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Full text of "Kinderfruehling [Reiseaugenblicke] novellen .."

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Kinderfruehli.. 




Otto Stoessl 



LIBRARY 
OF 

PRINCETON UNIVERSITY 




\1 




7 




fe;^:^ ^^«^ 



♦ 



cl by Googl 



OTTO STOESSL 
KlNDERFRUEIiLiNG 



BIBLIOTHEK BARD 

l6.-~TJ. Band 



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KliMDERIllUEHLING 



VOK 



OTTO STOESSL 



NOVELLEN 



Umschlagzeichnung und Buchschmuck 
von Heinrich Vogeler-Wtrpsweie 



BERLIN 

BARD, MARQUARDT & CO. 

1904. 



I 



Aili R$ikti vm VerUgtr vorhehalim 



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Kinderfrühling. 




550974 



« 



I 



Fragment aus den Erzählungen eines 

jungen Manne». 

Mein Vater war als Oberförster und Verwalter 
Des imifiingreicheii russischen Kreises Herr Kber ein 
osses Urwaldgebiet gewesen, als ihn die ersten 
eutschenverfblgungen zwangen, tnit seiner jungen 

•au und dem dreijährigen Buben, mit mir, in seine 
eimat Österreich zurückzukehren^ Alle Beziehungen 
Uten, so musste er die erste Stelle, die sich bot, 
inehmen, die eines Dieners bei einer wissenschaft- 
:hen Gesellschaft, trotzdem er zu Besserem befilhigt 

sir. Aber seine Ruhe und Sicherheit, seine Fügsam- 
iit und Gelassenheit machten ihn bald zum Faktotum 
eses Vereins von Geldurten, die ja immer einen 
ann brauchen können, der mit Verstand und Händen 
(greifen kann, wo es not tut Der Verem hatte seinen 
tz in jenem Sammelplatz organisierter Wissenschaft, 
dem dimkelhallenden, hochgewölbten alten Uni* 
^rsitätsgebEude. Dortbekam er senie Dienstwohnung, 
id ich lebte schon als kleiner Junge in der kühlen, 
n bisschen modrigen und doch so berauschenden 
aft dieser Bibliothekzimmer, war unter den endlosen, 
:>cbgestapelten Bücherreihen heimisch und wusste 



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meine Spiele gerade in diesen Räumen voller Ver- 
stecke, gelehrter Schlupfwinkel und wissenschaftlicher 
Schubfächei herrlich einzurichten. Die ganze weh- 
mütige, stille Stimmung des feierlichen, fast ausge- 
storbenen Gebäudes und Platzes, dessen Steine eben 
die tote Geiehrtensprache zu reden scheinen, nahm 
mich früh schon gefangen, dann abends das leise 
Herübertönen der Orgel von der alten Jesuitenkirche 
und das • Schlagen der verwitterten Uhr gegenüber, 
deren Räderwerk man immer knarrend zum rostigen 
Verkünden der Stunden ausholen hörte. Kam da^u 
noch das BUlttem und Lesen in alten grossbändigen 
Reisebüchern^ Atlanten und in grobgedruckten, kleinen 
Indianerbüchem, die dänunernde Erinnerung an das 
Geburtsland, so war eine Abenteuerlust in mir be- 
gründet, die nicht der Feme bedurfte, um einen 
Tummelplatz zu haben. Viele Möglichkeiten gab es 
selbst in diesem stillsten WeltwinkeL So ^d ich 
mich, gerade als ich ins Gymnasium kam, in das 
spannendste Gewirr eines Forschungsdaseins verstrickt 
Ich hatte einen Freund, den Sohn einer Wäscherin, 
der tmbeaufstchtigt, sein Leben in einer HöMe unter- 
halb einer der alten Wienbrücken hinbrachte, wo er 
als Indianerhäuptling seine Friedenspfeife rauchte, 
seine , Schätze sammelte, — Haufen glänzender Perl 
mutterabf älle aus den uferlichen Drecjislereien herab- 
gespült, — und mich und andere befreundete „In- 
dianerstämme'' emphng. Von da unternahmen wir 
grossartige Fischzüge und Quappenfälige in die 
„Wien", Forschungsreisen stromaufwärts und längs 
. des Aiserbachs, als edle Rothäute und vergleichsweise 
recht gesetzt. Die Schule war dabei natürlich eine 

. 4 



Störung und in meinem ersten lateinischen Schulheft 

standen zwei „ganz ungenügend", die ich zwar sorg- 
fältig geheimhielt, ohne jedoch den allgemeinen; 
schlechten Stand der Dinge meinem Vater verbergen 
zu können, der ein wahrer „Gottiiberall" über meinem 
Leben stand. Eines Tages, als wir gerade feierlich 

auf einem Erdhaufen in der Höhle sassen und die 
Friedenspfeifen rauchten, erschien er, wie aus der 
Erde hervorgewachsen, unter uns, iasste mich ruhig 
an der Hand, führte mich schweigend nach Haus, 
ohne auch nur em Wort über mein Treiben weiter 
zu verlieren. Wie man oft über einen Zufall erfreut 
ist, der einen Knoten zerhaut, den unser Ungeschick 
geknüpft bat, war auch ich durch dieses Zwischen- 
treten des Schicksals eigentlich erleichtert. 

Am nächsten Tag Uess er mich mein Bündel 

schnüren und sagte, dass ich zu seinem Freunde, 
dem hochwürdigen Herrn Kooperator bei Mana am 
Gestade kommen soUe. Dort werde ich bis auf 
weiteres in Kost und Wohnung bleiben und in meinen 
Studien überwacht werden. So begann also wieder 
ein neues Abenteuer. Mir war ja natürlich das Leben 
nichts als eme Kette von Erstaunlichkeiten gewesen* 
Und als ich gar die kösdiche, graue Kirche sah und 
das kleine Pfarrhaus dabei, den hochgelegenen, wie 
eine Insel im lebhaften Stadtmeer abgeschlossenen 
alten, engen Platz und den feinen, spitzen Turm, der 
weithin sehen musste, die hohen Fenster, die alten 
Stiegen, die hinanffihrten, da machte ich mich auf 
allerhand Köstliches, Neues ge&sst. 

Der Herr Kooperator, ein Mann etwa in der 
Mitte der dreissiger Jahre, bewohnte zwei Zimmer 

J 



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des Pfarrhauses. Bescheiden und ernst eingerichtet, 
ohne das HerkömmUche zu vermeiden^ hatten sie 

doch etv^as Eigenartiges; das machte wohl die niedere 
Wölbung, die weisse Tünche, der nackte, gut ge- 
sdieuerte Holsboden, die alten Kommoden und aller- 
hand gestickte Decken, Tücher, Behänge, mit denen 
die bescheidenen Ripsmöbel, von weiblichen Pfiunr- 

kindem wohl^ waren geschmückt worden. Ich fand 
aufiiaUiend wenig Dinge, welche an die Religion und 
an den Seelsorgerbenif des Hausherrn erinnerten. 
Ich entsinne mich nur eines braven Stiches nach 
Ra&els Sixtina und eines schwarzen Kreuzes, das 
über seinem Bette hing. Das kleinere der beiden 
Zinuner bekam ich angewiesen. Ein Tisch mit grosser 
Lade stand beim Fenster. Um fUnf Uhr früh trat 
der geistUche Herr, vollständig angekleidet, glatt 
rasiert vor mein Bett, weckte mich. Dann musste 
ich geschwind aufstehen, mich waschen, meine Kleider 
und Schuhe, putzen, mich anziehen und von der nahen 
üiGlchmeierei unsere Frühstttckmilch und zwei StCicke 
Brot holen. Hierauf frühstückten wir zusammen und 
dann nahm er mich vor, fragte mich aus nach allen 
meinen Aufgaben. So wurde es Zeit zur Schule . . . 
Sicher und gestärkt ging ich hin und kam hungrig 
zu Mittag zurUck. Das Mittagessen nahm der P&rrer 
in einem kleinen Gasthaus in der Nähe der Kirche 
ein, im Honoratiorenzimmer mit einigen Lehrern, 
Beamten und alten Männern, ich hatte einen kleinen 
Tisch in. der: Schenke fUr mich| wo ich für zwanzig 
Kreuzer täglich mein einfaches, gesundes Essen bekam. 
Sah ich durch die Glaswand wie der Plarrer dhn zahlte, 
so musste ich gesdiwind aufbrechen und vorangehen. 

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u 

Denn Venn er nach Hanie kam, miu^ ich betieki 

zurück sein. Und dann ging wieder das Lernen an. 

£r prüfte mich, besserte alle schhftiichen Arbeiten 
aus und wiedeiliolte alles solange mit mir, bis es 
fest sass und ich mich im redlichen Wissen ruhig 
und leicht fühlte. So war es meist fiinf oder sechs 

XJhr geworden, dann erhob er sich . . . Und aus 

dem rtthigeui ernsten, als Lehrer immer vom kleinen 
Burschen entfernten Mann wurde nun em fireundhdieri 

heiterer. Er hatte jetzt ordentlich ein anderes Gesicht, 
^ab mich ganz frei und Hess mich fort, wohin ich 
mochte, oder er ging auch mit mir, oder ich blieb 
zu Hause, indes er seine Gänge machte. So wurde 
es bald Abend, wo ich mir um ein Sechseil Nacht- 
essen kaufte. Er hatte in seinem Wirtshaus seine 
Tisch- und SpidgeseUschaft und verbheb da ziemlich 
lange, so dass ich längst schon zu Bette lag und 
scUief, wenn er nach Hause kam. 

Geraume Zeit lebten wir so zweisam für uns 
hin und doch spürte ich niemals Langeweile oder 
Unbehagen. Nie hatte ich das Gefühl, der Mann 
sei mir fremd oder herrisch. Die gute körperliche 
und geistige Zucht gab mir jene richtige Anspannung 
aller Kräfte, die so nötig und wohltuend ist, die 
den ganzen Menschen leiblich und seelisch stärkt, 
«icher, munter, siegreich macht, des Tages jede 
Faser seyies Wesens übt und endlich abends ihn 
mit der gesundesten Müdigkeit dem berriicbsten 

Schlaf überlässt. 

Wenn er nachmittags fortging, empfahl er mir 
noch die kleinen Schachteln mit bunten Hefligen- 
bildchen der besondem Obhut. Er war nämlich 

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Katechet ' an der Mädchenschule und sammelte 
Marken, wie es üblich ist, zur Befreiung von Heiden- 
Idndem und m allerhand exotisden Bekehrungen. 
Die Schulmädchen pflegten ihm nun ihre Marken- 
vorräte zu bringen, wofür er ihnen je nach Grösse 
und Wert der Sammlung grössere oder Ueinere, ein- 
fachere oder buntere Heiligenbiidchen mit frommen 
Bibelsprüchen schenkte, glühende Herzen von Pfeilen 
durchbohrt, die Mutter Gottes auf goldenem Grund^ 
Engel in Wolken, das Vaterunser in farbigen Lettern 
u. dgL Eine besonders verschlossene und sortierte 
Gattung von Bildchen aber hiess er mich aufsparen 
für die Veronika. Wie ich später erfuhr, war diese 
kleine Veronika das Kind einer besonders glaubeus- 
eifrigen Frau seines f £ursprengels und darum der 
besondere Schützling meines Lehrers. 

Eines Abends, als er wieder fort war, kam die 
Veronika. Ein zehnjähriges, blondes Kind . • . „Ist 
der hochwürdige Herr zu Haus?'* . . . „Nein*' , . , 
^Wirklich nicht?** . . . „Nein « * • sag ich dir I** . . . 
„Was möchtest du denn „Ich möcht ihm Marken 
bringen*^ • • • „So gib's halt mir . . . ich werd*s ihm 
schon geben**. • • • „Nem, ... das mag ich nicht**. 
— Sie hatte zu meiner EhrUchkeit offenbar kein Zu- 
trauen. ^ „Ich geb dir aber was Schönes** ... Sie 
schwieg erst und zögerte. Dann: „Was gibst mir 
denn?** . . . „Heiligenbilder** . . . „Was denn für 
welche?** . . . „Schöne** ... Sie stand noch immer 

draussen . . . schon halb abgewandt zum Fortgehen. 
Endlich war die Neugierde stärker. „So lass's an- 
schau'n**. Sie kam hinein und - ich zeigte ihr die 
schönsten, fUr sie bestimmten * • . Nun lieferte sie 



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mir endlich ihre Marken ans. Übrigens muss ich 
noch sagen, dass ich fiir den lebhaften Marken- 
handel und Tausch in der Schule bereits Verständ- 
nis gewonnen hatte und betrügerisch genug war, die 
wertvolleren Marken hübsch in die eigene Tasche 
2u stedcen, wogegen ich ein paar Kreuzer oder 
einige andere Sachen, die gerade für mich Wert 
hatten, eintauschte. Mit meiner Häfe dürfte also 
der gute Kooperator wenig Sklaven befreit und 
wenig Heiden bekehrt haben. Seine Heiligenbildchen 
nahmen rascher ab, als seine Markenvorrilte . zu« 
Und er sah wohl das Defizit, aber da er nichts 
darüber sagte, vermute ich, dass ihm die ganze 
Geschichte entweder nicht allzu wichtig war, oder 
dass er meinen Betrug merkte, aber nicht sehen 
wollte. Wie er überhaupt ruhig und stQl btieb, ge- 
währen liess, was gewährt bleiben durfte und nur 
dann, aber dann mit Sicherheit und immer mit 
genauem Mass einschritt, wo es nötig war. So kam 
bald die Veronika häufiger mit ihren Marken. Und 
endlich erwirkte der Kooperator, der mir auch ein 
wenig Gesellschaft gönnen wollte, da ich ja durch 
meine jetzige Lebenseinteilung ganz abgeschlossen 
leben musste, dass die Veronika tägUch nachmittags 
zu mir spielen kam und auch morgens in aller Früh 
an meiner statt ffir uns die Milch holte, da dies sich 
doch für den Gymnasiasten vielleicht nicht mehr 
recht schickte. 

Am Samstag aber war der grösste und beste 
Tag der ganzen Woche für mich| und seit dieser 
Zeit ist er mir so lieb geworden, dass er mir eine 
Art Schicksabtag für das ganze Leben geblieben ist. 



Mein Feiertag. Was ich mir Gutes, Angenehmes 

tun kann, das beste Glück, das ich mir bereiten 
kann, die Stimmuog eines goldenen Abends im 
-freien Feld, der sliHe, innere Gesang' eines gehobenen 
Gemütes, die Ruhe und Sanftmut^ welche ein schönes 
Buch| ein lieblingsbuch mit wunderbarer Ergriffen- 
heit über unsere Seele senkt, alle diese mannig- 
£ichen und holden Gefühle verspare ich mir seit 
dieser frühen Zeit mit seltsamer, vielleicht barocker 
Genügsamkeit auf diesen einen Tag, in ihm das Ziel, 
<len Inhalt und die ganze Bestimmung einer langen, 
mühevollen Woche zusammendrängend. Am Sams- 
tag nun liess er mich früher als gewöhnUch vom 
Lernen los und bUeB auch abends zu Haus. Am 
Samstag war nämlich die grosse Reinigung und 
Häumerei seiner Wohnung, wobei wir beiden Kinder 
helfen durften und sollten. Da wurden alle Bezüge 
von den Möbeln gehoben, alle Teppiche zum Klopfen 
iiuf den Hof gebracht, die paar Bilder von den 
Wänden genommen, die Betten abgeräumt und frisch 
bezogen* Und überall mussten und durften wir 
Kinder mit Hand anlegen. Da offenbarten sich die 
Geheimnisse der Schränke, der Laden in der alten 
braunen Kommode. Der Duft von Lavendel ver 
mengt mit dem Pfeüengeruch stieg aus allen Ecken 
hervor und dazu der des scharfen Staubes. Die 
Luft hatte etwas ganz Geheimnisvoll-Aufreizendes, 
Berauschendes. Wir Kinder waren ganz ausser uns 
vor Vergnügen. Es wurde nichts^ mehr gelernt an 
dem Tag und zur Belohnung für unsere Arbeit bei 
der Räumerei blieb der Herr Kooperator des Abends 
zü Hause und gab sich mit uns ab. Das heisst: 

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als es Abend war, alle Läden der Schränke und 
alle Thoren wieder zu, aOes ausgeklopft, gebürstet 
und gereinigt^ alle Bilder wieder an der Wand und 
alle Behänge wieder auf den Möbeln waren, kurz, 
als das weisse gewölbte Zimmer wieder in Reinlich- 
keit und Ordnung leuchtete, so gegen halb acht Uhr 
abends Hess er uns aus der Speisekarte des Stamm- 
gasthauses aussuchen, was unser Herz begehrte. 
Wir durften ein köstliches Mahl zusammenstelien: 
gebackene Schnitzel und Gemüse und Salat und 
Torte und Obst und sogar ein Glas Bier oder Wein. 
Dazu gab er uns Geld genug auf den Weg mit, 
einen ganzen Haufen, meinten wir. Und wir mussten 
in einem eigenen Tragkorb das Essen vom Gast- 
haus holen. Wie herrlich schwer war der Korb, 
an dem wir beide tnigenl — Kamen wir zurttck, so 
hatte er, immer* heiter aufgelegt, gewiss irgend eine 
Fopperei oder einen pädagogischen Scherz aus* 
gedacht, wobei er eine gewisse Derbheit, die in 
seinem gesunden, kräftigen, wienerischen Wesen 
lag, keineswegs vermied. Ich erinnere mich, dass 
er einmal sauber aus schwarzem Papier einen kleinen 
„Schwaben^' ausgeschnitten hatte. Und als wir nun 
bei Tische sassen, praktizierte er ihn plötzlich auf 
die Schüssel Gemüse. Veronika schrie auf, wie alle 
Frauenzimmer, bei solchem Anblick. Ich aber rief 
tapfer: „Ich ess ihn auf!'' Ein andermal hatte er 
uns sogar einen wirklichen lebendigen „Schwaben'' 
auf den TeUer gesetzt Wieder schrie Veronika« 
Und ich rief wieder: „Ich ess ihn auf." Da sagte 
er ruhig: „Na . . • bitte. Chineser." Und ich,* mein 
Wort zu halten und um nicht für einen Grosssprecher 



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2a geltto, nahm das Tierlein zwischen die Fii 

und sicher hätte ich es kaltblütig gegessen, wer 
es mir nicht gerade noch zur Zeit aus der J- 

geschlägen hätte, lachend und doch ernst, 
nicht böse, weil er auf Wahrhaftigkeit im Wort 
hielt • 

So lebten wir Wochen und Wochen. 

Und wieder an einem Samstag war es • • . 
beginnenden Frühjahr . • . Wir waren von der I 
und von der Mühe müder als sonst. Da sollten 
wieder im Tragkorb das Essen vom Wirtsh^ 

holen . . . Ich erinnere mich noch wie heute. D; 
wir den Korb am Henkel zusammen trugen. Jec 
mit einer Hand ihn fitssten . . \ So gingen wir < 
steile, hohe Stiege hinab. Wie das kam, dass i 
auf einmal gar nicht weiter gehen konnten« weiss i 
nicht... Aber jede Stufe wurde uns schwerer. 
Wir blieben endlich mitten auf der Stiege stehen . 
Und nun schob ich meine Hand . . . Oder sehe 
Veronika die ihre näher heran 1 • * • Wir beide nähertt 
unsere Hände einander ... bis sie nebenemand« 
lagen ... so dass die Finger einander leise berührten. . 
So lagen die beiden Kinderhände beisammen, wi 

weisse Geschwister in einem Bett. So standen wi 
einen Augenblick . • • Wie lange, weiss ich ja nicht • . 
Einen Augenblick und eine Ewigkeit. Dann plötz 
lieh, wie von irgendwem aufgescheucht, rannten wu 
die Stiegen hinab, in einem tollen Lau( den Korb 
haltend und nun schon mit den Händen auseinander- 
gerückt, ins Wirtshaus und ebenso toll zurück, 
atem- und besinnungslos, bis wir ¥neder rot, erhit2t, 
still und fast traurig beim Tisch sassen und auffallend 

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einsilbig blieben, so dass der Koperator. .uns in 
Ruhe liess. 

Seit diesem Abend ging wieder eioe lang« Zeit 

hin . . . I<^b dachte nur selten, wie in be^nders^ten 
Augenblicken an das Geschehnis von der .funkeln 
Stiege . . . Da kam ein Ereignis, das mir meine Liebe 
zur Veronika — ja, es war doch wohl ein.e. wahre, 
grosse, erste Liebe — zu Bewusstsem brachte • . . 
Ich hatte mein erstes Schulheft, in dem. jepe zwei 
,,gaQz ungenügend^* standen, dem V^ter und dem 
Pfimrer sorgfältig geheimgehalten, aber eine merk- 
würdige Scham hinderte mich, es zu verbrennen. 
Und wie man ein drohendes Schicksal in irgend einen 
Zukunftswinkel schiebt, hatte ich das Unglücksheft 
ganz zu hinterst in die Lade gesteckt Eines Abendst 
ich hatte mich ganz lustig herumgetrieben^ kam ich 
heim und &nd in meinem Zimmer den Pfarrer und 
Veronika, Bin ernst und sehr zornig, Vetvpnika mit 
ro^eweinten Wangen, bebend vor Aufregung. 

„Was ist das da? • • fragte der .ELpoperator 
und zeigte mir das verhängnisvolle Heft. Da kam 
die Wahrheit an den Tag . . . Un4 ich bekam zum 
erstenmal vom Pfarrer Schläge . . . Dass die Veronika 
um meinetwillen geweint hatte, dsLS ergriff n^ich so 
sehr« Sie hatte also 'um mich gelitten!;» J^t^t erst 
drückte mir mein Geheimnis das Herz ab. 

Wieder an einem Samstag hatten wir besonders 
viele gute Sachen gegessen, und deshalb schickte 
uns der Kooperator noch ein wenig spielenjuif den 
Platz, um uns vor dem Schlafengehen Bewegjong zu 
machen. Zugleich sollte ich dann die Veronika nach 
Hause begleiten«. Wieder schli9hen wir uns über die 



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dunkle Treppe hinab . . * Stül ... Da auf einmal 
waren wir isu einem Fenster gekommen. Durch 
dieses schien der weisse Mond . . . Ich IttUte, heute 
müsse ich es der Veronika sagen . . . Das . . • Kb • • • 
Ich wQssle nicht recht was eigentlich, oder warum 

ich es sagen sollte. Aber dass ich es musste, war 

♦ 

gewiss • • • 

Unten begann Veronika plötzlich zu laufen . . . 
Warum? • • » Sie lie£ War in ihr mein Gedanke 
wach geworden und hatte mein Knabenmut ihre 
Weiberangst geweckt, oder ihre Scham, oder ihren 
Stolz, ihre Angst, oder ihre Lust, den Mann zu 

reizen und mit ihm zu spielen? . . . Sie entlief mir . . . 
Und ich ihr nach . . . Zuerst froh, sie einzufangen , « . 
Sie Ke£ Aber ich konnte ihr nicht nachkonmnen* 
Sie lief. Ich spannte meine ganze Kraft an, sie 
holte ich nicht ein, schon war sie um die Kirche 
herumgelaufen, immer über die Stufen der ver- 
schiedenen Seiteneingange setzend * * . Ich holte sie 
nicht ein . . . Sie lieC Ich rief sie . . . Zuerst lachend, 
dann angstvoll, wie in einem schweren Traum vor 
grosser Gefidir: „VeronikaP^ „Veronikal** Sie aber 
hörte nicht Oder wollte nicht hören • • • Sie lie( 
und ich sah nur ihr Röckchen flattern und Suren 
blonden Zopf um die Schultern baumeln . . . Sie 
lief« Auf einmal bog sie in die Seitengasse ein , « • 
Und rannte unaufhaltsam writer . . . Ich ihr nach. . • 
Hoi&iungslos • • » £s ' kamen die Lichter, grosser be- 
lebter Strassen, sie Uef . • * Zum Hause ihrer 
Ekern ... Sie lief. Fast war sie schon beim Tor . . . 
Sie lief.. ^X>a.ricfiich*inKt meinem äussersten Atemzug, 
in wilder, trotziger Verzweiflung: , Jetzt hätt ich dir 

^4 



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is gesagt, VeiOQika • • • Das irint du ntm nie 

fahren « . Sie lief. Und endlich verschwand sie 
& Flur • • . Ich schlich nach Hause nrttdk — Nie 
ebir war von dem Geheimnis zwisdien uns die 
ede . . . Denn nun war es doch gesagt. 

'Wir hatten dann eines Tacres noch einen Käme- 
.den bekommen, einen wunderlichen, slovakischen 
üben» den der Kooperator aueh untenichtete. Nvn 
aren wir am Samstag vier zum Spielen. — Wir spiel- 
tu ein Spiel, an das ich mich nicht genau erinnere, 
ein weiss nur, dass jedes von uns den Namen einer 
^ume bekam. Veronika wölke nur immer das Veilchen 
leineen. Der Sovak wollte audi immer das Veilchen 
leissen, aber Veronika mochte auch nicht für ein 
tinsugesmal den Namen au%€ben, und ich war immer 
lie Primel • . . Und dann mnsste jedes auf St Frage, 
welche Blume es am liebsten habe, antworten • « . 
Der Slovak antwortete nur immer geradeheraus: 
,,£>as Veilchen" . . . Weder die Veronika aber, noch 
ich sagten unsere Namen • • . Ich nannte immer die 
Blume des Kooperators, oder des Slovaken und 
niemals das Veilchen « « . Und Veronika nannte immer 
die Blume des Kooperatora oder des Slovaken und 
niemals die Primel . . . Einmal spielte auch mein 
Vater mit . . . Und als Veronika und ich wieder 
einander zu nennen auswichen, lachten der Vater 
und der Kooperator • • • Und dieser sagte „Du 
Chineser . . » Warum sagst du denn nicht auch ein* 
mal: „Das Veilchen?...** „So!** sagte ich ent- 
schlossen und war nicht dasu su bringen, ihre Blume 
zu nennen. 

Nach ein paar Wochen war das Schuljahr xu 



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Ende. Ich ging mit meinen Eltern über die Feriea 

aufs Land, und als ich im Herbst wiederkam, blieb 
ich als gebesserter zu Hause . • • Die Veronika sab ' 
ich nmi nidit mehr . . . 

Als ich etwa sechzehn Jahre alt war • • . Man 
hat da den gewissen kecken und vorlauten Atheis-j 
mus, der sich so grossartig erhaben vorkommt . . •) 
Da stand ich einmal und sah der Fronleichnams- 
prozession zu . . . Wie man den Baldachin vor- 
Ubertrug. 4* Dann kamen weissgekleidete Mädchen 
mit gar kunstvollen Lockengebäuden • . . Und in 
ihrer Mitte trug den weissen Polster: Veronika • • . 
Nun war sie grösser geworden . * . Und die goldenen 
Locken lagen ihr wie ein Heiligenschein um das 
Gesicht und mit einer heiligen Miene von Stolz, 
Angst und Freude trug sie den weissen Polster, ihn 
behutsam weit von sich haltend . • . Mich sah sie 
nidit • . • Ich lächelte Überlegen . • . Bald war die 

kleine Heilige vorüber . . . Und dann habe ich sie 
nie mehr wiedergesehen» .Und sie war doch fUr 
mich bestimmt Nie mehr habe ich die Veronika 
wiedergesehen! — 



• 



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Aus der Schule. 

Der Lehrer Baumgart stand mit den Mädchen 

.er zweiten Biirgerscliulklasse einer Meidlinger Schule 
.uf der Sophaenalpe. Um Mitte Juni hatte er end- 
ich doch den obligaten Sommerausflug mit ihnen 
nachen müssen. Jedes Jahr sagte er sich freilich 
nachher: „Nie mehr wieder! Man kann sich ja doch 
nicht die aussuchen, die man mitnehmen mochte, da 
geht man so mit einem Haufen junger WUder durch 
eine Natur, die sie nichts angeht, die sie nicht ein- 
mal sehen, von der sie nichts wissen woUen und die 
fiir sie nur gut genug ist, eine Ausrede flir einen 
halben Tag ungezügelter Wildheit abzugeben« Die 
paar StSkn gehen da mit, ganz vedassen und ver- 
irrt. Und man kann sich gar nicht einmal mit ihnen 
abgeben.^^ — Und das nächste Jahr, wenn wieder 
der Frühling kommt, sagt der Ldurer Baumgart doch 
wieder am Ende: „Es ist deine verdammte Pflicht . • • 
Die Kinder kommen ja so sdten hinaus. Wo sollen 
sie denn da was von Natur wissen imd von einer 
Lerche, oder einer Buche . . . Und dann, seliMt wenn 
sie die sdiöne Naturanbetung gar nicht haben . . . 
Vftan sie gar nicht einmal wissen, wie wuadeÜMac 



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das alles ist, so atmen sie doch die reine, freie Luf 
und spüren die ganze Kraft Da muss ihnen doch 
der Lehrer helfen, sonst kommen sie ja gar nicht 

dazu." 

Und so war er wieder mitgegangen. 
Über Dombach und Neuwaldegg waren sie hinauf 
gekommen, hier oben war die Ess-, Ruhe- und Spiel- 
pause« Dann wollten sie über Htttteldorf zur Bahn 

hinab. 

Zwei Mädchen hängen an seinem rechten und 
Unken Arm. Er kann sie gar nicht los werden. Das 

sind die wildesten und dümmsten in der Klasse. 
Heut aber, einmal im Jahr, wollen und müssen siei 
sich die Gunst des Lehrers erzwingen, ob er mag 
oder nicht • • • Es haben schon andere den Versuch* 
gemacht, sie zu verdrängen . . . Denn neben ihm 
zu gehen, gilt als grosse Auszeichnung . . ♦ Aber diej 
Weiss Marie B (er hat vier Weiss Marie in der KlasseJ 
so teilt er sie alphabetisch ein) und die Stephanie: 
Wiitasek haben sich mit Faustschlägen, Kratzen, Fuss- 
tritten gewehrt und den Platz behauptet. 

Es wird gespielt „Katz und Maus*', „Den Drilten| 
abschb^en'S „Mucketzen", „Der Geier und die Herders' 
Die Kinder schreien, jauchzen, jammern durchein- 
ander . . . Jeden Augenblick gibt es eine Gekränkte, 
die schmollend weggeht und in den BUschen für fünf 
Minuten ihrem Seelenschmerz nachhängti um dann, 
als sei nichts geschehen, wieder zurück zu kommen. 
Man darf sich nicht viel darum kümmern. Jeden 
Augenblick binden em paar an und irtlzen sich nn 
Rasen. Da nützt es gar nichts, wenn er ruft und j 
befiehlt und droht . • • Heut ist heut! • . . Dann 



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gehen wieder Paare von Freundinnen verschlungenen 
Armes durch den Wald, das sind die |,belesenen'^ 
aus den „besseren Häusern" . . . Wie es eben in 
MeidÜng „bessere Hänser" gibt . . . Die Tochter 
eines Reisenden und die eines wohlhabenden Ge- 
mischtwarenhändlers, die eine schlau, in einem auf- 
fallenden roten Kleid» mit einem sehr frechen Ge* 

sieht, sehr eingebildet, die andere gutmütig, dick, 
wohlgenährt. Die Tochter des Keisenden hat schon 
den ganzen Weg über erzählt von den Stoffen, die 
ihr „Papa" mitbringt und die „Mama" zur Schneiderin 
gibt, und dabei hat sie immerfort alleriiand Schleck- 
werk im ilund, die Tochter des Gemischtwaren- 
händlers hatte eine grosse Schachtel davon mit- 
gebracht und erklärt, sie könne davon haben, soviel 
sie wolle. Im Geschäft habe der Vater ja davon die 
schwere Menge. Das sind die Freundschaften . . . 
Auch andere gehen Arm in Arm, reden kein Wort, 
denken keinen Gedanken, sondern lassen ihre Füsse 
wandern, wie sie wollen . . . Sie raufen Gräser aus 
und kauen an den Halmen, sie bewerfen einander mit 
Sonnenschirmen und HUten . • . Mädchen zwischen 
12 und 14. 

Die Natur beginnt ... Er sieht ihnen zu und 

staunt . . . Wie viel er da doch 'zu sehen bekommt. 
. . . Die Umsicht Ober die Berge . . • Wie in den 
Alpen ist es hier, so v iel Hügel wälzen sich überein- 
ander und liegen Rücken an Rücken * * . Blau in der 
Feme, weithin verdämmernd unter dem glühenden 
Himmel . . . Und hier die Menschenherde da , , . In 
der Schule kann er nicht viel sehen, nur hier und da 
einen Zug von ungefähr, einen unwillkürlichen Zufall, 



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der etwai eathüBt, etnras Crewaltiges oder etwas 
Grauenhaftes, kleine Gemeiaheft, stQIe Sehn^cht, 
emen Zug metkwürdiger SckMhmkf tuiabsidilÜclieT 
Poesie . . . Aber an diesem freien Tage ist es saich 
wie ekte Aussteht, die sich ihm erschUetst» auf etne 
ganze Menschheit . . . Das sind die Frauen, die 
künftigen Mütter, das ist das I^ben • . . Und doch 
wieder nur Mädchen zwischen 12 und 14 . . . Duaune, 
ausgelassene, aber auch schon gemeine, schon jetzt 
verlorene . • . 

y,Kinder . . . Jetzt schaut euch um, eh wk gehen. 
. . . Seht euch die Berge an . . . Dort die Warte 
ganz drüben im Westen . . « Wo ist denn Westen? 
Wo schaust du denn hin Steinschaden, weisst du 
Didit wo Westen ist? • • • Das ist der «Tidbiager- 
kogel' . . . Und daneben, links der ,Tropperg* . . . 
Und ganz weit drüben, das ist der ^Oetscher*. Und 
im Süden daa ^Eiserne Thor* und der ,Anmiifer*'* . . . 
Er ist allein ... die Kinder tummeln dich um ihn 
herum und hören ihm nicht einmal zu . . • Das ganze 
Reden ist ja doch Unsinn . . . Sie spüren ja doch 
nichts. Wenn sie sich wohl fühlen, wie die iüiiber 
auf der Weide, ist das nicht das allerbeste? ... Er 
steht und sieht sich die Aussicht an und sieht aui 
den Himmel, der allmühlich blasser wird, an dem 
goldene, kleine flockige Wolken vorüberziehen . . . 
„Also seht euch einmal um, bevor wir gehen?^' Und 
noch einmal nennt er aUe Berge, die er kennt und 
wohin alle Täler iRihren. Ein gutes Stück von Nieder- 
Osterreich entfaltet sich 7or den Blicken und TcXtt 
seine Höhen- und Talzüge auf . . , Die Tochter des 
üemischtwarcnhsadlers steht neben ihm, gelangweilt. 



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kauend ... Er wird nicht mQde, immer aufr neae 
die sonaige Aussicht zu deuten . . . 

EiMttch gähnt sie: Alsdann gehn wir!^^ 

Der Lehrer Baumgart schüttelt still verzagt den 
Kopf . • • Für euch ist diese schöne Welt geschaffen! 

^^Aho gehen wir/' sagt er schliesslich selber. 

Endlich bricht er au£ 

JBitle wtSsL** 

y^ittCi Herr Lehrer Baumgart, noch ein kleines 
bissett^ * • • 

„Nein Kinder, wir müssen schon gehen, sonst 
kommen wir zu spät nach Hause . . . Also au^ räumt 
eure Sachen scbOn zusammen, vergesst nur nichts. 
Habt 3ir eure Hüte, die Jacke, die Schirme? • • . 
WoUt ihr euch nicht doch noch die Aussicht an« 
sehen?** . . . „Bitte ja,'' sagt Weiss Marie C, ein sehr 
dummes, gutmütiges, folgsames Kind* „Du wirst 
grad etwas sehea bei der Aussicht t^' denkt er sich. 
,,So smd die, die uns folgen . . . Die ganz Dummen 
schauen sich die Aussieht an auf BeftU.'* 

„Bitt* Herr Lehrer, ich find memen Kragen nicht 
... Eft hat ihn wer versteckf ^ . . . 

„Bitt', die Steinschaden ist nicht da . . . Sie 
weint*^ • • • 

yj^asst sie nur, sie wird schon kommen^* . • . 

Langsam, durcheinanderspringend setzt sich der 
Zug m Bewegung. 

„So geht doch ordentlich . . . schön zu zweien" 
... Er ordnet sie. Wieder bilden sich die Paare, 
kamn hat er sie anfgesteBt, retsst sich wieder efaie 
los und will mit einer anderen gehen. Endlich ist 
der Zmg beisammen. 

2J 



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, Jetzt wollen wir aber singen * . . BeimMarsch » . . 

Also" . . . Und jetzt singen sie ... Alle die Volks- 
lieder, Kinderüeder, Marschlieder, die sie in der 
Sehlde lernen. 

„Das Wandern ist des Muliers Lust, das Wandern^' 
... Sie singen das abgemessen im strengen Takt, 
schulmässig, wie sie es gelernt haben, sie wissen da- 
bei kaum etwas von der Lust des Wandems und 
Gesanges, von der Schönheit der Lieder . . . Nichts 
. . • Und doch klingt das seltsam rein und rührend 
^sammen, aus diesen frUhen, klaren, noch ge- 
schlechtlosen Stimmen, die Melodie, das Lied an 
sich, ohne Bewusstheit, ohne „Vortrages ohne Em- 
pfindung tönt da . . . Die Natur, die nichts von sidi 
weiss, die lebt, will, stark ist . • . Nicht böse und 
nicht gut, nicht heiter und nicht traurig. 

Die kleine Steinschaden kommt nach. 

„Na, kommst du heut doch wieder mit . • « Auf 
dm Ausflug ist dir die Schule recht? . . • Was? . • • 
Sonst kommst du einfach nicht 

, Ja • . . Bitte, ich muss halt kochen iür den 
Vater und auf die Kleinen muss doch auch wer auf- 
passen.^^ 

Dabei ist diese Steinsdmden ein Ding, das wie 
neun, nicht wie vierzehn Jalire alt aussieht . . . Wie 
oft muss er die Kinder anzeigen, die ungerechtfertigt 

aus der Schule ausbleiben . . . Dann geht der „Herr 
Schuldiener^^ mit dem Mahnschreiben hin . . . Und 
dann heiHt es: „Die Mutter liegt krank, die Kleine 
muss die Geschwister hüten,*^ oder „sie muss mit- 
helfen btt der Arbeit^^ . • . Oder der Vater sagt: „mir 
jpbt niemand was auf mein* Zins, auf mein Essen, auf 

22 



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meine Plag, i muss mir die Kinder selber erhalten^ 
soU^n sich nicht um die Schul Ummem • « . Da geht's 
auf einmal wen an, was ich tu und was ich nicht 
tu • . » Sagen's dem Herrn Lehrer, er soU sich 
um seine Sachen scheren, nicht tmt die meintgen^' . . • 
Dann geht der ,^err Schuldiener** noch einmal hin 
und warnt, der Ortsschulrat straft die ^säumigen^^ 
Ekern . . . Mit zwei Gulden, im Nichteinbringungsfalle 
mit zwölf Stunden Arrest . . . „Na, so wir* i halt 
amal schlafen hingehn in *n Arrest^* . . • Das war 
der Vater der Steioschaden. Und das Kind möchte 
eigentlich gern in die Schule gehen • • * Wenn es 
von Zeit zu Zeit kommt, passt es auf, folgt dem 
Unterricht • . . Was will man machen , • . Darum, 
<lass der Vater ordenäich zu leben hat, sorgt sich 
niemand, aber darum, dass sein Kind in die Schule 
geht, bekümmert sich auf einmal die hohe Obrigkeit 
mit aller Sti enge . . . Als ob ein Kind da was lernen 
könnte, die paarmal, die es gerade in die Schule 
kommt ... So traben sie bergab . . . Der Lehrer 
Baumgart bald an der Spitze des Zuges, bald am 
Ende, wie ein Schäferhund, jetzt knurrend, jetzt 
freundlich, jetzt ruhig, jetzt zornig. 

Ganz abseits von den andern mit einem Stock, 
den sie sich irgendwo gelimden und zurecht gemacht, 
geht ein stilles Kind . . • Das ist das merkwürdigste 
der Klasse • • . 

Die Romana Thüringer . . . Schon der Name hat 
ihn seltsam angeklungen, als ihn das Kind zum 
erstenmal sagte • . • Damals, in der ersten Klasse 
war sie ein stilles, ruhiges Kind • • . Aufmerksam, 
fleisstg; sie machte alles so geschickt, so selbstver* 



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sIttndUch) es 6el gar nicht auf^ es war eiiifiu:h in 

der Ordnung. Hier und da kommt es über Kinder 

er hat das am liebsten, wenngleich er nie etwas dazia. 
tun darf, denn wie sie Interesse dafUr meriten, nOtzen 
sie's aus — dass sie ein unbezwingliches Bedürfnis* 
haben, za erzählen, von ihrem Leben, von ihrem 
Treiben zu Hause, von ihren Gewohnheiten, Ver- 
gnügungen, frühen Sorgen. ,tBiit, wir waren gesten» 
in Mariabrunn" . • . Vor acht, ehe der Unterricht- 
beginnt, oder um lo in der grössern Pause, weni:^ 
er m der Klasse ist, fängt eine so an und erzählt: 
und gleich fällt eine zweite ein, und eine dritte, ein 
„bitt'^ löst das andere ab . • • So zwitschert alles 
durcheinander, bis er plötzlich ein Ende macht und 
die. Bücher aufschlagen iässt So hng einmal die 
kleine Romana Thüringer zu erzählen an ... Es war 
vom Wald und von Ausflügen die Rede . . . Sie 
gingen jeden Samstag fort, der Vater und die Mutter 

und sie • . . Schon Nachmittag, ein paar Stunderv 
weit • . » Dann übernachteten sie im Wald und 
standen schon wieder um 3 Uhr auf und gingen 
„brocken": Kräuter, Früchte, Wurzein, was es gerade 

Brauchbares gab Weit draussen im Wald. Und 

erst Sonntag Nacht kamen sie wieder zurück . . , 
Der Vater war Taglöhner, die Mutter ging in» 
Waschen, wusste er . . . Das Kind war wundeilich 
vertraut mit den Blumen, mit allen den stülen, zart- 
verschwiegenen Vorgängen der Natur, von denen 
er den andern als von fremden, ihnen unbegreiflichen 
Dmgen erzählte ... In der zweiten Klasse war sie 
dann zu Anfang des Schuljahres gekommen, ob sie 
weiter in seiner Schule bleiben dürfe, sie wohne 

H 



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draussen in Hetsendcwf. Ja, ob ihr desn der Weg^ 
nicht zu weit sei. O netni meinte sie, sie möge in 
keine andere Schule ... So blieb sie denn in seiner 

Klasse . . . Jetzt ging sie da wieder fiir sich, ganz, 
still, ruhigi sdbstveistitndlich, nnaufilUig, wie immer. 
Sie hatte ein Büschel Kräuter in der Hand. Die 
andern hatten Blumen abgerissen, Boukete ge* 
bunden, mn sie wieder wegzuwerfen. Hier und da. 
kam eine mit einer Blüte, „Bitt, Herr Lehrer Baum- 
gart, was ist denn das?^* Und wenn er ihr den 
Namen gesagt hatte, warf sie dann gleichgültig die 
Blume weg . . . 

„Nun, Thüringer, was hast du denn da?^ 
„Bitte, Herr Lehrer Bauragart, das sinti bittere 
K^ter, die smd fUr den Hustenl*^ . . . Dabei ging 
sie nicht auf dem Weg, sondern über die Wurzeln 
und das Gestrüpp, durch den Wald selbst und 
während sie ruhig sprach, erblickte sie plötzlich 
irgend eine Püanze, pflückte sie und wanderte weiter 
mit ihrem Stecken. 

,Ja, woher weist du denn das?" . . . 

bitte, die Mutter braucht das fUr den 
Husten*' . . . 

Und du kennst dich wohl gut aus im Wald . . 
Bist ganz za Haus da, gelt?^ 

„O ja bitte" . . . 

,,Du bist wohl gern im Wald, nicht wahr?" . . . 

,Ja, bitte. Das ist ganz wie im Dschungel" . . . 

Gleich schrieen die andern: „Bitte ja, gleich 
kommt der Sickidickidack" . . . 

,.Ah, habt ihr euch das gemerkt; vom Dschungel" 
£r hatte ihnen unlängst aus dem Dschungelbuch von 



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KjpÜDg votgeieMa . . . Kickidickidack, den spassigen 
l<l'ameii hatten sie tkii gemerkt . . . 

„Also kannst du dich noch erinnern, an die 
kluge Sdüange und an die Eiephanten, die mitten 

in der Nacht zusammen kommen . . . und an die 
Affen'' . , . 

„Bitte, aber hier sind keine wilden Tiere,*^ 
iiagte eine • • * 

„O, die machen mir nichtSy'' sagte die Thü- 
ringer . . . 

,yDu hast deinen Stock| gelt, da wehrst du dich?'' 
fragt der Lehmr . . . 

nein • • • Wen sie kennen, dem tun sie 
nichts*^ . • ♦ 

„Du würdest auch ilire Sprache verstehen, gelt, 
weil du in ihrem Wald zu, Haus bist," sagte der 
Lehrer freundlich. 

So geht sie, den Kopf zu Boden gerichtet, auf- 
merksam auf jede Blume, still, besorgt — 

„Nun, kommst da noch oft hinaus am Sonntag 
in den Wald?" fragte er sie weiter ... 

„Nein bitte, jetzt gar nicht mehr, die Mutter 
ist krank." 

„Was fehlt ihr depn.'' 

,3itte, sie hat Lungenentzündung und liegt" . . . 

„So ... Da hast du dich heut wohl gefreut, 
dass du wieder einmal hinauskommen kannst? . . . 
Aber heut kannst du nicht im Walde schlafen, nicht 

wahr? Und im Mondschein Beeren brocken? . . • 

Hast du dich nieipals verirrt bei Nacht, draussen? . . . 

Und wieder antwortete das Kind ruhig, gelassen, 
klar auf seine Frage, der Lehrer spricht mit ihr und 

26. 



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wundert sich • • • Wie ruhig doch ein Kind ist * • • 
erst später beginnt die Unndie und Verwirrung, aber 
die Kinder, die wirklichen Kinder sind doch alle 
klar, bestimmt, einlach, da gibt es keine unklaren 
Oefühle, keine verworrenen Gedanken . . . Nur er- 
wacdisene, unverständige Beobachter legen das innere 
Leben der Kinder so aus. Sind selbst unruhig und 
machen unruhig . . . Merkwürdig. — Bei denen ist 
<loch das Elend za Hause, Borge, Verdruss, Krank- 
heit, Hunger, sie hören doch alles, lernen alles 
kennen, viel zu früh und sind doch klar, ruhig, 
kühl — 'Wissen von nichts, lachen, raufen . . . Die 
Huhe, das ist der tie&te innere Schutz der Kindheit 
Er erinnert sich, dass die kleine Romana einmal einen 
Schulaufsatz geschrieben hat, der ihn eigentümlich 
-ergriffen hatte durch seine selbstverständliche Wahr- 
haftigkeit Sie hatte ihr Wohnzimmer beschrieben . . . 
Das war die Aufgabe ... Sie hatte die Breite und 
Höhe angegeben. Das Fenster ging in einen Hof^ sie 
hatte geschneben, dass drei Fenster da wären, vor ei- 
aem stphe eine spanische Wand, denn das war vermietet. 
Ein Tisch in der Mitte. Der Hof, ist sehr dunkel, die 
Mutter sieht nicht einmal am Fenster gut genug 
beim Nähen . . . Aber, wenn das Frühjahr kommt, 
hatte sie gesclirieben, wird der Himmel über dem 
Hof blau und „in unser Zimmer scheint die liebe 
Sonne" . . . Der Ausdruck „liebe Sonne", war ihm in 
<lem sonst so eingehen Aufsatz, der so ruhig diese 
grauen vier Wände beschrieb, als seltsam ergreifend 
^u%efallen ... Er konnte sich das Leben dieser 
.armen stillen Leute vorstellen, grau, dumpf . Der 
Hof ist eng, trüb, stinkt wohl auch, hat kein Licht . . . 

2J 



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Und wenn der Frühling kommt, wird doch auch hier 

der Himmel blau und auf ein paar Augenblicke 
scheint auch in dieses Zimmer die ,,iiebe Sonne^^. 
Und dieses Kind ftihlt das wirklich • • . Diesem Knd 
ist die Sonne liebl — 

Es hatte etwas merkwürdig Verschlossenes, nur 
selten fing es zu erzählen an . . . Auch wenn ma^ix 
sie fragte, antwortete sie nur gerade das Nötigste. 
Es kam wohl vor, dass sie tagelang aus der Schale 
ausblieb ... Da gab es irgend eine dringende Arbeit^ 
bei der sie mithelfen musste. Sie brachte einmal 
einen Fiitterstern hervor ... Sie nähte derlei Christ- | 
baumschmuck ... für fUn&ig Stück bekamen sie 
zwei, drei Kreuzer . . . Dann nach solchen Arbeits- 
tagen, konnte sie wieder nur sehr schwer mit dem 
Lernen zurechdiommen, aber ruhig holte sie das 
wieder nach . . . Ein anderer Lehrer hatte sie aus- 
schulen wollen, wegen Unpünktlichkeit ... Sie fiel 

ja sonst gar nicht auf, war sie unpünktlich, nun so 
war sie eine lästige Schülerin, wie eine andere, man 
musste sie strafen. Und wozu sollte man sich mit 
ihr plagen, die doch in einen* andem| Schulbezirk 
gehörte; so soll sie eben dort in die Schule gehen 
und der Herr Kollege in Hetzendorf soll die Mahn- 
schreiben an ihre Herrn Eltern richten, wir haben 
ja mit unsem Kindern aus unserm Bezirk genug zu I 
schaffen • . . Da hatte sie sehr geweint und gebeten^ i 

sie mochte dableiben So hatte man sie wieder 

gelassen ... I 
Nun war der Zug an die Hauptstrasse gekommen, 

das schöne Tal und die Berge lagen wieder hinter 
ihrem Kücken . . . Die Kinder wurden einsübiger • . • 



„Bitte ich hab einen Durst" . . . 
„Bitte icb auch" ... 

So tiets ar sie denn an einem AasUufbrunnen 

Kalt machen imd tränkte sie . . . dann treibt er seine 
Herde weiter « . . 

Noch einmal plätscherte ein Auslaufbrunnen . . . 

^tt' darf ich Trinkend' . . . 

Vor fünf I^Gnuten hatten alle getrunken, jetzt 
wollten sie wieder . . . 

So waren die Kinder, so war sein ^Menschen- 

frühling", sinnlose, geschwätzige, äftische Geschöpfe . . . 
JDer Lehrer Baiungart treibt sie zornig weiter. 

„Ihr seid dodi ein Gesindel . . . Habt ihr denn 
nicht eben ent getrunken. Müsst ihr denn wie*s 
liebe Vieh von allem haben, ohne Sinn, wisst nicht 
wann ihr hungrig und durstig seid, schaut dass ilir 
wetterkommt, 's ist späf ' . . . 

Und endlich hatte er sie in den Eisenbahn- 
waggon gebracht . . . Alles schrie durcheinander, 
wechselte die Plätze, lachte, kreischte, weinte, driiagte 
sich um ihn, stiess sich um die Bankc 

Die kleine Romana Thüringer stieg in Schön« 

bninn aus, von da hätte sie's am nächsten nach 
Hetzendorf sagte sie, die andern luhren bis nach 
Meidling, wo der Lehrer Banmgart sie endHidi eriffst 
absetzte imd wieder bei sich sein ^Nie mehr" 
schwor. — 

♦ * 

Der Lehrer Banmgart behielt seme Klasse . . • 
Zu Anfang des Herbstes, als die Schule begann, 
war auch die Romana Thüringer wieder da, — aber 

29 



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verändert. Grösser geworden, hatte sie nicht mehr 
die alte, freundlicheRuhe, sondern etwas Verscheuchtes, 
Verhärmtes in ihrem Gesicht, das auch blasser war,: 
als sonst Auch in ihren Kleidern war sie verändert 
Frtther hatte sie zwar arg verwaschene, aber stets 
reine, ausgewachsene, aber niemals zerrissene Perkal- 
oder Barchentkleidchen getragen, jetzt erschien sie 
zerzaust, nicht ordentlich gewaschen, sie steckte in 
Kieidem, die offenbar von einer erwachsenen Frau 
heirlUirteD, dabeiaber zerrissen, unordentlich, schmutzig 
waren, es fehlten Knöpfe und Bänder* Alles passte 
nidit zu dem stillen Kind, das sie gewesen. Im 

Unterricht war sie freilich noch dieselbe . . . Ja, sie 
schien noch lernbegieriger als sonst, sie fieberte 
ordenäich vor gespannter Aufmerksamkeit, ihre Ohren 
glühten, sie bemühte sich qualvoll, mit den andern 
Schritt zu halten. Aber es gmg nicht Sie blieb 
zurück. Wenn man sie prüfte, war es doch nichts, 
sie hatte nichts gelernt und auch mit dem, was sie 
belialten hatte, wusste sie nichts zu beginnen, ihr 
Gedächtnis konnte, was sie im Unterricht gehört 
hatte, nicht miteinander verbinden • . . Zuerst sah 
man noch, wie sie sich Mühe gab, doch eine ordent- 
liche Antwort herauszubringen, bald aber Uess auch 
diese Anstrengung nach; als hätte sie den vergeb- 
lichen Kampf aufgegeben, so stand sie da, den Kopf 
zu Boden gesenkt, schwieg beschämt tmd ganz un- 
glücklich, das sah man ihr an . . « Dann blieb sie 
aus der Schule aus. 

„Was ist denn mit der Thüringer?" fragte der 
Lehrer Baumgart einmal die Kinder. 

„Bitte, sie läuft immer davon , . * Ihre Mutter 



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ist gestorben und der Vater hat noch einmal ge- 
heiratet • . . Sie bat gesagt, sie kriegt so viel Schläge 
und sie mag nicht mehr nach Haus." 

Nach ein paar Tagea kommt sie wieder in die 
Schule • . • Gaius verstört und unordentlich. 

,Ja, was hast du denn, Thüringer, was ist denn 
niit dir geschehen? Musst dich doch zusammen- 
nehmen • . . Geh zuerst hinaus sum Brunnen und 
wasch dich'^ . . . 

Das Kind, das in der Bank aufgestanden war^ 

bricht auf einmal in ein qualvolles Schluchzen aus. 
Sie sagt, man hört die Worte nur in unsäglich 
traurigen StBssen: Jtch geh nimmermehr nach 
Haus • • • Nein • . . Ich mag nicht • • , Soll mich der 
Vater schlagen!*' • . . 

Nachher erfuhr man, sie ginge immer wieder 
durch, der Vater und die Stiehnutter behandelten sie 
sdilecht Das Kind sei natUrHch trotzig. Dann 
prügelt der Vater auf sie los. Endlich entläuft sie. 
Tagelang bleibt sie aus • . • Treibt sich im Wald heium^ 

so lange sie's aushält, bettelt auch wohl, und dann 
zwingt sie entweder der Hunger, oder die Fohzei^ 
die sie auffängt, nach Hause zurück. 

Endlich wurde der Schulbesuch immer unregel- 
mftssiger . . • Und da sie nicht zum Bezirk geh(Me^ 

schulte man sie doch aus. Der Lehrer Baumgart, 
der sich vergeblich ihrer angenommen hatte, sah sie 
noch sich schluchzend davonscfaleidien, als müssCe 
sie von dem Letzten fort, das noch aus der bessern 
Zeit geblieben war . . . Er rief sie an: „Thürmger, 
musst nicht weinen, halt dich doch ordentlich zu- 
sammen, du kommst ja jetzt bald aus der Schule, 



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bist ja eia grouet Mädel» bald vienehn Jahre^ da 

kannst du doch was Vernünftiges anfangen. Musst 
doch gescheit sein^^ 

,yHerr Lehrer Baiimgart, bitte, behalten sie mich, 
bitte, ich mag nicht zum Vater zurück und zur 
Stiefinutter/' 

,Ja« Kind Gottes, soll ich denn mit dir 
aa£Bmgea, ich kann da nichts tun, mosst halt schön 
brav sein und dich vertragen, wirst ja auch sdber 
schuld sein, nicht? • . . Geh schön . • • Und wenn 
du vieUeicht irgend was brauchst, einen Rat, oder 
wenn ich dir sonst helfen kann, so komm nur her 
zu mir • . • du weisst ja/' 

Also sie geht Sie sagt nichts mehr • . • Kinder 
können ja zu ihren Lehrern nie viel sagen, das Wort 
stockt im Mond, und was sie schUesslich sagen, das 
kommt kahl und kalt heraus, und alles ist in 
eitd Respekt abgestorben. Wunderlich, wie diese 
Schule fiir dies Leben eingerichtet ist! Hier vnd da 
möchte sich der Lehrer Baumgart wohl einlassen mit 
den Kindern, sie fragen, sich erzählen lassen, helfen 
^ • • Aber wo anfassen, wie weit gehen? Es gibt gar 
keinen Ausweg • • • Sie ventehen's ja auch nicJit 
Mitleid? ... Sie wissen ja nicht einmal, dass sie 
leiden und wie sehr . . . Die ganze Sentimentalität 
ist ja so fidsch . . • Wenn man unter ihnen gelebt 
bat, tut man eben seine Pflicht und lässt das Werkel 
(eben, dass sie das b is s c he n verstehen, was sie lernen 
, . . Ihr Leben aber, das Leben, um dessen wiHen 
er doch da ist, das lässt er vorsichtig links liegen. 
Er quiUt sich freilich oA damit Lehrer! Lehierl . 
Aber hilft ihm denn wer? ... Er sorgt sich auch 



gen. 
aem 

zu e 

Zwei 



fei 
Uhr 



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mug mit seiner Familie ! ... Ist schon iruh grau ge- 
orden • • • Avanciert nicht. Nach der Schale heisst 
\ Stunden halten und abends Gewerbesdiule bis um 
sun, damit man mit den Seinen das bischen Aus- 
immen haty und da soll man noch was Übriges 
n? Leben! Leben I . . . O, hier und da spürt er es 
hon, was er sollte, er würe schon der Sichtige, er 
jrde walnüch mehr von sich verlangen, als die 
idern, aber Bim ist ebenso alle Mög^chkeii ver- 
hlossen, wie den Kindern, m leben. Zum Teufel, 
an steht eben in der WUste da . • . Niciit einmal 

einem rechten Gewissen hat man Zeit So hat 
ler unter vielen innere Sendung und Beruf und 
^ht auch das verkommen und verderben, wie die 
men Kinder selbst, denen er ein Führer sein solL 
id ist nur ein armseliger, hofthungsloser Schul* 
uster . . . Wer nicht Herr des Lebens sein kann, 
Ute nicht Lehrer sein . . . 

So geht der Unterricht gleichförmig hm. Einser, 
reier, Dreier, Sittennoten, Belobungen und Strafen, 
Lchsitzen, dann hie und da ein Kapitel, das den 
hrer Baumgart selber interessiert, dann bringt er 
eher mit und liest vor, vrie damals aus dem 
»schungelbuch'^ Und die Kmder sitzen da, staunen 
Lcklich ... So wachsen die Tage zu Wochen und 
>naten an und wälzen Stein um Stein zu einem 
ben, das wieder nur ein wUster Haufe ist, kein 
nvoller, wohlgeordneter Bau. 

Einmal kommt um zwöU Uhr Mittag die Komana 
Uringer an ... Sie steht vor der Klasse des 
hrers Baumgart und erwartet ihn. 

„Kttss die Hand,^^ sagt sie, als er, nachdem alle 



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Kinder paarweise das KJawensimmer veriassen hatten, 

heraus kam. 

j^Ahf die ThUnDger, grOst dich Gott, wie geht* s?^^ 

Merkwürdig sieht das Mädchen aus, mit wirrem 
Haar und einem Blick, ganz andezs ruhig, als ihr 
Kinderblick vom vorigen Jahr. 

y^Ich bitt, Herr Lehrer Baumgart, mochten Sie 
mich nicht bei Ihnen lassen, den Nachmittag • . . 
Ich hab keine Schul heut und da möcht ich im 
Lehrmittelzimmer bleiben, Karten zeichnen.^' 

„Na ja, wenn du keine Schule hast, bitte, dann 
kannst du gern bleiben!** 

Sie sieht ihn an. Sie möchte wohl noch etwas 
sagen — schweigt aber. 

Und er: „Karten zeichnen, das ist halt was für 
die Thüringer Romana, da macht man allerhand 
Weisen auf der Landkarte bis nach Indien und 
mitten ins Dschungel hinein, weisst du noch?^^ Sie 
sah ihn an . . . „Bitte ja, Herr Baumgart!** 

Beim Nachhausegehen dachte er: „Wie mich 

das Kind angesehen hat, das vergisst man nicht 
leicht . . • Wie wenn sie sich anklanunem möchte 
an diese Schule, an mich, an alle die Dinge, die sie 
in ihrer besseren Zeit gewohnt war « . . Armer 
Teufel! • . • Hat's recht schwer . . • Schon so früh . . . 
Wie sie immer wieder hieher zurückkommt, wie ein 
Hunderl zum Grab von seinem Herrn I** 

So zeichnete sie den Nachmittag lang Land- 
karten und kam em paarmal wieder • • . sass mit 
ihren früheren Kameradinnen beisammen und schien 
sogar ganz heiter — als sei sie hier doch ein 
bisschen von ihrer Last befreit. Später erfuhr der 

S4 



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Lehrer Baumgarti dass rie nicht immer an jenen 

Nachmittagen schulfrei gehabt hatte, wo sie zu ihm 
gekommen war. Er eriiibr» dass sie in der neuen 
Schule nicht vid tauge. Sie bleibe tagelang weg, 
ohne Grund, es geMe ihr nichti dann prügle sie der 
Vater zu Haus, die Stiefinutter • • • Und dann gehe 
sie durch. Sie sei schon eine ganze Woche fort- 
geblieben. Da laufe sie dann über Land Aber 
das sei noch nicht das ärgste, sie treibe sich auf 
den Holzplätzen, bei den Steinbrüchen, bei den 
Ziegdeien herum, unter den Strolchen und Tage- 
dieben. Sie sei in Gesellschaft von halbwüchsigen 
Burschen gesehen worden. Mit denen strolche sie 
denn auch herum. Es sei schon längst nichts mit 
ihr anzufangen, und da sie in wenigen Tagen vier- 
zehn Jahre alt werde, habe man nch Grott sei dank 
ja um sie nicht mein zu kümmern, es wäre wohl 
auch umsonst 

So schwand sie dem Lehrer Baumgart aus den 
Augen und auch aus dem Gedächtnis. 

An einem Junitage des nächsten Jahres ging er 
einmal zufäUig in einer der Strassen von Neu* 
Margarethen, in dieser trostlosesten Gegend« Die 

Hitze lag drückend mit einer ungeheuren Last staub-, 
dunst-, schmutzerfuliter Luft qualmig über den stein- 
starrenden Strassen, auf denen die Leute mehr 
taimielten, als gingen. Es war nach sechs, gerade 
zur Zeit, wo die Arbeiter aus den Fabriken kamen. 
Noch hörte man die Dampfpfeifen signale von allen 
SeiteUi es strömten von rechts und links Scharen 
von Menschen, Arbeiter in Blusen mit Pfeifen, mit 
schmutzigen Gesichtern, stolpernd, Arbeiterinnen, 



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alte, junge, mit weiten Gewändern, halb offen in der 

unerträglichen Hitze, voll Schweiss, die Erregung der 
langen Arbeit und das Fieber der kurzen Erholung^ 
im Gesicht, schwatzend, lachend, kreischend, wenn 
ein lustiger Bursch ihnen mit einem handgreiflichen 
Witz begegnete. 

Baumgart kam an den alten Linienwall . . . Wo 
die Stadtbahn fährt ... Da wächst noch ein bissdien 

Gras, Kinder spielen halbnackt; alte Frauen, Mütter 
sitzen mit ihrer Arbeit auf der Erde, als sässen sie 
auf der Wiese, und nur kümmerliches Gras wächst 
dort, wie ein Schorf auf krankem Boden. Und neben 
denKindem streichen die frechen, verlorenen Burschen 
herum, einen „Tschik" im Mund, spucken weit aus . . . 
Die Arbeitlosen, die die Nacht erwarten, ihre einsige 
Treue . . . Neben den Kindern streichen die Dirnen 
und erwarten einen Fang aus den Fabriken* Irgend 
einen ,,Herm^^ 

Der Lehrer Baumgart, der ja oft in die Gegend 
kommt, geht still seines Wegs. Den Hut in der 
Hand. Langsam, bedrückt von der schlechten Luft 
und Hitze. 

£ine junge Person geht an ihm vorUber. Er 
sieht sie nicht Sie eilt vorbei . . . Nach einer Weile 
kommt sie ihm entgegen. Sagt: „Kiiss' die Hand^* . * « 

Er sieht sie nicht weiter an. „Grüss Gott," 
sagt er. 

Und wieder macht sie kehrt, holt ihn wieder 

ein, kommt ihm wieder entgegen. An einer schmalen 
Stelle des Weges steht er ihr gegenüber . . . 

Eine kleine, halberwachsene Person, unordentlich 
angezogen, das Haar in verbrannten Löckchen ge* 

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kräuselt, in einer schreiend roten Bluse, der schwarze 

Rock, vom kurz, hinten nachschleppend . . . Ein 
gelbes Gesicht mit merkwürdig bewegten Augen • . • 
Sie sagt nodi einmal ,,Kttss die Hand*' und bleibt 
stehen. 

,,Grüss Gott,'* sagt er noch einmal und sieht 

sie unwillkürlich an . . . Jetzt erkennt er sie, denkt 
9,ah die Thüringer Romana** und will eben etwas 
sagen. Da spricht sie ihn an . . . 

„Möchten der Herr Lehrer nicht mit mir kommen." 

Der Lehrer Baumgart steht fassungslos . . • Ein 
furchtbarer Schrecken, eine entsetzliche Angst, eine 
Qual ohne Namen und Besinnimg schnürt ihm die 
Kehle zusammen. 

Dieses Kindt . . . Die Romana Thüringer I . • . 
Dieses liebe, merkwürdige ^ stQle, gute Kind ... 
Diel Diel . . . 

Er kann nicht ein Wort hervorbringen, nur 
ängstlich abwehrend und murmelnd, geht er weiter . . . 

Sie lässt die Hände sinken, die sie unwillkürlich 
nach ihm ausgestreckt hatte, das Lächehi mit dem 
sie ihn gegrüsst hatte, das Lächeln, in dem alle Er- 
innerung der paar schönen Tage ihrer Schulzeit lag, 
ihre Dankbarkeit, für die sie keinen andern Ausdruck 
wusste, als diese Aufforderung, mit ihr zu kommen, 
lag auf ihrem schlaffen Gesicht und als er vorbei 
war, blieb dies Lächeln eine Weile und erstarrte 
dann iiurchtbar. 

Der Lehrer aber ging eilig und entsetzt weiter. 
Das war das Schicksal der Kinder, die in seiner 
Schule waren . . . Und die sollte er zum Leben 
fuhren, zu einem reinen, freien, guten, frommen 

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Leben . . . „Religiös-sittlich" heisst es im Reichs- 
Volksschulgesetz ... Er spliite einen bitteini bitten» 
Geschmack im Munde. 

Das war sein Leben, da lag seine unerfüllbare 
Pflicht, sein nnerreichbares Ziel, dazu war er auf der 
Welt . • • Nie war ihm sein Dasein, sein armes, ge* 
plagtes, ^geiliches, mfihevollet, zweckloses Dasein 
schwerer auf die Seele ge&llen, als in diesem iVugen- 
blick . . • 

Als er nach Hause kam, lagen die Hefte, die 

er zu koiTigieren hatte, auf seinem Tisch. Er hatte 
seiner Klasse eine Arbeit aufgegeben: „Der schönste 
Tag meiner Ferien" . . . Und da erinnerte er sich, 
dass diese kleine Romana Thüringer damals ein 
dumpfes Zimmer, das so dunkel war, dass die 
Mutter bei der Nähmaschine am f enster nicht ein- 
mal genug sah, beschrieben hatte; wie im Frühling 
der Himmel blau über dem Hof lag und ins Zimmer 
nun doch die „liebe Sonne^^ schien. ^ 




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m 



Schmetterlingsjagd. 

Als idi ein kleiner Knabe war, im beginnenden 

Schulalter, wohnten wir den Sommer über in einem 
der lieben Wiener Waldorte nahe der Stadt. Wie 
ich die Wochentage mit Spiel und Lesen, allein und 
mit Kameraden verbrachte, ist mir längst aus dem 
Gedächtnis entschwunden. Nur an die Sonntage 
denke ich noch, wo mein Vater, der als Arzt 
die Woche lang in der Stadt festgehalten war, 
draussen blieb und sich und mir einen guten Tag 
machte. 

Andere Kinder suchen ihre Helden in Ti^umen 

und Büchern, mir galt als einziger Held des Lebens 
die ergreifende Gestalt des Vaters, eines bescheidenen 
Arztes, der durch viele schwere Unbill unbeirrt hm- 
durchging, still in den Leiden eines stets widrigen 
Schicksals lebte, gelassen und ergeben, bis er erlag, 
der allen Ehrgeiz unterdrückt sah, dem nichts nach 
Wunsch gelang, dessen Kräfte früh aufgebraucht 
wurden, ohne dass irgend ein Ziel sich erreichen 
Uess. So konnte er nur eines ganz sein und dies 
nicht ohne ein stilles, zaghaftes Glück: Vater. 

Ein Heldenleben ... In andern Zeichen, 

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Schmerzen^ Kämpfen als Knaben sonst, lernte ich 
das Wesen KÜies Helden erblicken. — 

Früh morgens stand er an meinem Bett, mich zu 
wecken. Die Aufregung und das Gefühl eines bevor- 
stehenden wunderbaren Tages hatte mich längst ge- 
weckt Aber ich hätte um Gotteswillen nicht die Augen 
eher aufgemacht» als bis er an mein Bett trat, um nicht 
dies erste Glück zu verscherzen, mich von ihm weckec 
2li lassen. Da stand er in seinem schloh-weissec 
Rohleinenanzug, einen breiten, längst aus der Forn 
gegangenen gelben Panamahut auf den dunkeh 
Haaren, die er in starken Locken trug. Er lächelte 
und ich lächelte. Ein grosses Kind blickte das klein« 
an, wie ein geheimnisvoller Widerschein. Er rie 
leise meinen Namen. Leise sagte ich nur: ja un 
sprang aus dem Bett. Ich ivusch mich, fuhr in di 
Kleider, indes er im Zimmer auf und ab ging . . 
In fünf Minuten war ich marschbereit zur Schmettei 
lingsjagd. Andere mögen von den Jagden de 
Helden auf hohes Wild, von denen der Afrikareisei 
den aui die reissenden Tiere träumen, ich träume vo 
diesen Schmetterlingsjagden. Und wonach die Sehl 
sucht auf der Lauer liegt und hofit und zielt, i 
eins, wenn es nur Sehnsucht war, die selbst Glüc 
ist und Erfüllung. Rasch tranken wir unsem Morgei 
kaffee und brachen auf. 

Ich hatte die Schmetteriingsbüchse umgehän^ 
Das Gewehr aber, das grüne Netz war mir noc 
nicht anvertraut, das liess sich der Vater nicht nehme 
Er trug es über der Schulter, wie eine wirkUche l^liut 
So gingen wir nebeneinander durch die noch ganz stQ 
JDor&trassei die, ein weisses Band, durch das grUi 

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Tal gescUimgen war, er festen, gleichen Schrittes,. 

ich aufgeregt und trippelnd, mit ihm zu kommen. 
No€:h heute spüre ich die Aufregung in der Kehle, 
wenn ich an die von damals denke, ich konnte nicht 
ganz tief atmen, so erregt war ich, vor Glück und 
gespannter Erwartung und schluckte jeden Augen- 

blick. Wir sprachen wenig. Nur der Plan wurde 

festgestellt Zunächst zur Scheune des Kleefelds, 
4as gleich nach den letzten Häusern kam. Dort 
waren die „Segelfalter'' zu Hause, die nicht gar 
kbäufig sind und nicht leicht gefangen werden 

^können . . . Und dann über den Bach zum Stein- 
3^ruch. Vielleicht kommt uns eine Libelle in den 
. Wurf; trügerisch sind die Wasserjungfern, sie ruhen 
^ scheinbar über der Quelle, schwebend, fast unbewegt 
rund sind mit einem Flügelschlag weit weg. Und im 

.Steinbruch sollten wohl die Schillerfalter** zu finden 
^in, so nannte er gewisse scheue Schmetterlinge 
^ mit emem ausserordentlichen Farbenspiel der Flügel- 
^decken. 

^ Da lag das Kleefeld. Blauschimmemd und 

wieder grün im leichten Morgenwind. Schon die 
Morgensonne dieses Uochsommertags brannte heiss. 
An der Wand der Scheune war ein schattiger 
^^Lauerplatst. 

Ich sass auf einen grossen Feldstein und wartete. 

^ Schon manche Schmetterlinge schwebten zitternd 
.wie weisse Geisterchen über dem Feld. Aber ich 
.emp&nd nur Verachtung fOr diese gemeinen KoU- 
pweisslinge, die ruhig sich ihres Lebens freuen 
^ dürften, da sie doch ganz gewöhnliche Wiesenge- 
'^seilen waren, die kein ordentlicher Kenner und 

4' 



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Jäger sondeilich beachtete. Dumme Buben mochten 

sie immerhin verfolgen, aber wirf . . . 

Doch jetst . . • »fSieh Vater^ da ist einer l*^ • • • 
Ich flüsterte . . . Mein Herz klopfte . . . Der Vater 
richtete das Netz. 

Leicht schwebte ein gelber Falter Uber dem 
Klee mit schwachen schwarzen Streifen, welche wirk- 
lich wie die Stützbalken eines gelben Segels aus- 
sah en. Der erste Segelfalter . . . Ihm, wie allen 
SchmetterUngen war mit dem zarten Leben, das wie 
eine sanfte Seele nur gleichsam an einem Faden über 
der Blume hält und mit dem ersten scheuen Trunk 
vom Leben das Leben selbst zu verlieren fUrchten 
rouss, auch diese Angst eigen, die ihn flattern machte 
und ihn gar nicht dem Genuas sich hingeben liess, 
der von den Blüten winkte und ihm zuströmen 
musste mit all der Gewalt des Duftes dieses jungen, i 
saftigen Klees, der ihm entgegenwuchs und sich ihm i 
bot. Wie ein gelbes Flämmchen zuckte er, schwebte 
jetzt über einer besonders auserwählten Blume und ; 
löste sich doch gleich wieder von ihr, suchte und 
zitterte und flog weiter. Man kann ihn nur fangen, i 
wenn er endlich einen Augenblick ruht ' 

Jetzt stand er still, auf einer Blüte die eigene 
leichte Last wiegend, im Schweben selbst scheu diese 
Lust des Lebens trinkend. Der Vater hatte ihm von 
der Seite her da$ Netz genähert, das er mit einem 
Ruck umwendete, so dass es Uber und Uber ihm 
zusammmenschlug. Ich lachte. 

Und dann kamen zwei Zitronenfalter. Ihre Flügel 
waren von höherem, reiferem Gelb, als habe die 
Sommersonne länger auf ihnen geruht und sie stärker 



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durchglüht Sie sduenen sich um die Blüten weniger 

zix bekiiounem. 

Ganz waren sie sich selbst, dem wmiderbaren 

Geheimnis ihrer Flugs, der tragenden Lnft, dem 
^eichten Spiel ihres leichtesten Körper hingegeben. 
Sie schienen za tanzen« Über dem schimmernden 
Feld wehten sie^ wOlenlos scheinbar, nur vom leichten 
Morgenwind getragen und doch sicher ihrem Trieb 
[lingegeben, in der geheimnisvollen, vergessenen In- 
brunst ihres Tanzes. So bildeten sie Wellen und 
Kxeise, beschrieben Figuren umeinander, indem sie 
einander zu suchen und zu fliehen schienen. Sie 
zitterten und schwebten, und schienen nichts zu 
wissen, als dies: Schweben und Leben über dem blauen 
Feld. Auch Uber sie schlug das Netz zusammen, 
so dass ein Tod diese beiden vor einander sehn- 
süchtig fliehenden Leben vereinigte. Nebeneinander 
ruhten sie nun schön und still und glühend gelb in 
meiner Büchse. 

Nun gingen wir längs des Baches dem Waide 
zu« An Weiden vorbei. Dar Licht klirrte in den 
leichten Wellen des seichten Wassers, Da schwirrten 
die blauen Libellen* Das sind kühnere Geister des 
rätselhafteren Elements. Als wären sie weit klüger 
durch alle die Gefahren des Wassers, und kühner, 
übermütiger durch all diese beständige Bewegung, 
über der sie zittern, waren sie unserer Lauer, dem 
plumpen Netz überlegener, als die einf^tigen Kinder 
der Wiese. Sie scheinen schmachtend über dem 
Wasser zu hängeui fromm, leicht zu £uagen mit 
einem Schlag, gleich aber sind sie weit weg, wo sie 
von neuem dies Spiel beginnen und überaus schein- 



4J 



heilig ihr sdiilleindes Gewebe der flttgel be8<:hauc 

lassen in lauernder Gefallsucht Die langstielige 
Leiber bleiben ruhig, starr, nur die schmalen oft gan 
grossmaschigen Flügel schwirren oder ruhen über det 
Wasser, so sind sie trügerisch, wie eben die Nixe 
der Sagen und Märchen, die in den Quellen za Haus 
sind, in den Quellen, die rauschen, die so kühl un 
traulich tun und doch aus der Höhe der Berge heral; 
stürzen und alle Kräfte der unbezwinglichen Natu 
in ihrer rauschenden Bewegung sammeln, in jene: 
Quellen, die so kühl, so unberührt, so freundlicl 
locken. Die Libellen sind die zarteren, aber wirk 
liehen Bachseelen. Sie rächen ihre holderen^ gnl 
mutigeren, unbefangeneren Schwestern, die Schmetter 
linge der Wiese, die in törichter Anmut leicht m 
Netz gehen, durch ihre kühne, kalte Klugheit, isA 
der sie uns narren, so manchesmal liessen sie aud 
des guten Wiesenwegs vergessen und lockten midi 

mitten in den Bach hinein, aus dem ich nass, beschämt 
unverrichteter Dinge mich zurückziehen musste. 

Schon brannte die Hitze, als wir beim Stein- 
bruch anlangten. Da trieben die Schillerfalter ihr 
Wesen, ihren köstlichsten nannte der Vater „EisvogeP^ 

„Siehst du, da fliegt einer." Ruhig, königlich 
einlach glänzte der Schmetterling aui, immer am NeU 
vorbei flog er hoch in die Luft. „Warte Vater» 
gleich wird er sich wo niedersetzen/' Weit gefehlt 
Wir gingen ihm lange nach. Unmüde schwebte er 

uns voran, leicht, sicher, stolz, ein königlicher Falter, 
wie die blauschwarze, unnahbare Einsamkeit de& 
Waldes selbst, hinter dessen grauen Stimmen er 
endlich verzitterte« 

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Am Saum des Waldes ruhten wir aus, hinter 

das stete Rauschen der lichten Buchen, über 
den seidenblauen Himmel, über den silbeme 
ken zogen, wie die unerreichbarsten Schmetter- 
te die kühle und ruhige Bewegung des Waldes 
Rücken, vor uns die gelben Felder, das sonnige 
Strasse, Bach und das ferne Dorf. Uiin])eer« 
den stehen mit reifen Früchten neben mis. Flinke 
"er laufen uns über den Weg, gerade in die Büchse, 
die leichteste Beute. 

Und das Butterbrot schmeckte. Die Zunge lief 

. ich schwatzte . . . Icii weiss nicht was, aber die 
>rte liefen eilig und unermüdUch, wie Käfer. 

Und dann belud ich mich nik Blumen, brachte 
1 ganzen Wald, die ganze Wiese mit nach 
.use. 

Da wir geboren werden, legt man uns an die 
ist der Mutter. Sind wir der entwachsen, so 
st man uns laufen, wie wir mögen, und so läuft der 
snsch weg von der Natur, bis er als erwachsener 
emdling ihr mit all seiner Sehnsucht gegenüber« 
äht und sie nie mehr besitzt . . . Da ist es gut und 
eise, wenn ein Vater das Kind, das längst der 
[utterbrust entwachsen, in die Arme der Natur legt, 
X wiedelgibt, was ihr gehört^ ihr nie genommen 
erden soll, ihr nie entwächst. 

Sie ist immer da • . • £s gibt böse Mütter, die 
ennodi Kinder haben . . . Grausames Geheimnis 
er Natur, weiche nicht einmal denen, deren Seele 
iftig, kalt und böse ist, die Fruchtbarkeit entzieht 
lelleicht ist es, weil über allem Mensclilichen, über 
[lern £rbe von Geschlechtersünden die unwandel- 



4^5 



Güte der Natur wacht, die aUes wieder g 

macht, was sich vertrauend an ihre Brust legen wi 
So blieb in mir das Bild dieser Jugendsomme 
tage und in Qirer Mitte die breite Gestalt meiof 
Vaters mit dem schlohweissen Anzug, dem verbogt 
nen gelben Panamahuti das Nets über der Schulte 
und der Blick dieser guten, lächelnden, kindliche 
grauen Augen, die ich in seltenen Stunden auf m 
ruhen ftihle, wie ein Abglanz metner selbst: de 
Kindes, das ich war, des Kmdes, das er war, d< 
mein Vater gewesen ist. 

Und über alles Gift und alle Qual eines firü 
wissenden, das heisst frUh leidenden Lebens siq 
dennoch dies Bild: Vater und ich, zwri Kinder ai 
der Schmetterlingsjagd, Wiese, Bach, glühender Steq 
brach, lichter, grüner Wald, Schmettedinge, weil 
Berge und Sonne 1 



Digiti! 



IV. 

Am Bruanen. 

Von Hiiiteldorf^ dem westlichsten Wiener Vor- 
rty der schon ganz dxaussen an Wiese, Wald und 

eld liegt, steigt gegen Norden rasch ein breites 
Gelände an, das zu nichtigen Waldhöhen führt, 
her die man talauf- und absteigend, am Saum der 
ussem Wioier Vororte und immer in gewisser Höhe 
eht Abn^ürts kommt man dann nach Ottakring 
nd Hemals, bleibt man oben auf den Scheiteln der 
lügel, so kann man gut an einem Nachmittag httgel- 
uf- und ab, wiesenauf- und ab, bis zur Donau hin- 
berkommen, zur Lmken immer Waid imd zur 
Lechten bald frei, bald durch Dunst und Rauch 
erdeckt die Stadt, deren Lärm zwar nicht bis hie- 
ler dringt, die aber doch dem Blick zu schallen 
md zu brausen scheint. Im Sommer bewegt sich 
ängs dieser schmalen Wege eine ununterbrochene 
Cette von Menschen, die sonst stille, anmutig freie 
regend, hallt von Stimmen, ist voll von Farben 
iöcke knittern, Gespräche, Geschrei, Lärm, Gesang, 
vufe, Sonntagshörner, Kreischen, bunte Kleider, 
arbige Hüte, flatternde Bänder, wehende Sacktücher, 



47 



geschwenkte Schinne, lichte Mädchen gestalten, scrhwer- 

hiawandelnde Mütter, lachende Kinder. 

Auf diesem Gelände, noch beim ersten Anstieg, 
gar nicht weit vom Orte Htitteklorf selbst und doch 
durch die verhältnismässige Höhe davon ganz ab- 
geschieden, ganz in den Wiesen drinnen und vor 
dem höher oben beginnenden Wald steht ein kleines, 
bäuerliches Haus. Das des Flurwächters, so gut ge- 
pflegt, wie es kaum das eines rechten Bauern wäre. 
Es ist der geliebte Besits eines Mannes, der die 

Stadt sehr wohl kennt und weiss, wie schön da^ 
Land ist, die paar Felder, die noch um sein Haus 
herum liegen, die Blumen, das selbstgepflanzte Ge 
müse, das Obst der runzligen, alten, kleinen Bäume 
und der rosige Schnee ihrer Blüten im Frühjahr. I 
Der Flurwächter ist ein Mann an der Grenze voii 
Bauer und Städter, er geht zwar nicht mehr in de| 
Bauemtracht, führt keinen Pfiug, hat keinen Ochsen, 
keine Kuh im Stall, hat kein Ackerland und tut 
keine Feldarbeit mehr, er ist woU ausser seiner 1 
Flurwächterei noch Schreiber in der Kanzlei unten, 
oder so etwas dergleichen, aber er liebt sein Eigen* | 
tum mit festerer und treuerer Gesinnung, als ein 
Bauer oder Städter das seine. Das erkennt man 
an den schönen Reben, welche an der Südseite 
des Hauses wachsen, gut hinaufgezogen, an den 
wohl-begrenzten Beeten von Gemüsen, an ein paar 
stolz nickenden Rosen, an ein paar feurigen Nelken, 
an dem guten Zaun um das Ganze« Im Ort 
unten nimmt man freilich seine Sendung nicht sonde^ 
lieh ernst Man nennt ihn den „GriUenwachter^ 
Von dieser Höhe blickt man weithin in das schöne 

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Pal, zu Füssen hat man das Örtchen, dessen buschige 

Gärten aus iiiren feuchten Beeten heraufzuduften 
icheinen und nach allen Himmelsseiten in der Feme 
3raune, grüne, blassere, blaue Höhen, die immer neue 
räler öfinen und mit feinen Linien endlich eine 
7anze Welt von Möglichkeiten veiraten, wohin man 
bückt, eine weite Welt! Zur Linken aber, ordentlich 
auf Schussweite und wie im Anmarsch rückt die 

Stadt heran, nur durch ein Gelände von einer halben 
Stundenbxeite getrennt Wie eine letzte stille ^itättei 
wie ein unbegreifliches Stück unberührter Natur liegt 
das bisschen Wiesenland da. Und hart am W^eg 
steht ein Brunnen, wie man ihn hier im Bereich der 
Stadt noch nicht oder nicht mehr gewöhnt ist. 

Noch hat also die „Hochquellen*Wasserleitung*' 
nicht bis hieher hinaufkommen können oder dürfen. 
Der Holzbrunnen steht da mit dem langen Schwengel 
mit einer nachlässigen Würde und Bedeutung, Schieb- 
dorn wächst rund herum. Das muss eine der letzten 
QueUen sein, früher für den ganzen Ort, jetzt wohl 
nur mehr für den Flurwächter von Bedeutung. Ja 
dieses Häuschen steht da, wie ein letzter Sohn einer 
Bauemzeit, als hier noch richtiges Land war, Uber 
das der Pflug strich, auf dem das Gold der Ähren 
gehoben wurde, wo der Boden noch nicht zur 

Spekulation mit der bucolischen Sentimentalität der 
V\riener erniedrigt wiurde. Noch sind die letzten 
„ViDen^^ nicht bis hieher hinaufgekommen, so kennt 
er das bisschen Wiesenland, wie seine Hand. Für 
die spazierengehenden Städler bedeutet es eine Welt 
von blühenden und unendlich mannigfaltigen Sternen, 
fon unbegrenzter Blüte, unversiegUch scheinen die 

49 * 



Nester der Primehi, der Huflattich^ die Meerzwiebelt 

Traubenhyazinthen, Löwenzahn und Bocksbart, die 
NesselUi der Ampfer, die Schleheoi die kecken, xer* 
zausten Sträucher der Heckenrosen am Hohlweg, 
die Skabiosen, der weisse, blaue, rosige, gelbe Klee, 
ihm aber ist es eine sparsame Herrlichkeit, als 
könnte er jede Blume zählen, die noch da wächst, 
jeden Stern, der noch da blüht, jeden Strauch, jeden 
Baum mit einem besondern lieben Namen nennen.^ 
Immer drohender wächst die Stadt heran, schon 
blickt ein neues Haus mit seinem roten Dach wie 
ein unverschämtes Gesicht von dem Gelände her* 
fiber, wie lang wird's dauern, und die ganze Herr- 
lichkeit ist aus. Wie lange wird's noch eine Flur 
hier oben geben, da kann man schon ein wenig 
eifersüchtig sein auf diese wenig lohnende Lebeos- 
aufgabe, diese letzte Flur zu bewachen, dieses letzte 
Land im Land, dies letzte freie Wiesenstiick. Den 
vergebliche Hüter des Landes! Als sei seine ganze! 
Sendung eine Grille, nennt man ihn im Ort dea 
„Grillenwachter**. — 

Er hat schon manchen kauflustigen Maim ab- 
gewiesen, der den veriockenden Grund ihm abjagenj 
wollte. An einem der schönsten Juhsonntage dieses 
Jahres, das mit der ganzen Kraft seiner vier ZeiteOj 
erschien, mit dem weissen, strengen Glanz eine*! 
harten Winters, mit der müden Heiterkeit eines Fran | 
lings voll Blüte, Bläue und Gesang, mit der frOheDl 
Hitze eines fruchtbaren Sommers und nun mit der 
reifen Farbigkeit und entschlossenen Schönheit des 
Herbstes, in diesem Jahr an dem schönsten alltf 
schönen Juhtage, an einem. Sonntag voll Sonne, 

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standen Nachmittags die Kinder des Flurwftchters 
unter ein paar alten Frauen vom Dorf, beim Brunnen, 
Schon war die erstere Mahd vorbei und die mattere 
Wiese trug nur mehr zageres Grün, und gewühn- 
lichere^ spärliche Blüte. Es gab meist nur mehr 
grünliche, gelbliche und schmutzigweisse Dolden mit 
vielen demütigen Häuptern. Es war ein heisser Tag, 
und alle Vorüberwandemden schwitzten. Auf das 
lebhafte Treiben und Gehen sahen die voia Brunnen 
mit jener guten Ruhe, welche man eben vom sichern 
Haien aus hat. Die Kinder des Flurwächters, das waren 
drei Mädchen, die Alteste vielleicht dreizehn Jahre 
alt, aber gross und stark, so dass man sie gut für 
fünfzehn hätte ausgeben können. Gross und braun. 
Braun, wie von einer südlicheren Sonne gebrannt 
Ja hier oben, wo die Sonne, so lang sie überhaupt 
scheint, frei und den ganzen Tag lang auf Haus, 
Blumen, Wiesen und Gesichter fällt, ist es leicht, 
braun zu werden, wie ein Italiener. Uberali ist 
Italien, wo Sonne ist Ja, die war braun, ihre Haut 
schimmerte ordentlich, als strahlte von innen heraus 
eine versteckte Sonne durch. Die Kmder waren 
ganz leicht angezogen, wegen der Hitze. Die Älteste 

auch, sie hatte nur ihre weissen Unterkleider an und 
eine weisse Schürze, so dass sie mit freien Schultern, 
freiem Hals und freien Beinen, mit freien Armen 
und freiem Kopfe dastand Sie hatte ein Krügeiglas 
in der Hand, woraus sie getrunken haben mochte. 

Jetzt spritzte sie ihre Schwestern daraus an, die lachten 
und sich freuten. Ab und zu kam jemand vom Weg 
herüber und bat um Wasser. Die Kinder mussten 
das gewöhnt sein, denn sie schöpften gleich aus dem 



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Bnumen, spülten das Glas aus und gaben das voUe, 

kühl angelaufene dem Durstigen, vergnügt darüber, 
dass sie dastanden und zu. tun bekamen^ wie eine ^ 
Wirtin am Schanktisch. 

Nun blickte die Älteste aufmerksam auf das Feld 
hin. Noch weit drüben, mitten durch die Wiese, 
nicht auf dem Weg, kam ein Bursch allein. Ein 
vielleicht zwölf- oder dreizehnjähriger. In einem • 
alten, braunen, unordentlichen, zerissenen Gewand, , 
aus dem em schmutziges Hemd hervorsah. Er ging 
wüst, als hätte er getrunken und taumelte fast Und ^ 
doch sah man ihm an, dass er gewiss keinen Heller s 
besass oder besessen hatte. Er stampfte und tau- 
melte. Er musste von Ottakring herübergekommen ^ 
sein. Das war die Dichtung. Ei scherte sich um ^ 
niemand, sah nichts, hOrte nidits, er hatte keinen ^ 
Freund bei sich. Aiiein strolchte er den langen, 
leeren, glühenden Sonntag lang. Konnte ihn auch . 
einer mögen, den schmutzigen Kerl, der nicht ein- ^ 
mal am Sonntag gewaschen imd geflickt warl Weiss J 
Gott, aus welchem wüsten Loch von Schmutz, Ge- • 
meinlieit und Gestank er gekrochen war. Man konnte j 
sehen, wie er absichtlich drauf los stampfte mit » 
jedem Schritte so, dass er gewiss etwas Blühendes ^ 
und Lebendes zertrat. Als er näher kam, sah man, 

dass er einen Stock in der Hand hatte, keinen ) 

gekauften Spazierstock natürlich, sondern einen x 

Stecken, den er im Wald ausgerissen hatte, noch ^ 

waren Wurzeln und Erde dran. Und mit diesem j 

Stock hieb er vergnügt grinsend um sich, aber nicht \ 

etwa so, dass er damit sausend über die Erde hin- 
sthch und nur die Häupter von Blumen mähte^ wie 



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{ Knaben pflegen, sondern so, dass er mit der Schärfe 
des Schlags in die Erde traf^ so, dass nach jedem 
Schlag Grasstückchen und Erde au&pritzten, wie 

^ Bhit Gerade auf die Dolden hatte er es ganz be* 

' sonders abgesehen, die mit mehreren Hiiuptern da- 
I standen, wie ganze, bescheidene Familien. Und die 
zerstörte er von Grund aus und ging nicht weiter, 
. ehe er so eine Blume ganz ausgerottet hatte. Da- 
bei hörte man ihn murmeln: , Jetzt hau i di; jetzt 
hau i dir den Arm ab ; den rechten Arm, den linken 
. Arm . • . Und jetzt hau i dir den linken ab und den 
^ Fuss und beide Füss und den Schädel'^ . . . Dann 

machte er vergnügt einen Schritt weiter. 
^ Nun bemerkte er den Brunnen. Er sah das 

^ Kind mit dem Glas in der Hand. Da hei ihm ein, 
dass er durstig war und eigentlich trinken könnte. 
^ So ging er auf das Mädchen zu. „Geh, gib mir a 
^ Wasser." Er steht da, schieß den Kopf auf den 
j Boden gerichtet, schon als suche er ein neues Opfer, 
^ ganz benommen von der Zerstörung. 

Sie schöpft ihm Wasser in das Glas und gibt 
es ihm. Er trinkt gierig das ganze aus mit einem 
' Schluck, wischt über den Mund und will weiter. Da 
sagt sie zu ihm : „Was hau'st denn so umeinand, was 
' möcht'st denn du sagen, wann einer dich so hau'n 
möcht: den rechten Arm, den linken Arm, den Fuss, 
den Kopf' ... Da blickt er auf, sein Gesicht ver* 
zerrt sich verlegen. Er schüttelt den Kopfc 

„Was geht denn das di an ... Mi haut kaner so . . . 
Das gibt's net . . . Und dann . . . Dös gspürt ja nix!" 
Und damit haut er auf eine der Schlehenstauden los. 
Das Kind sagt nichts weiter. Der Bursch macht 



S3 



sich wieder auf und stampft trotzig weiter. Haut 
wütender um sich. Sie schaut ihm nach. 

In einiger Entfemting sieht man, wie seine Arm« 
schlaff werden, wie er den Stock sinken lässt, ihr 
nachschleift und plötzlich, wie ermüdet stiU vor sick 
hingeht, über seine Beine stolpernd, ganz gottverlassea 

Vielleicht hat ihn zum erstenmal in seines 
ganzen Leben, zum erstenmal, s«tdem er aus seinen 
Schmutze hervorkroch ein Strahl einer höhern, reinen 
Menschlichkeit getroffen. Vielleicht VieUeicht is 
das ein Strahl gewesen, der ihn die grenzenlos 
Güte des Blühens sehen liess und der Natur, die e 
zerstampft, verwüstet Ein Strahl der schmerzlichen 
duldenden Schönheit jener Dinge, die er nie erkannt 
Vielleicht aber war's nur ein flüchtiger Augenblid 
der Beschämung, vergessen, sowie er in Ottakrini 
wieder in das Loch kriechti aus welchem der Sonntai 
ihn ausspie. Wer will sagen, dass ein Strahl der S chön 
heit, der unbegreiflichen, unendlichen der kieinstea 
Züge, fruchtbar sei und zweckvoll, aber wer wQl sagen, 
dass sie wieder ganz vergeblich sei, die unsagbare 
Schönheit, mit der jeder Augenblick schwer gefüBt 
sein kann, wie mit dem schimmemdstenTau einKelcb 

Das Kind des Flurwächters sah dem Burscheo 
eme Weüe nach. Dann wandte sie sich ab, einem 
neuen Lärm zu, den ein paar Betrunkene machten) 
die von derselben Seite kamen, von Ottakring her, 
dessen Dunstkreis mit dem steigenden Tag immer 
dichter, grauer, dumpfer näher zu kommen schien. 
Immer näher zu dem Flurwächterhaus inmitten der 
paar Wiesen, Obstbäume, des Brunnens xiad d& 
Wege dieses Geländes. 



t 

c 

V. 

t 

Musik. 

t Man lebt und lebt, ohne viel nachzudenken, 
man bringt den Tag hini wie er kommt, nimmt, 

^ was er gibt und so geht die Zeit und geht und 
macht uns töricht altern. Hier imd da aber gibt es 

( Augenblicke, wo eine Frage zu uns heranzuschweben 
scheint, wo die Einsamkeit oder die Menge, oft 
auch die grösste Einsamkeit in der grössten Menge 

: ein dunkles Auge auftchlägt und auf uns ruhen 
l'ässt, dass wir iui Innersten getroffen sind und dies 
Leben fühlen. Leben . . . Nun ist es wirklich da, 
seine Schönheit, Macht und sein Leiden . . . Und 
dann kann es geschehen, dass der Begriff Mensch- 
heit mächtig an unser Herz greift, ein Begrifi^ der 
sonst ein dürres Wort war, auf das wir zu hören 
verschmähten. Man sitzt in einem schattigen Wirts- 
garten auf einem Ausflug. An vielen Leuten ging 
man vorbei und hatte nur auf das grüne Tal acht 
und auf das Blühen ringsum. Mm atmete die 
Schönheit dieser Welt mit der starken, guten Luft 
ein « * • Und an einem Nebentisch, an einer langen 

SS 



Tafel siUen Männer und Fraueni Arbeiter, irgend 

ein Verein von Setzern oder Schneidergehilfen. Und 
fangen zu singen an • • • Die heilen und die dunkeln 
Stimmen klingen zusammen, weben sich ineinander, 
suchen sich und finden sich und fliegen in inniger 
Umarmung der Töne über das Tal hin, in die Weite, 
ziehen mit den Wolken, rauschen mit den Bäumen, 
mit dem Wasser des Bachs unten . . « Die alten 
Volkslieder und die Kunstlieder, die zum Volk zu- 
rückkehren, mit denen es sich schmückt, wie mit 
Frühlingsblumen. „Die schöne Müllerin". „In einem 
kühlen Grunde" . . . „Der Wanderer" . . . „Wan- 
derers Nachtlied" und ,|Ach, wie so bald, wie so 
bald verhallet der Reigen". 

' Sie singen . . . Und aus Leuten, aus schlecht 
angezogenen, die den ganzen Tag über Blödes ge- 
redet, unsinnig gescherzt, imsinnig getrunken haben, 
die über Berg und Tal gegangen sind, wie man so 
geht, werden plötzlich Menschen . . . Die Worte, 
die den wenigen zusammenklangen, um von diesem 
seltsamen Leben zu singen, von den Wundem der 
Jahreszeiten, die Lieder, in denen das Volk auf ein- 
mal als ein höheres Wesen wandelte und wiriLte, 
sind nun ihnen eigen, die sonst nichts sagen und 
nichts wissen, die ihre Tage hinbringen und kaum 
ahnen , dass sie leben . . . Nun haben sie aDe 
Stimmen. Musiki • • • Nun sind sie beseelt, nun 
wächst aus einzelnen die Wunderblume: Menschheit 
in einer klingenden Blüte hervor. Beschämt sitzt 
man da und horcht « • . Die Töne locken das 
tiefste Wesen hervor aus ihnen, aus uns. Und 
plötzlich stehen zwei ferne Bilder vor mir, unsägUch 



rühxend, wie die musizierenden Englein auf einem 
alten Büd. 

Das eine erhob sich einmal in einem Tanzsaal, 
wo junge lifiUlchen in hellen Kleidern und schwarz- 
befrackte Herren tanzten, nach den Wakem eines 
hämmernden alten Klavierspielers • • • Es war eine 
stumpfe, grelle Musik mit hartem, stockendem 
Rhythmus und in der heissen Luft, in dem unsichem, 
trüben Schein der Lichter wuchs doch das tiefe 
Geheimnis der Menschen aus diesem Tanz hervor, 
die alte Lust, die diese Paare aneinander hingab, 
die sich eng angeschmiegt drehten und schwebten 
und vereinigten, als fänden sich in der Einsamkeit 
der Sinne junger Mann und junges Weib • • • Und 
in dem Saal war ein kleines Kind von drei Jahren 
zurück geblieben. Weiss der Himmel, wie es sich 
davon gestohlen hatte, wo es doch schon längst 
hätte zu Bett sein und schlafen sollen . • . Erst 
wusste es nichts mit sich anzu&ngen, stand in einer 
Ecke und beschattete mit den Händen seine Augen, 
die vor all dem Licht, Lärm und Staub blinzelten* 
Dann sah es diese zierliche, drehende Bewegung der 
Tanzenden, hörte den gleichen Rhytlimus des 
Walzers, und endlich wurde es in den allgemeinen 
Taumel mitgerissen, so dass es selber seine kleinen 
Beine zu heben anhng und sich drehte. Aber es 
hatte keinen Gesellen. Da sah es seinen Schatten 
an der Wand und breitete die Arme nach ihm aus, 
als wollte es ihn um&ssen, wie es das bei all den 
grossen Leuten sah. Und begann sich zu wenden 
und zu schwingen und zu drehen, mit seinem 
Schatten, lachte, tanzte, unbekflmmert, von den 

57 



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andern nicht beachtet in stiller Gluckseligkeit - 
Dies war das erste Bfld« 

Und das zweite erschien im heissen, sonnige 
Fassatal, wo ich einmal auf der Terrasse des Gras 
Hauses bei einem Glas roten Weines dem Sonnta 
zusah. Nachmittags kamen auf dem Platz alle ei 
wachsenen Männer des Orts freiwillig zusammex 
jeder mit seinem Instrument in der einen und einec 
BUblein an der andern Hand. Sie stellten üch i 
einem Kreise auf, der älteste und kundigste trat h 
die Mitte und hub zu dirigieren an. 

Aber bevor sie die Hömer ansetzten und dii 
Klarinetten, trug sich dies Seltsame zu, dass du 
Büblein, die brav an der Hand des Vaters mit 
kommen durften, sich sorgsam vor die Alter 
postierten und die Notenblätter von ihnen aus- 
geliefert erhielten. Diese Blätter fassten sie behut* 
sam an und hielten sie mit ehrfürchtiger Scheu un- 
beweglich und mit gross-emsten Gesichtern empor. 
Nun konnte die Musik beginnen. Hell fingen die 
Horner an und der Marsch schmetterte. Die kleinen 
lebenden Notenpulte aber standen, wie fromme Bild* 
säulchen da, den Blick ehrfurchtsvoll auf die blasenden 
Väter gerichtet und die Händchen ruhigi dass ja nur 
die Blätter nicht zitterten und dass die Noten sicher 
abgelesen werden konnten , da sie ja schon die 
Ehre hatten , der Musik des Sonntags dienen 2U 
dürfen. — 

Wenn man einer wahren Musik zuhOrt, die aus 

der innern Notwendigkeit der Menschenseele wächst, 
dann kommt zugleich das Schönste, Unwillkürlichste 
hervor an das licht . * , Die Menschheit blüht 



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gleichsam au£ So sang der Gesangvereia seine 
Lipi^der und das Leben lächelte einen Augenblick 

ein heiliges. Und ein glühender Abend nahm 
auf und veiband diese Musik seiner eigenen, un- 

t>«wegten, grossen Schönheit, — 




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Reiseaugenblicke. 



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I '■'B".'B' 3Mtt 



L 

St. Ulrich in Groden. 

Die Reise nach Süden. Über den Brenner. 
Durch das dunkle Waldtal, eine uralte Römerstrasse 
entlang, zu Füssen der rauschende i^iusstobel, und 
rechts und links bei jeder Wendnng öflhen sich neue 
Täler Tirols mit silbernen Firnen, rein und weiss sich 
hebend von dem starken Grün der Wiesen. Tannen, 
Laubwaldi Fhiss und Feld von herber nordischer 
Kraft und von der Schönheit einer strengen Natur. 

Und dann senkt sich der Weg: Franzensveste, 
die Grenze, der Süden, die neue Welt. 

Der Süden. Die alte Heimat unserer Wünsche 
und Sehnsucht. Nicht erst jenseits der Grenze, wo 
die ^fremde Sprache begmnt, hier schon steht Italien, 
hier beginnst du, Süden, Heimat, Sehnsuchdand, 
vertraute Fremde. 

Mit einem Schlage scheint ein anderer Himmel 
über uns zu stehen, andere Berge wölben sich mit 
schöner Rundung, andere Bäume stehen am Ufer der 
Eisack, sanfte Weiden, fruchtbare Wemberge bilden 
das Gelände, alles ist heller, strahlt in reicheren 
Farben. Italien I Italien! Italien I 

63 



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Von Waidbruck geht, leicht ansteigend, der Weg 
hinan ins „Groden'^ das ist ins Herz dieses südlichen 
Tirol, wo sich in der Landschaft wie in den Menschen 
die Seelen zweier Länder vermählen und die schönste 
Blüte eines Land- und Menschenwesens hervorbringen : 
Italien und das nordische Land, deutsche und italie-^ 
nische Rasse in wunderbarer Verbindung. 

Ein Tal, das sich anfangs kaum unterscheidet 
von der deutschen Mittelgebirgslandschatt Wenn 
man das sUdUch anmutende Tal der Eisack verlassen 
hat, glaubt man sich hier wieder weit zurück in die 
mässigen Formen nördlichen Mittelgebirges versetzt 
Hügel, Wiesen, Berge mit reichen Nadel- und Laub- , 
beständen wandern längs der sanft ansteigenden 
Strasse. An dem alten Römerschloss Kastelrutii 
vorbei, 

An einer Stelle hebt sich der Blick unwillkürlich. 
Das Tal scheint mit einemmal geschlossen durch ein 
steiles Wiesengielände. Ein dunkler Wald zieht oben 
vorbei, an seinem Rande stehen zwei weisse Bauern- 
höfe mit geschwärztem, reichem Gebälk. Weit müssen 
sie hinüberschauen, bis ins Oetztal, weithin über süd- 
liches und nördliches Landwesen, der Blick muss von 
dort die ganze Landschaft mit allen ihren Möglich- 
keiten umfassen wie die Faust einen YogeL 

Die „Vogelweiderhöfe". Da soll Walter von der 
Vogelweide zu Hause gewesen sein. Mag ein anderer 
die Wahrheit dieser Sage prüfen, wenn man zu 
dieser blühenden Stelle gekommen ist und dann eine 
Stunde weiter in St Ubich mitten im .,Gröden'' steht, 
glaubt man's mit aller Herzlichkeit. Da kann er 
wohl gern zu Hause gewesen sein. Hier mag das 

64. 



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d geboren worden sein und hier der Mann, an 

Ort, wo Nord und SüdeD, DeaUchland und 

ien emander in Armen lagen und Träume träum* 

, indes der Blick weithin die Täler, Berge, 

isen, Weinberge, die sdummemden Flussbänder, 

glühende Rot der südlichen Dolomiten und das 

eme Weiss der Firne, die dunklen Höhen des 

itschen Tirols umspannte, indes unmittelbar vor 

a Hause eine Wiese lag, eine Wiese auf der ein 

iner Knabe sich wohlig wälzen mochte, und ein 

gling alle Blüten, alle finden mochte, mit ihren 

itesten Sternen, die je eine Hand zum Kranz 

den mag fUr ein schönes Haupt. An diesem 

eazweg Deutschlands und Italiens, an diesem hohen 

esenhange magst du zu Haus gewesen sein, du 

Qclerbarer Sänger, in dessen Wort die deutsche 

räche sich zuerst mit holdem Staunen als Lied 

ühlt hat, wie eine Jungfirau zum erstenmal als 

-ib, in dessen Gedicht zuerst all der Sinn be- 

blossen war, der das deutsche Leben je durch 

^end Gefahren trieb, aus dem nordischen Dunkel 

den hellen Süden. Du magst auf diesen Wiesen 

'rst den Kranz gebrochen haben. In deinen Liedern 

•d Deutschland, der schönsten Frau, die Krone 

^gesetzt, die Krone über den Süden. Wo diese 

^Sc, diese Wiesen, alle diese Blumen wuchsen, 

auch Walter von der Vogeiweide gewachsen 

^1 der deutschen Blumen blühendste. Es ist 
• 

'^g^us so verständlich, dass man seine Heimat 
'ht kennt, wie nie die Heimat einer Kunst, die 

* den tiefsten Gründen einer Volksseele, aus den 
namhaftesten Umarmungen einer Volksliebe ge- 

öS 5 



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I 



boren wird. Wo am üe&ten geliebt, am sehnsüchtig^ 
ilen gewttatchti am treueslen begehrt wurde, da id 
sie erwachseDi und nachher weiss niemand die Stelle. 
Die liebe imd das Lied wachsen am besten im 

keuschen, tiefen Schatten des (Geheimnisses und dann 

leben sie. stolz weiter, Idingen, rauschen, werden oä 
m ihrem Wordaut vergessen^ indes sie ihr Wesen 

weiter vererben in den Geschlechtem, denen dann 
ein unbewusster Wohlklang im Blute liegt, rauscht 
und mit ihrem Leben mitklingt Es ist dann wie ein 
Wahrtraum, dessen Deutung man yertraut, dass siel 
an der Stelle geboren werden mussten, gerade an 
jenem Wiesenhange, wo die Blumen am vollsten 
blühten und wo der Blick jene zwei Länder am ge- 
waltigsten zusaramenfasst und am leichtesten; die' 
glühendsten Felsen, den blauesten Himmel, die Hänge 
voll Wein, die zusammenfliessendeu Ströme, die 
fernen silbernen, die nahen dunkelgrünen Berge, 
Deutschland hier, Italien in der Weite. 

Und dann liegt mit einem Male offen, breii, 
fruchtbar, heiter und reich „St Ulrich im Gröden^^ 
da, von den zwei mächtigen Bergen, der „Sella- 
Gruppe^' mit dem südlichen, dem „Langkofd'' mit 
dem heimischen Namen, eingeschlossen, welche mit 
ihrem verwitterten, abenteuerlichen Gestein im Abend 
schimmern, gUnzenden Schnee wie Kronen auf den 
Gipfeln, mächtiges Geröll vor dem erweiterten Ufe 
des Baches, blühende Weiden, üppiger Wald rings- 
um. Geht man ins Innere des Tales bis zu seinem 
Abschhiss weiter, so kommt man nach Wolkenstein, 
und da war ein anderer Sänger zu Hause auf einer 
Burg, deren Reste noch spärlich dastehen, und wo 

66 



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I 



er von einer wunderlich qnlleriscfaen, sweÜeDuiften, 

schönen Frau, der Sabina Jäger, sehr genarrt wurde: 
^ Oswald von Wolkenttein» 

I In den Läden von St Ulrich sieht man neben 
allerhand Schniuereien, Tür die das „Gröden" be- 
kannt ist, die Bilder der Grödener Bauern in ihrer 
bracht. Da sind zwei, die man nicht vergessen 
kann 

Das eine einer Frau in den vollen Jahren. Sie 
ist im Schreiten dargestellt, im reifen, starken Gang 
eines mütterlichen Weibes. In einem altertümlichen 
Kleide, wie es nur mehr dort zu Hause ist, aus 
steifer Seide, an den Schultern breit, mit breiten 

Armein, hochgegürtet, darunter eine bunte, glühende 
Schürze, um den schlanken, doch starken Hals altes 
Geschmeide. Das Gesicht einer stolzen, schSnen, 
treuen Frau. Im Blick liegen alle Rätsel emer alten 
Volksvergangenheit und um den Mund die herbe 
Süsse fraulichen Wissens, Ahnens, Schmerzes. Die 
Mutter, die Geliebte« £ine deutsche Bäuerin. Und 
Italien liegt in diesem Weib. Alle heisse Kraft des 
Südens und alle feste Sicherheit des deutschen 
Wesens. Wer weiss, aus welchen Geschlechter* 
Verbindungen als letzte Blüte dieses Weib hervor- 
ging, als das schönste Wesen, wer will die dunklen 
Vergangenheiten ahnen, aus denen die wahre, grosse, 
gegenwärtige Schönheit erwachsen ist mit ihrer rätset 
baften SelbstverstilndHchkeit, mit ihrer ganzen Fülle, 
ihrem sicheren Gange, ihrem herben Mund und ihrem 
Blick, der weiss und fragt und schweigt. Die ganze 
grosse Schönheit mit ihrer scheinenden Gewissheit 
sdüiesst wieder das ganze wesenlose, schwebende 



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Rätsel der Geschlechter ein. So geht diese mütter* 
liehe Frau durch den Traum der Ermnenmgen. 

Und das zweite Bild. £in junges Mädchen, sie 
ist achtzehnjährig verstorben, kurz nachdem man 
dies Bild von ihr abgenommen, sagte man mir. In 
ähnlicher Tracht ist sie dargestellt, ähnlich frei, offen 
dem Betrachter zugewandt, wie die Frau auf dem 
anderen Bilde, aber ein unsäglich weiches, mildes, 
liebes Gesicht, von einem breiten Filzhut beschattet, 
blickt mit dunklen, treuen Augen, wie eines sanften, 
schönen Tiers, uns entgegen. Noch ist Liebe, 
Wunsch und Wissen nicht durch dieses reine Wesen 
gegangen. Noch ist alles zart, frei und heiter. Und 
auf diesem heimatlichen Tal hat der dunkle Blick 
dieser klaren Augen geruht 

Hier wachsen noch diese starken, grossen 
Frauenwesen, deren Blick Reinheit bedeutet, mütter- 
liche Verheissung gesunder Fruchtbarkeit. Aber 
wachsen hier auch Gedanken, Worte, Männer, 
wächst auch ein Leben hier, wert, von einem solchen 
Blicke angeschaut zu werden? Ja, hier magst du zu 
Haus gewesen sein, Herr Walter von der Vogel- 
weide. Hier mögen ungelehrte Lieder solcher bäuer- 
lichen Frauen um dich erklungen sein, während sie 
das Korn auf die Wagen hüben, oder das Heu zu 
den Stadeln trugen. Und imter solchem breiten 
Hut mag dich ein solcher klarer Blick angeschaut 
haben, der dein Leben lang auf dir ruhte^ so ruhelos 
du warst, und der dir nachging, als du Ubigst dies 
Tal verlassen hattest. Aus diesem Tal mag dein 
Gesang angeklungen sein, wo aUe Blumen wachsen, 
die ein MtnneUed meinen kann« 

ifi 0 o cg ^ 



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IL 



Roma intangibile. 

Von Cortina fährt die Post abmürts das Am* 

pezzotal hinab gegen Italien zu, bis nach Belluno. 

Bald ist man an der Grenze . « • Der Kutscher 
ist ein pfiffiger Vetturino, im Wagen rutscht auf der 
Lederbank ein lachender, schwatzender, schmutziger 
Italiener, Handlungsreisender oder dergleichen, herum. 
Sie schreien beide einander zu, und wenn draussen 
auf der Strasse jemand geht, geht das Gespräch 
auch dort hinüber und herüber, Witzworte fallen, 
und das laute Lachen, Reden, Spotten fliegt mit, 
wie wenn weisse Vögel neben dem Wagen flatterten 
• . . Jetzt zweigt eine steile Bergstrasse nach Pieve 
di Cadore ab, von dessen dunklen Fichtenwäldern 
einst ein starker Meister südwärts nadi Venedig 
wanderte: Tizian. Wie mit offenen Armen nahm 
Venedig, die Weltstadt, einst die Kinder dieser 
Alpen auf, das ewig junge^ frische Blut, die starken 
A^ner des Gebirges. Ihre Kraft, ihre Schönheit 
strömte in die Stadt, deren Macht- und Kunstfulle 
wie alle Weltherrschaft nur denkbar ist aus der Zu* 
sammenfassung der stärksten Menschen- imd Geistes- 
^liächte ihrer Zeit Erst wenn man dies schöne 

69 



Hinterland Venedigs durch&üiren hat, begreift man 
die wunderbare Natur der venetianischen Malerei . . . 
Die blauen Berge und Wiesengelände, die feinen 
Baumscbläge, die burggekrOnten Hügel auf manchen 
Bildern des Giorgione, die Herden und gehäuften j 
Kom* xmd f ruchtlager auf denen der Familie Bassano, | 
die leicht beschatteten, in dämmernder Toneinheit 
träumenden Hintergründe auf Tizians Bfldem, Land- 
schaften, welche wie Jugenderinnerungen die Folie 
bilden für all die sinnliche Gewalt des Lebens, welche 
vom m schönen fVauenkörpem, in mythologischen 
Scenen, in ernsten Porträts bedeutender Venezianer 
der stolzen Republik ausgedrückt wird, von eiaem 
Meister, in welchem die Lebenskraft, die Sübike 
eines Alpenkindes bis in das Greisenalter lebte, wie 
ein Wimder. Dies ist die Rasse, welche die blonde, 
schulterbreite, edle Schönheit der Frauen des älteren j 
Palma hervorbrachte. Dies Geschlecht war fähig, 
Venedigs Leben zu leben und Venedigs Lockung, 
Lust und Pracht zu tragen. Venedig schloss mit 
starken Armen dies Gebirge an sich Und lag gleich- 
sam in seinem Schutz • • . Und wenn auch der 
Löwe von San Marco von der Grenze an in allen 
Dörfern, Märkten, Städten, an Häusern, Steinen als 
Merkzeichen erscheint, so war doch nur das äussere 
Zeichen der Herrschaft Venedigs über dies Alpen- 
land darin ausgedrückt; nicht das wahre Verhältnis 
der Kräfte. Doch wer will in einem geordneten, 
schönen Qanzen menschlicher Kultur all die zu- 
sammen spielenden Elemente sondern, Gebendes 
von Empfangendem, wo eine schön zusammen- 
strömende Einheit ein Gleichgewicht erhält, wie in 

70 



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einem gesundem Körper? , • . Erst als diese innere 
Harmonie zentöit, als die iibeimässigen Lockimgeii 
des Orients, der östliche Taumel von den reisigen 
Kauf leuten Venedigs ahnungslos über die Frächte 
der offenen Stadt ausgebreitet wurde, als man der 
Berge vergass, verfiel das grosse Gemeinwesen von 
Venedig, die Menschen wurden entnervt, mit dem 
Gleichgewicht der gesunden Rasse wiu-de das Gleich- 
gewicht der Sittlichkeit zeistOrt, die Sinnlichkeit, erst 
der schöne Ausdruck gesunder Geschlechter und 
lebensfreudiger Fülle, wurde überfeinert, Uberall 
schlich sich die cbrQckende Last orientalischen Über- 
flusses ein und das Leben nahm die Gebärde für 
das Wesen an und vertauschte das Zeremoniell der 
Macht mit dessen unwillkürlichem GefühL Und da 
sank die Stadt und verlor alles . . • Da wurde das 
Gebirge vergessen, und die Natur verwüstete die 
menschliche Arbeit, Venedig, das so viel empfangen 
hatte, konnte nichts mehr gewähren, der Blutumlauf 
stockte. Und nun mochten die Gewässer der 
sandigen Flüsse, die Lawinen, die Wälder wüd 
wachsen, wie sie mochten . . • Durch ein verwahr- 
lostes Gelände ÜLhrt man jetzt vom Ampezzotal ab* 
wärts nach BeUuno. 

Auf der österreichischen Seite ist das Tal noch 
in guter Ordnung. Mit schönen Pfluglinien heben 
sich die Felder fein abgegrenzt von einander ab 
md ziehen ihre langen gelben, grünen, braunen 
Streifen, in weisser Tünche schimmern die netten 
Häuser. Hier auf der itaUenischen Seite fällt all der 
Zwang. Die Häuser werden immer verwahrloster, 
grau liegen sie da, aber seltsam bedeutend mit ihren 

7' 




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grossbogigen Toren* Sie alle zeigen auf eine Vei 

gangenheit und wissen mit ihrer Gegenwart nicht 
anzufangen, der sie sich still ergeben. Die Feldes 
sind in Unordnung, in einer fast sußUligen, std 
selbst überlassenen Fruchtbarkeit Schmutzige, zer 
lumpte Kinder mit alten, scUauen, wissenden Ge 

sichtem lungern auf der Strasse. In den Dörfert 
Stehen die Gebäude nut den ungeflickten Schindel: 
dächem wie zerzauste Bettler da, wie Venedigs Betda 
mit grossartigem Faltenwurf und edler Gebärde. Aui 
dem Hauptplatz ist der grosse Steinbrunnen von 
Weibern umlagert, von ungekämmten schwarzen 
Weibern, die das Wasser in zwei an einer £isen8tange 
schwebenden Kupferkesseln auf der Schulter tragen. 

Je rascher der Weg sich längs der sandigen 
Piave senkt) die mächtige Holzstämme hinabführt 
und silbern springende Quellen aus den Wäldern 
aufiiimmti desto mehr verlieren die Orte ihren 
bäuerischen Charakter und desto stärker wird ihre 
wüste Verwahrlosung. Immer öfter hockt der Löwe 
von San Marco auf den (jebäuden, über dem Tor 
• . • Schon spürt man den Atem Venedigs . . . Mao 
glaubt an dessen Schwelle zu stehen^ man fährt die 
alte Strasse hinab, wo all die Bergbewohner hinab- 
schritteui der Ebene zu, zur Hauptstadt, angelockt 
von ihren unermesslichen Reichtümern, goldenen 
Wundem, erhofften Abenteuern, erträumtem RuhflO, 
wo die Pforten des Lebens offenstanden und Ströme 
von Menschen eingehen Hessen in eine Stadt der 
Träume und der Erfüllung, wo das höchste Lebens- 
gefiihl sich staunend einer unbegreiflichen, nicht 
auszuschöpfenden Herrlichkeit gegenübersah • . • So 



7^ 




-wurden hier diese Paläste gebaut, wie steinerne Ver- 
sprediungen dieses nahen Glanzes, oder wie steinerne 
Erinnerungen daran mit ihren grossen Bogenfenstern 
und Simsen, mit all der königlichen Anmut Venedigs, 
selbst. Jetzt ist das alles leer. Nur das Erdgeschoss, 
rauchig, mit rissigen Mauern und armseligen Ziegeln, 
ist bewohnt, die Stockwerke klaffen, die Fenster 
starren aus leeren Hölüen, wie die tiefliegenden,, 
schwarz lun^derten Augen eines Fieberkranken. 

Die dürftigen, schmutzigen, unordentlich und zweck- 
los umherwimmelnden Menschen gehören nicht hier- 
her und scheinen wie Ratten in dem verlassenen 
Hause würdigerer Bewohner ihr Unwesen zu treiben. 

So geht der Weg an einem Dorf nach dem 
anderen vorbei. Auf den Strassentafeln scheint sich 
das Bewusstsein der armen Leute noch einmal an 
den jüngsten Heldentaten zu berauschen, — hatten 
sie denn daran einen Anteil ? In jedem Flecken gibt 
es eine „Strada Vittorio Emanuele^', eine „Piazza 
Garibaldi'^ Es muss unlängst auch eine Wahl ge- 
wesen sein, wie ja überall in dem parlamentarischen 
Europa über das tägliche Leben die Erinnerung oder 
die Vorbereitung einer Wahl den Schein wichtiger, 
höherer Aufgaben und eines polltischen Bewusstseins 
wie eine ziemUch plumpe Schmeichelei hinwirft. 
Überall kleben halb zerfetzte Wahlplakate . . . 
Eleggetel Eleggetel • . . Die Namen sind nicht mehr 
sichtbar. Es ist ja auch gleichgültig. Wählt! WäUtt 
Als sei darin alles Glück beschlossen . . . Die Kraft 
des Volkes, die nicht mehr ausreicht, diese Häuser 
mit gesunden, fleissigen, reinlichen Bewohnern zu 
iuUeni die Felder instand zu halten, diese Dörfer zu 

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reinigen, die Dächer zu flicken, Glas in die Fenster 
einzusetzen, wird noch zu grossen Taten angespornt 
Eleggete! Eleggete! Und nun spielen die armen 
Kinder mit den grossen Worten und Verheissungen 
eines Repräsentativsystems, das den Ausdruck einer 
Macht bedeuten soll und für sie eine kindliche 
Torheit ist . • • Sie wählen ... Sie hungern, sind 
schmutzig, dürftig, elend — und wählen. Das ist 
ihr Recht, damit wird den letzten geschmeichelt, den 
letzten Abkömmlingen des lächelnden Venedig . . . 

Und da sah ich an einer schmutzigen Wand, mit 
Kohle ungelenk geschrieben, ein wunderliches Wort 

Für die Dorfbewohner musste es wohl irgend 
eine Wahlparole bedeuten, irgend ein politisches 
Schlagwort, eine populäre Parteiphrase. 

„Roma intangibile , 

Ich aber empfand einen Schauer der Ehrfurcht, . 
des Staunens. Hier ist Italien! | 

Unser aller Wort stand hier geschrieben. Dies 
hatte sich fortgeerbt, wie das Bild und der Traum | 
dieser fernen Stadt, der ewigen. Venedig mag; 
sterben, die ganze Pracht der Vergangenheit mag 
verkonunen, die Menschen mögen klein und elend 
geworden sein, aber hinter all der Fülle schwanken- 
der Ereignisse taucht die grosse Siebenhügelstadt au£ 

Unantastbares Rom! 

Und Rom greift mit seinem Namen, mit der 
heiligen Macht seiner Weltbedeutung über die ganze ; 
europäische Erde . . . Noch war ich am Saume 
Italiens. Und ein Herzschlag geht aus, bis in diese 
letzten Glieder, wie diurch das edle Blut der Arterie. 

Roml Rom! Unantastbares Rom! — , 




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m. 

Venedig. 

Unter den lebenden, in ihrer Gegenwart mit 
Arbeit und Kampf tätigen Städten wirken die mäch- 
tigsten Widersprüche zusammeD, und sie sind es, 
welche die mannigfütige Form des Daseins aus- 
machen. Eine zusammengefasste Vielheit von Rassen, 
Ständen, Nationen, Individuen ist in endloser Be* 
wegung nach unbekannten Zielen. 

Erst die Geschichte, der Rückblick auf Ver- 
gangenes gibt Deutung und Einheit Aus gestalten« 
voUen Bildern liest man ein Leben ab, das einst 
verworren war, wie das unsere und nun in schöner 
Bestimmtheit selbst seine Rätsel, seine Unbegreiflich- 
keiten als Symbole der widerspruchsvollen Seele 
der Menschen erscheinen lässt, so dass Unverständ- 
liches hingenommen wird, eben weil es war» Völlig 
2om üffirchen wird aber dies Emst, wenn es losgelöst 
von dem heutigen Leben, abgeschlossen als bloss 
<^wesenes daliegt m traumhafter Einheit 

So ist Venedig für uns das wahrhaftigste 
Märchen, das jemals ersonnen und in Stein, Farben, 
Luft, Wasser, Himmel und Personen von einst da- 
^teht als Einheit, als Zauber, als Traum« Nicht, was 
Erfindung ausdenkt, sondern zn^eidi was die grosse 

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£rhöhimg der Schöpferkraft über den Einzekea 

hinaus, in Jahrhunderten der Tätigkeit einem ganzen 
Stadtvolk zum Leben aufewang, was alles gemacht 
wurde, bildet den unbegreiflichen, hohen Zauber 
von Venedig« Ein kleines Volk, das in seiner Ge- 
samtheit kühn nach dem höchsten Möglichen, neiiii 
nach dem höchst Unmöglichen griff, über die eigene 
Kraft hinaus, auf allen Feldern der Tätigkeit, seine 
Stadt, sein Leben bildete, unwülkiirlich, organisch 
und doch so rätselhaft schön. Eben dass eine solche | 
natürliche und wieder höchst künstliche Einheit- 
möglich war, ' aufwachsen musste und nun als 
vollendetes, ausgelebtes Kunstwerk daliegt, macht 
das Märchen aus, das man mit einer Bewunderung 
betritt, die etwas Atemloses und fast Schmerzliches | 
hat. Es nur zu betrachten, nachzufühlen und iß 
allen seinen Wesenszügen ihm nachzusinnen in seiner 
tiefen Notwendigkeit und Einheit, macht Mühe und 
ist mit einer Angst der Bewunderung verbunden. 

Dies Gefühl beginnt, wenn man nachts über die 
lange Brücke von Mestre fährt, imten an den Stein 
pfeflem das Wasser gurgehn hört. Diese Stadt 
an, wo das feste Land, der sichere Grund, auf dem 
sonst unser Leben, Stadt und Menschenwohniiqf 
ruhn, aufhört. Es ist Spätsommer. Um die blakende 
Lampe des Waggons hebt das seltsame Singen d& 

Moskitos an. 

In einer schwarzen Gondel fährt man durch den 
stOlen Kanal. Auf dem schwarzen Wasser zack^ 
Lichter. Lichter fahren uns entgegen. Und ausser 
dem Ruf der ausweichenden GondelfBhrer ttbexall 
Schweigen. Bei Nacht muss man nach Venedig 



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l^ommeu, um dies ganze Märchen in seiner reinen 
I Würde zu spüren. Hohe, blasse PaUlste werfen 

bebende Schatten. 

Morgens wacht man anf^ die Fenster gehen 
wieder m einen stillen Kanal hinaus. Es gibt keinen 
Lärm, kein Wagengerassel^ nicht die Geräusche der 
Arbeit, nicht die Signalpfeifen der Fabriken • . • Hier 
und da vereinzelte helle Rufe • . . „Latte, latte'^ 
Das KUrren von Milchkannen . . . Und hoch oben 
im fünften Stock eines zerfressenen Hauses öffnet 
I sich ein Fensterladen, ein zerraufter Kopf wird 
i siditi>ar| der an einer Schnur die Morgenmilch hin* 
, aufzieht • . . Erst wenn man ausgeht, begegnet man 
in einzelnen Gässchen lebhafterem Treiben. Und 

, wie im Märchen hat all dies lebhafte Volk etwas 

i 

' Unpersönliches, es wimmelt durch die Strassen» 
' lacht, steht schwatzend beisunmen, bietet „fratti di 
mare" feil, Kinder bettein „un soldo". Weiber ver» 
< scheuchen von der dampfenden Polenta die FUegen, 
andere sitzen an den Tüischwellen und fassen Perlen, 
! Bettler ziehen mit grosser Gebärde den Hut ab: 
„Prego Signore", aber alles dies hat nichts zu be- 
deuten • . « Das kommt und geht nur so nebenher. 
Das ist das seltsam Unwirkliche, das Märchenhafte 
. dieser Stadt, dass all dies Volk mit ihr nichts zu 
, schaffen hat und darin nur lebt, in grossen, alten» 
königlichen Gebäuden, in denen es sich kümmerlich 
und ÜLvl eingerichtet, zu denen es nichts beigetragen, 
an deren Schönheil und Würde es keinen Anteil hat 
Jedes Haus ist ein Palast und eine Spelunke, ein 
Schauplatz wunderbarer Begebenheiten und ihr Sarg, 
alte Herrlichkeit und ein verwestes Rattenloch. 



I 
I 



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Die Venetianerl Im Grunde lauter komische 

Figuren von an sich reizender und possierlicher 
Beweglichkeit, lebendig durcheinander wirbdnd vie 
Maden auf dem Käse . . . Schwarzhaarige, zerzauste, 
fthlbleiche Mädchen mit schwarzen Kopftüchern uod 
klappernden Pantoffeln, mit blitzenden Augen mA 
einem Mund, der gross, unaufhörlich schwatzt, wenn 
er nicht zufllllig unaufhörlich kaut Oder bieit- 
schultrige Nichtstuer, gutmütig lächelnd, oder schlecht- 
genährte Kinder, die sich mü Fusstritten und Faust- 
schlägen vor der Kirchentür balgen, wenn du kommst, 
vor der sie eben erst einträchtig spielten, weÜ jeder 
den Führer machen will. Oder die vergecktea 
Herren mit imsagbar komischen, modernsten ELrageo, 
bis über die Ohren, imd mit schreienden Krawatten, 
lauter kleine Hausierer, die uns mit irgend einer 
wertlosen Sache um einige Lire betrügen. Sie leben 
alle in Venedig und von Venedig, als Schmarotzer, 
und sind doch Fremdlinge ... Sie selbst tun nichts, 
zu erwerben, was sie ererbt. Es wird nichts gebaut 
in Venedig, nichts geschafit Eine kleine, kümmei- 
liehe Fremdenindustrie macht die alten Schabloncii, 
welche der gutmütig bewundernde Reisende sich als 
venezianische Fabrikate aufschwatzen lässt ... Uni 
so lebt alles heiter in den Tag hinein . . . Gold- 
stücke, Kupferstiicke, Soldi und Lire fliegen in d«r 
Luft herum ... Sie raufen nicht einmal darunii 
höchstens die kleinen Kinder, weil sie noch zu un- 
erfaliren, sind zu wissen, dass man auf jeden Fall | 
irgendwo schon em Stück Geld findet, das mau nur 
ruhig aufzuheben braucht So ist das Leben, ^ ' 
dort lebt, nur ein Vorwand, indes das eigentliche 

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Leben, das Unlebendige still schlummernd^ mit dem 
sanften, stememen Lächdn unter dem glühenden 

Himmel in schimmernden Farben daliegt . . . Dies 
Unlebendige lebt hier allein . . . Anderwärts klingt 
das Einst mit dem Gegenwärtigen zusammen und 
ia einer merkwürdigen Harmonie erläutert eines das 
andere« Hier gibt es kern Gegeniribtiges^ nurZufölliges. 

Aber die alten Paläste leben, in jedem ist 
mindestens ein gutes, schönes Bild eines einstigen 
Herrn, einer schönen Frau, griechischer Gottheiten 
und Helden, ein Bildsäulchen, eine Fülle grossartiger 
Geräte. Aber die Kirchen leben und die ganze 
alte Pracht flüstert in ihren breiten Schiffen • . • Aber 
die heilige Barbara lebt, die mächtig ausschreiten 
möchte mit ihrem schönen, breiten Körper und 
ihrem frauenhaften^ edlen Gesicht Und der eherne 
Colleoni lebt oben auf seiner Säule. Sein Ross will 
wandern. Und vor der Post lebt noch der letzte 
lebendige, rasche, heitere Venezianer, aus den letzten 
Jahren, wo schon gar zu viel geschwatzt, gelacht^ 
gespielt wurde, leichtfertig imd ein wenig armselig, 
Goldoni • « « Er ist auf ganz niederem Sockel, er 
steht fast unter seinen Leuten, wie auf einem Spazier- 
gang, so mag er zu seiner Zeit vergnügt diurch die 
Gassen gegangen sein « . . 

Man fährt in der Gondel, der schöne Gondolier 
deutet beim Rudern mit dem Kopfe nach den 
einzelnen Palästen „Palazzo Morosini" . . . Man 
fragt: |,Lebt noch einer von der familie?" Er ant- 
wortet: „Morte" . . . „Vendramin?" „Morte." Bra- 
gadin?" „Morte." . . . Uiid in diesem Zwiegespräch 
leben die Toten. Und eines wunderbaren Augen- 

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blicks tritt man unversehens aus einem der Gässchen 
hinaus auf den Markusplatz. Man glaubt nicht auf 
fester Erde zu stehen. Strahlend goldene Bogen 
und die ernsten Mosaiken von Byzanz, oben die be- 
wegten Rosse, die zwei Bildsäulen gegen das Meer 
ZU) die Boote mit den bunten Segeln, das Wasser 
kupferfiurben, blau, gelb, grün, schwarz in Licht und 
Schatten schwirrend, die grauen Tauben, welche in 
unaufhörlichem Durcheinander das ganze Gefühl der 
unendlichen Bewegung vermehren, alles scheint in 
einer lautlosen Musik heranzuschweben zu einer 
vollen, unbegreiflichen Nähe und Ellarheit, und zu- 
gleich sich wieder ebenso leicht in Duft und 
Schimmer aufzulösen und wie hinter einem Schleier 
zurückzuweichen, wie von Wellen heran- und wieder 
weggetragen. Die Zeiten selbst, welche dies Ganze 

schaffend nacheinander gebaut haben, strömen neben 
einander gleichsam ihre Seelen aus, wie einen Atem > 
und ziehen sich wieder in ihre verworrenen und 
einzelnen Geheimnisse schweigsam zurück. Dai 
feierlich prächtige alte Byzanz, die kühnen Bogen 
der Renaissance, mit ihren weitgewölbten Fenstern, 
aus denen dies Geschlecht voll Stolz auf das Alter- j 
tum und auf seine Gegenwart als auf eine Einheit 
bewundernder Liebe und kräftiger Werke blickte, die 
übermütige, gravitätische Barocke, wo der Orient, 
<lem diese Stadt sich besinnungslos geö&et hatte, 
wie der Schoss eines glühenden und reifen Weibes, 
nim ihr Leben und ihre Kraft in verzehrender Sinn- 
lichkeit und Üppigkeit unter purpurnen Rosen un* 
^sägUch überfeinerte und verzettelte. 

Die Zeit war das, wo die Gattinnen der vene- 

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sianischea £dleii, die ihrer Stadt die Dogen und 
Herren des hohen Rats gaben, von tänzelnden 
Cicisbeen und abgeschmackt schöngeistemden Abbes 
begleitet, in koketten Gondehi za leichtfertigen 
Abenteuern schwebten und aus dem ernsten Venedig 
der £roberer, der Weltbeheirscher, der Seehelden, 
der Grosskaufieute eine Liebesinsel machten, wo 
geistreich gegirrt und in den Palästen von dunklen 
Abenteurern die Bank gelegt wurde ... In den 
Bleikammem erstickten die letzten Schreie der Ver- 
folgten, indes die Gattinnen der Nobili mehr taten, 
als die Courtisanen . . . Das Leben hatte das Über- 
masSy die Schärfe, die Reizbarkeit des Tobens, des 
zärtlichen Wahnsinns . . . Dann kam das schale, 
kriechende £nde • . . Das grosse Sterben . • • „Moro- 
sini** . . . „morte". „Bragadin" . . . „morte''. 

Und dies alles schwebt zu einem Bilde zusammen 
• . • Längs des Ufers sieht man Barken vorüberziehen, 
schwer beladen mit Obst Die Färsichhaufen breiten 
Wogen eines tiefen Duftes tiber das Ufer . . . 

Und da drängen sich Matrosen, Mädchen, Hand- 
langer zusammen, klein wie Ratten, die über die 
Wege wimmeln, wo einst Menschen in ihrem Wider- 
sprach ein Leben lebten, welches eine Welt in 
Abenteuern, Wünschen, Taten, BUdem zusammen- 
fasste und der Unsterblichkeit anheimgab. So mündet 
das Grenzenlose und Unfassbare, der überquellende 
Strom der Begebenheiten in das Meer der Ruhe, in 
die zusammenfassende Unendlichkeit der Vergangen« 
heit. Der Horizont weitet sich und nimmt ruhig 
auf, was drängend der Einheit widerstrebte. 

Abends beginnt der Korso. Die Bogenlampen 



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auf dem Markusplatz glänzen au£ Ganz Venedig 
ist auf den Beinen. Die Musik spielt. Der Korso 
der Lebenden, das Fest der Ratten» da die Herxeüi 
die grossen Katzen, die gewaltigen Raubtiere von 
Venedig, für immer auf Urlaub gegangen sind. 

Unter dem Schwibbogen des ,,torre del orologio 
d'oro" neben sehr modischen Herren in knaUblauen 
Anzügen, mit knallroten Krawatten und knallgelben 
Schuhen, stand sie, die Frau von Venedig. So war 
sie doch noch lebendig: die Venus des Giorgione? 
. . . Die Geliebte, die ihn lächelnd verzehrte, die ihn ; 
wie ein seliges Feuer erfüllte und aufsaugte, einl 
Genie aufsaugte, wie das köstliche Nass einer Auster, j 
Sie stand da, in weissem Kleid, die Schultern und 
den sanften Hals frei . . . Das Haupt ein wenig 
geneigt und den Blick ein wenig müd über ihren 
Gatten in die Weite sendend. Hier lebte Venedig 
noch einmal ... Es war wie der letzte, äusserste 
Wohllaut eines Lebens, wie ein letzter Seuizer, ein 
letzter Schritt, eine letzte Liebkosung, wie ein 
Augenblick, der an der Schwelle des Sterbens uns 
noch einmal ansieht mit grossem Staunen. 

Da rauschte der ganze Strom der Erscheinungen, 
der Lärm der Blechmusik, das Schreien der ge* 
drängten, schiebenden Menge, das Glucken des 
Wassers im nahen, schmalen Kanal, der flüsternde 
Schatten der alten Häuser, der Duft der obst- 
beladenen Barken, der Schimmer der bleichen Bogen- 
lampen, alles dies rauschte zusammen zu emer 
grossen, tiefen, unendlichen Einheit des Märchens, 
der Wahrheit, des Lebens, des Traumes, der Schön- 
heit und der Unendlichkeit 



o ^ o ^ 




IV. 

Bologna* 

IMe Stadt der hohen, stillen Bogenhallen. Bologna 
„la dotta^S Bologna ,Ja graisa^^ Die gelehrte Stadt, 

die fette Stadt, die Stadt des Wissens, der Harmonie, 
die Stadt von lU&iels Cacilia und die Stadt der 
Metzger. Nein, es ist kein Widerspruch zwischen 
den Würsten von Bologna und seiner Gelehrsamkeit. 
Viefanehr ist in der Pflege eines sorgsamen leiblichen 
Vv'ohls die Ehrfurcht der braven Leute vor ihren 
grossen Gelehrten erkennbar, denen sie vielleicht 
lucht anders dienen mochten und näherkommen 
sonnten, als indem sie dafür sorgten,- dass sie gut 
2n essen hatten. Bologna plagte sich, „la grassa" 
2u sein, um „la dotta** zu bleiben. 

Bologna ist für den Wanderer stets die Stadt 
der hohen, stillen Bogenhallen. Jede Stadt hat ja 
iü ihrer Architektur ihr Tempo, ihren Bauschritt, 
ihre Seele schwingt in dieser steinernen Sprache mit 
üirem eigensten Sinn und Ausdruck. 

Würde, Ruhe, natürliche Feierlichkeit und StOle 
liegt in diesen rund umschreitenden Hallen aller 
Bäuser. Sonst ist die Halle ein besonderes Zicr- 
«Hick, irgendwie als kostbares Intervalli als aus- 

S3 «* 



I 



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kUngende Fermate einer mächtigen Architektur^ als 

sinnreicher Wechsel des starken Bautempos gross- 
gUedriger Häuser gedacht und so sinnfällig und be* 
sonders gemacht, dass der Wechsel der Ausdrucks- 
form den Bück zum Anhalten zwingt» den Beschauer 
dahin bringt, gleichsam von neuem zu beginnen und, 
von jeder Säule zum Bogen und Gewölbe vordringend, 
die Verbindung des einzelnen Baugliedes mit dem 
übrigen, die innere Verkettung zu suchen, um so zur 
Harmonie des Ganzen mit gesteigerter Kraft und 
Stimmung zuriickzuhnden. Anders ia Bologna. Hier 
sind die Hallen nicht der Häuser wegen, sondern 
die Häuser wegen der Hallen gebaut. Hier sind die 
Bogengänge nicht die Unterbrechung eines kühnen, 
raschen Bautempos der Paläste imd im tieferen 
Sinne des Lebenstempos der Bewohner, sondern sie 
sind das Mass dieses Taktes und Schrittes, das 
Tempo selbst In ihnen drückt sich die Ruhe, das 
Leben dieser auf Sorgfalt, Müsse, Webheit, Behagen 
gegründeten Stadt aufs natürlichste aus. Sie wurde, 
möchte man sagen, so gebaut für die wandelnden 
Gelehrten, die man sich in feinen, zierlichen, langsam 
ins Weite und Tiefe dringenden Gesprächen denken 
mag, welche solche Bogenhallen verlangten und 
fanden. Die Vorstellung bedeutender, auf Dinge des 
Wissens und Ahnens, auf die Entdeckung höherer 
Ordnungen des scheinbar wirren Daseins gerichteter 
Menschen, einer Gesellschaft von Sinnenden und 
Denkenden, welche sinnen, denken, sprechen um 
der tiefen, edlen Lust des Denkens willen, ohne 
Nebenzweck und Hast, ohne das Drängen des Ehr« 
geizes und der Tat, ohne Fieber des Willens, ohne 



^ kj .i^L.o i.y Google 



Segierde und Aufregung, diese VorsteOung ruhevoDer 

"Weisheit und Betrachtung hat zu jeder Zeit über 
solche Menschen eine Halle gespannt Die Säulen* 
jgänge, welche diese Bogen tragen, an die das Ge- 
nvölbe schliesst, wie das Hund des Hinunels, von dem 
gleichsam aufwärts gewandten Horizont getragen, 
scheinen der einzige und ewige Ausdruck für jenen 
merkwürdigen und erhabenen Zustand der Be- 
trachtung zu sein, welcher, von den Tatsachen aus- 
gehend, wie von schönen und schlanken, tragfähigen 

Säulen, zu den kühnen Folgerungen führt, welche 
ein Gewölbe höherer, freierer Möglichkeiten einer 
Himmelsnindung und Geschlossenheit halten, das in 
seiner Folge wieder zu den Säulen des Lebens 
zurückkehrt, ohne Sturz, sanft hingeführt zum Wirk- 
lichen, wie ja das innerste Geheimnis fruchtbaren 
menschlichen Denkens, aUer Wissenschaft und Kunst 

darin die menschliche Einheit, Lebenswert und Sinn 
findet, dass es sich ebenso kühn vom Dasein erhebt, 
es überdacht, mit Schatten, Ruhe und Macht erfüllt, 
wie es mit Sicherheit und bestinunt wieder dazu 
rQckfindet 

Und gleichzeitig klingt uns das Tönen der 
Schritte unter den Arkaden an. Auch diese Steige- 
rung des Lauüebens gehört zu den Urverbindungen 
der Begriffe: Sinnen, Wölbung, HaUe. „Halle und 
hallen;'^ nicht umsonst setzt die plastische Kraft der 
Sprache diese Worte unmittelbar neben einander. 
Das Denken um setner selbst wDlen, und doch für 
viele wölbt auch seinen Ausdruck und gibt ihm einen 
Grund so tiefen Sinnes und so starken Wortes, dass 
seine Äusserung anders klingt, als im offenen Markte 



L/iyiiized by 



oder in der Stube. Diese Art von Denken und 
Sprechen, dies Weitertönen, dies Verstärken der 
Worte über ihre intime Bedeutung von Mund za 
Mund, von Mensch zu Mensch hinaus, ist nicht 
jedermanns Sache. Es ist eine Art von repräsen- 
tativem Würdedenken und Würdesprechen, die 
Hallen Bolognas haben dies. Die Stadt wird so 
zum Gleichnis ihrer alten Universität, des akade- 
mischen Denkens, dieser merkwürdigen Art reprä* 
sentativer Weisheit, welche aus sich eine Welt macht, 
eine Bedeutung an sich, um ihrer selbst willen, die 
nicht jedem lieb ist. Es ist bezeichnend, dass nur 
eine italienische Stadt, nur Bologna gerade diese 
Bauform so durchgehend ausgebfldet hat, wie es die 
so uralte, ruhmvollste Universität hervorgebracht, das 
akademische Denken sozusagen ausgewOlbt hat. £ia 
tiefer, innerer Hang zur Würde, ziu: repräsentativen 
Darstellung des Lebendigen, zur Erhöhung des Ge- 
wohnten, zum starken Austönen und Hallen der 
PersönUchkeit schemt im Romanen zu Uegen, als 
tiefster Volkszug, der sich im Wechsel der Zeitea 
und Sitten immer aufs neue in den verschiedensten 
Formen äussert In den akademischen Gesetzen und 
Gewohnheiten einer Universität scheint dies ebenso 
zu liegen, wie in dar sogenannten klassischen Kunst, 
welche schlechthin eine italienische ist Aus dem 
singulären, höchst persönlichen, aus der besonderen 
Art der Wiedergabe besonderen Daseins, subjektiv 
erfasster Begebenheiten und Zustände, findet die 
Kunst dieser Rasse immer wieder einen natüxlichea 
und ihr eingeborenen Weg zu allgemeiner An* 
3chauungs- und Darsteliungskonvention, zu einer Er* 

S6 



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hebung des Einzelnen ins Allgemeinei Gesetzmässigei 
GrosszügigCy des Innerlichen ins Äussere, des Stillen 
ins Hallende. Und ginge darüber selbst der Zu- 
sammenhang mit dem Bestehendeni Kleinen, Eigen* 
artigen verloren. So stark war dieser Zug der 
romanischen Art, dass ihre Kulturfonn: die Renais- 
sance (nicht deren wirres, von unklaren Gefühlen, 
Leidenschaften, Personen erfülltes äusseres, sondern 
ihr inneres Leben, wie es sich in ihrer Kunst als 
Einheit vollendet hat, meine ich mit diesem Wort), 
auch den so grundverschiedenen Germanen einen 
Begriff der Kultur eingesagt hat, von dem wir uns 
nur schwer, voll Zweifel und Bekümmernis loslösen 
mögen. Die Überwindung der Renaissance in diesem 
Sinne erst wird eine wahre Wiedergebiurt des deutschen 
Lebens bedeuten. So seltsam dieser Satz bei einem 
Bewunderer dieser Kunst und dieser Rasse klingen 
paradox und anfechtbar er allen denen er- 
scheinen muss, die in liebendem Staunen an diesen 
höchsten Äusserungen einer Volksbegabung hängen, 
so innerlich erlebt und als Gewissheit ist er em- 
pfunden worden, eben bei der innigsten Betrachtung 
der klassischen Kunst Der Germane, das deutsche 
Wesen ist von diesem Hallendenken, von dieser 
Hepräsentadvkunst, von dem sogenannten „Stil^^ in 
der Darstellung und Form des Daseins weltweit 
«ütfemt Darum ist seine Sehnsucht so imendiich, 
<lies zu besitzen, was seinem Wesen so grundfremd 
ist. Dies Unterordnen des Einzelnen, dies Darbringen 
der Persönlichkeit im Tempel der Rasse, dies gross- 
^ge Auflösen des Ich in der Gesamtheit, dies 
stolze Anordnen der Menschen, der Erscheinungen 



Digiliz 



zu einer höheren Einheit, dies Suchen nach Be- 
deutung, welches Einzebies über seine Kraft hinaus 
als Ewiges gibt, dies sozusagen staatliche Wesen der 
romanischen Kultur, welche eigentlich in Wahrheit 
einen Kunststaat ohnegleichen gebildet hat und 
dieses UaUenwunderwerk einer staunenden Welt 
hinterliess, bleibt innerlich dem Germanen doch 
fremd. In den Künsten wird das sinnfällig, aber 
auch im Leben, im Staatswesen erkennt es der 
tiefere Blick ohne Schwierigkeit Die Römer, das 
romanische Volk, ist das Staatengenie Europas ge- 
wesen, die Franzosen, ihre Erben, haben diese Be- 
gabung mit einem inneren Fluch überkommen. Die 
Bestimmtheit und Unerbitüichkeit des Rechtsgeistes 
der Römer ist hier durchsetzt von einem hastigen, 
fiebrigen Kritidsmus, von einer politischen Ironie^ 
das heisse Blut bekommt Anfälle, welche den kalten 
Kopf in Abenteuer stürzen, der Körper der Natioo 
wälzt sich in Fiebern, er lebt die Experimente, welche 
der Staatssinn ausgedacht hat Und die romanische 
Rasse ist es, welche alle Möglichkeiten des Gemein* 
lebens formuliert» erlebt imd durchgelebt hat. Formen, 
in denen sich noch heute das Dasein aller Völker 
abspielt, Formen, welche bei den Romanen der 
Raum iOr geschlossene, natürliche, in sich eigenartig 
ruhende Kulturen waren, den Germanen aber eine 
immerwährende Unsicherheit und Angst, eine tiefe, 
unbewusste Qual bedeutet haben, aus der sie keinen 
Ausweg fanden und in welche sie mit Sehnsucht 
zurückkehrten, nachdem sie mit Grewalt daraus ge* | 
brochen waren. £s ist die tie&te Tragödie der 
germanischen Rasse, dass sie von unendlicher Seim- 

S8 



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sucht nach dem Süden, nach seiner leichten, gluck- 
lichen, selbstsicheren Natur, nach dieser Offenbarung 

der Sinne und des äusseren Lebens, als nach der 
unversieglichen Quelle der Schönheit und Jugend 
er&sst, immer wieder und wieder Ober die Berge 
wanderten, wie Vögel aus der Winterheimat, mit 
mannigfaltigen politischen, geistigen, künsüeiischen 
Ausreden, imd nun dem Leben, dem Süden Aug' in 
Aug* gegenüber, geblendet, von dieser ungeahnten 
Glut erfasst, besinnungslos, von diesen unüberwind- 
lichen Gegensätzen erschüttert, das Gleichgewicht 
wloren und zertraten, bis in den Grund vernichteten, 
was sie so dunkel, so schmerzlich, so wonnevoll be- 
gehrt hatten. Und war diese Zerstörung getan, so 
bauten sie, heimgekehrt, wieder im tiefsten Innern 
von neuem an diesem Werk des Wunsches und der 
Hoffnung und sehnten sich von neuem nach Italiens 
Wesen und Wundern. Der Norden, das Klima, die 
Alt der Menschen und ihrer Natur macht den 
Deutschen so verschlossen, so für sich lebend und 
sinnend, wie der Süden, die Sonne, das offene, 
fruchtbare und freie Land den Romanen nach aussen 
gewandt, ins Ganze strebend. Der Volkskultur 
Italiens, der Romanen, setzt der Deutsche immer 
nur voll Zagen und Scham die scheue, tiefe, leicht- 
verwundete, spröde, persönliche Kultur entgegen. 
Dem grossen Ganzen steht hier der grosse Einzelne, 
dem offenen Weltmenschen der verschlossene Ich- 
niensch gegenüber. Sie sehen einander lang ins 
Auge, staunen, imd hier und da reichen sie einander 
4ie Hände und sehnen sich einer nach des anderen 
Wesen. So war es, da Dürer dem Raüael begegnete, 

Sp 



und nach Hause jenes berühmte Wort scfariebl 
,,Wie wird mich nach der Sonne fiieren»^ so wi^ 

es, als jener Niederländer Hugo van der Goes fSi 
Florenz die Anbetung der Hirten malte, vor der dk{ 
Italiener als vor einem fremden Wunder standen! 
So liegt dem Deutschen jenes Repräsentativdenkeiv 
jenes grossgewOlbte, massenumfiissende, akademische 
,yHallendenken'^ eigentlich ferne, und nichts ist deut* 
scher als der Ftofessorenhass, als der Hass gega! 
Zunftgelehrsamkeit und akademische Gesetzmässigkeit 
und Regelzwang des Forschers. Der Deutsche, iä\ 
still für sich lebt, in Einsamkeit, in seiner Stube denkt: 
arbeitet und nur mit Widerstreben aus sich heraus 
geht, sich wieder nur in seiner Stille und Sicheiheit| 
wohl und geborgen fühlt, wächst dabei, bei all dieser 
Einfalt und schroffen Gebundenheit an sich allein 
hoch in seinen nordischen Himmel hinaus, stark, 
wunderlich und gross, wie es der Baugedanke der 
Gotik ist: das Streben der irdischen Seele zu Gott 
Das Wiederkehren zur Erde, dies schöne Auf- un<i 
Niederwölben der Halle ist nicht deutscher Lebenssd. 

So wandeln die Gedanken wie die Blicke durcii 
die Arkaden des alten gelehrten und fetten BologB^j 
weithin bis zu jenen fernen Grenzen, wo der Himmel 
vom Horizont getragen wird, als die schönste und 
unendlichste Halle, bis zu den Grenzen, wo zwö 
Hassen einander begegnen, berühren und meiden, 
wo deutsches und romanisches Wesen sich finden | 
imd wieder scheiden, versöhnt in dieser ruhevolleö 
Anschauung, welche von der Stadt der alten hi^eo 
Schule eingegeben wird. 

Am Abend führte mich der Weg nach Sa& 

90 



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iovanni in monte, wobei der Bologneser in seiner 
rossen Ebene schon ein sacht ansteigendes HügeU 
len einen Berg nennt. Die frühgotische Kirche 
;>! dem Plat^ lag im Dunkel, die gegenüberliegenden 
len Häuser im hellen Licht des Mondes so scharf 
ezeichnety wie die Coulissen, welche eine Theater- 
ekoration zu einer italienischen Oper vorstellen, 
ras war zwischen den Katzenköpfen der Strasse 
ad oben sang emer mit der heissen, ein wenig 
tten Stimme der italienischen Sänger ein schmach- 
indes Standchen. £inschmeichelnd klang die flache, 
ber inbrünstige Musiki und es war eine billige, doch 
ätiirliche Theaterstimmung, wie denn auch der 
alienische Gesang, die romanische Melodik gleich- 
em eine motivische, mannigfaltige, aber konventionelle 
irbenglatte und glänzende, aber flache Volksmusik 
usmacht, jedem einzelnen geläufig und einfachster 
iusdruck des Gemeinempflndens , aber weniger 
ufferenziert und ohne jene höchst persönliche, in 
ich zurückgezogene, versunkene, tief in das eigene 
^esen hinabtauchende Sehnsucht und Kraft, welche 
iie deutsche Musik ausmacht und auch aus ihr eine 
wonst und Kultur von Einzelmenschen gebildet hat, 
ieren Seele zu den Huutneln wächst, schwillt, herb, 
ait tausend Widersprüchen, Qualen, Bittemissen des 
nnem ringend und singend, so ganz traumhaft be- 
kommen und wieder siegreich wie die Gotik, deren 
^augedanke zugleich der Baugedanke des deutschen 
V esens ist. Individuelle Kultur, das ist das Ziel und 
üe Möglichkeit der germanischen Welt. Sie mit 
inem Gesamtleben richtig ins Einvernehmen zu 
»nngen und eme Staatsfonn, einen Staatsinhalt zu 

9^ 



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schaffen, der dies bedingt und verlangt, ist 
innere politische, das höchste nationale Ziel. 1 
Bologna ist nach italienischen Begriffen einj 
atjlle Stadt. Die Menschen sind ziemlich grod 
stark, gesund, schön, sie haben etwas von der Würde] 
die der Stil ihrer Häuser verlangt, sie schwätze 
nicht zu laut und lachen nicht zu toIL Wenig Wagen 
fahren in den Strassen. Meist die seltsamen, uih 
gewohnten, zweirädrigen Karren, niit Mauleseln odd 
kleinen, geduldigen Pferdchen bespannt. Obs: 
Verkäufer führen die gleichen Karren durch die 
Strassen. Durch die Hallen kommt einem hier udJ 
da ein Hiihnerhändler entgegen, der, seine Waie 
lebend, die Füsse zusammengebunden, wie einet 
Kranz um den Hals trägt, die armen Vögel flattern, 
kreischen, schwirren mit den Flügeln, voll Angs^ 
indes ihr Träger gelassen, als ginge ihn die Sache 
nichts weiter an, seines Weges wandert, wie en 

Professor, der sich um all das Geschrei und Fliissl- 
schlagen der armen Ideen nicht kümmert, die er a£ 
sein System gefesselt hat und die davon loswoHea 
und leben möchten. 

In Bologna muss stets eine natürliche Neigung 
zur Musik bestanden haben, die ja in dieser beschau- 
lichen Ruhe und vornehmen Feinheit des Wandels | 
am besten ausklingt, verstärkt und erhoben durch j 
die guten Wölbungen ringsum. Keiner hat süsser 
und versunkener die musizierenden Engel zu Füssen 
himmlischer Throne gemalt, als der sanfte Francia^ 
und inmitten der gewaltig akademischen Naturalismen 
der Caracci und des Domenichino in der „Academia 
delle belle bxü** hängt Rafiaels „Heilige Cäcilia% das 

9^ 



. kj .i^uo uy Google 



nalerische Zeichen, Gleichnis und höchste Sinnbild 

^ ' öcr Stadt. Unvergesslich ist die holde Ruhe und 
einfiBtche Ergriffenheit des Blickes, mit welchem die 
Heilige, ihre Orgel niedersinken lassend, der Musik 
des Himmels lauscht| als könnte sie den göttUchen 
Geist sehen, der die Ordnung der Welt in gewaltige 
Hymnen bindet und auf dem Leben der Dinge spielt, 
ab auf dem grossartigen Instrument seines Willens. 
Und lun sie die Heiligen in der verschiedenen 
Wirkung der Töne auf verschiedene Menschen, in 
der natürlichsten Abstufung des ruhigen, leidenschaft- 
lichen, frommen, erregten Lauschens. Das Ganze 
ein Bild der Musik und im einzelnen Werke wieder 
eines der Welt, wie sie als unfassbare, schöne, selig- 
sichere Harmonie in den seltenen Augenblicken 
schöpferischer Erkenntnis und Gewissheit sich offen- 
bart und den Einzelnen zwingt, ihre Macht und fülle 
den anderen allen zu erscMiessen. Diese Offen- 
barung der Musik ist Bolognas Wunder. 

Es ist nicht die geringste Ehre dieser Stadt der 
Bogenhallen, dass man sie als wahre Heimat von 
Rafiaels Cacilia empfindet. 



Florenz 



Zeitliche oder schon blosse geistige Entfemuna^ 
von gewissen Erscheinungen lässt uns oft an die 
Formel glauben, mit der wir sie umfassen. Ein Er* 
lebnis stellt uns in ihre Mitte, Aug' in Aug\ 
sprengen die Erscheinungen diesen künstlichen Rah- 
men und stehen als Welt in ihrer Fülle da. Selbst 
voll Manniglaltigkeiti wie eine stets aus sich selber| 
sich erneuernde Erfindung, erzeugen sie in jedem 
Betrachter, in jedem Zeitalter und jeder Weise derj 
Anschauung immer neue Bilder, so dass & 
Gliederungen des Ganzen voll Anmut wechseln, wie 
Anblicke verschiedener Naturspiele. In ihrem Widff* 
Spruch und Wandel entziehen sie sich pft selbst jedem 
Mass, aber sie geben es fUr den Anschauenden I 
Keine Welt zielt so stark, wie die der Antike und 
die von Florenz und der Renaissance auf das Be | 
wusstsein des Betrachters selbst. Die Relation des 
Einzelnen, seiner Zeit zu diesem Ganzen macht desseB 
wichtigsten Reiz aus. Dies ist die geheinmisvolle 
Lust an Florenz, dass sich unwillkürlich eine Welt 
und Zeit mit dem Beschauenden in unmittelbare, 
notwendige Verbindung setzt imd gleichsam das 

9* 



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;Tie6te, das er xa denken und das Fernste, das er 

Iwalirzunehmen hat, in ihm aufruft. Florenz ist nicht 
|wie Venedig ein abgeschlossenes Gedicht, ein aus* 
I gewirkter Tranm, sondern eine ReaKtät, viel lütsel. 
hafter, weil es lebt und wirkt. Wenn man die Worte 
für den ersten Eindruck sudi^ drängen sich zuerst 
die auf, welche Schwere und Gewalt bezeichnen. 
Nirgends möchte so viel Leichtigkeit, Lust, Bewegung 
und Anmut auf einem solchen Grunde von gehaltener 
Kraft und starrer Festigkeit sich erhoben haben» 
Die Paläste von Florenz sind nicht wie die femininen, 
morgeniändischen von Venedig für die wollüstige 
Sidieilieit und geniessende Üppigkeit gebaut, son- 
dern für harte Männer in harten und unsicheren 
I Zeiten. Jede Stadt hat in ihren Kulturäusserungen 
\ ein tiefes, unverlierbares Instinktleben hinter allem 
be^vussten Schaffen, die Geschlechtlichkeit ihrer 
I Stammesart Venedig ist weiblich-orientalisch« Florenz 
und seine Kultur hat eine volle Männlichkeit, hk 
Venedig löst Schmuck und Luxus die festen Linien 
atifi in Florenz sind die Formen der Kunst mit 
Schwere und Einfalt und doch voll Mass gebunden, 
^ das sichere, edle Gedankenleben eines reifen 
Mannes. Nirgends kann man wie hier den ernsten 
lobenswert und die stete Lebensnähe der Bau- 
Renaissance erkennen, welche von kühn erfassten 
Zwecken aus die Dekoration unterordnet, bestinmit 
ttnd niemals sich über den Kopf wachsen lässt. So 
schön die Vollendung aller Baugedanken ist, so echt 
tmd unverlierbar bleibt ihr Zusammenhang mit den 
Ursachen alles Bauens. Im Wesen ist wahrhafte 
iCiiltur die, welche aus den Nötigungen der Ni^ 

9S 



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hervorgegangen, mit ihr in innerstem Zusammenhang 
geblieben ist und sich in ihrem höchsten Ausdruc 
auf die Einfachheit des Natumotvrendigen ziirücl 

führen lässt, in ihrer freiesten Entfaltung auf d: 
Stärkste Gebundenheit: Das Haus auf die Urform (k 
Höhle, der Zufluchtsstätte, des primitiven Schutzoiti 
In seiner feinsten Entwickelung muss sich das schlechl 
weg Geniale auf das Ursprüngliche verfolgen lassen 
wie ein klares, tiefes Wasser, dem man auf dei 
Grund blickt Dieses Urzeitliche haben die altei 
Gebäude von Florenz bei all ihren kühnen und 
wunderbar abgewogenen Verhältnisseui eine Lebens- 
Sicherheit, welche bloss die Renaissance der Antik 
gegenübersetzen kann. Es wird aus Stein gebaut, 
■aus der pietra serena und forte, die man unweit der 
Stadt bricht, die Quadern werden nur roh behauen, 
und die Blöcke ein&ch geschichtet Im übiigeoi 
Europa hat man ja fast schon vergessen, dass ö 
wirkliche Steine gibt, mit welchen man baut Dies^j 
Häuser der Renaissance sind Burgen. Aber manCT j 
weitert den Begriff der Burg bei ihrem Anblick. VVii 
kennen nur die winkeligen, verschrobenen, aus w 
schiedenen Zeitläuften nach wechselnden Bedürihissea 
ineinandergerückten launenhaften Wald* und Berg*' 
Schlösser des deutschen Adels von einst unter diesem I 
Namen. In Florenz sind es Vesten des BUrgerSieü^j 
für allemal in grossen Verhältnissen errichtet und; 
mit solchem weiten Blick für das Notwendige, dassj 
sie heute noch ihre Wohnlichkeit haben. Überhai^j 
wird Vollendung und Möglichkeit einer bürgerlichen! 
einer Stadtkultur erst in Florenz völlig eifasst Si^ 




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le 



. m ihren uralten Verkörperungen doch bloss von 

. historischem Reiz, es ist nicht die hohe Kraft einer 
: durch alle Zeiten gehenden Vollendung in ihnen. 

Wieder muss man an die Antike denken, wenn man 
: diesen Stadtstaat Florenz ansieht Auch die ger- 
: manische Welt brachte Stadtstaaten und -mächte 
hervor, aber dass deren Blüte und Energie das ganze 
. Geistesleben einer Zeit beherrschte und bestimmte, 
vermochten sie nicht zu erreichen. Aus sich heraus 
wuchs ihnen diese Kraft zam Ganzen nicht, welche 
Florenz so sehr eignete, dass es heute in einer 
: späteren Zeit, die in so vielem vorgeschritten ist, noch 
immer als das grössere Einst von einem kargen, un- 
bedeutenden, stillen Jetzt grausam absucht. Und 
irnierhalb dieses Stadtstaates wandelten sich die 
meisten Bildungen der Politik ab, bis die volle Höhe 
iu der Tyrannis erreicht war, welche audh im Alter- 
tum oft den besten Stand der Lebenskräfte eines 
Staates ausgedrückt hatte. Diesem Spiel der bürger* 
liehen Freiheitskämpfe, die sich endlich selbst einen 
Herrn imd Meister setzen, um innerhalb starker 
Grenzen sich gleichsam von aussen nach innen zu 
entwickeln, diesem Spiel nachzusinnen, führt zu 
mancher Einsicht in die Entwickelung der politischen 
Gesclüchte Europas und der grossen Staaten, welche 
nicht selten eben in den gewaltigen Begrenzungen 
des Absolutismus, in der Erweiterung der Stadt- 
Tyrannis auf das grosse Gebiet einer Nation, ihre 
höchste geistige und materielle Macht erreichten. 
Man ist leicht geneigt, einen solchen politischen Zu- 
stand arg zu verkennen, da die französische Re- 
volution einen Freiheits- und Gleichheitsbegriflf in die 



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Welt geworfen hat, der ärger t]rraiiiusiert, als irgend 
eine wirkliche Einzelherrschaft. Unter diesena Begrifis 
zwang hält man alles innere Leben für gebunden 
und weil das Volk, die Masse nur als verhaltene 
Kraft wirken kann, glaubt man ihre Kräfte ganz 
unterbunden und gestaut. In Wahrheit hat gerade 
die TyranniSi dann der Absolutismus äussere Grenzen 
gegeben und sich an ihnen geniigen lassen müsseo. 
Die Befreiung des Individuums, des seelischen Lebens, 
der Einzelkräfte, die Wirkung nach innen, alle jene 
physischen und geisrigen Bedingungen der Kultur 
nahmen gerade von diesem Zustand ihren An&ng. 
Es ist, als wäre eben unter dieser Verfassung starker 
und zur Selbstbeschränkung gelangter Stadt- und 
Staatswesen, in solchem Zwange erst eine nötige 
Ökonomie erreicht. Was im Zustande der vollen 
Freiheit eben in dem Gegen- und Durcheinander, 
aller gegen alle unnütz verbraucht und verzettelt 
wird, die feinsten Geister, die tiefsten Gedanken, die 
schönsten Begabungen, sonst aufgerieben und aus-, 
gespielt, bekommen mit einem Male Stand und Halt. | 
Alles wird auf ein Ziel bezogen, plötzlich stehen die 
Linien eines gross und scharf umrissenen Ganzen da, 
und sei auch der Mittelpunkt — die Person des, 
Tyrannen — oft nur scheinbar zufällig, willkürlich, 
plötzlich hingestellt Alles hat ein Kristallisatioos- 
Zentrum, um das es wunderbar aufschiesst und blüht 
Nur so kann man den Reichtum an Persönlichkeiten 
und Leistungen, die Energie der geistigen Ftoduktioß 
solcher Zeiten hochstehender Tyrannis verstehen^ 
welche ein Bild geordneter und zwecksicherer Kultur 
gewährt, gegen welches alle Büder äusserhch freier, 

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Iber durchwühlter, gieriger und unbefriedigter 
3emokratieen als Chaos und Anarchie erscheinen. 
Der alte, heilige und gehasste Begriff der Ordnung 
iteht in einem grossen, schönen Bilde da. Und auch 
lie andere Lebensmacht, zu der unser Heute gar 
cein Verhältnis hat, das zweite, tiefer und innerlicher 
Bindende stellt sich mit einer unvergesslichen Würde 
ind Schönheit dar: der Glaube, die grosse Lebens- 
noheit der Yolksreiigion* 

Durch die fortschreitende Verinnerlichung und 
Loslösung der Geister vom Ganzen ist das Gleich- 
{ewichtsproblem der heutigen Welt von Grund aus 
verändert; Glaube wie Unglaube ist Sache individuellen 
iVoUens und Könnens geworden. Wir haben weder 
iinen äussern irdischen, noch einen innern geistigen 
^ultunnittelpunkt Wir stehen in einer Ungeheuern 
(Verschiebung aller Kräfte und Menschheitselemente, 
A einem Chaos. Wohin es zur Zukunftsordnung 
d>zielt, lässt sich nicht erkennen. Der abgeschlossenen, 
Jorentinischen Welt gegenüber sieht man erst die 
Veränderungen des geistigen Weltglobus, die Resultate 
^tr Revolutionen der Seelen seither. Der Glaube 
asste damals das ganze Volk zusammen; seine 
^rache, seine Formen und Formeln, sein Stoffkreis 
^ allen in gleicher Weise eigen imd hierin fand 
(ich der gemeine mit dem ungemeinen Mann als im 
Heiligtum aUer. Auf ihn sind alle Lebensäusserungen 
>ezogen. Er ist die Folie des ganzen vielfältigen 
•»eschehens. Von diesem einheidichen goldenen 
jrrunde heben sich Bewegungen imd Figuren mit 
itarkem Umriss ab, und was geschieht, wandelt 
!;leichsam in diese strahlende und sichere Unend- 

99 



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Kchkeit hinein. Der Glaube ist für den Einzelnex 
Möglichkeit und Mittel der Teilnahme an den höchstet 
Gütern, an dem Schäften des Genies, an der Sehn 
sucht der Künstler, er ist Gewissheit ohne Grenze 
ohne Frage, ohne Fehl fiir alle, Lebenssicherher 
und ZieL Indem sich der Höchste an ihn wendet 
mit seinen innerlichsten Sehnsuchten und Trieben 
bleibt sein Schaden stets dem Ganzen erhalten, ir 
Beziehung zu seiner Welt Die Bedingungen dei 

Kunst, welche für alles Innerliche, Geistige Ausdruck. 
Bild, Wendung nach aussen sucht, sind in seinen 
Gewohnheiten und Formen gegeben. Das Volk be- 
wahrt und belebt sie, und indem es glaubt, sieht es 
im farbigen Schein die höhere Einheit seines Lebens, 
im Glanz des Wunders, Traumes, der Sehnsucht 
Indem es glaubt und vor diesen Bildern betet| ant- 
wortet es der Kunst in ihrer eigensten Sprache, in 
der des Gefühls, der Verzückung, der Versunkenheit 
Es bringt die sinnliche Anschauung wieder ins Über- 
sinnliche, Geistige zurück, es schafft mit an dem 
Wunder seiner Welt Und so wird jener hin- und 
rückflutende Strom, der jeden, aber auch jeden ein- 
bezieht und führt, treibt und ruhen lässt, jeden zum 
Teil eines unverlierbaren Ganzen macht, vor dem 
es kein Entrinnen gibt und dessen Schönheit wieder 
auf jeden zurückstrahlt 

So war die tiefste Verinnerlichung, die äusserste 
Verfeinerung des Kunstschaffens möglich, eine Stel- 
lung des schöpferischen Menschen im Ganzen, 
welche ihn nie einsam liess und dem höchsten Aus- 
druck seines Wesens doch immer Antwort gab, alfl 
sei niemals einer unverstanden geblieben. Aber in 

100 



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dieser VereiniguBg einer Rasse in einem Glauben 

und in seiner Kunst ist zugleich die besondere Be- 
gabung der Nation ausgedruckt Die Kultur der 
Renaissance ist ihre Frucht, Es ist das Zusammen- 
strömen der Einzelleistung zum Ganzen^ der indivi- 
duellen Fähigkeit zum Gesamtleben. Das italienische 
Genie ist wesentlich und zunächst doch sozial, die 
Kultur der Renaissance ist Ausdruck einer sozialen, 
politischen Genialität Damit scheint freilich die 
politische und soziale Zerrissenheit dieser Zeit im 
Widerspruch zu stehen, welche bei der höchsten 
Bildung und Kraft der Geister keine Einheit und 
Sicherheit der Zustände hervorbrachte. Dies hat auch 
2u dem Begriö der individualistischen Selbstherrlich- 
keit geführt, unter welchem die Menschen dieser 
Zeit, die Söldnerführer, die Tyrannen, die Päpste, 
die Künstler, die Denker als schrankenlose, gleich- 
sam aus sich selbst leuchtende, für sich allein lebende 
und wirkende Menschen erscheinen. Das moderne 
Ideal der Persönlichkeit wird aus dieser Zeit der 
Winen und Wunder abgeleitet Geht man an den 
Schöpfungen von Florenz entlang, so tritt jedoch der 
Renaissancemensch dieser theoretischen und vor- 
gefiissten Meinung plötzlich zurück und das Ganze, 
dem er wider Willen vielleicht xmd unbewusst ge- 
dient, wird klar und gewiss. Freilich gmg politisch 
Kampf vor Recht, Einzelner und Kraft vor Einheit 
und Ordnung, freilich war in jenen 2^iten selbst ein 
Durcheinander von Kämpfen zwischen Volk und 
Adel, Papst und Kaiser, innerhalb des Volkes 
zwischen Fetten tmd Hungrigen, aber nicht in der 
Verwaltung, in der Abgrenzung von Gebieten und 

lOI 



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äussern Machtsphären, m wohlgehiitetea KompeteDzert, 
in allem, worin wir heute eine äusseilicbe poUtiscdxe 
Einheit sucheD| liegt die Kultureinheit dieser 2^it* 
Bald kommen wir von dem Fehler ab, mit Begriffen 
zu operieren, die, bloss die unsem, ein ganz falsches 
Mass für diese Vergangenheit abgeben. In diesem 
Sinne war freilich das Italien der Renaissance ein 
wüster Haufen verwirrten Lebens. Aber es hatte 
eine höhere Einheit; das grosse Überwinden des 
Einzelmenschen, der im äussern Dasein schranken- 
losen Persönlichkeit durch ein inneres, allen gemein* 
sames, sicheres Lebensgesetz, glüht auf, wie wir vor 
den Kunstwerken stehen, die allein davon Zeugnis 
ablegen und Denkmäler dieser Einheit geblieben sind, 
während all die Zerrissenheit und Übermacht der 
Einzelnen in den Gräbern verkommen und ver- 
schollen ist. Und diese Einheit des Glaubens, des 
gemeinsamen Gefühls aller ist die Äusserung einer 
tiefen Begabung der Rasse^ keiner wesentlich reli* 
giösen Begabung, denn der germanische Glaube ist 
ein weit tieferer, innigerer, ergreifenderer« Sie ist 
nur eine andere Form der politischen Begabung des 
Romanen, irgendwie zur Einheit zurückzufinden und 
einen Weg zu schaffen, auf welchem der Einzelne 
zum Ganzen gefuhrt und ein gemeinsames Land fUr 
alles Denken, Wollen, Schaffen bereitet wird. Dass 
es sich nicht um die Religiosität und um die Jenseits- 
hofihungen der strengen katholischen Lehre vor- 
züglich gehandelt habe, erkennt man an der stolzen 
Pracht und irdischen Herrlichkeit dieser Gemälde 
und Bauten. Die Einheit lag eben in der Kunst, in 
der sinnUdien Durchdringung des Lebens und in 



102 



jener Weltschöpfung aus der Kraft der Illusion. E» 
war diesmal eben kein Verwaltungsstaat, sondern em 
Kttnststaat, den die Rasse hervorbrachte und mit 
dieser Kultur hat sie das Höchste gekittet, was ihi 
übcriiaupt vergönnt war. Die Renaissance war keine 

persönliche, individuelle, sondern eine allgemeine 
dmrchdringende, eine Volkskultur. Die Nation hatte 
ihre Einheit Und so stark, so selbstverständlich 
war dies Gefühl der Kunst und ihrer Herrschaft über 
alle sonstige Zer&hrenheit, dass am Ende der Glaube, 
ihre wahre Ursache zurücktrat und sie selbst der 
Glaube der Rasse wurde. Von den ErztUren des 
Ghiberti sagte Michelangelo, sie seien wert, die 
Pforten des Paradieses zu sein und bei der Statue 
des berühmten Kahlkopfs, des „Zuccone^^ pflegte 
Donatelio zu schwüren: „So wahr ich an meinen 
Zuccone glaube.'^ Dies ist der Glaube an die Natur, 
an das Dasein, an die Sinne, die Herrschaft dieses 
wimderbaren Lebens inmitten eines blühenden, 
strahlenden, bunten Landes, der Glaube an die 
Kunst, welche besser vereinigt und herrscht, als 
Schwert und Gesetz, und dies machte die Sicherheit 
und den Trost Italiens aus. Darin lag die wahre 
Wiedergeburt der Antike. Und noch einmal wird 
in dieser Zeit ein Widerspruch voll Geist und 
Naivetat behoben, indem Geistiges, UnsinnUches klar 
ins Wirkliche und AugenfÜlige zturückgefUhrt wird* 
Es ist der Gegensatz des Heidnisch-Sinnlichen, der 
frohen, reueiosen, gleichsam vor sich selbst be- 
wundernd hinschwebenden Zeit der Freude und 
Farbe zu der christlich-unsinnliclien, strengen, reuigen, 
vor sich selbst schauernden, von ihres Lebens Hof&rt 



I 



bitter abgewandten Überzeugung jenes Glaubens, an ' 
dem dieselben Menschen lungen. Im Leben sieht 
das so anders aus. Es bringt nur den Begriffs- 
menschen imd Gedankensklaven zur Verzweiflung. 
Der naive, sinnUch-kräftige und energische lebt eben. 
Die Widersprüche lösen sich zu ebensoviel Reizen 
auf| denn die schönste Schönheit dieses Lebens ist 
sein Widerspruch, und jeder Gedanke wird erst aus 
seinem Gegenspiel gleichsam in Gestalt und Farbe 
völlig sichtbar. Leben selbst ist Versöhnung, An- 
schauung verklärt den starren Begrifi^ alles ist um- 
flossen von Bewegung, Licht und strahlt vom Wider* 
schein des Blutstroms in den Adern. So konnte 
dies Volk wahrhaft glauben und beten und dexmoch | 
leben, wie es lebte, seinen Sinnen, seiner Freude | 
hingegeben, so konnte das Dasein ohne Reue, ge- 
führt von den Stimmen des Instinkts, seinen starken 
Schritt gehen, nicht ohne jene feinere Art, welche 
geistige Begabung den Körper lehrt. So konnte der 
Glaube dies starke Leben wunderbar verfeinem und 
der Kunst ihre geistige Tiefe geben, ohne mit sei- 
nem Schrecken und seiner Energie zu zerstören und 
zu lähmen, was er eigentlich hervorrie£ So konnte 
von den Hütern des Glaubens, den Nachfolgern 
Christi gerade ein Werk getan werden, das ihrer 
geistigen Mission ganz entgegengesetzt scheint 
Sie waren die Entdecker und Schimier der Antike, 
Heidentum und Christentmn lagen gleich gewichtig 1 
in ihren Händen. Und dies Papsttum, eine Bildung 
der damaligen italienischen Glaubenseinheit, wird die 
grösste politische und Kulturschöpfung dieser Zeit. 
An ihm erkennt man wieder die Ordnung schaffende, 

104 



Diqitized hv Coo<?Ie 



I 

I 



nmmelnde, yeretnigeiide Begabung der Nation. Am 

^dner Organisation der Keiigion wird eine Schutz- 
gewalt der Kultur. Und es ist der edelste Gedanke, 
die schönste Freiheit dieser Zeit, dass die Herren 
|des Glaubens sich su Herren des Lebens, die Ver* 
Walter überirdischer Seligkeiten sich zu Schatzhlitem 
aer irdischen Schönheit machten, dass sie über den 
jWiderspnidi der Begriffe hinaus&nden zur Einheit 
des Lebens. Und wieder ging von den Germanen 
die Zentörong dieser ganzen, feinen, wunderbaren 
IWelt aus, von dem Drang ins GeisUge, Un und 
Übersinnliche wurde dieses zarte Gleichgewicht zer- 
trOntunert, die Begriffe haben eine so rohe Faust 
Und gerade der deutsche Individualismus hat die 
romanische Einheit, die Kultur der Renaissance zer* 
schlagen und damit vielleicht die letzte Volkskultur 
der Welt 

« 

Ein Abgrund ohne jede Brücke trennt unsere 
Zeit von dem Florenz, welches blUhte. Wir leben 
in Formeln, Begrififen, Gedanken, unser ganzes 
Denken spitzt sich immer mehr ins Persönliche, 
Differenzierte, Begriffsmässige zu, es wird immer 
analytischer, trennender. Wir leben nicht mehr in 
dner vollen umfiissenden Anschauung der Dinge, 
sondern in einer nach innen gekehrten Kurzsichtig- 
I keit, welche sich stets nur mehr am Teil genOgen 

lässt, da ihr das Ganze verschwimmt. Kunst, 
Wissenschaft und Leben sind von einander getrennte 
j losehL Immer tiefer wird die Vereinsamung der 



I 



i^uo i.y Google 



Menschen. In der Renaissance scheint der Lebers 
^trom voll und ungeteilt zu fliessen. In der Ökonomu 
des Ganzen ist für ein unverträgliches, bohrende! 
Einzeidasein kein Rauni, dagegen die beständig« 
Gelegenheit für jene höchsten Betätigungen dd 
Persönlichkeit, welche Lebenswert für alle haben, 
Kunst und Leben sind eins. Ja heute scheint 
uns sogar, als stünde im Florenz der Renaissance die 
Kunst über dem Leben, als dessen höhere EinheiL 
Uns ist sie eine willkürliche Dekoration. Wir haboi 
sie in eine Einsamkeit gezwungen, wo sie von sid 
telber zehrend eine Sprache spricht, die ganz seftsan 
klingt und bald eine tote sein wird. Es ist dk 
Sprache der Erregung, der Extase, des Übermasses^ 
der Kraftfdlle, welche von jeder erhöhten Anschauung 
des Daseins eingegeben, dem Künstler eben die 
Sprache seines Schaffens bleibt. In Florenz stehen 
wir überwältigt vor dieser unverlierbaren Einheit voa 
Kunst und Leben, die einander aufs innigste durdi* 
dringen. Jede Erscheinung wird zum Ausdruck einer 
gemeinsamen Kraft der Natur, die sich im BAdej 
ebenso mächtig ausgibt, wie im Ding. Damals fülut^ 
der eine draussen auf dem Lande seine PflanzungeOf 
heckte sie mit Erlen, Pappeln, Ölbäumen und Weiden 
ein und baute den Wein, indem er die Begrenzungeoj 
seiner Äcker, diese Bäume, von den Reben, als von; 
saftig-vollen Kränzen umwachsen und verbunden 
werden liess. Und der andere arbeitete an deiB 
Bau des Doms oder an sonstigen Bauwerken der 
Stadt oder meisselte an jenen Fruchtkränzen« welche 
manchmal die einzelnen Bauglieder blühend ver- 
binden, wie die hieben draussen Stamm mit Stanm 

xo6 



elaxmonische Buntheit, die vertiiLgliche Einheit der 

»tarken Farben, das volle Zusammenstimmen der 
[jebenselemente machte jene frühlingshafte, reiche 
Seele von Florenz aus, welches vom Blühen Namen 
md Wesen hatte. So strahlt der Dom mit seiner 
ihlannorbekleidung — , dunkle und lichte Platten in 
wechselnden Ornamenten die Flächen teilend und 
vertiefend — , in ähnlicher Leuchtkraft, wie der An- 
blick des vollen Tals von der Höhe des Campanile 
ms, wo der Blick die sanft-grünen Hügel, die weissen, 
schimmernden Häuser, den glänzenden Strom, die 
Dianen Höhen der Appenninen, die Unendlichkeit 
eines lichten Lebens unter einem seidenblauen 
Himmel bewundernd zusammenfasst und grüsst. Das 
Leben von Florenz, dieses weiten, üppig hingestreckten 
Tals voll Reiz und Licht ist der Raum für diese 
Kunst, die es ganz erfüllt und über den Erscheinungen 
eine zweite höhere Welt aufglänzen lässt. Wenn 
man in der Renaissance die Macht der Persönlich* 
keiten schätzt, vergisst man oft die höhere Be- 
(vunderung der Gesamtnation, ihres staatlichen Lebens, 
ihrer innersten Begabung, eben den Einzelnen solche 
Möglichkeiten der Entwickelung zu gewähren, dass 
sie nicht trotz dem Ganzen und gegen ihre Welt, 
sondern mit ihr und für sie gelebt und ihre schönste 
Leistung eben ihrer Zeit dargebracht zu haben 
scheinen. Die starke Resonanz macht diese Kultur 
so wohlklingend. Ohne wahrhafte innere Harmonie 
ist eine solche reiche Kunst nicht möglich, welche 
der Einheit einer anschauungsmächtigen und mit 
dem Instinkt der Zusammen&asung begabten Nation 
v^erdankt wird. So ist die Kunst der Renaissance 



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und die wiedergefundene, durch drei Jahrhundcrti 
mitgehende der Antike die begleitende Musik zi 
einem unsagbaren Tanz und Glanz des Lebens. Eii 
hohes Glück und Kraftgefühl bei aller sonstigen Vit 
Sicherheit des Daseins machte es überaus stxahlenii 
und seine Menschen bejahend. 

In den Uffizien stehen antike Bildwerke neben 
denen der Renaissance. Altes und neues Leben 
grenzen sich von einander ab und vereinigen sieb 
wieder zu einem Ganzen. Die Welt der griechi- 
schen und römischen Götter, eine ins Gefuhli* 
Sichtbare Ubersetzte sinnliche Deutung aller Lebens- 
vorgänge, steht neben der strengen christlichen Lehre 
der ins seelische verflüchtigten Reize, der ins Ge- 
dacht-Überirdische verdrängten Triebe, neben der 
grossen Entsinnlichung. Auf entgegengesetzten Wegen 
kreuzen sich diese Zeitalter in der Kunst Die An- 
tiken in ihrer Vermenschlichung des Gotdicheoj 
bringen dem Einzelwesen wenig von jener ängstUcheo 
Beachtung entgegen, die sich in dem charak 
teristischeUi leidenschaftlichen Antlitz äussert, das' 
wir heute an Bildern von Menschen als von äusserst 
beseelten, in ihre Welt versunkenen Geschöpfen 
suchen. Sie lösen den Menschen ganz von seinem j 
besondem Schicksal ab und begnügen sich mit demj 
Allgemeinen, Artmässigen* Diese Rückführung auTi 
das stärkere Allgemeine ist dann wohl missverständ- 
lich als die „antike Schönheit*^ bezeichnet woideo.,' 
Die Begriffe „Schön" und „Hässlich" mit ihrer wiD'' 
kUrlichen Auslese müssen den Griechen kaum b^j 
wusste Einteilungsgründe der Anschauung und des| 
Schaffens gewesen sein. Das Leben sprach sich io 



li^^'l gewissen lormen artbildend und allgemein aus und 
der Verstand aller arbeitete für das Typische ein 
religiöses, künstlerisches und dann soziales Ritual aus, 
eine Konvention von Vorstellungen und Gestalten, 
Ereignissen und Individuen, welche dieses als möj^ch 
und gewohnt erkannte Leben auf das vollendetste, 
gleichsam feststehend verkörperten. Das Gattungs- 
gern äs se war in ihrem künstlerischen Instinkt das 
unwillkürliche und stark betonte Grundelement Das 
Gesamüeben war höher, als das persönliche, und 
der Genius der Rasse blieb als jenes unsichtbare, 
von jedem Menschen empfundene Urgesetz alles 
antiken Lebens, als Schicksal und Notwendigkeit 
schlechthin vor ihren Augen. Das einzelne Dasein 
kt nichts als ein Opfer f&r dieses gememsame 
Lebensgesetz der Rasse, bloss dessen momentane 
Verkörperung. Der Gedanke des höchst persön- 
lichen Lebens, der eigenwilligen Besonderheit des 
Helden, des Menschen, der zum Unterschied von 
den andern kein blosses Dasein, sondern ein Schicksal 
hat, ist von den Griechen, die künstlerisch wohl 
alles Denkbare gedacht haben, bestimmt erwogen 
worden. Aus dem Geiste der Musik, der un- und über- 
sinnlichsten Sprache des Gemeinempfindens gebar 
nach Nietzsche das griechische Schicksals empfinden 
die Tragödie, als besondere, Farbe und Wort ge- 
winnende Stimme jenes einzelnen, der aus dem 
Ganzen wächst und in höheren Wünschen, Erleb- 
nissen empor, dem Schicksal entgegenstrebt, das 
ihn besonders ergreift, den Übermütigen, Wider- 
willigen, Starken und der übrigen Menschheit gegen- 
überstellt als Beispiel dessen, der sich dem gemein- 



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Samen Lebensgesetz zu entwinden scheint, um ihm 
endlich in einer andern Höhe und Sphäre dennoch 
unfehlbar zu erliegen. Die Erkenntnis und künst- 
lerische Darstellung des höchst persönlichen Schick- 
sals gegenüber der Nation und Rasse wuchs aber 
aus dem Kunstmittel des Denkens, aus dem 
individuellen Sinnen und Wirken der Sprache, aus 
der Dichtung hervor. Die bildende Kunst blieb 
wohl beim Allgemeinen, Typischen, Sinnfälliger 
Sie stellt den Gemeinbegriff, die Gesamtanschauung, 
das Rassengemässe dar. Und selbst im stibrkst- 
diamatischen, in der Gruppe der Niobiden siegt die 
allgemeine Form über den besondem Ausdruck. Es 
gibt keine stärkere, momentanere, dramatischere 
Schöpfung, als diese. Ja vielleicht haben diese Ge- 
stalten den Begriff des Dramatischen in der bflden- 
den Kunst wieder fühlbar gemacht Jedenfalls ist 
die italienische Kunst auf diesen Höhepunkt ans 
eigenem gelangt und in anderm Gebiete damit tief 
verwandt Das Drama in der Malerei, diese hoch- 
gespannte Schilderung des Schicksalsaugenblicks, 
selbst ein dramatischer Höhepunkt der Kunst» be- 
ginnt mit der Scene des Lionardo'schen Abendmahls, 
welche eine Vielheit von Erscheinungen sammelt und 
in ihrer Weltbedeutung hinstellt, da sie die Worte 
des Heiland : „Einer ist unter euch, der mich verrät" 
zum geistigen Zentrum macht, von dem das Ganze 
angestrahlt wird. Diese Antiken also, sogar die 
Niobiden erkennen selbst das Besondere und Ausser- 
ordentliche nur im Körperlich-Natürlichen, im typisch- 
Menschlichen an. Nie ist Seelenschmerz, Trotz, 
Flucht, Angst, Entsetzen, Fluch, Ergebenheit ohne 

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besondere Individualisierung der Mienen dennoch 
adividueller ausgedrückt worden, als durch diese 
Körper, durch die Wendungen dieser Glieder, durch 
len Faltenwurf der Gewänder, durch die Bewegungen 
ier Arme und Beine^ durch das Krämpfen, Stützen, 
lochgreifen der Hände, durch das Auftreten, Ein- 
arallen, flüchtige Zehenschreiten der Füsse. Ein Zug 
on tragischem Menschheitsgefiihl atmet in diesen 
iüdem« Der Pfeil des Schicksals hat getroffen. Die 
Cinder der Niobe, die Kinder, die der Schoss einer 
tolzen Mutto: geboren hat, die Menschen alle 
tehen diesem Schuss aus unsichtbaren Händen 
gegenüber. Nicht auf die seelische Differenzierung 
les Gesichtsausdrucks, auf die geistige Besonderheit 
ier Miene verwendet der Künstler seine Mühe, 
londem auf das gewaltig Rassengemässe, auf Körper 
ind Bewegung, in welchem sich das Menschliche in 
1er einzelnen Situation mächtig ausspricht Im ein- 
ach Sichtbaren ist alles Sagbare und Denkbare ge- 
{eben und für die bildende Kunst besteht keine be- 
sondere Welt des Angesichts. Nur jene seelische 
iewegung wird gelten gelassen, welche sich auch im 
ranzen Körper ausspricht. Das scheint das Stil- 
Gesetz dieser Kunstwerke zu sein. Jede Geste der 
iaiid, die Linien der Kniee, der Arme, die Neigungen 
ler Häupter sind individueller, als die Köpfe, als die 
Gesichter, welche ein Jformenritual, eine Rassen- 
lonvention zeigen, ohne sonderliche Vertiefung. 
Viederum : Der Mensch, die Person wird im Tempel 
ier Rasse dargebracht Die italienische Kunst der 
Renaissance kommt zu dem gleichen Ziel auf dem 
entgegengesetzten Wege« Aus dem Einzel-NatOr- 

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I 

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i 

lieben gewinnt sie die höhere Form jenes HeroiscÜ 
Typischen» die sich in der klassischen Kunst ansj 
spricht. Zuerst die Nachfolger von Byzanz. Dies! 
sterbende, starre Kunst einer in Ohnmacht m 
sinkenden Welt, hat keine besondere Kraft mehj 
Das verarmte Leben ist in typische Konturen gepressL 
Nur einem neuen Glauben ist dieses Schaffen hotj 
gegeben, aber unsinnlich-streng, erbarmungslos-fromni 
steht die malerische Stimmung selbst in Krypton 
der Sonne und Bewegung fern. Die antike Glaubens- 
einheit, SO voll Wechsel und Reiz, ist einer chiisti 
liehen gewichen, die nun harte Einfalt dem einstigem 
Übermass entgegensetzt Die antike Darsteilimgs*| 
konvention der religiösen Anschauung und Kuon 
stirbt ab und von ihren Resten lebt diese byzan' 
tinische Kunst als von des Feindes Gnade. Garj 
keine freie Fähigkeit der schaffenden Hand besteht 
mehTi auf schroffe, kümmerliche 2^ichnimg undj 
harte, kranke, ohnmächtig-starre Linien ist die Ao*j 
betung der Gläubigen gewiesen. Das Leben ist aus 
der Welt, aus den Körpern gewichen. Die Vdlker 
liegen noch in Ohnmacht nach dem grossen Sterben 
der alten Reiche, der alten Seele. Die neue hat 
noch keinen Ausdruck. Da kommt Cimabue, naclij 
ihm Giotto. Und schüchtern erhebt das Leben sm 
mütterliches Antlitz, die Gestalt der Madonna wirJ> 
zum Bilde des erwachten Landes und der erneuten 
Fruchtbarkeit Sie hat ihr Kind auf ihrem Schoss.| 
Noch sind die Züge ernst und starr, nicht wadv 
sondern wie von Traum und dem Urschweigen be* 
&ngen, es ist noch nicht die Frau mit ihrem per- 
sönlichen Schicksal, sondern gleichsam die Urmuttei 

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^läes neuen GescMechts mit dem neuen Menschenkind^ 
^^ die da ins Urleben hbeiobiickt, aus GrUitea aufer- 
g^ istanden. Und damit ist ein Bann gesprengt Jn 
1^ raschem Gang geht die Rasse nun zur höchsten 
. ^* Vollendung. Wie immer drängt sich auch in dieser 
^j-i-'.heroischen Zeit Held an Held. Die Menschheit hat 
j^den Gebrauch ihrer Glieder, die Lust ihrer Seelen 
iriedergefunden, immer deutlicher, immer lebendiger 
^ ^ /.setzt sie sich nüt all der Farbe und fülle auseinander. 
^:'Das Quattrocento ist der Höhepunkt dieser an- 
. ^ schauungsammelnden, in Anschauung ganz versunke- 
j^^r^nen Malerei Der Triumph des Naturalismus. Die 
jj^.. Maler haben den Menschen wieder entdeckt imd 
^ -jedes Bild, das sie malen, wird aus einem sakralen 
^ Gemälde der heiligen Geschichte eine übervolle Korn- 
r. 'Position einzelner interessanter, lebender Menschen, 
l^>tntt der Lust rauschender, bunter, faltiger Gewänder, 
knitternder Stoffe, ganze Städte, die nichts als Florenz 
^. sind, stehen im Hintergrund, umständlich werden die 
kleinen und die erhabenen Anekdoten des Alten 
p / Testaments und die Geschichte des Herrn in lauter 
^. lieblich schwatzendes Detail zerlegt und man steht 
; in einem Frühlingswald voll überaus zwitschernder, 
schwirrender, munterer Vögel. — Und dann mit 
einem Schlage, als sei ein entscheidendes Erlebnis 
über Nacht gekommen, findet die Nation ihre Grösse, 
die Malerei ihre Einheit, das Leben seinen StU, die 
'] italienische Kunst kommt aus dem Wunderwald der 
rauschenden Erscheinungen gleichsam vor die grosse 
Fläche des Meeres, zu der erhabenen Einheit von 
l Welt, Glauben, die Seele findet Ruhe und Erhebung, 
im innem Leben sammelt sich alles imd vertieft. 



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verein&cht sich und ündet seine Beziehung auf jenes 
Geistige, das nur im Glauben sich ausgab und nur 
auf ihn zielte. Volk und Kunst, Leben und Glaube 
haben ihren Stil. Das Christentum hat seine Formen- 
sprache, seinen Erlebnisgehalt in dichterischen und 
malerischen Gleichnissen niedergelegt. Das Werk 
der klassischen Zeit besteht darin, die Fülle des 
Lebendigen auf diese wenigen erhabenen Einzelheiteu 
rUckzuführen und dafiir das Wenige aufs äusserste zu 
vertiefen, zu verallgemeinern. Die frühere Geschick- 
lichkeit der Darstellung des ganzen Reichtums der 
Welt hat ein formelles Vermögen vererbt, das jetzt 
erst zum Erwerb des Geistigen, zur seelischen Er- 
höhimg verwendet wird, für welche die Malerei das 
Ritual schaut. Der höchste Ausdruck übermensch- 
licher Dinge wird im sinnUch-irdischen Gleichnis der 
Malerei wiedergegeben, diese aber dabei zu einer 
angemessenen Würde, Ruhe, Schönheit gesteigert, 
von der es keine Erhebung, nur mehr ein Abfiülen 
gibt Und dies ist der Augenblick, wo die christliche 
Renaissance auf dem entgegengesetzten Wege der 

Antike begegnet. Da sie diesen Gemeininstinkt nach 
zusammenfassenden Formen des Lebens mit ihr teilt, 
fühlt sie in diesem Augenblicke über alles Trennende 
die Urverwandtschaft. Sie wird sich der Wieder- 
geburt bewusst Die alte graeco-italische Rasse ist 

wiedererstanden. Und diesen Weg geht auch das 
Individuum. Cimabue, Giotto sind noch streng» 
stark und stiD, noch unerlGst, in allen Wünschen, 
wie in allem Können gebunden. Masaccio ist der 
Eroberer des Himmels und der Erde. In der Bran- 
caccikapelle muss die damalige Welt zum erstenmale 

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das Rauschen des Lebens gegrUsst haben wie das 
ewige Meer« Zum erstenmal gelingt der Malerei 
die Erweckung höchster Lebensfllusion , Gestalten 
leben und bewegen sich im Raum, stürzen hinab 
I durch das Reich der Luft, das starre Neben- und 
Übereinander weicht einer sinnvollen Erkenntnis und 
Wiedergabe des Sichtbaren, die Perspektive ist er- 
fasst und damit erst die Welt für die Malerei erobert. 
Nach dieser Tat ist Masaccio wegegangen, als sei 
damit seine Botschaft gesagt Er tauchte unter und 
blieb verschollen, wie es heisst. Und nun kommen 
die andern alle. Filippo Lippi, der naiv-2arte Maler 
der heiligen Geschichten, 1 ra Angelico von Fiesole, 
der den wahren Triumph des gläubigen Lebens malte, 
eines süsse Seligkeit der Farbe und Inbrunst der gölt- 
lichen Legenden, eine Versunkenheit und Weltfeme 
der Gemüter. Und dann die Maler des Campo Santo 
von Pisa, da ist der frische, heitere Benozzo Gozzoli, 
so erfüllt von Leben und Figur, dass er gar nicht 

Raum uud Gelegenheit genug finden kann, alles 
darzustellen, was er sieht £s ist die Laune einer 
übermächtigen Fröhlichkeit der Augen, einer nimmer- 
müden Regsamkeit der Hände in ihm, wie in Ghir- 
landajo, von dem ja dies bezeichnende Wort über* 
liefert wird, dass er innig bedauere, nicht den Umkreis 
aller Mauern von Florenz mit Geschichten benuden 
zu dürfen. Das grosse Erzählertalent, die Redehist 
des feinen Florenz feiert ihre Feste. Und nun kommt 
der Glanz, die Reife, Glut und Sammlung über diese 
Kunst Das Cinquecento. Es muss ein stolzes £e- 
wnsstsein ihrer selbst in den damaligen Menschen 
gelebt haben. Man meint es noch heute vor diesen 



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Bildern zu spüren. Der Sinn der Welt schien sich ' 
denen aufgetan zu haben, die sich bisher iundlicb 
an der Form gefreut Die persönliche Gewalt des 
malerischen Geistes dringt in das alte Reich des 
Glaubens und schliesst eine Verbindung individueller 
und höchst persönlicher Auflassung mit den ver- 
trauten Formen der Religion, die eben den Stil der 

klassischen Kunst ausmacht, nie hat diese Einheit 
von Volk und Persönlichkeit, von allgemeinem | 
Glauben und besonderer Darstellung mächtiger be- 
standen und gewirkt. Durch die Uffizien, durch den 
Palazzo Fitti, die Akademie schreitend, siebt man 
die bleibende Überlieferung, die volksgemässe Kon- 
vention der Motive, der Anordnung und Komposition, 
die sichern Form-, ja Farbenschemen, wie sie immer 
wieder bestellt und in den Malerschulen vererbt 
wurden als notwendiges Handwerkszeug des Meisters, 
und sieht auch, wie dies bleibende, volksgemässe, 
überlieferte, Schritt um Schritt erweitert, vertieft, ge- 
steigert wird. Unwillkürlich muss der Zeit- imd Volks- 
gesdunack mitgegangen sein, und ohne allgemeine 
Erhebung lässt sich die wachsende Feinheit und 
Erlesenheit des Geschmacks gar nicht denken. Eigen- 
artig und einsam erscheint Botticelli. Man begreift 
den tiefen £.eiz, den er auf moderne Menschen, auf 
die moderne Malerei ausgeübt hat, man unterliegt 
ihm stets aufs neue. Er ist der nur-persönliche, 
auf sich gestellte Mensch. In ihm sieht man einen 
starken, nicht verhehlten Kampf, eine Schlacht der 
Gedanken, audi seine Motive gehen ihren besonderen 
Weg. Er hat den grossen Widerspruch der antiken 
heidnischen und der christlichen Welt empfunden, 

Ii6 




mit der heissen Intuition des Fiebers, man wird die 
Vorstellung nicht los, als sei er selbst krank gewesen 
oder habe dem Leiden eines geliebten Wesens lange 
zusehen müssen und so der Grausamkeit der Natur 
ins Auge geblickt. Inmitten der quattrocentistischen 
Heiterkeit hat er etwas Süss-Trauriges, Herb-Zögern- 
des, die Wehmut des Frühlings, banges Aufschliessen 
und Sichhingeben an die Welt und zugleich Angst 
und Entsetzen davor. Das Formenwunder der Antike 
scheint ihm zuerst mit allem Glanz gewinkt zu haben, 
und zugleich war ein so ernstes GefUhl des Christen- 
tums in ihm, dass selbst seine Darstellungen antiker 
Mythe wie in Reue und Scham frösteln. Ein Schauer 
der Bewussiheit strömt durch diese Bilder^ und eine 
leise Qual bebt in ihnen. Dieselbe Lebensangst ist 
in seinen heiligen Darstellungen, im Neigen des 
Hauptes, im Schmerz der Jungfrau, der aus einer 
tief-unsicheren Seele stammt^ die sich nirgends ge- 
borgen fühlt. Sein Frauentypus ist aus der zarteren 
Welt morbider Jungfräulichkeit genommen, er malt 
Geschöpfe, welche an der Last der Schönheit als an 
des Lebens schwerstem Geschenk tragen, und wenn 
er den Frühling zeigt, den Tanz der Hören, ist eine 
überfeinerte Sinnlichkeit darin, eine Sinnlichkeit, die 
an ihrer kranken Glut leidet und sich selbst in 
ihr Gegenteil verflüchtigt in übersinnliche Energie, 
eine Lebenslust, die zur Lebensangst wird« BotticeUi 
ist nicht zur versöhnten Kraft gekommen, wo die 
Lebensstimmung sich schliesst und der Schaffende 
der Welt erhöht und im Gleichmass der K^S&e gegen- 
übersteht. Als ein Zorniger, Sehnender, Begehrender, 
Bedauernder, als ein durchs Leben zitternd und 

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angstvoll Gehetzter erscheint er. Man denkt an das 

Beben feiner Windspiele bei den scheuen, lebhaften, 
unwillkürlichen Bewegungen dieser Gestalten, und 
doch ist so viel Kraft in ihm, solche Fülle des 
SchaffenSi nur £uid er keinen Weg und wohl auch 
keinen Willen zum Ganzen. Seine Farben smd selt- 
sam spröde und hart. Es ist mehr Kraft und Zurück- 
haltung in ihnen, als in den Gegenständen, die er 
malt. So ist es sein Widerspmch seine differenzierte 
Persönlichkeit, seine dunkle Lebensstimmung, seme 
reizvoll besondere Schönheitsidee, sein eigenartiger 
Frauent^us, seine schamhaft -sexuelle Betontheit, 
diese keusche Sinnlichkeit und kfiMe Leidenschaft, 
dies ganze ZweilelvoUe und Undeutbare, was ihn so 
lebhaft zu unserem Gefühl sprechen und ihn uns so 
lieben lasst Aber was an Botticelli mehr gealmt 
als erkannt wird, was unbestimmte Verheissung war 
muss von einem, von dem Allergrössten ganz vollendet 
worden sein. Wir sind freilich nur von dem Abglanz 
seines Wesens getroffen, dieses selbst entzieht sich 
uns, wie das Rätsel des Daseins selbst, als sei 
Leonardo da Vinci das erhabenste Gleichnis seiner 
Zeit. Er bedeutet für dieses Jahrhundert und für 
die nachfolgenden ähnliches, wie Goethe für die 
Dichtung, alle Ahnung, aller Wunsch scheint in ihm 
erfüllt und beschlossen, das Leben stand vor diesem 
Menschen und seinem Werk betroffen da, als sei es 
ganz durchschaut Das Beben der Bewunderung vor 
ihm, der tie&ten verehrenden Nachahmung dieses 
Künstlers zittert durch die ganze kommende Kunst. 
Nur wenige Bilder von Leonardo sind erhalten, keiner 
der grossen Meister hat sich mit so wenig Schöpfungen 

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ausgespfochen, und keiner hat so sehr, wie gerade 
dieser Maimn, dem die Erkenntnis des Lebens und 
das stolse Getragenwerden von dem grossen Strom 
der Welt, Wissen und das Gefühl des Könnens, mehr 
war als der gemalte Beweis davon, keiner hat, wie 
I^eonardo nachhaltig, fl!r alle Ewigkeit auf die Men- 
schen und Kunstler gewirkt, so dass seine Sprache, 
sein Stfl, sein Reiz, seine Anschaumig es ist, die 
seither aus so vielen antieien Malern nach ihm er- 
kannt wird, als deren tie&te Beseelung, als ihre Licht« 
quelle. 

£r, der die Natur beherrschte, hat auch den 
Typus des italischen Weibes gebildet, der seither 

durch die Kunst ging. Und zugleich ist er dem 
tiefiiten Reiz des Geschlechtes auf die geheimnisvolle 
Spur gekommen. Die andern scheinen ein einzelnes 
Weib mit seiner besondem Tracht, mit der Feinheit 
des Fleisches, der Eleganz der Kleidung, der Vor- 
nehmheit der Haltung zu bilden, er malt im Gegen- 
stand des Bildes das Geschlecht selbst, die i^tselhafte 
Gewalt der Anziehung und Sehnsucht, und in der 
Frau scheint sich das begehrte, genossene und dennoch 
nie ausgeschöpfte Leben selbst dunkel, märchenhaft 
und schimmernd darzustellen. Es ist in ihm eine 
solche hochgestimmte Steigerung, ein solcher über* 
fein^rter Reiz, dass die Kunst wieder zurückhnden 
musste, wollte sie nicht ins Besondere, Gekänstelte, 

Gesuchte, in Manier und Snobismus verfallen. Die 
ihm allein nachfolgten ohne sein geniales Gleich- 
gewicht, entgingen ja diesem Schicksal nicht Für 
die übrige Entwickelung musste ein Maler aufstehen, 
der, ohne den Gewinn der Leonardoschen Kraft auf- 



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zugeben, wieder den Erscheinungen in ihrer Un- 
mittelbarkeit naiv und darum sicher gegenüber stand. 
Dies Gleichgewidit des jungen Glücklichen hat 
Raffael, sein Leben — der Vergleich mit Mozart 
liegt so nahe — ist das typische Schicksal herrlichster 
Vollendung günstiger Anlagen in guten Umständen. 
Freilich liegt eben das Wesen des Genies darin, aus 
dem gegebenen Leben den höchsten Nutzen, die 
denkbar besten Möglichkeiten zu scliöpfen. Und 
weil denn alles so klar^ geordnet, in den schönsten 
Verhältnissen vor uns ausgebreitet ist, sind wir so 
leicht geneigt, die Kraft des Mannes 2U unterschätzen, 
die doch diese Reinheit geschaffen hat oder in sich 
trug. Dem heutigen Menschen ist, falls er überhaupt 
zu geistigem Leben kommt, eine tiefe Verzagtheit, 
ein natürlicher Pessimismus eingeboren. Selbst nicht 
im Gleichgewicht, verlangt er Kampf^ Überwindung, 
Darstellung seelischer Schwierigkeiten, Konflikte, und 
verträgt nur einen Sieg, der fast das Leben gekostet 
hat oder doch die Ruhe. Es Hegt ein dunkler Neid 
in der gewöhnlichen Anschauung der künsUeiischen 
Welt, welche sich als ein tiefer, angeborener Vorzug 
darstellt, der zumindest durch schwere innere Kon- 
flikte, Gewissensqualen, Hemmungen jeder Art ver- 
dient sein muss, um anerkannt zu werden. Diese 
Neigung des modernen Menschen erklärt das fremde 
Verhältnis zu Raffael, aus dem man erst mit Ar- 
gumenten und Mühe zur Bewunderung vorzudringen 
pflegt. Denn Raffael ist glücklich gewesen. Und 
sein Gleichgewicht ist angeboren, seine Sicherheit und 
Vollendung scheint kampflos, was er erreicht, ihm 
in den Schoss gefallen zu sein, als dem lächelnden 

IM 



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Erben. Sein Selbstbfldms zeigt den schönen Jüngling 
aus guter Familie, jeder Zug ist Sicherheit, Takt, freie,, 
angeborene Feinheit und Vollendung des Wesens» 
Das aber war eben sein Genie, seine Leistung, das 
ist das Geheimnis, der Reiz und die grosse Be- 
deutung seines jungen Lebens, dass er von vorn- 
herein Gleichgewicht besass und überall, in allen 
Verhältnissen um sich herum schuf, dass er durch 
alle Wirrsal unberührt blieb und unberührbar durch 
alles Niedrige die sichere Heiterkeit, den Glanz 
seines Wesens erhielt. Dies ist sein Genie, dass er 
sein inneres Gleichgewicht, seine volle, reine, klare 
Stimmung auf alles übertrug, was er berührte und 
das Leben, da er es darstellte, frei, leicht und gut 
machte. Unwillkürlich wird es strahlend und glück- 
lich, da dieser Glückliche es nur anschaute. Und 
das ist das Geschenk, das er seiner Welt und denr 
Nachkommenden machte, dass uns ein Künstler, ein 
Genie überliefert ward, welches vom Gleichgewicht 
der Kräfte überzeugt, die Harmonie des Daseins 
nicht aus Gegensätzen und Missklängen ableiten und 
erschliessen musste, sondern sie einfach besass, die 
Wek unwillkürlich zu seinem Innern in die eingehe 
Beziehung setzte, dass er sie anschaute und schon 
war überall Klarheit, Heiterkeit, Glück. In den 
hefligen MUttem Raffitels ist die höchste Seligkeit 
der Mutterschaft, der zeugenden, erhaltenden, über 
alle Qual hinaus wirkenden Kraft der Natur aus- 
gedrückt. Und zugleich das tief Rassenmässige,, 
lypische, in der Natur beruhigte, gesättigt- stolze, 
massvolle Glück, worin die Antike beruht haben 
loag. Nur beim Anblick der Werke Michelangelos 

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spürt man den Menschheitsfluch, Widerstreit mit dem 

Schicksal, Gegenstimme des einzelnen gegen das 
GesamtlebeDi das tragische Element, nur bei ihm 
entdeckt man die Qual auch dieser scheinbar so 
festlichen Zeit. Er und Dante, welche grausam die 
Grausamkeit ihrer Welt und des gesamten Daseins 
monumental aus der hinlebenden Masse hervorhoben, 
mOgen auch jene Vorstellung einer höchst individu- 
eilen, auf die Persönlichkeit allein gestellten Kultur 
geschaffen haben. Denn sie wachsen über jede Ein- ' 
heit, über alles Zusammenfassen hinaus, gegen das 
Ganze setzen sie ihren ewigen Widerspruch. Michel- 
angelo ist wesentlich Büdhaner, das harmonische, zu- 
sammenschliessende, Einheit sehende Malerische liegt 
ihm innerlich fem. Die Plastiker vor und nach ihm 
sind Bildner ihrer Welt, von ihr, nicht von sich selbst ' 
geben sie Zeugnis, von Niccolo Pisano bis zu Dona* | 
tello und Verocchio, bis zu den heiter-graziösen ; 
della Robbia. Er aber scheint vom Urbeginn an zu , 
schaffen, wie jedes Genie fängt er ganz von neuem ; 
an und wiederholt in seiner Leistung alle Phasen der , 
Welt und deutet alle Zukunft voraus. In seinen Ge- 
stalten allein ist die Widersetzlichkeit, die tiefe innere , 
Auflehnung des heldischen Menschen gegen Schick- I 
sal, Leben, Gesamtheit ausgedruckt Titanische 
Heftigkeit, Ungewöhnlichkeit der Bewegung, wider- 
willig-schmerzliche Ruhe, stolz-selbstgenugsame Ein- 
samkeit, in sich verlorenes Sinnen liegt in ihnen. 
Die Figuren der Tageszeiten in San Lorenzo werden, 
ebenso viele tragische Bilder von Tantaliden, an die 
ehernen GeseUe der Sonne gebunden, dumpf oder 
widerwillig ihnen hingegeben, aber voH tragischen 

I 

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Widerspruchs. Aus dem Knaben David wird der 
Gigaate. £uie persönliche Anklage gegen das Leben^ 
eine tiefe innere Verneinung trotzt in diesem Men- 
sehen, und dies ist der erhabenste Triumph des 
kUnsderischen Helden, dass er fttr alle Ewigkeit 
recht behält und seine Auffassung der Welt über 
sein persönliches Leben hinaus als symbolische 
Stimmung der Verneinung dem ruhig fortrollenden 
Qiaos der Erscheinungen entgegensetzt Diese Zeit 
gebar sich selbst den Widerspruch, und Michel- 
angelo ist eben darum und in dieser Verneinung 
das Mass ihrer Grösse, Kraft, Fülle. Diese drei 
Menschen: Leonardo, Raffael, Michelangelo sind die 
drei Grundelemente dieser Kunst, und aus einer ver- 
schiedenartigen Komposition dieser Urzüge setzt sich 
das SchajBTen der andern zusammen. Es ist eine ge* 
heimnisvolle Wechselwirkung zmschen der genialen 
Persönlichkeit und dem auhiehmenden, weiterzeu- 
genden Volk, die den grössten Reiz einer nationalen 
Kultur ausmacht. Aus der Rasse werden Menschen 
geboren« welche deren Kräfte in sich kondensiert 
enthalten und weit über die Gesetze des gesamten 
Volkes hinausgelangen. Und ihr Werk erreicht wieder 
eine belebende und zeugende Kraft, welche bis in 
die fernsten Glieder des Volks nachzittert und den 
gebärenden Lebensstoff um das unfassbare geniale 
Atom, um eine heisse Energie, beseelte Feinheit be- 
reichert, 'SO dass die Art sich erhöht und steigert 
Es gibt nur eine Alinung dieses Ineinandergreifens, 
dieser Notwendigkeiten und Beziehungen, die Ge- 
^issheit eines Gesetzes, aber keine Erkenntnis davon, 
es lässt sich dies nur fühlen, nicht wissen, nur un- 



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gefähr beschreiben, nicht bestimmt erraten. Dass- 
aber keine andere Zeit des Christentums mid keixi. 
anderes Volk, keine andere staatliche Organisation^ 

keine andere Nation unter andern politischen und 
sozialen Bedingungen als nur die bürgerliche Tyrannis^ 
von Florenz diese durch zwei Jahihunderte unablässig 
steigende, mächtig in einander greifende Einheit her- 
vorbrachte, gibt diese Überzeugung, dass zwar in 
einem wüsten Lande, unter Horden von Barbaren, 
unter gegen einander rasenden Mächten und tau^ 
melnden Verwirrungen einer oder der andere geniale 
^Einzelne wie ein strahlender Schaum einer WeUe^ 
\ wie ein heller Traum im Fieber geboren werden und 
zu Kräften kommen könne, dass aber die wahre 
Heimat des Genies, die Stätte, wo das Genie so 

wirkt, dass man die ganze Zeit als seine persönliche 
Äusserung und Leistung empändeti nur die Schöpfiing^ 
einer genialen Rasse sein könne. Dies Florenz gibt 
wahrlich den Glauben an die Menschheit wieder^ 
und strahlend steht der Begriff einer möglichen, wahr 
gewordenen Volkseinheit, des Genies einer Rasse, 
einer schaffenden Volkspersönlichkeit da. Die Kul- 
tur der Renaissance ist dies Blühen einer Nation, 
l'iorenz ist die blühende Stadt. 

Und diese Stadt des Blühens und der Füllen 

der Kunst und der stark zusammenströmenden und 
klingenden Lebenshöhe ist heute auf einen mässigen 
Ton der Bescheidenheit tmd Einfachheit gestimmt^ 
noch immer freilieh nicht verwahrlost, nicht verfitult 



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in trübseligen Träumen, nicht verkommen in ohn- 
mächtigen Wünschen, aber doch meridich und un* 
weigerlich den Weg hinabgegangen ins Gewöhnliche, 
und diese Strasse war wohl beschwerlich und traurig. 
Wenn irgendwo in Italien, so siebt man es hier, wie 
der Staat von heute so gar nichts mit allen jenen 
überlieferten, gewaltig gewachsenen Dingen anfangen 
kann, weiche einst nicht bloss sich natürlich in die 
allgemeine Ordnung eingefügt haben, sondern sie 
geradezu büdeten. Ihre uralte Kultur, die Pracht 
der verlorenen Tage hängt geradezu wie ein schweres 
Gewicht an dieser Stadt, so dass sie vom Einst be-' 
lastet sich aus eigenen Kräften gar nicht erheben 
und recht zum eigenen Wesen kommen kann. Es 
besteht gar kein Staatswille mehr, nur wie in Zufall 
und Trägheit roUt sich das gegenwärtige Geschick 
ab. Auf allen Einwohnern lastet die gemeine Not 
eines unerträglichen Steuerdrucks, der jede Entfaltung 
freier Kräfte über die täglichen Sorgen hinaus un- 
möglich macht. Der Bauer auf dem Land draussen, 
der auf Halbpart mit dem Gesinde wirtschaftet, be- 
hält freilich, mit den gleichen schweren Steuern be- 
lastet, wenigstens von dem Fruchtertrag seiner Be- 
sitzung das Nötigste, freilich nur gerade so viel, dass 
er noch ein Interesse daran hat, eben der Pächter 
seines Besitzes zu bleiben. In der Stadt aber frisst 
der Staat alles weg, die Leute leben von den Resten. 
Steuer ist auf allem: Brot ist teuer, Salz teurer, 
Tabak schlecht und kostspielig, wenn ein Krämer 
auf eben Zettel die Ankündigung malt, dass er 
frische Würste habe, kostet ihn das einen könig« 
liehen Stempeli ein Stempel verscfaliesst die ZUnd- 

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bokschachteln^ die paar Teichen FamiUeii verzehren 

ihr Geld im Auslände, denn in Italien verzehrt sieh 
das Vermögen ohne Mithilfe des Besitzers alleitx 

diurch die Abgaben. Die graue Not hängt als ein 
trüber Schicksalshimmel über dem blauen, wirklichen» 
Erst wenn man aufwärts wandert, die grOne Hügel* 
Strasse längs der alten Mauerreste empor, gewinnt 
man den reinen Femblick wieder und die glttekliche, 
unbekümmerte Betrachtung des Reisenden. Da stehen 
die merkwürdigen Laubbäume mit den schar^ezeic^* 
neten, stärkern Blättern, die grauen Ölbäume geben 
den Höhen eine seitsam schimmernde Farbe, darüber 
ragen die Cypressen wie dunkle Flammen und Pinien 
breiten sich aus. Und bei San Miniato blickt man 
auf das ganze Tal hinab. Man weiss gar nicht, wo 
die Stadt anfängt, wo sie endet, bei den fernsten 
Höhen beginnen die weissen Häus^, die äachen 
Dächer mit den halbgewölbten dünnen Ziegeln ge- 
deckt, die Häuser wandern dann, immer dichter^ 
immer rascher zusammen bis in die Stadt, wo sie 
wie ein Heerhaufen dastehen, stolz und kräftig, in 
einzelne Fähnlein geteUt, beheirscht von irgend einem 
Herrn Hauptmann, da ist die Kuppel des Doms, da 
ist San Lorenzo, da ist der Campanile des alteu 
Palastes, der seine Fahne hält, da das Feldzeichen 
des Bargello. Und aUes ist in Farbe und Lust, bis 
zu den Bergen drüben, die wieder blau schimmern 
und wo bis zu den Gipfeln die Häuserchen hinauf- 
wandem, wie unermüdliche Streiter um die Schönheit 
des Lebens. 

Das schönste Büd von Florenz, durchäossen 
vom Arno, ganz ausfüllend dies breite Tal, die 

126 



: Glieder sorglos gelöst im straMenden Genuss und 

Bewusstsein der eigenen Schönheit, diesen unver- 
^ gessUchsten Anblick hat man von Fiesole aus, das. 
eine uralte Bergstadt ist, älter als das Florenz, das 
später eifersüchtig die Urheimat bekriegte und ver- 
nichtete. Fiesole ist dann ein Vorort der Ruhe, der 
Beschaulichkeit und des frommen Lebens geworden. 
Von da blickte man hinab in das Tal der Schönheit 
^ und des oft so sündig-verwegenen, gefahrvoll- heitern 
Lebens von Florenz. Fiesole selbst ist gleichsam 
der alte Tempel von Florenz geblieben, der schöne 
Altar der Stadt, zu dem man in den seltenen Stunden 
der Weihe heimkehrte, wie zu dem Traum der 
Ruhe, da man im Wachen die Ruhe nicht kannte. 
Hier ist der landschaftliche Zauber der italienischen 
Natur ganz ausgedrückt, man ist in Böcklins grossen 
Bildern erst zu Hause, wenn man am Abend in diesem 
freien Garten gegangen ist, an den spärlichen, ver- 
streuten Villen vorbei, vorbei an den einsamen, 
grauen stillen alten Häusern, an den aufBammenden 
schwarzen Cypressen, an den wetteifernden Pappeln^ 
an den grauen Ölbäumen. Und man ist in einem 
Glück des Friedens und der Stüle imd doch des 
märchenhaften Lebens, wenn man eine Weile in der 
Badia gesessen hat, in jenem fteien Säulenhöfchen, das 
auf einen Garten hinausgeht, von wo man weithin 
über Florenz sieht. Da wächst die Gegenwart 
wunderbar in das Einst hinüber und all die rauschende, 
verwirrte, gewaltige Vergangenheit löst sich auf, all 
die Spannung, die Erregtheit des Entdeckens, Sehens, 
; Geniessens, die Sehnsucht des Verstehenwollens, die 
{ grössere Sehnsucht eigener Wünsche fliesst ab, das 

«7 



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Herz schlägt wieder sanft und das Auge blickt still 

und beseligt auf diese Stadt, die nun wieder blüht. 

Beim Heimweg durch die Arbeiterviertel geht 
man durch das lebendige Volk von heute. Die 
Fiorentinerinnen sind so schön und so lustig, von 
solcher kecken Munterkeit, Tanz liegt in ihrem 
Gang und eine Spur der grossen Würde, die sie als 
Königinnen des Lebens hatten, wo sich noch Leute 
iandeui die mit all der Schönheit etwas anzufangen 
wussten« Damals waren Gemälde von wunderbarer 
Art die Spiegel, welche ihr Bild, seltsam erhöht und 
ihr Lächeiui und die stolze, gerade Ualtimg ihres 
Körpers und ihren leichten, doch tiefen Blick imd 
ihren Gang, der ein Nachklang des Tanzes ist und 
all die un&ssbare Reinheit, den ganzen Zauber ihres 

Wesens, strahlend der weiten Welt zurückwarfen. 
Von diesem Stolz und von dieser Würde ist in 
ihnen noch heute ein bezaubernder Ausdruck« Sie 
durften damals glauben, dass um ihretwülen dies 
grosse Zauberspiel von Kämpfen, Volksau&tänden, 
Streitigkeiten, Kirchenbauten, Wettrennen, Sonnetten, 
Bildern, Liedern gespielt wurde, hätte denn sonst 
das ganze Treiben einen Sinn gehabt, das jedenfalls 
immer mit einer Huldigung für sie anüng und schloss, 
musste es nicht fUr das Weib sein, für das ein 
Leben gelebt wiurde, wäre es denn sonst Leben ge- 
wesen? 

Noch heute gehen sie mit diesen stolzen Ge- 
sichtern und diesen ein wenig höhnisch gekräuselten 
Lippen, mit der Blume im Haar • . . Aber kein 
prächtiger Kitter erwartet sie, mit dem sie hinter 
den Hecken der Gärten flüstern, keine Lieder werden 



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zu Oureii Ehren gesungen, die Simonetten wären viel* 

leicht da, aber kein Medici. Ks konnte einmal der 
Tag kommen, wo die Kasse dessen müd ist, die 
Schönheit, die fOr das vergangene Leben und aus 
ihm so voU imd stark erwachsen war, fruchtlos 
weitefzuzeugen, wo die Not und Mühsal endlich alle 
unterwerfen, aUe Gesichter früh verderben und ent- 
stellen, die Haltung verkttmmem, den Gang breit- 
krätschen und wie eine ruchlose Hand ein blähendes 
Fresko von einer alten Mauer, so diese bunte Schön- 
heit gäntlich auslöschen konnte, f Qr die es kein 
Leben, keinen Sinn, kein Ziel mehr gibt. Das Elend 
von heute braucht Menschen, die kein Feiertags* 
sieht, kein strahlendes Lächeln, keine süsse Munter- 
keit haben. Graue Mütter, graue Kuxder, gebückte 
Mätmier, kranke Frauen ... Es konnte der Tag 
kommen. Und dann wäre Florenz, das jetzt noch 
lebt — ein schwerer Traum geworden, aber wohl 

der schönste Traum, den die Menschheit einmal 
I ' 

gelebt hat, der Traum von der blühenden Stadt 



i 



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VI. 



Pisa. 



Pisa schläft. Es ist eine tote Stadt in einem Schlaf 
ohne Tiaum, ohne Hoffnung, ohne Auferstehung. 
Dieser Schlaf bedeutet keine stärkende Ruhe nach 
den zweckvollen Mühen und der kräftigen Selbst- 
bestimmung eines sicheren Lebens, sondern ist von 
grenzenloser Mattigkeit, Überdruss und Ekel, ein 
Schlaf gan2 verzichtender Geduld, die nidits mehr 
vom Leben wissen will, das nur Enttäuschung, 
unverdientes Leid, verfluchten Kummer gebracfait 
hat. Es ist der Schlaf der Verkauften, der Ver- 
ratenen, der ohne Schuld Überwältigten, zu Sklaven 
Gewordenen. Pisa ist eine ganz verlassene Stad:. 
Wer Lebenskraft und Mut bewahrt hatte, war längsit 
ausgewandert in andere Städte, wo kein verfolgendes, 
gehässiges Schicksal über jeder Stunde imd jedeid 
Menschen unablässig lauerte. Geblieben sind die 
Schlafenden, die Nutzlosen, die nie mehr auferstehe! i, 
die nichts bedeuten wollen und können, die zu all 
der Ruhe gehören, in der sie liegen, stehen, gehei i, 
schwatzen und nicht wissen, dass das Leben wo ande s 
braust, dort, wo das Meer von Genua schimmert odi r' 
im vollen Tale von Florenz. 



130 




In der Frttbe wandert man im Nebel durch die 

leeren Strassen. Die Häuser sind' leer ... sie 
schlafen . • • Sie sind oft gar nicht besetzt, oder 
nur von wenigen Köpfen, alles bleibt still und starr. 
So dehnen sich die Häuser gähnend längs des Arno. • 
über welchem grauer, schlafender Nebel schwebt, 
schwer, bewegungslos, und weicht er später bei 
hellerer Sonne, so sdieint auch sie starr und vergeb- 
lich, sie belebt nur, wo Leben ist, das antworten 
kann. Hier scheint sie auf stumme, weisse Särge. 
Kein Schreien, Kreischen, Feilschen, Gedränge, keine 
belagerten Buden von Fleischern, Fischhändlern, Obst- 
Verkäufern, keine jagenden Kinder, keine spotüustigen 
Mädchen, keine frech schauenden Gecken, nichts, 
nichts als die blendende stille Strasse. Nichts ant- 
wortet der Sonne, die da unablässig niederscheint 
mit grausamem, bohrendem Licht, das sonst so frucht- 
bar, so gütig, so belebend ist. Es ist die starre Sonne 
einer verfluchten Stadt, die Sonne, die wie eine Ver- 
dammnis brennt tmd steht, ohne Wandel, ohne Milde. 
. • . Die Stadt schweigt und schläfl; und wartet auf 
auf nichts mehr. Sie gehorcht der Sonne nicht mehr, 
sie lebt nur, wie so manches lebt, weil eben seine 
Glieder noch da sind, weil noch die Organe tätig 
sind, indessen kein Geist, kein Wille mehr den Ge- 
brauch des Lebens bestimmt Die Sonne starrt wie 
ein ewiges Licht auf diese weissen Strassen und 
Häuser, die im willenlosen Dunkel des Schlafes liegen 
^nd ihre lichte Farbe Lügen strafen, denn Licht ist 
Schein für Lebende, die ihn sehen, ihn trinken, unter 
ihm wachsen und wirken, es gibt kein Licht fiir 
Matte, nie mehr Erwachende • • . 



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So liegt Pisa da. Aber es ist auch nichts Yer» 
söhnUches in dieser Erstarrung, nichts Traumhaftes, 
nicht die Kühle märchenschöner Verzauberung, nicht 
die frische Farbe eines Domröschens, das einmal 
eine Prinzessin war und wieder einmal eine Prinzessin 
sein wird. Es ist auch keine Poesie, keine Anmut, 
keine Kraft, kein Rest von Energie imd Hofihung in 
diesem Daliegen. Wie Gott und Zeit sie verliessen, 
so liegt sie da, diese verstummte, verödete Stadt 
Wenn Italien stirbt, dann gibt es keine Auferstehung. 
Dann ist es eine furchtbare Tragödie des Todes 
ohne Hoffnung und ohne Befreiung. Das sieht man 
an Pisa. Die Sonne des Südens ist auch eine gute 
Hasserin. So lange sie Leben bescheint, segnet sie 
es, ist aber einmal das Verderben gekommen, so 
tut sie nichts zur Rettung, sie hilft keinem Ver- 
dammten, sie lindert kein Schicksal und erweckt 
keine Toten. 

Durch die eintönigen, weissen, stummen Strassen 
wandernd, hört man im Geiste die Geschichte dieser 
Verlassenen unter Italiens Städten, dieser unwider- 
ruflich Toten aufklingen, die Geschichte unendlichen, 
unverdienten Unglücks, berghoch getürmten Jammers 
und Verrates, selbst diese Geschichte tönt monoton, 
wie Litaneien an einem Sarge. Pisa lag zwischen 
Genua und Florenz. Es wurde von diesen zwei 
Schidualsmtthlsteinen ganz und gar aufgerieben. 
Raub und Verrat hier, Eroberung und Feldschlacht 
da, zwecklose Bündnisse jetzt, vergebliches Erdulden 
von Belagerungen dann, es ist eine Stadt, die treu 
war und Grundsätze hatte, was dem Schi^^al immer 
ein Grund mehr ist, zu beweisen, dass man mit 

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Treue gegen einen anderen sich selbst verrät und 
mit Grundsätzen die Macht anderer baut, ihre Bürger 
hatten einen festen Staats willen und hielten zum 
Kaiser, dafür wollte ganz Italien ihren Staat nicht, 
und ihre Kaiser hatten das Unglück, besiegt zu 
werden. Was Pisa liebte, durfte es in seinem Campo 
Santo begraben. Der Friedhof ist die Stätte, wo all 
sein Leben daliegt, fruchtlos, traurig und nur eine 
schöne Erinnerung. Und nun ist nicht einmal einer 
da, der in diesen Andenken leben und schwelgen 
und aus ihnen Hoffiiungen schöpfen möchte. Die 
Überlebenden der tödlichen Kämpfe zogen fort von 
der Stadt, wo nichts und nichts gedeihen mochte. 
Und als in einer Schlacht gegen Genua 5000 fielen 
und 16000 Männer gefangen genommen wurden, 
kam das Sprichwort unter die Leute: Wer Pisa sehen 
will, der gehe nach Genua. 

So wandert man verdriesslich und mUde weiter, 
bis man bald ans Ende der Stadt kommt, wo die 
Grenzmauem noch heute stehen. Sie schlottern nun 
wie ein weites, zu gross gewordenes Gewand um 
einen abgemagerten Körper. Pisa füllt seine Mauern 
nicht aus . . . Und da ist ein grosser Plan, ein 
grosser grüner Wiesenplan, auf welchem mit einem- 
mal Pisa lebt, auf welchem die Freude, das Gelingen, 
die Zuversicht strahlen. Das ist der grosse Platz, 
fem vom Stadtinnem, ganz am Rande, wo sie in 
besseren Zeiten wie in einem dunklen Instinkt von 
der Mitte des Verderbens möglichst weit weg das 
hingestellt haben, was von ihnen forüebt Dieser 
Platz ist die Seele, das Leben, der Traum, die Wahr- 
heit von Pisa, er ist die Heiterkeit, die Lust, der 



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Glanz, die Röte der Wangen, der Tanz des Lebens 

von einst. Er ist die schöne gesunde Frucht, die 
voll, reif und gesegnet daliegt, indes der Stamm 

und die Wurzeln hin sind und nichts mehr hervor- 
bringen. Hier lacht auch wieder der Himmel, und 
die Sonne glänzt mit ihrer glttcklichsten Fröhlichkeit, 
denn es ist Schönheit, die ihr antwortet, und Lust, 
die ihr entgegenstrahlt 

Das ist der Dom und das Baptisterium und der 
schiefe Turm und der Campo santo auf dem grünen 
feuchten Wiesenplan von Pisa. 

Selten macht ein gewaltiges Bauwerk, das den 
inneren Stimmen des Glaubens, der ernsten Sanma- 
lung und göttlichen Heerschau der Seelen dienen 
soll, diesen Andruck leichter Sicherheit und un- 
bekümmerter Heiterkeit. 

Diese vier Bauten stehen da wie Denkmäler des 
Glücks. Freilich stanmien sie aus einer Zeit des 
Gelingens. Sie sind so einfach, so strahlend in ihrer 
Munterkeit, so weiblich-anmutig, dass sie wie im 
Reigentanz von Säulen erklmgen, in ihnen wird die 
süsse Musik der kindlichen italischen Volksseele laut, 
eine Lustbarkeit ungetrübten Gemütes, eine Naivetät 
kindlicher Einfälle und Launen, eine Zuversicht, die 
in lauter Blühen und Sonne schaut 

Es war die Zeit eines einzigen grossen Er- 
wachens, als das Kind Italien seine dunklen 

lachenden Augen aufschlug und auf die Wunder des 
Altertums blickte und zum erstenmal sein Leben 
erkannte und seiner Seele Unsterblidikcit anhofile, 
als es mit den weltbegierigen Kinderhänden nach 
den Sternen grifif und die Kunst wiedergebar, welche 



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I 



mdnfaaft das M erobert, das sich dem Menschen 

entzieht und wieder darstellt. Wie in Florenz ist die 
Sdiichtiing heileren und dunkleren Marmors der 
farbig wechselnde Grund des Domes, von welchem 
dieser Rundgesang der Bogen abklingt Vier Loggi* 
aten stehen über einander, und die umsdireitenden 
Bogen beleben die stark aq^gebüdete Kreuzform des 
<jansen. Der tiefiite Sinn des architektonischen 
Dekors wird hier deutlich, der darin liegt, den ein- 
iEudisten Gedanken, das Kieuzs]rmbol des gläubigen 
Baues, der wieder dem Leben dienen soll, mit allen 
Zeichen von Leben und Bewegung zu umringen und 
durchwachsen zu lassen. Und ebenso sicher, nur 
ein wenig strenger und formaler steigen die drei 
Säulengeschosse des Baptisteriums auC Am heitersten 



j indessen erscheint der schiefe Turm, zylindrisch, 
I achtgeschossig von Arkaden, Kreisbogenloggien um- 
' rahmt. Da alle diese Bauten auf sumpfigem Grunde 
errichtet wurden, senkte sich bei dem Werk, das die 
{[eringste Basis hatte, das Fundament und gab der 
Last nach, so dass etwas Schiefes, Trunkenes in die 
Fröhlichkeit kam, die ja wie all die Heiterkeit des 
alten Pisa leider auf keinem guten Grunde stand. 
So wurde er gegen den Willen der Erbauer schieß 
aber in dem Bau selbst ist kein innerer Defekt, 
sondern das untadelige Wollen reiner Kräfte, keine 
schiefe Laune, sondern ein schiefes Geschick brachte 

diese Neigung hervor, so dass der Kampanile jetzt 
dasteht wie einer, der fallen möchte und dabei er- 
starrt ist, so dass er nicht einmal diese Bewegung 
mehr machen kann und nicht einmal stürzen darf. 
So ist der Turm eingeschlafen in seiner geneigten 



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Haltung. Aber hier ist die Heiterkeit des alten 
Märchens geblieben. 

Und nun tritt man in den Campo santo ein, 
das auch dem Tod von den Lebenden emditet 

worden ist, denen hier das Zeichen der Ewigkeit als 
Ziel der begrenzten Tage vorschwebte. Denn an 
ein Sterben ohne Auferstehung, das ihr Schicksal 
wurde^ mochte niemand Gesunder denken. Und sa 
geschah es, dass im Campo santo, im Felde der 
Todten, das wahre und letzte Leben dieser Stadt 
lebt, der Schimmer von Farben und Fröhlichkeit, die 
unvergänglichen Gleichnisse heiliger Geschichten, die 
bunten Gestalten von vielfältigen, tätigen und irren- 
den Menschen, aller Ersdieinnngen mnglänzte Welt. 

Dies lange Redlteck, dessen gotische Arkaden 
der einen Seite sich auf einen grOnen, bepflanzten 
Hof offnen, hat vier lange, ununterbrochene Mauern, 
auf der andern Seite. Vier Mauern, auf denen ein 
glänzender Zug von Bädern an GMLbem vorUber- 
wandelt, Bilder, in denen die ganze Möglichkeit des 
Daseins erschlossen ist, so einfach, so leben^gewiss^ 
so naiv-freudig, dass eine ruhige Stimmung heiteren 
Genttgens Uber diese Welt der Gräber und der End- 
lichkeiten ausstrahlt, ein Glanz der Zuversicht, welche 
dem sicheren Glauben dieser Menschen innewohnte^ 
der eine ewige Kette fortgezeugten Lebens Ober den 
einen notwendigen Augenblick des Sterbens und 
Uber die Grabesruhe hinaus in die Unendlichkeit des 
Alls schlang, >vie eine Kette von Rosen und Früchten 
über die starren Säulen der Gesetze allgemeiner 
Sterblichkeit Nirgends wird so stark wie vor der 
Einfalt dieser Fresken die innere Einheit italischer 

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I 



Kuiik und italischen Lebens erkannt^ die grosse 

Ursache dieser unvergesslichen Zeit, in welcher die 
Menschheit, da sie sich selbst bejahte, sich ihre 

Ewigkeit gesetzt hat. Das Campo santo von Pisa 
ist das Denkmal des freien italischen Lebens, an 
diesen vier Mauemanden blOht und glüht es au£. 

Da sind die zwei unvergessUchsten Fresken, die 
man dem Lorencettt oder einem vergessenen Pisaner 
Künstler zuschreibt. 

„Der Triumph des Todes/' Dies grossartige 
Gleichnis des Lebens kam von weither, wie der Ur- 
gedanke des Christentums selbst, auf dunklen Wegen 
j rnit dem ganzen Geheimnis seelischer Femwirkungen 
{und des Aufkeimens weithin gestreuter Wel^edanken 
aus der indischen Urheimat plötzlich unter den 

Menschen Europas erschien und neue Gestalten, 
Sagen, Wunder und Uofibungen gebar. £s ist die 
des jungen Buddha, der mit glänzendem Jagd- 
gefolge, nur des heiteren Lebens, nicht des Todes 
kundig, ausreitet, von bellenden Rüden umkläffi, die 
weissen Pferde wiehern in der Morgenluft, und plötz- 
lich bäumen sie sich auf und halten an — vor 
Särgen. Vor drei offenen Gräbern hält auf diesem 
Bilde das Jagdgefolge. Drei Könige ruhen da • . 
Einer von den Reitern hält sich die Nase zu vor 
dem garstigen Geruch der Verwesung. Und nun 
erscheint mit einemmal dem jungen Prinzen die 
Vision des wahren Lebens, und was sein wird nach 
diesen hellen Tagen. Und mit einer ungeheuren 
Phantasie kommt der alte Makr der alten Sage nach, 
er bringt auf dieser einen begrenzten Fläche die un- 
begrenzte und sich ewig wiedergebärende FüUe des. 



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Lebens in ein Gleichnis» das mit unnachahmlicher 

Einfall und Klarheit sich entrollt und in sich selbst 
zurückkehrt. Oberhalb der Särge steht ein Einsiedls: 
mit einer Schriftrolle, darauf der Spruch der Be- 
trachtung der Eitelkeiten und des Verzichts auf allen 
irdischen Hochmut zu lesen ist 

Darüber wird das weitabgewandte Dasein der 
frommen Einsiedler geschildert, fem von allen Lok- 
kungen und Wirrungen. Sie lesen die heilige Schrift, 
stehen freundlich lächehid vor den Fruchtbäumchen, 
die sie gepflanzt, sie melken die gute Hindin des 
Waldes, von Hirschen, Vögeln und Hasen umringt. 
Gegen die rechte Seite hin ist das Widerspiel dazu: 
Elende, Kranke, Sündige harren auf den Tod, der 
in Gestalt eines sensenschwingenden Ungeheuers mit 
Fledermausflügeln, Kjrallen, flatterndem Gewand und 
Haar ihnen mit grausamer Erfüllung naht. Haufen 
von Toten, die diese Megäre bereits gemäht, liegen 
unter ihr, die Seelen der Verdammten werden von 
teuflischen Fratzen zu Bergen emporgezerrt, in denen 
feurige Höllenschlünde die Sünder erwarten. 

Und wieder rechts, ganz zusammengedrängt, am 
Rande des Büdes, das Ideal der Gläubigen und des 
Malers, der versöhnende, verhallende Schluss des 
Lebens- und Bilderkreislaufs: das Dasein der Seligen« 
Sie sind voll Freude und gefassten Glückes, unter 
ihnen we3t die Musik, glückselige Paare schreiten 
eng umschlungen im Garten der Wonnen, über 
welchem Engel schweben, die neue Würdige dem 
Kreise zuführen und ihre Auserkorenen den höllischen 
Unholden abringen. Es lässt.sich nichts denken, das 
ursprünglicher, aus dem tiefsten Empfinden und ersten 

13S 



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Urerkennen unmittelbarer und gewaltiger geströmt 
wäre, als dieses Sinnbild mit seiner naiven Sinnlich- 
keit und kinderhaften Bildlichkeit. 

Ihm schliesst sich unmittelbar „Das letzte Ge- 
richt'* an, beheirscht in der Höhe von den zwei 
Gestalten Christi und Mariens. Der Richter Ciiristus 
weist die Verdammten für alle Ewigkeit zurück und 
zeigt die Wunde seiner Seite und seiner Hände, die 
sie verschuldet haben. Diese drohende Gebärde 
wirkt mit ihrer Energie, mit ihrer malerischen Be- 
stimmtheit imd Grösse auf die ganze kommende 
Kunst Italiens^ mit diesem Christus ist die Gestalt 
des grossen Herrn des Lebens gleichsam in der 
körperlichen Wesenheit zum erstenmal völlig erkannt 
und völlig hmgestellt. Sie schwindet nicht mehr aus 
der Vorstellung aller Kommenden. Unter diesen 
beiden Welfherrschem in kühner Zusammenfitssung 
zur Kreuzform stossen vier Engel hinab mit den 
SchiiftroUen des Urteils» es mit Posaunen verkündend, 
geduckt vor seiner Unerbittlichkeit der unterste 
kauernd und das Gesicht verhüllend. Dann weiter 
fünf Reihen emster Seliger : Könige, Bischöfe, Heilige, 
LaieUi ganz vorn verschleierte gute Frauen, unter 
ihnen eine Selige, die glücklich ihrer Tochter aus 
dem Grabe hilft. In der Mitte vom vollstrecken ge- 
wappnete Engel die UrteUe, übergeben die Gerechten 
der Gnade, ziehen die Ungerechten aus dem Kreis 
der Frommen, wo sie sich einschleichen wollen. 
Ganz rechts harren die Verdammten der Strafe mit 
einer unsagbaren Deutlichkeit und Verschiedenheit 
des Ausdrucks der Angst, körperlidier Schmerzen, 
der Wut, des Trotzes, Hohns und endlich der Er- 



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gebung, die keiner Äusserung des Entsetzens mehr 

fähig ist. Das tiefste Grauen vor dem Zorn des 
Schicksals groUt hier, und zugleich versöhnt die 
tiefste Zuversicht einer gläubigen Vision mit allea 
Schreckeoi die sie heraufbeschworen. 

Nach dieser Tragödie folgt die naive Bilderfolge 
der Fresken des Benozzo Gozzoli. Sie wurden schon 
zur Zeit des beginnenden Niederganges von Pisa, 
bestellt und der florentinische Maler verherrlichte im 
Felde der Toten von Pisa die Gefilde der Lebenden 
von Florenz. Denn diese Stadt und ihre Menschen, 
ihr fruchtbares Ackergebiet, ihre gesegneten Herden^ 
Werkstätten, Paläste, Frieden und Freude diesea 
Tals treiben auf diesen Bildern ihr heiteres Wesen. 
Die Farben sind ja jetzt ein wenig verblasst, aber 

wie müssen sie damals geglüht haben! Die Ge- 
stalten mochten fast herausgeschhtten sein und einen 
Reigen der Anmut gefUhrt haben, als sie eben fertig 
aus der Hand des Malers gekommen waren. Auf 
dem „Turmbau zu Babel^* ragen florentinische Bauten 
im grossartigen Durcheinander zum Himmel. Die 
Medici und ihre Freunde, die ganze heitere Gesell- 
schaft des vornehmen Florenz betrachtet dies Werk. 
Der Maler glaubt an die Möglichkeit des Gelingens 
dieses Babelturmes, wie er an den Weltberuf von 
Florenz glaubt; er erzählt die heiligen Geschichten 
mit der ganzen spassigen Freundlichkeit» mit 
toskanischen Lust an gutem Witz, es ist die Stimmung 
emes Kreises weltfroher Florentiner Bürger darin, 
die bei gutem Landwein ihre Geschichten um die 
Wette erzählen, wer etwas Grossartigeres vorbringt^ 
als die anderen, oder etwas Drollig- Verbotenes. Ein 

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^uter, unbesorgter Cynismus, eine gesunde sinnliche 
Freude an den Gliedern schöner Frauen und an den 
Abenteuern verliebter Gesellen ist in diesen toskani- 
schen Novellen. Dieses Geistes Kinder sind auch die 
gemalten Geschichten des Benozso GozzolL Mit 
diesem Humor wird Vater Noah vorgeführt mit 
seinem unbändig-komischen ersten Rausch, dem die 
eine Magd zusieht, das Gesicht unverschämt-verschämt 
mit der Hand bedeckend, aber doch so, dass sie 
durch die gespreizten Finger durchsehen kann auf 
diese sehr unheflige Geschichte des heiligen alten 
Herrn. In dieser „Vergognosa" ist der ganze Geist 
der Florentiner Heiterkeit und in den tanzenden 
Gestalten von der Hochzeit Jakobs und Raheis die 
ganze Grazie der Florentiner Mädchen und Jünglinge. 
Ein Fest des Lebens schallt an dieser Stätte des 
Todes. Und die Kunst löst unwillkürlich mit ihrer 
tiefen inneren Bejahung des Daseins, mit ihrem 
seligen Uberfluss an Lebens-, Geistes- und Smnen- 
kraft das Rätsel des Todes in die Gewissheit des 
Lebens au£ Sie lehrt die Wiederkunft des FrOh- 
lingSy die sichere Unsterblichkeit der Menschheit, 
die Uber alle Gräber der einzelnen hinaus sich be- 
wahrt und stets tausendfach erneut, was düster ver« 
scharrt wurde. Es ist der gute Geist Italiens, der 
in. den schaffenden Menschen aufs trostreichste sich 
auswirkte: leben wir im Licht unserer guten Sonne, 
trinken wir unseren dtmklen Wein und küssen wir 
unsere schönen Frauen, denn heute ist das Leben! 
Wir liebten die, die uns starben. Freilich müssen 
wir aUe zu Grabe gehen, und all unsere guten Ge- 
scliichten nützen uns nichts, all unsere schlauen Finten 

14.1 



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mit denen wir die Narren hinters Licht führten und 
die schönen Frauenzimmer überiisteteni sind ver-* 
geblich gegen den Tod, freilich müssen wir ins Grab^ 
Aber unsere Sonne, unser Land, unsere gesunden 
Glieder, all die Schönheit, die um uns voll Milch 
und Honig fliesst, ist eine Bürgschaft unserer Un- 
sterblichkeit Lasst uns fröhlich sein, denn Kraft 
und Lust, die von der Natur gesetzt sind, die Krait 
und Lust braucht, lassen wieder neue Menschen 
wachsen unter der alten Sonne, unter den alten, vollen 
Weinstöcken werden neue Listen reif ftir neue Narren 
und für neue, verschämte Frauen, die überlistet sein 
.wollen und darauf warten. Wir sind des Lebens 
würdig, wenn wir es im Ganzen und Vollen leben 
unter Wein imd Rosen. £s war ein Fest, ein Spiel, 
ein zielloses Glück, ein goldener Überfluss. So 
konnte Florenz, das spielerische, sittenlose, wilde, 
das seine grosse Zeit wie in einer toUen Liebesnacht 
der Zeugung und Wollust durchbrauste, leben und 
unsterblich werden, indes das ernste, brave, treue 
Pisa armselig wurde und verkam, und nun in seinem 
Campo Santo für alle Ewigkeit die heitere Lehre und 
Verherrlichung der glücklicheren Stadt vor Augen 
haben musste, die leichtsinniger und schlechter war. 
Es ist gar oft so, dass der Taumelnde besser geht 
als der Bedächtig-Nüchterne, dass der Dichter und 
Tiäumer Recht behält vor dem Siebenmalklugen, der 
unvorsichtig Dreinlebende vor dem Gescheit-Über- 
legenden, dass der ein^h Fröhliche weiser ist als 
der traurige Sinnierer, dass Treue zum Narren wird 
und heisse Lustbarkeit an der vollen Tafel des Lebens 
sich wohl sein lässt, indeß der Sparsame um sein 
ganzes Gut kommt Die Natur will keine Grübler, 

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ifie von allen ihren Blüten Farbe und Frische ab- 
nagen wie schädliche Insekten, sie will Lebendige^ 
Sinnlose y Schwänner im Überfluss, Träumer in 
Wonnen, Dichter im Wachen, Denker in Fernen, sie 
will Mütter, die in Lust empfimgen, um in Kraft zu 
gebären, sie will Tanz und Spiel, weil sie die Kraft 
im Überschwang werden lässt und sich nur in der 
Fülle erneut, indes aOes Matte, Oberkluge, alles vor 
Gedanken und Sorgen Kranke, alles Schwere, Müde, 
unfruchtbar wird und sich selbst auffiisst Da brennt 
dann die Sonne unbarmherzig nieder, und das 
Schicksal spielt dem Bedächtigen übel mit Das ist 
das traurige Geheimnis der ernsten, braven, stillen 
und toten Stadt Pisa, die vielleicht gestraft wurde, 
weil sie gar so gut, ja zu gut, zu fromm, zu ernst, 
zu treu war. So ist ihr Schicksal doch vielleicht 
nicht ohne Schuld gewesen. Wer sich ein karges 
Mass setzt, dem wird mit strengem Mass gemessen. 
Dem Übermütigen gewährt die Natur, was er mag. 
Greift er nach den Sternen, so darf er sie pflücken 
wie Weintrauben von dem vollen Ast. Alle Weiber, 
alle Siege, aUe Gedanken, alle Werke Men ihm in den 
Schoss, und dazu noch die lachende Unsterblichkeit, 
um die er sich am wenigsten bekümmert Der Tod 
von Pisa ist das Leben von Florenz, und aus dem Felde 
der Pisaner Toten grüsst das Leben und die Lust 




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i 

* Ml. 
. V* 



INHALT 

KINDERFRÜHLING 

Fragment aus den Erzählungen eines jungen Mannes . ^ 

Aus der Schule • • » ij 

Schmetterlingsjagd ^ 

Am Brunnen ^ 

Musik 

REISEAUGENBLICKE 

St. Ulrich in Groden 6j 

Roma intangibile , , 6g 

Venedig 25 

Bologna • ^ 

Florenz j 

Pisa jßo I 



Herrose & Zietnsen, Wittenberg. i 



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