalb zur Zeit feinen weiteren 
Fortgang haben, jondern bei der Prüfung der allgemeinen 
Frage der Landichaftsreform in den Gouvernements Ehjtland 
und Livland werde in Erwägung gezogen werden. (Balt. 
Chr. 1, 93— 96.) — 2) ein Edhreiben des ehitländischen 
Souverneurs v. 7. Febr. a. c. sub Wr. 46 und der diejem 
Schreiben beigefügte Ukas des Dirigivenden Senats vom 
20. San. a. c. sub Nr. 377 betreffend den Unterhalt der 
Harriichen Kreis Wehrpflichtsfommilfion. Der Gouverneur 
hatte zum Unterhalt bejagter Kommillion aus der Ritter: 
ſchaftskaſſe außer der bisher gezahlten Summe eine weitere 
von 549 Rol. verlangt, die der ritterichaftlihe Ausschuß 
mit der Begründung, daß aud die Stadt Neval zu dieſem 


— 90 — 


Zweck beiſteuern müßte, verweigert hatte. Der Senat hat 
dahin entſchieden, daß bis zur Emanirung eines Geſetzes, 
nach dem auch die Stadt Reval herangezogen werden könne, 
die ehſtländ. Ritter- und Landſchaft 255 Rbl. jährlich zu 
leiſten habe, während der Reſt von der Krone gezahlt werden 
folle. — Der ritterichaftl. Ausichluß bejchließt die Arbeiten 
der Kommiſſion zur Wusarbeitung eines Entwurfs einer 
Wege: und Brüdenbau-Ordnung dem nächſten ordentlichen 
Landtage vorzulegen. — Der ritterihaftlihe Ausſchuß über: 
nimmt auf Antrag der Kaiſerl. Livl. Defon. Sozietät eine 
Sarantiefumme von 3000 Rbl. für die IV. baltifche land- 
wirthichaftlihe Zentral-Ausftellung in Riga, erjudht den 
Nitterfchaftshauptmann, die ehitländijche Ritter: und Landſchaft 
im Ausjtellungsrath zu vertreten, und jtiftet für Die Rindvieh— 
Abtheilung der Ausftellung einen Ehrenpreis von 500 Rbl. 
(Balt. Chr. I, 79 u. IL, 39.) — Der Ausschuß befchließt 
das noch brauchbare Diaterial der Gebäude des ehemaligen 
Lehrerfeminars in der Nuckoe zu verfaufen. — Abgelehnt 
wird ein Geſuch des griehiich:orthodoren Priefters zu Kuimetz, 
außer dem von der Ritterſchaft dem griechiich-orthodoreu 
Konfiftorium abgetretenen Grundſtück von fünf Defjätinen 
noch eine Landparzelle zur Anlage eines bei der griechiſch— 
orthodoren Schule in Kuimeg einzurichtenden Muftergartens 
für Obſt- und Gemüſebau und Bienenzucht diefer Schule 
zu überlaffen. 


12. März. Die „Kurl. Gouv.Ztg.“ berichtet: Der Neichrath Hat 


verfügt, zur Unterjtügung der ruſſiſchen Vereine im baltiichen 
Gebiet 28,500 Rbl. aus der Neichsrentei abzulaffen, mit 
der Beſtimmung, daß dieſe Unterjtüßung auf drei Jahre 
vertheilt werde, wobei den Rigaſchen, Revalichen und Mitaufchen 
Vereinen jährlich 3000 Rbl. und dem Jurjewichen Lehrer— 
verein „Rodnik“ jährlid 500 Rbl. auszufehren find. ©. Mai. 
der Kailer hat dieſe Verfügung am 16. Februar 1898 zu 
bejtätigen gerubt. 


R Im Rigaſchen Gewerbeverein hält Direftor emer, ©. 
Schweder einen Vortrag über die „Nothwendigfeit,” die 
Petersburger Lokalzeit in den Djtjeeprovinzen einzuführen. 


13. März. Der frühere Rigaſche Polizeimeiiter Oberft Wlaſſowſki, der Ipäter 


13. 


14. 


Oberpolizeimeijter in Moskau war und gelegentlich der Unterjuchung der 
Urſachen der Kataftrophe auf dem Chodinſki-Felde aus dem Dienſt ent 
lafjen wurde, wird wieder in Dienjt geitellt — und zwar bei der Kavallerie, 
unter Zuzählung zum Minijterium des Innern. 

„Als weltliche Beifiger des ehitländifchen evangeliſch— 
lutheriihen Konfiftoriums find Baron Roſen und Graf 
Sgelitröm betätigt worden. 

= Ein Ortsftatut über die Ordnung an den Babdeorten 
am Rigaſchen Strande wird vom livländiichen Gouverneur 
erlaffen und in der Nr. 28 der „Livl. Gouv..Ztg.” publizirt. 
. Die Nigafchen Blätter veröffentlichen ein Gutachten 
des Geheimen Bauraths Hobrecht aus Berlin über das 
vom Stadt-Oberingenieur A. Agthe aufgeftellte und in 
Technikerkreiſen vielfah abfällig beurtheilte Kanalijations- 
Projekt für die Stadt Riga. Baurath Hobrecht billigt das 
Brojeft. 

» Das Januarheft der „Zirf. für den Rig. Lehrbez.” 
enthält die Eintheilung des Lehrbezirts in Volksichulrayons. 
Danad) zerfällt Livland mit Oeſel in 9, Kurland in + und 
Ehjtland in 3 Volfsichulrayons mit dem Sitz der Volksſchul— 
injpeftoren in Riga, Walf, Jurjew (Dorpat), Bernau und 
Arensburg; — Mitau, Libau; — Reval und Mefenberg. 


. März. Eine Zufchrift an die „Nordlivl. Ztg.“ „Ueber die 


baltiſchen Mädchenichulen und die Ausbildung deutjcher Er: 
zieherinnen” weiſt darauf hin, daß in Folge der Nuffifizirung 
der Schulen unfere Provinzen bald nicht mehr in der Lage 
fein werden, der aus dem Innern des Reichs kommenden 
und fi) immer mehr fteigernden Nachfrage nad) deutjchen 
Gouvernanten, Erzieherinnen und Bonnen zu genügen. Denn 
die wenigen beutichen Spracjftunden, die in den heutigen 
Schulen vielfah nicht einmal obligatorisch find, vermögen 
nicht die nöthige Vorbildung für eine deutiche Lehrerin zu geben. 
„Laut Allerhöchſt beitätigtem Beſchluß des Neichsraths 
wird Die Penfionsberechtigung der Lehrer an den Stadt: 
Ihulen im Rigaſchen Lehrbezirt der der Kreisfchullehrer 
gleichgeftellt. Die Hilfslehrer an den Stadtichulen des Neichs 
jollen im Fall ihrer Benfionirung 200 Rol. Jahrespenjion 
erhalten. 


—82 — 


14. März. Die livländiſche Gouvernementsbehörde für ſtädtiſche 
Angelegenheiten weiſt eine Beſchwerde der Jurjewſchen 
(Dörptſchen) Wähler A. Grenzſtein (Redakteur des „Olewik“) 
C. Müller und Genoſſen wegen angeblicher Ordnungs— 
widrigkeiten bei den Stadtverordneten-Wahlen in Jurjew 
(Dorpat) als unbegründet zurück. Der Gouverneur beſtätigt 
die Wahlen vom 19. Febr. und die Ergänzungswahlen vom 
6. März. 

15: .z In Jurjew (Dorpat) ftirbt der Senateur Baron Aler. 
Stadelberg, der in verschiedenen Reſſorts den größten Theil 
feiner Thätigfeit den Ditfeeprovinzen gewidmet hat und in 
den Jahren 1880 —1854 Kurator des TDVörptichen Lehr: 
bezirfs war. 

16. „ Der Minifter der Landwirthichaft und der Neichs- 
domänen theilt der Direktion des Rigaſchen Gartenbauvereins 
unterm 22. Febr. mit, daß ©. Maj. der Kaifer am 16. 
Febr. c. zu genehmigen geruht hat, daß Ihre Kaiſ. Hoheit 
die Großfürjtin Maria Pawlowna den Rigaſchen Gartenbaus 
verein unter ihre hohe Proteftion nehme. 

17... 5 Das Minijterium der Bolfsaufflärung hat die Erflärung 

erlaifen, daß die Anipeftoren der Gymnaſien und Realichulen 

fein Recht haben, Penfionäre zu halten. 

„ An die'em Teoge vor fünfzig Jahren hielt Fürſt 

Suworow feinen Einzug als Generalgouverneur in Riga. 

Die Nigaichen Blätter bringen zur Erinnerung an jenes 

Ereigniß, das den böfen Tagen der Dranglale (Chanykowſche 

Kommilfion) ein Ende bereitete, warme Gedenfartifel. Alle 

feiern den loyalen Zinn des Fürften, der fih nie eine Ein- 

miſchung in verfallungsmähige Autonomien erlaubte, höhere 

Bevormundung abzuwehren verjtand, die berechtigten und 

verbürgten Intereſſen der ihm unterjiellten ‘Provinzen zu 

wahren bedacht war und der Brutalität jeiner Gegner immer 
den Standpunkt des Nechts entgegenjegte, ohne ſich jemals 
unter irgend welche, in Kanzleien und Nedaftionsjtuben 
ausgehedte, doftrinäre „Ideen“ von Staat und Reich zu 
beugen. Das Geheimniß jeiner jegensreihen Thätigkeit 
bejtand in feinem feinfinnigen Verſtändniß für die hiſtoriſch 
entiwicelte Eigenart der Provinzen, in feiner Fähigkeit, Die 


18. 


= 


Initiative der Stände und der Geſellſchaft zu mweden, und 
nicht zuleßt in feiner forglamen Pflege höherer Güter, — 
mochte es fich dabei um Forderung auf dem Gebiete der 
Armenfürforge, um die Begründung eines Polytechnifums, 
um den Neubau eines Theaters handeln oder um Die 
Freiheit des Gewillens und des Wortes. Die baltiiche Preſſe 
verdankt dem Fürften Suworow die Befreiung von drücdenden 
und einengenden Beſchränkungen. Unter feiner Aegide ift 
auch die „Baltifche Mronatsichrift” begründet worden, ev hat 
ihr die Mege geebnet. Sumorow hat in dieſen Provinzen 
gewaltet nicht wie ein Eatrap, wohl aber wie ein Fürft. 


19. März. Es ift 3000 Duchoborzen „erlaubt” worden binnen Monatsfrift nach 


20 


” 


21. 


23. 


Amerifa auszumandern. 


. März. Die Stadtverordneten:VBerfammlung in Jurjew (Dorpat) 


wählt den bisherigen Stadtiefretär Viktor v. Grewingk zum 
Stadthaupt. 

" Der Minifter der Landmwirthichaft und der Reichs— 
Domänen bejtätigt die Statuten der im Serbit 1897 ge: 
gründeten „Erfteu Ehſtländiſchen landmwirthichaftlihen Ge: 
noſſenſchaft.“ 

„ Stadtverordneten-⸗Verſammlung in Fellin: Zum Stadt— 
haupt wird Otto Baron Engelhardt gewählt. Die Wahl 
vom 7. Mär; war vom Gonverneur kaſſirt worden. 

* Die neubegründete franzöſiſche Wohlthätigkeits-Geſellſchaft in Riga 
hält ihre erſte Generalverſammlung ab. Der livländiſche Gouverneur 
Generalmajor Sſurowzew wird zum Präſidenten gewählt. 

— Eine Allerhöchſt beſtätigte Reſolution des Miniſter— 
Komités erlaubt der evangeliichen Brüder-Gemeinde den 
Verkauf ihrer Immobilien in Liv: und Ehjtland. 


12.— 24. März. [Mußerordentlicher livländifcher Landtag.) 


Die VBorichläge der vom Landtage des Jahres 1896 ernannten 
Kommiſſion zur Reform der Grundjteuern werben im Großen 
und Ganzen angenommen und Jollen auf Grund der Beſchlüſſe 
des Landtages und des dem Landtage folgenden Adels: 
fonvents, jofern leßterem die Erledigung einzelner Detail: 
fragen vom Landtage übertragen worden war, der Staats: 
regierung als Geſetzesvorſchlag zur Beltätigung auf legis- 
lativem Wege vorgeftellt werden. — Der Landtag ſpricht feine 
volle Zuſtimmung zu den von der Ritterſchaftsrepräſentation 


— 04 — 


in Sachen der Volksſchule gethanen Schritte aus (B. Chr. 
I, 107 u. IL, 44). Der Landtag erſucht darauf den Land— 
marjchall, die einleitenden Schritte zum Zweck der Befreiung 
der Nitterichaft von der Verwaltung der Wolfsichulen zu 
thun (Balt. Chr. I, 107). Die Plenarverfjammlung des 
Adelsfonvents wird bevollmächtigt, alles weiter Erforderliche 
wahrzunehmen. Weiter wird beichloffen, die Oberfirchen: 
vorjteher und Kirchenvorſteher aufjufordern, fih im Verein 
mit der Geiltlichfeit um die Förderung des Haus: und 
Konfirmationsunterrichts in jeder Meile zu bemühen, und 
zu diefem Zweck an das livl. evang. luth. Konfiltorium das 
Erſuchen zu richten, wenn möglich bereits zum Herbjtfonvent 
a.c., behufs weiterer Bearbeitung für den nächſten ordinären 
Landtag, ein Gutachten darüber einzureichen, in welcher 
Weile der den Kindern der bäuerlichen Bevölferung zu 
ertheilende Hausunterricht durch die im Gelege vorgejehene 
gemeiniame Thätigkeit der Kirchenvorfteher und Prediger, 
ſowie auch der Konfirmationsunterriht in wirffamer Weiſe 
gefördert werden könnte. — Es wird eine zehngliederige 
Kommilfion (Stipendienkollegium) erwählt, die mit der Ver— 
wendung des zu Schulzwecken ausgeworfenen und weiterhin 
noch zu bemilligenden Kredits betraut wird. Die Plenar: 
verlammlung des Noelsfonvents und dieſes Etipendien= 
follegium werden autorifirt, ſowohl in der Provinz als 
außerhalb bderjelben, jedes mit den bejtehenden geſetzlichen 
Vorſchriften im Einklang jtehende Unternehmen zu fördern, 
das dazu dient, dem Unterricht in der Mutterjprache ſowohl 
in Zehranjtalten, als in Benfionaten und im Dausunterricht, 
weitere Ausdehnung zu geben. Die vom Adelsfonvent im 
Dezember v. I. dem Landtage überiwiejenen Anträge auf 
Abänderung der Bellimmungen über die Subventionirung 
von Privatpenfionaten werden dem Stipendienfollegium behufs 
Borlage an den Ndelsfonvent überwieſen (Balt. Chr. IL, 27). 
— Nach Kenntnignahme des Berichts über die Demarden 
der Nitterichaftsrepräjentation in Beziehung auf die Beſetzung 
der Aronsbeamtenjtellen in Yivland wird beſchloſſen in Betreff 
diefer Angelegenheit Feine weiteren Maßnahmen zu ergreifen 
(Ball. Chr. I, 100). — Der Landtag erklärt fi) mit dem 


— 5 — 


von einer Kommillion ausgearbeiteten Entwurf eines An— 
erbenrechts für Nittergüter in Livland im Prinzip einver: 
jtanden und beauftragt den Adelskonvent, die leitenden 
Geſichtspunkte für einen ſolchen Entwurf feitzujtellen und 
die Kommilfion dur die Mahl eines zu den Arbeiten der 
Kommilfton heranzuziehenden Juriſten zu verftärfen. Die 
Kommiljion wird beauftragt, den Entwurf nochmals durch— 
zuarbeiten und ihn dem nächiten ordentlidden Yandtag vor: 
zulegen. Die Oeſelſche Nitterfchaft joll erjudht werden an 
den SKommijlionsarbeiten durch einen Delegirten theilzu- 
nehmen. — Es wird ein Antrag angenommen, der dahin 
geht, die Regeln über ein Anerbenrecht für den Kleingrund— 
bejig auf das Gehorchsland zu beichränfen, ohne Rückſicht 
auf die Standeszugehörigfeit der betreffenden Grundbefiger, 
und demgemäß eine ergänzende Vorjtellung an die Staats— 
regierung zu maden. (Der Entwurf eines bäuerlihden An: 
erbenrechts für Livland, vom Streisdepulirten von Richter 
ausgearbeitet und vom Adelskonvent angenommen, wurde 
bereits im Dezember 1895 behufs Erwirfung der Bejtätigung 
dem livländiihen Gouverneur vorgeftellt; die Bejtätigung 
jteht jedoch bisher nod aus.) — Ter Landtag beichließt für 
Dtto v. Mengden zur Erinnerung an die Wiederaufrichtung 
des livländiſchen Landesjtaates im Nefidirlofal an geeigneter 
Stelle eine Gedenktafel anzubringen. — Der Landtag trifit 
Beitimmungen über das Berfahren in Beziehung auf die 
Ausſchließung von Edelleuten aus der Matrifel im Falle 
ihrer Zugehörigkeit nicht nur zur ritterjchaftlichen Korporation 
ihrer Heimathprovinz, ſondern auch noch zu den Matrifeln 
anderer baltiicher Nitterichaften und erjucht die Ritterfchafts- 
vepräjentation mit den Vertretungen der anderen Ritterjchaften 
behufs eines auf Grund diejer Beſtimmungen abzujchließenden 
Kartells in Verhandlung zu treten. — Es wird bejchlojien, 
den Verhandlungen wegen UWebertragung der Gejchäfte der 
Bauerrentenbant auf die adelige Güterfreditjozietät zur Zeit 
feinen weiteren Fortgang zu geben (Balt. Chr. I, 107). — 
Der Landtag heißt die Begründung von Aderbaufchulen, 
namentlich foldher niederer Ordnung, gut und bejchließt, die 
Livländ. Gemeinn. und Oekon. Sozietät zu era Du 


Verhandlungen wegen Begründung einer jolden Schule 
thunlichit zu bejchleunigen und diejelben jedenfalls fo weit 
zu fördern, daß der bevorjtehende ordinäre Landtag in diejer 
Angelegenheit auf Grund feiter Programme und Kojten: 
anſchläge Beſchluß zu fallen in der Lage iſt (B. Chr. IL, 38). 
— Hinſichtlich des von der Livländ. Gemeinn. und Oekonom. 
Sozietät ausgearbeiteten Entwurfs eines Waſſerrechts bejchließt 
der Landtag, die Kejidirung und den Landmarjchall zu er: 
juchen, fi dafür zu verwenden, daß das Provinzialredt nur 
in foweit abgeändert werde, als ſolches im Intereſſe des 
Yandes geboten und mit den Grundlagen des Brovinzialredyts 
vereinbar erſcheint (B. Chr. II, 32 u. 35). — Der Livländ. 
Gemeinn. und Tefon. Sozietät wird in Genehmigung einer 
vom Dezember:Stonvent 1896 ertbeilten Erlaubniß gejtattet 
die zum Beten der Fulturtechniichen Bureaus freditweile 
von der Nitterichaft bewilligte Summe von 5000 Rol. aud) 
für die Zwede der VBerfudsitation zu verwenden. — Der 
Landtag genehmigt die vom Dezember:ftonvent 1897 der 
Lioländiſchen Gemeinn. und Oekonom. Sozietät bemwilligten 
Summen zur Förderung der IV. baltiichen YZentral-Aus- 
jtellung und die Wahl des Landmarichalls zum Delegirten 
im Wusjlellungsratd (B. Chr. IL, 39). — Dem XLivländ. 
Herztetage wird zur Ausbildung von Wärtern für die Haus— 
pflege Geijtesfranfer eine Jahresjubvention von 400 Rol. 
aus der Landeskaſſe Dis zum nächſten ordinären Yandtage 
jowie zur Herausgabe eines Yehrbudyes für das Warteperjonal 
und kurzer Anmweilungen für die Angehörigen der Kranken 
eine einmalige Zahlung von 50 Rol. bewilligt (B. Chr. L, 34). 
— In Folge eines Antrages des Präfidenten des livländ. 
Verztetages wegen Ausbildung von Landhebammen bejchließt 
dev Zandtag, zur gutachtlichen Weberarbeitung des Antrages 
eine Kommiſſion zu ernennen, die aus zwei Delegirten der 
Hitterichaft und aus zwei Vertretern des Vereins livländ. 
Herzte beſtehen jol. Außerdem jollen die Stadt Riga 
und die ehſtländiſche und öſelſche Ritterſchaft aufgefordert 
werden, an dem Unternehmen theilzunehmen und für die 
Kommiſſion gleichfalls Delegirte zu ernennen. — In Betreff 
der Verhandlungen in Sachen des Kronsbranntweinmonopols 


— — 


und der Krügereiberechtigung (Balt. Chr. J, 108) wird 
beſchloſſen, die Aktion fortzuſetzen. — Gemäß dem von dem 
Landtage des Jahres 1890 in Bezug auf die Regulirung 
der Landrolle gefaßten Beſchluſſe, wurde beliebt, unter 
Berüdjichtigung der feit dem Jahre 1891 regijtrirten Ver: 
änderungen des Natafters eine neue Dafenrolle anzufertigen, 
zu publiziven und nad) derjelben die Nepartition der in 
Geld zu erhebenden Grundjteuern zu bewerkitelligen. — Zur 
"Negiftrirung des jogenannten ſchwediſchen Archivs der Gou- 
vernementsregierung werden der Gejellihaft fir Gedichte 
und Alterthumsfunde der Djtieeprovinzen 800 Rol. jährlic) 
für die Dauer von drei Jahren bewilligt. — Unter den 
Eummen, die der Landtag zu gemeinnüßgigen Zweden aus 
der Ritterſchaftskaſſe bewilligt find zu nennen: 150 bl. 
jährlich zum Beſten des Konfirmandenvorbereitungsunterrichts 
für ehjtnifche Kinder in Werro; 1000 Rbol. einmalig 
zum Baufonds des Marien:Diafonijienhaufes in Riga; 
1000 Rbl. einmalig zum Bau einer lettiſchen Kirche vor 
der Aleranderpforte bei Niga; 2000 Rol. jährlich für den 
Verein zur Verpflegung von Cpileptifern und Idioten; 
1000 Rbl. jährlich zur Forderung des theologischen Studiums 
an der Univerfität Jurjew (Dorpat); 1000 Rol. jährlich für 
das Marien-Diakoniijenhaus in Riga; 1500 Rol. jährlich 
für das Seminar des Fräul. Marie Girgenjohn in Jurjew 
(Dorpat) zur Ausbildung von Yehrerinnen der deutjchen 
Sprache; 5000 bl. für die Zeit vom 1. Juli 1808 bis zum 
1. Juli 1899 für die Zeddelmannſche Privatichule in Jurjew 
(Dorpat); 1000 Rol. jährlid), zulagsweije, für die Eltz'ſche 
Brivatichule in Riga; 300 Rol. jährlih für die Schüler— 
werfitatt unter Zeitung des Oberlehrers Goertz in Jurjew 
(Dorpat); 720 Rbl. jährlich zur Herausgabe altlivländijcher 
‘Privaturfunden und der erforderliche Kredit für eine zu 
diejem Zweck zu unternehmende Reiſe nad) Moskau; 1200 
Rbl. für drei Ehrenzeihen von je 400 Rbl. und 200 Rbl. 
jur Herjtellung von Medaillen für die IV. baltiſche Zentral: 
Austellung; 200 NbL. jährlid) für den VBorbereitungsunterricht 
der Konfirmanden in Jurjew (Dorpat). 


VII* 


— 


23. März. Der Beſchluß des livländiſchen Landtages, im Ritterhauſe eine 
Gedenktafel für den einftigen Landmarichall und Landrath Otto von 
Mengden anzubringen, findet dic Anerkennung der „Aurl. Gouv.⸗Zig.“ 
Sie preift das Gefühl der „Pietät“ — „für melden Begriff es 
in der ruſſiſchen Sprache nicht einmal ein Wort giebt, wahrſcheinlich 
deshalb, weil ein ſolches Gefühl in der Geſellſchaft nicht eriftirt... Man 
fann nicht umbin, ein ſolches lebendiges hiftoriiches Gefühl zu achten, 
da8 in den übrigen Theilen unſeres Vaterlandes leider noch jo ſchwach 
vertreten iſt.“ Auch der „Riſhſti Weſtnik“ bezeichnet den Landtags» 
Beihluß „würdig der Nahahmung.“ 

24. März. Aus dem Nechenfchaftsbericht der livländiſchen adeligen 
Güter Kreditſozietät für das Jahr 1897 geht hervor, daß 
diefes Jahr injofern von großer Bedeutung für die Livländijche 
Kreditjozietät geweſen ift, als die lange erfehnte Herabjegung 
des Zinsfußes der 5/0 Pfandbriefihulden auf 4'/2°/o während 
deſſelben ftattgefunden hat und die Konverfion der 5°%/ Pfand: 
briefe in 4'/2°/ im Februarmonat durchgeführt worden it. 
Sleichzeitig mit diejer Herabſetzung des Zinsfußes und der 
Konverfion der Pfandbriefe wurden die bisher für Die 
Pfandbriefihulden angefammelten Tilgungsfonds für dis— 
ponibel erflärt und find im Laufe des Jahres 1897, Die 
Tilgungsfonds von 358 Nittergütern im Betrage von 
1,333,965 Rbl. 77 SKop. und von 6267 Gefinden im 
Betrage von 2,591,894 Rbl. 63 Kop., in Summa im 
Betrage von 3,925,860 Nbl. 40 Kop. ausgezahlt worden. 
Ferner iſt noch hervorzuheben, daß im Jahre 1897 die 
Pfandbriefichuldner präziier ihre terminlidden Zahlungen 
geleiftet haben, als in den leßtverfloffenen Jahren; Die 
Reſtanz derjelben hat fih vom 1. Januar 1897 bis zum 
1. Januar 1898 um 162,752 bl. 91 Kop. vermindert; 
am 1. Januar 1897 betrug diejelbe 538,997 Nbl. 52 Kop., 
am 1. Januar 1898 dagegen 376,244 Rbl. 61 Kop. Das 
der Cozietät verpfündete Arcal an Nittergütern beträgt 
1,441,714 Deijätinen bei einem Schätzungswerth von 
40,428,000 Rbl. und einer Pfandbriefihuld von 13,420,000 
Rbl.; vom Gefindearcal find verpfändet 1,260,842 Dejjätinen 
im Schätzungswerth von 48,595,000 Rbl. mit einer Schuld 
von 28,237,700 Rbl. 

25. u. 26. März Beſchlüſſe des Adelsfonvents.)] In Er: 
füllung der Bejchlüffe des Landtages vom März c. megen 


— 


Feſtſtellung leitender Grundſätze für die Kommiſſion zur Aus— 
arbeitung eines Anerbenrechts für die Rittergüter beſchließt 
der Konvent, daß die Kommiſſion von folgenden Geſichts— 
punkten auszugehen hätte: a. das Anerbenrecht iſt fafultativ 
neben dem Rechtsinſtitut der Erbgüter mit möglichſter Be— 
ſchränkung aller Formalitäten einzuführen; b. die Integrität 
des Beſtandes eines Anerbengutes iſt möglichſt zu wahren; 
e. die Sukzeſſion in Anerbengüter iſt feſt zu regeln, unter 
Bevorzugung der männlichen Erben; d. dem Anerben ijt ein 
Voraus zu gewähren und außerdem durch Befrijtung der 
Auszahlung der Antheile feiner Miterben am Anerbengut 
die gedeihliche Fortführung der Gutswirthichaft ficherzuftellen. 
Weitere Abänderungen des Privatrechts follen hierdurd nicht 
abgefchnitten fein. — In Folge des ablehnenden Antwort: 
Ichreibens des livländiichen Gouverneurs auf die wiederholte 
Vorftellung in Betreff der Wahl der Delegirten vereinigter 
Gemeinden für die Kirchenfonvente wird beſchloſſen, nochmals 
Ichriftliche und eventuell auch mündliche Vorjtellung im Sinne 
des Konventsbeichluffes vom Dezember 1897 (B. Chr. II, 38) 
und unter befonderem Hinweis darauf zu maden, daß die 
Antereifen der Höfe und der denjelben entiprechenden Bauer: 
Ichaften an den Angelegenheiten der Kirchenfonvente derartig 
eng mit einander verbunden find, daß die Möglichkeit korre— 
pondirenden Handelns diejer Höfe und Bauerfchaften auf 
den Konventen unbedingt geichaffen werden muß. Für den 
Fall, daß dieje Vorftellungen feinen Erfolg haben, find die 
Nefidirung und der Landmarſchall zu erjuchen, bei dem 
Minifterium des Innern eine dahin gehende Anordnung zu 
erwirfen. — Zur Unterftügung der von mehreren Predigern 
des ehftniichen Theiles von Livland herauszugebenden 
riftlihen Wolksichriften wird die Summe von 600 Rbl. 
als einmalige Zahlung aus der Nitterichaftsfajfe bewilligt. 

26. März. An der „Pet. Gaſ.“ stellt Frau Luchmanowa die preußiſche Volks— 
ſchule als Muster dar, dem die ruſſiſche folgen müſſe, falls fie überhaupt 
proſperiren wolle. 

27. März Das Miniſterium der Vollsaufflärung hält es, wie 
die „Pet. Med.“ berichten, für möglich, daß Perſonen, Die 
in einer mittieren LYehranftalt das Eramen bejtanden haben, 


— 100 — 


wegen Raummangels aber in dieſe Anſtalt nicht aufgenommen 
werden können, auf Grund eines Atteſtates der Eintritt in 
eine andere Anſtalt ohne neue Prüfung gewährt wird. 


27. Mär. Die „Now. Wremja“ berichtet über den livländiſchen 


Landtag und bemerft zu der Bewilligung von 500,000 Abl. 
für eine Natafterrevifion folgendes: „Was würden die Zeitungen 
eines gewiſſen Lagers Jagen, wenn irgend eine von unferen 
Semſtwos Summen bis zu 500,000 Nbl. für ftatijtiiche 
und Meilungsarbeiten afligniren würde? Weld ein Weh— 
geheul würde über die „zeritörende” Semſtwoſtatiſtik erhoben 
werden? Die bultiichen Edelleute aber alligniren eine jo 
wichtige Summe ohne Weiteres, ohne aucd nur mit ber 
Wimper zu zucken.“ 

Es wird ein Allerhöchſter namentlicher Erlaß an den 
Finanzminiſter publizirt, der befiehlt: „1) bei der Emiſſion 
von Silbermünze darauf zu achten, daß die Geſammtmenge 
dieſer Münze, ſowohl der vollwerthigen (Rubel, Halbrubel, 
Viertelrubet), als auch der Scheidemünze (zu zwaänzig, fünfzehn, 
zehn und fünf Kopefen) im Umlauf, eine Eumme nicht über: 
jteige, die dreimal größer ift, als die Bejammtzahl ver Be: 
völlerung des Reichs; 2) die obligatorische Annahme von 
vollwerthiger Silbermünze im Privatverfehr bis zu 25 Rubel 
bei jeglider Zahlung feitzuießen, während die Nenteien und 
Regierungskaſſen dieſe Münze zu jeglicher Summe bei allen 
Zahlungen anzunehmen haben, mit Ausnahme der Zolljteuer 
und der leid) diejer in Bold zu erhebenden Steuern, deren 
Entrihtung in Silbermünze bis zu einem Betrage unter 
fünf Nubel (ein Drittel Imperial) bei jeder Zahlung zu 
geftatten ift, und 3) alle hinfort in Silberrubeln zu machenden 
Berechnungen, Eingänge, Ausgaben, Zahlungen und jegliche 
Beträge in Geldrechnungen, Alten und allen Geſchäfte 
überhaupt in Rubel, die gleich find einem fünfzehntel 
Imperial, zu bewerfitelligen.” Durch dieſen Erlaß wird 
aljo das zuläffige Quantum des Eilbers als Hilfsmünze 
genau feſtgeſetzt (circa 390 Millionen), die Annahme der 
vollwertbigen Silbermünze im ‘Privatverfehr geregelt und 
der „Zilberrubel” von 4 Solotnik 21 Doli reinen Silbers 
durch den dem fünfzehnten Theil eines Goldimperials ent: 


— 101 — 


fprechenden „Nubel” als Münzeinheit des ruſſiſchen Neiches 
erjeßt. Was die Scheidemünze betrifft, jo bleibt die alte 
Hegel beſtehen, nad) der von Privatperjonen nicht mehr als 
drei Rbl. diejes Geldes entgegengenommen zu werden braud)t. 
Mit dem Erlaß ericheint die Valutareform in ihrem auf 
das Münzſyſtem bezüglichen Theil vollendet. Nicht endgiltig 
entschieden iſt zunächſt die Frage der Emifjionstechnif, d. h. 
wie die verſchiedenen Geldzeichen zu emittiren ſind, und wie 
man dieſe Operation zu kontroliren bat. 

28. März. Ein Allerhöchjter Ukas verfügt die Enteignung von 
5160 Deſſätinen zum Bau der Strede, die auf dem fürzejten 
Wege Moskau über Welifije Luki mit Stockmannshof oder 
einer anderen Station der Riga-Oreler Bahn zu verbinden hat. 

— — Die in Berlin erſcheinende „Tägliche Rundſchau“ beklagt den Rückgang 
der deutlichen Sprache in Petersburg und die ſchnelle Verrufjung der dort 
lebenden Deutjchen. 

29., Vor der Kirche zu Oppekaln (im Walkſchen Kreiſe) 
fommt es zu einem großen Erzeß bei der Introduktion des 
Bajtors Osfar Treu, der zum Amtsnachfolger feines ver: 
jtorbenen Vaters gewählt worden war. Als der Introduzent 
mit dem SKirchenvorjteher Baron Delwig bei der Kirche 
vorfährt, wird beiden Herren der Eingang ins Gotteshaus 
verwehrt und die vor der Kirche zahlreid) verſammelte lettische 
Gemeinde drängt fie gewaltfjam zurück. Der Propſt und ein 
alfijtirender ‘Baltor halten Diahnreden an das lärmende Volk, 
doch ohne Erfolg, und die Paſtoren wie die deutichen Ein: 
aepfarrten müſſen von den Durrabrufen des Volfes begleitet, 
unverrichteter Sache die Kirche verlajlen. Die ‘Polizei, die 
verhältnißmäßig zahlreich vertreten war, vermag der Menge 
gegenüber nichts auszurichten. Der örtlide Propft inftallirt 
jedoh Herrn Treu als Paſtor zu Oppelaln, welcder ver: 
pflicdhtet wird, alle nothiwendigen Amtshandlungen im Kirchſpiel 
zu vollziehen, während die Kirche zunächſt geichloiien bleibt. 

Bi, :% Vor dem Friedensrichter in Oberpablen kommt der 
Ueberfall des Paſtors Wittrod in der Oberpahlenjchen Kirche 
(B. Chr. . J prozerfualiich zur Verhandlung. Leber den 
Sachverhalt hatte die Polizei ein Protokoll aufgenommen. 
Die Polizei war der Anſicht geweien, daß Störung des 


— 102 — 


Sottesdienftes in der Kirche vorlag und die Angelegenheit 
deshalb vor das Bezirksgericht fompetirt; fie hatte darum 
die Angelegenheit dem Unterjuchungsrichter übergeben. Diejer 
jedoh fand, daß der Gottesdienjt noch nicht angefangen 
hatte, weil der Paſtor die Kirche noch nicht hatte betreten 
fünnen, obwohl die Gemeinde bereits das Eingangslied jang. 
Daher fünne jeiner Meinung nah nur auf Grund des $ 35 
des Gejeges über die von den Friedensrichtern zu ver: 
hängenden trafen eine Anklage erhoben werden. Auch 
Paſtor Wittrod Hatte wegen Ehrverlegung eine Klage an- 
gejtrengt und verlangt, dab die Sache nicht vor dem Friedens: 
richter, jondern vor dem Bezirksgericht abgeurtheilt werde. 
Der Unterfuhungsrichter ließ jedoch dieſe Forderung un: 
berückſichtigt. Im Friedensgericht waren 18 Perſonen vor: 
geladen; Paſtor Wittrod erihien nit. Die Angeflagten 
befennen jich nicht für jchuldig (!), doch wird ihre Schuld 
von den Zeugen dargethan. Nach den Ausjagen des jüngeren 
Kreischefgehilfen hatten die Weiber ihr Werk in der Abjicht 
gethan, um von dem Prediger loszufommen, denn fie hätten 
gehört, ein Pastor könne nicht mehr im Amte bleiben, wenn 
ihm während des Gottesdienjtes die Bäffchen abgeriſſen 
werden. Gleich nad dieſem Vorfall jei denn aud beim 
Konfiftorium eine mit mehreren Unterfchriften verjehene 
Petition eingereiht worden, Paſtor Wittrod feines Amtes 
zu entheben, da ihm die Bäffchen in Fetzen gerilfen worden 
jeien. Der riedensrichter verurtheilt auf Grund des S 35 
des Gejepes über die von den Friedensrichtern zu ver: 
hängenden Strafen die Angeklagten zu einen Monat Arreit; 
die Klage des Paſtors Wittrod aber jchlägt er in Folge 
des Nichtericheinens des Klägers nieder. Paſtor Wittrod 
hat gegen die Enticheidung des Unterfuhungsrichters und 
des Friedensrichters eine Beichwerde angejtrengt. Nach evan- 
geliiher Anichauung wird der Goltesdienſt durd die Gemeinde, nicht 
dur den Paſtor eingeleitet, und da die Störung in einer evangeliichen 
Kirche itattfand, jo kann natürlich nur die evangeliſche Auffafiung gelten. 
Die Polizei hat aljo mit ihrer Auffaffung durdhaus Recht. Außerdem 
liegt aber noch ein Gemwaltaft gegen eine Amtsperſon vor. 


— 


31. März. In der Preſſe wird darauf hingewieſen, daß die Ver— 


31. 


waltung des Rigaſchen Lehrbezirks Perſonen aus dem Lehrer— 
ſtande die aktive Betheiligung an der freiwilligen Feuerwehr 
verboten habe. 

„ In MWMarien-Magdalenen in Ehſtland kaſſiren die Gemeinde— 
Verwaltungen auf Befehl des Gouverneurs die Strafgelder 
für die Verſäumniſſe der Schulfinder ein. Solches geichieht 
zum erjten Mal, bisher blieb es nur bei der Drohung. 

" Im „Graſhdanin“ tritt ein alter Pädagog gegen die Beſchuldigung 
der Hergenshärtigfeit feiner Kollegen auf. Seiner Meinung nad ijt das 
Spymnafialftatut vom Jahre 1871 an Allem ſchuld. Es habe die Herz» 
lichfeit und Wärme im Verfehr zwiichen Lehrern und Schülern aufgehoben 
und fordere von den Lehrern nur Die offiziellen Beziehungen zu den 
Schülern, wodurch der fittliche Einfluß der Lehrer volllommen paralyjirt 
und an der Wurzel abgejchnitten werde. „Den Gnmnafien wurde jede 
Initiative in der Leitung ihrer Angelegenheiten genommen; Alles Täuft 
auf erafte Erfüllung der vorgeichriebenen Regeln, die in verichiedenen 
Verordnungen und Verfügungen feitgefegt find, heraus. Iſt es dann 
gu vermundern, daß mande Pädagogen fih in Burcaufraten verwandelt 
haben?” 

A In Friedrichftadt wird von der Stadtverordneten-Xer- 
fammlung das bisherige Stadthaupt Dr. Adolf Bienemann 


wiedergewählt. 


1. April. Aus Anlaß der Mihernte des verfloſſenen Jahres, die 


” 


beionders die Gouvernements Woroneſh, Kaluga, Kursf, 
Drel, Rjafan, Stawropol, Tambow und Tula betroffen hat, 
erläßt das Nothe Kreuz und das Unterjtügungsfomite der 
Kaiferl. Freien Defon. Gefellichaft einen dringenden Aufruf 
um jchleunige Hilfe. 

” Die Revaler Blätter berichten, daß feit einigen Tagen 
mit den Arbeiten am Bau der Kathedrale auf dem Dom: 
berge wieder begonnen worden jei. 


1. April. Der Minifter des Innern verbietet den Einzelnummernverfauf der 


Zeitung „Glasnoſtj“. 


2. April. Das Februarheft der Zirfuläre des Nigaichen Lehr: 


bezirfs veröffentlicht folgende Allerhöchſte Enticheidung: „Der 
furländifche Zandesbevollmächtigte, Graf Keylerling, hat im 
Namen der furl. Ritterichaft ein allerunterthänigites Geſuch 
eingereicht, der ebenerwähnten Nitterfchaft die Erlaubniß zu 
ertheilen, mit ihren eigenen Mitteln ein Gymnafium auf 
voI 


— 104 — 


folgender Grundlage errichten und unterhalten zu Dürfen: 
1) Zur Erziehung und Bildung der Kinder der Edelleute 
wird ein Gymnaſium ausjchlieglih mit den Mitteln der 
furländiichen Ritterfchaft errichtet, das auf Koften derjelben 
Nitterfchaft unterhalten werden foll. 2) Das Gymnaſium 
wird in zwei Abtheilungen getheilt, in eine Flaffifche und 
eine reale. 3) Auf die Zögnlinge beider Nbtheilungen des 
Gymnafiums werden die Nechte ausgedehnt, die die Zöglinge 
der entiprechenden mittleren Sronslehranitalten des Mini: 
fteriums der Volfsaufflärung befigen. 4) Die Nitterichaft 
wählt die Kandidaten auf die Poften des Direktors und der 
Lehrer des Gymnaſiums und ftellt die erwähnten Kandidaten 
dem Minifterium der Bolfsaufflärung zur Beitätigung vor. 
5) Da durd die Erfahrung bemwielen ift, daß der Unterricht 
in einigen Lehrfächern nur in dem Falle völlig erfolgreich 
fein fann, wenn er in einer Sprade ertheilt wird, die den 
Schülern völlig verjtändlich ift, fo wird im Gymnaſium der 
Unterriht in der deutichen Spradhe in dem Umfange zu: 
gelafien, in melden Die deutſche Unterrichtsiprache in 
den Gymnaſien bei den evangelifch-futheriichen Kirchen in 
Petersburg angewandt wird. 6) Beim Gymnaſium mird 
eine Penſion errichtet, in welcher den Benfionszöglingen die 
Möglichkeit einer praftiichen Hebung in der ruffiichen Sprache 
zur vollen Aneignung derjelben geboten wird. Das Geſuch 
des Grafen Keyſerling murde von dem Oberdirigirenden 
der Kanzlei Seiner Kaiſerlichen Majeftät zum Empfang der 
auf den Allerhöchiten Namen eingehenden Bittichriften am 
20. Dezember 1897 Seiner Kailerlihen Majeſtät gemeldet 
und der Kaiſerliche Herrſcher geruhte Allerhöchſt zu befehlen: 
das bejagte Geſuch abzuichlagen, den Grafen Keyſerling 
davon zu benachrichtigen und es zur Kenntniß des Minifters 
der Volfsaufflärung zu bringen. — Demſelben Zirkulär 
zufolge hat Seine Majejtät am 22. Nanuar 1898 gerubt, 
Seine Kaiferlihe Hoheit den Großfürften Wladimir Aleran: 
dromwitih als Ehrenmitglied der Jurjewer Univerfität zu 
beſtätigen. — Das Februarzirfulär publizirt weiter, daß 
der derzeitige Verweſer des Miniſteriums der Volfsaufflärung 
in der Felliner dreiklaſſigen Stadtichule fakultativ deutichen 


— 105 — 


Spradunterricht zugelalfen habe und zwar für die beiden 
oberften Klaſſen zu je zwei Stunden wöchentlich, die außer 
der gewöhnlichen Ilnterrichtszeit bei einem Ertrahonorar von 
2 Rbl. im Jahr für jeden Theilnehmer zu ertheilen find. — 
Der Kurator beftätigt, wie das Zirfulär mittheilt, ſechs 
einflaffige Elementarfchulen Nigas in zweiklaſſige zu ver: 
wandeln und in der Moskauſchen NWorftadt zwei neue ein: 
klaſſige Elementarſchulen auf Koften der Stadt zu eröffnen. 


4. April. Die Ablehnung der Gefuche der Liv» und kurländiſchen Nitterichaft 


aus eigenen Mitteln Gnmnafien zu errichten und zu unterhalten (ſ. oben), 
wird von einem Theil der ruffiichen Preffe mit Genugtbunng begrüßt. 
In einem Artifel des „Smwet“, der auf den „Riſhſki Weſtnik“ zurüdgebt, 
heißt es: „Wir glauben, dab dieſe beiden mifiglüdten Verſuche, den 
ruſſiſchen Staatsgedanfen vom gefunden und richtigen Wege abzulenfen, 
die nimmer raftenden örtlihen Separatijten endlid davon überzeugen 
werben, die Regierung ſei feit entichloffen, das Werf der Bereinheitlichung 
der baltiſchen Grenzmarf mit dem übrigen Rufiland unentwegt fortzus 
jegen, und dab fie den baltischen Trotz brechen werden, der immer noch 
die Hoffnung begt, den vereinheitlichenden Reformen eine rüdläufige 
Bewegung zu geben.“ — Die „Most. Wed.” erklären, fie hätten von 
den Balten eine beffere Meinung gehabt. „Wir glaubten, daß die Spikr 
führer der alten feparatiftifchen Clique im baltiichen Gebiet vernünftiger 
wären und die Bedeutung der Regierungspolitif richtiger (als die Polen 
und Kaukaſier) zu ſchätzen verftänden. Wie es ſich herausitellt, haben 
wir uns geirrt und den Baltomanen mehr Vernunft zugeichricben, als 
fie wirflich beſitzen.“ 

pr Der „Graſhdanin“ beipricht die „Typen unſerer Ruffififatoren”, 
veranlaßt durch die vom Generaludjutanten Dragomirow anbefohlene 
Mahregelung eines derfelben im Südweſtgebiet. Bejagter „Ruffififator” 
hatte nad dem „Graſhdanin“ den Verſuch gemacht, ſich mit beigetricbenen 
Gemeindegeldern ein Gut von 400,000 Rbl. zu erwerben. Der „Graſh— 
danin” führt aus: „Wieviel Papier, Zeit und Worte find bei ber 
Behandlung der Frage verichwendet worden, was wir in unjeren wejtlichen 
Grenzmarten, was im Zarthum Polen machen follten, wieviel Galle und 
Leidenichaft ift durch die Polemik zwiſchen den Anhängern ciner Monſtre⸗ 
Auffifizirung und denen, melde gewiſſe Rechte der Nationalität und des 
Glaubens vertheidigten, wachgerufen worden.... Alles das war unnüte 
Mühe. Nothivendig war nur eines: dasjenige, was der Generaladjutant 
Dragomirow mit dem Friedensvermittler gethan hat: raſch die Sadje zu 
unterjuchen und den Beamten jofort zu entfernen, wenn er fich fchuldig 
erwied.... Weiter iſt nichts nothwendig! Sonderbarer Weiſe iſt aber 
in unferen wejtlihen Grenzmarfen und im Zarthum Polen gerade von 
diejem midtigiten nnd vielleicht einzig richtigen Mittel zur Beruhigung 

VIII* 


Bu — 


des Landes und zu feiner Verſchmelzung mit Rukland ein bischen wenig 
zu bören.” Bon den „Ruffififatoren“ feien die Einen beitechlich, bie 
Andern ließen ſich polonifiren, die Dritten mären gegen die Aufgabe der 
Regierung und die ruffiiche Idee vollkommen gleichgiltig. Trotzdem aber 
fei fein Beamter wegen Beitechlichleit weggejagt, feiner wegen ſchlechten 
Betragens gebeten worden, fid zu entfernen. (Balt. Chr. IL, 88.) 

4. April. Nah dem SJahres:Beriht der Taubjtummenanftalt 
Karolinenhof bei Mitau pro 1897 zählte am Schluß des 
Berichtsjahres die deutiche Abtheilung 16 Zöglinge in 3 
Klaſſen, die lettiiche Abtheilung 58 Zöglinge in 6 Klaſſen, 
beide Abtheilungen zujammen hatten alfo 9 Klaſſen mit 
74 Zöglingen. Der Konfeifion nad find 68 Yutheraner und 
6 Andersgläubige. 

6. „ Der bisherige Verwefer des Minifteriums des Kaiſerlichen 
Hofes Baron Freederidsz ift zum Minijter des Kaiferlichen 
Hofes und der Apanagen und Kanzler der Kaiſerlich Ruſſiſchen 
und Zariichen Orden, unter Belaffung in der Stallmeiiter: 
und General-Adjutanten-Würde ernannt worden. 

D.. An diefem Tage vor 100 Jahren wurde von Kaijer 
Paul I. die Neubegründung einer baltischen Zandesuniverfität 
angeordnet. Schon Peter der Große hatte bei der 1710 
erfolgten Kapitulation von Pernau, wohin in Folge der 
Kriegesjtürme die von Guſtav Adolph 1632 in Dorpat 
begründete Univerfität 1690 verlegt worden war, der liv- 
ländiſchen Ritterihaft die Erhaltung der Landesuniverfität 
zugefagt. Der Punft 4 der Kapitulation lautete: „Die 
Univerfität in Liefland, weiln fie mit zureihlihen Einfommen 
und Gütern fundiret ift, wird beybehalten, und allezeit mit 
tüchtigen Profeſſoren der Evangeliich:Lutheriichen Religion 
zugethan, bejfeget, auch zur commodite der Adelichen Jugend 
mit Sprachen und Erercitien:Dieijtern verjehen.“ Troßdem 
mußte Livland fajt 100 Jahre auf die Erfüllung der Zujage 
warten. Am 9. April 1798 erfolgte der namentliche Ufas 
Kaifer Pauls und am 21. April 1802 wurde, nachdem man 
lange zwiſchen Mitau und Dorpat geichwanft hatte, die 
Univerfität endlich zu Dorpat (Befehl Kaifer Aleranders 1. 
v. 12, April 1801) eröffnet, und zwar als „ritterfchaftliche”. 
Durd einen Kaiſerlichen Befehl v. 12. Dez. 1802 wurde Die 
Anftalt dann der Verwaltung der Ritterſchaften entzogen 


— 107 — 


und als „Kaiferlihe” dem Dlinifterium der Volksaufklärung 
unterſtellt. Der Adel Kurlands hatte ſich ‚Schon vor der 
Eröffnung der Hochſchule von dem Unternehinen zurück— 
gezogen. Livland hat bis zum Uebergang der Univerfität 
an die Regierung im Ganzen 45,431 Nbl. 60 Kop. und 
Ehitland 36,002 Rbl. 32 Kop. beigejtenert, Kurland nur 
etwa 2000 Rbl. 


10. April. Zur Illuſtration der Nothlage der Petersburger Studentenſchaft 


führt die „Now. Wr.” folgende Daten an: An den Verein zur Unter: 
ftügung unbemittelter Studenten der Petersburger Univerjität laufen 
ungefähr in jedem Semejter 80V Gejuche um Unterftügung ein, während 
der Verein zu dieſem Zwecke höchſtens über 5—6000 Rbl. verfügt, jo 
daß, wenn alle Gejuche erfüllt würden, etwa 10 Rbl. auf jeden Bittjteller 
entfichen. 

„ Die „Mosf. Wed.“ greifen das Amt des Minilter-Staatsjefretärs 
von Finland heftig an. Diejes Amt ſei überhaupt überflüfjig, werde 
aber noch ganz bejonderd dadurch ſchädlich, daß ftatt ruſſiſcher Staats» 
männer nur Finländer zu demjelben erwählt würden. 


14. April. Der Generalgouverneur des Amurgebietes Duchowſki 


15. 


richtete an die Souverneure von Livland, Kurland und Ehjtland 
das Erjuchen, auf Leute hinzuweiſen, die eventuell geneigt 
wären, im Frühling des Jahres 1898 als Kundjchafter ins 
Amurgebiet zu fommen. Nah den Nücdäußerungen der 
Souverneure haben jidy aus Livland fünf Kundjchafter bereit 
erklärt, an Ort und Stelle die Bedingungen der Anfiedelung 
livländifcher Küjtenbewohner im Uſſuri-Gebiet fennen zu 
lernen. Ebenjo rechnet man aud auf Kundſchafter aus 
Ehftland. Nur in Kurland hat fi fein Kundſchafter auf: 


finden laſſen. 

r Der „Wejtn. Jew.“ Eonjtatirt eine erichredende Apathie der ruffiichen 
GSejellihaft gegenüber den von der Mihernte betroffenen Gouvernements 
und führt diejelbe auf die Einjicht in die Vergeblichkeit aller Verjuche, 
zu helfen („da8 Danaidenfaß zu füllen”) zurüd. 

m Der Vorſchlag des Generalgouverneurs von Warichau, den polnilchen 
Sprachunterricht in den Mittelihulen der Weichjelgouvernements zu er: 
weitern, ijt von Der Negierung in Peteräburg nicht genehmigt worden.” 
u Der meitverbreitete Nothitand im Schmwarzerderayon giebt Herrn 
Golowin den Anlaß, auf die Schäden der ruſſiſchen Agrarverfaffung 
hinzuweiſen. Golowin plaidirt energiich für den Uebergang vom Gemeinde; 
bejig zu erblichem nicht parziellirbarem Einzelbejig und tritt damit für 
diefelbe Agrarverfafjung ein, die in den baltiihen Provinzen bereits 
beitegt und dort jo häufig den Angriffen der rufliichen Preſſe ausgejegt 


16 


* 


te 
14 
* 


” 


IV 


— 108 — 


iſt. Der „Graſhdanin“ zweifelt nicht daran, daß die landwirthſchaftlichen 
Verhältniſſe in den Oſtſeeprovinzen im Vergleich zu den innerruſſiſchen 
ein „Eldorado“ jeien und als Wujter dienen fönnten, meint aber das 
wichtigite fünne man aus dem Oſtſeegebiet doch erft auf Zentralrußland 
übertragen, nämlich „die geiftige Welt jener gefegneten Gebiete.“ 


. April. Der Minifter des Innern beftätigt die Statuten eines 


Edwahlenihen (Ediwahlen in Kurland) Vereins zur gegen: 
jeitigen Dilfeleiftung bei Pferdediebjtählen. 

2 Die Kurländiiche Gouvern.-Sejfion für ftädtiiche An- 
gelegenheiten kaſſirt den Beſchluß der Libauſchen Stadt: 
verordnetenverſammlung v. 26. Febr. c. betr. die Garantie: 
zeichnung von 1000 bl. für die IV. Baltiiche Zentral: 
Ausjtellung in Niga. 

r In Mitau findet die Schlußfteinlegung für das neue 
Gebäude des Kurländiſchen Provinzialmujeums jtatt. 

„ In Lodz wird das Amt eines Predigers an der derzeitigen evangeliihen 
Gemeinde vafant. Der „Zwiajtan evangieliezny“ theilt mit, daß Der 
Kirchenratb von den fich bewerbenden Kandidaten die genaue Kenntniß 
der polniichen Sprache verlange und der Superintendent erſucht werden 
jolle, daß die Probepredigten der Kandidaten nicht nur im deutſcher, 
jondern auch in polnischer Sprade gehalten werden. Das genannie Blatt 
wünjcht dringend, daß der Beſchluß des Kirchenrathes ſich verwirfliche. 
Tie evangeliiche Gemeinde in Lodz ift in der überwiegenden Mehrzahl 
deuticher Nationalität. Wird von dem zukünftigen Prediger die Kenniniß 
der polnijchen Sprache in der That verlangt, jo wäre aljo in einer Der 
Mehrzahl nach deutſchen Gemeinde die Wahl Deutſcher jo gut wie auss 
geſchloſſen, da dieſe micht polniſch verjtehen, wohl aber die polniſchen 
Kandidaten meiſt deutſch. 

u In Bernau hatte der Volksihulinjpeftor verlangt, Die 
„Konfirmanden VBorbereitungs-Anjtalt“ der Elijabethgemeinde 
entweder zu jchließen oder in eine Clementarjchule zu ver: 
wandeln, weil in ihr angeblid neben der Religion aud in 
anderen Fächern unterrichtet worden wäre, Der Prediger 
der genannten Gemeinde, Bajtor Hajjelblatt, erklärt in einer 
Zuſchrift an die „Norblivl. Ztg.”, die Anftalt babe den 
Zwed, den Kindern der ärmeren Bevölkerung die Möglichkeit 
zu geben, daß jie wenigitens die für die Annahme zur Kon: 
firmandenlehre nothiwendigen Kenntniffe erlangen, während 
andernfalls viele von den augenblidlih die Anjtalt be: 
ſuchenden Kindern ganz ungejchult blieben, da die Kontrole 
des Schulbejudyes einer jtädtiichen Bevölferung unmöglich ift ; 


I 


ihrem Zweck entſprechend, heiße die Anjtalt „Konfirmanden: 
Vorbereitungs-Anjtalt”. Es jei eine unmwahre Behauptung, 
daß in der Anjtalt, außer in den Religionsfächern, aud in 
anderen Unterrichtsgegenjtänden unterrichtet werde. 


23. April. Der Minifter des Innern ertheilt der Zeitung „Ruſſkija Wedomojti“ 


die dritte Berwarnung und verbietet das Erjdeinen des Blattes auf 
jwei Monate. 


24. April. Die Libaufhe Stadtverwaltung Hatte die Gründung 


” 


eines Gemwerbeamtes bejdhlojjen, das nad) dem Muſter der 
in Riga unter der Verwaltung des Gouverneurs Sinowjew 
unbeanjtandet ins Leben gerufenen njtitution organifirt 
werden jollte. Diefer Beſchluß ift von der kurländiſchen 
Souvernementsbehörde für jtädtiiche Angelegenheiten kaſſirt 
und die Kajjation durd den Dirigirenden Senat mit der 
Motivirung bejtätigt worden, daß die Errichtung von Gewerbe: 
ämtern in der Stüdteordnung nicht vorgejehen ſei. Ein 
gleihes Schickſal hat die bez. Beſchlüſſe der Mitauer und 
Windauer Stadtverordneten-Verjammlung betroffen. 

M Die Walkſche Stadtverordnetenverjammlung lehnt die 
vom Kurator beantragte Errichtung einer Nealichule als die 
ſtädtiſchen Mittel überfchreitend ab. 


1. Mai. Sämmtliche Schulmeiſter des Oberpahlenſchen Kirchipiels 


erhielten vom Volksſchulinſpektor die Weiſung, im Sommer 
in Pernau an den Kurſen in der ruſſiſchen Sprache theil— 
zunehmen. Zugleich wurde ihnen befohlen die ruſſiſche 
Gartenbau⸗Zeitſchrift „Plodowodſtwo“ zu abonniren. 

— Der „Riſhſki Weſtnik“ expektorirt ſich über die Anſtellung von 
Balten im Staatsdienſt im baltiſchen Gebiet. Mit Einführung der 
Reformen jei die Regierung oft genöthigt geweien, die Ernennung von 
örtlichen Alteingejejfenen zu Regierungspojten zu vermeiden, weil fid) bei 
diejen in vielen Fällen ein Mangel an Sympathie zur reformirenden 
Thätigfeit der Regierung gezeigt habe und jie nicht eifrig genug ihre 
Anmweilungen haben vollitreden wollen. Würden fie aber nun mit dem: 
jelben Eifer dienen und auf die Anjichten der Regierung eingehen, mie 
die den Stammgebieten des Reiches Entjprofienen, „lo wird natürlich 


niemand etwas gegen ihre Ernennung zu Kegierungsämtern im Lande 
haben.” 


2. Mai. Als Volksichulinipeftoren jollen fortan, wie einige rufjiiche Blätter 


zu berichten wiſſen, nur PBerjonen mit höherer Bildung angejtellt werden, 
an denen jegt fein Mangel mehr jein ſoll. 


— 110 — 


2. Mai. Das Minifterium der Vollsaufflärung hat vorgeichrieben, 


daß Gejuche um Eröffnung von Gewerbeſchulen und technijchen 
Schulen nit mehr von den Kuratoren der Lehrbezirke zu 
enticheiden, jondern an die „Zentralverwaltung des Mini: 
jteriums zu richten find. — Das wird die Eröffnung joldher 
Schulen zweifelsohne erleichtern, und ihre Betätigung vielleicht 
unter ſachlichere Gejichtspunfte rüden. (Balt. Chr. IL, 5.) 


„ Kine griedijch:orthodore Sprengels-Synode beſchloß 
Brojhüren religiöien und hiſtoriſchen Inhalts in ruſſiſcher, 
ehſtniſcher, fettiicher und deutſcher Sprache zum reife von 
1—2 Kop. herauszugeben. Der „Riſhſki Weſtnik“ ſchlägt 
vor, fie mit doppeltem Texte, ruſſiſch und zugleich in einer 
der anderen Spraden zu druden, was „dem immer jtärfer 
fühlbar werdenden Bedürfnig” des Volfes nad) ruffiicher 
Zeftüre zu gute fommen werde. 


„ Die Introduftion des Bajtors in Oppefaln muß unter: 
bleiben. Das in großer Zahl bei der Kirche verjammelte 
Yandvolf hatte zu beiden Zeiten der Kirchenthür Spalier 
gebildet und ließ die zur Feier eintreffenden deutſchen Ein: 
gepfarrten unbehindert in die Kirde. Als jedod Die 
Paſtoren mit dem Stirchenvorjteher und örtliden Kreischef 
an der Epige erjchienen, Schloß ſich das Spalier zu einer 
didhtgedrängten Volksmaſſe zulammen, wodurch zum zweiten 
Dale die kirchliche Introduktion verhindert wurde. (Balt. 
Chr. IL, 101.) 

Pr Das neue Haus der Kinderbewahranitalt „Krippe“ in Riga wird 
durch den Erzbiihof von Kiga und Witau nad griehiidem Ritus und 
darauf durd) eine Nede des Überpajtors Keller eingeweiht. 

£ In den „Peierb. Wedom.“ wird die ‚jrage der vielen Gramina in 
den mittleren Lehranjtalten erörtert. Der Verfajjer des Arıifels äußert 
zum Schluß: „Unter gemijjen beitehenden Bedingungen verliert die 
Prozedur der Eramina jo ſehr ihre raison d’etre, daß jie aufhört ernit 
zu fein.“ 

„ Die Plenarverjammlung des erften und Kaſſations— 
Departements des Senats entſcheidet die Frage betreffend 
das Recht des Minifteriums des Innern, in Gerichtsiachen 
der Stadtverwaltungen mit Kajjationsanträgen an den Senat 
zu gehen, in politivem Sinne. 


— 111 — 


4. Mai. Die Zahl der Unterrichtsftunden in ber ruſſiſchen Sprache 
wird im PBernaufchen Gymnaſium um eine Stunde wöchentlich, 
in der MWerrojhen Stadtichule in der erjten Klaſſe von 8 
auf 11 und in der zweiten von 6 auf 8 Stunden wöchentlich 
erhöht. 
> Die Violfhe Gemeinde im MWejenbergichen Kreije 
beichloß die Eröffnung einer zweiflajjigen minijteriellen Schule. 
Die örtliche Preſſe fonjtatirt, daß die Bauergemeinden in letzter Zeit 
häufig über die Errichtung minijterieller Vollsſchulen verhandeln. (Balt. 
Ghr. II, 14.) 


”„ „ Der Senat hatte am 30. März (Zirk. d. Rig. Lehrbez. 
Ar. 5, herausgeg. 9. Juli 1898) die Klage des Stadthauptes 
von Goldingen Armin Adolphi gegen die Verfügung des 
Minijters der Volksaufllärung betreffend die Wiedereröffnung 
der ſtädtiſchen Töchterſchule in Soldingen dahin entichieden, 
daß die Klage ohne Folgen zu laſſen jei, weil die Stadt 
laut Senatsulas vom 29. Nov. 1897 verpflichtet Sei, die 
Schule zu unterhalten, die nur in Folge fünjtliher Maß— 
regeln der Stadtverwaltung geſchloſſen worden ſei. Daraufhin 
beichließt die Stadtverordnetenverjammlung dem Miniſter die 
Bitte zu unterbreiten, die Stadt vom Unterhalt der jeche: 
flajjigen Töchterſchule ſo lange zu befreien, bis in Goldingen 
wieder ein öffentliches oder privates Gymnaſium eröffnet 
worden ijt, und zugleich die Bemühungen um die Erlangung 
eines ſolchen fortzujegen. 

" "Das bisherige Stadthaupt von Goldingen Armin Adolphi 
wird wiedergewählt. 


4.—6. Dai. [Berihtsverhandlung in Arensburg in Saden 
betr. die Unordnungen in Lümmada.] Der Thatbeitand 
war folgender. Im Oftober 1894 beſchloß die Gemeinde: 
ältejtenverfammlung von Lümmada auf Dejel um die Er- 
richtung einer zweiflajjigen minijteriellen Volksſchule zu bitten, 
indem fie ji) dabei verpflichtete den Bau und den Unterhalt 
ber Schule auf Gemeindefoften zu übernehmen, wenn Die 
Regierung eine jährliche Unterftügung von 1000 Rbl. gewähre. 
Lepteres, ſowie die unentgeltliche Ueberlaſſung eines Grund: 
jtüdes und Bau: und Brennholz aus den Kronswäldern 
wurde bewilligt. Die bejiglojen Bauern jollten nun das 


— 112 — 


Holz fällen, die Gefindewirthe es anführen. Allmählich 
erregte der projeftirte Schulbau Unwillen unter den Bauern 
und als die Gemeindedeputirtenverfammlung jeden Geſinde— 
wirth zu verpflichten beichloß, je drei Balken aus dem Walde 
zum Bauplag anzuführen, reichten die Einwohner dreier 
Dörfer am 7. Mär; 1896 dem Gemeindeältejten eine 
Kollektivanzeige ein, in der fie jih von jeder Theilnahme 
am Schulbau losjagten. In Folge deilen murden bie 
Arbeiten auf ihre Kojten von gemietheten Leuten ausgeführt. 
Aber die Beitreibung dieſer fih allmählih anhäufenden 
Gelder verurſachte Schwierigkeiten, denn die Bauern leijteten 
gewöhnlich hartnädigen Widerjtand. Der mit der Beitreibung 
im Dorfe Auftel beauftragte Bauerfommijjar mußte ſchließlich 
den Kreischef um Beijtand erſuchen. Am 23. Auguſt 1897 
begab ſich daher der Kreischef perjönlid mit einer Begleitung 
von ca. 30 Mann ins Dorf Aujtel, deſſen Einwohner jedod) 
mit Steinwürfen und Flintenſchüſſen offenen Widerftand 
leilteten, jo daß der Kreischef umzufehren genöthigt war. 
Das Gericht verurtheilte nun von den Angeflagten ſechs 
als Anjtifter der Unruhen und Rädelsführer und zwar vier 
von ihnen zur Entziehung aller Rechte und Abgabe in 
Arrejtantenabtheilungen auf 2 reip. 1 Jahr und zwei zur 
Gefängnikhaft auf ein Jahr; zehn weitere Angeklagte 
männlichen und weiblihen Gejchlehts zu dreimonatlicher 
Sefängnißhaft, reſp. zu Arrejt von einer Woche bis zu zwei 
Dionaten. Zwei wurden freigeiproden. Die Vertheidigung 
hatte hervorgehoben, daß die Bauern ſich wirklich in der 
drüdenditen Lage befänden, jo daß die Aufbringung der 
rücjtändigen Abgaben, ca. 10 Nbl., für fie fait ans Un— 
mögliche grenze. (Balt. Chr. IL, 3.) 


6. Mai. Die „Sakala“ jchreibt (Nr. 18): „Der örtliche Kirchen: 
fonvent wählte am 21. April den Adjunften der Peters: 
burger Johannisgemeinde, Herrn G. Nofenberg, mit einer 
Diajorität von drei Stimmen zum Paſtor von Groß-St. 
Sohannis. „Seht, jo etwas ijt die uns angebotene ehſtniſch— 
deutiche Freundjichaft! In die Numpelfammer mit ihr, die 
ihre Zeit ausgelebt hat!“ 


— 113 — 


7. April. Der Souverneur von Livland richtet an die Bauer: 


fommillare ein Jirkularichreiben (Livl. Gouv.:Ztg. Nr. 49), 
in dem es beißt: „Bei der Durdficht von Sachen in den 
verichiedenen Behörden wird es jehr häufig bemerft, daß 
die livländifchen Bauern orthodorer Konfejlion in den ihnen 
aus den Gemeindeverwaltungen ausgelieferten Dokumenten, 
ebenjo wie in den Gemeindeverzeichnifien mit Namen bezeichnet 
werden, die in der orthodoren Kirche überhaupt nicht eriftiren. 
Es ermweilt ih, daß der ihnen bei der Taufe oder ihrem 
Hebertritt zur orthodoren Kirche gegebene Name in den 
Semeindeverzeichniiien oft in Anpaſſung an die Namen, Die 
bei den örtlichen lutherischen Bauern gebräudlid find, ab- 
geändert wird. So wird Mlerander unter dem Namen 
„Ado“ angeichrieben, jtatt „Gawril's“ jchreibt man „Karl“, 
ftatt „Georgi“ „Jurri“ u. ſ. w.“ Daher beauftragt der 
Gouverneur die Bauerfommijlare, Maßregeln zur Bejeitigung 
einer ſolchen Unordnung zu ergreifen. 


„ Der „Rufifi Weſtnik“ bringt eine ausführliche Abhandlung 
über das Yandespräjtandenwejen und die Yandichaftsverfaffung 
der Dftieeprovinzen, die ſich unter Nichtberüdjichtigung der 
Brojhüre des Gouverneurs Sinowjew über dafjelbe Thema 
auf Angaben eines ſ. 3. nah Ehſtland „ablommandirten 
Tſchinowniks“ Rutſchenko jtügt. Der anonyme Verfaſſer 
gelangt zum Schluß, daß eine alljtändiiche Semjtwo in den 
Djtjeeprovinzen nicht eingeführt werden könne, weil es jeiner 
Anjiht nad) an dem Material dazu, den jelbjtändigen Yand- 
ftänden, dort völlig fehle. Höchſtens im Gouvernement Kur: 
land, wo die Bolitifajterei auf dem Gebiete der öfonomilchen 
Landesverwaltung fremd jei (in Kurland gilt die Landes— 
präjtandenordnung von 1851), fünne ohne Gefahr die all: 
ſtändiſche Landichaftsverfaifung eingeführt werden, Livland 
und Ehjtland aber müßten dur die Schule einer jtreng 
geihäftsmäßigen Kandichaftsverwaltung gehen, die ji) freihält 
von aller Tendenziofität, um es fid) abzugewöhnen, in den 
Sragen der Xandeswirthichaft den erjten Pla nicht den 
Bedürfnijien der Mehrzahl der Steuerzahler, jondern den 
Velleitäten der allem Ruſſiſchen feindlichen Kaſte einzuräumen, 


— 114 — 


8. Mai. Der Minijter des Innern geftattet das Wiederericheinen des im 


Februar fijtirten „Niſhegorodſti Liſtok“. 


8. Mai. Bei einer Gerichtsverhandlung in Jurjew (Dorpat) 


” 


erklärt der Vorfigende, daß er auf Grund einer Zirkular: 
vorihrift bei Vereidigung der Zeugen die Berlejung der 
Eidesformel nur in ruſſiſcher Sprache gejtatten könne, worauf 
gebotenen Falls der Translateur fie in die örtlihe Sprache 
zu überjegen habe. 

— In ruſſiſchen Blättern findet eine Polemik über die Rechte der 
Preſſe ſtatt. Der „Weſtn. Jewr.“ hatte geäußert: „Da der Schriftiteller: 
verband das Recht erhalten bat, in den auf die litterarifche Thätigkeit 
bezüglicden Angelegenheiten bei der Regierung zu petitioniren, jo fann er 
nicht anders, als dieſes Redt ausnugen, um ben Berjud zu maden, 
den auf der Prefie lajtenden Drud zu verringern.” Cine allgemeine 
Revifion der Preßgeſetzgebung wird gerade deshalb für nothwendig 
gehalten, weil dieſe Geſezggebung der Preſſe fein einziges Recht giebt, 
das nicht dur einen Alt adminijtrativen Gutdünfens paralyjirt oder 
beieitigt werden fönnte.“ Die Preſſe muB deshalb „die Freiheit nicht 
ald ein Monopol, nit als ein Privilegium, fondern als cin Recht 
wünſchen und erjtreben.“ Die „Most. Wed.” verwahren ſich gegen Die 
Infinuation, daß jie mit der Lage unſerer Prefje zufrieden wären, vers 
fteigen fi dagegen aber zu der Behauptung, daß feinesiwegs die Lage 
irgend eines bejonderen Organs oder der ganzen Prefie überhaupt mit 
dem Worte „Drud“ bezeichnet werden dürfe. Wenn der „Wejtn. Jewr.“ 
und der „Schriftitellerverband” einen Rechts zuſtand der Prefie berbeis 
wünſchten, jo feien diefe Wünſche, folgern die „Most. Wed.“, bei einem 
felbjtherrlichen Regiment unerfüllbar. Ein allgemeines Recht zum Heraus: 
geben und Redigiren von Zeitungen und ZBeitfchriften könne bei uns 
nicht zugelafjen werden. „Leuten, welde ihren geijtigen und fitttlichen 
Qualitäten nad) vorbereitet und fähig find, die redaktionellen Obliegen« 
heiten zum allgemeinen Nugen auszuüben, fann und muß die Freiheit 
des gedrudten Wortes gegeben werden, denn natürlicher Weile fordert 
das gedrudte Wort Freiheit und Unabhängigkeit. Den Leuten aber, 
welche den zur nüglichen Zeitung eines Organs der Preſſe nothwendigen 
BVorbedingungen nicht genügen — muB Diejes völlig verboten werben.“ 
Unter diejer Bedingung fann und muß nad der Anjicht der „Most. Wed.“ 
um Preßfreibeit petitionirt werden. 

» Auf ein bez. Geſuch der Usmaitenihen Gemeinde wird 
ihre evangeliich-lutheriiche Gemeindeihule vom 1. Juli 1898 
ab in eine einflajlige minijterielle Volksſchule verwandelt 
mit einem jährliden Zuſchuß von 226 Nbl. aus den Mitteln 
des DMinifteriums. Es ijt die vierzehnte derartige Schule in 


- 15 — 


Kurland. (Minift. Verfügung v. 27. Jan., Zirfulär für den 
Nig. Lehrbez. Nr. 3.) 


8. Mai. In der erften Klaſſe des Alerandergymnafiums in Reval 


10. 


wird die Zahl ber Unterrichtsftunden in der ruffiichen Sprache 
um eine Stunde wöchentlich vermehrt (Minijt. Verfügung v. 
25. Jan., Zirfular des Rig. Lehrbez. Nr. 3), desgleichen in 
der Vorbereitungsflafle der Realfchule in Jurjew (Dorpat) 
um zwei Stunden. (Minijt. Verf. v. 10. März. Ebenda Nr. 4.) 
»„ Bei der Gemeindeihule in — (? ruffüd Peitteran 
BOLOCTB im Yurjewichen [Dorpater] Kreife) wird eine öffentliche 
Bibliothek eröffnet. (Minilt. Verf. v. 5. Febr., Zirf. des Rig. 
Lehrbez. Nr. 3.) 

„» Der Chef der Kanzlei des Kaiſerlichen Dauptquartiers 
Generalmajor Baron Meyendorff ift zum Kommandanten 
des Kaiferlihen Hauptquartiers ernannt worden. 

»„ Die „Kurl. Goub.Ztg.“ (Nr. 37) theilt mit, daß dieſer 
Tage folgende Privatichulen in Kurland geſchloſſen wurden: 
die jüdifhe von Iſak Schloßberg und die von Senriette 
Berlau in Zabeln, die von Jaunbirs in Paulshafen, die von 


Anna Kleinenberg in Libau. 

— Der „Rühſti Weſtnik“ ſpricht in einem Leitartikel über die 
700:jährige Jubelfeier der Stadt Riga im Jahre 1901. Allerlei Feier— 
lichfeiten würden in Ausjicht genommen, die alle aus der Mitte der 
deutichen Gejellichaft hervorgehen würden. Da erhebe ſich die Frage, ob 
nicht auch die ruſſiſche Gejellichaft in irgend einer Meile am Jubiläum 
der Stadt fich betheiligen müſſe, derart nämlich, dab diele ‚Feier gewiſſer— 
maßen die Summe zöge „der ruffiihen Kulturthätigkeit“ und „ber 
Fortſchritte der ruſſiſchen Sache in unferer Stadt und unferem Gebiet.” 
Wie das zu bemwerfitelligen jei, bleibe allerdings näherer Ueberlegung 
vorbehalten. Doh fkonne das Nubiläum 3. B. vor allem dur eine 
rechtgläubige kirchliche Feier, Gottesdienite, Prozeifionen u. dergl. begangen 
werden. Dem fonnten ſich anschließen Feitvoritellungen im ruffiichen 
Theater, Volfsvoritellungen und »-Borlefungen, Konzerte, Feſtſitzungen der 
Geiellichaft zur Förderung der ruſſiſchen Aufflärung in den baltiichen 
Gouvernements u. f. wm. — Der Redakteur der „Safala”, U. Reet, 
proponirt dagegen „im Namen einiger Chorleiter in der Umgegend 
von Fellin“, ein großes „Trauer-Muſikfeſt“ zu veranitalten „zur 
Erinnerung an die Ankunft Biſchof Bertholds vor 700 Jahren.“ 

" Die Blätter berichten nah dem „Neg.:Anz.”, daß zu Beginn der 
Rarigation dieſes Jahres der Verſuch gemacht wurde, mit einem 125 Fuß 
langen Tampfer eine Fahrt von Jurjew (Dorpat) bi$ nad) Narıwa zu 
machen, der volllommen gelang. 


13. 


13. 


14. 


— 116 — 


. Mai. In Narıva wird Beter Pankow zum Stadthaupt gewählt. 


„ Nach der „Livl. Gouv.Z3tg.“ (Nr. 47) hat der Minijter 
der Landwirthichaft folgende landwirthichaftlihen Vereine 
beitätigt: den Verein für Bienenzucht in Nitau am 26. Febr., 
den landwirthichaftlichen Verein „Emujärw“ in den Kirch: 
Ipielen Randen, Raweledht und Ningen am 26. Febr., den 
Koöfthofichen Molfereiverband am 26. Febr., die landwirth- 
Ihaftlihen Vereine in Lubahn und Laudohn am 15. März. 
" Der Minijter des Innern verbietet den Einzelverfauf der „Peter 
burgifija Wedomoſti.“ 

„ In ihrer legten Sitzung beichloß die orthodore „Bratſtwo“ 
in Libau einen ruſſiſchen Leſeſaal nebjt Bibliothef zu be- 
gründen. Der „Rühifi Weſtnik“ begrüßt dieſen Fortichritt 
„der ruffiichen Kulturſache“ im baltiihen Gebiet und bemerft 
wiederholt, daß das Bedürfnig der örtlichen Bevölferung 
nach ruſſiſcher Lektüre beftändig im Wachſen jei. 

= Der „Riſhſki MWejtnif” weiſt darauf bin, daß Ende 1897 von den 
25,355 Bauergefinden in Livland 20,300 verfauft maren (ſ. unt. 20. Mai) 
und der Haufichilling Dafür, abgelehen von den An: und Abzahlungen 
und der Areditigitemsichuld, im Betrage von ca. 15 Millionen Rbl. durd) 
Obligationen jichergeitellt jei. Er plaidirt unter Zuftimmung der „Rig. 
Rundicau” für Ablöjung diefer Schuld durch die Baueragrarbanf, denn 
diefe Obligationen ſeien ſowohl für die Bauern, wie für die Gutsbefiger 
ſehr drückend. 

„ Die Revalſche Stadtverordneten-Verſammlung vom 22. 
April (Ehſtl. Gouv. Ztg. Nr. 69) beſchließt, durch das 
Stadthaupt eine Klage beim Senat einreichen zu laſſen 
gegen die Entſcheidung der vom ehſtländiſchen Gouverneur 
niedergeſetzten beſonderen Kommiſſion, die den Anſpruch der 
Stadt auf Entſchädigung für den Schaden auf Stadtland, 
den das Militär durch eigenmächtiges Strauchſchneiden ver— 
urſacht, zurückgewieſen hatte. 

„Eitzung der Kommiſſion zur Durchſicht von Projekten 
für neue Eiſenbahnen beim Eiſenbahndepartement.) Es wird 
das Projekt der „Livländischen Zufuhrbahngeſellſchaft“ geprüft, 
die zwei Linien erbauen will: von Walf bis Marienburg 
und von Alt-:Schwaneburg bis Stodmannshof. Die auf 
eigenes Riſiko der örtlihen Gutsbeſitzer aufzubringenden 
Baufoften find auf 3'/. Millionen Rbl. veranjchlagt, welde 


15. 


— 117 — 


Summe durd Emilfion von durch die Krone nicht garantirten 
Aktien (ein Viertel der ganzen Summe) und Obligationen 
realifirt werden fol. Die zu erwartenden Frachten werden 
auf 4! Mill. Pud, die Gefammteinnahme auf ca. Ye Mill. 
Rbl. veranichlagt. Die Kommiſſion fand feinerlei Dindernille 
für die Verwirklichung dieſes Projefts. 


. Mai. In Wefenberg werden die ruffiichen Bolfsvorlefungen 


feierlih eröffnet. Die Stadtverwaltung hat das Unter: 
nehmen durch unentgeltliche Ueberlaſſung eines Lokals ge: 
fördert. 

„ Tuch Verfügung der livländiihen Gouvernements- 
Bauerbehörde vom 20. April (Livländ. Gouv.:Ztg. Nr. 49) 
werden die Verfüllihe und Turfalnfche Gemeinde in eine, 
unter dem Namen llerfülliche, verfchmolzen (B. Chr. 1, 151). 
„ Eine GemeindeälteitenKonferenz (die erjte derartige 
Konferenz), die in Fellin mit Genehmigung des Kreischefs 
zufammentritt, bejchließt, bei der Negierung um die Er: 
tihtung einer Zwangsarbeitsitätte in Fellin für diejenigen 
Gemeindeglieder, die ihre Abgaben nicht bezahlen, zu 
petitioniren. 

„» Die „Rig. Epardial:ztg.” Nr. 10 veröffentlicht die am 
25. April ec. vom Erzbiichof Agathangel von Riga und Mitau 
bejtätigten „Regeln über Einrihtung und Einführung von 
religiös-fittlihen Vorlefungen für das Volt an Sonn: und 
Feiertagen in den Sprengeln der Rigafchen Eparchie.“ Diefe 
Regeln umfaſſen 10 Punkte. Die Erlaubniß zu Wolfe: 
vorlejungen hat der Erzbiihof zu ertheilen. Cie dürfen 
nur in den firchlichen und Schulgebäuden jtattfinden, eventuell 
auch in den minifteriellen Volksſchulen. Ihre Leitung liegt 
in den Händen der Prieſter unter der Kontrole der Pröpſte. 
Zur Vorlefung dürfen nur vom Gelehrten-Komite des Mini— 
jteriums der Volfsaufflärung oder dem Heil. Synod gebilligte 
Werfe gelangen. Dieſe müſſen ohne jegliche Abänderungen 
oder Ergänzungen verlefen werden, Doch dürfen einzelne den 
Hörern nnverjtändliche Worte erklärt werden. Nebelbilder, 
die vornehmlich religiös-fittlihen und hiftoriihen Inhalts 
fein follen, dürfen mündlich erflärt werden, doc ohne alle 
willfürlichen Wbjchweifungen. Als Vorleſer dürfen Die 


- 18 — 


Geiftlihen und die Lehrer und Lehrerinnen der Gemeinde: 
Kirchenſchulen fungiren; von anderen Laien nur ſolche, deren 
Zuverläjfigfeit von der zuftändigen Behörde beftätigt wurde. 
Der Inhalt der Vorlefungen nebft der Anzahl der Bejucher 
muß in ein bejonderes Journal eingetragen werden. Bei 
Verlegung Ddiefer Regeln wird die Fortiegung der Vor: 
lefungen jofort fiftirt. 


15. Mai. Nach dem Nechenichaftsbericht über die rechtgläubigen 


18. 


19. 


19. 


” 


20. 


Landvolfsichulen des baltischen Gebiets für das Jahr 1897 
(Rig. Epardial-Ztg. Nr. 10) balancirten die Ausgaben und 
Einnahmen mit 32,390 Rol. 

„ An Meißenftein lehnt das Stadtamt das Geſuch des 
Inſpektors der jtädtiichen Kronsſchule ab, einen Theil der 
Koften für die Nemonte des Schulgebäudes aus ftädtilchen 
Mitteln zu bewilligen. 

" Der „Zerfown. Weſtn.“ redroduzirt einen im „Internationalen 
theologischen Journal“ veröffentlichten Brief K. PB. Pobedonoſſzew's an 
Profeffor Michaud, betreffend die zufünftige Vereinigung der Kirchen. 
Dem Profeffor hatte aus den Schriften Pobedonoſſzew's geichienen, als 
ob der Synodaloberprofureur an die Möglichkeit einer Vereinigung Der 
Kirchen nicht glaube. Dagegen verwahrt fi Konitantin Petromitich, 
indem er Sagt: „Weit entfernt, an dieſe Möglichkeit nicht zu glauben, 
fehe ich fie in weiter ‚Ferne, wie das gelobte Land.” 

„ Der Reval:Weikenfteinihe Volksſchulinſpektor hat Die 
Verordnung erlaflen, dab das Gehalt der Schulmeijter, 
welches bisher nicht regelmäßig bezahlt worden ift, nicht 
niedriger als 100 Rbl. bemeſſen fein darf, die in drei Raten 
auszuzahlen find. 

„ Die Kuddingiche Gemeinde im Kſp. Marien: Magdalenen 
hat die Errichtung einer minijteriellen Volksſchule beſchloſſen. 
er Der „Graihdanin” erflärt im Gegenjab zur „Nomwoje Wremja” 
wiederholt bei Grörterung der Frage, ob das ruſſiſche Volk verpflegt 
werben oder jich jelbit verpflegen foll, die Inſtitution der Gemeinde jei 
eine Illuſion. Tie Gemeinde werde nichts weniger vermögen, al3 vor 
dem Proletariat zu ſchützen. „Da aber in Folge der Ausmergelung des 
Landes, auf weldem die Illuſion der Gemeinde beruht, die Mißernten 
immer häufiger werden, jo fann man mit Fug und Recht annehmen, 
daß bald eine Zeit eintreten wird, wo ein Jahr, in dem alle getreidelojen 
und arbeitsunfluftigen Bauern umjonjt ernährt werden, für normal gilt.” 
» Der Sinanzminifter und der Minifter des Innern haben 
eine Eubvention von 4300 Rol. als Unterftügung für Die 


— 119 — 


ruffiichen Bibliotheken in Kiew, Shitomir, Grodno, Pologf 
und Jurjew (Dorpat) ausaewirkt. 


20. Mai. Cine Vertheilung der Einnahmen und Ausgaben des Staats nad 


"„ 


Rayons ergiebt, wie aus einer offiziellen Quellen entnommenen Mit: 
theilung der „Nom. Wr.” zu eriehen, folgendes Bild: es bringen an 
direften und indirekten Steuern mehr ein, als fie foiten: 1) Groß: 
Rußland (außer dem St Petersburger Gouvernement) 168,281,000 Rbl. 
oder 3 Nbl. 22 Kop. pro Kopf der Bevölkerung, 2) das Südweitgebiet 
29,470,000 Rbl. reip. 3 Rbl. 8 Kop., 3) die Tifticeprovinzen 5,501,000 
Rbl. reip. 2 Rbl. 30 Kop., 4 Hleinrußland 17,252,000 Abt. reip. 2 Rbl. 
26 Kop., 5) Meihrußland &S41L,000 Rbl. reip. DO Kop. und 6) Neu: 
Rußland mit der Krim 6,206,000 Rbl. reip. 76 Kop. Tagegen bean: 
Ipruchen einen Zuſchuß aus der Staatstafje folgende Gebiete: 1) Das 
Weichjelgebiet 6,560,000 Rbl. reip. 69 Kop., 2) Finland 3,076,000 Rbl. 
rejp. 1 Rbl. 22 Kop., 3) Litthauen 7,698,000 Rbl. reip. 1 RbIl. 62 Kop., 
4) Kaufajus und Transfaipien 10,775,000 Rbl. reip. 1 Rbl. 5 Kop., 
5) Turfeitan 4,875,000 Rbl. reip. 1 Nbl. 27 Kop., 6) MWeitjibirien 
19,773,000 bl. reip. 2 Rbl. 14 Kop., ZI Tftjibirien 24,719,000 Xbl- 
refp. 18 Nbl. 83 Hop. Zu bemerken ijt, daß bier dic Ausgaben für 
das Militär nicht berüdjichtigt zu ſein ſcheinen, ſowie daß die Zoll: und 
andere Einnahmen der Dafenpläge und Grenzorte unter der Einnahme 
der betreffenden Gebiete nicht figuriren. 

„  uUeber den Bauerlandverfauf in Livland publizirt das 
jtatiftiiche Bureau der livländ. Nitterfchaft (in der Düna-tg.) 
folgende Zujammenftellung nad den neuejten Daten. Auf 
dem Feſtlande Yivlands giebt es 25,355 VBauerlandgefinde 
der Privat, Nitterichafts: und Stadtgüter, die 1,231,453 
Dejjätinen umfallen. Von diejen waren bis zum L Januar 
1898: 20,913 Gefinde mit 1,030,566 Deffätinen verkauft 
worden, jo daß zur Zeit bloß 4442 Gefinde mit 200,887 
Dejlätinen unverfauft find. Es find mithin 84° vom 
Arealumfange und fat 83 %o von der Anzahl der Gefinde 
verfauft. In den einzelnen Kreifen jtellt fih das Verhältniß 
wie folgt. Der Anzahl nad) find verkauft: im Rigaſchen Kreije 
74 °/o der Bauerlandgefinde, im Jurjewichen (Dörptichen) 75, 
im MWalfichen 75, im Bernauschen 79, im Wolmarjchen 87, 
im Mendenjchen 88, im Werroſchen 89, im Fellinichen 26. 
In Wirklichkeit iſt aber das Verhältni der verkauften zu 
den unverfauften Gefinden ein erheblich günftigeres; denn 
hier find nur die forroborirten Verkäufe gerechnet, während 
eine nicht geringe Anzahl Verkäufe bereits abgejchloffen, 

IX 









































aber noch nicht zur Korroboration gelangt ift. Unter den 
jenigen Nittergutsbefigern, die nod garnicht oder nur zum 
Theil mit dem Bauerlandverfauf begonnen haben, befinden 
fi vielfach Nutznießer von Fideilommißgütern. Wenngleich 
auch auf folhen Gütern der Bauerlandverfauf rechtlich möglid 
it, fo gilt es doch, dort formelle Schwierigfeiten zu über: 
winden, die den Gang der Ablöjungsoperation verzögern. 
Zu den verfauften 20,913 Banerlandgefinden im Areal: 
umfange von 1,030,566 Deilätinen fommen noch hinzu: 
2774 verfaufte Hofs- und Quotengefinde mit 127,732 
Deflätinen, fo daß fih im Eigenthum der Kleingrundbefiger 
im Ganzen 23,687 Gefinde mit 1,158,298 Deflätinen be: 
finden. Dieje Ziffer giebt bloß die Größe des Eigenthums 
der Kleingrundbeliger an, bezeichnet aber nicht den geſammten 
Kleingrumdbefig. Im deifen Größe veranichaulichen zu können, 
müßte der geſammte bäuerliche Pachtbeſitz binzugerechnet 
werden, was zur Zeit nicht möglich ift, weil neuere Daten 
über die Verpachtung von Dofslandparzellen nicht vorliegen. 
Der Kaufpreis aller Hofs-, Quoten: und Bauerlandgefinde 
beläuft fih auf 771% Millionen Rubel, was durhichnittlich 
67 Rbl. pro Deffätine ausmacht. Hiervon entfallen 69,250,000 
Rbl. aufs Bauerland und 8,250,000 Rbl. auf das Hofs: 
und Quotenland. Für den Thaler Bauerlandes (421,971 
Thaler) find durchſchnittlich 164 Rbl. gezahlt worden. 


21. Mai. Die „Livl. Gouv.“Ztg.“ (Nr. 36) hat eine Verordnung 


veröffentlicht, die weientliche Nenderungen und Formalitäten 
im Betriebe der livländiichen Kirchipielspoft einführt. 

— Nachdem ſchon die „Nordlivl. Ztg.“ auf die Verminderung der Zahl 
deutſcher Erzieherinnen, die bisher unſere Töchterſchulen Rußland geliefert 
haben, als eine nicht gerade beabſichtigte, aber unausbleibliche Wirkung 
der Reorganiſation unſeres Schulweſens hingewieſen hatte (B. Chr. IL, 91), 
zeigt ein Artikel des „Narod“, daß man dieſen Ausfall dort ſchon jetzt 
zu empfinden ſcheint. Er beklagt die nothgedrungene Heranziehung von 
Ausländerinnen, betont, daß der Unterricht in den fremden Sprachen. 
wie er in den meiblihen Inſtituten und Oymnajien betrieben werde, 
nicht die Möglichkeit gewähre, dieje Sprachen auch praftiic zu erlernen, 
und wünſcht für diefen Zweck die Errichtung einer mweibliden höheren 
Epsgialanitalt. An Anfnüpfung an den Artikel des „Narod“ äußert die 
„Rordlivl. tg.“ den frommen Wunſch einer mehr ſachgemäßen Berüd: 
fihtigung der deutichen Sprache im Unterrichtsplan der baltiichen Mädchen: 


— 121 — 


ſchulen und giebt fich ferner die unnütze Mühe auch in der frage nadı 
der Beihaffung fachwiſſenſchaftlich ausgebildeter Lehrer der deutlichen 
Sprache für Rußland vernünftige Vorschläge zu machen. 


23. Mai. Die „Rev. Ztg.“ berichtet über den Seehandel Nevals 


27. 


im Jahre 1897. Darnach betrug der Werth des Gejammt: 
umjaßes 90,132 Mill. Rbl., während der Durchichnitt in 
den legten 18 Jahren von 1880-1897 bloß 74,30, Mill. 
Rbl. betrug. Der Erport beitrug 22,96 Mill. Pud im Werthe von 
33, Mill. Rbl. (dagegen der Durchichnitt 1850 —1897: 13, Mill. Pud 
im Werthe von 18,,, Mill. Abk.) Der Import beitrug 8, Mill. Pud 
im Werthe von 56,, Mill. Rbl. (dagegen der Durchichnitt 1880 — 1897: 
I, Mil. Bud im Werthe von 56,,; Mill. Rbl.; höchſter Stand 1887 
mit 57,4 Mill. Rbl.) 


» Im „Grafhdanin” urtheilt Fürft Meſchtſcherſki über die 
Glieder der ruffiichen Intelligenz. Er nennt fie niedriger 
und schlechter, als fie es irgendwo in Europa wären und 
behauptet, fie bejtänden eigentlih nur aus “Proletariern, 
Die Intelligenz refrutire fih natürlid aus den Studenten 
der ruſſiſchen Univerfitäten. Dieje aber bejtänden, jehr im 
Gegenſatz zu den deutſchen und engliichen Studenten, über: 
wiegend aus ganz urmen “Wroletarierjöhnen (Kyxapknuuu 
CIHKH), die nur durch Unterftügungen leben und jtudiren 
fönnten. Das aber jollte wieder dem Stolz der Armen 
widerjprechen, der ein ſehr achtbares, leider aber in den 
niederen Schichten Rußlands nur felten zu findendes Gefühl 
wäre. Mas käme auch aus Ddiefen Proletarier:Studenten, 
die aus Noth und Sorge zu Allem fähig wären, heraus! 
Im beiten Falle lappige, charakterloſe Perfönlichfeiten, im 
Ichlimmeren ganz nichtsnugige und höchjt bejtechliche Leute. 
(Balt. Chr. I, 49.) 

» In Jakobſtadt werden Sommerkurſe in der ruffiichen 
Sprade für die Lehrer der evangeliſch-lutheriſchen Volks— 
Schulen des Bausfeichen Kreiies angeordnet. Ebenſo in 
Neval, Weißenftein und Arensburg für die Volksſchullehrer 
jener Bezirke. 

„ Situngen des Konvents der livländischen Ritterichaft in 
Riga. Die Beichlüffe betreffen nur Bewilligungen zu Wege: 
reparaturen, Subventionirung der Zeitichrift „Pöllumees“, 
Unterjtügung der von der Mißernte betroffenen Gouver: 
nements 2c. IX* 


N. — 


27. Mat. Die Miniiter des Innern und der Juſtiz, der Verweſer des Mini: 


28. 


29. 


31. 


jteriums der Volfsaufflärung und der Oberprofureur des heiligen Synod 
haben die Verfügung getroffen, die Herausgabe der in Tiflis in armenilcher 
Sprache ericheinenden Zeitung „Ardſagank“ völlig zu verbieten. 

„ Die Gemeinde von Berrift, Kirchipiel Pölwe, hat be 
ſchloſſen, eine zweiflaffige minifterielle Volksſchule zu begründen. 
„ Inm Jurjewer (Dorpater) Kreije find bisher 7 minijterielle 
Volfsichulen eröffnet: in Uddern, Arrohof, Ropkoi, Kerjel, 
Tochelfer (nur für Mädchen), Lohholun und Tichorna. In 
legter Zeit haben auch die Gemeinden von Alt-Kuſthof, 
Ellijtfer, Kawaſt, Kudding (f. 0.) und Koffora die Eröffnung 
folder beichlojjen. 

„ In Weſenberg wird das bisherige Stadthaupt E. Weberg 
wiedergewählt. 

„ Der „MWalgus” erwähnt zur Charakteriftif der ehſtniſchen 
Blätter, daß der „aufrichtige, zum Staat und zum Wolfe 
baltende Geift gegenwärtig in jeder des Volkes Leben be: 
rührenden Sache” ſich zeige. Zuerſt habe er Diele gute 
Wendung beim „Olewik“, der „Sakala“ und dem „Wirma: 
line” bemerkt. In legter Zeit ift auch der „Poſtimees“ 
namentlih in der Agrarfrage, in der er ſich früher fehr 
fill verhielt, dem „Olewik“ und der „Sakala“ nachgefolgt. 
„Bott gebe, daß ein derartig friedliches Streben zum wahr: 
haften Nugen des Staates und des Volkes in den ehjtnijchen 
Blättern fortdauern und feines der tüchtigften ehſtniſchen 
Blätter feine Segel jemals mehr vom baltischen Winde 
ſchwellen liebe.“ 

» Zum GStabtälteften in Baltiihport wird der Kaufmann 
G. Heinrichſon ermwählt. 

„Dem Miniſter-Staatsſekretär von Finland wird auf fein 
Geſuch der Abjchied bewilligt. 

“ Der Minifter des Innern hat der Zeitung „Rufffi Trud“ den ihr 
am 8. Februar entzogenen Einzelverfauf wieder geitattet. Dagegen ift 
den Zeitungen „Birihewija Wedomoſti“ und „Beterb. Gajeta” das Hecht 
des Einzelverfaufs entzogen worden. 


Eröffnung der Oeſelſchen Predigerfynode in Arensburg. 


" 


1. Juni. Die ſchmalſpurige Zufuhrbahn Fellin-Reval wird Allerhöchſt 


bejtätigt. Die Erfte Gejellichaft für Zufuhrbahnen in Livland, 
die Erbauerin der Bahn, erhält in den erjten zehn Betriebs: 


_ 133 — 


jahren aus der Neichsrentei als unverzinsliches Darlehen, 
im erften Jahre 30,000 Rbl. und in jedem folgenden je 
3000 Rbl. weniger, das nad Ablauf von zwölf Jahren durd) 
Emifjion von Ergänzungs:Obligationen zurüdzuerjtatten ift. 


1. Juni. Die Gemeinden Dudershof und Kofenhof im MWolmarjchen 


Kreiſe werden in eine unter dem Namen Sofenhofiche zu: 
jammengezogen. Desgl. die Gemeinden Neu:Laigen und 
Oppefaln unter dem Namen NeuLaitzenſche. Desgl. die 
Gemeinden Meyershof, Jürgenshof und Dubinsfy bei Wenden 
in eine unter dem Namen „Liveniche“ (2? Ingencras). 
(Livl. Gouv.:Ztg. Nr. 62, 63, 64.) 

„ Die Gemeindeverfammlung in Woiſek, Kreis Yellin, 
beichließt, eine zweiklaſſige minijterielle Bolfsfchule, im 
Fellinichen Kreife die erjte, zu gründen. 

r Zur Frage der Namensfalamität äußert fi) der „Poſtimees“ (Balt. 
Chr. IL, 1131: „Nach dem Zirfular des livländiichen Gouverneurs könnte man 
glauben, dab die griechiſch-orthodoxen Ehſten ihre bei der Taufe 
empfangenen Namen willfürli gegen neue umtauſchen oder abändern. 
Mit der Sache verhält es ſich aber etwas anders. Die Namensänderung 
fommt daher, daß die griechiſch-orthodoxen Ehjten die orthodoren Namen 
nicht fennen, jondern die lutheriſchen chitniichen Namen gebrauden, die 
ihre Eltern und Voreltern vor dem Uebergang zur Urthodorie getragen 
haben. Die Eltern, weldye jet ihre Kinder zum orthodoren Priejter zur 
Taufe bringen, verlangen für ihre Kinder die unter den Yutheranern 
üblichen Namen. Der Prieiter aber ijt Anfangs natürlich dagegen und 
wünscht einen orthodoren, ruffiihen Namen; die Eltern aber bejtehen jo 
lange auf ihrem Wunſch, bis der Priejter äußerlid) nachgiebt. So fommt 
es denn, dal der Priejter das Kind Ado tauft, ins Kirchenbuch aber den 
orthodoren Namen (Alerei oder Alerander) einträgt. Der Vater giebt 
num feines Erachtens einen ganz richtigen Namen für die Gemeindelijte 
auf, während doc im Kirchenbuch ein ganz anderer Name verzeichnet ſteht. 
— Die Einnahmen der Tudum:Taljeniden orthodoxen 
„Bratſtwo“ im Jahre 1897 betrugen 2712,16 Rol., die 
Ausgaben 1006,33 Rbl. (Kurl. Gouv.jtg. Nr. 44.) 

”» Die Stadtverordnetenverlfammlung in Walt vom 18. 
April beichloß, in Beantwortung der Korderung des Kurators: 
da es doc unmöglich it, den ganzen Unterhalt einer Krons- 
Nealjchule auf Stadtkojten zu übernehmen, um eine ſolche 
auch nicht weiter zu petitioniren, jondern jtatt deſſen für 
eine private Schule zweiter Ordnung 1350 bl. jährlich zu 
alligniren. 


= 1005 


3. Juni. Der Aurator des kaukaſiſchen Lehrbezirks Janowifi weiſt in der 


„Ruſſtaja Schkola“ auf die mangelhafte Urganijation der ruffiichen 
Univerfitäten hin. Die ruffiihen Studenten hätten nicht die Möglichkeit, 
ji in irgend ein Univerſitätsfach fo recht zu vertiefen. Sie mübten in 
einer Unmenge von Fächern Eramina ablegen, aber mit jedem Fach 
befaßten jie ſich bloß oberflählid. Dadurch würde ihmen wiederum 
überhaupt Cherflädylichkeit für das ganze Leben eingeprägt. Das Nejultat 
aber wäre eine allgemein bemerfbare Unfähigkeit des rufjiihen Studenten 
zu jelbitändiger wilfenichaftlicher Arbeit. — Auch die „Nomoje Wremja“ 
fonitatirt, da Die rufjiichen Umiverfitäten nicht den Charafter einer 
Universitas litterarum haben. Hierin liege die Grundurſache der wifien: 
ſchaftlichen Schwäche unjerer Univerfitäten und ihrer Armuth an Spezialiiten 
für die verfchiedenen Zweige des Wifjens. Die Univerjität ſei zur Ber: 
leiherin von Patenten auf das Hecht der einen oder anderen Karriere, 
vorzüglich aber des Staatsdienites, geworden. Dieje Vejonderheit unjerer 
Univerjitäten jei ſogar recht kraß ausgedrüdt in jeinem Privileg, durch 
welches der Empfänger eines Univerjitäts:Diploms gleichzeitig das Hecht 
auf die 10. oder 12. Rangklaſſe beim Eintritt in den Dienſt erwirbt; 
aljo das Abjolviren der Umiverjität werde gewifjermaßen dem Staatsdienit 
angepaßt und als eine Art Verdienit angeichen. 

a Die Stadtverordnetenverjammlung von Reval beſchließt 
die Einführung der ojteuropäiichen Zeit als Normalzeit vom 
1. Januar 1899 an. 

ri Die furländiihe Gouvernementsbehörde für ſtädtiſche 
Angelegenheiten hatte den Antrag geitellt, die Herren €. 
Dielville, Präſes des Viitaufchen Stadt-Schulfollegiums, ſowie 
vereid. Nechtsanwalt J. Schiemann, Glied eben diejer Be: 
hörde, wegen ihrer Thätigfeit bei Gelegenheit der Um— 
wandlung der jtädtiihen St. Trinitatis-Töchterſchule in ein 
Mädchen-Gymnaſium dem Gericht zu übergeben. Nachdem die 
Stadt über dieje Verfügung beim Eenat Klage geführt, zog 
fih die Sache einige Jahre hin. Nunmehr hat der Senat 
entichieden, die obengenannte Verfügung der Gouvernements- 
behörde für ftädtiiche Angelegenheiten aufzuheben, da Glieder 
des Stadtichulfollegiums nicht Beamte ſeien, mithin aud) 
nicht nad) Maßgabe der auf Dienftvergehen bezüglichen Be- 
jiimmungen dem Gericht übergeben werden könnten. 

» In der zweiten Sigung des Landwirthichaftlichen Konjeils 
wurde die Frage, ob das neue Geſetz über die Annahme 
von Feldarbeitern die Bedeutung eines für ganz Rußland 
giltigen Geſetzes erhalten jolle mit 11 gegen 8 Stimmen 


— 125 — 


bejaht, dabei jedoch feitgejtellt, daß es ſich auf die Oſtſee— 
provinzen (ſowie das Zarthum Polen) nicht zu erjtrecden brauche. 


5. Juni. Bei der ftaatlihen Nepartitions-Steuer von den Gilden: 


Etabliffements nimmt Livland die fünfte Stelle unter allen 
Souvernements und Gebieten des Neiches ein, indem es 
200,000 Rbl. pro 1898 für diefen Zwed aufzubringen hat 
und nur von den Gouvernements Moskau, St. Petersburg, 
Cherſſon (Odeſſa) und Warſchau in Bezug auf die Höhe 
der Steuerfumme überragt wird. Faßt man die drei fleinen 
Ditjeeprovinzen zulammen — Surland hat 75,500 Rbl. und 
Ehitland 25,000 Rbl. zu verjteuern — jo rüden die Ditiee- 
provinzen an die dritte Stelle, indem fie mit ihren 282,500 
Rbl. Nepartitionsjteuer auch das Gouvernement Cherjion 
(256,750 Rbl.) überflügeln. Da der gejammte Betrag der 
Repartitionsfteuer von den Gilden-Etablifjements fi pro 
1898 auf 5,627,400 Rbl. beläuft, haben die Ojftieeprovinzen 
rund den 20. Theil des Gejammtbetrages beizujteuern. 
Außerdem haben Ne nichtgildiichen Etablijjements an Nepar: 
titiong-Steuer zu prältiren: in Livland 30,000 Rbl., in 
Kurland 16,000 Rbl. und in Ehitland 5500 Rol.; endlid) 
fteuern zur Nepartitions:Steuer bei die zu Alzifer- Zahlungen 
verpflichteten Fabriken und Anjtalten: in Livland 33,200 
Rbl., in Kurland 10,900 Rol. und in Ehjtland 24,100 Nbl. 
» Der Nedafteur des „Olewik“, Grenzjtein, jtellt ein 
„Programm“ feines Blattes auf. Nah Meinung des 
Grenzitein, ftehen dem ehitniihen Volt im Streben nad) 
feinem zufünftigen Wohlergehen drei Wege offen: die ehſtniſch— 
deutiche Freundfchaft, die nationale Entwidelung der Ehjten 
und endlich die Befolgung der Weifungen der Regierung. 
Der erjte Weg führt nad feiner Anficht in den Sumpf, 
der zweite zu einem jchredlichen Konflikt, der dritte zum 
Voltswohl. — Bon den 24 Programmpunften lautet jehr 
gut der 11.: „Erweiterung des Horizontes des gebildeten 
Theils der ehſtniſchen Bevölkerung.” 

r Nah dem „Nechenichaftsbericht des Vereins zur Be: 
fämpfung der Zepra in Kurland für das Jahr 1897” betrug 
die Einnahme 10,377,05, die Ausgabe 6845,17. Das Ver: 
mögen 12715,75 Kop. 


. 


8. 


9. 


— 16 — 


7. Juni. Auf Anjuchen des Vereins für Ausbildung taubjtummer 


Kinder der evangeliich-Iutheriihen Gemeinden Livlands wird 
mit Genehmigung des Minifters des Innern für die Taub- 
jftummenanftalt in Wolmar ein Hauspaſtor, Cand. Karl 
Wehmann, angejtellt und vom Generaljuperintendenten ordinirt. 
u Der Erzbifchof Agathangel von Niga und Mitau weiht 
in Neval die Sloden für die neue orthodore Alexander-Newſti 
Kathedrale ein. 

u In Riga beginnen die Eommerfurje in der ruffiichen 
Sprache (nebſt Methodik und Didaktif) für die Lehrer der 
evangelijch = [utherifchen WBolfsjchulen des Rigaſchen und 
Wendenjchen Nayons. 

” Rigas Import zur See hat ſich vom Jahre 1895 von 
30,747,310 bl. auf 42,081,397 Rbl. im Jahre 1896 
gehoben; der Erport zur See bat fi um den unbedeutenden 
Betrag von etwa 500,000 Rol. vermindert, er beträgt rund 
64,890,000 Rbl. (Beitrag z. Statijtif des Rig. Dandels im 
J. 1896, Th. 1.) * 

— Zur Frage der projeftirten lettiſchehſtniſchen Profeſſuren 
an der theologischen Fakultät berichtet der „Prib. Liſtok.“ 
Nachdem die Fakultät, mit alleiniger Ausnahme des Pro— 
feſſors Kwaczala ſich gegen das Projelt ausgeſprochen, jei 
die Angelegenheit an das Miniſterium der Volksaufklärung 
gelangt. Dieſes habe ſich mit dem Miniſterium des Innern 
in Relation gelegt und letzteres habe ein Gutachten des 
evangeliich:lutheriichen General: Konfiftoriums eingefordert, 
welches jich gleichfalls und zwar entjchieden gegen die lettijch- 
ehſtniſchen Profeſſuren ausgeſprochen habe. Das General: 
Konfitorium habe erklärt, daß durch die Kreirung der pro: 
jeftirten ‘Brofeffuren weder eine Entlaftung irgend einer der 
bereits bejtehenden Profeſſuren, noch eine zwedmäßigere 
Bertheilung des Lehrftoffes oder überhaupt irgend ein Nugen 
erzielt werden würde. Der Gedanke jei feinesivegs einem 
wirklich vorhandenen Bedürfniß entiprungen und die wider 
die Paſtoren deutjcher Abjtammung erhobenen Broteite, welche 
in einigen Fällen zu höchſt beflagenswerthen Kollijionen 
geführt, fänden ihre Erflärung durchaus nicht in der 
ungenügenden Beherrſchung der nationalen Sprade jeitens 


— 127 — 


der betreffenden Prediger, welde die Sprache vollflommen 
beherrichen, Jondern in modernen Strömungen. Der Vortrag 
theologiiher Fächer in den örtlichen Sprachen werde jehr 
Ihwierig jein und richtiger und weit nothwendiger wäre Die 
Errihtung neuer Katheder, als die Errichtung neuer Pro: 
fejluren für bereits beftehende Katheder. Dieſes Gutachten 
des Seneral-Konfiftoriums jei dem Minifterium der Volks— 
aufflärung übermittelt worden, letteres jedoch habe dafjelbe 
als unzulänglid) begründet und wenig überzeugend erachtet 
und jei nunmehr mit der Sammlung weiteren Materials 
in dieſer Angelegenheit bejchäftigt. 


10. Juni. Am 10. Juni jollte in Werro laut Zirfulär des Volks: 


11. 


13. 


Ichulinjpeftors der ruſſiſche Sprachkurſus für Volfsjchullehrer 
beginnen. Da fi aber zur Betheiligung an dem Kurjus 
nur acht Lehrer angemeldet hatten, unterbleibt die Abhaltung 
des Sprachkurſus in diefem Jahre gänzlich). 

— Der im Jahre 1870 eröffnete ehſtniſche landwirth— 
ſchaftliche Verein in der Stadt Pernau hat ſeine Thätigkeit 
eingeſtellt. (Livl. Gouv. ZItg.) 

— Als Stadthaupt von Jakobſtadt iſt Karl Oſterhof wieder— 
gewählt und beſtätigt worden. 

„Der „Walgus“ tritt lebhaft für die Gründung einer 
ehſtniſchen mittleren landwirthichaftlihen Schule ein und 
meint, die deutſchen Kreiſe träten dem entgegen, „weil die 
Intereſſen der Großgrundbeſitzer denen der bäuerlichen Be- 
völferung diametral entgegengejept ſeien.“ „Wir fennen fie 
gut und erwarten von ihnen feine Hilfe, jondern jeßen alle 
unjere Hoffnung auf die Negierung, die immer dem Volfe hilft.“ 
»„ Dem Kommandirenden des Kaiſerlichen Hauptquartiers 
Seneraladjutanten Otto von Nichter wird auf fein Geſuch 
der Abſchied bewilligt. 

— Ein Allerhöchſter Kaiſerlicher Befehl ordnet an, daß den kommerziellen 
Aktien-BVanken und Geſellſchaften gegenſeitigen Kredils geftattet werde, 


Darlehen auf Solawechſel, die durch landwirthſchaftlichen Beſitz ſicher— 
geſtellt ſind, zu ertheilen. 


„ Eröffnung der Ausſtellung des ebfinifehen landwirtb- 
ſchaftlichen Vereins in Jurjew (Dorpat). 

* Der Weißenſteinſche Mäßigkeitsverein ging mit dem Plane um, 
am 14. Juni d. J. in Weißenſtein ein Konzert des Jerwenſchen Kreiſes 


— 18 — 


zu arrangiren. Das Konzert muß unterbleiben, weil der ehitländijche 
Gouverneur die Genehmigung dazu nicht ertheilt hat. 


14. Juni. Das Ilmjärw'ſche orthodore Kirchipiel (Kreis Jurjew 


" 


[Dorpat]) feiert jein fünfzigjähriges Jubiläum. Es ijt eins 
der an Seelenzahl größten in der ganzen Rigaſchen Eparchie. 
- In einem Artikel „Eine ernjte Angelegenheit” bejprad) 
die „Düna-Ztg.“ die Erjcheinungen, wie fie bei der Oppe— 
kalnſchen Affaire (Balt. Chr. IL, 101) u. a. a. D. zu Tage 
traten. Dagegen erhebt der „Riſhſti Weſtnik“ namentlich in einem 
längeren, „Latyſch“ unterzeichneten, Artikel (Nr. 129—132) 
jeine befannten lügenhaften Anjchuldigungen gegen Die 
deutichen PBaftoren, die allein an allem ſchuld jeien. Die 
Letten und Ehiten hofiten, daß die Negierung ihre Auf: 
merfjamfeit auf die „traurige Lage der lutheriihen Kirch: 
jpiele im Baltiſchen Gebiet” lenken werde. Erjt dann würden 
die Zwijtigfeiten aufhören und „die lutheriihe Kirche nicht 
politiichen Intereſſen, jondern der Religion dienen.“ 

F In der „Eparchial⸗Ztg.“ beſpricht der griechiſch-orthodoxe 
Prieſter Tiſik die Entſtehung und Bedeutung des Kloſters 
zu Püchtitz in Ehſtland, das 1891 dort erbaut wurde, wo 
einſt ein wunderthätiges Bild der Mutter Gottes erſchien. 
„Dieſe Erſcheinung des Bildes der Mutter Gottes auf dem Vüchlitzſchen 
Berge gehört jener entlegenen Zeit an, als im Baltiſchen Gebiet Die 
Deutſchen herrichten, die die Nechtgläubigen unterdrüdten, ihre Kirchen 
jeritörten und verbrannten und fie felbit fogar marterten, 3. B. im 
Embad) den Priejter Iſidor und 72 feiner Pfarrfinder ertränften (Balt. 
Chr. II, 52). Die Ericheinung der Mutter Gotted wurde zuerjt einem 
ehitniichen Dirten zu theil, dann erbauten die Rufien dort eine Kapelle, 
und jpäter in Syreneß eine Kirche, in der das Bild jeit 1818 aufbewahrt 
wurde und ſich bald auch jeine Wunderthätigfeit herausitellte. 1885 
wurde das Püchtitzſche Kirchipiel gegründet und bald auf Betreiben des 
ehitländiichen Gouverneurs Schadowiloi das Kloſter. Diefer gewann den 
Püchtitzſchen Mutter-Gottes:Berg jo lieb, dab er dort begraben jein wollte. 
Das iſt dann auch geſchehen. „So ericheint Püchtig als Bindeglied 
zwiichen zwei Nationen, die bier im Oſten Ehitlands wohnen. Unter 
dem Schatten der früheren Kapelle, jetzt des Klofterd geht der Prozeß 
des Zuſammenwachſens in ein Ganzes des ſlawiſchen und finntichen 
Stammes vor ſich unter dem Schutze der Orthodorie, wie er fih aud 
in den übrigen Theilen unjerer Deimath vollzogen bat.“ Daher bat das 
Püchtitzſche Nonnen-Klojter eine große hiftoriiche Aufgabe. „Wenn die 
örtliche Bevölferung im Kloiter die Heiligkeit des Lebens, die Chrbarkeit, 


— 19 — 


die Arbeit, das Gebet, die chriſtliche Wohlthätigkeit und den Gottesdienit 
jehen wird, dann wird jie von ſelbſt fommen, um im Klojter geiftlichen 
Troſt und Frieden zu ſuchen.“ 

15. Juni. In Reval wird vom Paſtor Helle ein ehitnischer 
Jünglings-Verein nad dem Muſter des bereits beftehenden 
deutichen Sünglings-VBereins gegründet. 

— — Der „Riſhſki Weſtnik“ konſtatirt, daß in letter Zeit die deutſchen 
Gutsbefiger in Folge von Meinungsverichiedenheiten häufig fid) vom 
Präjidium in den ehſtniſchen landwirthichaftlichen Bereinen losjagen, das 
ihnen, „als die Predigt von der deutichschitniichen Freundſchaft begann“, 
oftmals übertragen wurde. 

5 Im Ludeſchen KHirdipiel in Livland werden Sommer: 
Kurfe in der ruſſiſchen Sprade und Pädagogik für die Volfs- 
ichullehrer eröffnet und für die praftiichen Mebungen dazu 
eine zweiklaſſige Muſterſchule. 

„„ Inder „Eparchial-Ztg.“ erörtert der griechiſch-orthodore 
Prieſter Poska die Einwände gegen die konfeſſionelle niedere 
Volksſchule und gelangt zu dem Reſultat, daß alle dieſe 
Einwände hinfällig jeien und die Fonfejlionelle Volksschule 
den Vorzug vor der nichtkonfeffionellen verdiene. 

10.—16. Juni. [Ehitländijche Provinzialfynode in Reval.) Die 
meilten Gegenitände der Verhandlungen betrafen wiljen- 
Ichaftliche oder rein vreligiöje Nragen. Einen Bericht über 
die jog. Krippen, Aſyle, die zur Aufnahme Eleiner Kinder 
während der Arbeit der Eltern dienen, ftattete Paſtor Rall— 
Meißenjtein ab. Im Intereſſe der erfolgreichen Wirkſamkeit 
diejer njtitute wäre es erwünjcht, wenn die MWohlthätigfeit 
bei uns zu Lande der Entwidelung diefer Art Fürforge für 
die Bevölferung eine noch erhöhte Aufmerfiamfeit zuwenden 
wollte. — Mit Bezug auf die wandernden Borlejer, Die 
auf geießliher Grundlage auf dem Lande ihre Thätigkeit 
ausüben, wurde in Ausficht genommen, fie zur Armenpflege 
heranzuziehen und als Gehilfen in der Bedienung der Ge: 
meinde zu verwenden. 

17. Juni. Das Miniſterium der VBolfsaufflärung hat dem Rigaſchen 
Lehrbezirke vorgeichrieben, die Führung der Schüler an den 
örtlihen Gymnaſien und Nealichulen während der Sommer: 
ferien unabläffig zu überwachen. In Folge deſſen ift von 
dem Lehrbezirt an den Rigajchen Strand einer der Rigaſchen 


— 180 — 


Pädagogen abdelegirt worden, dem die Aufgabe zu Theil 
geworden iſt, die Führung der am Strande ſich aufhaltenden 
Schüler zu beaufſichtigen; in gleicher Weiſe ſoll auch die 
Aufſicht über die Führung der Schüler in der Stadt Riga 
verftärtt werden. Namentlid) joll darauf gejehen werden, 
daß fie die vorgejfchriebene Uniform regelmäßig tragen. 


17. Juni. Nah einem im „Post.“ erjtatteten Bericht haben die Sammlungen 


18. 


für ein Dr. Wesfe-Orabdenfmal den ftattlihen Betrag von 1200 Rbl. 
ergeben. 

” In Mitau beſchließt die Stadtverordnetenverfammlung 
auf Antrag des Stadtamtes auf drei Jahre eine jtädtijche 
Volksſchule zu gründen, deren Verwaltung dem Stadtamt 
unter Dinzuziehung des Predigers der ſtädtiſchen lettiſchen 
evangelijch-[utheriichen Gemeinde unterfteht; ferner das vom 
Stadtamt vorgeitellte Projeft der Negeln für die Gründung 
einer evangeliich-lutheriichen jtädtiichen Volksſchule zu ge: 
nehmigen und die erforderlihen Mittel auf drei Jahre zu 
bemwilligen jowie das Stadtamt zu ermächtigen, ſolche Mittel 
für das laufende Jahr 1898 im Betrage von 1000 Rol. 
aus dem jtädtiichen Nejervefapital anzuleihen, und hierzu 
die Genehmigung des Gouverneurs, ſowie die des Kurators 
des Rigaſchen Lehrbezirks zur Eröffnung dieſer ſtädtiſchen Volks— 
ſchule in Grundlage des vom Stadtamte vorgeſtellten Pro: 
jektes zu erwirken. 

J Der Baltiſchen Orthodoxen Bratjtwo hat Frau J. P. 
Leſſnikow eine Spende von 10,000 Rbl. gemacht. Die Zinſen 
dieſer Summe ſollen zur Veröffentlichung von Büchern und 
Broſchüren religiöſen und moraliichen Inhalts in ehſtniſcher 
und fettiicher Sprade verwandt werden. 

2 Die Wejenbergiche Stadtverordnetenverfammlung nimmt 
einftimmig den Antrag auf Einführung der ojteuropäiichen 
Zeit an. 

— Beginn der Arbeit am Bau der Reval-Felliner 
Zufuhrbahn. 

19. Juni. [Beichlüffe des ehſtländiſchen Ritterſchaftlichen 
Ausſchuſſes.) Es wird die Mittheilung des Verweſers des 
Miniſteriums der Volfsaufflärung vom 15. März zur 
Kenntniß genommen, daß es nicht für möglich befunden 


— 131 — 


worden, der Eingabe des Nitterfchaftshauptmannes vom 
29. Oft. 1897 betreffend die Qualifikation der Volksſchul— 
Ichrer Folge zu geben (Balt. Chr. I, 93, 107; IL, 37, 44). 
— Nachdem der ehitländifche Gouverneur im Auftrage des 
Minifteriums des Innern zur Aufklärung der Entjtehung 
des Sechſtels die Bejchlüffe des Landtages vom Jahre 1849 
einverlangt hatte, autorifirt der Nitterichaftlihe Ausschuß 
den Nitterfchaftshauptmann, die Beſchlüſſe des Landtages 
von 1849 fowie des von 1847, weil dieje für das Sechſtel 
bejonders maßgebend find, nebſt einer erläuternden Denkſchrift 
einzujenden (Balt. Ehr. L, 152; IL, 40). — Es wird be- 
Ichlofien, den Antrag des ehitländiichen Gouverneurs, in 
Grundlage des II. Abichnitts des am 16. Febr. c. Allerhöchit 
bejtätigten Neichsrathsgutachtens über die Beltätigung des 
Statuts des Ehjtländiichen Ndeligen Güter-Kreditvereins, über 
die Frage der Ulmgeftaltung reip. Schliefung der Ehftländ. 
Vorſchußkaſſe in Verhandlung zu treten, dem nächjten ordent: 
lihen Yandtage vorzulegen. — Der Nitterichaftshauptmann 
wird autorifirt mit dem Bevollmächtigten des griechiſch— 
orthodoren Konftitoriums den Kauffontraft über die zum 
Bau einer orthodoren Kirche vom ritterfchaftlichen Gute 
Kuimeg abgetretenen fünf Defjätinen abzuſchließen (Balt. 
Chr. II, 90). — In Anlaß der Frage, ob die chitländiiche 
Ritterſchaft fih an der von der livländischen in Aussicht 
genommenen Gründung eines Landhebammeninftituts (Balt. 
Chr. IL, 96) betheiligen jolle, wurde in VBerüdfichtigung des 
in dieſer Dinficht in Ehſtland beitehenden Nothſtandes be: 
ſchloſſen, ein Projekt zu einem bejonderen ehſtländiſchen 
Hebammeninftitut als Vorlage für den nächſten Landtag 
ausarbeiten zu lajlen. 

18. u. 19. Juni. Sitzungen des Kuratoriums der ehſtniſchen 
Aleranderjchule in Oberpahlen zur Berathung über Die 
Einrichtung der Fünftigen ehſtniſchen landwirtbichaftlichen 
Aleranderichule.. Nachdem die Wünſche der landwirth: 
Ihaftlichen Vereine und des Volkes geprüft, wird bejchlojien, 
die Statuten und andere nothwendige Fragen baldmöglichit 
der Staatsregierung zur Bejtätigung vorzuftellen, damit Die 
geplante Aderbaufchule ihre Thätigkeit in Kurzem beginnen 


— 132 — 


fonne. An Spenden find bereits gegen 8000 Rbl. bei- 
jammen und einige hundert Sammelbücher befänden ſich 
noch in den Bänden der SKollefteure. Die Glieder des 
Kuratoriums haben bereits das Gut Wolmarshof bejehen, 
das man von der Regierung für die Alerander:Nderbaujchule 
zu erbitten beabfichtigt. —— Der „Olewit“ plaidirt dafür, die Schule 
in dem drei Werft von Jurjew (Dorpt) am Embad gelegenen Kronsgute 
Timmofer zu eröffnen. 

20. Juni. Den Gütern Wennefer, Baitfer, Ladigfer, Mohrenhof, 
Rachküll, Rocht, Meyris, Poidifer, Helenenhof, Amandus, 
Dttenfüll, Simonis, Tammid, Sall, Koil, Laſſinorm und 
Yamasfüll in Ehitland ift von der Hauptpojtverwaltung Die 
Konzeifion ertheilt worden, fih mit der Station Kaffe 
telephonisch zu verbinden. 

”»  » [$eneralverfammlung des Ehjtländiichen Adeligen Güter: 
freditvereins]. Es wurde beichloiien, die 5"/o Obligationen 
in 4”o zu fonvertiren, und die Kallenverwaltung wurde 
beauftragt, das Konverfionsgeichäft mit einem Banfhauje 
abzufchliefen. Am allmählic ganz zum Zinsfuß von 4° 
überzugehen, wurde beichloiien, nah Durchführung der Kon: 
verfion der 5°0-Obligationen auch die 4/2: prozentigen 
fündbaren landichaftlichen Obligationen und die 41’. ";o- 
Zinſeszins Reverſe durch 4" 0-MWerthe zu erjegen, ferner 
Jämmtlihe neuen Darlehen zu 4 Prozent zu vergeben und 
zugleich Y,2 "/o für den Tilgunsfond und !/s 9% Etatbeitrag 
zu erheben. Darauf wurde ein vom Ninanzminifterium ver: 
langter Liquidationsplan für die bisherigen Bankgeſchäfte 
der KHreditfajle, die nach dem neuen Statut aufhören (Spar: 
falje und Kontoforrent) vorgelegt und in der Form, wie 
er dem Finanzminiſter unterbreitet werden Soll, afzeptirt. 
Ferner wurde ein von dem Verwaltungs: und dem Auffichts- 
rath ausgearbeitetes Tarations-Reglement, das dem Finanz: 
minijter vorzuftellen it, vorgelegt, in welchem die Beſtim— 
mungen über die Beleihbung des Waldes und Klaffinfation 
der Meiden wejentli abgeändert worden find. 

21. uni. Ueber die orthodoren Volksſchulen in den baltiihen Provinzen jchreiben 
die „Most, Wed.“: Agathangel, Biſchof von Kiga und Mitau, ſoll die 
Abjicht haben, den orthodoren Vollksſchulen der drei baltischen Provinzen, 
deren Zuſtand viel zu wünſchen übrig läht, bejondere Aufmerkſamkeit zu 


— 133 — 


widmen. „Diefe Schulen find materiell Schwach verlorgt, brauchen gute 
Räumlichkeiten, Schulmöbel und Lehrutenjilien, gehörig vorgebildete Lehrer 
und endlich die gehörige Aufficht. Zu jeiger Zeit gehören die orthodoren 
Volksſchulen (ſowohl die Kirchipielsichulen, als die Gemeinde: oder Hilfs: 
ſchulen) de jure zum Wirfungsfreife der Bollsichulinipeftoren, werden 
aber thatſächlich nur jelten und oberflählich revidirt, da die Volksſchul— 
Inſpektoren ſich wahriheinlic nicht in die Angelegenheiten eines anderen 
Reſſorts einmiſchen wollen. Das Konjeil für die Angelegenheiten der 
baltischen orthodoren Volksſchulen hat wiederum feine jpeziellen Jnipeftoren 
zu feiner Berfügung und betraut die Blagotichinny (natürlich unentgeltlic)) 
mit der Beauffichtigung der genannten Schulen. Tiefe haben jedoch ſchon 
mit ihren unmittelbaren Angelegenheiten jchr viel zu thun, und man 
fann ſich daher nicht wundern, daß die Blagotichinng nur die Kirdjipiels: 
ſchulen — und auch dieſe nur jelten — beſuchen, in die Gemeindeichulen 
aber beinahe garnicht hineinſehen. Aus diejem Grunde hat Agathangel 
in Anregung gebracht, in der Eparchie die Pojten von Inſpekloren der 
orthodoren Schulen zu Ichaffen, und dieje Frage wird, wie man hoffen 
muß, günftig entichieden werden.” 


22. Juni. Die Rigaſche Stadtverordnetenveriammlung beichließt, 


” 


23. 


das in der Kanzlei des livländiſchen Gouverneurs aus: 
gearbeitete Projekt eines neuen um 122,974 Rol. erhöhten 
Etats der Nigafchen Stadtpolizei nicht zu genehmigen, fondern 
den Antrag des Stadtamts zu bejtätigen, wonach die Mehr: 
foiten des WBolizeietats bloß 87,934 Rbl. betragen würden, 
jo daß der ganze Etat fih auf 281,144 Rol. beläuft. 

„ In Reval wird die III. ehſtländiſche landwirthichaftliche 
Ausjtellung eröffnet. 

“ Die Gagirung der Volksſchul-Inſpektoren, die bisher 
als eine Mppertinenz des Volfsichulweiens zu Laſten der für 
dieſes bejtimmten fommunalen Mittel erfolgte, joll, wie die 
„St. Bet. Wjed.” erfahren haben, gemäß einem, im Mini: 
jterium der Volfsaufflärung ventilirten Projekt, fünftig auf 
Staatsfojten übernommen werden. Dergeltalt würden nicht 
unbeträcdtliche Summen für das Volksſchulweſen frei werden. 
„ Der „Regier. Anz.” (Nr. 132) veröffentlicht das Normal: 
Statut für lofale landwirthichaftliche Vereine. 

»„ Der „Dlewif” und der „Walgus” ergreifen beide das 
Wort in Anlaß einer trefflichen energiichen Antwort des jtell- 
vertretenden Redakteurs der „Düna-Itg.“ K. St. an die Adreſſe 
des „Riſhſki Weſtnik“ in Sachen der lutherischen Zandesfirche. 
Sie ſprechen jih dahin aus, daß es fich bei ſolchen Erjchei: 


—184 — 


nungen, wie in Oppekaln u. ſ. w. keineswegs um Auf— 
hetzereien einiger nationaler Agitatoren handele. Die Wurzeln 
des Uebels lägen tiefer u. ſ. w. 


23. Juni. Der Goldinger lettiihe landwirthichaftlihe Verein ift 


to 
=. 


betätigt worden. 

= Die „Kurl. Gouv. Itg.“ (Nr. 45, 48-—51) veröffentlicht 
ausführliche Daten über die Seemannsichulen in den 
baltijhen Brovinzen. Von den 40 Schulen des Neiches 
entfallen auf Chitland 2 (in Baltifchport und Kasperwiek), 
auf Lioland 4 (in Hainaſch, Riga, Magnushof und Arens: 
burg), auf Kurland 6 (in Felirberg, Libau, Windau, Ton: 
dangen, Lubb Eſſern und Angern), im Ganzen 12. Die 
Ausgaben aller diefer Ecemannsichulen betragen 30,000 Rbl. 
bei einer Sefammtzahl von 600 Schülern. Die meijten von 
ihnen find auf Anſuchen der örtlihen Stadt: und Land: 
fommunen begründet worden. Das überwiegende Kontingent 
der Schüler vefrutirt jich aus den örtlichen Bauern. Der 
Unterricht dauert vom Dftober bis zum April. Die Zahl 
der alljährlich aus diefen Schulen hervorgehenden Schiffer 
und Steuerleute ijt größer als der lofale Bedarf, jo daß 
viele fi) auswärts nach Arbeit umfehen müjlen. 

" Der Miniſter des Innern bat den Einzelverfauf der Rummern der 


„Beterburgifaja Gaſeta“ wieder gejtattet und das Erjcheinen der Zeitung 
„Belfarabez“ auf einen Monat juspendirt. 


5. Juni. Auf Anordnung des Finanzminifteriums wird zur 


Kenntniß gebracht, dal mit dem 1. Juli d. J. das Akzife: 
wejen der Inſel Oeſel aus der Leitung der ehitländifchen 
in die der livländifchen Afziieverwaltung überzugehen hat. 

„ Hünfundzwanzigjähriger Gedenktag des erjten lettiichen 
Sängerfeftes in Riga. 

— Eröffnung der Wendenſchen landwirthſchaftlichen Aus— 
ſtellung. 

— Die „Ruſſkija Wedomoſti“, deren Erſcheinen von der Oberpreß— 
verwaltung auf zwei Monate ſiſtirt war, dürfen wieder erſcheinen. 

r Verhandlung des Friedensrichter: Plenums in Fellin über 
den Borfall in der Kirche zu Oberpahlen am 8. März (Balt. 
Ehr. II, 87). Das Gericht hatte hierbei zu der Kontroverſe 
Etellung zu nehmen, ob der Vorfall, wie die Polizei von 
Anfang an angenommen hatte, als Störung des Gottes: 


185 — 


dienſtes in der Kirche, oder, wie der Unterſuchungsrichter 
die Rechtsanſchauung vertrat, als ein nach dem Friedens— 
richtergeſetz zu beahndender injuriöſer Vorgang gegen den 
Paſtor aufzufaſſen ſei. Das livländiſche Konſiſtorium hatte 
ſich gutachtlich dahin ausgeſprochen, daß nach evangeliſchem 
Grundſatz der Anfang des Gottesdienſtes nicht durch den 
Paſtor, ſondern durch die Gemeinde geſchieht, welche in casu 
das Eingangslied bereits angejtimmt hatte, hiernach habe 
die Polizei ganz Necht gehabt, in dem in der Safrijtei 
erfolgten Ueberfall des Baltors eine Störung des Gottes: 
dienftes zu erbliden. Die Profuratur erklärte fih nun für 
die Auffaflung des Konfiftoriums, während das Gericht für 
angezeigt erachtete, zunächſt noch ein Nechtsgutachten des 
evangeliich-Iutheriichen Generalkonfiitoriums einzuziehen. 


26. Juni. Die Nr. 76 der Geſetzesſammlung veröffentlicht das 


29. 


30. 


neue Reichs-Gewerbeſteuer-Geſetz. 

„ Die Gouvernementsbehörde für Städteſachen in Riga 
rejolvirte, daß der Beichluß der Rigaſchen Stadtverordneten- 
verfammlung vom 26. Diärz 1898, durd welchen der Entwurf 
einer mit der Wferdebahngefellichaft abzujchließenden Ber: 
einbarung, betreffend die Anlage eleftriicher Straßenbahnen, 
beftätigt worden, in der in Art. 86 der Städteordnung 
feftgelegten Ordnung aufzuheben ift. 

„ Zur Frage der Führung der protejtantiichen Kirchenbücher 
in ruſſiſcher Sprache hat eine bejondere bei der Kailerlichen 
Akademie der Willenichaften gebildete und aus den Aka— 
demifern A. N. Weſſelowſti, U. A. Schachmatow und A. 
N. Kunik, dem Privatdozenten der Helſingforſer Univerfität 
Dr. Miftol, dem Paſtor Dr. Hurt und dem Yrivatdozenten 
der Petersburger Univerjität, Wolter, bejtehende Kommiſſion 
ihr Gutachten über die Feftitellung einer einheitlichen und 
regelrechten Führung der protejtantifchen Kirchenbüdher in 
ruffiiher Spradye abgegebeu. Diejes Gutachten ift von der 
Akademie gebilligt und dem Minijtereum des Innern über: 
geben worden. 

— Das ehſtniſche Blatt „Saarlane“ äußert ſich über den bisherigen 
Oeſelſchen, nun nad) Wolmar verießten Bauerkommiſſar Babanow: 
„Beim Volke hatte er ſich allgemeine Achtung erworben, weil er Jeder— 


X 


— 156 — 


mann mwohlwollte. Außerdem war es für das Wolf cine große Er: 
leichterung, dab er mit Jedem ſprechen konnte, ohne daß ein Dolmeticher 
nöthig geweien wäre. Herr Babanoıw beherrichte vollfommen das Ehſtniſche.“ 


1. Juli. Nach dem am 8. Juni d. 3. beftätigten und am 27. Juni 


" 


" 


„ 


publizirten neuen Staats-Sewerbejteuergeieg gehören in den 
baltiichen Provinzen zu den Ortichaften der erjten Steuer: 
klaſſe: Riga, der zweiten: Libau und Nepal, der dritten: 
die Kreile Wejenberg, Weißenjtein, Walf, Wenden, 
Werro, Molmar, Bernau, Niga, Fellin, Jurjemw 
(Dorpat) und die Städte Mindau und Mitau. 

„ Die telegraphiiche Kommunikation zwilchen Arensburg 
und Swalferort it jeit dem 9. Juni durd eine telephonische 
erjegt worden. (Livl. Gouv.:Ztg.) 

* Der neuernannte Dirigirende des Livländiſchen Kameral: 
hofs, Waſſiljew, tritt ſein Amt an. 

Der Miniſter des Innern beſtätigt die Statuten der 
Küſter-Hilfskaſſe des Oeſelſchen Bropitbezirfs. 

* Das am 13. Mai d. 9. beftätigte Normalftatut der 
Konfumvereine wird veröffentlicht. (Kurl. Gouv.:Ztg.) 

Pr Der „Poſtimees“ mweilt darauf bin, daß von der chitniichen Be: 
völferung die ehſtniſchen Straßenangaben auf den Strakenichildern in 
Jurjew (Dorpat) und in Reval empfindlih vermißt würden, weil fie 
dadurch oft zu mweitläufigem Sichdurchfragen genöthigt feien. Der „Revaler 
Beobachter” macht hierzu die Bemerfung, dak die „Ehitl. Gouv.: tg.” vor 
mehreren Jahren eine Beltimmung publizirte, nad) der die Strafen: 
bezeichnungen in drei Sprachen angebradht werden jollten, daß aber nichts: 
deitomweniger diefe Verfügung „in Folge anderer Anordnungen“ nicht zur 
Ausführung gelangt iſt. Der „Rilhifi Weſtnik“ fpricht Dagegen dem 
Wunſche des „Poſtimees“ natürlich jegliche Berechtigung ab. 

„ Die Stadtverordnetenverjammlung in Wefenberg bejchloß 
in ihrer Sitzung vom 18. Juni, in der ftädtiichen Elementar: 
ſchule unentgeltlich einen Raum zur Errichtung einer tempo- 
rären orthodoren Kirche abzutreten. 

„ In Oberpahlen wird auf Anregung des Predigers, ein 
Armenhaus erbaut, in dem die der Hilfe bedürftigiten Armen 
des Gebietes und Fledens Oberpahlen — vor Allem ehitnijche, 
aber auch deutiche Armen — Aufnahme finden jollen. Der 
Bau des Haujes wird dur freiwillige Spenden beftritten, 
zu denen auch die Gutsbeſitzer ihre Beifteuern liefern. 

u Die „Yatw, Awiſes“ weiſen darauf bin, dab ſich der Hausunterridht 
in Zivland legter Zeit in bemerfenswertger Weife zu entwideln begonnen bat. 


6. 


— 137 — 


. Juli. Bei der Theilung der feitherigen Rigafchen Tireltion 


der Molfsichulen in eine livländische und eine furländifche 
wurde der Rigaſche Volfsichuldireftor zum Gliede der fur: 
ländiichen und der Mitaufche zum Gliede der livländiichen 
Schulkommiſſion ernannt. 

— Der Zeitung „Ruſſj“ wird wegen eines von ihr — 
Artikels des Grafen Yeo Tolſtoi „Hunger und nicht Hunger“ eine erſte 
Verwarnung ertheilt. 

* Im Miniſterium der Volksaufklärung wird wiederum 
die Frage einer Verſchärfung der Regierungsaufſicht über die 
Privatlehranſtalten in den Provinzialſtädten angeregt. Vom 
künftigen Lehrjahre an ſollen die Eramina an dieſen Schulen 
in Gegenwart von Lehrern der Kronslehranitalten vorge: 
nommen werden. 


» In Riga langt das neue jtählerne Schwimmdock von 
2350 Tons Tragkraft an. 
„ Die Baltifche Orthodore Bratitwo hat ein Geſchenk von 
9000 Abt. erhalten mit der Bejtimmung, daß von den Zinſen 
alljährlich Volkslefebücher geiftlihen Inhalts in lettiicher und 
ehitnischer Sprache herausgegeben werden. 
» Die beitehenden Kataloge für Volfsbibliothefen werden 
vom Minifterium der Volksaufklärung durch Verzeichniſſe der 
verbotenen Bücher erjeßt werden. 
„ Die Güter Galisburg, Pürfeln, Breslau, Orgishof, 
Puikeln, Podſem, Hochrojen, Daugeln und Alt-Wrangelshof 
in Zivland werden telephonifch miteinander verbunden. 
„ Die Stadtverordneten:VBerfammlung in Arensburg am 
3. Juni beſchloß: 1) bezüglich der Vorlage des livländischen 
Houverneurs über das Statut und den Etat des Arens— 
burgihen Gymnaſiums, den Wunſch zu verlautbaren, daß 
das Stadthaupt oder eine beionders dazu erwählte Perſon 
als Glied dem Schulfollegium zugezählt werde; 2) der 
Dejelihen Orthodoren Bratjtwo auf ihr Geſuch unentgeltlich 
einen Platz zur Erbauung eines Yelepavillons anzumeiien ; 
3) dem Mädchen-Gymnaſium in Nrensburg eine jährliche 
Eubfidie von 750 Rbl. und unentgeltlich ein Lokal im Stadt: 
hauſe zu bemwilligen. 

X* 


— 188 — 


9. Juli. In einem Feuilleton der „Nomwoje Wremja” unter dem Titel „Bei 


fich felbit zu Gaſt“ bejchreibt ein Herr Mordwin feine Eindrüde von 
Riga. Die Kultur, jagt er, ift Hier durchaus nicht bedeutend; die häusliche 
und öffentlide Wohlfahrt ſteht nicht auf der Höhe und das intellektuelle 
Leben ift nicht befonders entwidelt. „Die biefigen Deutichen haben 
teinerlei Grund mit ihrer Kultur vor uns zu prahlen. Verderben fünnen 
wir bier abſolut garnichts, aber viel Gutes könnten wir leicht einführen 
und werden es auch ficher thun.“ Die ruſſiſche Spradye müßte bier die 
weiteſte Verbreitung finden u. ſ. m. 

„ Die Stadtverwaltung von Arensburg hatte die Regeln, nad denen 
vom 1. Juli ab die Hundefteuer erhoben wird, in ruffiiher und ehſtniſcher 
Sprache publizirt. Da die Publifation nicht auch in deuticher Sprache 
erfolgt war und „es doch manche Hundebejiter hier geben wird, die Deutich 
reden”, ficht das „Arensb. Wochenbl.“ ſich veranlaft, die Rublifation 
ihrem wejentlichen Inhalt nad) auch deutich wiederzugeben. 


9. Juli. Die Bauern der Gemeinde MWorrofüll im Fellinſchen 


10. 


Kreife bemühen fi) um die Umwandlung der Gemeindeichule 
in eine zweiklaſſige minijterielle Volksſchule. 

J Die „Nowoſti“ berichten über das griechiſch-orthodoxe 
Schulweſen in den Oſtſeeprovinzen im Jahre 1896/97. Aus 
diefem Bericht iſt erfichtlich, daß es bier im Ganzen 483 
orthodore Schulen gab, von denen 368 auf das livländiiche, 
46 auf das furländiiche und 69 auf das ehitländiiche Gou- 
vernement entfallen. Davon find 194 einflaffige Gemeinde: 
ſchulen, 239 Hilfsichulen (Benomorareasuns), 22 Mädchen: 
ſchulen und 28 zweiklaffige Schulen (in Städten und Fleden). 
„In den Schulen befinden fih 713 Lehrer beiderlei Geſchlechts, 
die 17,434 Kinder unterrichten: 11,230 Knaben und 6204 
Mädchen. Unter den Schülern giebt es 4038 Lutheraner, 
231 Katholifen, 136 Altgläubige, 54 Hebräer und 49 
Baptiſten und andere Seftirer. Im verfloffenen Schuljahre 
beendigten den Schulfurfus 2047 Schüler. In 13 Schulen 
befinden fih Bibliothefen, die Bücher vorzugsmeile fitten- 
befehrenden (mpapoyunteisnaro) Charakters enthalten. In 
der Hapfalfchen, Werrofchen und zwei anderen Gemeinde: 
Ihulen wurden Volfsvorlefungen mit der Vorführung von 
Nebelbildern veranjtaltet, zu denen, außer den Schülern fich 
immer auch eine große Maſſe von Andersgläubigen ver: 
jammelte. Es werden Bücher und Brojhüren gelefen, vor: 
zugsweiſe geiftlichen, hiſtoriſchen und beichreibenden Inhalts. 


— 139 — 


Zum Unterhalt der orthodoren Volksſchulen des baltischen 
Gebiets befommt das Konfeil vom Minijterium der Volks— 
aufflärung 32,190 Rbl. und vom heiligen Synod 10,000 
Rbl., im Ganzen 42,190 bl. jährlid, d. h. durchſchnittlich 
für jede Schule blos 87 Rbl. In diefer unanjehnlichen 
Summe find auch die Gehälter der Lehrer und die Aus: 
gaben zur Miethe eines Schulgebäudes oder zum Unterhalt 
eines eigenen Haufes, für Beheizung, Beleuchtung und viele 
andere Bedürfniſſe mit inbegriffen. Für 87 Rbl. kann man 
freilich nicht einmal einen LZehrer im Jahre unterhalten und 
die Schulen werden daher von Stadtverwaltungen, Privat: 
perjonen, den Prozenten von Dazu geopferten Sapitalien 
u. ſ. mw. unterjtüßt. Der Mangel an Mitteln jchadet dem 
ruſſiſchen Schulweien in unserem Grenzgebiete ſehr: man 
muß Lehrer mit bejchränkftem Bildungszenfus mieten — in 
145 Schulen haben die Lehrer jelbit nur in den Gemeinde: 
ſchulen ihre Bildung erhalten u. ſ. w. In 188 Ortichaften 
des Gebiets werden die Schulen in dumpfen und unge: 
nügenden Miethlotalen untergebradt. Während deſſen find 
die lutheriſchen Schulen des Gebiets faft überall in guter 
Verfallung (mperpaeno oödcraBıensı) und haben bequeme 
und geräumige Lokale. Ein folder Vorzug der lutherischen 
Schulen erregt den Neid der orthodoren Bauern, die nicht 
jelten ihre Kinder in die lutheriichen Schulen abgeben. Aber 
außer den kärglichen materiellen Mitteln ſchadet dem Erfolge 
des orthodoren Schulwejens in unjerem Gebiet nicht wenig 
auch der Mangel einer Vorjchrift betreffs der Verpflichtung 
der orthodoren Kinder im jchulfähigen Alter zum obligatoriichen 
Schulbeſuch, dankt welchem Umftande alljährlich fait der vierte 
Theil diefer Kinder ohne Unterricht bleibt.“ 

11. Juli. Die Blätter melden, es ſei die Erflärung erfolgt, daß 
orthodore Kinder nur in dem Full in die Schulen der Anders: 
gläubigen, d. h. in die lutherischen Gemeindeſchulen Aufnahme 
finden dürfen, wenn der Zehrer an diefer Schule ein Ruſſe 
oder dod) orthodorer Konfeſſion ift. 

J Der „Graſhdanin“ urtheilt über die deutſchen Kirchenſchulen in 


Petersburg, namentlich die Annenſchule und weiſt beſonders auf das 
Band des Vertrauens hin, das alle Schüler mit dem Direktor und den 


12. 


13. 


” 


14. 


15. 


— 140 — 


Lehrern verknüpfte. „Darin beſteht,“ ſchließt der Artikel, „die ganze Kraft 
einer ſolchen Schule und im Fehlen dieſes Vertrauens beſteht der ganze 
Bankerott jo vieler Schulen. 


Juli. Im Badeort Sillamäggi in Ehjtland wird eine neue 


orthodore Kirche eingeweiht. 

5 Eine bejondere Inſpektion für die Schifffahrt auf dem 
‘Beipus wird im Petersburger Kommunifationsbezirf gebildet. 
* Zum Stadthaupt in Windau wird das bisherige Stadt— 
haupt A. Kupffer wiedergewählt. 

„ Die Gründung einer Abteilung der Kaiſerlich-Ruſſiſchen 
Muſikaliſchen Gejellihaft in Riga wird genehmigt. 

— Der „Riſhſki Weſtnik“ weiſt auf die in Polen beabſichtigte Gründung 
einer großen deutichen Bibliothek zum Andenken an Kailer Wilhelm 1., 
die „ein Zentrum des geijtigen Lebens in den öjtlichen Grenzmarken“ 
werden fol. Daran fnüpfi er den Wunſch, daß die zum Andenken an 
Kaiſer Alexander III, der fo viel zur geiltigen Vereinheitlihung des 
baltiichen Gebiets mit dem eich gethan, in Riga projeftirte, aber aus 
irgend welden formalen Gründen aufgeihobene Begründung einer mit 
einem Bolfsauditorium verbundenen rujjiichen öffentlichen Bibliothek, nun 
endlich doch verwirklicht werde. 

en Eine Zuichrift an den „Riſhſti Weſtnik“ betont, daß in den Volls— 
vorlejungen oft ſehr ſchlecht und ausdrudsios vorgelejen werde, jo daß 
man die Zuhörer oft gelangweilt ehe. 

„ Die Sejellihaft zur Befämpfung der Lepra in Livland 
bat von der Krone eine Subfidie von 20,000 Rbl. erhalten 
und den Bau eines weiteren Yeprojoriums auf einem Landjtüd 
des Kronsgutes Earamois im Tarmajtichen Kirchſpiel in 
Angriff genommen. 

- An einem Artikel über die ruffiichen Orenzmarfen in der „Nomwoje 
Wremja“ jagt der Verfajjer, der Philojoph Roſanow: „Die Ruffifizirung 
fann von verichiedener Art fein. Jene „Ruſſifizirungs“-Politik, deren 
Programm die „Moſk. Wed.“ formulirt haben, ijt eigentlich eine Politik 
der Entzichung der nationalen Perlönlichkeit, der Denationalifirung der 
Volksſtämme, feine Politit der univerjellen, nationalen Bereinigung... 
Arm an ruſſiſchem Bewußtſein und ruſſiſchem Gefühl, jelbit „ohne Per: 
lönlicyfeit”, find wir nur bemüht, Anderen ihre Individualität zu nehmen 
und nennen das „Nuffifizirungs- Politik.“ Das Programm Ddiejer Politif 
it im Grunde genommen das der Nepublif Polen, welches wohl in 
Litauen, nicht aber in Klein-Rußland durchgeführt werden konnte, es iſt 
das Programm, deſſen Durchführung Preußen eben gelingt, Oeſterreich 
aber im 11. und 19. Jahrhundert mißlungen iſt. ‘jedenfalls iſt es nicht 
das Programm des Kiewſchen und Moskauſchen Rußland, nit einmal 
das Programm des mweltbeherrich mon Nom.“ Roſanomw ftellt dann feit, 


— 141 — 


dak die Pelten, die Finnen, die Polen, Armenier, Nuthenen, Tichechen 
u. ſ. w. für die Bewahrung ihrer Nationalität einſtänden und legt jich 
ipäter die ‚frage vor, ob ein Necht zum Kampfe gegen die Individualität 
vorliege. Someit das Streben jener Völker auf eine „politiiche Wieder: 
geburt“ hinauslaufe, wäre es nicht zu rechtfertigen, wahr und freudig zu 
begrüßen aber jei es, ſoweit es die Erhaltung der eigenen Kultur, des 
eigenen Glaubens betreffe. „Ah weiß «8, daß meine Gedanken viele 
Protejte hervorrufen werden, id) gebe ja aber fein Programm, fondern 
beinahe eine Träumere. „Daß Rußland nur nicht geipalten werde,“ 
lagen diejenigen, welche es faktiſch im furzfichtiger Weile ſpalten, ich aber 
füge zum politischen Zement auch den moraliihen hinzu: „wenn Du 
Allen dienſt, wird Tir aud) gedient werden.“ — In einem jpäteren 
„Eingelandt”“ der „Rowoje Wremja” wendet fid jodann ein Herr W. 
Si—lo—witich gegen Roſanow's Ausführungen, indem er unter Anderem 
fagt: „Im Dftieegebiete haben wir die Sitten, die Sprache, die Religion 
nicht nur nicht angetaftet, jondern haben ohne Entichuldigungen und 
Knire feinen Schritt thun können.“ 

16. Juli. Veranlaßt durch ein Geſuch des Kurators des Rigaſchen 
Lehrbezirts hat der Miniſter der VBollsaufflärung die Kollegien- 
gelder am Rigaſchen Bolytehnifum für die aus den Oſtſee— 
provinzen jtammenden Studirenden auf 150 Rbol., für Die 
übrigen auf 160 Rol. jährlich erhöht. 

19. „ In Halenpoth findet die Grundjteinlegung einer griechiich- 
orthodoren Kirche jtatt. 

un In Kerjel wird die neuerbaute griechiſch orthodore Kirche 
eingeweiht. 

21. „ Gerichtliche Verhandlung in Walf vor der 11. Kriminal- 
abtheilung des Rigaſchen Bezirfsgerichts gegen die Unruhe: 
jtifter in Oppefaln (Balt. Chr. IL, 110). Der Brofureur 
bezeichnet namentlich zwei von ihnen als eriwiejene Rädels— 
führer der ganzen bereits vorher verabredeten Widerjtands- 
bewegung und empfiehlt fie in Anbetracht deſſen, daß fie 
„ungebildete Leute aus dem Volke” jeien, dem milden Urtheil 
der Richter. Zwölf von ihnen werden zum Arreſt auf 
der Bolizeiwache auf einen Monat, einer auf 10 Tage ver: 
urtheilt, drei werden freigeſprochen. 

— 5 Nach einem Aufſatz im „Herold“ über die landwirth— 
ſchaftliche Bildung der baltischen Kleingrundbejiger werden bie 
Djtjeeprovinzen binnen Kurzem über fünf landwirtbichaftliche 
Schulen, davon vier im lettiihen Theil, verfügen. 


— 12 — 


21. Juli. Nach den vom Departement für Handel und Manufaktur 


herausgegebenen „WDtaterialien zur Handels- und Gewerbe: 
jtatiftif” beftanden im Jahre 1885 in den Oſtſeeprovinzen 
4126 gildiſche und 8977 nichtgildiſche geichäftlihe Unter— 
nehmungen, die einen Geljammtumjag von 257,760,000 Rbl. 
mit einem Gewinn von 11,017,000 Rbl. hatten. Im 
Jahre 1895 dagegen 5769 gildifche und 9162 nichtgildijche 
Sejchäfte, deren Geſammtumſatz 522,927,000 bl. und 
Gewinn 19,379,000 Rbl. betrug. Das heißt in 10 Jahren 
hat fi) der Umjag um 265,197,000 Rbl., der erzielte Gewinn 
um 8,300,000 Rbl. vergrößert. Davon entfällt auf Kurland 
ein Umjag von rund 136, Mill. und ein Gewinn von 9,5 
Dil. Rbl.; auf Livland ein Umjag von 360, Mill. und 
ein Gewinn von 8 Diill. Rbl.; auf Chitland ein Umſatz 
von 33,, Mill. und ein Gewinn von 1,647,000 Rbl. 

a Tie Wr. 87 der Geſetzſammlung enthält das am 
2. Juni Allerhöchſt bejtätigte Neichsrathsgutachten über Die 
Bedingungen für das Meiterbejtehen des evangeliſch-lutheriſchen 
Volfsichullehrer: Seminars zu Irmlau in Sturland. Dieje 
bejtehen im wejentlihen in Folgendem: Das auf Kojten 
der furländiichen Nitterichaft unterhaltene Seminar iſt un- 
mittelbar dem Kurator des Nigaihen Lehrbezirks unterftellt 
und alle Lehrgegenftände, mit Ausnahme der Neligion evan— 
gelifch:tutheriichen Bekenntniſſes, der lettiichen und deutjchen 
Spradie werden von nun an rujfüch gelehrt. Das Seminar 
und ebenjo die bei demjelben für die praftiichen Uebungen 
der Zöglinge im Unterrichten bejtehende zweikaſſige Elementar- 
ichule, jtehen unter der unmittelbaren Verwaltung des 
Seminardireftors, der in jeinem Amt beftätigt und vom Dienjt 
entlajlen wird durch das Minifterium der Vollsaufflärung, 
während die wirthichaftlihe Verwaltung des Eeminars einem 
bejonderen Kuratorium übertragen iſt, deſſen Präfidium der 
jeweilige Xandesbevollmächtigte von Kurland einnimmt. 
Diejem Kuratorium jteht das Recht zu, Kandidaten für das 
Amt eines Direftors der Anjtalt aus den Perſonen evan- 
geliſch-lutheriſchen Befenntniffes, die eine höhere Bildung er: 
halten Haben, ſowie der willenjchaftlihen und Epradjlehrer, 
ebenfalls aus Perſonen deffelben Bekenntniſſes und Bildungs: 


— 148 — 


grades vorzuſtellen, welche letzteren (d. h. die Lehrer) in ihren 
Aemtern beſtätigt und vom Dienſt entlaſſen werden durch 
den Kurator des Rigaſchen Lehrbezirks. Der Direktor der 
bei dem Seminar beſtehenden zweiklaſſigen Elementarſchule, 
der vom Kuratorium gewählt wird, wird vom furländiichen 
Volksſchulinſpektor amtlich bejtätigt reſp. entlaflen. Der 
Ehrenfurator des Eeminars wird vom kurländiſchen Landtag 
auf drei Jahre gewählt und in feinem Amte vom Miinifter 
der Volfsaufflärung beftätigt. Die Abjolventen des Ce: 
minars erhalten den Namen eines Volfsichullchrers, genießen 
jedoch feine Nechte in Bezug auf den Zivildienjt, während 
fie in Bezug auf die Ableiftung der Wehrpflicht den Ab— 
folventen der Lehranſtalt zweiter Kategorie gleichgejtellt 
werden. Als Zwed der Anjtalt wird noch jpeziell genannt 
die theoretiiche und praftiihe Ausbildung von Lehrern, 
welche Schulen leiten und in ihnen im Geifte des chriftlichen 
Slaubens und der Sittlichfeit unterichten fünnen und ebenfo 
fähig find, falls erforderlich, die Cbliegenheiten der Küjter 
und Organijten in den lutherischen Kirchen auszuüben. (cf. 
Balt. Dion. 1898, Bd. XLV, ©. 245 ff.) 


23. Juli. Nach dem offiziellen Organ der Kaiferlih Ruffiichen 


Sefellichaft zur Rettung auf dem Waſſer haben in diejem 
Fahre fünf Bezirfsverwaltungen dieſer Geſellſchaft: die Liv- 
ländiſche, Kurländiſche und Chitländiiche, die Archangeliche 
und Nifolajewiche das Jubiläum ihres 25- jährigen Beftchens 
feiern fünnen. Am meijten habe fich die Liobländiſche durch 
die große Zahl ihrer Stationen und ihren ausgezeichneten 
Zuſtand hervorgethan. Diele erhielt daher die große goldene 
Medaille der GSejellichaft zuerkannt. 

* Der „Sſwet“ hatte ſich in einem Artikel über die Proteſtanten 
folgende Sätze auszuſprechen erdreiſtet: „Die in der letzten Zeit von „prote— 
ſtantiſchen Paſtoren“ unternommene Deutung der Heiligen Schrift, welche 
das Chriſtentihum zu einer modernen philoſophiſchen Lehre degradirt, iſt 
nicht nur ein religiöfes, fondern aud) ein politiiches Werk. Das beweiit 
die offenbare Betheiligung der „protejtantiichen Welt“ — dieler chrijtlichen 
Vhilojophen, die mit den Juden gern Hand in Hand gehen — mit der 
Treyfuß-Affaire in Frankreich. Wir Rufien haben in unferen deutichen 
Sutheranern, in den Stundilten und Toljtojanern, in Zufunft gleichfalls 
ſolche Feinde der Staatsordnung.” Tem tritt in einer längeren Er: 
widerung der ruſſiſche Publiziſt Wladimir Holmſtröm in den „Peter: 


— 144 — 


burgifija Wedomojti” entgegen, in der es von dem befannten Redakteur 
des „Sſwet“, Komarow, heiht: „Ihn, Komarow, kümmere nicht das 
religiöje Gewiſſen und die Gefühle der von ihm Beleidigten, ihm iſt 
Nichts heilig — nicht einmal die eigene Neligion, da er ſich jonit fürchten 
würde, als Antwort eine gleiche Beleidigung feiner Religion zu hören. 
Er adter den fremden Glauben nicht, iſt alfo nicht im Stande zu 
begreifen, welchen Plat die Religion im Leben des Menſchen einnimmt 
nnd wie theuer jie ihm iſt, und indem er den Fremdgläubigen beleidigt, 
liefert er den Beweis dafür, wie formell er ſich zu feinem eigenen Glauben 
befennt. Ihn, Komarow, kümmert Rußland nicht, weldyes als eine ganze 
Welt von verichiedenartigen Intereſſen erſcheint. Die Publiziften einer 
ſolchen Kategorie find nicht im Stande, dieje Intereſſen mit dem gemein: 
ſamen ‚deal auf dem Wege zur harmoniſchen Entwidelung in Einklang 
zu bringen. Ihn kümmert nicht der Staat, deſſen Diener er in ihren 
heiligiten Gefühlen, in ihrer Neligion, beleidigt, die er „Feinde der 
Staatsordnung“ zu nennen wagt.“ 

24. Juli. Im Hapſalſchen Kreiſe haben fih mehrere Gemeinden 
auf Initiative des Bauerkommiſſars entichlichen müſſen, 
zweiklaſſige minijterielle Volksſchulen zu eröffnen. 

235. . Der „Riſhſti Weſtnik“ glaubt fonftatiren zu fünnen, daß in ver: 
ichiedenen Gegenden die Yandbevölferung „ſich micht nur in die neuen 
Reformen eingelebt hat, ſondern auch troß der mandherlei feindieligen 
Intriguen immer mehr von Sympathie für die neue Ordnung der Dinge 
durchdrungen wird.‘ 

6. „ In Wejenberg wird der Grumdjtein zu einer neuen 
griechijch-orthodoren Kirche gelegt. 

”„ „Als Meltefter der Stadt Baltiichport wird T. O. Fabian 
bejtätigt. 

2. u Die „Most. Wedom.“ äußert ihre Befriedigung darüber, daß Die 
Scyulreform in den Djtieeprovinzen danf dem energiichen und konſequenten 
Borgehen der Leiter überaus erfolgreich durchgeführt worden jei. Man könne 
jet mit gutem Grunde jagen: die baltiiche Schule jei eine ruſſiſche Schule. 

= — Der „Riſhſti Weſtnik“ beklagt, dab ruſſiſche Elemente in den 
fommerziellen und indultriellen Unternehmungen Rigas jo wenig hervor: 
treten; man verlange von ihnen die Beherrichung der deutichen Sprache. 
Dagegen muß nah dem Vorſchlage des Blattes jo vorgegangen werden, 
dab man den Fabrikanten, Banquiers, Aktiengeſellſchaflen, Komptoiren, 
Agenturen und dem Börſenkomité von jtaatswegen befiehlt, das Ruſſiſche 
als Geſchäfts- und Storreipondenzipradde nicht nur im Berfehr mit 
Hegierungsinftitutionen, wie bisher, ſondern überhaupt anzuwenden. 


29, „ Die Organifirung einer livländifchen Gejellichaft zur 
Regulirung der livländiichen Dauptflußläufe wird beftätigt. 
— — Die Petersburger Eparchialobrigkeit hat die Statuten 


30 


" 


— 


— 146 — 


einer Petersburger orthodoren ehſtniſchen Brüderſchaft auf 
den Namen des heil. Miärtyrers Iſidor von Jurjew (Dorpat) 
betätigt (Balt. Chr. IL, 52). Ihre erſte Verſammlung bielt 
die Bratjtwo am 28. Juni ab. 


. Juli. Der Negierungsanzeiger veröffentlicht die am 29. Mai 


erfolgte Allerhöchite Bejtätigung der kurländiſchen Gejellichaft 
zur Erridtung von Sorreftionsanftalten und landwirth: 
Ihaftlidhen Kolonien für Minderjährige. 

R Das ehſtniſche lutheriiche Blatt „Riſti rahwa pühapäewa 
leht“ (Chriftl. Sonntagsblatt) berichtet über die Abficht, in 
Goldenbeck in Ehitland eine zweiklaſſige minifterielle Volks— 
ſchule zu gründen, „was jehr nüglich und erwünſcht wäre.” 
— Der „Riſhſti Weſtnik“ erwartet zum Herbſt eine beſonders lebhafte 
Entwidelung der Volfsvorlefungen, die überall „einen enormen Erfolg“ 
gehabt hätten. 


‚ Muguft. Das Komité zur Neubearbeitung des ehjtnijchen 


Sejangbuches hat jeine Arbeiten beendet. 

F Der Miniſter des Innern hat die weitere Drucklegung der von der 
Chriſtlichen Vereinigung für Mäßigkeit und Enthaltſamkeit im Gouvern. 
Kursk herausgegebenen und von der Zenſur gejtatteten Schrift: „Zum 
Schutze der Mäßigfeit und des Lichts“, jowie einiger anderer, gleichfalls 
von der Zenſur geitatteter Volfsichriften verboten. 

„ Die Gemeinden in Alt-Fennern und Neu-Fennern im 
Pernaufchen Kreife haben beſchloſſen je eine zweiklaſſige 
Minifterichule zu eröffnen. Desgleihen die Gemeinde Woiſek 
im Kirchſpiel Klein-St. Johannis. 

„ Mehrfach haben ſich Volfsichullehrer an die Gemeinde- 
verjammlungen mit der Bitte gewandt, ihnen zum Bejuche 
der ruſſiſchen Ferienfurje eine Unterftügung zu bewilligen, 
jedoch fein Gehör gefunden. 

„  Ter Minifter der Landwirthſchaft hat fih mit einem 
Rundſchreiben an die Oouvernements-Adelsmarichälle gewandt, 
in dem er die Hoffnung ausſpricht, dab die Schaffung des 
Normaljtatuts für landwirthichaftliche Vereine das landwirth— 
Ichaftliche Vereinsiwejen Rußlands zu größerer Blüthe bringen 
werde. „Das Beilpiel unjeres baltischen Gebietes,” heißt 
es in dem Schreiben, „beweilt überzeugend, welche großen 
Verdienjte ein weitausgedehntes Ne von Fleineren land: 
wirthichaftlichen Wereinen fih um die Landwirthſchaft eines 


I 


Gebietes erwerben fann. — Im „Grafhdanin“ äußert dazu 
Fürſt Meichticherffi: „Wenn die Gouvernements-Ndelsforpo- 
rationen ebenjo wie in dem baltiichen Gebiet an Leib und 
Seele feltgefügte, ſolidariſche und gleidhgefinnte Gemeinschaften 
mit der Devie „Alle für einen” bildeten, jo hätte das 
Leben jelbit ſchon längit in jedem Gouvernement landwirth— 
Ihaftlihe Vereine geihaften, der Minifter der Landwirthſchaft 
aber würde fie dann nicht erjt ins Leben zu rufen brauden, 
ſondern fie bloß fördern und regeln.“ 

8. Aug. Tie Zeitung „Ruſſj“ Ipendet den ins Pleskauſche übergefiedelten 
Ketten großes Yob, indem fie ihre tüchlige Arbeitiamfeit bervorhebt, mit 
der die dortigen ruſſiſchen Bauern nicht fonfurriren fönnten, „In dieſen 
kleinen beicheidenen Gegenden,“ heilt es weiter, „die am falten baltischen 
Meere liegen, arbeitet man auf einem jehr unfreundlichen Boven hartnädig, 
viel, fonjequent und fröhlid. Sieben oder adıt Völker bewohnen die 
Gejtade der Djtiee... Sie find alle durd eine gemeinjame Kultur, Die 
alte protejtantilche, geeint. Bloß die Sprache unterscheidet den Ehſten 
vom Yetten oder Dänen... Bis auf den heutigen Tag leben dieſe 
winzigen Völker bei ihrer Eigenart jehr wohlhabend; von ihrer Bildung 
wollen wir bier garnicht jprechen. Wie aber auch ihr Lebensgepräge ſei, 
das Nefultat liegt auf der Hand: die baltiihen Provinzen find unjere 
alferfultivirtejten.” (Balt. Chr. II, 138.) 

9. . Die vornehmite ruſſiſche juridiſche Fachzeitſchrift, die „Gerichts: 
zeitung” bringt eine Darjtellung der Vorgänge in Dppefaln (Balt. Chr. 
II, 110), die ſachlich nichts neues bietet und nicht einmal den Verſuch 
macht, eine fahmwifjenichaftliche Erklärung darüber zu geben, weshalb vom 
urtheilenden Gericht die betreffende „offene Auflehnung gegen die von der 
Regierung eingelegten Gewalten“ nicht unter dem entſprechenden Art. 273 
des Strafgeſetzbuches, auf den die Klage ſich berief, jubjumirt, jondern 
bloß nach Artitel 33 des Friedensrichterreglements als „Unfug an einem 
öffentlichen Orte“ aufgefaßt und demgemäß bejtraft worden war. Haupt: 
ſächlich befaßt der Artikel fi mit unbegründeten Inveftiven gegen den 
frügeren verjtorbenen Pajtor von Oppekaln, Bruno Treu. — Kine Be- 
jprehung des Artifels in der „St. Petersb. Itg.“ weiſt die Anjchuldi- 
gungen zurüd und wundert ji, daß „ein ſolches Gewäld ohne irgend 
welchen Anſtand Aufnahme in den Spalten eines Fachblattes gefunden 
hat.” „Eine Kritit des gerichtlichen Urtheils in Saden des beflagens: 
werthen Oppekalnſchen Kirchenifandals zu geben,“ jagt der Berfaffer zum 
Schluß, „beabjihtige ich nicht. Mir kam es bloß darauf an, einen 
jurijtiichjournaliftiihen Wechielbalg als jolhen gebührend zu kennzeichnen 
und zugleid das Andenken eines verjtorbenen Ehrenmannes vor leicht: 
fertiger Berunglimpfung zu ſchützen.“ 


10. Aug. Von Tudum nah Windau (Entfernung 104 Werft) ift 


— 147 — 


längs der Bahnlinie eine Telephonverbindung hergeftellt, die 
aber erſt nad Eröffnung der Bahn allgemeinem Gebraud) 
zugänglich; gemacht werden wird. 


10. Aug. Die Libauer Lofalabtheilung der Kaiferlih ruſſiſchen 


13: 


techniſchen Gefellfchaft hat die Erlaubnik erhalten, Abend: 
und Sonntagsfurfe im Zeichnen und in der Clementar- 
arithmetif für erwachſene Arbeiter und Handwerker einzus 
richten. 

— Ein Artikel der „Nordlivl. Ztg.“ beſpricht abermals (B. Chr. IL, 120) 
den drohenden Mangel an einheimiſchen Lehrkräften und die bemerkbar 
werdende Zerſetzung der Mutterſprache, die er neben den veränderten 
Univerſitätsverhältniſſen auch auf den Verluſt idealen Strebens auf dem 
Gebiete der Wiſſenſchaft und der Erziehung zurückführen will. — Der 
„Riſhſti Weſtnik“ erklärt dagegen den Rückgang der Lehrerzahl aus 
baltiichen Kreifen einfah aus dem Umftande, daß die baltiichen Lehrer 
fich früher pefuniär viel beffer gejtanden, da ſie immer verjtanden hätten, 
ſich unrechtmäßige Nebeneinkünfte zu verichaffen. 

» Die zweiklaffigen minilteriellen Volfsichulen hatten bisher 
fein geregeltes Programm für den Iutheriichen Neligions- 
unterriht. Das ehitländische evang.-tutheriiche Konftjtorium 
hat daher zur Ausarbeitung eines ſolchen eine beiondere 
Kommilfion konſtituirt. 

— Der „Walgus“ führt die angeblich zum Herbſt bevorſtehende 
Schließung einer Schule in Maeks im Kirchſpiel Koſch in Ehſtland wider 
befjeres Wiffen lediglih auf den Umſtand zurüd, daß „der Gutsbeſitzer 
für nothmwendig erachtet habe, das Schulgebäude zur Knechtswohnung zu 
machen.” 

„» Die Einnahmen und Ausgaben der Stadt Neval im 
Jahre 1897 balancirten mit 452,560 Rbl. 57 Kop. 


„ Der Verwejer des Unterrichtsminifteriums Hat für den 
Moskauer Lehrbezirt neue Beſtimmungen über die Klajjen- 
verfegungen der Schüler ohne Examen auf die Dauer der 
nächjten drei Jahre genehmigt. Danad) wird der Lehrer: 
fonferenz anheimgejtellt, diejenigen Schüler, welche im Durd): 
jchnitt in jedem Unterrichtsfad nicht weniger als eine Drei 
und in drei Hauptfähern (Ruſſiſch, Lateiniſch und Griechiſch) 
nicht weniger als eine Vier im Jahre erhalten haben, ohne 
Eramen zu verjegen. Damit ift man hier, wenn auch einſt— 
weilen nur temporär, auf ein Syitem zurüdgelommen, das 
lange Zeit 3. B. in den Oſtſeeprovinzen Geltung hatte und 


— 18 — 


ſich bewährte, hier aber als gänzlid unbrauchbar aufgehoben 
wurde. 


15. Aug. In Riga wird nad) einem vom Arhimandriten Inno— 


" 


16. 


" 


18. 


19. 


20.— 


fentij geleiteten orthodoren Gottesdienit der Grundjtein zur 
Krons:Branntweins-Kektififations-Niederlage gelegt. 

„ Zum Wolizeimeijter von Riga wird der Bezirkspriftam 
der Moskauer Stadtpolizei Kollegienrath Gertif ernannt. 

„  Gröffnung der IV. Nusitellung des Wiefihen land: 
wirthichaftlihen Vereins in Hapſal. 

„Bei Gelegenheit der Gedenkfeier ihres 250-jährigen 
Beitehens wird in der Kirche zu Talfhof eine neue Orgel 
eingeweiht. 

„ In MWindau findet die Grundfteinlegung des neu zu 
erbauenden Glevators jtatt. 

„ Der Oberprofureur des heil. Synods Konjtantin Petro: 
witich Pobedonoszew erhält mitteljt Allerhöchiten Reſkripts 
den Orden des heil. Andreas des Erjtberufenen. 

„» Der „Negier.:Anzeiger“ (Nr. 177) veröffentlicht die am 
16. Juni erfolgte Beftätigung des Etatuts der Yivländiichen 
Yufuhrbahngefellichaft, wobei die Bedingung gejtellt wurde, 
daß die Erpropriation der Grundjtüde in der Weile erfolge, 
da die Strede zwiſchen Alt-Schwaneburg und Stodmannshof 
jederzeit auf Koſten der Krone aus einer jchmalfpurigen in 
eine breitipurige Bahn verwandelt werden könne. 

„ Die „Deenas Lapa“ weilt darauf hin, dab gegenwärtig 
in Kurland bereits zwölf Bienenzüchtereien bejtehen, von 
welchen jede 30-50 Vtitglieder zählt. 

„Der „Riſhſki Weſtnik“, das Organ der Nigafchen Lehr: 
bezirfsverwaltung, Eonftatirt, daß jest auch Nichtruſſen an: 
fangen Mitglieder der ruſſiſchen gejelligen Vereine in den 
baltiſchen ‘Provinzen zu werden. 

„ In Slemmingshof im Jurjewſchen (Dorpatichen) Kreife 
wird eine zweillajlige minifterielle Mädchen-Volksſchule ein: 
geweiht. Es ift die zweite derartige ehſtniſche Schule; die 
erjte wurde in Karfus im Pernaufchen Kreiſe eröffnet. 


22. Aug. Tagung des X. livländ. Verztetages in Wolmar. 


Allgemeines Intereſſe beanſprucht das Neferat des Präſidenten 
der „Selellichaft zur Bekämpfung der Lepra,” Prof. Dehio; 


— 149 — 


darnach hatte die Sefellichaft im Jahre 1897 eine Einnahme 
von 34,564 Rbl. 86 Kop. und eine Ausgabe von 21,372 
Rbl. 38 Kop. (Balt. Chr. II, 3.) Nach dem auf dem 
legten Landtage gefaßten Beichluß der livländiſchen Ritterſchaft 
werden für jeden zu einer livländiichen Bauergemeinde an— 
geichriebenen Ausſätzigen, welcher in einem der livländijchen 
Leproſorien verpflegt wird, 8 Rbl. monatlicd) aus der Yandes- 
kaſſe gezahlt. Die livländischen Städte haben für die zu 
ihren Steuergemeinden gehörigen Lepröjen dieſelbe Leijtung 
anf fich genommen. Somit find die Bauergemeinden Livlands 
von allen Zahlungen für ihre Lepröfen befreit. — Die bisher 
zwei Dial in Wolmar, vier Dial in Wenden und je ein 
Mal in Walt, AJurjew und Bernau ftattgehabten neun 
Merztetage wurden durdhichnittlih von S6 (Minimum 47, 
Marimum 136) Aerzten befucht und insgefammt haben ſich 
95 Merzte mit Vorträgen an denjelben betheiligt. Davon 
waren aus Jurjew (Dorpat) 28 Vortragende mit 78 Vor: 
trägen, aus Riga 37 Aerzte mit 71 Vorträgen, aus den 
fleinen Städten und vom Yande 15 Aerzte mit 30 Vorträgen. 
Aus Kurland waren 5 Nerzte mit 7, aus Ehſtland ein Arzt 
mit 3, aus St. Petersburg 8 Nerzte mit 16 und aus 
Deutjchland ein Arzt mit zwei Vorträgen vertreten. 


23. Aug. In Friedrichitadt wird eine neuerbaute griechiich:orthodore 


Kirche eingeweiht. 

„» Bernau führt die ofteuropäiiche Zeit ein. 

“ Die Zeitung „Ruſſj“ erhält für ihren Artikel „Bilfeleiftung oder 
drüdende Belaſtung“ die zweite Verwarnung durch den Minifter des Innern. 
„  Ter „Jerfoonyg Weſtnik“ publizivt den Rechenſchafts— 
beriht des Dberprofureurs des heiligen Synods für Die 
Jahre 1894 und 1895. (Den Abjchnitt über die Lage der 
griehiich:orthodoren Kirche in den baltischen Provinzen ſiehe 
im Anhang.) 


19.— 24. Aug. Tagung der Livländiichen Provinzialfynode in 


Bernau. 


24. Aug. Der Miniſter der Volfsaufflärung hat nach den „Zir— 


fulären für den Rigaſchen Lehrbezirk“ die Erklärung erlaſſen, 
dab die Verwaltung aller lutheriſchen Parochialichulen, die 
gemäß dem Allerhöchſten Befehl vom 22. November 1890 
der Leitung des Dlinijteriums der Volksaufklärung unterjtellt 


26. 


150 ⸗ 


worden, unter Anlehnung an das Statut vom 8. Dezember 
1828 eingerichtet werden muß, daß jedoch die erwähnten 
Schulen den Parochialſchulen nach dieſem Statut nicht gleich— 
geſtellt werden können in Bezug auf ihre Rechte und auf 
die Dienſtvorrechte der Lehrer. 


.Aug. Es iſt eine neue nichtoffizielle Ausgabe der „Sammlung 


der Geſetzesbeſtimmungen über die Bauern der baltiſchen Gou— 
vernements“ erſchienen, bearbeitet vom weil. Geheimrath 
B. E. von Neutern, chemaligen (F 7. Febr. 1897) älteren 
Beamten der Kodififationsabtheilung des Reichsraths. 

» Wie mit dem Beginn jeden neuen Lehrjahres in legter 
Zeit Hagt der „Riſhſti Weſtnik“, das Organ der Rigaſchen 
Lehrbezirfsverwaltung, aud) Diesmal wieder über das Studenten 
elend in Jurjew. (Balt. Chr. I, 49). 

„ Die „Beterb. Med.“ fonjtatiren, daß eine außergewöhnlich 
große Zahl ehſtniſcher und lettiicher Schüler in die Lehr— 
anftalten der Nefidenz eintreten. 

»„ Den TDireftoren und Inſpektoren der Volksſchulen iſt 
das Necht zugeftanden worden, im Bedarfsfalle Lehrer der 
Kirchſpiels- und Volksschulen zu Sehilfendienjten heranzuziehen. 
„»  Gedädtnißtag des 25-jährigen Beftehens der Nigaer 
Stadt:Kealichule. 

„ Eröffnung der nordlivländiichen landwirthichaftlichen und 
der V. livländischen Gewerbe:Ausitellung in Jurjew (Dorpat). 
„ Eine Verfammlung der Telephonvereine des Jurjewichen 
(Dorpatichen), Werrojhen und Walkſchen Kreijes beräth über 
die Verbindung der einzelnen Telephonnepe. 

r Der Naturforicher-Kongreß in Kiew hat fi auch mit dem Stande 
der Volksbildung in Rußland beichäftigt. ES finden jich bier immer 
noch unter 1000 Nefruten 639 Analphabsten. (In Deutichland famen 
1895/96 auf 1000 Rekruten 1,,, in Frankreich 55, in Defterreih 281 
in Italien 389 Analphabeten. ) 

„ Einheimifche Blätter fonjtatiren wiederholt den Rückgang 
der Kreisjtädte des baltischen Gebiets in Folge der tief ein: 
greifenden Veränderungen der Rechtsverhältniſſe und des 
Verwaltungswejens. 

„ Die Libaufche orthodore Bratjtwo Hatte im legten Jahre 
eine Einnahme von 2782 Nbl. 3 Kop. und eine Ausgabe 
von 2213 Rbl. 15 Kop. 


Auhaug. 


Aus dem Rechenſchaftsbericht des Oberprokureurs des 
Heiligen Synods K. P. Pobedonoſſzew, für die Jahre 
1894 und 1895. 


Die erleuchtende Thätigkeit der orthodoren Kirche in der 
Nigafchen Epardie begegnet vielen Hemmniſſen und Dindernifjen 
von Seiten der Andersgläubigen, die im baltiihen Gebiet das 
vorherrichende Element bilden. Beſonders viel Schaden fügen der 
orthodoren Kirche die lutherischen Bajtoren zu, die auf alle mögliche 
Weiſe ein feindliches Verhalten zu ihr der örtlichen Bevölkerung 
einzuimpfen juchen. Muf die orthodoren Prieſter ſehen fie mit 
Hab wie auf ihre perſönlichen Feinde. In Kiche und Schule 
juchen die Paſtoren ihr Wort gegen die ihnen verhaßte 
griechiich:orientaliiche Neligion, die fie verächtlich den „ruffiichen 
Slauben” nennen, zu richten. Im Jahre 1894 fam jogar ein 
Fall öffentliher Schmähung des orthodoren Glaubens und der 
Negierung durch einen Paſtor in einer Predigt vor, die er in 
einem Bethaufe hielt. Diejenigen, die ſich der Orthodorie an- 
geichloffen haben, werden von den Bajtoren „Verlorene, die zu 
ewiger Qual verurtheilt Find,“ genannt. In Sonderheit wider: 
jtreben fie den gemifchten Ehen und bedrohen die ſolche Ehen ein: 
gehenden Lutheraner mit jchredlichen Höllenſtrafen. 

Von der Jchädlichen, wenn auch veritedten Wirffamfeit der 
lutheriſchen Paſtoren gegen die Orthodoxie fönnen folgende Ihat: 
jahen Zeugniß ablegen. 

In den Berichtsjahren liefen jehr viele allerunterthänigite 
Geſuche von Perjonen, die ihrer Geburt nad) Orthodore, doc zum 
lutherischen Glauben abgeirrt waren, um die Erlaubniß ein, legteren 
frei befennen zu dürfen. Die Eparcdialobrigfeit, der dieje Bitt- 
Ichriften zur Ausfertigung der in Frage fonmenden Daten und 
zur Beichlußnahme überjandt wurden, jah im Faktum der Eingabe 
folder Bittgefuhe immer den Einfluß und die Aufhegerei der 
lutheriſchen Paſtoren, von denen böswillig im Volke das lügenhafte 
Gerücht ausgejprengt worden, die Regierung werde bald die volle 
Konfeffionsfreiheit einführen. „Am Volt,“ fchreibt ein Prieſter 
an die Rigaſche Eminenz, „hält fid) hartnädig das Gerücht, daß 
es einigen Paſtoren heimlicy erlaubt worden ſei, Anıtshandlungen 
an den Orthodoren zu vollziehen, und daß man jeden Tag die 
offizielle Erlaubniß dazu für alle Bajtoren erwarten müſſe, des: 
gleichen die Erlaubni die Orthodoren dem Lutherthum zuzuführen, 

XI 


fo daß einige Abtrünnige, die in den Schooß der orthodoren Kirche 
jurüdzufehren beabfichtigten, dieſe ihre Abjicht bisher nicht aus: 
geführt haben.“ 

In der legten Zeit haben einige lutheriiche Paſtoren ange: 
fangen zu predigen, daß das Lutherthum und die Orthodorie im 
Wejentlihen ein und daſſelbe wären, daß aber der Weg ber 
Orthodorie ein jehr dornenreicher und jchiwerer jei, auf welchem 
nur Leute mit jtarfer Seele und großer Energie ins Himmelreich 
fommen fönnen, während der Weg des YutherthHums zur Erlöfung 
der allerleichtejte wäre. Ein ſolch' jchlauer Kunjtariff, den die 
PBajtoren anwenden, um zu beweilen, daß zum Uebertritt vom 
Lutherthum zur Orthodorie gar Fein Grund vorhanden wäre, 
erreicht leider häufig feinen Zweck. 

Nicht zufrieden mit der verjtedten Propaganda, laſſen die 
‘Bajtoren vorzugsweife der lutheriichen Gemeinden des Gouvern. 
Yivland nicht jelten auch eine offene Verlegung dev Rechte der 
berrichenden Kirche zu. Indem jie die in der Drthodorie nicht 
genügend befejtigten Perſonen ihrem Einfluß und ihrer Macht 
unterzuordnen juchen, vollziehen fie bei Chen von orthodoren Perfonen, 
die zum Lutherthum abgewichen find, mit Perſonen lutheriſcher 
Konfeſſion die Trauung nad) lutheriichem Ritus, beerdigen orthodere 
Berfonen nad) lutheriichem Ritus und nehmen Orthodore zur Kon 
Hemation an. In ihren der Orthodorie feindlichen Beltrebungen 
finden die lutheriſchen Paſtoren eine jtarfe Unterjtügung unter den 
einflußreichen deutihen Gutsbejigern, die alle möglichen Wiittel 
ausfindig machen, die orthodoren Gemeindeglieder von der Aus: 
übung ihrer religiöien Verpflichtungen abzuhalten. Ueberdies wird 
das Verhalten der lutheriichen Gutsbejiter gegenüber den Ortho— 
doren nicht jelten durdy große Ungerechtigkeit und Parteilichkeit 
gekennzeichnet. So erhebt ein Gutsbefiger mehrere Jahre hindurch 
von den orthodoren bäuerlichen Pächtern für jeden „Thaler“ Landes 
einen Nubel mehr an Bachtzins als von den LYutheranern und 
diefe Zahlung heißt im Munde des Volfes der „Zins für den 
Glauben.“ Es fommt auc oft vor, daß die lutheriichen Grund: 
bejiger und Wirthe es ablehnen, orthodoren Perſonen Yandjtüde 
zu verarrendiren oder ſolche Perſonen in Dienjt zu nehmen. 

Inmitten von Lutheranern und in den meijten Fällen in 
materieller Abhängigkeit von ihnen, jind die orthodoren Gemeinde: 
glieder der Nigafchen Eparchie deren jchädlichem Einfluſſe bejtändig 
unterrvorfen und bedürfen daher einer bejondereu Fürſorge von 
Zeiten der orthodoren Geiſtlichkeit. In Elarer Erfeuntniß der 
geijtlihen Bebürfniife ihrer Gemeinden richten die orthodoren 
Prieſter denn auch alle ihre Bemühungen darauf, dieſe Bedürfnifje 
zu befriedigen.” 

Die Entgegnung des livländ. Generaljuperintendenten hierauf 


(publ. in den „Beterb. Wed.” dd. 15. Oft. ec.) lautet unter Fort: 
lafjung der einleitenden Säge: „Es ijt erjtaunlich, daß jo einfeitige 
Erklärungen einem offiziellen „Rechenſchaftsbericht“ haben zur 
Srundlage dienen fünnen, während es doch befannt ijt, daß die 
orthodore Kirche durch alle mögliden Dlittel der bürgerlichen 
Gewalt geihügt ift und daß ihr dabei die Verpflichtung obliegt, 
die Andersgläubigen zur Orthodorie zu befehren, während die 
anderen Sonfeifionen nicht einmal das Recht haben, das Weſen 
ihrer Glaubenslehren auch nur prinzipiell zu vertheidigen und für 
jold ein Thun ſogar frimineller Verantwortung unterliegen. 
Hiervon legen jowohl das Geſetz, als aud die Praris recht Klar 
Zeugniß ab. 

Dieje Stellung der orthodoren Kirche hat, bejonders in den 
baltiihen Gouvernements, dahin geführt, daß, wie aus dem offi- 
ziellen „Nechenjchaftsbericht” zu erſehen ift, heutzutage von den 
lutherischen Paſtoren verlangt wird, jie jollten die „Feſtigung der 
DOrthodorie im baltischen Gebiet” fürdern, um nidt den Namen 
„teindjeliger Propagandiſten“ zu verdienen. 

Es erjcheint überflüſſig, auf die einzelnen im „Rechenſchafts— 
bericht” beigebracdhten Anschuldigungen näher einzugehen und die 
betreffenden Erklärungen zu widerlegen. Mehrfacd find im Laufe 
der legten Dezennien, namentlid) jeit dem Jahre 1884, den Re— 
gierungsinftitutionen wahrheitsgetreue Auseinanderießungen über 
die interfonfejfionellen VBerhältniiie in den baltiſchen Gouvernements 
unterbreitet worden, deren Publifation ein der Darftellung des 
erwähnten offiziellen „Nechenichaftsberichts“ völlig widerjprechendes 
Bild geben würde. Was der „Hechenichaftsbericht”“ nunmehr 
abermals wiederholt, das ift Schon längit aufgeklärt und widerlegt 
worden, jo 3. B. in dem befannten Bericht des Grafen Bobrinjfi 
vom Jahre 1864, welcher Kaijer Alerander II. unmittelbar vor: 
gelegt wurde und noch jegt jehr bemerfenswerth ijt. 

Es würde nichts nüßen, wenn man die Örundlofigfeit der 
jegt abermals beigebrachten gleichen Anschuldigungen darthun wollte. 
Vorausfichtli würden alle Entgegnungen weder in Betracht ge: 
zogen, noch leidenichaftslos gewürdigt werden. 

Unter dieſen Umjtänden halte ich es für meine Pflicht, 
Namens der Livländiichen evangeliſch-lutheriſchen Predigerichaft 
die aufs Neue und ohne die geringiten Beweile im „Nechenichafts- 
bericht” gegen uns erhobenen Anichuldigungen direkt zurüczumeiien, 
und jtelle die Sache Gott dem Herrn anheim. Er wird zu Seiner 
Zeit das Seufzen derjenigen erhören, die auf Ihn hoffen und die 
Zeit erwarten, wo nit nur im Siwod Sakonow Bd. I, Art. 44, 
jondern in der That aud im rufliihen Neiche Jedem freigeitellt 
fein wird, „unbehindert” demjenigen Slaubensbefenntniß zu folgen, 
zu dem er nach jeinem Gewiſſen gehört, nach dem Beijpiel der 





— 154 — 


am 5. Auguſt 1825 erfolgten Verfügung des Hl. Dirigirenden 
Synods, durch welche bejtimmt wurde: „Da die Eltern der Minna 
Stimer, welche die Schuld daran tragen, daß fie nad) futheriichem 
Befenntniß getauft ift, bereits geitorben find — fo ilt es ihrem, 
der Minna, Gewiſſen anheimzuftellen, ob fie der griechiſch-ruſſiſchen 
Kirche beigezählt werde oder nicht.” 

In dem Bericht des h. Synods ſchließt der Abichnitt über 
die Djtjeeprovinzen mit folgenden Sägen: „Die erleuchtende 
Thätigfeit aller genannten Perſonen und Inititutionen der Staats: 
fire] hat jehr merkliche Reſultate erzielt. Nach dein ZJeugniß des 
Rigaſchen Erzbiſchofs wächſt und gedeiht die Orthodorie im baltiſchen 
Gebiet, fie jenft ihre Wurzel immer tiefer in die Mitte des Volkes 
und bemächtigt ih immer mehr der Geijter und Herzen der 
Bevölkerung. Die geiftlihe Schönheit des orthodoren Gottes: 
dienjtes, die Heiligkeit und innere Wahrheit der orthodoren gottes- 
dienjtlihen Gebräuche wirken faszinirend (neorpasumo) nicht bloß 
auf die orthodoren Semeindeglieder, jondern auch auf die Yutheraner. 
Nach dem Bericht vieler Pröpſte bejuchen die Lutheraner gern den 
orthodoren Gottesdienit und die Sirchenfeierlichkeiten, ehren Die 
orthodoren Feiertage, geben ihre Kinder in die orthodoren Kirchen— 
gemeindejchulen und bringen logar Opfer an Geld oder Diaterialien 
zum Bau von orthodoren Kirchen. Bei der Inſpektion der Eparchie 
durch Seine Eminenz den Erzbilchof begegneten die Lutheraner 
ihm allenthalben gemeinsam mit den Orthodoren, hörten feine 
Heden und Anſprachen an und einige traten an ihn heran, um 
ſich ſegnen zu laljen und empfingen Kreuze und Brojdüren. Es 
iſt erlichtlih, dab das Lutherthum aufhört, das religiöfe Gefühl 
der Ehiten und Leiten, bei denen die Sehnſucht nach einem beijeren 
wahrbaften Glauben und einer bejjeren wahren Kirche erwacht iſt, 
zu befriedigen. Dadurch allein läßt ſich auch der von Jahr zu 
Jahr jteigende Uebertritt von Zutheranern zur Orthodorie erflären. 
In den Berichtsjahren hat die Anzahl der zur Orthodorie über: 
getretenen Lutheraner die jehr anjehnliche Ziffer von 2236 Perſonen 
erreicht. (Sn Jahre 1894 — 1087 und im Jahre 1895 — 1149 
‘Berjonen.) 


Ende des zweiten Baudes der Balt. Chronif. 


Ein Perfonens und Sacıregiiter zum Il. Bande der Chronik wird dem nächſten 
Heft beigefügt werden. 





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