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GRENZBOTEN:
1874
Dei
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Priuceton Unibersitn.
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6Grepnpeboten.
Zeitfhrife
für
Yolitik, Siteratur und Kunfl.
Ne 40.
Ausgegeben am 2. October 1874.
Inhalt:
Herman Grimm's fünfzehn Eſſays. Hans Blum. . » x... 1
Ein Prinz aus dem brandenburgiſch-hohenzollerſchen Haufe als
Bifhof von Strafburg (1592—1604). Guſtav Kraufe . 16
Felir MendelsfohnsBartboldy's Werke. S. Jadafjfohbn . . . 24
Ein gemaßfregelter Preußenfeuhler. . 2 2: 2 2 2 na 27
ng Briefe. Angelo de Gubernatie. . . 2... 29
ad Leben Cavour's von Maffari in deutfcher Sprade . . . . 34
Grenzbotenumfhlag: Literarifhe Anzeigen. r
— — · — —
Friedrich Ludwig Herbig.
(Ir. Bild. Grunow.)
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bs at 4 bei allen Buchhandlungen und Poftämtern des In: und Auslandes.
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Die
Grenzboten.
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Zeitſchrift für Politik Fiteratur und Kunſt.
33. Jahrgang.
II. Semeſter. II. Band.
Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
(Fr. Wilh. Grunow.)
1874.
Inhaltsverzeichniß.
Jahrgang 1874.
Politit und Völkerleben.
a.
Aus dem deutfhen Reid:
Vom deutfchen Reichstage. C—r. ©. 194,
239, 270, 314, 353, 389, 426, 469, 515,
Briefe aus der Kaiferftadt. ©. 73, 229,
318, 383,
Dilder aus Medlenburg. Hugo Gaedde.
©. 113, 147, 264.
Der Fall Arnim. Aus Berlin. ©. 118,
Die jähfifche Politik. K. F. ©. 346.
Die General» Direction der Sächf. Staats-
Eifenbahnen, das Reichseifenbahngefe
ee dad Publitum. Mar Krentel,
454,
Der Procek Arnim. ©. 508.
— —
Neuere kirchenpolitiſche Fragen. H. Jato by.
S 41,
In Sachen der finanziellen Lage der Uni—
verfität Jena. Klagbeantwortung. Replik
von®. Endemann. Actenſchluß. ©. 69,
Die Goldausfuhr und die Münzreform,
Mar Wirth, . 140.
Die Münzfrifis und das Bankgeſetz. Mar
Wirth. ©. 481,
Ein gemaßregelter Preußenfeuchler. ©. 27,
Italieniſche Briefe, Angelo de Guber—
natid. ©, 29,
Ein Mufterftüd bonopartiftifcher Propaganda
in Franfreih. Aus Paris. S. 56.
Die Banken in Luremburg. N. Steffen.
©. 112,
Der obligatorijche franzöfifche Unterricht in
uremburg. N. Steffen. ©. 277.
Zur Gefchichte des Septennats, Georg
Zelle. ©. 293, 321, 401.
611966
Viertes Vierteljahr.
Bilder und Schilderungen.
Ein Hobenzoller als Biſchof von Straßburg
(1592—1604). Guftap Kraufe S. 16
—— Carl Friedrich's von
löden. B. S. 51.
Schweizer⸗Reiſegloſſen. F. B. ©. 151.
Herbſttage in Schwaben. Friedrich Lam⸗—
pert. ©. 187, 215.
Die —— Erpedition. ©. T.
Im Silberland Nevada, Nah Mart
Twain. ©. 333, 367,
Plaudereien aus London. Alfred Blum.
©. 376, 414, 486,
Statiftifches und Geographifches vom Oxus⸗
lande.. 8. Shmolfe. ©, 501.
©. 270,
Die mechanifche und die teleologifhe Welt:
anfhauung. Mar Heinze ©. 51.
Die Drafel Griechenlands. C. Brud. ©,
161
Hiftorifche Studien über Don Carlos, Wil:
helm Maurenbrecher. ©. 241, 281,
Preußifche Geſchichten. Wilhelm Mau-
tenbreder. S. 44l,
Literatur und Kunf.
Herman Grimm's fünfzehn Eſſay's. Sana
Blum S. 1. An
Das Leben Gavourd von Maffari in
deutfher Sprache. (Reipzig, Ambr. Barth,
überfegt von Ernft Bezold. ©. 34.
Mar Zähne, Jugenderinnerungen Garl
Friedrich's von Klöden. ©. 51.
Mar Wirth's Gefchichte der Handels⸗
kriſen. S. 78.
———
Dali u
>Im
zur, J
Amerikaniſche Humoriften:
Thomas Bailey Aldrihd. S. 92.
Mark Twain. S. 306, Hand Blum.
Wenjukow's Werk über Innerafien.S. 183.
Wilhelm Roſcher's Gefhichte der deut:
fhen Nationalöfonomit, 8. B. ©. 361.
Eine neue Ausgabe von Jeremiad Gott-
belf. B. ©. 467.
Burn, Endemann’s neuefted Werk. H. B.
487.
Felix — ——— Werke. S.
Jadasſohn. S.
„Um die Erde“ von — Hildebrand und
„Maleriſche Reiſeziele““ von Eugen Krü—
ger. ©. 421.
Selbfibiograpbie von ————— Fiſch—
bad. ©. 225, 480
Goethe's Tagebücher 1780,
C. U. 9. Burkhardt. ©. 121.
Charles Wolfe, Skizze feines Lebens und
Dichtend. Guftav Haller. ©, 129, 175.
Proben gleichzeitiger Bolkälieder über die
u bei Semmingftedt. 5. Schmolfe.
1781, 1782,
Slleine Beſprechungen.
Deutfhe Jugend v. Jul, Lohmeyer und
Oscar Pletſch. (Leip. Alpb. Dürr.)
©. 360.
Neſthäkchen, D. Pletfh. (Daf.) ©. 595.
Aus unfern vier Wänden. Reichenau.
(F. ®. Grunow, Leipz.) S. 395.
Goethe's Erzählungen für e. nn
v. F. Siegfried. en 6.)
Weihnachtöverlag v. Velhagen * Klaſing.
S. 396—399.
Rob. König. — Scott's ſchönſte
Romane. S. 30
Clement Art Prinzeßchen Eva, das
Kränzchen, Frau Theodore. ©. 398.
Wilhelm Petſch, Kaifer Wilhelm der
„ ergreie. S. 398. Graf Moltke ©. 398.
D. Höder, General v. Werder. ©.398.
Mar Bifh off, Robert der Echiffejunge.
©. 398
Die deutfchen Nordpol:
Rich. And 9
fahrer. S.
Theod Bo J— Zeitalter det Entdeckun—
gen. ©. 3909.
IV
Reinhold Zöllner, Der ſchwarze Grd-
theil. S. 399
Gottlob Dittmer, Kinderluft. S. 391.
Robert Reinick's Märchens, Lieder: u.
Geſchichtenbuch x. S. 399.
Weibnachtsliteratur von Garl Flemming in
Slogan. S. 399— 400.
Thekla v. Gumpert, Töchter-Album.
©. 400. Herzblättchen. ©. 400.
NR. Koh, Bunte Farben. ©. 400.
Sulie Ruhkopf, Zehn Thüren. ©. 400.
Godin, Märhenbuhb. ©. 400.
Kerd. Schmidt, ullivers Reifen. S.400,
5.0.9. Jähde, Roggenförnlein x.©. 400.
Erzählungen von 2. Budde (aud dem
Dänifhen von Walter Neinmar).
(F. W. Grunow, Leipjia.) ©. 438,
Georg Scherer, die fchönften deutfchen
Volkslieder. (A. Dürr, Leipzig.) ©. 439.
Ernſt Förfter, Gornelius’ Loggien—
bilder (U. Dürr, Leipzig). ©. 439.
Düffeldorfer Künftler- Album (Preis
denbab & Go, BDüffeldorf). ©. 440.
Ernſt Scherenberg. Lieder (Ernft Keil,
Leipzig). S. 440.
Ludwig Nobod, dad Berner Oberland
(Aquarelle), Tert von 6. Orenbrüggen.
(Darmftadt, C. Köhler's Berlag.) ©. 410.
3. v. Baufinger, Waidmannd:Erinneruns
gen Photogr. nach Zeichnungen). Tert
von Karl Stieler. (München, Fr. Brüd:
mann’d Berlag) €. 176
William Pierfon, Preuß. Gefchicte.
(Berlin, Gebr. Paetel.) 3. Aufl. ©. 476,
KarlBraun, Mordgeihichten. (Hannover,
Garl Rümpler) ©. 477.
Sulius Wolff, Till Eulenfpiegel redivi-
vus. (Detmold, Meyer'fche Hofbuchhand—
lung.) €. 478.
Friedr. v. Schad, Nächte des Drients.
(3. ©. Gotta, Stuttgart.) S. 478.
Jugendichriften des Otto Spamer'fchen Ver—
lags in Leipzig. ©. 479.
HSermannv. Bartb, Dit-Afrifa. S. 479,
Karl Dppel. Wunderland der Pyrami—
den. ©. 479,
Hermann Göll, Götterfagen und Kul—
turformen. ©. 479,
Lauſch, Kindermärden. ©. 479.
E. Telle, — — durch die drei
Naturreiche.
C. Flamarion, Reich der Luft, deutſch
von W. Schütte. CLeipzig, Fr. Brand-
ftetter.) ©. 479,
\%
Herman Grimm's fünfzehn Sans. *)
Es find jetzt fünfzehn Jahre verfloffen, feit Herman Grimm die erfte Samıms
lung feiner Auffäße unter dem Titel „Eſſays“ herausgab. Bor neun Jahren
folgte die zweite Sammlung unter dem Titel „Neun Eſſays über Kunft und
Literatur“. Als die Gunft des Publikums eine neue Auflage nothwendig machte,
mählte der Verfaſſer zunächit die auf bildende Kunſt bezüglichen Stüde aus,
die 1871 erfchienen.**) Die vorliegende Sammlung bietet die älteren und
neueren Auffäge, welche politifch-hiftorifchen und literaturgefchichtlihen Inhalts
find. ine fünftige Sammlung wird und noch diejenigen Arbeiten Grimm's
vereinigen, welche fi) mit dem Drama bejchäftigen.
Die vorliegende Sammlung ift vielleicht diejenige, die den größten Leſer—
freiß finden wird, eben ihres Inhaltes, ihrer Stoffe halber. Viele der darin
enthaltenen Abhandlungen, auch einige der politifchen, ſtammen aus einer der
Gegenwart faft entfehwundenen Zeit, fo z. B. der Aufſatz über „Friedrich
den Großen und Macaulay“ aus dem Jahr 1858, der über „Herrn von Varn-
hagen's Tagebücher” aus dem Jahr 1862. Natürlich find diefe politifchen
Auffäse getragen und getränft von den politifchen Tagesintereffen, melde
damals die beften Kreife Berlin erfüllten. Und auch in die literargefchicht-
lihen Arbeiten aus alten Tagen, die hier neu aufgelegt werden, verwebt der
Berfaffer eine Fülle von Sdeen und Wünfchen, die gerade dem vormwärtö-
ftrebenden preußifchen Nationalen jener Zeit da® ganze Herz bewegten und
juvorderft auf der Lippe und in der Feder ftanden. Manche jener Wünfche
und Hoffnungen mögen mir heute ſchüchtern, manche jener Warnungen und
Befürdhtungen heute irrig nenren; darum find wir aber dem Berfafjer nicht
minder dankbar dafür, daß er dur den unveränderten Abdrud feiner
Efjayd aus dem Ende des fünften und aus dem Beginn des fechiten Fahr:
zehnt3 unfere® Jahrhunderts, und noch heute unverzagt den Spiegel hinhält,
in welchem die beiten Beitgenoffen von damals fich fpiegeln. Das Bild, das
*) Fünfzehn Eſſays von Herman Grimm. Zweite vermehrte Auflage der Neuen
Eſſays u. f. w. Berlin, Ferd. Dümmler’s Verlagsbuchhandlung (Harrwitz & Goß-
mann), 1874.
**) Unter dem Titel „Zehn ausgewählte Eſſays zur Einführung in dad Studium der
Modernen Kunft.”
Grenzboten IV. 1874. 1
2
wir darin ſchauen, gereicht dem Verfaſſer wahrlich nicht zur Unehre. Es
\ind, wenn auch ein wenig jünger und naiver, diefelben Züge, die heute in
dem Charakterbild der beften deutfchen Männer zufammentreffen.
Herman Grimm ift der Erfte in Deutfchland geweſen, der „Eſſays“ ge-
ihrieben hat, die den Namen verdienen. Sein Beifpiel hat eine nambafte
Coneurrenz hervorgerufen und mander von denen, die ihm nacheiferten, hat
Hervorragendes geleiftet auf dem Gebiete des literar- oder kunſthiſtoriſchen
Eſſays; im politifchen Eſſay befonderd hat Heinrich von Treitſchke Herman
Grimm vielleicht überflügelt. Gleichwohl befist Grimm eigenthümlihe Bor
züge, die wenig Andere in diefem Grade aufzumeifen haben, feiner ganz fo in
fi) vereinigt wie er, und die ihn für das Genre des „Eſſay“ befähigen, wie
feinen zweiten. Es mag mohl geftattet fein, die Eigenthümlichkeit der Schrift-
gattung , die er zuerft bei und einführte, mit anderen Kunftwerfen zu ver
gleihen, um fie zu harakterifiren, 3. B. mit gewiſſen Schöpfungsgattungen
der bildenden Kunft. Jede Gemäldeausftellung zeigt uns den Unterfchied
au in den Bildwerken, der auf fchriftftellerifchem Gebiete zwifchen der gründ-
lichen gelehrten Abhandlung und dem Efjay von felbft in die Augen fällt.
Hier finden wir vollendete Staffeleigemälde aller Genres: Arbeiten, denen wir
vieleicht, Dank der Kunftübung Sicherheit und Genialität des Meifterd, die
Mühe des Schaffend nicht anmerken, in denen aber bei genauer Betradhtung
immerhin die Unmittelbarkfeit der Natur durchaus zurüdtritt vor der dee,
die im Bilde audgefprochen werben fol; vor der Schule, melde die Hand
des Meifterd übte und hier ſich ausprägt. Kaum ein Faltenwurf oder eine
Gliedſtellung in dem hiftorifchen Gemälde vor und erinnert daran, daß lebende
Modelle dem Künftler vor Augen ftanden, ald er die Vorftudien für diefes
Bild machte; Faum eine unverfennbare Kirhthurmfpige oder eine eigenartige
Linie des fernen Gebirged gemahnt und daran, daß die „ſtimmungsreiche“
Landſchaft vor uns wirklich einft an Ort und Stelle aufgenommen, vom
Künftler fo gefehen wurde, mie wir fie in der Natur fahen, von Gottes
blauem Himmel überfpannt. Neben diefen vollendetiten, am meiften durd)-
gearbeiteten Schöpfungen des Pinfeld, in denen der Fünftlerifche Verftand vor:
herrfcht, der jedem Menfchenantli etwas hiſtbriſchen Ebdelroft zulegt, jedem
Thier etwas bucolifhe Würde und jedem Baum, jedem Berg die Form und
Farbe giebt, welche gerade an der betreffenden Stelle vonnöthen ift, um an-
genehm und harmonisch zu wirken, — neben ihnen erbliden wir eine Kleinere
Anzahl von Gemälden, die fich felbit ald „Studien“ bezeichnen. Wenn ihr
Titel vom Künftler richtig gemählt ift, fo müſſen fie alle den nämlichen, höchſt
erfrifchenden Eindrud auf und machen: bier will der Künftler die Natur fo
darftellen, wie fie ihn wirklich zum Schaffen begeifterte. Die flüchtige Skizze,
welche den hundert und mehr Schwierigkeiten de8 Malend nah der Natur
mn EI
3
abgerungen wurde — der mwechfelnden Laune des Sonnenlichtes, der Hitze
oder Kälte, den natürlihen Grenzen menfchlicher Geduld und menfchlicher
Muskelkraft — diefe Skizze foll veredelt und vertieft werden zu dem Bilde,
welches die Natur felbit in jenen Stunden drangvollen Schaffend dem Maler
bot, fol nun bequem auögeftaltet werden durch eine fertige Technif und er-
füllt von dem warmen lebendigen Hauche, der den Künftler zum Schaffen
jwang und ihn immer nod daheim in der ftillen Klaufe erwärmt, auch wenn
deren eined® Fenſter nur nah Norden zeigt. Nur die Natur fol die
„Studie“ wiedergeben, nicht mehr, nicht weniger — wohl ihr, wenn fie an-
nähernd die Natur zu geben vermag!
Die Studie ift der „Eſſay“ der bildenden Künfte; der Eſſay die „Studie“
unter den Schriftwerfen, im Gegenfas zum jtilvollen Staffeleibild und zur
flüchtigen Wanderſkizze. In den ftillen Myſterien der Kunftgenofjen wird
allezeit freilich wohl die Skizze am hödhften gehalten werden. Niemald wird
der wahre Künſtler fich ihrer entäußern. Nicht, weil der Marft ihr ver-
ſchloſſen wäre. Denn bei der leidigen modernen Gefhmadsrichtung, die
Fehler und Schwächen des Farbenkörpers der Skizze auch auf dDurchgearbeitete
Staffeleibilder zu übertragen, und bei der Unfähigkeit fo vieler Ausſteller ſich
über fkizzenhafte Reiftungen zu erheben, möchte immerhin einige Hoffnung auf
Abſatz aud für gute Skizzen vorhanden fein. Aber die Skizze ift dem Maler
das Lebenslicht im edelften Sinne des Wortes. Sie ift dad Tagebuch, das
er in inbrünftigem Verkehr mit der Natur, mit feiner Mufe geführt. In
der Skizze — mag fie in den Augen des Laien noch fo unvollfommen fein,
— fpiegelt fi) die unverfälfchte, von des Gedankens Bläffe noch nicht an-
gefränfelte, Natur. Sic diefer Blätter entäußern, hieße fich felbft preiögeben.
Sie bieten dem Künftler das ficherfte Schugmittel gegen die Gefahr, der
Manier zu erliegen. Sie find der Prüfftein für jeden, ob er die Natur
richtig und eigenartig zu verbildlichen vermag. An der Studie zeigt fich dann,
ob dem Maler die Kraft poetifcher Ausgeftaltung, das künſtleriſche Vermögen
gegeben ift, Vorbilder, die fehon der Vergangenheit, der Erinnerung angehören,
lebendig zurüdzurufen und dem Befchauer vorzuführen.
Diefer poetifchen Geſtaltungskraft Fann auch der Efjayift nicht entrathen.
Im Gegentheil, nur wenn er Dichter ift, wird ihm der Eſſay völlig gelingen.
Er kann fi nicht in jener behaglichen, alle Quellen erfchöpfenden Breite er-
gehen, welche der eigentliche Gefhichtäfchreiber der Literatur, Kunft: und
Kulturgeſchichte, die ſtaatswiſſenſchaftliche oder politifhe Fachgelehrfamkeit, für
fih in Anfprud nimmt. Wo bliebe der „gebildete Leſer“, wenn er das viel-
feitige Material, das Heute in unfern Salons, in unfern gejelligen und
politifhen Bereinigungen zur Discuffion fteht, aus breiten Fachwerken
jhöpfen müßte? Wie könnte der Schriftfteller den dringenditen politifchen,
4
literarifchen, mufifalifchen, bildnerifchen Novitäten gerecht werden, wenn man
nur ftrenggelehrte Monographien darüber fchreiben dürfte? Ebenfowenig aber
ald das literarifche Staffeleigemälde würde die Bedürfniffe des großen, ja des
gewählten Publikums die literarifche Skizze befriedigen. Die Naturlaute des
menschlichen Geifte® fprechen eben nicht jo unmittelbar zu Sinn und Empfin-
dung, wie Form und Farbe der Landſchaft, der menjchlichen Geftalt, des
Stillleben? oder Thierförperd. Sie bedürfen der Klärung und Durcharbeitung,
um frudtbar und genußbringend auf Andere zu wirken. Alternde berühmte
Schhriftiteller, die nach jenem köſtlichen chinefifhen Märchen Hand Hopfen's
den Zauber ihrer Feder erfannt haben: daß fie fchreiben dürfen, was fie
wollen, und dennoch ficher find, Beifall zu finden — beichenfen und in ihren
impotenten Tagen etwa einmal mit ſolchen Skizzen. Jugenderfahrungen und
Alterdreflerionen, Lefefhnigel und fog. gute MWite ihrer Bekannten erhalten
wir da in abgerifjenen Sägen — am liebiten in der Form des Tagebuche
des greifenhaften Roman-Helden — und fühlen und unendlich gelangweilt
und verdroffen. Sollte aber ein Anfänger wagen, und mit feinen Skizzen zu
behelligen, wie etwa ein junger Künftler mit unfertigen Bildern, fo Elappen
wir das Buch nad) den eriten zwei Seiten empört zu und merfen und den
Mann für fünftige Fälle.
Dagegen bietet das Material der Skizze in derfelben Weiſe die be»
fruchtende Grundlage für den Eſſay mie in der bildenden Kunft für die
Studie. Nur ift hier wie dort die poetifche Intuition unentbehrlich für die
fünftlerifhe Ausgeftaltung. Ein hervorragender Träger der Wiffenfchaft, der
Staatäpolitif, der Literatur oder Kunft feined Volkes foll zum Gegenftand
eines Efjay gemacht werden. Die Aufgabe erfüllt den Schriftfteller voll:
fändig — er muß davon erfüllt fein, wenn er fie löſen fol — im Wachen
und im Träumen, am Urbeitötifch, auf dem einfamen Spaziergang, felbft im
Rafjeln des Eifenbahnzugs oder im traulichen Geplauder des Yamilienabende.
Mas über den Stoff zu Iefen war, hat er gelefen, den Quellen ift er fo
gründlich nachgegangen mie der Gelehrte von Fach, die Werke und Thaten
ſeines Helden hat er fich angeeignet. Und dennoch ift damit erſt dad Roh—
material zu der Arbeit gewonnen, die nun begonnen werden fol. Nicht den
einzelnen Mann, nicht feinen Werdegang und feine Leiftungen allein will der
Eſſay jchildern. Vielmehr fol der Lefer die eigenthümliche Stellung und
Bedeutung jenes Mannes in feinem Volke, in feiner Zeit, in dem gefammten
Kulturleben der Menfchheit erkennen. Das kann nur durch eine, im beften
Sinne univerfelle Bildung, dur ein ungewöhnliches Aperceptiondvermögen
und ein gewiſſes poetiſches Indigenat erreicht werden. Alle Wiffenfhaft und
alle menſchliche Erfenntnig follten zur Verfügung ftehen, um einen Aus:
erwählten des menfchlichen Geiſtes und allfeitig zn fchildern. So bedarf
5
auch der Eſſayiſt jetzt der eigenſten Lebenserfahrungen aus Kindheit und
Jugend, um ſeines Helden Entwickelung zu erklären, im nächſten Moment wieder
der Vertrautheit mit mathematiſchen oder naturwiſſenſchaftlichen Geſetzen oder
den kühnſten Speculationen der Metaphyſik, um ein künſtleriſches oder politi—
ſches Problem zu löfen, unmittelbar darauf der Literatur der Griechen oder
der jüngften Eretgnifje der Weltgeſchichte. —
Herman Grimm bietet und in feiner Perfon , in feinem Talent diefe
nothwendigen Borbedingungen des Efjayiften. Er tft außerdem gewöhnt an
eine ftrenge Handhabung des Stild, einen Wohllaut der Sprade, die auf
das Freudigfte berühren. Seine Sprache ift bilderreih, gedanfenfprühend,
mitunter fo erfüllt von Bildern und Gedanken, daß das raſche Fortkommen
ſchwer fällt. Aber um fo größer ift der Umblid, den man gewonnen, wenn
man einen Augenblick bedächtig innegehalten. Seine Darftelung, namentlich
auch in feinen politifchen Gfjays, tft troßdem merklih ruhiger ald diejenige
Treitſchke's. Treitſchke fohreibt immer mit jenem ‚rhetorifchen Pathos, das
zuerst feine Vorlefungen und Reden in Leipzig berühmt machte. Treitſchke
ift unter PBarticulariften aufgewachſen und jahrelang faſt einfam gejtanden
mit feinem nationalen Schmerz und feinen nationalen Hoffnungen. Das
Befenntniß und der Kampf für diefe Ideen hat ihn aus dem Baterhaug,
aus der Heimath, dem felbftgefchaffenen Kreiſe feines erften academifchen
Wirkens getrieben. Immer hat er fich darauf einrichten müffen, unter zehn
Freunden feiner Anfichten hundert Gegner zu finden. Daher noch heute,
fo oft er zur Feder greift, jene innerjte Erregtheit, jener überzeugende
Schwung in feinen Worten; daher immer die Lenkung der Anfihten und des
MWillend der Leſer oder Hörer das vornehmfte Ziel feiner Feder mie feiner
Rede. Nicht lange Ueberlegung bezwedt er, fondern die fofortige Vollziehung
der That, die der Verfaffer für nothwendig hält. Herman Grimm dagegen
it aufgewachſen in jenem Elaffifh ruhigen und fichern Kreife, der fih um
das Leben und Wirken ſeines Vaters und feines Onkels wob. Ein einziges
Mal, ala er noch Knabe war, Hat der müfte Heinftaatlihe Partieularismus
auch die Gebrüder Grimm aus ihrer ftillen Arbeit aufgefcheucht und heimathlos
aus Göttingen getrieben. Aber nur zu ihrem, zu Herman's Segen. Seitdem
fie in Berlin wirkten, war ihr Haus einer der Mittelpunfte des geiftigen
Lebens der Nation. Hier verkehrten Jahr aus Jahr ein die vornehmften
Geiſter Deutichlande, In guten und böfen Tagen der nationalen Ent:
mwidelung wurde hier an die Vollendung der deutfchen Einheit durch Preußen
mit jener erhabenen Geduld und Sicherheit geglaubt, welche jene Heroen der
deutfhen Sprachwiſſenſchaft in allem ihrem Thun augzeichnet. Nach taufenden
von Jahren zählten fie die Entwidelung der Spradlaute, in denen Heute
unſer Volk redet. Warum follte ein Gefchleht erlangen, des Vaterlandes
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Größe ganz zu erleben. Warum follte man verzweifeln, da nicht einer
Generation allein beftimmt war, den großen Tag der Erfüllung der natio-
nalen Hoffnungen zu ſchauen? So haben fie gehofft und geglaubt, bis einer
nad) dem Andern getroft ind Grab geftiegen if. — In Herman Grimm’s
Etil und Darftellung prägt fi die edle Ruhe und Klarheit aus, die er in
Allem ald das befte Erbtheil des Baterhaufes von Kindheit an überfommen
hat. Auch feine politifhen Abhandlungen aus Zeiten, in denen Andere an
der Zukunft unfere® Volkes verzweifeln wollten, find von jener feiten ruhigen
nationalen Zuverfiht getragen. Ihm ift von jeher nur die Zeit wann,
nicht die Frage ob wir dad Biel unferer Staatdeinheit erreichen mürden,
zweifelhaft gewefen. Zu diefer Einficht ift er gefommen bei jungen Jahren,
ſchon im Baterhaufe; fie ift ihm nicht das Ergebniß ſchwerer innerer Kämpfe,
nie die Quelle häuslichen Zmiefpalte® geweſen. Er hat fie ftolz und gelafjen
ausgeſprochen folange er denkt und ſchreibt, wie einjt der römiſche Staatd-
bürger das civis Romanus sum.
Man wird Faum eine Arbeit Herman Grimm’s finden, welche die ge
rühmten Eigenthümlichkeiten in ein günftigeres Licht feste, als die erſte Ab-
handlung der vorliegenden Sammlung „Voltaire und Franfreih*. Sie erfchien
zuerft in den erflen Heften der Preußifchen Jahrbücher von 1871. Hier iſt
fie unverändert abgedrudt. Begonnen wurde fie, ald Paris noch von unferen
Heeren cernirt war, beendigt als die feheußliche Erhebung der Commune er:
ftiefte in Brand und Blut, wie fie angefangen hatte. Wie fommt der Deutjche
dazu, in ſolchen Tagen des hervorragendften Schriftitellerd des Nationalfeindes
zu gedenken? In Tagen, da niemand in Frankreich felbft an Voltaire dachte,
fondern jeder Franzoſe nur Zeit hatte, mit dem Kampf à outrance gegen
die deutſche Invaſion und dann mit der Niederwerfung der gemeinften
Revolution fi zu befhäftigen, welche feit zweiundachtzig Jahren ſich dort
erhoben hatte. Grimm gibt klare Antwort auf die berechtigte Frage: „Für
und hat Voltaire gerade jebt befondere Bedeutung“, fagt er, „weil er der
erite und mächtigfte Organifator der Lehre vom providentiellen Uebergewichte
Frankreich gemefen ift, melde, mit Kleinen Anfängen beginnend, allmählid)
als geiftige® Clement in den Charakter der Franzofen überging.... Voltaire
war e8, der den ganzen Reichthum feines Volkes zuerst fah, und zuerft ihm
felber und allen anderen Nationen im größten Glanze zu Gefihte brachte.
Für ihn ift das die Welt überftrahlende Frankreich als einheitliche® Yand und
Bolf dad Erzeugniß der allgemeinen Entwidelung der Menfchheit. Er felber
aber mit feinem ganzen Wefen ift die reiffte Frucht, welche died Paradies der
modernen Kultur jemals gezeitigt hat. Kein Schriftfteller ift in irgend einem
Volke aufgeftanden, dem Volk und Land in folhem Grade zur Folie gedient
hätten, als der franzöfifche Voltaire... Sein Geift repräfentirt den Geift von
7
Millionen, deren jeder einzelne ald ein Atom nur feiner Eeele angefehen
werden fann. Gr war größer, ftärfer, glüdlicher als fie Alle, und das Jahr—
hundert, in dem er wirkte, trägt feinen Namen.” Grimm unterfudt nun die
Gründe diefer einzigen Erfcheinung, zu dem Zwecke, und die phänomenale
Bedeutung Boltaire'3 für Frankreich, für feine Zeit, zugleih in ihrer ganzen
Größe zu zeigen und zu erklären. Grimm führt in eingehender Entwidelung
als folhe Gründe an zunächſt die lange Lebensdauer Voltaire's, welche die
bedeutendfte Epoche der franzöfiichen Entwidelung umſchließt. „Er fam auf
die Melt 1694. Seine Jugend bildet ſich alfo unter dem Gefühl der un-
beftrittenen Uebermacht Frankreichs, melche die Regierung Ludwig's XIV. be
gründet hatte. Sein Ausgang fällt in die Tage, wo die zur Thatſache
werdende Revolution noch wie der Schimmer eined herrlichen Tagesglanz
verheißenden Morgenrothed am Himmel aufitieg. Niemald hat Literarifche
Thätigfeit fo hoch im Preiſe geftanden, ala mährend des Jahrhunderts, in
welches Voltaire's Laufbahn fiel, niemal® hat jemand reichere Fähigkeiten
für eine folde Laufbahn mitgebradht und audgebeutet.* Größere buchhänd—
lerifche Erfolge hat unfer Jahrhundert mit gewilfen Romanen aufzumeifen.
Niemals aber hat irgendwer alle Kreife ſeines Volkes und der gebildeten
Zeitgenofjen überhaupt, zu Xefern feiner Werke gehabt, ald Voltaire: Friedrich
der Große und Diderof und felbft Leffing ftehen unter feinem Einfluß. Sn
Religion, Wilfenfhaft, Politik, in Alles ſickert allmählich fein Geift. Wider:
ftand leiftet ihm Niemand; nur ein Mann Hält fih frei von ihm: Jean
Jacques Rouſſeau; ihn allein ſucht Voltaire nie zu gewinnen, nur ihn zu
ignoriren und fih vom Halfe zu halten. Alle Andern aber, deren bloße
Eriftenz ihn reizt, wenn fie Miene machen, ihn felbit nicht ald mädhtigften
Kiteraten im Lande gelten zu laffen, greift er an mit allen Waffen feines
reichen Arfenald, mit dem lauten Knall feiner großen Geſchütze oder den
Keinen infamen Pfeilen, die wie Gift wirken, je nach Umftänden. Seine Ge
ihichte ift die Gefchichte diefer Kämpfe. In der Tiefe feines Weſens hat er
faum eine Entwidelung gehabt, kaum etwas neues gelernt; alles lag bereits
in ibm. „Er hat die Spinnenfäden feiner Kenntniffe und perfönlichen Ver—
bindungen an immer fernere Punkte angeklebt, fie zu immer weiteren Mafchen
gefponnen, in denen Freund und Feind, Müden und Elephanten hängen
bleiben : aber das große, Leben ausfaugende Thier mit dem ungeheueren
Berftande ſaß in der Mitte von Anfang an, mit denfelben Augen in der—
felben Geftalt auf demfelben Flede und Tauerte.* — Diefe ganz einzige
Stellung Voltaire's, welche fo befeftigt und unängreifbar mar, daß jelbit
Friedrich der Große von einem der geringeren Producte der Voltaire'ſchen
Mufe, der Henriade fagte, jeder Mann von Gefchmad werde fie der Ilias
vorziehen — diefe wunderbaren Erfolge erklären fih nur dur ein ebenfo
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wunderbare Zufammentreffen der verfchtedenften Umftände. Zunächſt fchrieb
Voltaire für Paris d. h. für den Geſchmack der Stadt, deren Bewohner da-
mals ala die bevorzugten Vertreter der gebildetiten Nation galten. Er wußte
fih auf das vollftändigfte mit diefem Geſchmack zu verfchmelzen — ohne
daß er ihn etwa zu erheben oder zu läutern geftrebt hätte — fo vollftän-
dig, daß Voltaire auch damals ficher war, die allgemeine Aufmerkſamkeit
der Pariſer fih und feinen neueften Schriften wochenlang zuzumwenden, ala er
jahrelang in theil® erzmungener Abmefenheit in England, theil® in freiwilliger
bei Friedrich dem Großen in Berlin und Potsdam lebte. Indeſſen hätte
wohl diefe Vertrautheit mit dem Gefhmadd-, Intereſſen- und Bildungskreis
der Pariſer nicht audgereiht, ihm für foviele Jahrzehnte unbeftritten die
Balme zu verfchaffen, wenn er nicht zugleich im höchſten Maße die Sprache
der beiten franzöfifchen Geſellſchaft und Schriftiteller in feiner Gewalt gehabt
hätte. „Zu der Zeit, wo Voltaire auftrat, war die Sprache zu einem In;
ftrumente und foldher Feinheit geworden, daß das Erfcheinen eines Mannes,
der fich deffelben nur mit voller Kraft bediente, eine Art Forderung an das
ihöpfertfhe Genie der Nation war. Man Fonnte fagen: ein Mann mie
Boltatre mußte ſchließlich kommen.“ Hundert Jahre hatten an diefer Ent-
widelung gearbeitet, feit Corneille zuerft aufgetreten war. Racine, Moliere
hatten in ihrer Weife dazu geholfen, und dennoch konnte noch ein Kritiker
wie Boileau daran zweifeln, ob ed möglich fei, fich überhaupt correct fran-
zöfifeh audzudrüden. Ganz Parid war etwa von demfelben kritiſchen Geiite
beieelt. Jeder fuchte an feinem Theile fih im beiten Franzöftich zu üben.
Um 1700 etwa fchrieb Allemelt in Bart: Hohe Herren und Kammerdiener,
Damen und Gavaliere; in Profa und in Verſen: galante oder fatirifche Ge-
dichte, Epifteln, Memoiren, Komödien, Tragödien, Liebesbriefe. Alles wurde
im Manufeript gelefen, Eritifirt, gedrudt wenig. Wer damals in Paris auf.
treten durfte „mit dem Anfpruh, daß man Notiz von ihm nehme, hatte
etwas von einem Auderwählten an ſich.“ Boltaire erhob diefen Anfpruch,
denn er hatte wie Feiner vor ihm die höchſte Meifterfchaft in der Handhabung
und Hebung feiner Sprache fich angeeignet und hat fie bis an fein Ende behaup-
tete. — Als dritter Factor feiner unbeitrittenen einfamen Größe fam hinzu
die Tendenz feiner Schriften. „Der allgemeinen europäijchen Gefelfchaft war
damald nur darum zu thun, jo gut ala möglich fih Muſik zu fchaffen, nach
der man tanzen könne. Die Langeweile zu befämpfen war Jedermanns erfte
Sorge. In meld ungeheuerem Courſe mußte damald der Werth, eines
Mannes ftehen, dem gegenüber, wo er eingriff mit feinem Geijte die Lange—
weile verfchwand wie durch Hererei, der alle was fein Geijt berührte, zum
amüfanteften Spielzeug für die Menſchheit geftaltete, Jahr auf Jahr, und fo
weiter Generationen hindurch! Die geringften Nichtigfeiten mußte Voltaire
bier zu verwenden, fo gut wie die gewaltigiten Fragen der Wiſſenſchaft, ein,
wie und fcheint, fo leicht ald da® andere. Tous les genres Sont bons hors
lennuyeux war fein Wahlfprud. Er brachte zum Lachen und zum Meinen,
einerlei welches, wenn die Leute nur mußten, daß er ed war, deilen Kunft
es zu Wege gebracht. Voltaire ift der ungeheuerfte literarifche Schaufpteler
gemwefen, den jemals die Erde beherbergt hat.“ Nicht im gewöhnlichen Sinne,
fondern im höchften, mie Garrid e8 war. Vergeſſen dürfen wir dabei nicht,
mit welchem Aufmande geiftiger Mittel dies Spiel in Scene gefegt ward; daß
Voltaire zur Befriedigung dieſes Triebed Unfchuldige vom Tode errettet hat,
gegen die ganz Frankreich ſchrie. Er war muthig und zähe. Er befaß eine
ungeheuere Macht, feine Gedanken zu denen der Menge zu machen und menn
er diefe Macht oft anwandte um ſich zu rächen, fo fehlte fie ihm ebenjomenig,
wenn er für die Unterdbrüdten eintrat.
Diefe impofante Abhandlung Grimm’s über die Bedeutung Voltaire's
und die inneren Gründe feiner literarifchen Alleinherrſchaft — die hier nur
in den SHauptgedanfen verfolgt werden konnte — iſt indellen gewiſſermaßen
nur die Erpofition oder Weberficht deſſen, mas der Verfaffer über den großen
Branzofen eigentlich zu fagen beabfichtigt. „Voltaire ift für uns heute wid):
tig ald Dichter, als Hiftorifer, und, für Deutichland befonders, ald Freund
Friedrich's des Großen. Nach diefen drei Richtungen hin tft e8 von Werth
für Jedermann, eine Anfchauung feiner Thätigkeit und feined Charakters zu
gewinnen.“
Den Dichter Voltaire ftellt Herman Grimm durchaus nicht auf jene
Höhe, auf welche dad befangene Urtheil feiner Landsleute und der bequemen
Nachſprecher in vielen andern Nationen ihn erhoben hat. Grimm beginnt
mit feiner Kritif bei jenem „Dedipus“ Voltaire's, den der achtzehnjährige
Dichter ald Gefangener in der Baftille fohrieb, der 45 Vorſtellungen erlebte
und ihm vom Regenten eine goldene Medaille und Penfion -eintrug. Grimm
vergleicht zunächſt die antike fophoffeifhe Dedipusfage mit dem, was Cor—
neille in einem faft völlig vergeffenen Stüd daraus franzöfifirt hat, und weiſt
Boltaire nah, daß er das Corneille'ſche Vorbild, jo geringihäßtg er auch
darüber urtheilen mag, doch fehr eingehend benügt habe, indem er in der
Hauptſache die Corneille’jche Yabel des Stückes, ja felbft einzelne Verſe und
Epifoden wörtlich copirte. Nur fällt der Vergleich durchweg fehr zu Unguniten
Voltaire'd aus, da, wo diefer ſich von feinem Vorbilde trennt. Seine Aleran«
driner find zwar „irreprochabel® — aber nicht einer einzigen ruhigen Scene
begegnen wir. Voltaire befundet eine bedenkliche Unfähigkeit, zu charafteri-
firen, oder audy nur deutliche Bilder zu liefern. Sein Philoftet wird zum
befannten franzöfifchen Hausfreund, der, ftatt fich aus unglüdlicher Liebe zu
Jokaſte regelrecht ins Waſſer zu ſtürzen, einfach leben bleibt, um ſich der
Grenzboten IV. 1974, 2
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Dame bei ihren fpäteren Schickſalen jo nüslic ala möglich zu machen. Dei
Sphinx wird zu einer Art von entfprungenem Menagerieraubthier, dag Dedi-
pus wieder einfängt u. f. w. Und diefe Unfähigkeit zu charakterifiren, weiſen
auch feine berühmteften Dichtungen und Dramen auf: Mahomet, Zaire, Tan-
cred und die Henriade. Grimm führt an einer Stelle des Mahomet in in-
tereffantefter Weife aus, wie Goethe „umrißlofe Allgemeinheiten Voltaire's
zu feiten Anfchauungen zufammenballt, und Verfe frei erfindet, durch melche
endlich Licht und Schatten in das Gemälde gebracht wird. Das mar ed, mad
Voltaire fehlte... Es ift mir nicht geglüdt, irgendwo bei ihm ein paar
Sätze, Verſe oder Profa, zu entdecken, welche ein Bild lieferten!“ Selbſt da
nicht, wo er eine beftimmte Gegend filtern will. „Am munderlichiten jedoch
tritt diefer Mangel, malerifch auf die Phantafie zu wirken, in feinem großen
Heldengedicht, der Henriade, zu Tage.” Bekanntlich ftellte fih Voltaire ſelbſt
bauptfähli wegen feiner Henriade „fo einfah und bejcheiden* auf einen
Platz, in Betreff deflen er der Nachwelt nur die Wahl überlich, ihn felbit
zwifchen Homer, Birgil, Tafo und Milton zu rangiren. Ga, am andern
Stellen ift auch diefe Wahl nicht mehr gelaffen. Voltaire hält ed für fo aus—
gemacht, „daß feine Zeit die Blüthe der Jahrtauſende und er der Dichter
aller Dichter fei, daß er davon wie von einer felbftverftändlichen Sache redet,
beit der Bejcheidenheit oder Unbefcheidenheit gar nicht ind Spiel fam.* Grimm
zeigt nun, wie wenig die Henriade gerade dazu angethan ift, den Dichter
derfelben zu dem Anſpruch auf Dichterruhm zu berechtigen. Selbft die Wahl
des Stoffes ift nicht fein Eigenthum. WUrmfelig, wie immer bei Voltaire,
zeigt fich die Charakteriftif. Wo in Handlungen oder in den Gemüthern be-
deutender Umſchwung eintritt, erfcheint unausbleiblich eine der zahllofen alle:
goriſchen Figuren diefer Epopoe, welche die unerklärlihe Peripetie bet dem Hel-
den ohne Murren durchſetzt, bald die „Diecorde”, bald die „Frömmigkeit“, bald
l' Infame“, im entfcheidenden Augenblide fogar der heilige Ludwig in Perfon.
Für die nothwendigen erzählenden Epifoden und die Glorification des regie-
renden Herricherhaufes bieten Odyſſee und Aeneis bequeme Vorbilder. Alle
diefe Schwächen trägt Grimm mit feinem Humor vor.
Uber der innere Grund feines eingehenden Verweilens bei der Henriabe,
welche „unter jehr Bielen, bei denen ich anfragte, nur ein Einziger gelefen zu
haben erklärte”, ift weniger die Abfiht, die geringe Bedeutung deö dichte:
riſchen Talentes Voltaire's nachzumeifen. Vielmehr leitet diefed Gedicht von
jelbft über zur zweiten Aufgabe, die fih Grimm ftellt: die Charakteriſtik
Voltaire's als Gefchichtsfchreiber und zeigt und an der Henriade bereits die
bervorragenditen Eigenfchaften und Abfihten des Hiftoriferd Voltaire. Das
ift feine Willkür des Efjayiften, die wir dem leicht geſchürzten Gewand feiner
Darftelung zu Gute zu rechnen genöthigt waren. Denn die Henriade hat
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unzweifelhaft großen, vielleicht den größten Antheil daran gehabt, daß Vol—
taire 1746 zum Hiftoriographen ernannt wurde. Diefe Thatfache möchte frei-
lih kaum glaublich erfcheinen, wenn man an der Hand Grimm’s die gehei—
men Abfichten verfolgt. welche Voltaire bei Abfaffung der Henriade verfolgte:
nämlich die boshafteſte, wirfungsvollite Satire und Streitfehrift gegen den
damals in Frankreich allmächtigen Jeſuitismus zu liefern, die jemals gefchrie-
ben worden iſt. Aber der Zeifel darüber, ob e8 möglich gemefen fei, den
katholifchen Hof zu Verſailles fo vollftändig zu dupiren, verfchmindet wor der
Thatjache, daß ein Cardinal, Quirini, die Henriade ins Italieniſche überfegte;
dag Voltaire felbft es wagte, fi gegen einen alten, „wie einen Bater gelieb:
ten Sefuiten* zu erbieten, jeded Wort aud dem Gedicht audmerzen zu wollen,
das gegen die Fatholifche Religion, zu deren Ehre es gejchrieben fei; in Wahr-
beit verftoße. In der That wiederlegt er auch durch nichts beffer ald durch dieſes
Merk die Fabel von feinem Atheismus; in der That zeigt er fich darin ala
gutfatholifhen Franzoſen; fein Held Heinrich IV. erreiht nur dadurd die
Unterwerfung der Hauptftadt und die unbeftrittene Königswürde, daß er dem
feßerifhen Calvinismus abfhmwört und fih plöglihd von „der Wahrheit”
katholiſch erleuchten läßt. In vielen Verſen wird die Fatholifche Religion mit
den höchſten Ausdrüden der Hingebung gefeiert. Dagegen wird der Klerus,
die fihtbare Kirche, Nom, das vom Jeſuitismus beherrſchte Papſtihum, auf
das ſchonungsloſeſte gegeifelt, und in der erfolgreichiten Meife im Bunde mit
Spanien gezeigt, d. h. in Nationalfeindfchaft zu dem franzöfifchen Wolfe und
Königthum verfegt. Die bo&haftefte Scene, zugleich die, welche diefe Tendenz
am klarſten enthüllt, ift unzweifelhaft jenes Erfcheinen der Discorde im Pati»
can; dad ſymboliſche Frauenzimmer, in der ihr ald allegorifchen Figur er-
laubten Nadtheit, eilt durch die Gemächer; den Papſt umarmt fie zärtlich
und regt ihn dur wilde Buhlfünfte zum Krieg gegen Franfreih auf und
beginnt dann unter päpftlihem Segen eine Rundreife durch Frankreich, bie
es ihr gelingt Jacques Clement zum Morde Heinrich's ded Dritten zu dingen.
Gegen jeden Schlag von Rom hatte Voltaire aber fein Gedicht und fich ſelbſt
ſicher geftellt durch die wahrhaft göttlichen Ehren, die er den Bourbons erwies.
Er erhebt fie zu der vom Himmel vorberbeftimmten Herrfchenden Familie,
welche direct nach göttlichen Eingebungen regiert, fo daß die Kirche in Frank:
reich eigentlich überflüffig erfcheint. „Mit verbiffener Wuth ftand der Klerus
dem Gedichte gegenüber und durfte nicht zufchlagen. Voltaire Hatte ein Merk
geſchaffen, das die Quinteffenz ſeines Jahrhunders enthielt. In immer
höherem Grade fand jeder Leſer darin, was er ſuchte, mochte er von einer
Seite daran treten, von welcher er wollte.“
So phantaftifhe Formen diefer Haß Voltaire'd gegen den Klerus und
Rom in der Henriade annimmt — und fo fehr diefer Haß der Grundton
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aller Melodien fcheint, die Voltaire fein Leben lang angeftimmt hat, fo ver-
wandt ijt er der beiten Erfenntniß, welche der Hiftorifer Voltaire zu Tage
gefördert hat, fo wenig hat er den Dichter gehindert, ein vollendeter Geſchichts—
fchreiber zu werden. Denn diefer Haß war nur die Vorftufe des vollen Ein.
dringen® in die große Wahrheit ſeines Lebens, die Voltaire feinen hiſtoriſchen
Studien dankt: die Duldfamfeit, welche ja überhaupt der hiftorifchen Objec-
tivttät fo nahe ift. Der Klerus war der abfolute Gegner jeder Duldfamfeit,
jeder Objectivität in Glaubensſachen, im Verhältniß der Kirche zum Staate,
' Den Klerus trifft daher Voltaire’d Haß auch dann noch unvermindert, als er
für fich ſelbſt längſt die volle Hiftorifhe Dbjectivität gewonnen hat. Mir
find damit Grimm's Darftellung vorausgeeilt. Er befchreibt einen größeren
Umweg, um und ®oltaire’d Bedeutung als Hiftorifer in das volle Licht zu
fegen. Er ſucht, ganz im Allgemeinen zu zeigen, in welchen Grenzen die
„dret Mittel“ wirken, „die Menfchheit wiſſen zu lafjen, was gefchieht und
geſchehen ift: bildende Kunft, Dichtung und Geſchichtsſchreibung“. Er unter
fucht, wie 3. ®. Homer ald Geſchichtsſchreiber den trojaniſchen Krieg bejchrie-
ben haben würde, wie verfchiedene Zeiten nur die eine oder andere diefer Er
fenntnißgattungen ertragen. Das ift meifterhaft gefchrieben und gehört zu
dem beiten der ganzen Sammlung. Über ed muß Wort für Wort im Orts
ginal gelefen werden. Ein Auszug läßt fich nicht geben. Grimm fehrt am
Schluſſe diefed Ereurfed zu der Thefe zurück, von der er ausgeht: „Voltaire
war geborener Gejhichtöfchreiber. Es zwang ihn, wie Machiavelli, ein Na:
turtrieb, die Begebenheiten, von denen er Hunde erbielt, mit mechanifcher Par—
teilofigfeit niederzufchreiben.. Aber nicht jede Zeit zeitigt jedes. Es gibt
Epochen, denen die Gefchichtöfchreibung allein übrig bleibt, denen verfagt ift,
Geſänge vorzubringen. Voltaire fuchte fi vergebend den Anfchein zu geben,
als fei er ein Stüd Prometheus, der Menfchen formte nad feinem Bilde.
Als Gefhichtäfchreiber dagegen hat er geleiftet, was fein anderer beffer gethan
hätte neben ihm. Gr war ein fchöpferifcher Genius ald Hiftorifer. Er beur-
theilte mit durchbohrendem Blicke die Thätigfeit derer, welche, längft dem
Tode anheimgefallen, die Geſchicke ſeines Vaterlandes ruhmvoll leiteten, und
befaß die Kraft, die Schattenbilder vergangener Tage, al® in lebendiger indi-
vidueller Bewegung begriffen, und vorzjutäufshen. Sein Finger ging den
Schritten der Menfchen und Begebenheiten nad, und nur diefe Rinie vielleicht,
die er gezogen, wird nachkommende Jahrhunderte einft bewegen, fich näher
um das zu fümmern, was zmwifchen 1650 und 1700 in Frankreich vorfiel.“
Voltaire, führt Grimm weiter aus, iſt in feinem großen Werfe über das
Siecle de Louis XIV. keineswegs ein Banegyrifer des Königs, deſſen Namen
das Jahrhundert trägt. Er redet von dem Glanz der Zeit überhaupt nur
mezza voce, da er fein Publikum, das franzöfilche und fonjtige nicht zu
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überreden brauchte, die Franzofen feien das erfte Volk der Welt und Louis XIV.
der größte König. Seine Abfiht war vielmehr, die Gebredhen feine® Water
landes an das Licht zu ziehen, denn er hoffte eine neue Blüthe Frankreichs
aus deffen eigenem Schooß. Ganz verderblidh erfchien ihm auch bei diefer
objectiven Unterfuchung der religiöfe Zuftand Frankreichs. Nicht mehr durch
leidenfchaftliche Angriffe auf den Klerus wie in der Henriade, fondern durch die
Darlegung der hiltorifchen Entwidelung der kirchlichen Verhältniffe in Frank:
reich, fucht er fein Publikum über die höhere Anfhauung aufzuklären, die er
bier einnimmt. In der Henriade hatte er den Calvinismus roh von fih ge
wiefen, wie eine Krankheit fchlimmer Art, wie abfolutes Nichtfein. Hier fagt
er vom Proteſtantismus, den die deutfchen Reichsſtädte angenommen hatten,
er erjcheine „plus convenable que la religion catholique à des peuples ja-
loux de leur liberte. Und über die Entftehung und die Notbmwendigfeit des
Proteſtantismus überhaupt urtheilt er fo ruhig, wie ein Proteftant felbit.
Die große Idee Voltaire'd, die ſich bei ihm erft allmählich in allen ihren
Gonfequenzen entmwidelte, auf die hin er Schule und Partei bildete, die To—
leranz, entfpringt diefer hiftorifchen Arbeit. Er faßt fie fo activ als möglich.
Gr verlangt Bekämpfung der Intoleranz und handelt danach. Er gelangt
in diefer Forderung von felbft dazu, das größte Zeitalter, deffen fih Frank.
reich bi8 dahin rühmte, für eine Epoche des Niederganged zu halten. Aber
er glaubte darum keineswegs an die furchtbare Kataftrophe der franzöfifchen
Revolution, welche feit beinahe zweitaujend Jahren zum erften Mal wieder
das alte keltiſche Volkselement an die Oberfläche brachte, fondern er hoffte,
daß die alte gute franzöfifche Gefellfchaft wieder in fich felbft die Kraft finden
werde, eine neue Zeit, dag wirklich goldene Zeitalter für Frankreich herauf
zuführen. Er hat fih furchtbar getäufcht.
Bon felbft, meint Herman Grimm, führt Voltaire's Sidcle de Louis XIV.
zu Friedrih dem Großen, da der Verfaſſer während feines zweiten Aufent-
baltes in Berlin und Potsdam zumeift damit bejchäftigt war. „Den lebten
Stempel empfing ed durh den Einfluß Friedrichſs des Großen.“ Bol-
taire bedurfte überhaupt einer feiten Stellung außerhalb Frankreichs.
In England Hatte er ald Flüchtling ein Afyl, fih und feinen Schriften
treue Freunde gewonnen. In den Niederlanden: wurden feine Bücher
gedrudt. Immer weiter ftrebte er im Ausland nah Anfnüpfungspunften,
um den Wanfelmuth der Barifer im gegebenen Falle „ein auf dem Ur:
theile des übrigen Europas beruhende® Renommee als Gorgonenhaupt
entgegenzuhalten: weder ihnen noch dem Hofe von Berfailled durfte je der
Gedanke aufiteigen, Voltaire liege daran, ob man ihn mit freundlichen oder
ſcheelen Blicten anfehe, oder gar ihm den Rüden zudrehe. Seine Schwäche
aber war, daß er das Geſchwätz der Pariſer nicht entbehren Fonnte und wie
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Rebensluft des Gefühls bedurfte, Franfreih fterbe vor Neugier über das
nächte Wort aus feinem Munde“ Für diefe Zmede griff er mit beiden
Händen zu, ala ihm Friedrich als Kronprinz von Preußen im Jahr 1796
zuerft in einem bemwundernden Briefe feine Freundfchaft zu Füßen legte.
Immer mehr aber wird das Bedürfnig ihrer Freundfchaft ein gegenfeitige®.
„Hriedrich und Voltaire waren die beiden großen Xcteurs auf der Bühne des
Öffentlichen KXebens in ihrer Epoche. Sie bedurften einander. Boltaire aber
brauchte Friedrich anfangs in höherem Grade, bis ſich fpäter erft die Partie
gleihftand. Bei Friedrich gab es eine Negion, innerhalb deren er fich auf
fi bafirte und der übrigen Menfchheit Balet fagte. Er war da nur König
und Feldherr. Voltaire fehlte diefe Macht, fih einfam zu fühlen. Hier war
Triedrih tm Uebergewichte. Allein Voltaire war unermüdlich, unerfchöpflich,
klüger ala alle, fähiger ald alle fi auszufprechen, und Friedrich, wenn er
aus den Höhen herabftieg, weil ed unmöglich war, immer fi dorthin zurüd-
gezogen zu halten, fand doch wieder nur Voltaire. Hter lag Voltaire's Veber-
gewicht über Friedrih. Die Gefhichte ihrer Freundfchaft ift der abmechfelnde
Kampf, in welchem jeder feine Supertorität durchzuführen trachtet.“
In der eingehendften und Itebevollften Weiſe füllt Grimm nun die
ftrengen Eurzen Linien, mit denen das Bild diefer hohen Freundfchaft bier
fElzzirt ift, mit Yarbe und Leben, mit Licht und Schatten. Selten ftehen
dem Schildern einer wichtigen hiſtoriſchen Epifode fo treue und klare Quellen
zur Seite, wie über das Verhältnig Friedrich’ zu Voltaire in dem dreibändtgen
Briefmechfel zmifchen Beiden (Merfe Friedrich's des Großen, Bd. 21—23).
„Der erfte geht von der anfänglichen Bekanntſchaft bi8 zur Thronbefteigung
Friedrich's, 1706—1740. Der zweite von 1740 bis zum Bruche im Jahre
1753. Der dritte enthält den 1754 wieder aufgenommenen briefliden Ver—
fehr bis zum Tode Voltaire'8 1778. Jugend, männliche Zeit und Alter ded
Königs entfprechen diefen drei Abfchnitten. In feinem Briefmwechfel fpricht
Friedrich fo offen ſich aus, in feinem Boltatre fih fo fehr mit Zuhülfenahme
all feine® Talentes, auf Andere Einfluß zu üben. Ihr Verhältnig geitaltet
fih zu einem Drama. Gin Beginn mit der Hoffnung auf: fpätereö perjön-
liche® Begegnen und Zufanımenleben. Eine Mitte ald Verwirklichung diefes
Plans. Ein Umſchwung, ſich entwidelnd aus der natürlichen Unmöglichkeit
für zwei eines ſolchen Umfreifes freier Atmofphäre ‚bedürftige Charaktere,
fih jo nahe zu ftehen. Und ein letter verföhnender Abſchluß in der Uns
möglichkeit fih zu entbehren. Ihre Correfpondenz enthält, was Innerhalb
der Jahre 36—78 die Welt des vorigen Jahrhunderts bewegte. Diefe drei
Bände gehören zu den Büchern, die man ſich immer freut in einem freien
Augenblicke ergriffen zu Haben.“ Uber fo treu und Har diefe Quellen find,
felten ift das Berhältnip des größten Königs zum größten franzöfifchen
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Schriftfteller jener Tage deutlicher und wahrer gejchildert worden, ald von
Herman Grimm. Gr ijt rückſichtslos aufrichtig und denkt nicht daran, irgend
eine jener menſchlichen Schwächen zu verfchleiern, welche das ſchöne Freundſchafts—
Verhältniß der beiden großen Männer fo brüsk löften. Aber dafür ift
Grimm auch deutlicher und wahrer ald irgend ein Anderer in der Erklärung
der pfychologijchen Motive, aus denen fich die beiden großen Geiſter zuerit
mit Naturnothwendigfeit einander nähern und ſich auch geiftig wieder juchen
und finden müſſen, nachdem fie perſönlich fich für immer getrennt haben.
Namentlih auf Seiten Friedrich’ des Großen iſt dieſes Geiftesbedürfnig im
der jugend wie im Alter mit gleicher Meifterfchaft dargelegt. Auch diejer
Abſchnitt follte: fleißig im Driginale gelefen werden.
Am Schluffe feiner Abhandlung fehrt Grimm noch einmal zu dem Ge—
danken zurüd, von dem er ausgegangen und führt ihn meiter zu dem Gabe:
Boltaire ift die Frucht der allgemeinen romanifchen Entwidelung, der Perſoni—
fication Franfreihd. So betrachtet, enthüllt fih und das letzte Geheinmiß
feiner Exiſtenz und feiner Wirkung. „EI gab eine Zeit, wo Guropa
griechifch überfluthet gewefen zu fein fcheint. Es gab eine Zeit, wo Europa
und ein Theil Aſiens und Amerifad von den romantfhen Gewäſſern über-
ſchwemmt war. Wir fehen heute die gefammte Menjchenwelt der Erde im
Beginn, germanifirt zu werden... Die Epochen der romanifchen Weltherrfchaft
liegen deutlich vor und. Zuerſt galt es das Griechenthum zu befiegen und
in fi aufzunehmen. Dann, ald die Alleinherrfhaft unbeitritten war, wurden
die germanifchen, feltifhen und iberifchen Völker aufgefogen. Bon Rom ging
die Zeitung über auf Spanien, von Spanien auf Franfreih. Das Papſtthum
mar die eigentliche Gentralfchöpfung der romanifchen Race; die Herrfchaft
Frankreichs ift ihre legte Anftrengung gegenüber dem anwachfenden germanijchen
Principat. Das siecle de Louis XIV. von Voltaire ift die vom Geifte der
romanijhen Race felber gefundene literarifche Form für ihr letztes gewaltiges
Aufleuchten über Europa vor ihrem Zuſammenſinken. . . Auch Voltaire ent-
fpriht in feinem ganzen Wefen der gefammten romanifchen Eriftenz, deren
glänzender Untergang durch ihn verewigt werden follte.* In diefem Sinne
bat ihn jhon Goethe mit hiftorifhem Tafte am beften erfaßt. Auch Goethe
faßt Voltaire als Perfonification Frankreichs auf, und fpricht ihm und damit
zugleih dem franzöſiſchen Wolfe Tiefe und Vollendung ab. Es entipräcde
diefe Erjcheinung dem Abhandenkommen diefer beiden Eigenfchaften zur Zeit
des Sinkens der griechiſchen Welt. Ueber die legten Zeiten der germanijchen
Race heute reden zu wellen, meint Grimm, würde zu leeren Gebilden führen.
Und bleibt für die nächften Zeiten nicht viel anderes übrig, als zu leben und zu
fämpfen und, wie die Romanen der erften Zeit ihre geiftige Eriftenz auf die
griechifche Kultur, fo die unfrige auf die der Griechen und Romanen zu bafiren.
Das ift Schon bisher geichehen. „Luther's neue germanifche Schöpfung ent-
fprang vollfommener Durhdringung der romanifchen Theologie, Goethe's
deutfche Dichtung der vollendeten Aufnahme romanifcher Bildung, Friedrich
des Zweiten echt germanifche Politik dem Durchſchauen all der romanifchen
Ränke, melde Mackhiavelli in feinem Buche vom Fürften, wenn auch nur
ald objectiver Beobachter zufammengeftellt Hatte. Friedrich, ein Schüler
Boltaire'3, der nur franzöſiſch ſprach und fchrieb, der deutfche Kiteratur ver-
fannte und deutſches Wefen oft kaum begriff, ift im eminenten Sinne der
erfte deutfche Fürft gewefen. Sein Wort, daß er nur der erite Diener feines
Staates fei, ift der Grundgedanke, auf dem heute Deutfchland beruht, ...
dad Gefühl der Pflicht iſt die Grundlage der heutigen Herrfchaft der ger-
manifchen Völker. Seine mit Staunen von und beobachtete Abweſenheit bei
den heutigen Romanen tft dad am bdeutlichiten hervortretende Symptom,
welches dad Zurücktreten diefer Race als regierender documentirt. Go be
trachtet, erjcheinen die letten Anftrengungen auch der romanifchen Kirche ala
der verzweifelte Verfuch, durch eine Formel, der ind Unendliche ausdehnbare
zwingende Macht innewohnt, dem Einzelnen den Halt zu verleihen, der ihm
aus der eigenen Natur fehlen würde. Sedenfalld kann died Mittel doch nur
bei Romanen einen Zweck Haben und auch bei ihnen nur ein Erfolg
denkbar fein.“
Mögen diefe Furzen Auszüge aus einer der neueften und zugleich für
unfere Gegenwart wichtigiten Arbeiten Herman Grimm’3 den Leſer dazu er-
muntern, feine fünfzehn Eſſays zu ftudiren. Er wird darin ein Buch erfennen,
das er freudig unter die beften Werke feiner Bibliothek ftellen wird.
Hana Blum.
Fin Prinz aus dem brandenburgiſch-hohenzollexſchen
Haufe als Bifhof von Htraßburg (1592—1604).
Unter den freien Reichsſtädten Deutſchlands war Straßburg nicht allein
eine der erften, die der Reformation die Thore öffneten; fie zählte auch zu
denjenigen, welche alle retrograden fatholiihen Machteinflüffe am energiichiten
befämpften. Nachdem bereit? im Jahre 1518 ein großer Theil der Bürger-
ſchaft fi für die Iutherifche Lehre erklärt hatte, ordnete der Senat in den
Jahren 1527 — 29 jchrittmeife die Abjchaffung des alten Fatholifchen Kultus
an, fo daß der Katfer fich weigerte, die Abgeordneten der Stadt Straßburg
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auf dem Reichdtage zu Speier zuzulafien, in befonderer Berufung darauf, daß
der Magiftrat erft kurz zuvor. die Leſung der Meſſe unterfagt hatte. Ohne ſich
durh die Drohungen des Kaiſers einfhüchtern zu laſſen, ſchloß fich die Stadt
Straßburg dem Protefte der Iutherifchen Fürften und freien Städte an. 1530
ftellte fie im Bunde mit Lindau, Memmingen und Sonftanz durch ihre Ab-
geordneten Bucer, Gapito und Hedio der Augsburgifchen Konfeffion die zur
Zwingli'ſchen Lehre hinneigende Tetrapolitana entgegen, trat jedoch fpäter dem
erftgenannten Glaubenskenntniß bei und ſchloß fi) auch 1531 dem ſchmalkal—
diihen Bunde an. Es verdient hier befonderd hervorgehoben zu werden, daß
Straßburg dem eigennüsigen Verbündeten der Proteftanten Deutjchlande, dem
Könige Heinrih II. von Frankreih, der fih auf Grund der Verträge mit
den Fürſten des fchmalfaldifchen Bundes der Bisthümer Dies, Toul und
Verdun bemächtigt hatte, energifh den Eintritt in die Stadt verweigerte, und
als diefer drohte, trogig ihre Mauern in Vertheidigungszuftand feste, fo daß
Heinrich fih zum Abzuge genöthigt ſah. Noch lange rühmte fih Straßburg
mit befonderem Stolze der Treue, welche ed dem Reiche und dem Kaiſer be
wieſen, obwohl e8 in Neligtondfachen deſſen entfchiedeniter Gegner war. Ihre
Bedeutung verfchaffte der Stadt troß ihrer Weindfeligfeit bedeutende Privilegien :
im Jahre 1538 bereitö durfte fie eine lateinifche Schule errichten, an melcher
Galvin docirte; und 1566 erhielt fie vom Kaifer die Erlaubniß, die Schule
in eine Afademie umzuwandeln, an deren Spige zunächſt ein calviniftifcher,
jpäter ein Iutherifcher Nektor ftand. Ebenſo gewinnen jeit 1584 proteitan-
tiſche Domherrn im Sapitel der Kathedrale Sit; 1588 werden deren nicht
weniger als vierzehn aufgenommen, zu denen, wie aus einer Lifte einer alten
Malerei, die im Bruderhof aufbewahrt ift, hervorgeht, neben Joachim Karl,
Herzog von Braunfhmeig, Franz v. Rüneburg, Ulrih, Sohn Friedrich's IL.
von Dänemarf und anderen, auch Auguft, Marquis von Brandenburg gehört.
Im Jahre 1592 follte au die Wahl eines Biſchofs einen Sproß des Haufes
Brandenburg Hohenzollern treffen.
Der Biſchof Johann, Graf v. Manderjcheit, war mitten unter den hef-
tigften Kämpfen der verfchiedenen Religionsparteien am 2. Mai 1592 in
Zabern, der gewöhnlichen Reſidenz, geftorben. Es entſpann ſich zunächſt ein
Streit über den Ort der Wahl eines neuen Oberhirten. Während die Pro-
teftanten, gleichzeitig um ſich der Autorität ded Senats zu verfihern, behaup—
teten, das Kapitel müſſe fih nach altem Herfommen behufs Vollsiehung der
Wahl in Straßburg verfammeln, ftimmten dagegen die Katholiken für Zabern,
weil fie fi in Straßburg den Feindfeligkeiten des Volkes ausgeſetzt glaubten.
Sie richteten daher an den Kaifer Rudolf IL. die Bitte, das Kapitel unter
feinen Schug zu nehmen, und jener, das zufagend, beftellte den Erzherzog
Ferdinand ald vorläufigen Verwalter des Kapitels, der Schlöfler, San und
Grenzboten IV. 1974.
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Qändereien; gleichzeitig ermahnte er den Magiitrat, in feiner Weife die pro:
teftantijchen Domherrn zu unterftügen, jondern ſich ihren Abfichten, fofern
fie den feinigen widerfprächen, energifch entgegenzuftellen. Der Senat der pro»
teftantifhen Stadt Straßburg war jedoch meit entfernt, diefen Anforderungen
zu entiprechen, und Joachim, Herzog von Braunfchmeig, welchem die pro-
teitantifchen Stiftäheren aus eigener Machtvollkommenheit die Würde eines
Papſtes übertragen hatten, konnte ungeftört das Kapitel auf den 28. Mai
zufammenberufen. Der Verſammlung feste in beredter Nede der Profeſſor der
Theologie und Rektor der Akademie, Johann Pappus, die Eigenfchaften und
Tugenden eined Biſchofs auseinander, wie fie der Apoftel Paulus von einem
jolhen in feinem Briefe an, Timotheus fordert und ermahnte eindringlich,
nur einen folchen Dberhirten zu wählen, der fich zu den Lehren der Prophe-
ten und Apoftel, zu denen der drei erften fymbolifchen Schriften und der vier
eriten Konzilien befenne und zugleich unverbrüchlich feithalte an den Sätzen
der Augsburgiſchen Konfeffion. Nachdem Johann Pappus feine zündende
Nede geendet, fehritt man zur Wahl und ernannte einftimmig Johann Georg,
von Brandenburg, Eohn des nachmaligen Kurfürften Joachim Friedrich, in-
dem man ihn poftulirte, da er dem Kapitel nicht angehörte. In dem Haufe
Brandenburg erfannte man bereit damals die Bormadht der freien proteftan-
tifchen dee, und man bedurfte hier in diefem Kalle unter allen Umftänden
eined Fürften, der mächtig genug fehlen, um feine Würde gegen einen ftarfen
MWiderfacher, den die Fatholifhen Domherrn aufzustellen nicht zögern konnten,
mit Nachdruck aufrecht zu erhalten. Dieje Erwartung mußte natürlich zur
Grundbedingung haben, daß die Partei, welche den proteftantifchen Streit-
Biſchof aufftellte, in ihrem Muthe und ihrer Unterftügung nicht erlahmte ;
doch wurde biefe Bedingung in der Yolgezeit nicht erfüllt.
Der neu ernannte Bischof zögerte nicht, die auf ihn gefallene Wahl durch
einen Bevollmächtigten zu ratifiziren, und vom 1. Juni ab wurden in feinem
Namen Schreiben an alle Amtshauptleute und Magiftrate gerichtet, um ihnen
anzubefehlen, Herrn Johann Georg von Brandenburg als ihrem Bifhof und
gefegmäßigen Fürften den ſchuldigen Gehorfamzu erweiſen. Indeſſen hatte der
Senat der freien Reichsſtadt, um den geiftlichen Oberheren zu fügen, 3 Fähn-
lein Infanterie und 600 Reiter aufgebracht, welche er mit 7 Geſchützen gegen
dag zum Bisthum gehörende Schloß Kochersberg zum Angriff vorfchidte.
Nach ftarker Brefchelegung ergab ſich Kocheröberg, und es folgten ihm gleich
darauf Dachſtein und Molsheim. Die efuiten, welche in Iekterem Orte eine
Schule hatten, fahen fich zur Flucht genöthigt; und die Straßburger Aka—
demie, die in diefem Greignig ein günftiges Vorzeichen erblicte, ſprach in einer
poetifchen Epiftel, welche fie bei diefer Gelegenheit an den Bifchof Johann Georg
richtete, die Hoffnung aus, daß er, nachdem die Jeſuiten die Flucht ergriffen,
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nicht zögern werde, fih auch den Antichrift (d. b. den Papſt) zu Füßen
ju werfen:
„Si Jesuita fugit, ruet Antichristus et ipse,
„Concipe spem princeps, non tenue omen adest.“ *)
Die Eatholifchen Stiftäheren überzeugten fih, daß fie Feinen Augenblid
Zeit zu verlieren hatten und erwählten daher in einer am 8. Juni zu Zabern
abgehaltenen Sigung den Kardinal Karl von Kothringen, Bifhof von Met,
Sohn Karl's IIL., Herzog von Lothringen und der Claudia von Frankreich,
Tochter Heinrich’ II. Diefer ſowohl durch feine Abftammung wie durch feinen
wüthenden Glaubenseifer hervorragende Gegen» Bifchof richtete nun fofort
eine harte Anklagefchrift an den Senat von Straßburg rüdfichtlich der Weg—
nahme mebrerer ihm als dem einzig rechtmäßigen Bifchofe gehörenden Schlöffer;
er drohte, falld man ihm nicht die vollfte Genugthuung angedeihen laſſe, mit
bewaffneter Hand Rache zu nehmen. Der Senat, um Zeit zur Rüftung zu
gewinnen, ſuchte unter Entjehuldigungen der Sache zunächſt eine derartige
Wendung zu geben, ald ob die Verantwortung für die Einnahme von Kochers-
berg und Dachſtein auf dem Bifchof Johann Georg allein laftete; ließ aber
gleichzeitig durchblicken, daß die Wahl desfelben unter feiner ganz bejonderen
Autorität vollzogen fei. Diefe legte Bemerkung brachte natürlich den ſtreit—
baren Kardinal vollende in Harnifh, und er bejtritt in einem Entgegnungs—
ſchreiben dem Senat jeglihe Competenz in bifchöflihen Wahlangelegenheiten
mitzureden, morauf diefer, noch immer in entfcehuldigendem Tone, ſich dahin
äußerte, daß er nur diejenigen Rechte für fi in Anfpruch nehme, die ihm
durch Verträge und Privilegien zuftänden.
In der Zmifchenzeit war Karl von Kothringen mit feinen Rüftungen
fchneller fertig geworden, al die Stadt Straßburg, und war nad der Ein-
nahme von Benfeldt und Andlau mitten in dad Elfaß vorgedrungen. In
anmaßendem Tone ließ er durch einen Trompeter die Behörden von Straß-
burg auffordern, die proteftantifhen Domherren, welche die Urheber der
neueften Unruhen jeien, unverzüglich audzutreiben und den ihm getreuen
Stiftäherren ihre Kirchen und Revenüen zurüdzugeben, ſowie auch den feinem
Bisthum zugefügten Schaden zu erfegen, widrigenfalld er fie als Feinde be
handeln werde. Der Senat von Straßburg und Johann Georg antmworteten
hierauf mit der Eröffnung der Weindfeligfeiten. Es entjpannen fich Eleinere
Gefechte und den lothringifchen Truppen gelang ed, 500 brandenburgifche
Reiter in Schafoldheim, ſowie ein Fleined Lager bei Geiipisheim zu überfallen
und einen Theil der Bagage zu erbeuten. Die Eaiferlihen Kommiſſarien,
welche indeffen angelangt waren, wandten fich zur Schlihtung des Streites
) Aus einer Handjchrift des Riccius, Kanzlers der St. Petri Kirche,
20
zunächſt an den Kardinal Karl von Lothringen, und ließ diefer fich bereit
finden, die Feindfeligkeiten einzuftellen, wenn der Kaifer dem „Marquis von
Brandenburg“ und dem Senat von Straßburg anbefehlen wollte, die Waffen
niederzulegen. In Folge deflen richteten die Kommiſſarien an leßtere die
Aufforderung, fi) dem zu gewärtigenden Schiedörichterfpruche des Kaiſers zu
unterwerfen. Johann Georg aber erklärte in voller Uebereinftimmung mit
dem Senate, daß diefe Angelegenheit nicht zur Competenz des Kaiſers allein
gehöre, jondern daß die gefammten Staaten des Reichs darüber zu entfcheiden
hätten, überdies könne er in Eeinerlei Verhandlungen eintreten, bevor er nicht
die Zuftimmung ded Kurfürften von Brandenburg erhalten habe. Diefe Er-
Härung, welche der Senat unterftüßte, fchnitt allen weiteren Vermittlungen
die Spite ab. Der Kardinal rücdte nunmehr mit Macht heran und nahm
Kochersberg mit Sturm; in feinem Zorn gab der geiftlihe Herr die ganze
Befagung der Vernichtung Preis und ließ nur dem einzigen Manne Gnade
widerfahren, der fih zu der SHenkerdarbeit, den Kommandanten von Kochere-
berg zu hängen, bereit erflärte. Der Senat ließ fich durch diefe Härte, ſowie
durch den Fall von Dadjtein und Weſſelnheim nicht einfhüchtern, fondern
verbot vielmehr den Katlsolifen die Ausübung des Gottesdienfted auch in der
ihnen bisher noch überlaffenen Kirhe St. Johann. Johann Georg jedoch,
in dem Streben, die Katholiken mit ſich zu verföhnen, erließ am 19. Juli
ein Manifeft, in welchem er allen feinen Unterthanen völlige Gewiſſensfreiheit
zufagte und gleichzeitig feine Anrechte auf die bifhöflide Würde Elarlegte,
indem er darthat, dag feine Wahl, da fie in Straßburg, dem für die Ver—
fammlungen des Kapitald beftimmten Orte, und duch die Majorität der
Stiftäherren volljogen worden, ganz und ohne allen Zweifel Fanonifch fet.
Indeſſen hielt er e8 doch für nothmwendig, fein Anfehen durch einen militärifchen
Erfolg entfhiedener zu ftärken, und er verfuchte daher nach Ankunft der
Hülfstruppen von Züri, Bern und Bafel und der ded Grafen von Nürn-
berg dad von den Kothringern ſtark beſetzte Molsheim zu nehmen. Nach
einigen Berluften fah er fi jedoh zum Rückzuge genöthigt, bis Prinz
Chriſtian von Anhalt zu feiner Unterftügung beranzog und es ihm gelang,
durch wiederholte heftige Angriffe das feſte Molsheim zur Mebergabe zu
zwingen. Durch diefe glüdliche Waffenthat wurde dad Anfehen der proteftan-
tifhen Partei bedeutend gehoben und ihr ein fefterer Halt gegeben. Ein
Verſuch, den die lothringifhen Truppen in der Folgezeit machten, ſich Schlett-
ſtadts durch Ueberfall zu bemächtigen, fcheiterte an dem Muthe der über ihre
Freiheit forgfam mwachenden Bürger.
Auf beiden Seiten fehlten übrigend die Mittel zu einer energifchen
Kriegführung, und nachdem der Kampf ſich bereits faft ein ganzes Jahr lang
bingezogen hatte, ohne daß ein wirklich entfcheidender Schlag geführt worden
al
wäre, ſuchte der Kaiſer fich gebieterifcher zwifchen die ftreitenden Parteien
einzulegen, indem er Johann Georg und Karl zur Niederlegung der Waffen
aufforderte, um die Entſcheidung über ihre beiderfeitigen Anſprüche einem
Schiedegerichte anheimzugeben. Als auch die lutherifchen Geiftlichen, im
Gegenfas zu den calviniftifchen, welche die Fortſetzung des Krieges predigten,
für den Abſchluß ded Friedens fprachen, fofern die Katholiken fi mit den
Kirchen, welche der Paſſauer Vertrag ihnen zugefproden, begnügen wollten,
und der Bijchof Johann Georg ſowohl ald der Kardinal von Lothringen in
ihren Mitteln erfhöpft waren, fo zeigten ſich Beide nicht abgeneigt, fi) dem
Spruche eined Schieddgerichtd zu unterwerfen. Drei Katholifen und drei
Proteftanten bildeten dasſelbe, nämlih: Wolfgang Brendel, Erzbiihof von
Mainz; Julius, Bifhof von Würzburg; Werdinand, Erzherzog von Defter-
reih; Ludwig von Hefien; Philipp Ludwig von Baiern, Pfalzgraf bei Rhein
und Friedrih Wilhelm, Adminiftrator des Kurfürſtenthums Sachſen. Am
9. März 1593 Fam es zu einem proviforifchen Ausgleiche, nach welchem, un-
bejchadet einer fpäteren definitiven Entſcheidung ded Kaiſers, feftgefegt wurde,
dag der Kardinal Karl Zabern, Benfeldt und Rauffach nebit einer Anzahl
von Aemtern erhalten und ihm ingleichen Molsheim zurüdgegeben werden
follte; daß ferner Johann Georg, feinen Biſchofsſitz in Straßburg nebft den
zugehörigen Beſitzungen behaltend, Dachftein wieder ausgeliefert befäme, und
ihm eine Zahl von Aemtern zu überlafen feien, deren Nevenüen fi fo hoch
beliefen, als die der an Karl abgetretenen; endlich follte Karl der Stadt
Straßburg Waffelnheim mit ſämmtlichem dort vorgefundenem Geſchütz wieder
außliefern. In der Zuftimmung zu diefem Bertrage feitend des Kardinals
von Lothringen lag alfo eine indirefte Anerfennung der Gerechtfame des
Ketzer-⸗Biſchofs. Eine endgültige Einigung, die man auf einer Berfammlung
zu Speier verfuchte, Fam nicht zu Stande, doc) gelangte man zu dem Ent-
fchluffe, die beregten Feitfegungen dem Kaifer zu unterbreiten und auf einem
nah Frankfurt a. M. zufammenzuberufenden Reichstage zur Entfcheidung zu
jtellen. Beiden Theilen wurde unter Androhung der faiferlihen Züchtigung
anbefoblen, bis dahin das getroffene Webereinfommen aufs Genauefte zu
refpeftiren. Kaiſer Rudolf II., der froh war, dad Elſaß friedlichen Verhält-
niſſen zurüdgegeben zu ſehen, hütete ſich, eine anderweitige Entjcheidung zu
Gunften der Katholiken zu treffen, denn er bedurfte der Unterftügung der
Proteftanten in dem Kriege gegen die Türfen, welcher in eben jenem Sabre
ausgebrochen war. Wenn nun alfo von diefer Seite Johann Georg ſich
vorläufig nicht gefährdet fah, jo wurden ihm jegt dagegen durch den Magiftrat
von Straßburg, der ihn bi8 dahin in der Bekämpfung feines Gegners Fräftig
unterftüst hatte, Schwierigfeiten bereitet, die für feine eigene Stellung fowie
—
22
auch theilweife für die des Proteftantismug im füdweitlihen Deutfchland
verhängnißvoll werden mußten.
Die materiellen Intereſſen, die fo oft im menfchlichen Leben die geiftigen
niederhalten, follten auch hier entjcheidend wirken. Die Stadt nämlich drängte
da eine definitive Löſung der bifchöflichen Streitigkeiten vorläufig nicht in
Ausfiht ſtand, Johann Georg zur vertragämäßigen Rüderftattung der ihm
gemachten Vorſchüſſe und der anderweitigen Geldopfer, die man, um ihn in
feiner Würde aufrecht zu erhalten, gebracht hatte. Ohne daß der Biſchof
die Rechtmäßigkeit der Forderungen ded Magiftrat® zu beftreiten fuchte, bat
er nur darauf Rüdficht zu nehmen, daß er zur Zeit außer Stande fei, feinen
Verpflichtungen nachzukommen, da ihm feit der Theilung der Güter ded Ka—
piteld und der Stadt nicht einmal die Hälfte der bifchöflihen Revenüen
verblieben fet und er außerdem ſtarke Anleihen habe machen müffen für
Repräfentationdkoften feiner Bevollmächtigten. Auf miederholted Andringen
des Magiftratö jedoh, der unter allen Umftänden die materiellen Intereſſen
der Stadt zu wahren befliſſen war, ſah fih Johann Georg genöthigt, unter
dem 7. Dftober 1597 einen Vertrag einzugehen, nach welchem er unter Anderm
eine Art Douane, Zollfeller genannt, verfchiedene Befigungen in Marlheim,
Nonnenmweyer u. f. mw. und den Zehnten von SÜfir der Stadt überließ,
mit dem Vorbehalt jedoch, daß er für ſich und feine Nachfolger alle Lehns—
güter ſowie alle Lehnspflichten refervirte, welche feine Bafallen, rücfichtlich
jener Douane, ihm zu leiften gehalten wären.*) Diefe Uebereinkunft, welche
ohne Zuziehung der Fatholifhen Domherrn getroffen war, verſetzte diefelben
in die höchfte Aufregung und fie nahmen aus diefen Umftänden ſowie aus
einigen anderen Vorkommniſſen Veranlaffung, an Rudolf wiederholte Be:
ſchwerden einzureichen, in Folge deren endlih am 3. Febr. 1600 ein £aiferlicher
Erlaß erihien, der fich) weniger gegen Johann Georg, mit weldhem der un-
entjchiedene Rudolf nicht brechen wollte, rüftete; fondern vielmehr, um den
Katholifen einige Genugthuung zu verfhhaffen, forderte, daß die Grafen
Hermann v. Kolmd, Ernft v. Mansfeld und Gebhardt v. Truchjeß den
Bruderhoff und andere Pfründen der Domherrn, indbefondere aber die Dörfer
Gaispolsheim und Lampertheim, deren fie ſich bemächtigt hatten, wieder ber-
ausgeben follten. Die drei Grafen unterwarfen fi), aber der Herzog Franz
v. Lauenburg und nad ihm der Herzog Chriftian v. Holitein, welcher mit
Unterftüsung der proteftantifhen Domherrn die Würde des Präfidenten des
Kapiteld für fih in Anfprud nahm, leitete dem Faiferlichen Befehle ent-
fchiedenen MWiderftand, indem er Lampertheim, welches der Kathedrale von
Straßburg zur Hälfte gehörte, bejegen ließ. In Folge einer neuen Klage
*) Archiv, Argent. Bertrag von 1597.
23
des Biſchofs Karl und der Fatholifchen Domherrn erließ Rudolf unter dem
2. Aug. 1602 an Chriftian v. Holftein eine nochmalige Aufforderung, feinen
Anordnungen unverzüglich Folge zu leiften. Da der Herzog jedoch ſich hier—
zu keineswegs bereit erflärte, fo ſchien das Kriegsungewitter abermald drohend
heraufziehen zu wollen. Johann Georg war aljo dadurch, daß fein nothge-
drungen mit dem Magiftrate gefchlofjener Abfindungsverrrag immer neue Ver—
wicklungen nad ſich zog, ſowie endlich dur das etwas ungeftüme Vorgehen
feiner Anhänger in die mißlichite Lage verfegt. Stets bemüht, den Geift der
Verſöhnung walten zu lafjen, und Katholiken wie Proteftanten gleicdy gerecht
zu werden, fah er fih, noch aus dem vorigen Kriege mit Schulden belaftet
und durch den Vertrag mit der Stadt Straßburg, die ihn auch jest im
Stich ließ, pefuniär lahm gelegt, nunmehr völlig außer Stande, den Kampf
von Neuem aufzunehmen, zumal der font ſchwankende Kaifer, in Folge fteten
Drängen? der Gegenpartei, mehr denn je geneigt fchien, für die Fatholifchen
Intereffen nachdrücklich einzutreten. Die Stellung Johann Georg's war wegen
mangelnder Unterftügung unhaltbar geworden.
Da aud der Cardinal von Kothringen und Halb-Bifhof von Straßburg
nicht geneigt war, feine Sache dem zweifelhaften Kriegsglück anzuvertrauen,
jo Fam durch VBermittelung ded Herzogd von Würtemberg, der im Auftrage
ded Kaiſers handelte, am 22. November 1604 der Vertrag von Hagenau zu
Stande, welcher einen fünfzehnjährigen Waffenftillitand unter folgenden Be—
dingungen feitfeste: Johann Georg leiftet Verzicht auf alle Rechte, welche ihm
dur die Poſtulirung oder anderdmwie auf dad Bisthum Straßburg erwachſen
find; er überliefert zur weiteren Vermittlung an den Herzog von Würtemberg
den bifchöflihen Palaft der Stadt Straßburg und alle Schlöffer, Städte,
Dörfer und Güter, melde dem Kapitel innerhalb und außerhalb der Stadt
gehören; und erhält die Zufage, daß er betreffd der Verwaltung des Bisthums
niemals zur Rechenfchaft gezogen noch beunruhigt werden darf; die acht Fürften,
Grafen und Herrn der Augsburgifchen Konfeffion bleiben im Beſitz des Bru-
derhofs und der innerhalb der Stadt gelegenen Stift&häufer und genießen
fünfzehn Jahre lang die Hälfte ded Dorfes Lampertheim, fowie aller Renten
und Revenüen ded Kapiteld innerhalb des Gebieted der Stadt Straßburg.*)
Verner wurden die Abmahungen Johann Georg's mit dem Magiftrate,
den Bollfeller betreffend, aufrecht erhalten; der Senat ſeinerſeits aber leiſtete
auf dad Bündnig, welches zwiſchen Johann Georg von Brandenburg, den
Herren der Augsburgifchen Konfeffion und der Stadt Straßburg beftanden
hatte, Verzicht und erkannte Karl ala einzigen Bifchof an.
Natürlih nahm Johann Georg darauf Bedaht, fi für die materiellen
) Archiv, Argent.
24
Berlufte, die der undanfbare Kampf um die Aufrechterhaltung feiner bifchöf-
lihen Würde verurfadht hatte, genügend zu entſchädigen. Thuanus läßt in
feinen Berichten Herrn v. Thou, der fih um die friedliche Löſung verdient
machte, hierüber folgendes fagen*: Der Marquid v. Brandenburg trat das
Bisthum Straßburg an den Kardinal Karl v. Lothringen unter der Be—
dingung ab, daß der Kardinal ihm 130,000 Thaler Gold zahlte und daß
der Herzog v. Mürtemberg dreißig Jahre lang die Stadt und dad Amt
Dberfich in Sequefter halten follte, um die Schulden ded Marquis v. Bran-
denburg abzutragen, die fih auf 30,000 Thaler Gold beliefen, und ihm
ferner jährlich (d. H. während der fünfzehn Jahre) 9000 Thaler Gold zu
übermeifen.
So lieg fi alfo der Kardinal von Lothringen bereit finden, bedeutende
Abtretungen von Kirhengütern zu vollziehen und ungeheure Geldopfer zu
bringen, um den Eatholifhen Glauben im Elſaß zu retten.
An einem unbedeutenden Hinderniß, wie fo oft, mußten ſich auch bier
die Schwingen einer freieren Geiftesbewegung brechen.
Man begreift die eminente Wichtigkeit, die e8 für die Fortentmwidelung
der protejtantifchen Sache im ſüdweſtlichen Deutfchland gehabt haben würde,
wenn mährend der ſehr bald darauf außsbrechenden Wirren des dreißigjährigen
Kriegs in Straßburg ftatt des Kardinald von Lothringen ein proteftantifcher
Biſchof aus dem Haufe Hohenzollern refidirt hätte,
Vielleicht würde ſich dann in der Folgezeit in die Blätter der deutjchen
Geſchichte nie jener ſchimpfliche Hiftorifche Irrthum eingefchlichen haben, deſſen
Korreftur die Creigniffe des Jahres 1870 möglich und nothwendig machten.
Guftav Krauſe.
Felix Mendelsfohn-Hartholdys Werke.
Welch ein köſtliches Vermächtniß ift ed, das uns der leider fo früh ab»
berufene Meifter hinterlaffen, welch eine Fülle der herrlichften Geftaltungen
auf den verjchiedenartigften Gebieten mufifalifcher Schöpfung, welche Mannig-
faltigfeit, welcher Reichthum wiederum in den einzelnen Gebilden gleicher
Gattung. Ale tragen fie dad Gepräge vollendeter Meifterfchaft, in allen
jehen wir das Streben nad dem Sdealen. Ueberall weiß Mendelsfohn mit
klarem Blicke feine Kunftaufgabe zu erfennen, und mit der ficheriten Be-
— nn nn
*) Laguille, Histoire de la Province d’Alsace, 2 vol. — Strasbourg, 1727.
25
berrfhung der Mittel, mit Adel und Feinheit im Ausdrude zu Iöjen. Nur
ein Theil diefer ftattlichen Reihe Mendelsfohn'icher Compofitionen ift bei des
Meifterd Lebzeiten durch ihn felbft veröffentlicht worden; es find dies die
unter den Opuszahlen 1 bie mit 72 erfchienenen Werfe. Cine große Anzahl,
darunter die herrliche Muſik zu Racine's Athalie, die Duverture zu Ruy Blas,
die vierte Symphonie, dag Finale aus der unvollendeten Oper Roreley, die
Gonzertarie, der 98. Pfalm, und viele umfängliche und hochbedeutende Werke
Mendelsſohn's kamen erjt nad feinem Tode zum Druck. Alle dieſe Werke
eriftiren nun in verfchiedenen mehr oder weniger zuverläffigen und forreften
Ausgaben, welche ſowohl in Deutichland, ald aud in andern Ländern von
verſchiedenen Verlegern dem Publikum übergeben worden find. Die Verlags:
handlung von Breitfopf & Härtel bat nun zuerst ed unternommen eine
Geſammtausgabe der Mendelsſohn'ſchen Werke herzuftellen. Zu dieſem Zwecke
haben fi) die Befiter de3 genannten Hauſes mit denjenigen Herren Verlegern,
melde Eigenthumsrechte auf Menvelsfohn'ihe Compoſitionen befisen, ing
Einvernehmen gefest, und weder Mühe noch Kojten gefcheut, das Recht zum
AUbdrud der betreffenden Werke in der neuen Gefammtausgabe zu erhalten.
In Hinfiht auf den ſchönen Zweck haben nun auch die Herren Breitfopf
& Härtel faſt allenthalben ein bereitwilliges Entgegenkommen gefunden,
und ift es ihnen faft allerorten gelungen die bezüglichen Rechte an fich zu
bringen. Sollten der eine oder andere der Herren Verleger, mit welchen zur
Zeit no Unterhandlungen ſchweben, nicht zu beftimmen fein, die Genehmigung
zum Abdruck zu ertheilen, fo ift ed den Herien Breitfopf & Härtel ein
Leichtes, die wenigen noch fehlenden Werke ſpäteſtens im Jahre 1878 nachzu—
liefern, da Ende des Jahre 1877 die Eigenthumsrechte der einzelnen Ver—
leger erlöjchen.
Es handelt fi jedoch in der neuen Mendeldfohn - Ausgabe nicht blog
um den Abdrud aller Werke des Meifterd, nicht blos um das Erfcheinen
fämmtlicher Compofitionen in gleicher Ausſtattung. Diefe Ausgabe mird
vielmehr eine fomeit ald möglich vollfommen fehlerfreie und korrekte fein.
Die Eritifche Nevifion derfelben hat die Verlagshandlung in die Hände des
Herrn Hoffapellmeifter Dr. Julius Ries gelegt. Wer die Revifiondarbeiten
kennt, welche Julius Niet bei Gelegenheit der rühmlichit befannten Beethoven-
und Bach-Ausgaben geliefert, der hat auch genugfam den Fünftlerifchen Fein»
finn, die ſtrupulöſe Gemifjenbaftigfeit, die minutiöfe Sorgfalt kennen gelernt,
welche Ries bei derartigen Arbeiten mit der größten Hingebung und Aus:
dauer an den Tag legt. Wer nur jemals eined der unter der Nedaktion von
Ried herausgegebenen größeren Werke von Beethoven oder Bah zur Hand
genommen, aufmerfjam ftudirt und mit früheren Ausgaben — hat, der
Grenzboten IV. 1874,
26
wird auch mir Neichtigkeit die mwefentliche Bedeutung der dadurh zu Tage
geförderten Eritifchen Refultate erfennen, zu würdigen, und zu ſchätzen wiſſen.
Gegenüber den Werfen Mendelsſohn's fällt bier noch ein befonderer
Umftand ind Gewicht. Ein großer Theil diefer mufifalifhen Schöpfungen
ift fozufagen unter den Augen feined bewährten, langjährigen, treuen Freundes
und Kunftgenofien Ries entitanden, und ſchwerlich wird irgend ein Anderer
ala Nies, Mendelsſohn's Werfe früher, ſchwerlich ein Anderer fie genauer und
bis in die geheimften Intentionen des Autors eingehender gekannt haben, als
eben Rietz.
Wir haben Gelegenheit gehabt, einen Einblik in die bereit3 weit vor-
geſchrittene Nevifionsarbeit thun zu dürfen, und haben und überzeugt, daß
es fi dabei nicht blos um die Berichtigung falfcher Noten, vergeffener Ver:
ſetzungszeichen und ungenügender Vortragsnüancen handelt. Es ift außer
tiefen Dingen Mancherlei anderd, Bieled befjer geworden. Theilweiſe fand
fih neues Material für die Nevifion, z. B. erfte Abjchriften der Streich
quartette Op. 12, 13, 44 u. a., theild aber aud find dur Vergleichung der
Stimmen mit den Bartituren bei Orcheſter- und Chormerfen, bet Vergleihung
der untergelegten Terte bei Liedern und anderen VBocalcompofitionen mit den
Driginalterten eine Menge von Irrthümern bereinigt worden. In der neuen
Gefammtaudgabe wird überall in den Partituren die größte Genauigfeit bei
der Angabe der Vortragdzeichen und Stricharten vorhanden fein, ebenfo fehr
aber au in allen Dingen die vollkommenſte Uebereinftimmung der Stimmen
mit der Partitur. Die Partituren felbjt werden möglichft überfichtlich her—
geftelt. In allen Werken find die Vorſchläge und vielfach auch die Mordente
ihrem rythmiſchen Werthe nach angegeben. Bei den Klavierfompofitionen ift
mit größter Sorgfalt darauf geachtet, dag meijt alle dag, was die linke Hand
zu fpielen hat, auf dem unteren Linienſyſteme ſteht, mwodurd der Weberblid
bedeutend erleichtert wird, und dem Spieler jeder Zweifel über die zmed-
mäßigſte Art und Weife der Ausführung benommen ift. Bei den mit Orcheiter
begleiteten Werfen für Clavier wird außer den Zuttid, auch foweit e8 zum
Verftändniffe nothwendig, das MWefentlihe der Begleitung in der Prinzipal-
ftimme mit Eleinen Noten beigefügt fein.
Die äußere Ausftattung, wie auch der Preid der neuen Mendelsfohn-
Ausgabe follen denen der gleihfald bei Breitlopf & Härtel erjchienenen
Beethoven-Ausgabe gleichgeftellt werden. Bartituren, Stimmen und Klavier-
auszüge werden ebenjowohl im Ganzen, ald auch gejondert abgegeben. Die
ſchnell aufeinanderfolgenden Kieferungen der einzelnen 19 Serien, in welde
jämmtlihe Werke eingereiht find, werden abmechjelnd Werke verſchiedener
Gattungen bringen, um den verfchiedenartigen mufifalifchen Intereſſen und
Bedürfnifien möglichft gleichzeitig Genüge zu leiften. Pianofortewerke und
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Lieder eröffnen die Reihenfolge. Auf die einzelnen Lieferungen kann aud)
beliebig fubferibirt werden.
Wir begrüßen diefed neue Unternehmen der Verlagdhandlung Breitkopf
& Härtel mit Freuden. Die Mendelsfohn - Ausgabe wird der gefammten
mufifalifhen Welt hochwillkommen fein, und fi in ihrer unzmeifelhaften
Aut hentieität, durch ihre foltve und elegante Ausftattung, fchließlich noch durch
den fehr billig gehaltenen Preid von 30 Marfpfennigen für den Bogen groß
Mufikformat allerorten den günftigften Eingang verfchaffen und überall Freunde
erwerben. ©. Sadaffohn.
Fin gemaßregelter Preußenfendiler.
Ich will Ihnen eine Gefchichte aus Böhmen erzählen, die harakteriftifch
für unfere Zuftände ift, und nicht verfehlen wird in weiteren Kreifen Aufjehen
zu erregen.
Im Süden ded Landes liegt an der Moldau das Städtchen Budweis,
eine deutfche Sprachinſel inmitten des tfchechifchen Gebietes, die fih, obmohl
in höchſt ungünftigen Verhältntffen, tapfer gegen eine hereinbrechende Tſchechi—
firung mehrte. Bis heute ift die Mehrheit der Bürger deutfch und manifeftirt
diefed Deutſchthum aud dur die Wahl eines verfafjungsfreundlichen Candi—
daten. Aber Budmeis ift ein fehr gefährdeter Außenpoften unferer Nationalität
und birgt in feinen Mauern einen der fchlimmiten, audgefprochenften Feinde
derjelben, den Biſchof Valerian Jirſik, der ein tichechticher Heißſporn vom
reinften Waſſer ift und ed audgefprochen hat, daß Budweis wieder tfchechifch
werden müfle. Die Leitung der geiftlichen Bildungsanftalt in Budweis ift
von ihm durchweg Tfchechen anvertraut worden, in deutfche Dörfer werden
tihechifche Geiftliche geſchickt, welche oft nicht richtig deutfch fprechen, doch
das fchadet nicht? — wenn fie nur tfchechifiren. Lange wird es nicht dauern
und die Budweiſer Diözefe ift ganz von tichehifchen Geiftlichen eingenommen,
die deutfchen werden feltener und feltener. Dazu fommt, dag in der Nähe
die Eolofjalen Güter des Fürften Schwarzenberg liegen, eines Haupttjchechen
und Ultramontanen — troß feiner deutfchen Abftammung ; auch er läßt fi
die Vertretung des Tſchechenthums eifrig angelegen fein und ftellt faft nur
Tihechen in feinem großen Beamtenheere an. Gewiß, dad Deutſchthum in
Budweis und im. füdmeftlichen Böhmen überhaupt ift gefährdet.
Daß ein ftrammer deutfher Mann von liberaler Gefinnung an einem
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ſolchen Orte nicht gerade auf Roſen gebettet tft, liegt wohl auf der Hand.
Sein Leben ift ein emiged Ringen und Kämpfen; bei den eigenen Leuten hat
er es oft mit Lauheit und Philifterhaftigkeit zu thun und von den Gegnern
darf er fiher fein, daß er auf Schritt und Tritt, Tag und Naht mit allen
Maffen, rechten und fchlechten, befämpft wird. Das hat Dr. Julius Lippert
meidlich erfahren, er der treu und feit die deutfche Wacht an der Moldau ges
halten hat und von je den Tichechen ein Dorn im Auge war. Welche Freude
für die Tchechen und Ultramontanen, wenn ein folher Mann von feinem
Poſten in Budweis entfernt wird, den er fo lange mit Ehren gehalten, den
er um ded Deutſchthums willen mit zäher Energie vertheidigte.
Julius Lippert ift Hiftorifer und Schulmann. Er ift hoch verdient um
den Verein für die Gefchichte der Deutjchen in Böhmen, dem er vom Anfange
an angehörte und deffen reiche „Mittheilungen“ viele vorzügliche, oft mit Föft-
lihem Humor gewürzte Aufjäge aus Lippert's Feder brachten. Er fchrieb eine
„Geſchichte der Föniglichen Leibgedingftadt Trautenau“ und eine umfangreiche
„Geſchichte der Stadt Leitmeritz“. Als der „Vater“ der tichechifchen Nation,
Franz Palacky, feine befannten rohen Angriffe gegen die Deutihböhmen und
die deutfchen Hiftorifer machte, ald er ſchamlos genug war, und Deutjche ein
„Räubervolf“ zu tituliren, da war e8 Qippert, der vereint mit feinem Freunde
Ludwig Schlefinger die Palacky'ſchen Angriffe „würdigte“ und in einer vor-
trefflihen Schrift den tſchechiſchen Hiftoriographen gründlich „abführte”. Um
die Maflen in Fluß zu bringen, fie im deutfchnationalen und liberalen Sinne
zu bearbeiten, übernahm Lippert aud die Nedaction des deutfhböhmifchen
Volkskalenders, der alljährlich in großer Auflage über das Land verbreitet
wird und Ultramontanen mie Tſchechen ein Dorn im Auge if. Was brauchen
auch böhmifche Bauern von Hutten, von den Reformatoren, von den großen
Geiſtern Deutſchlands, vom deutichen Reiche überhaupt zu wiſſen! Lippert
war eben von der „MPreußenfeuche” angeftedt, er bejubelte die Siege der
deutfhen Waffen, freute fich der Errichtung eines deutfchen Reiches, das die
Ultramontanen befämpfte und den Handſchuh aufhob, welchen Rom in frechem
Uebermuthe ihm hingeworfen. Hier kann fo etwas aber Verbrechen fein.
Nun die Gefhichte. Lippert war Direktor der Budweiſer Oberrealfchule
und er hat fie, wie Sachverſtändige erklären, ald ausgezeichneter Schulmann
geführt und zur Blüthe gebracht. Aber was nützt das, wenn die übrige Ge-
finnung nicht den herrſchenden Anfichten entjpricht und wenn ein Schulmann
fih erfühnt, dem Minifterium Vorwürfe zu machen, e8 gar zu Eritifiren. Sie
fennen unfern Stremayer, den famofen Gultugminifter, der die Altkatholifen
nicht anerfennt, da® Stehaufmänndhen, das heute liberal, morgen ultramontan
ſchielt, diefen Teibhaftigen Beleg zu dem Ausſpruche: „Waſch mir den Pelz.
mad ihn aber nicht naß.“ Nun, Rippert, der unentwegte Mann, der aus
Bj
-
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feinem Herzen feine Mördergrube macht, hatte es gewagt in der Miener
„Deutfchen Zeitung“ zwei Artikel über Stremayer zu bringen, welche die
ganze armfelige Spiegelfechteret bei der Durchführung der konfeſſtonellen Ge—
feße an den Tag legten. So etmad verträgt man oben nit. Dazu Fam,
dag der Mann den Philiſtern zu liberal war und als er fih nun gar meigerte
feine Kinder in der alleinfeltgmachenden Religton unterrichten zu laffen, da er-
ihöpfte man fich in Anfeindungen gegen ihn ob feiner „ftaate- und religiong-
feindlichen Gefinnungen“. Sa, ein Baterlandöverräther follte er fein — weil
er ein preußiſches Lehrbuch eingeführt. Hinc illae lacrymae. Da
famen denn die Dieciplinarunterfuchungen, die aber in Nichts zerfielen, denn
dem Direktor und feinem Lehrkörper, die die Schule meifterhaft im Stande
hatten, war nicht8 anzuhaben. Man mußte alfo, um den Mann los zu
werden, die Sache anderd anfangen. Der Staat übernahm die Budweiſer
Dberrealfchule, doch mit Ausſchluß der Lehrkräfte, troßdem diefe allen geſetz—
lihen Anforderungen entiprachen und die Gemeinde wurde dem Lehrkörper
gegenüber geradezu fontraftbrühig, erklärte vom Tage der Uebernahme an
feinen Gehalt mehr audzuzahlen und der Staat ftellte die Lehrer zur Diepo-
nibilität. Für die übrigen werden fi wohl zur Zeit Stellen finden, aber
für Lippert ift natürlich Fein Platz offen, troß feiner brillanten Staatderamina,
feiner eminenten zehnjährigen Verwendung, feiner außerordentlichen Verdienfte
um das Deutfhthum. Der „Breußenfeudhler* mußte fallen als ein
Opfer des Minifteriums und der Philifter. In Defterreich ift feines Bleibens
nicht mehr und feine vielen Freunde fuchen dem hartgeprüften Mann den
Uebergang ind Deutjche Reich zu erleichtern. Möge er dort eine Stelle finden !
Um empfindlichften aber wird Böhmend Deutihthum dur ſolche Bor-
gänge gefchädigt, wenn von der ohnehin geringen Zahl der tüchtigeren Leute
einer aus den Reihen genommen wird, von einem Poſten, der geradezu in
nationaler Beziehung gefährdet iſt. @.
Ztalieniſche Briefe.
Man hat viele Vücher über Stalien gefchrieben, in manchen hundert
Liedern hat man es befungen; aber faft durchgängig geben die Bücher, welche
es befchreiben, und die Lieder, welche e8 in den Himmel erheben, Stalien nur
oberflählih und einfeitig wieder. Wenige Schriftfteller haben Italien gründ-
lich ftudirt; und vielleicht niemand, der über das moderne Stalien geſprochen
30
bat, vermochte fi von feinen Vorurtheilen für deffen Vergangenheit frei zu
machen, und von feinen politifhen Sympathien und Antipathien, welche deſſen
gegenmärtige Zuftände ihm einflößen. Man pflegt, indem man über Italien
Spricht, nicht über Gemeinpläße hinauszjufommen. Entweder wird ed bemun-
dert, oder e8 wird verachtet; aber wenig Schriftfteller, Italiener ebenſowohl
wie Ausländer, können fih rühmen, es wirklich zu fennen, und vermögen
folglich au nicht, ihre Beobachtungen dur eine genügende Menge ermie-
jener Thatſachen zu begründen, um wirklich belehrend und verläßlich über das—
felbe zu fchreiben. Die Einen werden von ihrer Begeifterung hingeriſſen,
die Andern blendet ihre Raffion für Allee, mas ihnen fremdärtig entgegen»
tritt. Andere wieder durchreifen unfer Land mit irgend einem fpeciellen
Zwecke, und fümmern fih um nichtd, mad nicht in deſſen Sphäre Itegt. So
fommen die Gefchäftsreifenden, die Induſtriellen, die Philologen, die Archäo—
logen, die Künftler, in einem Worte alle die Specialiften, deren jeder unfer
Rand in der Meite und Breite auf der Suche nad einem andern etwa ver-
fteeftem goldnen Vließe durchforſcht; aber wenig Reifende, italienifche und
fremde, fieht man, welche Stalien in feinem ihm eigenthümlichen, realen und
habituellen Reben zu erfunden fuchten. Für die Fremden hat ed ja im Grunde
feine verdrießlichen Confequenzen, wenn fie und nicht Fennen, wie mir wirk—
lih find. Aber für und Staliener ift die Unfenntniß unferer felbft eine
ſchwerwiegende Unzuträglichkeit.
Bor einiger Zeit veröffentlichte ein ſchätzenswerther Schriftfteller, der
Advocat Carlo Rozzt zwei Bände „L’ozio in Italia“ betitelt. Er unter-
nahm in diefem Werke und nachzuweiſen, mie viel Nachläſſigkeit noch in Ita—
lien vorhanden fei, und mie großen Schaden und diefe zufüge. Die Liebe
zum Guten hat Lozzi manchen beredten Paſſus eingegeben, und dad Bud
hat dur die vielen gefunden Bemerkungen, welche durch dadfelbe zerftreut
find, gewiß feinen Nuten. Aber im Allgemeinen hat das Merf Lozzi's doch
eine zu beſchränkte Anzahl neuer Thatfachen beigebraht, als daß es den ge
bildeten Staliener über Unbekannte® und Unvermuthete® hätte aufklären
fönnen. Er gab und in der Hauptjache ein moralifhes Buch, aber es be
durfte eined anderen Buched, um und zur Kenntniß unferer Rebendeigenthüm-
Iichfeiten zu bringen. Es giebt zahlreiche Führer durch unfere Städte und
Monumente, aber es giebt Feine folchen, melde den Weg zu unferm häus—
liben Herd, in unfre Arbeitäftätten, unfre Bauernhöfe, kurz, in die reale
Melt des Italieners zeigt, in der fich fein actuelled, materielles, moralifches
und intellectuelles Reben bethätigt. Zwar ift es ſchwer, ein ſolches Buch zu
ſchreiben. Es würde Zeit dazu gehören, und dad Zuſammenwirken Bieler.
Über man kann den Anfang dazu machen, dadurch, dag man die Materia-
lien dazu zufammenjchichtet und fie zmedentfprechend zu ordnen ſucht. Und
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ein Werk, welches vortrefflich diefem Zwecke zu dienen vermag, kann ich zu
meiner Freude heute anfündigen. Es ift died ein vierbändized Werk, von im
Ganzen 1500 Seiten, welches joeben in Meiland erfchienen ift, und folgen-
den Titel führt: Delle colonie e dell’! emigrazione d’ italiani
all’ estero sotto l’ aspetto dell’ industria, commercio ed
agricoltura (Preis 24 Fes.) Der Verfaffer ift ein verdienftvoller National-
öfonom, Herr Leone Carpi, ehemald Parlamentömitglied.
Die italienifche nationalöfonomifche Gefelfchaft, präfidirt durch den hoch—
verehrten Senator Grafen Giovanni Arriva, und unter der Gönnerſchaft des
Minifteriums für öffentlichen Unterricht, welches augenblidlih durh Ceſare
Gorrenti verwaltet wird, hatte ein Preisausſchreiben erlaffen bezüglich einer
Studie über die italtenifchen Golonien. Das Programm war folgendermaßen
geſtellt:
„Ueber die Bildung ſpontaner Colonien von Italienern im Auslande,
über ihre öfonomifchen und juridifchen Zuftände und ihr BVerhältnig zum
Mutterlande. Seit langer Zeit und jegt in zunehmender Menge verlaffen
viele Staliener ihr Heimathland, begeben ſich in verfchiedene fremde Länder,
hauptſächlich in den Orient und vereinigen ſich dort, indem fie fich eine
beſſere SLebenäftellung zu gründen ſuchen. Diefe Thatfahe wünſcht die
nationalöfonomifhe Geſellſchaft mit Sorgfalt unterfuht zu fehen. Site läßt
den Goncurrenten vollftändig freie Hand in der Art, wie fie ihre Studien
machen wollen, und macht fie nur verbindlich, befondere Aufmerkſamkeit zu
verwenden auf 1) die Emigration aus Stalien und ihre ökonomischen Rüd-
wirfungen, ald Einleitung. 2) die Gefchichte der Colonien, ſoweit fie ſich ver-
folgen läßt; ihre Statiftif, fpectell in wirthfchaftlicher Beziehung ; die Gebräuche
welche die Individuen jener Colonien unter einander und mit dem Mutterland
gemeinfam erhalten. 3) Ob und in melcher Weife die italtenifche Regierung
müſſe oder könne durch geiegliche und diplomatifhe Mittel zum Schuge der
Kolonien Vorkehrungen treffen, und auf ihre Wohlfahrt ſowie auf die Ent-
wicklung ihrer Beziehungen zu Stalten Einfluß üben.“
Es war, wie jeder Leſer fehen wird, eine bedeutende Aufgabe, Carpi hat
fich nicht nur ihr mit Ernst unterzogen, fondern mehr als dad, er hat ein
Werk geichaffen, welches meit mehr leiftet, ald die geftellten Anforderungen
verlangten, ein Werk, melched eine Aufgabe für‘ eine ganze Gefellihaft ge-
wejen wäre.
Die Commiſſion, welche dag Werk Carpf's zu prüfen hatte, beftand aus
drei berühmten Nationalöfonomen: den Herren Minghetti, Scialoia und
Mefjedaglia, denen Herr Protonotari ald Seceretär zugefellt war, und das
Buch fand vor diefem fehr competenten Schiedsgericht die befte Aufnahme.
Indem die Commiſſion dem Buche den Preis ertheilte, Tieß fie fich folgender:
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maffen vernehmen: „Das Buch ift zu bewundern megen der Sorgfalt, mit
welcher der Stoff gefammelt tft; wegen der geſchickten Vergleihungen, wegen
der noblen Intentionen. Es ift die erfte Studie, welche in Stalien über
tiefen Gegenftand gemacht wurde.“ „Die Commilfion, welche fih aus frei-
händlerifchen Volkswirthen zufammenfest, verwahrt ſich nur gegen die jchuß-
zölnerifchen Theorien, die Herr Carpi befürmortet. Die Commiffion hatte fich
allerdings auf ein Memoire gefaßt gemacht, Herr Carpi hat ihr dagegen ein
vierbändige® Werk vorgelegt, und niemand Fönnte ihm in demjelben irgend
welche Längen vormwerfen, denn fie enthalten nur Sachgemäßes, wichtige
Notizen und Zahlen. Aber welche harte Arbeit muß es für den Autor ge
wejen fein, fie zufammen zu bringen. Es galt faft durchweg eine terra in-
cognita zu erploriren. Woher die Materialien nehmen, aus melden Hilfe-
quellen [höpfen? Die Schwierigkeiten de Unternehmen® mußten unüberfteigbar
erfcheinen. Und fo war aud Herr Garpi der einzige Concurrent. ber es
gehörte au ein Mann mie er dazu, energifh, thätig, geduldig und aus—
dauernd, und vor Allem intelligent. Ale diefe Eigenfchaften befist der Ver—
faſſer des Werkes in bemwunderungdmwürdigem Grade. Und nachdem er
einmal an dad Werk gegangen war, hat er fich nicht begnügt, die geitellten
Fragen zu löfen, fondern meinte, die Gelegenheit jei günftig, ſich auch zu
gleicher Zeit an dad Studium des Criminalrehtd und der Deportation zu
machen (der ganze 3. Band ift diefer Frage gewidmet) und fi genaue
Kenntniß der materiellen und moraliſchen Zuftände der verfchiedenen italieni-
hen Provinzen zu verfehaffen, um daraus die verfchiedenen Gründe der Aus—
wanderung verftehen zu können. In den lesten Jahren war man im
Miniftertum ded Innern mit doppeltem Eifer bemüht gewefen, von den Prä-
feeten Auffchlüffe über die Zuftände der Provinzen zu erhalten, und im Mis
nifterium des Aeußeren, die Confuln zu veranlaffen, genaue Berichte über die
Verhältniſſe der Colonien einzufenden. Es find vortreffliche Berichterftattungen
geliefert worden, und wir verdanken fie der Initiative der Minifter; die Seele
ded Unternehmend war jedoch Carpi und man Fann fagen, daß er der Ur
beber der fo großen Nuten bringenden Regjamkeit war, welche in den letzten
Fahren unfere Präfecturen und Gonfulate durhdrang. Er hat den beiden
Miniftern verfchiedene Fragebogen vorgelegt, wie fie für feine Arbeit geeignet
waren; und wenn jest Documente vorhanden find, aus melden fich die
Zuftände unferer Colonien ftudiren laffen, und wenn Garpi fie fo vortrefflich
verwerthen konnte, fo verdankt er diefen WVortheil nur fih felbft, und dem
Entgegentommen der Minifter. Die Berichte der Präfecten geben und werth—
volle Auskunft über die relative Moralität, die Phyſiognomie und den Cha»
racter der verſchiedenen italienifchen Provinzen. Wenn man diefe Documente
vervolljtändigte und mehr ind Einzelne ausführte, könnte man eined Tags
einen fehr interefjanten Führer durch das lebende Stalien ſchreiben. Es ift
Garpt bet feinen Studien über die Auswanderungen vielleiht nicht aufge-
ftoßen, mie wett fi) jene Documente hätten ausnützen laffen, fonft hätte er
fie nicht in einem Buche vergraben, welches doch zunächſt einem ganz anderen
Zmede dient, fondern für ein populäred und gewiß einem größeren Publikum
nügliched Werk referuirt, wenn auch das „gegenwärtige Werf einer großen
Anzahl von Emigranten werthvoll fein wird. Denn die italienifhe Aus—
mwanderung nimmt, wie Carpi nachmeift, beunrubigende Dimenfionen an,
einzig die deutfche Auswanderung liege fich in der Anzahl mit ihr vergleichen ;
aber während die deutjche wohl geregelt und nusbringend jet, unterläge die
unfere nur zufälliger Yaune und Gaprice, und ſei nur zu oft fehädlich.
Um Schluß feines Werkes jagt der Verfaſſer, daß er die Machteinwirfung
Deutſchlands auf unfern Seehandel und unfere Colonien nicht fürchte. Ich
citire hier feine eigenen Worte: „Jene Gründe, melde dem Berftändigen
nicht entgehen werden, die geographifche Lage und die gemeinfchaftlichen po—
litifchen und commerziellen Intereſſen, machen ein freundfchaftliches Verhältnig
zwiſchen Deutfchland und Stalien zur Nothwendigkeit, und, da die Intereſſen
der beiden Länder fich in feiner Meife miderftreben, ift e8 naturgemäß, daß
fie eine folide Freundschaft verbindet, die Feiner gejchriebenen Tractate und
Erklärungen bedarf, um aufrichtig und dauernd zu fein. Die unparteiifche
und zugleich platonifche Freundfchaft der Schmeiz liegt mie ein ſympathiſches
Bindeglied zmifchen Deutfchland und Stalien. Sch lege weder den vagen
Gelüſten einiger Deutfchen noch den politifchen Elucubrationen einiger Journa—
liften diejes Landes Gewicht bei, welche fich mit den Rechten befchäftigen, welche
die Deutfchen auf die Stalten umgebenden Meere befigen follen. Das find ab-
geblaßte Reminiscenzen aus der Zeit des alten deutfchen Kaiſerreichs, welche
felbft in feiner größten Epoche nicht wirflih Wurzel zu faflen vermochte, in
Stalien, diefem Rande, welches für jede Fremdherrfchaft fatal wurde. Die klugen
Söhne Herman’d werden fih hüten, diefen Erinnerungen neues Reben geben zu
wollen. Deutfhland hat zahlreihe und ergiebige Hülfdquellen in dem bal-
tifchen Meere. Bon dort aud macht ed feine Unternehmungen und breitet
feinen Handel über alle Meere der Welt aus. Dur feine Schtenenwege ift
ed mit dem ſchwarzen Meere verbunden und bald werden diefe ed in Rapport
fegen mit dem Ural einerfeitd? und Conftantinopel andererfeitd; es hat eine
blühende Schifffahrt auf feinen Flüffen, die bald noch bedeutender werden
wird dur die Verbindung der Wefer und Elbe mit dem Rhein. Alfo bleibt
wenig, um mad es Italien beneiden fünnte. Es ift gewiß, daß es mit dem
ganzen Gewicht einer mächtigen und induftriellen Nation fi in unfere Alpen
drängt, um fich unferen Meeren zu nähern, jedoch nicht um diefe zu annec-
tiren, fondern nur um der gewaltigen Thätigfeit feine® Handels as feiner
Greniboten IV. 1874,
34
Anduftrie einen Ausflug nach dem Oſten zu eröffnen. Das fann keinen Grund
zu einer Gollifion geben; vielmehr würde ed dem Einklang der beiden Nationen
dienen, wenn Stalien, um diefem Handel Borfhub zu leiften, mit derfelben
Thätigfeit entgegenfäme und in jenen unendlichen Meeren, die fich jenſeits
des Kanal von Suez erftreden, zum Cap, zum Feuerlande, auf denen Deutſch—
land die Rivalin Englands, der vereinigten Staaten und Franfreih® gewor—
den ift, auf viele Luſtren hinaus wird ihm die italienifhe Flagge Feinen
Schaden verurfadhen Fönnen. Und menn auch Stalten zur See alle die Macht
gemönne, die ich ihm münfche, fo ift doch das Meer fo weit und feine Straßen
jo audeinandergehend, dak es Raum für alle hat, und Deutfchland wird
wohl nie Concurrenz oder Schädigung feiner eigenen Intereſſen von Stalien
zu gemwärtigen haben. Bielmehr glaube ih, daß Italien in jenen fernen
und gewaltigen Meeren eine nüsliche Bundesgenoffin für Deutfchland fein
wird“. Angelo de Gubernatiß.
Das Seben Eavour’s von Maflari in deutfher Sprache.
Sin den erjten Heften dieſes Jahrgangs“) haben die Grenzboten das
Leben und Wirken Camillo Cavour's behandelt. Die letzte Arbeit eines der
treueften deutfchen Patrioten, — Ludwig von Rochau's, — der zuerft unter
den Riberalen in feiner „Realpolitif* den heute allgemein anerkannten deut:
ihen Staatögedanfen ausſprach, war dem Gründer der italienifchen Einheit
gewidmet. Ste ift leider unvollendet geblieben, mie die Lebensarbeit Cavour's
jelbft. Rochau's Arbeit reichte, wie die Leſer d. Bl. fich erinnern werden,
nur bis zur Schlaht von Magenta.
Veberhaupt haben die hervorragenditen Bubliciften Deutſchlands ſich in
den legten Jahren mit Cavour ganz bejonderd eingehend und gern be
Ihäftigt. Längft bevor Deutfchland und Italien das Ziel ihrer Einheits-
beftrebungen erreichten, ftudirten die nationalen Patrioten und Hiftorifer
diefjeitö und jenfeitö der Alpen den Werdegang des befreundeten fympathifchen
Staated. Nun, da die beiden Länder geeint und mächtig daftehen, und ſich
zu Schuß und Trug die ftarfe Hand reichen, bildet wieder dieſſeits und jenſeits
der Alpen das Studium der öffentlichen Charaktere beider Länder, ihres
Lebens, ihrer Politik den Gegenftand der Lieblingsbeſchäftigung aller vor«
nehmen politifch » regfamen Geiſter. Das nothwendige Bündniß, die un-
*) Grenzboten, Nr. 4 und 5 I. Quartal 1974. ©.
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erſchütterliche Intereſſengemeinſchaft beider Staaten fpriht fi in diefem
freiwilligen lebendigen Streben, ſich gegenfeitig in feinen hervorragenden
Staatdmännern immer beffer fennen zu lernen in der liebensmwürdigiten Weiſe
aus. Und wer daran z. B. biäher gezmeifelt hat, daß die oftgerühmte
Freundſchaft Frankreichs und der Franzoſen zu Stalien nur ein offizielles
Shauftüf, und im Grunde auf franzöfifcher Seite nur von phrafenhaften
Egoismus beherrſcht fet, der mag an der Hand der franzöfifchen Preffe und
Literatur der letzten Jahre fich belehren laſſen. Nirgends faft ein fpontanes
Streben in Franfreih, fi über die Verhältniffe und Männer Jtalien zu
unterrichten, nirgends die Vorausſetzung gedacht, daß franzöfifche Leſer ſich
für eine in den Augen des wahren Franzofen fo geringfügige und undanfbare
Nation intereffiren könnten.
Die italienifche Sprache mird zur Zeit in Deutfchland noch zu wenig
getrieben, als daß die legte Stufe diefer befruchtenden gegenfeitigen Erfenntniß
erreicht gelten Fönnte: daß wir Deutſchen auch allgemein in der Urfprade
liefen Eönnten, was in talien über Italien und über uns gefchrieben mird.
Die große Mehrzahl unferer Yandsleute wird in diefer Hinfiht immer auf
Ueberfegungen angemiefen fein. Deßhalb verdient jeder Verfuh, und durch
gute deutfche Ueberſetzungen mit guten italienifchen Werfen befannt zu machen,
welche dem öffentlichen Xeben in beiden Nationen von Wichtigkeit find,
freundliche Förderung und bereitwillige® Entgegenftommen. Befondere Auf-
merkſamkeit aber darf die Ueberfegung eines italienifchen Werkes beanſpruchen,
welches das Neben ded Grafen Cavour aus der Feder eined vertrauten
Freundes ded großen Staatsmannes in vollendeter Weife fchildert, die Eleinften
und die größten Züge dieſes Lebend und Charaktere mit dem Tiebevollen
Detail ausfüllt, das der Freund in nächſter Nähe beobachten konnte, und
daher und Deutjchen erjt ermöglicht, den Schöpfer der italienifhen Einheit
ganz fo kennen zu lernen, wie er daheim aufgefaßt wird. Eine folche deutfche
Ueberfegung der berühmten „biographifchen Erinnerungen“ von Joſeph
Maffari an Cavour ift in diefen Tagen bei Joh. Ambr. Barth in Leipzig
erſchienen. Die Ueberfegung ift von Dr. Ernft Bezold mit Geſchick und
Berftändnig bearbeitet. Prof. Dr. v. Holgendorff hat ein einleitended Vor—
wort dazu gefchrieben. Beide Männer fprechen ſich über die Abfichten, welche
fie bei Herausgabe dieſes Werkes verfolgten, in fo intereffanter Weiſe aus,
daß einige ihrer einführenden Worte bier wohl angeführt zu werden ver-
dienen. An Gedanken, mie die eben vorgetragenen fih anlehnend, fagt
Prof. von Holtendorff: „Was mid) beitimmte, eine Webertragung ind
Deutjhe anzurathen, war in Kürze diefed: Jedes bedeutende Werk, welches
die neuere Gefchichte Deutfchlande und feiner einheitlichen Wiederherftellung
behandelt, fcheint mir zu einem Theile für Stalien, jede Geſchichte der italie-
36
nifchen Einheit zu einem Theil für Deutſchland gefchrieben zu fein... . Das
eine ift gewiß, daß die politifche Wiedergeburt Deutfchlands und Italiens in
der gejchichtlichen Betrachtungsweiſe der fie bedingenden Zeitumftände un-
trennbar mit einander verwachſen find. Ebenfowenig Fann beftritten werden,
daß die Namen der beiden in der entjcheidenden Kriſe leitenden Staate-
männer, Bidmard und Cavour an der Spiße jener perjönlichen Kräfte
ftehen, welche das weltgejchichtliche Werk vollbringen halfen.“ Holtzendorff
prüft dann die Möglichkeit, diefe beiden Männer miteinander zu vergleichen,
„deren Streben im Berhältniß zu ihrem Volke ein fo ähnliches, deren perfün-
liches Weſen ein fo grundverfchiedenes ift“, und er fommt zu dem Refultate:
„der zuverläffigite Mapftab ſcheint indeffen immer derjenige zu fein, welcher
dem lebenden Staatämanne in dem Haffe noch nicht völlig entmuthigter
Gegner, dem todten Staatemanne in der Dankbarkeit der ihn überlebenden
Gefhlehhter entgegengehalten wird. Cavour ſtarb gleihfam im Anfang feiner
Aufgabe, in einem Augenblide, als Alles noch Begeifterung, Zuverfiht und
jugendlihe Hoffnung war, ald Niemand in Stalien ahnte, daß jeder Sieg
neue Weindfchaften entftehen ‚läßt, jeder Gewinn, der auf Schlachtfeldern
errungen wird, durch die Mühfeligfeiten lang andauernder Beiltesarbeit be
fefttgt werden muß. So glicy fein Tod mehr der Raufbahn eined Jünglings,
den der Tod im Genuffe der Siegesfreude dahinrafft, ald dem Ende eined
Mannes, der die volle Hinterlaffenfchaft feiner Lebensaufgabe in deutlichen
Umriſſen überblidt. Gavour gab feiner Nation ald letztes Vermächtniß ein
großes Räthſel, deffen Löſung er felbft zu betreiben feine Zeit gefunden
hatte.* Gelbftverftändlich meint Holgendorff damit den Wahliprudy Cavour's:
„die freie Kirche im freien Staate.“ Der deutfche Staatsrechtslehrer ift nicht
zweifelhaft, daß Cavour diefe Formel, diefen Vertragsentwurf bei Seite ge-
mworfen haben würde, wenn er, im Kampfe auf Leben und Tod mit der rös
mifchen Hierarchie, „vom Quirinal als Kapitol, der LUnverföhnlichkeit des
Vaticans ind Antlitz hätte fchauen müſſen“. Holtzendorff rühmt ed als ein
befondered BVerdienft der Biographie Maſſari's, daß er die Beantwortung
diefer Frage feinen Leſern überläßt und und den fterbenden Gavour im
Gewiffendfrieden mit der Kirche zeigt. „Aber hat fich die herrſchende Kirche
auch mit ihm verföhnt? Kann fie fi) jemald mit einem Staatdmanne ver:
föhnen, der feine eigenen Wege ging? jeder Staliener hat fi darüber Klar
zu werden, wie jeder Deutfcher darüber Klar werden mußte... Wenn
Mafjart’3 verdienftvolles Werk feinen anderen Werth hätte, ald zur Prüfung
diefer Lebensfrage angeregt zu haben, fo wäre ſchon damit dad von Gavour
feiner Nation hinterlaſſene Erbe gemehrt worden“.
Auch der Veberfeger und Herausgeber der deutichen Ausgabe Dr. Ernit
Bezold in Münden beginnt feine Vorrede mit ähnlichen Gedanken, mie dieje
r 37
Zeilen. „Am unvergänglidften”, fagt er, „wird dad Werk Cavour's jelber
dauern: das Reich Italien. Auch zu diefem Zwecke, zur Erhaltung diejes
unfhäsbaren Gutes durd die italienifche Nation wird die Gefchichte Cavour's,
das ſtets lebendige Andenfen an ihn, einen Hebel bilden. Zwar war in diefer
Richtung ſchon Vieles geleiftet. Nicht der geringfte Beitrag war vom be
freundeten. Deutfchland geliefert. Es geſchah durch die Eaffiihe Geſchichte
Sstaliend von Hermann Reuchlin, durh das glänzende Eſſay Treitſchke's.
Allein eine halbwegs erfchöpfende Selbftbiographie fehlte noch. Die Stadt
Zurin wendete fi daher an einen vertrauten Freund Cavour's, den unter
der Bourbonenherrſchaft aus Neapel entflohenen Hiftorifer Joſeph Maffari,
Gelehrten und Staatsmann zugleih... Er übernahm die beneidendwerthe
Aufgabe, die Biographie Cavour’d zu fehreiben und alle andern Freunde
Cavour's metteiferten neidlod, ihm die ihnen zu Gebot ftehenden Notizen
zu überlafjen. Bor Allem that died auch die von Gavour innig geliebte und
in feine Lebensſchickſale am tiefften eingeweihte Nichte, Marchefe Alfieri.“
So fam ein Werk zu Stande, das im beften Sinne ald eine Selbftbio-
graphie Cavour's gelten kann. Selbit in der liebevollen Nachgiebigkeit gegen
den Firchenpolitifchen Standpunkt feines Helden thut der feurige, auf dem
Standpunft der heutigen politifhen Erfahrung ſtehende Neapolitaner feinen
Gefühlen und feiner Hiftorifhen Einfiht Zwang an, um Gavour ganz
gereht zu werden. Das deutjche Gewiſſen des Ueberfegerd dagegen wehrt
feine abweichende Ueberzeugung durch) einige energifche Noten. Das Werf
Maſſari's wurde von der italienifchen Nation wie ein Nationaldenfmal begrüßt.
An demfelben 8. November 1873, an welchem das Denkmal Cavour's in
Zurin enthüllt wurde, ging dad Werk Maſſari's in wahrhaft monumentaler
Ausftattung in die Welt. Der deutfche Verleger hat die deutfche Ueberfegung
mindeftend ſehr freundlich ausgeftattet. Der deutfche Ueberſetzer hat fein beftes
gethan, ung, felbftverftändlich nicht durch wörtliche Uebertragung, den Inhalt
des Maſſari'ſchen Werkes fo treu ald möglih, d. h. fo wiederzugeben, als
ob Mafjari ald Deutfcher zu Deutfchen gefchrieben Hätte Dadurch ift man-
cher unferm Geſchmacke widerftrebende rhetorifche oder fentimentale Schmud,
manche Iehrhafte Einfhaltung des Driginal® weggefallen, die Zahl der dor:
tigen Abſchnitte auf weniger als ein Fünftel verkürzt und überhaupt eine
wejentlihe Kürzung des Raums erzielt worden. Dagegen hat fidh der Ueber—
feger angelegen fein laffen, und Deutſchen einen weſentlichen Erſatz zu leiften
für einen Fehler des Originals, der durch die perfönliche Hingebung Maſſari's
an Cavour veranlaßt, freilich auch dort durch feine individuelle Auffafjung we-
niger fühlbar wird. Maſſari hat nämlich fehr wichtige, mit dem Leben und
Wirken Cavour's gleichzeitige Ereigniffe, jomwie ihre Erklärung und Entmwidelung
aus der früheren italieniſchen Gefchichte, gänzlich unberührt gelafjen. Der ita-
38
v
lieniſche Lehrer empfindet dieſen Mangel vielleicht nicht in demſelben Grade wie
der deutſche. Aber ganz wird auch er ihn keinesfalls verſchmerzen. Die
(deutſche) Bezold'ſche Ausgabe ſorgt nun wenigſtens für das Bedürfniß unſrer
ſynchroniſtiſch-hiſtoriſchen Orientirung. Es ſollen in kürzeſter Zeit Geſchichts—
Tabellen über die einſchlagenden Perioden der modernen italieniſchen Geſchichte
— und der für die Geſchichte der Halbinſel entſcheidenden Ereigniſſe im übri—
gen Europa — als Anhang zu der bereits abgeſchloſſen vor uns liegenden
Deutſchen Ausgabe von Maſſari's Werk folgen. Auch die vortreffliche Pho—
tolithographie Cavour's mit dem (kaum erkennbaren) Faeſimile ſeines Namens—
zuges, vervollſtändigt unſer Intereſſe an der deutſchen Ausgabe. Das Bild
Cavour's iſt nach der gelungenſten Photographie gearbeitet, die während des
Pariſer Congreſſes von ihm genommen wurde. Es iſt der Güte des Grafen
Greppi zu danken, der, wie überhaupt der ganze überlebende Freundeskreis
Cavour's einſchließlich Maſſari's (und ſeines Verlegers) durch Rath und That
das lebhafteſte Intereſſe für das Zuſtandekommen der deutſchen Ausgabe bezeigt
hat. Das Bild Cavour's, das hier geboten iſt, kann recht eigentlich als Illuſtration
zu jener bekannten Schilderung gelten, welche Treitſchke von dem Aeußern des
großen Staatsmannes entwirft. „Man ſah den unterſetzten lebhaften Mann mit
dem behaglichen Lächeln auf dem breiten Geſichte, wie er ſich in den Seſſel warf,
beide Hände in den Hoſentaſchen, oft die Beine faſt nach Türkenart verſchränkt,
wie er unter ſchmetterndem Gelächter übermüthige Witze herausplauderte. ..
Offenherzig und geſprächig ſagte er gleichwohl nie ein Wort zu viel. Als—
bald, ſobald ein bedeutender Gegenſtand herantritt, faßt er ſich ſicher zu—
ſammen; es lagert ſich dann tiefer Ernſt über die breite Stirn, die Klarheit
eines mächtigen Verſtandes leuchtet aus den ſtechenden, tiefliegenden Augen...
Den Italiener verräth nur das Feuer des Auges, nach ſeiner hellen Haut,
feinem blonden Haar iſt er Nordländer. . . Er ift aber geradezu ſtolz darauf,
daß er dem Grenzvolfe angehört — halb Romane und halb Germane Wie
die anderen Söhne des Hochlandes ſchwärmt er für dad Haus Savoyen. Er
ift aber d’rum doch von Herzen Staliener, Italiener vom Scheitel bis zur
Sohle.“
Auch Ludwig von Rochau hatte in ſeiner Arbeit über Cavour in dieſem
Blatte auf die halbdeutſche Abſtammung und Nationalität Cavour's hinge—
wieſen. Und er, der mit Maſſari die Ehre theilte, Cavour perſönlich gekannt,
ſein Leben und Wirken jahrelang aus nächſter Nähe beobachtet zu haben,
befindet ſich bis zu dem Punkte, wo der Tod ſeiner Abhandlung über Cavour
ein Ziel ſetzte, in allen Hauptſachen in merkwürdiger Uebereinſtimmung mit
dem italieniſchen Biographen. Namentlich führt Maſſari die von unſerm
Rochau ſo ſchön und klar entwickelte Befähigung Cavour's zur Behandlung
volkswirthſchaftlicher, mercantiler und finanzieller Fragen auf jene Vorliebe
39 J
Cavour's zu landwirthſchaftlicher Thätigkeit und kluger Verwaltung des eige—
nen Gutes zurück. Die Selbſtſtändigkeit und Richtigkeit des Urtheils von
Rochau tritt erſt aus einer Vergleichung mit der italieniſchen Biographie voll
zu Tage und läßt uns doppelt bedauern, daß ihm nicht vergönnt war, die
größten Probleme, die Cavour's Wirken erfüllten, die wichtigſten folgenreich—
ſten Thaten ſeines Lebens gleichfalls darzulegen. Wir würden vielleicht ge—
neigt geweſen ſein, der Arbeit des Deutſchen ſelbſt den Vorzug vor der un—
gemein detaillitrten Darſtellung Maſſari's zu geben. Denn dieſes Detail iſt
nicht ſelten atomiſtiſch angehäuft, es zerfällt manchmal in einzelne hübſche
Anektoden, über welchen die große einheitliche ſtaatsmänniſche Weberficht, die
Entwickelung der Anfichten Cavour's über die einzelnen Hauptfragen , die ihn
in den lesten zwei Jahren feined Lebens befchäftigten, die Trennung diejer
Hauptfragen von einander und manches Andere vergelfen oder doch geringer
beachtet wird. Gerade für diefe beiden legten Jahre von Cavour's Wirken
wäre dad Urtheil eined fo gründlichen Kenner der italienischen Gejchichte
und des italienifchen Staatämannes, wie Rochau ed war, von der hödhiten
Bedeutung gemwejen. Denn melde Fülle von Problemen und Schmierigfei-
ten aller Art — theilmeife foldhe, die heute noch ihre Schatten werfen —
drängen fih in diefe Testen Jahre zufammen.
Die für Cavour fehmerzlichite und überrafchendfte Nachricht vom Abſchluß
des Maffenftillftandes vom 6. Juli 1859 zwijchen Napoleon und Franz Jo—
ſeph, dem fhon am 12. Suli die Friedenspräliminarten von Villafranca
folgten, hatte feine Demiffion zur Folge. Vergebens verſucht Arefe feine Erb-
ihaft anzutreten. Erft Ratazzi gelingt die Neubildung des Minifteriums, unter
dem Vorfis des Franzofenfreundes Ramarmora. In feiner verzweifelten Stim-
mung reift Gavour in die Schweiz. Ein fchlichter berner Grenzfoldat reicht ihm
bier — und unter Thränen die Hand, als Cavour mit ſeinen Freunden
unthätig und trübfinnig in der Sonne ſitzt. Anfang September kehrt Cavour
nach Turin zurück. Es bat fich inzwiſchen entfchieden, daß Napoleon Sta:
lien gegenüber am Nichtinterventionsprineip fefthalten und namentlich zulafien
will, daß die Bevölferungen der mittel» italienifchen Herzogthümer, der Aemi—
lia, Umbriend und der Romagna durd eine Volksabſtimmung ihren Beitritt
zum Staate Victor Emanuel's erklären. So kann der Beitpunft ind Auge
gefaßt werden, wo zum erften Mal das italienifche Nationalparlament be-
rufen, das Königreih Stalien feierlih proclamirt werden fann. Aber das
Minifterium Rataäzzi-Lamarmora erklärt noch zu Beginn des Jahres 1860
ed für unmöglih, die Wahlen zum Nationalparlament zu einer be
ftimmten Zeit audzufchreiben. Gavour meigert fi, folange diefe Frage
nicht entjchieden fei, irgend eine Mijfion für die Regierung zu über-
nehmen, dad Minifterium ftürzt und Gavour tritt am 16. Januar 1860 von
neuem an die Spige der italienifchen Staatsgeſchäfte — ununterbroden bie
zu feinem Tode. Die erfte und ſchwerſte Aufgabe feines Amtes tft die Ab-
tretung von Nizza und Savoyen an Frankreich. Der Fünftlihe, von der
radicalen Partei erzeugte Sturm des Unmwillen® gegen Cavour wegen dieler
nothmendigen Gegenleiftung gegen die franzöfiiche Bundesgenofjenihaft im
Kriege legt ſich erft, ald kurz darauf (2. April 1860) das italienifche National-
parlament eröffnet wird und Cavour den Fühnen Zug Garibaldi’8 gegen
Sieilien und Neapel erjt heimlich, dann offen unterftüßt und dann aud) die
neapolitantfhen und ficilianifchen Provinzen, die Marken und Umbrien mit
dem Staate Bictor Emanuel's vereinigt werden. Am 18. Februar 1861 wird
das Parlament eröffnet, das zum erften Dal, mit Ausnahme der Benetianer
und Römer, Vertreter des gefammten Italiens in feiner Mitte zählte. mn
ü 40
bedeutfamer Weiſe verkündet die erite Thronrede die innige Freundfchaft mit
Preußen als die Hoffnung der zufünftigen Bolitif der italienifchen Regierung,
und fait einftimmig mird vom Warlament das Königreih talien und
Victor Emanuel als „König von Italien“ audgerufen. Wie an diefem Tage
Gavour beim Heraudtreten aus dem Warlamentägebäude von Aleſſandro
Manzont umarmt wurde, und das zu Taufenden verfammelte Volk ftürmijchen
Beifall klatſchte, als es den Begründer feiner politifhen Ginheit in den
Armen des edeliten Vertreterd der literarifhen Einheit Italiens liegen ſah,
da mochte jeder Zufchauer in der Begeifterung der bedeutfamen Stunde dad
große Werk des Staatdmanned für erfüllt halten. Indeſſen für ihn begann
nun erſt der Gipfel der Schwierigkeiten fih zu zeigen: Venedig und Rom,
die Stellung zu Franfreih und Deutfchland, zu den radicalen Drängern im
Innern, dad Verhältnig der Kirche zum Staate — Alles das forderte von
Tag zu Tag immer lauter und dringlicher feine Löſung. Es ift nun ein be»
fonderer — oben ſchon von Holgendorff betonter — Vorzug der Maffart’fchen
Biographie, daß er alle diefe Diffonanzen wohl Fräftig erklingen läßt, mie fie
ja auch Cavour's letzte Lebensmonde erfüllten, aber daß er dagegen auch auf:
zeigt, wie dem unermüdlichen Vorkämpfer feines Volkes das feltene Geſchick
befehieden war, verföhnt mit allen Gegnern feines Strebens zu fterben. So
endete jene denfwürdige Zufammenfunft Cavour's mit Garibaldi, die nad)
dem furdhtbaren Aneinandertreffen beider Männer im offenen Barlament vom
Könige gewünſcht wurde, aber faum möglich erfchten, mit einer feierlichen
Billigung des politifchen Programms Cavour's im Verhalten gegen Deiterreic)
und Franfreih durch Garibaldi. Die Männer fchieden, wenn nicht ale
Freunde, doch ohne jegliche Gereiztheit. So glüdte Cavour noch in den
legten Tagen feined Xebend, die Verhandlungen mit Parid und Rom dem
Abfchluffe nahe zu führen: Napoleon mollte dad Königreih Stalien an-
erfennen und ſich verpflichten, die Truppen aud dem SKirchenftaat zurüd-
jurufen, wenn dagegen die italienifhe Regierung eine Gewähr geben
würde, dag fie feinen Angriff duldete und die Grenze ftreng bewachte.
Die Zufage diefer Bedingung Seiten Cavour's enthielt eines feiner legten
Zelegramme nah Paris, mit dem Datum vom 31. Mai 1861. Den
Reſt der Schmierigfeiten dachte er mit der Zauberformel zu ebnen: „die
freie Kirche im freien Staate.“ Das war der lette Gedanke, den der Ster-
bende ausſprach, der ihm das Sterben im Frieden mit feiner Kirche, deren
legte Gnadenmittel ihm der eigene Bruder fpendete, ermöglichte. So breitet
fidy über all feine legten Handlungen die Verklärung ded Friedens, der Ber-
föhnung. Am 6. Juni 1861 früh 6%, Uhr verfchted er.
Möge die Verdeutfhung der Biographie Maſſari's in Deutſchland recht
viele, recht aufmerkfame Leſer finden. Denn wenn der Politiker und Staatd-
man Savour vielleiht auch noch kunſtvoller dargeftellt und charafterifirt mer-
den kann — den Menſchen Cavour wird niemand pietätvoller und anfchaulicher
jemal® und fchildern fünnen, ald das Werk Joſeph Maſſari's. R
Mit dieſem Hefte beginnt diefe Zeitfchrift ein neues Quartal,
welches durh alle Buchhandlungen und Poſtämter deö In- und Aus-
landes zu beziehen ift.
Privatperfonen, gefellige Vereine, Lefegefellichaften,
Kaffeehbäufer und Eonditoreien werden um. gefällige Berüdjichtigung
derfelben freundlichit gebeten.
Leipzig, im October 1874. Die VBerlagsbandlung.
Berantwortlicher Redakteur: Dr. Hand Blum.
Berlag von F. 2. Herbig. — Drud von Hüthel & Legler in Leipzig.
Die
Grenzboten.
BEeittfäarcifi
für
»olitik, Mexreatur und Kunſt.
Ne: A.
Ausgegeben am 9. October 1874.
Inhalt:
Neuere kirhenpolitifche Fragen. 1. 9. Jacoby. . . ..
Jugenderinnerungen Karl Friedrich's v. Klöden. B..
Gin Mufterftüd —— Propaganda in diantrüch Aus
Paris . .
In Sachen der finanziellen Lage der Univerfität Jena. " Klagbeant:
wortung. — Replit von W. Endemann, — ——
Briefe aus der Kaiferftadt. . s :
Mar Wirth's Gefchichte der Handelstrfen
vn
Orenzbotenumfchlag : Literariiche Anzeigen.
Literarifche Beilage von F. N. Brodhaus in Yeipzig.
en 7 27252 SZ
Leipzig, 1874.
Vriedrih Ludwig Herbig.
(Fr. Wild. Grunow.)
Neuere kirhenpolitifhe Fragen.
Es ift von Freunden Firchlichen Lebens und chriftlicher Gefinnung oft
geflagt worden, daß die großen Errungenfchaften des lebten Jahrzehnts, die
fieggefrönten Kriege dem deutfchen Volke feinen Zuwachs an religiöier und
fitrliher Vertiefung erworben hätten, und unmillfürlich ift der Blick auf die
Befreiungsfriege gefallen, welche den Ausgangspunkt für eine ideale Erhebung,
für eine Rückkehr des deutfchen Volks zur Kirche und zum chriftlichen Leben
bildeten. Wir mollen den Wahrheitögehalt nicht beftreiten, der in diefer
Klage liegt, müſſen aber doch offen ausſprechen, daß fie aus einer einfei-
tigen Betrachtung der Zuftände und Bewegungen ter Gegenwart hervorge—
gangen ift. Dder mer kann leugnen, daß in unirer fo ſehr auf Einficht
in die Sinnenwelt und auf Verwerthung ihrer Erzeugnifje gerichteten Zeit die
firhliben Angelegenheiten ein allgemeines Intereſſe erregt haben, ja eine
brennende Frage geworden find. Freilich zeigt fi auch in der Art und Meife
der Beihäftigung mit ihnen der eigenthümliche Charakter unfrer Zeit. Es
find nicht die Gegenjtände ded Glaubens, die Unterfuhhungen, auf welche die
theologiſche Wiffenfhaft fich vorzugämeife richtet, um welche fich die Aufmerf-
famteit ded Volke fammelt, es ift vielmehr die Gemeinschaft, welche die Hei.
ligthümer bewahrt, es ift die fichtbare Kirche, für welche die Gegenwart ein
Herz bat. Das Chriftenthum als ein fihtbarer, das öffentliche Leben beitim-
mender Faktor nimmt ihre Beachtung und Thätigfeit in Anfpruc. Die Bezeugung
ihrer Theilnahme am chriftlichen Leben ftellt fi dar auf dem Gebiet der Kirchen»
politi. Man unterſchätze diejelbe nicht, es giebt einen Weg, der von der
Peripherie zum Centrum, von der Form zum Inhalt führt. Wir haben ein
begründeted Recht zu der Hoffnung, daß unfer Volk vom Intereſſe an der
Kirche zum Leben in der Wahrheit des Evangeliums und zum Glauben an
die Heildgüter werde geführt werden.
Die Richtung, welche die neuere firhenpolitifche Geſetzgebung eingefchlagen
bat, bürgt dafür. Sie hat erkannt, daß es nicht angeht, das Firchliche
Reben ald eine Privatſache der Individuen oder gleichzeitiger Vereine anzu—
jehen, daß dasfelbe vielmehr einen integrirenden Beitandtheil des öffentlichen
Lebens bildet, daß fich derjelbe einer Beeinfluſſung desfelben nicht entziehen
Grenzboten IV. 1874. 6
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darf. Uber, died zugeftanden, welche Fülle Ser fehwierigiten Fragen ergiebt
fih bier. Es gilt die Grenze zu ziehen, welche der Staat nicht überfchreiten
darf, ohne die Freiheit der Kirche zu vernichten, es gilt der Kirche, vor
allem der evangelifchen Kirche, die Organe zu ſchaffen, die ala wirklihe Ver—
treter derfelben betradytet werden dürfen. Und alle diefe Fragen können nicht
gelöft werden, ohne daß ein hohes Map Firchenpolitifcher Einficht gewonnen
wird. Mir heißen daher alle Schriften willkommen, welche ung eine folche ver-
mitteln, und beabfichtigen in diefen Zeilen auf einige derfelben hinzumeiien.
Beichränfen wir und auf die Forderung eines gefunden, unbefangnen,
die Verbältniffe frei und nad allen Seiten überblidenden Urtheils, fo können
wir die Schrift von Theodor Körner „Grundzüge und Beiträge zur ſyſte—
matifchen Behandlung der Religionspolitik im deutfchen Staate“ (Berlin 1873
C. Heymann's Verlag, S. 206) unbedingt empfehlen. Sie ift eine Apologie
der neueren preußiſchen Firhenpolitifchen Geſetzgebung, ruht auf einer befrie-
digenden Kenntniß der hier in Betraht kommenden Berhältniffe, beurtheilt
maßvoll und befonnen die verſchiednen kirchlichen Parteien und bewahrt ſich
bei prinzipielem Anfchlug an die gegenwärtige Politik der preußifchen Re
gierung Selbftändigkeit und Freiheit der Entjcheidung. Nicht3deftomeniger
fönnen mir den Werth diefer Schrift nicht ganz fo hoch anſchlagen, als die
eben angezeigten Eigenichaften zu nöthigen fcheinen. Denn leider befitt der
Berfaffer nicht die für eine fyftematifhe Darftelung der Religionspolitif
nothwendige religionsphilofophiiche Bildung und eben deshalb fehlt ihm die
Befähigung, die prinzipiellen Fragen befriedigend zu löfen. Sa die philofo-
phiihe Begabung und Schulung des BVerfufferd überhaupt ſcheint nur eine
geringe zu fein. Die grundlegenden theoretifchen Erörterungen des erften
Theild legen Beweis dafür ab. Der erfte Abſchnitt „Bon Religion und
Glauben” zeugt von einer Oberflächlichkeit, wie fie nur bei völliger Unfennt-
niß der religionsphilofophifchen Arbeiten des Jahrhunderts fich begreifen läßt.
Im dritten Abſchnitt „Vom Staate* finden wir allerdings eine richtige Ein-
fiht in dad Weſen desfelben, infofern er ald Rechtsſtaat und Gulturftaat
begriffen wird, aber beide Beitimmungen werden äußerlich neben einander ge
ftellt, ohne daß der Verſuch gemacht wird, fie mit einander zu vermitteln.
Doch mollen wir diefen Mangel nicht zu Scharf tadeln, finden wir ihn doch
in der audgezeichneten Abhandlung von Sohm nicht einmal völlig befeitigt.
Dagegen müſſen wir tadelnd hervorheben, daß der Verfaffer dem Staate Re
ligion, Neligiofität und Chriftlichfeit abfpricht und ihn nur an die chriftliche
Ethik ald an das fittlihe Gefeg der Vernunft gebunden willen will. Nach
der unzureichenden religionsphiloſophiſchen Grundlegung Founten wir freilich
nicht8 anderes erwarten, Über fragen müſſen wir do, ob der Berfafjer ſich
bewußt gemwefen ift, daß der religionsloje Staat die Worderung des Eides
43
aufgeben und den Meligiondunterriht aus der Staatöfchule vermeifen
muß. In auffälligem Widerfpruch zu der vorausgefegten Religionslofigkeit
des Staat? ſteht die Bemerkung des Verfaſſers: „Er (der Staat) wird fie
(die Neligion), fomweit es fein Beruf geftattet, als ein guted Kennzeichen fitt-
liben Werthes in feinen Bewohnern, namentlich in den Organen feiner Wirk:
famfeit anerkennen und fie geeigneter Weiſe nähren und pflegen; — fie aber
ih felbft aneignen, kann er nicht.“ *) Wie kann der religiös indifferente
Staat die Religiofität feiner Bürger nähren und pflegen. wenn er nicht jelbit
religiöß ift, mit welchen Mitteln foll er dieſe Pflege ausüben? Und ift ein
Staat, der Maßregeln trifft zur Pflege der Religiofität, religionslos, und
wenn er bejonders die hriftliche Religioſität begünftigt, nicht chriftlich ?
Der „biltorifch = politiiche Mückbli“ , mit welchem im vierten Abfchnitt
der allgemeine theoretifche Theil ſchließt, it am dürftigiten in der Abtheilung
„Das proteftantifche Zeitalter“. Wir bärten doch wenigſtens einige Andeu-
tungen über die Entftebung des landesherrlichen Kirchenregiments, jeine Be—
gründung durch die Neformatoren, und über die Eirchenpolitifchen Syfteme
erwartet. Aber nichts von alledem. Der Berfaijer beichränft fi auf die
Berührung einiger weniger Thatjachen.
Wir wenden und zum zweiten befonderen praftifchen Theil. E83 freut
und, über die erften Abfchnitte desſelben, melde den Katholiciömug und den
Neukatholieismus nad feinem Dogma ter päpftlichen Unfehlbarfeit zum Gegen-
itande haben, günftiger urtbeilen zu fönnen. Wir finden hier eine eingehende,
gründliche, lichtvolle Daritellung. Das neue Fatholifche Dogma wird in feinem
Werth, feiner Entjtehung ‚und Begründung vergegenmwärtigt. Sehr richtig
und beachtenswerth it, wenn der Berfafler jagt, daß die Bijchöfe nicht legi-
timirt jeien, auf das ihnen durch Chriftuß übertragene apoftolifche Recht
Verzicht zu leiften, daß dasfelbe ein von der Perſon ded damit Betrauten
untrennbar gedachtes ſei und daher nicht einem andern übertragen werden
könne, daß. es ein umveräußerliches Recht fei. Und der Schluß ift volllommen
begründet, day daher dem Unfebibarkeitspogma das Firchenrechtliche Funda—
ment der bijchöflichen Legitimation fehle. Auch der folgende, Abfchnitt „Grund-
läge der Staatäpolitit den Religionggefellihaften gegenüber“ ‚-; befriedigt im
Ganzen. In befonderem Maße gilt aber unfer anerfennendes Urtheil dem
achten Abſchnitt: „Der Proteſtantismus.“ Die gefunde und befonnene Cha-
rafteriftil der Firchlichen Parteien, der Muth, den der Verfaffer in der Frei
heit von landläufigen Werthſchätzungen des, vulgären Liberalismus zeigt, ver-
dient alle Anerfennung. Wir rechnen bierhin**) die Bemerkungen des Verfaſſers
über den Proteftantenverein ”**): „Der Kampf gegen Beſtehendes hat bereits, in
) S. 22. **) Die machflebenden Anfihten des Werfafferd werden von der Redaction
keineswegs allenthalben getheilt. D. Red. *S. 112—3,
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Deutſchland lebhaft begonnen und meite Kreife in fein Gebiet gezogen. Die
Vertreter desfelben haben ſich namentlich in einem „Proteftantenvereine* ver»
bunden und das Berdienft erworben, ſei ed auch auf radicalem Boden, die
Mängel im Beitehenden ohne Rüdhalt aufgededt und den Wunſch zum Beſſern
nach Sinnen und nad Außen rege erhalten zu haben; aber meiter reicht das
Verdienst bis jest nicht. Bon einem Erſatz der oft mit Verläugnung allge:
meiner Toleranz angegriffnen orthodoren Glaubensrichtungen durch Aufitellung
eined Bekenntniſſes ijt in der bisherigen Wirkſamkeit ded Proteftantenvereind
nicht die Rede, mit einer bloßen Negation ohne ſchöpferiſche Kraft ift aber
weder dem religiöfen Gefühle noch dem religiöfen Geſellſchaftsverbande gedient ;
eine Kirche ohne alle Bekenntnißſchrift, wie fie der Agitation vorzufchweben
icheint, ift unausführbar und ohne Beftand. — Aus diefen Gründen fann
der Mroteftantenverein,; ungeachtet feined® an fich berechtigten Thund und
Wirkens innerhalb der Religiondgefelihaft, Feinen Anfprud darauf machen,
in der äußern Organifation derjelben ald ein irgendwie maßgebender
Faktor mit in Betracht gezogen werden; es fehlt ihm dazu jeder Anhaltd-
punkt.“ Mir rechnen hierhin ferner die befonnene Beurtheilung ded ev. Ober:
firchenrath® in Preußen: „Die Bildung des Oberkirchenraths war der nad
unferer Auffafjung im Prineip ganz richtige und gebotene erjte Schritt zur
kirchlichen Selbftändigfeit. Wir jtehen nicht auf dem Boden feiner vielfeitigen
Anfeindung, deren Ursprung großentheild in religiöjem Liberalismus wurzelt,
und deren thatfächliche Begründung wir nur im geringften Theile, hauptfäch-
ih in der Richtung anerkennen, daß feine unleugbaren wiederholten Beſtre—
bungen zur einigenden felbitändigen Kirchenreform in den Hauptrejultaten
erfolglos gemejen find; — aber zur Milderung auch diefes Vorwurfs gejtehen
wir, daß und der Nachweis fehlt, ob andere Schritte zum gedachten Zwecke
beſſer und fruchtbarer geweſen wären. Die aus jener Feindfeligfeit wieder«
holt hervorgegangenen Anträge im Landtage auf feine Abjhaffung halten wir
im Intereſſe der Kirche für ebenfo unpolitifhe als unreife und in ihren Wir-
fungen unüberlegte Tendenzen.**) Wir billigen endlich vollfommen, daß der
Berfaffer mit Entjchiedenheit die fchleunigfte Vollziehung der Audeinander-
fegung zwiſchen Kirche und Staat fordert und mit Necht denen, welche den
geeignetiten Zeitpunkt noch nicht für gekommen erachten, zuruft: „wann wird
der geeignete Standpunkt da fein? find die Verhältniffe des evangelifch-Firch-
lihen Gejammtlebens dazu angethan, feine Annäherung ficher zu hoffen? —
und wird durch defjen weitered Abwarten etwas gewonnen? — wir antwor-
ten hierauf: Nein; im Gegentheil, die Schwierigkeiten werden nicht geringer,
jondern fteigen mit jedem XZage.“ **)
Zeider hat fich in diefen fo trefflichen Abfchnitt ein biftorifcher Irrthum
,6. 190. °)6E. IM—5,
45
eingeflichen, den wir um fo ernftlicher rügen müffen, ald er eine weite Ber-
breitung gefunden zu haben foheint. Der Berfaffer meint, daß fidy das pred«
byterial-fynodale Syſtem vorzugämeife bei den Reformirten in der Schweiz ent»
widelt habe. Das ift falſch. Das genannte Eyftem ift allerdings auf reformir-
tem Boden entfproffen, aber nicht in der Schweiz. Die reformirte Kirchenver-
faffung bat einen ebenfo territorialiftifchen Charakter getragen, wie die Iutherifche
Deutſchlands. Richtig ift, daß Calvin die Grundgedanken der Synodalverfaffung
entwicelt bat, aber verwirklicht wurden fie weder in Genf noch in Zürich.
Mit dem zehnten Abfchnitt beginnt eine neue Abtheilung, welche fich
auf die einzelnen Gegenjtände der Neligtonspolitif bezieht. Zuerſt wird das
geitlihe Amt in Betracht gezogen. Hier würde der Verfaſſer befjer gethan
haben, ftatt faft alle Maigeſetze abdruden zu laffen, näher, als es gefchehen
it, auf Ddiefelben einzugehen. Referent gehört zu den warmen Freunden der
neuen Firchenpolitifchen Gefeggebung Preußens und er ift prinzipiell mit allen
ihren Beftandtheilen in UWebereinftimmung. Eben deshalb hält er ſich für
befugt, in diefen Blättern, einen Diffenfus bei diefer Gelegenheit zur Sprache
zu bringen, der nicht fomohl dad Prinzip, ald die Audgeftaltung desſelben
wit. Wir haben dad Staatderamen der Theologen vor Augen. Es kann
feinem Zweifel unterworfen fein, daß von einem Manne, der, wie der Geift-
lihe zu einer fo tiefgreifenden Wirkfamfeit auf das Volksleben berufen ift,
ein hohes Map allgemeiner Bildung gefordert werden muß, und daß der
Staat berechtigt ift, die Aneignung derfelben zu verlangen. Aber auf welchem
Wege ift died Ziel zu erreihen. Wir fchließen die Whilofophie aus dem
Kreife unferer Erwägungen aus, meil fie fhon längft Gegenftand der theo-
logifhen Prüfungen geworden ift, und berüdichtigen nur die Geſchichte, und
die deutjche Kiteraturgefchichtee Und hier fcheint ed unmöglich, daß der
theologifche Kandidat im Großen und Ganzen am Schluffe ded Trienniums*)
über eine größere Summe von Kenntniffen verfüge, ald ihm beim Abi-
turienteneramen eigen gemefen ift. Ja noch mehr, ed muß fih die Summe
vermindert haben, da der Student der Theologie doch nicht die Zeit und den
Fleiß ohne Vernabläffigung des Berufsſtudiums auf die genannten Objekte
wenden Fann, die er als Gymnaſiaſt ihnen widmen fonnte Wozu alfo eine
Repetition des Abiturienteneramend fordern, die nothmendig nur bdürftige
Refultate Eonftatirt. Man erwäge ven Umfang des Gebietö beider Wiffen-
haften: Oder follen allgemeine Ideen an die Stelle der Thatſachen treten
und das Examen fich auf eine Whilofophie der Gefchichte beziehen? Davor
müflen wir dringend warnen. Es wäre der Weg, den nur die Ignoranz
ih wünfchen könnte. Sie würde ihre Blöße mit Phrafen deden. Aber was
*) Barum müffen aber gerade die Theologen allein nur drei Jahre jtudiren ?
Die Rep.
46
fol geichehen? Es ift nicht fowohl Mehrung der Kenntniffe, als vielmehr
der Einſicht zu fordern. Diefe läßt fih nun für den Studenten, der nicht
Gefhichte und Riteraturgefchichte zu feinem Berufsſtudium gewählt hat, wohl
aber auf beiden Gebieten vermöge der gumnafialen Borbildung orientirt it,
nur dadurch erreichen, daß er auf befhränftem Gebiet an den millen-
ſchaftlichen hiſtoriſchen und literarhiftorifchen Studien ſich betheiligt. Wir
würden e8 daher für das geeignetite Mittel halten, das gewünfchte Ziel zu
erreichen, wenn von den Studierenden der Theologie gefordert würde 1) dag
fie eine größere Privatvorlefung aus dem Gebiete der Gefhichte und zwar
mit Rüdfiht auf nationale Bildung aus dem Gebiete der deutfchen Gefchichte
und ebenfo eine größere Privatvorlefung aus dem Gebiete der deutichen
Literaturgefcbichte anhörten; 2) daß fie fodann unmittelbar nah Beendigung
der Vorlefungen fih einer Prüfung von Seiten ded vortragenden Docenten
unterzögen, deren Reſultat fchriftlich bezeugt werden müßte Die erfte For
derung führte in befchränftem Maße die früher beftehenden fogenannten
Zwangsvorleſungen ein, die zweite dehnte die gegenwärtig beftehenden Semeitral-
eramina aus. Unfer PBetitum ginge daher dahin, daß alle Theologie Stu-
dierenden, welche durd, dad Abgangdzeugnig vom Gymnafium den Befig be»
friedigender Kenntniſſe in der Gefchichte und Kiteraturgefchichte bemeifen, durch
eine Generaldispenfation des Kultusminiſters vom Staatöeramen befreit
mwerden, dagegen angehalten, in der angegebenen Weiſe die Fortentwidlung
in allgemeiner mifjenfchaftlicher Bildung fich angelegen fein zu laffen. Auf
diefem Wege, fcheint und, würde ebenfo fehr den berechtigten Forderungen
des Staatd wie den Intereſſen der Theologie Studierenden Genüge getban
und ein höheres Maß allgemeiner wifjenfchaftlicher Bildung erzielt, als auf
dem von der Regierung in Ausficht genommenen. Man täujche fih nicht,
ed hat mehr Werth und bringt mehr Gewinn, auf befchränftem Gebiet Gründ—
lihes zu willen, als auf weitem Gebiet vieled aus der WVogelperipeftive zu
betrachten. Es iſt bildender eine Vorlefung über deutſche Geſchichte im
Dlittelalter fi) aneignen, 'ald aus einem Gompendium eine Meberficht der
Meltgeihichte nach ihrer Ränge und Breite repetiren. Es ift bildender, eine
Vorlefung über dad Nibelungenlied oder Goethe ſich aneignen ald aus einem
Reitfaden eine Weberficht der deutfchen Literaturgefchichte in ihrer Yänge und
Breite repetiren. Denn daß das ganze Gebiet beider MWiffenfchaften ernftlich
durchgearbeitet werde, dad kann doch nur vom Hiftorifer oder Yiterarhiitorifer
vom Fach, nicht aber vom Theologen gefordert werden. Was bleibt ihm
aljo übrig ald zum Gompendium oder zur Tabelle zu greifen. Unfer Bor:
ihlag fällt alfo mit den Tendenzen der Regierung zufammen, weicht nur im
Ausführungsmodus ab und begünftigt nicht eine Minderung, fondern eine
47
Steigerung der allgemeinen milfenf&yaftlihen Bildung der Theologie Stu-
direnden.
Man verzeihe und diefe Abſchweifung. Die bier audgefprochenen Ge
danfen liegen dem Weferenten ſchon lange auf dem Herzen und fein Beruf
treibt ihn, fie audzufprehen. Wir kehren zu unferer Schrift zurüd. Der
Abſchnitt, welcher und hier befchäftigt, berührt viele fchmierige Probleme.
Uber fie find eben nur berührt, ohne daß ein ernitliher Verſuch gemacht
wäre, fie zu löfen. Was der Verfaffer über den Glaubendeid fagt, ift durch—
aus unzureichend. Worin fich derfelbe vom zulegt erwähnten Religionseid
unterfcheidet, wird nicht mitgetheilt. Wünſchenswerth wäre ed auch gemefen,
wenn der Verfaſſer fich eingehender über die ſchwierige Frage nad den
Grenzen der Lehrfreiheit geäußert hätte. Doch tft er auf dem rechten Wege.
Sehr beachtenswerth find die Thefen: 1) Der Lehrituhl in der evangeltjchen
Kirche ift nicht derfelbe, mie der des theologiſchen Katheders; ter eritere
fließt die Erörterung theologifcher Streitfragen, welche der Wiffenfchaft an»
gehören, im Mefentlihen aud. 2) Insbeſondere tit das Lehramt, welches auf
die Grundfäge in den Reformationdichriften und nah Maßgabe derfelben
ald ein Kirhengemeindeamt verliehen worden, nicht berufen, dieſe
nach fubjectiver Auffaffung zu ändern oder zum Gegenitande des Zweifels
oder Angriff zu erheben; — dadurch aber den Glauben der Gemeindeglieder
zu erfchüttern und die Stellung ded Lehramt? zur Gemeinde erheifht, daß
diefes auch nicht durch öffentlihe Yeußerungen außerhalb der Iehramtlichen
MWirkfamkeit nah Form und Faffung in der Weiſe gefchehe, daß das Ber-
trauen der Gemeinde in die Wahrhaftigkeit des Lehramts mefentlich gefährdet
oder abgefchwächt werde; die freie Grenze einzuhalten iſt Sache feiner jorg-
famen Prüfung.*) Die liberalen Theologen thäten gut, auf die Worte folcher
liberaler Suriften zu hören. Der Theologe iſt in Gefahr, einfeitig nur die
Intereffen des religiöfen oder vielmehr des über die Neligion refleftirenden
individuellen Subjekts mahr zu nehmen, der Yurift tritt für dag Recht der
Gemeinschaft ein und fhüst die Bedingungen, ohne deren Bewahrung ein
jecialer Organismus nicht beftehen kann.
Aus dem 11. Abfchnitt, der über „die Familie und die Religion“ handelt,
heben wir die Bemerfungen des Verfaſſers über die gemijchten Ehen hervor.
(53 wird bier der Wunſch ausgeſprochen, „daß jeded Verlangen eined Ber:
ſprechens Seitens eines Geiftlichen, fet e8 eined mündlichen oder jchriftlichen
oder wohl gar eidlichen über die religiöfe Erziehung der Kinder unter nam»
hafte Strafe geftellt werde.” Mir können dem Verfaſſer nur beiftimmen,
zumal in Bezug auf Preußen, da bier eine Forderung folhen Inhalt von
) ©. 150.
48
Seiten der Geiftlihen geradezu eine Geſetzwidrigkeit in fich fhließt*), aber
auch überhaupt, da, wie Eichhorn **) richtig fagt im einer ſolchen Forderung
fihtbar die Anwendung eine® moralifchen Zwanges liegt, um eine Handlung
zu bewirfen, die nach den bürgerlichen Gejegen nicht erzwungen werben,
fondern nur aus freier Bereinigung der Verlobten hervorgehen kann.“ Die
geſchichtlichen Mittheilungen des Verfaſſers über die Form der Eheſchließung
find zum Theil unrichtig. Es ift falfch, wenn gefagt wird: Erft die Refor-
matoren der evangelifchen Kirche erachteten diejelbe (die Firchliche Trauung)
für eine zum Abſchluß des Ehevertrages erforderliche Form.“ ) Solche grund-
lofe Behauptungen follten nad dem Erfcheinen von Frievberg’d Epoche
machender Schriftr) nicht mehr gewagt werden. Was ſpeziell Luther's
Stellung zu diefer Frage anlangt, fo hat fi Referent an einem anderen
Drterr) eingehend darüber ausgefprochen und beſchränkt fich darauf, hier die
dort gemonnenen Refultate zu vergegenwärtigen. „Quther weiſt die Che
angelegenheiten der bürgerlichen Obrigkeit zu und betrachtet fie ala ein Ge:
biet, das eigentlih außerhalb der Firchlichen Rechtsſphäre fich befindet.
tichtödeftomeniger fol die Kirche, wenn die bürgerliche Obrigkeit eine kirch—
lihe Segnung oder Trauung verlangt, diefelbe vollziehen. Luther fieht aljo
die Chefchliegung mefentlih als einen civilen Akt an und betrachtet die
Kirche, infoweit fie die Trauung vollzieht, als Mandatarin der bürgerlichen
Obrigkeit.” „Er fah eben die Trauung ald eine mefentlich civile Handlung
an. Dagegen die Segnung der Getrauten erfchien ihm ala eine Feier, welche
die Kirche in ihrem eigenen Namen volljog. Er folgte daher der beftebenden
Afte und theilte die Handlung in zwei Abfchnitte, die Trauung verlegte er
vor die Kirche, die Segnung dagegen knüpfte er an den Altar.“
Auch ignorirt der Verfafler, dag ſchon früh auf proteftantifchem Boden
die Civilehe fich gebildet hat. In England hat fie von 1653—1660 Geltung
gehabt. In den Niederlanden wurde die fafultative Civilehe am 1. April
1580 für die Provinzen Holland und Weſtfriesland, am 18. März; 1656 für
die General-Staaten eingeführt, in Schottland gelten die heimlichen Ehen und
Gretna-Green ift der rettende Hafen für die Liebenden, deren Bund in Eng:
land Feine gejegliche Geltung erlangen Fann, wie den Kennern englifcher
Romane binlänglich befannt ift.
Gegen den Abſchnitt „Die Schule und die Religion“ haben wir ernite
Bedenken. Vielleicht läßt fih die Frage nad der Confeffiondlofigfeit der
Schule nicht beantworten, wie es der Berfaffer thut. Er hat dem vorliegen»
*) Sacobfohn, das ev. Kirchenrecht des preußifchen Staatd. ©. 570.
**) Grundfäge des Kirchenrehts Bd. 2. ©. 506. **) ©. 159.
7) Das Recht der Eheſchließung in feiner geſchichtlichen Entwidelung. Leipzig 1865.
+7) Jacoby, Liturgik der Reformatoren. Gotha 1861. Bd. I, ©. 326 u. d. f.
49
den Problem gar nicht ernſt in das Angeficht gefehen. Wir erheben feinen
MWiderfpruc gegen die Anſtellung jüdifcher Lehrer an hriftlichen Schulen, evan
gelifcher Zehrer an Fatholifchen Schulen und umgekehrt, aber fordern trogdem
eine confejfionelle Beftimmtheit der Anftalt. Abgeſehen von dem Religiond-
unterricht, der felbitverftändlich confefjtonell fein muß, kann der Geſchichts—
unterricht, der deutfche Unterricht nur confeffionellen Gharafter tragen, und
ebenfo darf das Directoriat der Schule und das Drdinariat der Klaſſen einer
confeffionellen Bedingtheit nicht entbehren (? d. Red.). enjeit diefer Grenzen
dagegen kann das confejfionelle Element durchbrochen werden. Simultanjchulen
in den Schranfen einer confeffionellen Grundrichtung, nicht confeffionslofe Schu-
len entjprechen den Forderungen der Gegenwart. Wir begründen mit ments
gen Worten unfere Forderung. Wie Fann ein Jude, der, wohlgemerkt ein
Jude mit ganzem Herzen ift, die Entitehung und den Werth des Chriften-
thums würdigen? Gr fieht in ihm einen Rüdfall in den Polytheismus des
Heidenthums. Wie kann ein Katholif, der feinem Glauben von ganzem Her:
zen zugethan tit, der Reformation gerecht werden? Sie tit ihm ein frevel«
bafter Bruch mit der Kirche. Daher ja an den Univerfitäten, auf die Pro-
vinzen mit gemifchter Bevölkerung angewiefen find, obmohl doch die Univer-
fitäten die Objectivität wilfenfchaftlicher Betrachtung vertreten, ein Fatholifcher
und ein proteftantifcher Lehrſtuhl für die Hiftorifche Wiſſenſchaft errichtet ift.
Wer den confeffiondlofen Geſchichtsunterricht befürmortet, fest Xehrer voraus,
die innerlich außerhalb der Kirche ftehen,, der fie äußerlich angehören, oder
er münjcht einen bhiftorifhen Vortrag, welcher auf die ideelle teleologifche
Werthſchätzung der hiſtoriſchen Erſcheinungen und damit auf die Wirkung
auf das Gemüth der Schüler verzichtet. Es ift nicht viel ander® mit dem
Vortrag der deutjchen Kiteraturgefhichte. Man leſe z. B. Eichendorf's Dar-
ftellung derfelben, um als Proteftant eine gründlihe Scheu zu fühlen, feinen
Kindern eine folhe Einführung in die deutjche Kiteratur zu wünſchen, welche
in der Romantik die Blüthe, den Höhepunkt ihrer Entwicklung findet. Der
echte Katholif kann es nicht verwinden; daß dies neue Geiſtesleben Deutfch-
lands auf dem Boden des Proteftantiömus erwachſen ift. Und der Jude?
die religiöfen und fittlichen Ideen, welche die innerjte Subjtanz der Getanfen-
welt unferer Dichter bilden, find aus der Wurzel chriftliher Welt und Got-
tedanjchauung hervorgegangen, und der Nihthrift muß fih in dieſelbe erit
fünftlich hineinleben. Der deutſche Unterricht ſchließt aber auch ferner die
Verpflihtung in fi, die Aufgaben für den deutfchen Aufſatz zu ftellen und
ihre Löſung zu controlliren. Es ift bieher diefer Theil des Unterrichts nicht
blos als ein Mittel der Stilbildung, fondern in erjter Linie als ein Mittel
der ethifchen Bildung angefeben worden. Im Aufſatz follte der Schüler —
wir berückſichtigen felbitverftändfih nur die Schüler der oberen Klaſſen — die
Grenzboten IV. 1874, 7
50
eigene Kraft in der Beurtheilung der ihm zugeeigneten Objecte erproben, die
hiſtoriſchen, äfthetifhen, moralijchen Beftandtheile des Wiſſens reproduziren.
Es war dies eine Gelegenheit, in hervorragender Weiſe, pofitiv und negativ,
die fich bildende Gejammtanfchauung des Schülerd zu reguliren. Aber mie
fol dies möglich fein ohne die religiös -ethiiche Einheit der Schule! Wenn
wir endlich das Directorium und die Klafjen - Ordinariate ald Träger der
confeffionellen Beſtimmtheit betrachten, fo geſchieht es, weil wir die Schule
nicht blos ala ein Lehr- jondern auch als ein Erziehungsinftitut gefehen. Und
wem Erziehung etwas anderes iſt als Dreſſur, der wird fih nicht dem Zu-
geſtändniß entziehen können, daß die confeffionelle Beltimmtheit aud in die
Ethik bineinragt. Wroteftantiemnd und Katholiciamus, Chriftentfum und
Judenthum find nicht nur dogmatifh, fondern auch ethifch different. Wir
halten deghalb an der Forderung der confeffionellen Schule feft, tragen aber
fein Bedenken gegen die Bildung von Simultanfchulen. Sind die von und
audgefprochenen Forderungen befriedigt, fo braucht der Unterricht in der Phi—
Iologie, Mathematik, der Naturwiſſenſchaften nicht an die confeffionelle Be—
ftimmtheit der Vehrer gebunden zu werden. Auf diefe MWeife wird dad Sn»
tereſſe des Staates, welches nicht auf die Sndifferenzirung, fondern auf die
Milderung der confeffionellen Gegenfäte gerichtet ſein kann, Befriedigung finden.
Auch in anderer Hinfiht müfjen mir diefen Abſchnitt in Anſpruch neh.
men, Erzeugt nämlich wieder von der unzureichenden religiondphilofophifchen
Durhbildung ded Verfaſſers. Oder können wir anderd die Meinung beur-
theilen, daß der Einfluß der Religion, ala einer das Reben umfaffenden und
erhebenden Gemüthskraft abnehme, je mehr der Verſtand dem wiſſenſchaftli—
hen Stoffe zugänglich werde und fi) denfelben aneigne? Wer ein folches
Urtheil zu fällen vermag, weiß allerdings nicht, was Religion ift.
Mas den Abfchnitt von Klöftern, geiftlihen Orden und Congregationen
betrifft, fo machen wir nur auf eine gefchichtliche Unrichtigkeit aufmerkfam.
Dad Kloſterweſen des Abendlandes iſt nicht im erften Jahrhundert durch
Einführung einer geregelten Lebensweiſe geordnet worden, fondern vielmehr
im ſechſten Jahrhundert. Die maßgebende Mönchäregel ded Benedietus von
Nurfia ftammt aus dem Jahre 529.
Indem wir unfer Referat ſchließen, müffen wir von neuem unfer Be—
dauern darüber ausſprechen, daß die Schrift des Verfafferd den Werth, der
ihr mit Rückſicht auf das ſich in ihr bezeugende objective, unbefangene und
meift richtige Urtheil zuerfannt werden muß, dur einen auffälligen Man-
gel auf dem Gebtet religiondphilofophifcher Begründung mefentlich verringert.
Zu einer fyftematifhen Bearbeitung der Religionspolitif fehlen dem Ber:
faffer die nothmwendigen Vorausſetzungen.
Königebergi.P. . 9. Jacoby.
51
Dugenderinnerungen Karl Friedrich's v. Klöden. *)
Unter diefem Titel giebt eine umfangreiche Selbjtbiographie des befannten
Gelehrten und Erziehungs» Direftord Klöden neben dem ehr intereffanten
Rebendgang zugleich ein Kulturbild, das wohl faft einzig in feiner Art dafteht,
denn es beleuchtet und eine Stufe der focialen Gejellfchaft, die fich zu feiner
Zeit jeder anderen Schilderung entzog.
Mir werden in die letten Negierungsjahre Friedrich's ded Großen ein-
geführt. Die glänzenden MWaffenthaten des fiebenjährigen Kriege® haben
Preußen zu einer gefürchteten Macht erhoben, des Königs große Theilnahme
an philofophifchen, wiffenfhaftlichen und fünftlerifchen Beſtrebungen hat dem
jungen Reid neben dem Kriegdruhm auch ein meited Feld geiftigen Wachs—
thums, dad Mirfen großer und bedeutender Gelehrten und Philoſophen
erfchaffen. Aber auf diefem glänzenden Hintergrund entrollt ſich ein Bild
des niederen, ſchwergedrückten Soldaten- und Kafernenlebend, ein Elend des
unteren Beamtenthums, mie es erjehütternder kaum gedacht werden Fann.
Der einzige Sohn eined alten, ypreußifchen, einft reich begüterten Adels—
geichlechte® lebt ald Unteroffizier mit Frau und Kind in der Kaferne Zu
der Sorge um die dürftigite Eriftenz gefellen fich täglich die abſchreckenden
Gindrüde der harten Disciplinarftrafen, durch welch lettere das buntzufammen-
gewürfelte Heer in Zucht gehalten werden fol.
Bid zu welch verzweifelten Schritten die rohen Soldaten ſich oft reißen
liegen, davon erzählt Klöden ein entfegliche® Beifpiel: „Ich war zwei Jahre
alt; meine Mutter trug mich noch auf dem Arm und ging mit mir vom
Georgen-Kirchhof durch den Gang am Hofpitale nach der Randöbergeritraße.
Kaum tritt fie aus dem Gang heraus, fo entdedt fie, nicht 30 Schritte von
fi entfernt, einen Soldaten mit einem langen Meſſer in der Hand, deffen
furchtbar verftörtes Anfeben die heftigite Graltation verrät. Die Straße iſt
auf größere Entfernung menfchenleer, ringdum aber liegen die Bewohner
angftvoll in den Fenftern. Meine Mutter überblidt im Momente den Stand
der Dinge; aus den Fenftern ruft man ihr zu: „Retten Ste fih, retten
Sie fib und das Kind.” Umfehren Fonnte fie nit, ohne den Menfchen
binter fich berzuziehen ; änaftlich wagte fie ed, an den Häufern herzufchleichen,
und flüchtete fih dann in die nächte, offene Hausthüre. Der Kerl hatte fie
wohl geliehen, aber nicht verfolgt. Sie wurde mit einer Art von Jubel
empfangen und erfuhr, daß der Menſch ſchon feit einer Viertelftunde in der
Nähe auf entfeglihe Art geflucht, getobt und fein Meffer auf den Steinftufen
*) Herausgegeben und durch einen Umrig feines Weiterlebend vervollfländigt von Mar
Zähne. Leipzig, Derlag von F. W. Grunow.
52
gewest, auch unter lauten Verwünſchungen gefhworen habe, den Grften
Beiten zu ermorden, weil er feines Lebens müde fe. Jeder habe fich daher
geflüchtet, und man habe nur gewünfcht, daß ihm Niemand in den Wurf
fommen möge, ald zum Schreden Aller meine Mutter mit mir erfchienen fei.
— Kinder Itefen bei folchen Gelegenheiten die größte Gefahr, weil es bei
diefer Art von Leuten ein allgemeiner Aberglaube war: es fei eine geringere
Sünde, ein Kind zu tödten, ald einen Erwachſenen, denn Letzterer fahre in
feinen Sünden in die VBerdammniß dahin, ohne Zeit zu haben, ſich vorher
zu befehren, während ein unfchuldiges Kind fofort ein Engel werde und
jelig ſei.“ —
Died waren die Verhältniffe, in denen Karl Friedrich von Klöden feine
erſten Eindrüde empfing, und immer drücdender wurde die Rage feiner Eltern.
Der Bater ließ fi, durch den Spott feiner Kameraden geftachelt, verleiten,
im Jahr 1792 freiwillig als Lazareth-Commiſſarius mit nah Frankreich zu
ziehen. Gr ward von den Franzofen gefangen genommen, und die Mutter
mit drei Kindern war einen Winter lang ohne Nahriht von ihm und ohne
Eriftenzmittel. Nach feiner Rückkehr z0g er mit der Familie nah Preußiſch—
Friedland, wo er als Wccife-Auffeher angeftellt worden mar.
Hier nun beginnt der eigentliche, bemußte Entwidlungsgang ded Knaben.
Bon den erften Rehranfängen bei der alten, 70-jährigen Schulmeifterin am
Spinnrad, begleiten wir ihn in die höhere Schule zum Rektor, der „den
runden, kahlen Kopf mit einer meißen Zipfelmüte bededit, im weiten, Elein-
geblümten, Fattunenen Schlafrof, der den ftarfen Spitzbauch weit bededte,
und mit Pantoffeln an den Füßen wortlos Schule hielt. Jahr aus, Jahr
ein wurde aus der Bibel vorgeleien, und wenn die Offenbarung Johannis
„fertig“ war, fing der Nächfte ohne Pauſe wieder mit dem erjten Wort des
ersten Buches Mofid an.
Noch zeigt fih nichts von der großen vieljeitigen Begabung bes fünf»
tigen Gelehrten, und die Art des Unterrichts ift nicht dazu angethan, die +
ihlummernde zu weden. Gbenfowenig that er fih anfangs in der Schule
zu Mürkifch- Friedland hervor, in welche Stadt fein Vater als Thoreinnehmer
1796 überfiedelte, und es ift eigenthbümlich, daß erit von einer Krankheit,
den Majern, ſich das geiftige Erwachen und der rajtloje Lerneifer des Knaben
datiren. Biel, faſt das Entjcheidende, trug zu diefem Umſchwung die Lektüre
von Campe's Robinſon Grufoe bei: „Ale Erklärungen verfchlang ich förmlich
und eignete fie mir auf das genauefte an, um fo mehr ald mir diefe Art
von Belehrung völlig neu war; denn außer der mütterlihen hatte ich ja
niemals eine Erklärung erhalten. Die in den Gejprächen vorfommenden
Lehren der Sittlichfeit, des Verhaltend gegen das Lernen und gegen die
Menschen, kurz jede Marime prägte ich mir um fo tiefer ind Herz, als ich
53
ihre Wahrheit und Angemeſſenheit im Innerſten fühlte. Mir ging eine ganz
neue Melt auf, ich hätte jede Scene bis ind Kleinfte malen können; ich Tebte
mit Robinjon, empfand mit ihm, er wurde mein anderes Selbit.“
Und von nun an raftet der erwachte Geift nicht mehr; jeden, auch den
entlegenften Stoff weiß er zu verwertben und feinem Bedürfniß anzupaffen.
Die Schule bot dem Wiſſensdurſt fat Nichts; nur aus fich felbit: und aus
den wenigen Büchern, die in der abgelegenen Stadt, bei den fehr beichränften
Mitteln feiner Eltern ihm erreichbar waren, fonnte der junge Geift Nahrung
ziehn für fein Heranmwachfen. Gin neuer Lehrer weiß endlich den lernbegierigen
Schüler auf neue Gebiete zu führen, feinen Gedanken neuen Inhalt zu geben,
aber noch immer bleibt die eigene, innere Arbeit an fich felbft da® bewegende
Element feiner Entwidelung. Er beginnt für fi) dad Studium der Mathes
matif, fucht fi im Zeichnen immer mehr zu vervollfommnen und lernt ohne
Lehrer die Flöte blafen.
Während fo fich dem 13-jährigen Knaben ein ſchöner, vielverheißender
Horizont Öffnet, freilich mit der traurigen Gewißheit, daß er feinen ſehnlichſten
Wunſch, zu ftudiren, niemals wird erfüllen fönnen, wird das Leben zu Haufe
ein immer drüdendered, Der Vater ift durh den Trunf moralifch tief ge—
funfen, die Familie verarmt gänzlich, trog Fleiß und Sparfamfeit der Mutter,
die beiden jüngiten Geſchwiſter erliegen in einer Woche einer herrſchenden
Podenepidemie. In all diefem Elend, neben dem an Charafter-Schwäche
untergebenden Vater, tritt und nur eine Richtgeftalt entgegen: Die Mutter.
Die Mutter ift e8, die dem Sohne die dürftige Kindheit erhellt, die ihn auf-
muntert und anfpornt in feinem Streben nad Kenntniſſen, die den Kindern
auch in bitterer Armuth durch aufopfernden Fleiß, durch liebliche Erzählungen
und Kieder das Chriftfeft zum fchönften Tag des Jahres weiht, die den Sohn
auszuſöhnen fucht mit feiner dur die Noth gebotenen KXebenäftellung als
Goldſchmied-Lehrling. Und wenn fpäter, da der Gelehrte auf der Höhe feines
Wirkens fteht, die Frage und nahe tritt: Warum Hält der Naturforfcher fi
fern von jener Richtung, die unter dem Einfluß von Voltaire und Roufjeau
und auf Grund eben der Naturwiſſenſchaften die Rückkehr erftrebt zur Natur,
die den Bruch mit der Gultur und ftatt der chriftlichen dee die natürliche
Bernunft auf ihre Fahne ſchreibt? Warum bleibt der Fünftlerifch begabte
Geiſt, der jeden neugebotenen Stoff fi fo fruchtbringend anzueignen weiß,
unberührt von der Sturm» und Drangperiode unferer Literatur, die, fih an-
lebnend an die neue Philojophie, alles bisher Gültige niederzureigen ftrebt?
Dann haben wir wohl zur Erklärung den fehr natürlichen Widerftand des
Autodidaften, der ſich das nicht nehmen läßt, was er felbft fih jo mühſam
erjt erwerben mußte, während e8 anderen leicht entgegengebracht worden; aber
es taucht doch dabei immer wieder die Geftalt der Dlutter auf, die dem Kinde
54
fromme Lieder fingt und ihn lehrt, die Welt anzufhauen im Sinne des
Wortes, das er fpäter fo gerne gebraucht: „Groß find die Werke de Herrn !
Mer ihrer achtet, hat eitel Luſt daran.”
Es bietet einen eigenthümlichen Reiz, diefem Werden des Charafterd, diefem
Emporfteigen des Wiffend zu folgen, dad von Stufe zu Stufe, über die wider:
wärtigften Hindernifje zu freier wifjenfchaftlicher Arbeit und Forfhung drängt.
Als Goldarbeiter fommt der Züngling zu feinem Onkel nad) Berlin und
wiederholt franzöfifche VBocabeln, während er in der dunfeln Küche mit unzu-
reihendem Werkzeug die Handgriffe feiner Kunft lernt und zugleich das bro-
delnde Mittagseſſen auf dem Kochherde überwahen muß. Sonntagd auf
dem Hausboden, wo fein Bett und feine Kiſte neben dem auffteigenden
Schornjtein ftehen, mo auf der einen Seite die Brennmaterialien ded Haus—
halted liegen, auf der andern naſſe Wäfche zum Trocknen hängt, treibt er
Algebra, Logik, Gefchichte.
Hören wir, was er von feiner damaligen Rage erzählt:
„Unterdeffen rüdte der Winter heran und mit ihm neue Plage. Noch
immer war idy Lehrburſche, Hausknecht, Bedienter, Dienftmädchen, Küchen»
magd in einer Perfon. Als nun die Tage kalt wurden, Eonnte ich nicht
mehr auf meinem lieben Boden fihen und verlor damit meine Sonntagder-
bolungen ; zudem mußte ich jest auch die Defen heizen und Abends vorher
mir das Holz dazu beforgen und Klein baden, ſowie den Torf und die Koh.
len berbeifchleppen. Ich durfte des Abends Fein Licht auf den Boden nehmen,
fondern mußte mid im Finftern an» und auskleiden. Das hätte wenig ger
ſchadet, aber ich fehlief nicht viel beffer ald im Freien. Wenn es ſchneite,
mußte id den Schnee von Kopfkiffen und Dedbette abſchütteln; bei ftarfer
Kälte fror das Bette vor meinem Munde fteif. Dad Schlimmite aber waren die
Zeiten, wo der ganze Boden voll naffer Wäfche hing, durch welche ich mich im
Finftern oft kaum hindurch finden konnte und dann während ded Schlafes
von ihr rings dicht umgeben war. Bei naffer Witterung hing die Wäfche oft
wochenlang, ehe fie trodnete, und fo lange hatte ich die Bein, fo zu ſchlafen.“
Wahrlich, e8 gehört eine ungewöhnliche Ausdauer, ein unerfchütterlicher
Lebensmuth dazu, aus ſolchen Verhältniffen fi empor zu arbeiten |
Mir folgen ihm in feinem Studium der franzöfifhen und italienifchen
Sprade und Geometrie; in allen diefen Fächern, die er nur in den fehr
fnapp gebotenen Mußeftunden üben darf, kommt er rüftig vorwärtd. Dann
thut er, durch feine Gefchiclichkeit im Zeichnen ermuthigt, den erften Schritt
zur Verbefferung feiner Yage und wird Graveur. Bon da an geht e& ftetig
vorwärts: der Graveur wird Schrift- und Kupferftecher, und diefe Beſchäftigung
führt ihn zu dem Fach, in dem er jo Großes leiften und Ruhm und Ehre
gewinnen follte, zum Stechen geographijcher Karten.
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Set lieſt es fich glatt meiter, das fchöne, fo reichlich verdiente Vorwärts—
fommen, wie Klöden fi durch Mufikunterricht befjern Berdienft erwirbt, wie
er Freunde findet, die fein Streben fördern. Seine forgfältigen geographifchen
Pläne führen zur Verbindung mit der Schropp’'ihen Buchhandlung und
machen feinen Namen ſchon befannt; er heirathet, wird Kehrer am Plamann-
ſchen SInftitut und mit der Begeifterung für die Sache des Vaterlandes, die
Befreiung vom wälſchen Joche, für die auch er thätig wirkt, fteigt fein Ruhm
glänzend empor, weit über die Grenzen ſeines Baterlanded. Da er jhon
Familienvater ift, erreicht er endlich die Erfüllung feines Herzenswunſches und
fann ſich auf der Univerfität ald Student in die Negifter aufnehmen lafjen.
Und wenn wir ihn jest auf feiner ſchönen Zaufbahn weiter folgen, ihn
geehrt und ausgezeichnet ſehn von wiſſenſchaftlichen Größen, geliebt von den
Freunden und in der ehrenvollen Stellung, fein allſeitiges Wiſſen für eine
neue , babnbrechende Stiftung der Jugenderziehung zu verwerthen, da müſſen
wir wohl mit einftimmen in das Staunen ded Schwiegervaterd, von dem
Klöden mit Behagen erzählt: „Er hatte feine Tochter einem Graveur gegeben,
und nun follte fie mit einem Mal die Frau eined Seminardireftord fein.”
Was von da an Klöden ald Lehrer und Bildner der Jugend gewirkt,
da® darf niemald vergeffen werden. Er war einer der Erften, der die Er:
fenntniß, daß nicht auf dem Studium der alten Sprachen allein, fondern
hauptiählih auf dem lebendigen Erfaffen und Verftehn der Natur die höhere
Volksbildung fußen muß, zur praftifchen Ausführung brachte. Er war für
Preußen der Gründer der Nealfchule, der erſte Pädagog, der den erzieherifchen
Einfluß der eraften Wiſſenſchaften richtig erkannte. Und wie der 14 jährige
Knabe einft das tieffinnige Geheimniß der Dreieinigfeit fi) und Andern durch
die fiht- und greifbare Anjhauung des Dreiecks und feiner Gefege klar zu
machen ſuchte, fo iſt des Lehrers Grundſatz, daß nur die Anfchauung, die
richtige Erfafjung des Gegebenen den Lehrſtoff zum geiftigen Eigenthum des
Schülers machen fann, und fo vertritt auch noch in fpätern Jahren in der
anfhaulihen Vergleihung mit einem halb verwifchten Delgemälde der Ge-
ſchichtsſchreiber Klöden die Berechtigung der Geſchichtsforſchung, verwiſchte
Linien zu ergänzen, verblaßte Farben wieder aufzufrifchen.
So tritt und der Mann entgegen, der dem Geifte feiner Zeit eine neue
Richtung geben half und doch durchaus aud ein Kind diefer Zeit war; denn
wenn ed wahr ift, daß nur ein ungewöhnlich ftarfer Charakter fich durch die
traurigen Hemmnifje zu feiner jhönen Reife entwideln Fonnte, fo ift e8 doch
niht minder wahr, daß gerade diefe widrigen Verhältniffe und die daraus
entfpringende Nothwendigkelt, alle Kraft zu entwideln in ihrer Bekämpfung,
den Charakter zu dem gemacht, was er gemorden.
Dem Herausgeber aber fagen wir unfern Danf, daß er ein Buch, das
biöher nur werthvoller Familtenbefig geweſen, der Deffentlichkeit übergeben und
mit pietätvollen Worten begleitet hat. Haben wir doch aus dem Werf Fennen
gelernt, den fennen zu lernen immer wieder erfreut, fei ed nun, daß er und
perfönlih im Wirklichkeit oder aus vergilbten Blättern entgegentritt: Einen
tüchtigen Menfchen und ganzen Mann.
Dieje Zeilen gehen hinaus Angeſichts des Jubeltages, an dem Klöden's
bedeutendfted Werk, die Friedrichs-Werder'ſche Gewerbſchule in Berlin ihr
fünfzigjähriges Beftehen feiert. Möchte diefer Tag dazu beitragen den „Jugend—
erinnerungen“ des theuren Mannes, die der Enkel mit einem Umriß feiner
fpäteren Tage ergänzt hat, die danfbare Aufmerkjamfeit des Vaterlandes zu:
jumenden. B.
sin WMuſtexſtück bonaparkiſtiſcher Propaganda in
Frankreid).
Paris, 27. Sept.
Der Bonapartiömus ift in Frankreich wieder eine Macht gemorben.
Zum Verftändniß diefer Erjcheinung wird die Mittheilung des folgenden
Schriftitüds beitragen, dem eine äußerft geſchickte Mache nicht abzufprechen
ift und welches außerdem, was die Frage nad) der Schuld des franzöfifchen
Volkes am Krieg gegen Deutjchland betrifft, ebenſo überſichtlich als wahr:
heitögetreu ein ſchätzbares Material zufammenftellt. In diefer doppelten Ber
ziehung hoffen wir durch das Intereſſe des Leferd für die mechanijche Arbeit
der Ueberfegung des umfangreihen Schriftſtücks entſchädigt zu werden.
Dasſelbe ift am 26. Sept. d. J. im „Drdre“ erfchienen, dem bonopar:
tiſtiſchen Hebblatt von Paris, dad zwar wenig Abonnenten, aber fehr viele
Leſer zählt, da es mit reichen Mitteln aus dem Chislehurſter Preßfond ver:
fehen, in großen Mafjen umſonſt colportirt und ausgetheilt wird. Nament-
lich gejchieht da8 mit Nummern, wie die vorliegende, welche befonderd mid)
tige Artikel enthalten. Der politifhe Direktor des Blattes ift ein bonapar-
tiſtiſches Blaublut, der befannte Herr Vagué de la Fauconnerie. Er bat aud
dag fragliche Schriftitük verfaßt, um ſich durch dasfelbe den Weg zu einem
Sig im Confeil General des Cantons de Nocd (Orne) zu bahnen bezw. feinen
republifanifchen Gegencandidaten zu vernichten. Deshalb trägt es auch den
Charakter eined „Offenen Briefe” an den Ießteren. Diefer „offene Brief“
lautet:
Mein Herr!
Sch meiß, daß man, um meine imperialiftifhe Candidatur zu be-
kämpfen, die Ihrer republikaniſchen gegenüberfteht, in unferem Lande
wieder alle jene Berläumdungen und Rügen audzubreiten begonnen hat, welche
bemweifen follen, daß das Kaiferreich die Urfache all unfrer Niederlagen fei.
Deshalb Halte ich es für meine Pflicht, Ihnen gegenüber Eurz feitzuftellen :
1. dag nicht das Kaiferreih den Krieg gewollt hat.
2. dag niht das Kaiferreih die Schuld trägt, wenn wir
nicht bereit waren.
3. daß man niht dad Kaiferreih für den Berluft zweier
Provinzen und die außerordentlihden Summen, die und der
Krieg gefoftet, verantwortlih machen kann.
4. daß Sedan der edelfte Akt des Lebens Napoleon's II ift.
Ich habe die Ehre, Ihnen diefe Notiz zu überfenden, indem ich Sie bitte,
diefelbe mit forgfältigfter Aufmerfamkeit zu Iefen. Wie Sie leſen werben,
bringe ich nicht Worte, fondern Thatfachen zum Beweis. Nun, ich fordere
Sie auf, die Wahrheit einer einzigen diefer Thatfachen zu beftreiten und biete
Ihnen in diefer Hinfiht eine Wette von 25000 Franks gegen 25000
Sous zum Beiten der Armen ded Cantons. Und nit nur Ihnen,
fondern allen franzöfifchen Republifanern biete ich diefe Wette. Empfangen
Ste, mein Herr, die Verfiherung meiner Hochachtung.
Vagué de la Fauconnerie.
Dieſen offnen Brief — die durchſchoſſen gefesten Worte find im „Drdre”
mit Riefenlettern gedrudt — hat der Verfaſſer folgende auch ald Brofchüre
für die Wähler gedruckte Abhandlung beigefügt:
j An meine Wähler!
Man hat gewagt, Euch zu fagen, daß das Kaiferreich den Krieg gewollt
habe. Ich antworte: das ift eine Rüge! Nein, das mar nicht der Kaifer,
denn er hat fi von Drouyn de Lhuys, feinem alten Minifter getrennt, weil
diefer den Krieg wollte. Dad war nicht der Kaifer, denn einige Zeit, bevor
der Krieg audbrah, hat er Preußen eine gegenfeitige Entwaffnung vorge:
ihlagen. Das war nicht der Kaifer, denn in feiner Nede an den Bräfidenten
ded Geſetzgebenden Körperd hat er im Moment feined Abgangs zum Heer
gefagt: „Wir haben Alles gethan, was von und abhing, um den Krieg zu
vermeiden, und id; kann fagen: es ift die gefammte Nation, melde in
ihrem unmwiderftehlihen Elan unferen Entſchluß dictirt hat.
Anderfeitd braucht Ihr, um zu willen, was in diefer Hinficht die öffent-
ide Meinung mar, nur einen Bli auf die Zeitungen, felbit auf die dem
Kaiferreich abgeneigteften, zu werfen. |
Die „Liberté“ 3.8. fagte: „Wir haben feit einigen Tagen nicht ab»
Grenzboten IV. 1574, , 8
58
gelaffen, den Krieg zu fordern. Und aus unferer Seele heraus und des Ge-
wifjend wegen erklären wir, daß wir dabei der Pflicht gehorchten, welche die
MWürde und die Ehre Frankreichs vorſchrieb!“ —
Die „Preffe* fagte: „Die Kriegärufe, welche geftern auf unfern Boule-
vard® ertönten, erfüllen jest ganz Frankreich und unterftügen unfere Armee
in dem Heldenfampf, zu welchem die Frechheit Preußend und heraugfordert.
Der Entfhluß zum Krieg geht niht von der Regierung auß,
er entftammt den Eingemweiden ded Landes!“
Der „Univers“ (da8 Elerifal-Tegitimiftiihe KHauptblatt Frankreichs)
fagte: „Der Krieg, in den wir eintreten, ift für Frankreich weder das Werk
einer Partei, noch ein ibm von der Regierung auferlegted Aben—
teuer: die Nation gibt fih ihm hin mit vollem Herzen!“
Der „Soir” fagte: „Nicht der Katjer Napoleon III. hat den gegen-
wärtigen Krieg erklärt, wir find e®, die feine Hand genöthigt
haben!“ —
Molt Ihr noch einen andern Beweis dafür, daß die Regierung nur
dem allgemeinen Gefühl folgte, das ſich aufs deutlichite Fundgab? hr
folt es haben! Hier, was der englifche Gefandte an feine Regierung
fchreibt: „Die Erregung des Publikums und die Gereiztheit des Heeres find
derart, daß ed immer zweifelhafter wird, ob die Regierung dem Gefchret nach
Krieg widerftehen Fann. Man fühlt e8, dag man gezwungen fein wird, die
Ungeduld der Nation zu befhmwichtigen, indem man bündig die Abſicht er—
Eärt, die Haltung Preußens zu züchtigen.” —
Wer den Krieg wollte, da® waren die Preußen (?! d. Red.). Sie waren
bereit und hätten eine Gelegenheit entitehen laffen, gleichviel welche, wenn fie
ſich ihnen nicht geboten hätte.
Wer den Krieg wollte, dad waren die Leute der Oppofition, melde um
jeden Preis einen Vorwand ſuchten, um die Regierung zu fritifiren, und
welche unaufbörlih, auf den oft blinden Patriotismus der Maffen rechnend,
um fih populär zu madhen, von der Shmah Sadowas und der
Nothwendigkeit einer Rache hiefür redeten.
Mer den Krieg wollte, da® waren die Schreier in Paris, welche die
Marjeillaife heulten und a Berlin brüllten, ehe fie felbft wußten, worum es
fih handle!
Mer den Krieg wollte, dad war, mit einem Wort, alle Welt, und
wenn Shr Euch davon überzeugen wollt, fo braucht Ihr nur nod einen Blick
auf die Zeitungen von damals zu werfen, felbft auf die notoriſch der Perſon
des Kaiferd und feiner Regierung feindlichiten. Der „Rappel“ z. B., das
Blatt Victor Hugo’d, ded nämlichen, der heute alle Verantwortung für
unfere Niederlagen auf den Kaifer wälzt, fchrieb, wie folgt: „Die Hohen»
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zollern find in ihrer Kedbeit fomeit gekommen, daß fie an die Weltherrſchaft
zu denfen wagen, von der ein Karl V., ein Ludwig XIV., ein Napoleon ver:
geblidy geträumt haben. E3 genügt ihnen nicht mehr, Deutſchland erobert
zu baben, fie trachten, Europa zu beherrfhen! Es mird für unfer Beitalter
eine ewige Schmach fein, daß diefer Plan, wir fagen nicht ausgeführt, nein
ſchon, daß er überhaupt gefaßt wurde!”
Der „Soir*, das Blatt ded Herrn About, der heute feine Gelegenheit
verfäumt, und täglich zu befehimpfen, fchrieb wie folgt: „Wie, man follte
Preußen geftatten, einen Proconſul an unferer ſpaniſchen Grenze einzufegen !
Dann find wir achtunddreißig Millionen Gefangene!“
Der „ Gauloid“, der damald der Regierung heftige Oppofition machte,
ihrieb: „Wenn e8 dem autofratifhen Kaiſerreich gefallen Hat, ſich
Sadomwa bieten zu laffen und ſich über die Luxemburger Angelegenheit zu
tröften, fo fann doch das liberale Franfreih nimmer ertragen, daß man
ihm trogt und es ungeftraft heraudfordert. Die Regierung kann, ohne Frank»
reich zu verrathen, feinen Tag mehr die preußifchen Unverſchämtheiten
ertragen.“
Der „Figaro“, der niemals einer großen Anhänglichfeit an die Sache
und die Perfonen de3 Kaiferreih8 angeklagt worden war, fagte: „Frankreich
kann mehr fordern ald die Zurüdmeifung der Gandidatur des Prinzen von
SHobenzollern. Es fieht fih von Preußen geprellt, betrogen! Unfere Re
gierung muß Bürgfchaften fordern und kann auf die Unterftüßung des
Landes rechnen!“
Sin der „Liberte” fohrieb Herr Girardin: „Machen mir ein Ende!
Preußen wird nur der Furcht weichen! Nehmen wir eine energifhe Stellung
ein, die einzige, die Frankreich geziemt, und wenn Preußen vermeigert, fich zu
jchlagen , fo wollen wir ed mit Kolbenfchlägen über den Rhein werfen und
das linfe Ufer einnehmen!“
Der „Univers“ fagte: „Vorwand oder Grund, die Belegen.
heit ift gut für den Krieg. Frankreich kann nicht zugeben, daß fi
Preußen noch mehr vergrößere. Um das zu hindern, muß man e8 Fleiner
machen!” —
Die fämmtlihen Zeitungen aller Färbungen fprachen fo, und ich zweifle,
dag man mir auch nur eine nennen kann, die eine andere Sprache geführt
hätte, von der rötheiten bis zur meißeften.
Über, meine Herren, e8 gab Einen, der weniger begeiftert war, ala alle
Welt, Einen, welcher traurig und ahnungsvoll al diefe Großiprechereien und
Herausforderungen anhörte. Dad war der Kaifer! Obwohl er fich durch
diefe öffentlihe Meinung, der er nicht widerftehen konnte, geftärft fühlte,
wußte er Doc nur zu gut, daß Preußen furdtbar gerüftet war und daß
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deöhalb der Krieg große Gefahren bieten würde. Wer das bezmeifelt, dem
empfehle ich die forgfame Xectüre der Proclamation des Kaiferd an die Armee:
„Soldaten, ich tele mid) an Eure Spite, um die Ehre und das Heil des
Baterlanded zu vertheidigen. hr werdet eine der beften Armeen
Europas befämpfen. ... Der Krieg, der jest beginnt, wird lang und
ſchwierig fein. Ganz Frankreich begleitet euch mit feurigen Wünfchen, und
die Welt richtet die Augen auf eu! Bon unferem Erfolg hängt dad Loos
der Freiheit und der Givilifation ab! Soldaten, thue jeder feine Pflicht, und
der Herr der Heerfchaaren wird mit und fein!“ —
MWahrhaftig, nicht der Kaifer ift e8, der den Krieg gewollt hat! Er
war damald ſchwer von der Krankheit heimgefuht, die er tragen mußte, er
wollte und Fonnte nicht? wollen ald den Frieden. Und andererfeitö, man
ftand hart hinter dem Plebiscit von 1870. Sehr naiv in der That oder
vielmehr ſehr unverfhämt find alle diejenigen, welche behaupten, der Kaiſer
habe damals des Preftiged bedurft, das ihm der Sieg hätte verfchaffen können!
Wie? War denn nicht die Kraft des Kaiferreichd foeben durch mehr ala
7 Millionen Stimmen, durch Eure Stimmen, meine lieben Freunde, beftätigt
worden? Und dad fol der Augenblid fein, den Napoleon III. gemählt
hätte, um fi aus freien Stüden in die Abenteuer eined Kriegd zu flürzen,
er, der franfe Mann, mie ic Euch eben erinnerte, und während fein Sohn,
fein inzwifchen zum Mann gereifter Sohn, noch ein Kind war, und während
er, der Kalfer, wußte, da wir zum Kampf mit Preußen nicht bereit waren!
Sa, wir waren nicht bereit.
Und man hat Eudy gejagt, auch daran fei der Kaifer ſchuld. Das ift
die zweite Rüge. Wenn wir nicht bereit waren, fo liegt der Fehler nicht am
Kaiſer, welcher, ſchon 1867, in feiner Rede bei Eröffnung der Kammern
fagte: „Der Einfluß einer Nation hängt von der Anzahl Menfchen ab, die
fie bewaffnen kann.“ —
Der Fehler liegt auch nicht an feinen Miniftern. Im Jahr 1868 fagte
Marſchall Niel, welcher beftändig die DOrganijation der Miobilgarde forderte,
in der Kammer: „Sch bin überzeugt, daß Sie in Kurzem es bitter beklagen
werden , diefe Inftitution angetaftet zu haben“, und meiter: „Sie machen
mir meine Aufgabe unmöglid. Wenn idy die Miffion, die Armee zu reorga-
nifiren, die mir der Kaifer anvertraute, aufnahm, eine Miffion, deren Erfolg
ich für gefichert halte, wie können Sie mir die Dinge verweigern, die ich ale
nothwendig betrachte?“ — Ab, Ihr mwißt, wie diefer arme Marſchall
vor Kummer ftarb ohne felbit erlangt zu haben, daß man die Mobilgarde
im Gebrauch der Feuerwaffen und bei den Mandvern übte! Hört weiter,
was andererfeit® Rouher gejagt hat: „Preußen Fann in gewiflen Wällen
über eine Million dreimalhunderttaufend Mann verfügen. Ohne Zweifel
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fann Franfreih mit 800,000 guten Soldaten diefer Militärmacht miderftehen,
aber man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß zwiſchen dem Effektivftand
auf dem Papier und in der Wirklichkeit bei und ein großer Unterſchied be-
ſteht.“
Endlich hört, was die Abgeordneten der Rechten, wie der Graf La Tour,
ſagten, indem fie die Oppofition anflehten, die Augen aufzumachen: „Es iſt
nothwendig, unſere Kräfte zu vermehren und beſtändig auf Preußen zu achten.
Es verfügt über eine Million dreimalhunderttauſend. Wir müſſen alſo für
das Geſetz ſtimmen und, um unſere Pflicht als Franzoſen zu thun, dem Lärm
der Wahlkörper, mit dem uns die Oppoſitionsblätter drohen, die Stirn
bieten!“ —
Wer alſo war ſchuld, daß wir nicht bereit waren? Die Republikaner,
die Abgeordneten der Oppoſition. Ich wollte, ich könnte Euch ihre ganzen
Reden citiren. Aber es werden auch einige Auszüge hinreichen, um Euch zu
beweiſen, welche verhängnißvolle Rolle jene Leute geſpielt haben, die heute
unverſchämt genug find, dad Kaiſerreich des Leichtſinns und der Sorgloſigkeit
anzuklagen.
Herr Jules Simon z. B., ein Mann des 4. September, hat gejagt
— und dad genügt, um all feine Reden zufammenzufaflen —: „Sch hoffe,
man wird und eine Gerechtigkeit nicht verfagen, die nämlih, daß man und
jeded Mal, wenn ed galt, den fogenannten bewaffneten Frieden zu organifiren,
bereit fand, alle Maßregeln zu durchkreuzen, die zu diefem Ziel führen follten.”
Herr E. Picard, ein Mann des 4. September, fagte: „Man fagt ung,
ed feien 800,000 Dann nöthig. Seit warn fpriht man in Frankreich diefe
Sprade. Seit wann darf man öffentlih fagen, daß wir folche Vorfihts-
maßregeln brauchen, nicht nur um unfere Grenzen zu vertheidigen, fondern
auch, um unfere Unabhängigkeit zu wahren? Nichts rechtfertigt diefe über-
triebenen Rüftungen, melde das Land vernichten!" —
Herr J. Favre, ein Mann de 4. September fagte: „Man verfichert
und, Frankreich müfje wie feine Nachbarn bemaffnet fein; feine Sicherheit
hänge davon ab, daß ed befeftigt und bepanzert fet, daß ed in feinen Maga-
zinen Haufen von Pulver und Kartätfchen habe, daß ed ohne dad Gefahr
laufe zu verderben. Mein Gewiſſen protejtirt gegen foldhe Vorlagen. Was
fürdhtet man denn? Denken denn die 40 Milltonen Deutichen daran, und
anzugreifen? Warum führt man beftändig vor der Kammer died Phantom
Ipazieren, welches zu nichts führt und das Land ruinirt.“
Herr Garnier Pages, ein Mann des 4. September fagte in feiner
Erwiderung auf die Botſchaft des Kaiferd, melde die Drganifation der
Armee begehrte: „Der Einfluß einer Nation hängt von ihren Grundfäten
62
ab. Die Armeen, die Flüffe, die Gebirge, die Feftungen, ihre Zeit ift vorbei!
Die wahre Grenze ift der Patriotismus!“
Herr Magnin, ein Mann des 4. September, fagte: Die ftehönden
Heere find in der Theorie gerichtet und verurtheilt. Die Zufunft gehört der
bewaffneten Demokratie. Das Geſetz, das und vorliegt, hat nur die Abſicht
und wird auch feinen anderen Erfolg haben, als unfere Kraft noch zu ver
mehren und unfere Finanzen zu fchwächen. Sich weiſe das Geſetz zurück, meil
ed die Nation überbürdet, weil es amtidemofratifh, weil es gegen die
„Gleichheit“ (antiegalitaire) ift.“
Herr v. Keratry, dedgleihen ein Mann ded 4. September fagte
einige Tage vor Eröffnung der Kammern bezüglich der Linie: „Der Minifter
fordert no died Jahr 400,000 Mann, welche 370 Millionen koſten werden.
Das tft zu vie. Warum eine fo große Armee? Offenbar im Hinblid auf
den Norddeutihen Bund. Nun, das Heer diefed Bundes, das preußiſche in-
begriffen, beziffert fih nur auf 299,000 Dann und Eoftet faum 254 Dlillion,
das find 100,000 Mann und 116 Million weniger ala bei und, Wlan bat
die Refrutenzahl unferes Heered von 100,000 auf 90,000 Mann berabgefett ;
dad genügt niht. Man muß fie auf 80,000 herabfegen, um zum normalen
Gontingent von früher zu gelangen.“
Endlih Herr Thierd, der doch feitdem ſchon ald Prophet gilt, hat
gefagt: „Man zeigte Ihnen letter Tage die Ziffern 1,200,000. 1,300,000,
1,500,000. Soviel Mann könnten die einzelnen Mächte unter die Waffen
bringen. Nun, diefe Ziffern find völlig chimäriſch. Preußen würde und nad)
dem Herrn Staatdminifter 1,300,000 Mann entgegenftellen. Aber ich frage,
wo hat man diefe furchtbaren Streitkräfte geſehen? Wieviel Mann hat
Preußen 1866 nah Böhmen geworfen? Etwa 300,000 Mann. Man darf
fih auf dieſe Phantafiegebilde von Zahlen nicht verlaffen. Das find Fabeln,
welche nie einen Schein von Wirklichkeit hatten. (Großer Beifall.) Alſo fei
man verfichert, daß unfere Armee genügen wird, den Weind aufzuhalten.
Hinter ihr wird das Land Zeit haben, ruhig feine Reſerven zu fammeln.
MWerden Sie nicht immer 2 oder 3 Monate, d. h. mehr als nöthig fein wird,
Zeit haben, die mobile Nationalgarde zu organifiren, und fo den Eifer der
Bevölkerung zu benugen? Außerdem werden die Freimilligen zuftrömen. Sie
haben lange nicht genug Vertrauen zum Lande!” —
Nun meine Freunde, ich denfe das genügt, um zu zeigen, wer und
eigentlich gehindert hat bereit zu fein, und daß das ficher nicht die Negierung
war; denn fie hat, unaufhörli auf die Gefahren hingewieſen, und Ber-
beflerungen begehrt, während die Oppofition ebenjo unaufhörlich blind war,
und Alles verweigerte, was zur Reorganifation der Armee dienen konnte.
Drittens fagt man Euch, den Kaifer müfje auch die Verantwortlichkeit
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treffen für den Verluſt der zwei Provinzen, und der riefigen Summen, die und
der Krieg gefoftet hat. Das ift noch jo eine elende Verleumdung. Am
4. September 1870 war nichts verloren; wir Eonnten mit 2 Milliarden
Kriegdentfhädigung davon fommen, dad erhellt aus officiellen Schriftitüden,
und namentlich au der Ausſage ded Herrn Thierd vor der Unterſuchungs—
commiffion. Nachſtehend, was er in der That am 30. Detober 1870 den
Regterungdmännern der nationalen Vertheidigung gefagt hat: „Wenn ih
Ihnen einen Rath geben fol, fo nehmen Sie den Waffenitillitand, felbit ohne
Neuverproviantirung an, um eine Afjemblee in Fürzefter Frift einberufen zu
fönnen und, mit Hülfe derfelben, zu Friedendunterhandlungen zu gelangen.
Sch glaube nicht, daß die Lage ded Landes und der Armeen derartig fei, daß
die Fortjegung ded Kampfes zu einem guten Ende führte Heute würde
Ihnen der Friede das Elſaß und 2 Milliarden Eoften, Später, ganz abgejehen
von den Uebeln und den Leiden des Krieged, Elſaß, Lothringen und
5 Milliarden. (Enquöte parlamentaire sur les actes du gouvernement de
la defense nationale. Rapport Daru p. 271.) Und am 20. November er-
neuerte Herr Thierd die nämliche Erklärung, indem er zu Herrn Jules Favre
fagte: „Heute glaube ih, daß wir den Frieden zu folgenden Bedingungen
erlangen: das Elfaß und 2 Milliarden. Später werden wir neue und be
trächtlichere Werlufte erleiden. Die Deutfchen werden gewiß das Elſaß,
Lothringen und 5 Milliarden verlangen. Unter diefen Umftänden halte ich
es für beffer, den Frieden jest anzunehmen.“ (Deposition du general Ducrot
p. 12.)
„Um diefen Preis hat man die Narrheiten Jules Favre's, Jules Simon's
und Underer bezahlt, welche das SKaiferreich in den Krieg trieben, nachdem
fie die Entwaffnung des Landes durchgefegt hatten. So paßte e8 dem Herrn
Gambetta und feinen Mitfchuldigen in den Kram, welche vor Allem nad) der
Macht ftrebten, und dann aud den Krieg verlängerten, aber ſich fern von
den Schlachtfeldern hielten, weil fie wohl wußten, daß all das nur unfere
Leiden und Niederlagen vermehren müſſe. Deshalb Haben fie Eure Kinder
auf die Schlachtbank geſchickt mit Sohlen aus Rappdedeln, mit Mänteln aus
Fliespapier, und mit Gewehren ohne Schlöffer, während fie felbit in den
Präfecturen ſich's wohl fein ließen. Das ift die Wahrheit der Gefchichte,
und diefe Gefchichte, Ihr kennt fie fo gut wie ich felbit, Ihr habt fie gefehen,
Ihr habt darunter gelitten, ift die republicanifche Geſchichte!
„Endlih wagt man Euch zu fagen, der Kaifer fei bei Sedan feige ge:
weſen. Um diefe elende und gehälfige Erfindung zurückzuweiſen, beſchränke
ih mich darauf, bier eine Stelle aus der volfäthümlichen Brofchüre des Herrn
Perron wiederzugeben, welche den Titel trägt: „Das haben fie gelogen!” Es
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find Thatfahen und nicht Worte, welche man den Verleumdungen Napo—
leon's III. entgegenfest:
„Trotz der inftändigften Bitten mehrerer Generale fi zu entfernen,
wollte der Kaifer das Loos feiner Armee theilen, mit ihr fiegen oder ſter—
ben. Er begnügte fi, feinen Sohn abreifen zu laflen, damit wenn er felbit
fiele, Frankreich fih no um den Sproffen der einzigen Dynaftie, meldhe
populär geblieben ſei, fammeln Fönne. So lange diefer ſchändliche Kampf
währte, blieb der Kaifer inmitten feiner Soldaten, mit Wort und Beifpiel
fie ermuthigend, und mie Napoleon I. bei Waterloo vergeblih die Kugel
begehrend, die ihm geftatte, feine Niederlage nicht zu überleben. Man frage
die Dfficiere und Soldaten, welche diefen blutigen Tag mitgemacht, alle mwer-
den bezeugen, daß der Kaifer beftändig in der dringenditen Gefahr war, und
dem Tod mit jenem falten ruhigen Muth troßte, den er bei Magenta, Sol.
ferino und vor den Kugeln, Bomben und Dolchen der Mörder gezeigt hatte.
Mehrere feiner Adjudanten wurden an feiner Seite verwundet, er war fogar
genöthigt in einem Augenblid, al® der Kartätfchenhagel rings um ibn ber
die wildeiten Verheerungen anrichtete, den Dfficieren feined Gefolgeö zu be-
fehlen, Hinter einer Terrainfpalte Schuß zu fuchen, während er felbit allein
blieb, zu Pferde, inmitten dieſes eifernen Hageld. Zeugen hierfür giebt es
im Ueberfluß, nennen wir zuerft den tapfern und treuen General Pajot, den
Flügeladjudanten des Kaifers, der den ganzen Tag feinen Augenblick von
feiner Seite wid. Er erzählt: „Ed war um 5 Uhr früh, ald der erfte An—
griff von Bazeille ftattfand. Unter dem Feuer des Feindes kam der Kaifer
inmitten jener ſchönen Divifion Marineinfanterie an, welche der General
Bafjoigne befehligte. Der Kampf war lebhaft, denn die preußifche Garde (!)
und ein bairiſches Corps waren darauf verfeflen, dad Dorf zu nehmen. Der
Kaijer mochte Stunde gemeilt haben. Als er fah, daß die Geſchoſſe von
allen Seiten heranflogen, befahl er den Officieren, die ihn begleiteten, bei
einem Jägerbataillon zu bleiben, das Hinter einer Mauer Deckung gefucht
hatte und den Augenblid erwartete, mo es in den Kampf eintreten follte. —
Der Kaifer ging dann ohne Begleitung, weil er felbit die Stellungen ſehen
wollte, noch weiter vor, und von feinem Flügeladjudanten, d. h. von mir,
dem Capitain Hendecourt ald Ordonnanzofficier (er fiel), dem erften Stall-
meifter Davillierd, und dem Dr. Corvifart gefolgt. Dann begab fi Seine
Majeftät auf eine Höhe, wo die Batterien ded Kommandanten Saint-Aulaire
waren und blieb dort faft eine Stunde inmitten eined Hagels feindlicher Ge—
ſchoſſe. —
„Gehen wir nun zu Zeugniffen von Männern über, welche dem Kaifer:
reih nicht im mindeften gewogen waren. Ein höherer Officter, der bei Sedan
verwundet nourde, fehrieb an einen Freund folgende im „Journal de Geneve“
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veröffentlichte Zeilen: „Ich liebe den Kaiſer nicht, aber noch weniger die Ver-
läumdung. Gr bat fih tapfer gezeigt und wenn er nicht getödtet wurde, fo
bat ihm doch menigftend die Luſt dazu nicht gefehlt. Unfere Anführer waren
ungefchieft, unfere Soldaten Narren und zügello®, aber feige mar Niemand,
Ich fage das mit Nahdruf zur Ehre Frankreichs. Man dient feiner guten
Sache dur Lügen. Sedan ift ein Fehler, ein großes Unglüd, aber nie eine
Schande! Sagen Sie da® überall und Jedermann!“ —
Diefem Zeugniß, das man nicht wird abweiſen Fünnen, fügen wir noch
dasjenige der Kournaliften bei, welche das Heer begleiteten. Der Berichter-
ftatter de8 „Temps“ fehrieb: „Der Kaifer hat fterben wollen. Diefe That-
ſache fteht jest feit. Der Tod ging an ihm vorüber wie bei Met auf dem
Feld von Mont-Saint-ean, ald die Kanonenkugeln, die er herbeirief, darauf
beitanden , ihn zu verſchonen.“
Der Berichterftatter der „ Times“ erzählt, daß in der Schladht von
Sedan „der Kaiſer den größten Muth bewies. Vergeben? fuchte er den Tod.
Eine Kugel fiel unter den Füßen feined Pferdes nieder“.
Das Amtsblatt von Berlin vom 8. September jagt, „der Kaiſer
babe fih nach dem Bericht von Augenzeugen in der Schladht bei Sedan in
ſolchem Mape ausgefest, dag feine Abficht, ſich tödten zu lalfen, in die
Augen fprang.*
Endlih in dem Brief des deutjchen Berichterftatterd des „Standard“
lefen wir: „Die Oppofition erklärte, die Sapitulation von Sedan fei ein Akt
der Feigheit des Kaiferd gemweien, und diefe Züge, ohne Prüfung angenommen,
wurde eine der Grundlagen der neuen Republik. Indeſſen weiß heute Jeder:
mann, daß den Kaiſer an diefem fehredlichen Tage, an welchem feine ganze
Macht zufammenbrad, fein kalter Muth nie verlaflen hat. Mehrere Stunden
lang bat er fi dem heftigiten Feuer ausgeſetzt und dem Tode angeboten.
Alerdingd wollte er fein Selbitmörder fein, das ift die leichte Zuflucht hoch—
müthiger Egoiften, aber wenn er fagte: „Ich Eonnte den Tod an der Spibe
meiner Soldaten nicht finden“, jo hat er einfach die Wahrheit geſagt.“ —
In Sahen der Tapferkeit fennen wir feinen beijeren Richter als den
franzöfiihen Soldaten. Ein Sergent nun der Vierundfiebziger erzählt: „Als
die Schlacht am tolliten war, bemerkte der Kaifer eine Mitrailleufenbatterie,
auf welche die Preußen einen Regen von Geſchoſſen fallen liegen. Die Be
dienungdmannfchaft war getödtet oder verwundet, und durch Soldaten aller
Waffen erfeht. Der Kaifer näherte fi, ftieg von Pferde, befehligte das
Manöver und richtete felbft eines der Stüde, indem er fagte: „Muth, Kinder,
noch eine Anftrengung, e8 gilt für Frankreich!" Das ſah ih, das hörte ich,
denn ich war dabei.” —
Die nämlihe Thatſache ift durch das Zeugniß des ande Obriſten
Grenzboten IV. 1574,
Forbes beftätigt, der den ganzen Feldzug mitmadhte: „Mit feiner ganzen
Armee in diefe Maufefalle von Sedan gerathen, bemwahrte der Kaifer jene
ruhige Unerfchrodenheit, welche ihn mährend des ganzen Kampfes nicht ver-
laffen hatte.”
Der Gorrefpondent de „Temps“ erzählt folgende Thatſache: „ALS er
bei unferem Cafe vorüberfam, mar eine Granate zwei Schritt vor feinem
Pferd geplagt. Keine Muskel diefer abfonderlihen Maske hatte fich bemegt.
Gr begnügte fi, mit einer Handbewegung die Zurufe abzumeifen, welche ihn
noch empfingen.“
Eine ähnliche Thatfahe wird von einem Zeugen im „Paris⸗-Jour—
nal“ erzählt: „Der Mann, welcher einft Napoleon III. war, faß auf einem
Feldftuhl und redete mit feinen Offieieren. Gine Bombe fiel an ihrer Seite
und mifchte fich in dad Geſpräch. Die Offieiere machten unmillfürlih einen
Schritt zurück. Der andre verzog Feine Miene und fette ruhig die Unter-
haltung fort.“
Die Kunft hat die ruhige Geftalt des erften Napoleon unfterblich gemacht,
wie er mit feinem Ferngla® fortfährt, die Bewegungen ded Feindes zu
beobachten, während gerade eine Granate zwifchen den Beinen feined Pferdes
plagt und ihn in Eifen und Rauch einhüllt. In ähnlicher Qage hat ſich der
Neffe des Oheims würdig gezeigt. Weshalb hat man fie fo verfchteden be -
urtheilt? Deahalb, weil der Eine bereit? in der Hand der Gejchichte d. h. der
Wahrheit ift, während der Andere fi noch in den Händen deren befindet, die
ein Sintereffe daran haben, ihn zu verleumden. Zum Glüd geht ihr Reich
zu Ende und das der Wahrheit wird bald beginnen. Wenn je eine Anklage
Napoleon III. hätte verfchonen follen, fo gewiß doch die, dag ihm der Muth
gefehlt habe. Die Störer der öffentlichen Ordnung wiſſen das befjer. Alle
ftimmten darin überein, daß, fo lange er die Macht habe, eine Revolution
unmöglich fei, weil er fich lieber würde tödten laflen, ald vom Plate zu weichen.
Ihre Herrfchaft und die der Commune fonnten fi erft nad) feinem Sturze
aufthun. Wer weiß nicht, mit welcher Gemüthsruhe er die Riftolenfchüffe
Pianori's und die fchredliche Erplofion der Bomben Orſini's aufnahm! Weit
entfernt, die Gefahr zu fliehen, bot ex ihr vielmehr die Stirne mit jener
ftolzen Beratung, die feine Umgebung zittern machte. Und wenn feine
Freunde verfuchten, ihn zur Vorſicht aufzufordern, fo antwortete er bloß:
„Seid ruhig! Ich bin nur ein Werkzeug in der Hand der Vorfehung. Hält
fie mich für nüglich zur Erfüllung ihrer Abfihten, fo wird fie mich zu er-
halten willen. Ich werde fallen an dem Tage, an dem meine Aufgabe erfüllt
fein wird. Und was liegt dann daran?* Und doch iſt das der Mann,
den die... . der angeblichen nationalen Bertheidigung den „Feigling von
Sedan“ zu nennen gewagt haben! Was hätte wohl an feinem Pla& der
67
Bürger Favre gethan, der nur dem Feind ind Geficht zu weinen verftand,
oder der tapfere J. Simon, der feine Söhne in den Bureaud veritedte,
während er die anderer Leute ind euer fchickte, oder der Generaliffimug
Gambetta, der fi aus Orleans rettete, ala er hörte, daß man fich fchlug,
oder der unerfchrodene Rochefort, der bei einer Beerdigung die Farbe verliert,
oder all die Negierenden deö 4. September, welche dem Aufitand nichts ala
die Flucht entgegenzufegen hatten, oder al die feigen Wufitachler zu den
Berbrechen der Commune, die ind Ausland flohen und ihre Opfer der Strenge
des Geſetzes überließen! Seit wann hat die Feigheit dad Recht, die Tapfer-
feit zu befchimpfen ?
Alles, was Ihr jet gelefen habt, ift es nicht Elar, in die Augen fpringend,
und genügt ed nicht, ein für allemal die Unverfhämtheit der Republikaner
zu zeigen? Es wäre mir leicht, mit Aftenftücen in der Hand, nachzuweiſen,
was die Republik von jeher gewefen, wie fie immer, wenn fie die Regierung
hatte, nur den Ränkeſchmieden und Schreiern genügt hat, wie die Öffentlichen
Fonda z. B., welche der Gradmefjer des öffentlichen Vertrauens find, immer
gefallen find, wenn die Republik in Flor war, und geftiegen, wenn fie ab-
nahm, und wie endlih, wenn die Gefchäfte in unferen Randgemeinden bie
jegt noch nicht allzufehr beunruhigt find, daran zunächſt der Umftand ſchuld
ift, daß der Krieg beträchtliche Lücken riß, die jegt auszufüllen find, vor allem
aber der andere, daß wir ja in der That die Nepublif nur dem Namen nad
haben und von Männern regiert werden, welche, um mit Herrn von Mac:
Mahon anzufangen, niemald ald Republikaner befannt gemwejen find!
Uber darum handelt es fich gar nicht. Ich wollte nur bemeifen: 1) Daß
es eine Rüge ift zu fagen, der Kaifer habe den Krieg gewollt. — 2) Daß es
eine zweite Rüge ift, zu fagen, der Kaiſer trage die Schuld, wenn wir nicht
bereit waren. — 3) Daß es eine dritte Rüge ift zu behaupten, der Kaifer
babe Elſaß, Kothringen und unfere Milliarden verloren. — 4) Daß e8 endlich
eine vierte Rüge ift, zu fagen, der Kaifer habe, als er bei Sedan feinen Degen
dem König von Preußen übergab, um das Leben von 80,000 Soldaten zu
fchonen, welche fonft verloren geweſen wären, nicht eine große und gute That
vollbracht. — Treu der Verpflichtung, die ich Eingangs auf mich genommen,
babe ich mic) darauf bejchränkt, Thatfachen aufzuzählen. — Diefe, Thatjachen
find fie wahr? Ich mwiederhole e8, ich fordere meinen Nebenbuhler und feine
Freunde heraus, auch nur eine von diefen Thatfachen ald ungenau zu be»
zeichnen und biete ihnen allen in diefer Hinfiht eine Wette von 25,000 Fr.
gegen 25,000 Sous zum Beften der Armen ded Ganton?.
Bagud de la Fauconnerie,
Man mird, mie gefagt, diefer Brofchüre ein großes Geſchick in der Mache
nit abſprechen können. Wahrheit und Dichtung mifchen ſich darin in fo
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eigenthümlicher MWeife, daß der gemeine Mann, welcher die „zwanzig Sabre
der Wohlfahrt unter dem Kaiferreich* noch nicht vergeffen hat, vielfah nur
die erftere heraudlefen und behberzigen wird. Dad Blatt Gambetta's, die
„Republ. frang.“ verbirgt denn aud ihren Uerger über diefe Schrift in einem
kurzen Artikel vol erzwungener Heiterkeit. „AU diefe ſchönen Dinge“, jagt
fie (nämlich die vier „Theſen“ des Herren Dugue) „find in jener Broſchüre
den Wählern audeinandergefegt. Natürlich bemeift der Verfaſſer dieſer
Senfationefhrift, daß die Oppofition alles verfchuldet, daß fie dem Staatö-
oberhaupt die Hände gebunden, die Urfenale geleert, unfere Feſtungen und
Armeen übergeben hat! Diefe Thefe ift zur Genüge befannt. Sie hat nichts
gegen ſich, als die befannteiten Thatſachen, die officiellen Schriftftüde, die
Meinung von ganz Europa und die Heberzeugung aller vernünftigen Menfchen !
Trogdem kann derjenige, welcher Luſt hat, 25,000 Fr. zum Beſten der Armen
zu gewinnen, fi) dad Vergnügen machen, fie zum hundertften und taufendften
Dial zu widerlegen. Nur jagt Herr de la Fauconnerie nicht, wer der Richter
über die Wette fein fol, und darauf fommt ed doch an. Es erübrigt ihm
noch zu jagen, wie und von wem die Jury gebildet werden fol. Es gäbe
das Stoff zu einem zweiten Plakat. Uber wie dem auch fei, die Bonapartiften
find auf dem Plag, und machen derartige Demonftrationen, ohne zu ge:
wahren, daß fie eine nicht nur fomifche, fondern jede Partei disereditirende
Nolle fpielen. Oder meinen fie, daß ihre Partei diefe Gefahr nicht mehr zu
fürchten hat?“
Diefe Erwiderung des republifanifchen Blattes trifft augenſcheinlich nur
eine ſchwache Seite der bonapartiftiihen Broſchüre, die politifche Reclame
nämlih, die fih darin breit macht. Aber werden nicht gerade dieſe
25,000 Frank dem großen Haufen auf dem flachen Land imponiren, ja
wird nicht auch mancher gebildetere Xefer dem gegenüber ein Auge zudrüden,
indem er fich fagen muß, daß hinter diefer Neclame denn doch ein bedeutendes
Stück Wahrheit verborgen ift? Daß fich aber die Bonapartiften durch der-
artige Mittel nicht „disereditiren“, willen die Republikaner ſelbſt am beiten,
Haben fie doch lediglich) dadurch den unleugbar großen Kredit wieder erworben
den fie thatfächlid) genießen und der fie heute ſchon zum furdhtbarften Feind
der Republikaner gemaht hat. Der Knabe von Chiälehurft hat bereits
längit angefangen, ihnen fürchterlich zu werden!
In Sachen der finanziellen Sage der AUniverfität Jena
erhielten mir folgende Zufchrift von einem Manne, der fi und als völlig
unparteiifch bezeichnete:
Jena, September, Der Verfaſſer der beiden Artikel in Ihrer geehrten
Zeitfhrift über die hieſige Univerfität hat fich infofern einen Anſpruch auf
den Dank aller Angehörigen derfelben erworben, als er den Regierungen der
jähfifhen Herzogthümer, indbefondere denen von Meiningen und Gotha Hin-
fihtlich der Unterhaltung der Univerfität, fo zu fagen, dad Gewiſſen geſchärft
bat. Er hat aber gleihwohl dadurd Hier eine gewiſſe Mipitimmung erregt,
daß er die hiefigen Zuftände in einem viel zu ungünftigen, der Wirklichkeit
nichts meniger als entfprechenden Lichte dargeftelt hat. Es iſt freilich ge-
gründet, daß die hiefige Univerfität weniger reich dotirt ift, als die meiſten
übrigen Univerfitäten, und daß namentlich die Gehalte der Docenten wenigitend
zum Theil unverhältnigmäßig gering find: aber folgt denn daraus, daß noth«
wendig auch die Reiftungen der Univerfität ungenügend fein müflen? Wir
fönnten mehrere Beifpiele anführen, daß ihr ausgezeichnete Lehrkräfte troß
dürftiger Befoldungen treu geblieben find, und wenn manche Docenten, nad)-
dem fie hier ihren Auf begründet, auswärtigen Rufen gefolgt find, dürfte
es vielleicht zweifelhaft fein, ob nicht gerade Jena aus ihrer frifchen, jugend»
ih aufftrebenden Kraft den beften Vortheil gezogen: hat man nicht neuer-
dingd den angeblichen Verfall der Berliner Univerfität daraus erklären wollen,
daß diefelbe meift ältere Wrofefjoren habe, und worin fann died anders feinen
Grund haben, als darin, daß eine Berliner Profefjur wegen der damit ver-
bundenen äußeren Vortheile für einen afademifchen Lehrer die legte Stufe zu
bilden pflegt? Gewiß, wer nur das Jenaiſche Rectionäverzeichnig anfteht und
darin 3. B. in der theologifhen Facultät die Namen Häfe, Lipſius, Pflei—
derer, Schrader, Hilgenfeld, Grimm verzeichnet findet, wird die hiefige Uni-
verfität nicht mit dem Verfaſſer „eine langſam hinſiechende“ nennen wollen.
Eben fo wenig aber wird man bei den Stupdierenden, deren Zahl im letzten
Semefter auf 500 geftiegen, irgend ein Symptom ded Siechthums entdeden
Eönnen. Es herrſcht unter ihnen ein frifche® reges Leben, und der wiſſen—
[haftliche Sinn, von dem die meiften befeelt find, zeigt fih unter Anderem
auh darin, dag die nicht zum Brodſtudium gehörigen philoſophiſchen und
biftorifhen Gollegien, wenn ich nicht irre, Hier verhältnigmäßtg zahlreicher
befucht werden ald auf andern Univerfitäten.
Der Berfafjer unferer Artikel will aber felbft nicht, daß dieſes Siehthum
der Univerfität zum Tode führe. Er ſpäht daher nach neuen Lebensſäften für
diefelbe aus; aber wie es feheint, mit geringem Erfolg. Die ſächſiſchen Her-
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zogthümer wollen oder können nicht viel mehr leiften ald bisher, auch von
einer Hinzuziehung der benachbarten Meinen Staaten, abgeiehen von der Un-
wahrfcheinlichkett ded Gelingen®, ift wenig zu hoffen; es bleibt alfo nur die
Hülfe dur eine allgemeine Collecte im ganzen deutfchen Reiche oder die Auf
nahme von Jena in die Anftalten ded Reiches übrig, fo daß alfo Jena auf
hörte, thüringifche Univerfität zu fein und, wie Straßburg, Reichsuniverſität
würde. Mir fürchten aber, daß dur ein Aufbieten freimilliger Beifteuern
wenig erzielt werden würde, und was die Ummandlung in eine Reichduniver-
fität anlangt, fo würde diefe erſtlich kaum durchzuſetzen fein (die Analogie von
Straßburg ſcheint und wenig zutreffend), zweitens halten wir fie aber für nicht8
weniger ald wünſchenswerth. Jena würde dadurd feinen bisherigen Charafter
verlieren, e& würde nur dazu dienen, die Zahl der preußifchen Univerfitäten zu
vermehren (denn dem Charakter nad) wird man auch Straßburg zur Zeit als
preußifche Univerfität anfehen müffen), e8 würde alfo nicht mehr im Stande
fein, der Wiſſenſchaft die Dienfte zu leiiten, zu denen ed bisher gerade durch
feine freie Stellung befähigt worden ift. Warum bat aber der Berfafler nicht
an ein Mittel gedacht, dur das allein die thüringifchen Staaten wieder
leiftungsfähig gemacht werden könnten? Diefelben find jest vorzugämelfe
dur die Art der Erhebung der Matrikularbeiträge gedrüdt, in Folge deren
3. B. das Großherzogthum Weimar mehr zu leiften hat, ald die Stadt Ham-
burg, weil feine Geelenzahl eine größere ift, während die Steuerfraft von
Hamburg, ich glaube nicht zu viel zu fagen, mindeſtens hundertmal fo groß
ift. Wird der hierin enthaltenen fehreienden Unbilligfeit abgeholfen, dann
und nur dann wird man den thüringifchen Staaten größere Leiftungen für
ihre Univerfität zumuthen und einen günftigen Erfolg von ſolchen Anſprüchen
hoffen dürfen.
Diefe Correfpondenz wurde vom Berfaffer der erſten Artikel über die
Univerfität Jena — und gewiß mehr im Intereſſe der Sache, ald mit Rüd-
fiht auf obige Auslaſſungen fehr eingehend — dahin beantwortet:
Jena, Ende Septbr.
Der VBerfaffer vorftebender Korreſpondenz aus Jena macht mir den
ebenfo ſchweren, als unbegründeten Vorwurf, die Zuftände der biefigen
Univerfität in den beiden Artikeln über die finanzielle Lage der letteren „in
einem viel zu ungünftigen, der Wirklichkeit nichts weniger als entjprechenden
Lichte dargeftellt zu haben“. Wer fih die Mühe genommen hat, die beiden
Artikel auch nur mit einiger Aufmerkfamfeit zu lefen, wird bezeugen fönnen,
daß es höchſt komiſch Klingt, wenn man zur Widerlegung einer Schilderung,
die niemals in einer dazu Anlaß gebenden Weiſe gemadht morden ift. auf die
Tüchtigkeit der vorhandenen Rehrkräfte, die Frequenz, den wiſſenſchaftlichen
71
Sinn beſonders binwelfen fieht. Den intereffanten vergleichenden Hinblid auf
Berlin überlafje id vollends dem Herrn Verfaſſer. Im Mebrigen frage ich:
wo babe ich denn die jegigen Zuftände, die Verdienfte und Leiftungen Jenas
in ungünftigerem Lichte, unter der Mirklichkeit angefehen? Es galt die
finanzielle Rage zu ſchildern. Ich Hatte alfo Feine VBeranlaffung, aus—
führlicher auf die geiftige Thätigkeit und ihre Erfolge einzugehen. Soviel
jedod leuchtet wohl jedem Unbefangenen zur Genüge ein und ift auch an
verjchiedenen Stellen ausbrüdlich hervorgehoben, daß gerade darum, meil fidh
Jena in der Vergangenheit höchſt Iebenäfähig bemiefen bat und im der
Gegenwart in jeder Richtung noch bemeift, meil ed eine wichtige, ja unent-
behrliche Kulturftätte bildet, mit ernfter Sorge die finanztelle Zukunft erwogen
werden muß.
Wenn aljo der Grund, dem der Herr Korrefpondent der „gewiffen Miß—
ſtimmung“ unterlegt, wirklich der einzige tft, dann erfcheint diefe Mißſtimmung
gewiß die unbegründetfte, die nur gedacht werden fann. Ob überhaupt Mip-
ſtimmung vorhanden, in welchem Maaße und In welchen Kreifen, meiß ih
nicht. An gegentheiligen Yeußerungen fehlt es durchaus nit. Das kann
ih mit Genugthuung behaupten. Ginen anderen Grund der Mipftimmung
fann ich nicht voraudfegen. Die Data und Zahlen, auf denen meine Dar-
ftellung fußt, beruhen glei den Angaben, die ih ſchon im Landtage zu
Weimar machte, überall auf genauen Auszügen aus den akademiſchen Rech—
nungen. Dem ®Berlangen des Landtags gemäß legte die Großherzogliche
Regierung bereitwillig die Hauptrechnungen von 1870—1872 mit allen Neben:
rechnungen dem Randtage und damit der Deffentlichkeit vor. Aus warmem
Intereſſe für die Zukunft der Hochſchule entſchloß ich mich, nicht ohne An—
reaung von verfchiedenen Seiten her, die auf ſolchem Wege gewonnenen Ein«
blicke weiteren Kreifen zu überliefern. Die Verbreitung der Wahrheit kann
nie ſchädlich und könnte einen Grund zur Mißſtimmung nur bei denen bieten,
welche die Darlegung der Wahrheit für jchädlih zu halten vermögen. So
etwas voraudfegen, annehmen, daß es für die Univerfität zuträglicher jet,
möglichit Alles im Verborgenen zu laflen, ift ein Gedanke, den man nicht
denfen jol. Mir und nicht mir allein erfcheint die Darlegung der Wahrheit,
der vollen ungefhminften Wahrheit der thatjächlichen Verhältniffe ald das
allein würdige und ausfihtsvolle Mittel, um für die Univerfität bei den Re
gierungen und Randtagen zu wirken.
Ob aber die Folgerungen, die ich aus überaus deutlich redenden
Ziffern gezogen babe, die Beforgniffe und Wünſche, die daraus hergeleitet
wurden, unrichtig fein, mag jedermanns Einfiht entfcheiden. Welche
Schwierigkeiten das eine oder das andere der von mir angedeuteten Aushülfe-
mittel darbieten mag, ift nicht verfchmwiegen warden. Gubjeftive Untipathien,
12
inäbefondere gegen die preußifchen Univerfitäten und gegen die Reichs—
univerfität, die meinem Gegner fo gut, oder vielmehr jo ſchlimm, wie eine
preußtjche ift, zu beftreiten, ift nicht meine Aufgabe. Ebenſo gern verzichte
ih auf eine Analyfe des „bejonderen Charakters“ Jenas und des groß und
gelaffen ausgeſprochenen Wortes, Jena werde ald preußifche oder als Reichs—
univerfität gar nit mehr im Stande fein, der Wiſſenſchaft die feit-
herigen Dienfte zu leiften. Der Herr Gegner meiß, daß ich felber, fo wenig
ih allerding® mich entjchliegen Fann, bei voller Anerkennung deſſen, was an
Sena gut ift, Alles was preußifche oder NReichduniverfitätäverwaltung heißt,
als Popanz zu betrachten, herzlich mich freue, wenn die Thüringer Staaten
im Stande find, lediglich von fih aus die Univerfität zu erhalten. Er läßt
fie, wie es jcheint, lieber zu Grunde gehen, ehe die Hülfe des Reichs oder
Preußens angerufen werden follte? Ein merfwürdiger Patriotismus. Andere
find anderer Meinung und es Fann died unmöglich dem geehrten Herrn ver-
borgen fein. Der Gedanke an Preußen oder namentlih an das Reich ala
Helfer in der Noth ift, wie ich fchon früher gefagt habe, ſchon fehr oft und
von fehr vielen Leuten in und außer der Univerfität erwogen morden.
Und nun nod ein Wort über den Vorwurf, dag ich das eine Mittel
vergeflen habe, das alle die Sorge erjpart! Die Abichaffung der Matrikular:
beiträge! Wenn in den Thüringer Staaten irgendwo der Schuh drüdkt, tft das
allemal unweigerlich das beliebte Thema. Was haben die böfen Matrikularbeiträge
nicht Alles gethan! Folglich iſt e8 Far, wenn fie weg find, dann öffnet fich
die volle Ausſicht auf einen glänzenden Haushalt und der Gnadenregen für die
Untiverfität braucht nur zu beginnen. Schade nur, daß zu diefer Meinung
ein befjerer Glaube gehört, als ich nach meiner Kenntniß der Dinge zu theilen
vermag. Ich habe niemals die Matrikularumlagen gebilligt; aber die Ueber-
zeugung hege ih, daß von der Abſchaffung höchſt übertriebene Erwartungen
gehegt werden. Das tft einfach der Grund, warum ich dieſes Mittel nicht in
Rüdfiht gezogen.
Auch der Glaube ded Herrn Gegnerd nimmt fich nicht eben feljenfeit aus.
„Wird der hierin (in den Matrifularbeiträgen enthaltenen fcheinenden Uebel-
lofigfeit abgeholfen, dann und nur dann (d. h. der Herr Gegner jagt ed
ja) wird man den thüringifhen Staaten größere (sic!) Leiſtungen für ihre
Univerfität z umutbhen (alfo um eine Zumuthung handelt es fi) und einen
günftigen Grfolg von ſolchen Anſprüchen (warum nicht Prätenfionen für die
Univerfität) Hoffen dürfen.“ So lautet fein Schlußrefultat.
So befcheiden venfen Andere nicht. Welche Anſprüche Jena machen
muß, nicht aus Laune oder Luxus, fondern um ded Nothwendigften willen,
darüber fann man fich in Jena felbft fpielend informiren. Wenn der Herr
Gegner mit feiner ganzen anerkennenswerthen Liebe für die Univerfität nichts
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meiter zu erfinnen weiß, als die Vertröftung auf Hinwegfall der Matrifular-
beiträge und die alddann zu verhoffenden VBermilligungen, wenn er befennt,
dag das feinen einzigen Hoffnung&blid in die Zukunft hinein ausmacht, dann
bleibt demjenigen, der von der Nothlage der Univerfität geredet hat, nur
übrig , für die Fünftige Unterftügung herzlichen Dank abzuftatten.
Auf etwalge weitere Entgegnungen werde ich nur antworten, wenn fie
dur den Namen ded Verfaſſers gedeckt find.
W. Endemann.
Damit erklären wir die Aeten für gefchloffen. D. Red.
Briefe aus der Kaiferfladf.
Berlin, 4. Dftober.
Man bat Mühe, fein Berlin miederzuerfennen, wenn man dermalen aus
der Sommerfrifche zurückkehrt. Die Leipzigerftraße gleich am Anfang gefperrt,
von baumhohem Erdwall bedeckt — mas foll das bedeuten? fragt fi finnend
der vom Potsdamer Bahnhof kommende Wanderer, bid er inne wird, daß
mit der Ganalifation nun wirklich Ernſt gemacht wird. „Wäre fie nur erft
vollendet!" hat ſicherlich Mancher in den letzten Wochen gefeufzt; denn die
verjpätete Hunddtagähise diefer Zeit hatte unferen ffandalöfen Rinnfteinen
nochmals alle Wohlgerüche Arabiens entloft. Gar mancher der SHeim-
fehrenden hätte wohl am liebften fofort wieder Kehrt gemacht. Aber mer
nichts verfäumen will, muß es doch über fich gewinnen und da bleiben. Sit
ja doch die „Saiſon“ bereit? in vollem Zuge! Schon am 6. September hat
fie begonnen, denn an diefem Tage murde die Kunſtausſtellung der Kal.
Akademie der Künfte eröffnet. Sie ift noch heute das Greigniß ded Tages
und wird es bis zum 1. November bleiben. Kommen wir aljo fpäter auf
fie zurüd; nad erſt einmaligem Beſuch geht Einem die reihe Fülle des Ge-
jehenen nur wie ein Mühlrad im Kopf herum. Für heute ein Blick in die
bauptftädtifche Theatermwelt!
GSrfreulichermeife ijt diesmal vom Kgl. Schaufpielhaufe eine refpectable
That zu verzeichnen, die Aufführung von Hebbel’8 „Heroded und Marianne“.
(58 gehört einiger Muth dazu, diefe in ded Wortes volliter Bedeutung ent-
jegliche Tragödie auf die Bretter zu bringen. Kaum ift ein Drama denkbar,
welches an die Ausdauer der Spieler wie der Zufchauer größere Anforderungen
ſtellte, als dieſes. Vom erften Augenblide an liegt der tragiſche Gonfliet
‚zwifchen den beiden Gatten in feiner ganzen Unverföhnlichfeit vor und; vom
erften Augenblide an drüdt ung die traurige Gemwißheit: da ift fein Ausweg
Gtenzboten IV, 1874. 10
714
mehr. Ob zwoifchen Herodes, dem tyrannifchen Emporkömmling, der Creatur
der Römer, und dem Sproß vom alten föniglihen Stamm, der flolzen
Makkabäerin Martanne jemals ein Verhältniß gegenfeitiger wahrhaftiger Liebe
beftehen Fonnte, ift ein pſychologiſches Problem, über welches ſich ftreiten
ließe. Hebbel fett ein ſolches Verhältnig als thatjächlich vorhanden geweſen
voraus und wir müflen und darein finden. Das aber ift fein Zmeifel: nad:
dem Herodes der Gattin den Bruder hat ermorden laſſen, ift die Möglichkeit
eines glüdlihen Zufammenlebend auf immer zeritört. Und fo iſt die Sage
am Beginn ded Stüded. Daß diefe Menichen zu Grunde gehen müfjen, tt
von vornherein ausgemacht; mit einer gewiſſen Nefignation bejchränft fi
unfere Neugier darauf, zu erfahren, mie fie zu Grunde gehen. Der Gang
der Handlung ift träge; noch fehlimmer, dad Motiv, welches den Conflict auf
die Spibe treibt, wiederholt fih in voller Breite Der lebte Act wird in
bedenklichiter Weiſe zerriffen. Eben ift Marianne zum Tode gegangen; die
Zeugen der Hinrihtung find noch nicht zurüd, den Ausgang zu melden. In
diefem gräßlichen Augenblide erfcheinen plöglih „die drei Könige aus dem
Morgenlande*, leibhaftig jene halb ehrwürdigen, halb komiſchen Geltalten,
wie wir fie ald Kinder in den Wachsfigurenbuden gefehen, felbitverftändlich
nicht ohne ein Trompetercorp& und eine pompöfe Garnitur von Dienern!
Freilich ift e8 ein großartiger Gedanke, den edomitifchen Barvenu, in dem
Momente, da er das alte Königshaus bid auf den Grund ausgerottet hat,
durch die Kunde von dem neuen König der Könige niederzufchmettern. Uber
die Weife, wie dies hier gefchieht, ift Drramatifch unhaltbar; auf diefer Außerften
Höhe verträgt die Handlung Feine Epifode mehr; auch paffen die durch und
durch mythiſchen Figuren nicht in diefe reale Welt von, bei Licht bejehen, jehr
modernen Menfchen. Auf Herodes freilich muß der Vorgang einen Eindrud
machen, der in Verbindung mit der unmittelbar darauf folgenden Gewißheit,
dap Marianne unfchuldig hingerichtet worden, einen Ausbruch von Raſerei
vollauf begreiflih macht. Der Zufchauer aber wird die Störung nicht mehr
überwinden. Dazu gefellt fich ein ganz unbefriedigender Schluß. In feinem
Wahnfinn befiehlt Herodes den allgemeinen Kindermord in Bethlehem; dann
bricht er zufammen. Ob er ftirbt oder ob er weiter wüthet, bleibt ungewiß.
Ohne Bmeifel bat der Dichter den Zufchauer dur die verheifungsvolle
Perjpective in da® auf den Trümmern des jüdifchen Staate® fi) erhebende
neue Reich Gottes über trübe Metitationen hinweghelfen wollen, aber die
verfehlte Einfchiebung diefer Perſpective läßt ihn dieſen Zweck nicht erreichen.
Und fo verlaffen wir dag Haus ohne jenen harmonifchen Eindruck, den jede
echte Tragödie nach der „Räuterung der Leidenſchaften“ im Gemüthe des
Hörers zurüdlafien fol.
Vom Standpunkte der dramatifchen Architektonik ift alfo das Hebbel’jche
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Stück vollkommen verfehlt, nicht fo vom Standpunkte der pfychologifchen
Wahrheit. Mas ver Dichter hier gezeichnet hat, iſt einfach jenes tragifche
Phänomen, mie zwei miteinander zerfallene Ehegatten, obgleich fie die Un-
möglichkeit einer Wiederverföhnung ahnen, dennoch nicht von einander laffen
können und in langfamer Marter fich gegenfeitig verderben. Wie oft wird
von dem einen Theil der ehrliche Anlauf genommen, an das alte liebende
Herz des anderen Theiles zu appelliten! Sofort aber beginnen Stolz, Troß
und Mißtrauen ihre Wirkung, die Anmwandlung warmen Gefühld wandelt
ich in kalte Dialektif, erſt mie feine Nadeln, dann wie derbe Pfeile fliegen
die Worte herüber und hinüber und die Scene endet mit vollftändigem
Brud. Das ift feine „Tüftelei”, wie man Hebbel vorgeworfen hat, das iſt
brutale Wahrheit! Auch in den einzelnen Handlungen der Perſonen Tiegt
nichts Naturwidriged. Herodes' Liebe zu Mariannen beruht auf dem nadteften
Egoismus. Iſt es da, bei feiner zügellofen Leidenſchaftlichkeit, nicht ganz er—
tlärlich, dag ihm der Gedanke, die fhöne Maffabäerin fünne im Falle feines
plöglichen Todes einem Anderen die Hand reichen, unerträglich ift? Und da
einmal dad Mißtrauen in ihm rege gemorden, entfpricht es nicht ganz diefem
gewaltthätigen Charafter, wenn er in die Todedgefahr die Gewißheit mit-
nehmen will, daß, follte er fterben, fein Weib ermordet wird, wenn es ſich
nicht alsbald freimillig den Tod gegeben? Weniger felbitveritändlih jcheint
Mariannend Handlungsmeife. Doch aud bier entdecke ich Fein Vergehen
gegen die pſychologiſche Wahrſcheinlichkeit. Was fie an Herodes feſſelt, it
ver kühne Mannesmuth, der helle Geift und der hochherzige Sinn, der unter
der Hülle tyrannifcher Rohheit verborgen liegt. Mit folh dämoniſcher Ge-
walt bat der Zauber fie erfaßt, daß ein Leben ohne Liebe zu ihm ihr fein
Leben mehr dünkt. Darum ift ed möglich, daß die fophiftifche Rechtfertigung
für den Mord ihres Bruders bei ihr verfangen, ja daß fie auch nad der
furchtbarften Kränfung noch einmal neue Hoffnung fchöpfen kann. Es iſt
jener Hang zur Selbfttäufhung, welchem die menjchlihe Natur in den ver:
zweifelten Lagen fo gern nachgiebt. Erſt als fie fih zum zweiten Male unter
dad Schwert geftellt fieht, ift ihr die letzte Möglichkeit der Hoffnung genommen,
und nunmehr ſucht fie den Tod. Nicht troßiger Stolz allein verhindert fie,
fih von dem grundlofen Verdacht der Treulofigfeit zu reinigen, ſondern mehr
noch die Cinfiht, daß glückliche Liebe zwifchen ihr und Heroded nie mehr
beftehen fann. Darum will und muß fie fterben. Ich fehe_nicht, worin
e3 diefer pfychologifhen Entwidelung an Correetheit gebräche. — Auch dem
Borwurf, dag das Stüd der eigentlich ergreifenden Momente entbehre, kann
ich nicht beiftimmen. ft es nicht eine tief erfchütternde Scene, wenn wir
das unglüdliche Weib den Zorn über die erlittene Schmach dur die Liebe
überwinden und noch einmal fich in füße Hoffnung einwiegen fehen in dem:
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felben Augenblide, wo wir die volle Gewißheit erlangen, daß diefe zmei
Menfchen fi niemald mieder verftehen werden? Und fo iſt die Rage am
Schluß des dritten Actd. Marianne hat der Entrüftung über die Schande,
welche der Gatte ihr zugefügt, als er fie unter das Schwert ftellte, freien
Lauf gelafien. Nun, da fie ihn zerfnirjcht fieht, geht ihr die befeligende
Hoffnung auf, daß er fein Unrecht begreife und bereue, und daß fih no
Alles zum Guten wenden fönne Wir aber wiſſen, daß er gar feine Empfin—
dung hat von der verübten Unbill, fondern daß ihn allein der Argwohn er-
fült, Marianne babe da® Geheimniß durch den Bruch der ehelichen Treue
erfauft, und daß feine unbändige Eiferfucht gerade in diefem Augenblicke den
teuflifchen Prüfungsplan erfinnt, der Alles vernichten muß.
Wahr ift allerdings, dag die Hebbel’jche Tragödie, troß einzelner padender
Situationen, troß einer Fülle fehöner und zum Theil origineller Gedanken,
troß einer fräftigen und edeln Sprache, nicht unfern ganzen Menjchen erfaßt.
Die handelnden Perfonen befinden fich fchon beim erften Auftreten fozujagen
in einem fo vorgefchrittenen Stadium von Berbiffenheit, daß fie und unmöglich
noch volle Sympathie einflößen können. Der Gefammteindruf ded Ganzen
wird wohl am zutreffendften ald „interefjant“ bezeichnet. Nichtsdeſtoweniger
verdient die Leitung der Föniglichen Bühne für die Vorführung des Stückes
aufrichtigen Dank. Nach meinem Geſchmack ift e8 immer noch angenehmer,
fi einen Abend lang von einem wahren Genie, jei ed auch nur ein „Kraft:
genie*, „foltern* zu lafien, als in gewiſſen neumodifchen „Ruft-* oder gar
„Schauſpielen“ die unmöglichften Menſchen und Verhältniffe an ſich vorüber:
gehen ſehen und noch obendrein eine Yadaife über die andere mit in den
Kauf nehmen zu müſſen.
Auf die Aufführung war große Sorgfalt verwendet. In der glänzenden
und Hiftorifh correcten Ausftattung werden wir wohl eine MWirfung des
Gaſtſpiels der Meininger erbliden dürfen. Was die Belegung der Rollen
anlangt, fo muß jedoch eingejtanden werden, daß für die Darftellung der
Riefengeftalten der Hebbel’fhen Mufe die Kräfte unſeres Schaufpielhaufes
niht ausreichen. Am beiten murde noh Frau Erhartt ihrer Aufgabe ale
Marianne gereht. Die Momente ded Falten Trotzes, der ftolzen Erregung
und der Entfagung wurden von ihr meifterhaft miedergegeben ; minder gut
gelang das Anjchlagen der meicheren Accente. Herr Ludwig verwandte auf
den Herodes alle erdenklihe Mühe, aber er füllt die Rolle niht aus, weder
durch feine äußere Erſcheinung, noch durch feine Fünftlerifhe Begabung.
Namentlich) das Geberdenfpiel war, von dem conftanten Rollen der Augen
abgefehen, nichts weniger ald der adäquate Ausdruck diefer fturmbewegten
Seele. —
Mehr Aufiehen übrigend, ald dad vor 8 Tagen zum erjten Male über
77
Me Bretter gegangene Trauerfptel, macht in diefem Augenblicke jedenfalls die
neueite Feerie im Victoriatheater. So auf das Aeußerliche gerichtet ift in
der That heutzutage der Geſchmack unfered großen Publikums. Es ift faum
glaublih, was für haarfträubende Albernheiten die Befucher diejer Zauber-
ftüde fi bieten laffen, wenn nur der Gefihtäfinn mit recht derben Effecten
befriedigt wird. Zum Glüd ift aber an der Novität des PVictoriatheatere ein
ganz bedeutender Umfhwung zum Beten zu conjtatiren. Das Sujet derfelben
it dad Märchen von den fieben Raben, in recht hübſchen Verſen bearbeitet
von Emil Bohl und von G. Lehnhardt mit einer zwar nicht originellen, aber
ſeht anfprechenden und von launigen Melodien reihen Muſik ausgeftattet.
68 gebricht dem Stüde nicht an draftifchen und witzigen Momenten; aber e3
fiebt an ihnen nichts von jener platten Gemeinheit und jener moralifchen
Unfauberfeit , worin fonft nur zu ſehr das Charakfteriftifche der Zauberpofje
beichloffen zu jein pflegt. Der ernite Grundton und der poetifche Hauch des
Märhens find im Ganzen wohl bewahrt geblieben. Doc dad Alles ift ja
nur Beimerf; die große Hauptfache ift die Scenerie, die decorative Ausſtattung.
und man wird zugeben müſſen, daß das in diefer Richtung Geleiftete an Ge-
ſchmack und technifher Vollendung alles biöher in Berlin Gefehene weit hin-
ter ſich zurückläßt. Die Decorationen find theilmeife den Schwind'ſchen Fresken
nachgebildet. Gin wahres Meiſterſtück ift Roſalinden's Schlafgemach. Der
Ölanzpunft des Ganzen aber wird am Schluß des dritten Acts erreicht. Eben
it die arme Rofalinde von der hartherzigen Landgräfin Edwina zum Scheiter:
haufen verurtheilt. Nun liegt fie, ohnmächtig hingefunfen, in ihrem Kerker.
Da fpendet die gütige Fee ihr lieblichen Traum. Unter den Wunderflängen
der Harfe ſenken ſich Nofengewinde hernieder, immer dichter, überall und ohne
Ende, ſodaß die öde Gruft fchier angefüllt ift von den lachenden Blumen
und ein baljamijcher Duft das ganze Haus durchweht. Dann wieder zertheilt
ih allmählich der Wofenflor, meiter und weiter öffnet fi der Blick in
wunderlichte Räume, immer deutlicher tritt aus fchwindendem Nebel die un-
nennbare Pracht des Feenreichs hervor, bis auch der legte Wolkenſchleier fich
lüftet und aus fryftallener Fluth in den Strahlen der aufgehenden Sonne
die Feenkönigin emporfteigt. Die Wirkung diefed Schaufpield ift nicht zu
befchreiben. Die vornehmften Kritifer der Berliner Preffe, welche einen Hebbel
wie einen Secundaner behandeln, fah ich wie behert mit den Händen arbeiten.
Damit ift mehr ald Alles gefagt. —
Unter den Fleinen Bühnen ſcheint fi) auch in diefem Winter wieder dad
Stadttheater durch bejonderen Fleiß hervorthun zu wollen. Zwei, drei neue
Stüde in jeder Woche — das iſt ihm Spielerei. Daß es dabei mit tem
Dialog immer recht glatt von Statten ginge, kann freilich nicht geſagt wer:
den, im Ganzen aber ſchlägt man ſich redlih durd. Das Stadttheater be—
78
figt auch jest, nach einer ziemlich durdhgreifenden Erneuerung feines Perfonals,
immerhin einige tüchtige Kräfte und in der naiven Riebhaberin Frl. Both
fogar eine nad gewiſſen Seiten Hin vollendete Künftlerin. Uber auf Ihren
Schultern liegt auch Alles; in den Stücken wenigſtens, die ich bisher ange-
feben, „Ein deutſches Mädchen im Elſaß“ von Rudolf Kneifel, „Rofa und
Röschen“ von Charl. Birch-Pfeiffer und „Der Sefuit und fein Zögling“ von
A. Schreiber, ift fie dad Factotum. Namentlih in dem lesteren, ſonſt übri-
gend fehr harmlofen und Teidlih langweiligen Stüde entzüdt fie als fieb-
zehnjähriger Baron Garbonet durch frifhen Humor und liebendwürdige Na-
türlichkeit. Uebrigens ift das befte unter den genannten Quftipielen unbe
ftreitbar das Kneifel’ihe, freilich ein Tendenzſtück, aber zeitgemäß und, gut
gefptelt, ſehr bühnenwirkſam. X
Max Wirth's Geſchichte der Handelskrifen. *)
Gin alter Profeſſor des Römiſchen Recht? aus der Bekanntſchaft des
Referenten, der geneigt ſchien, fih auf den Kopf zu ftellen, ald die National-
Öconomie an einer gewiſſen Univerfität Deutfchlands unter die obligatorifchen
Fachſtudien der Yuriften und unter die Didchplinen aufgenommen wurde, in
denen männiglich beim erjten Eramen geprüft werden follte, pflegte in ver-
traulihen Stunden das gelaſſene Wort audzufprehen: „Was heißt National:
Öconomie? Die Gefege, die man darin zu erfennen glaubt, beruhen im gün-
ftigiten Falle auf Einbildung, oftmala auf Schwindel“ — er brauchte wirklich
diefed harte Wort — „und practifchen Nutzen fann niemand daraus ziehen ?“
Sch meiß nicht, welches Mißgeſchick den gelehrten Kenner der Digeften in
ein fo gefpanntee Verhältniß zur Volkswirthſchaftslehre verfegte. Daß fein
Eolleg nad) wie vor von den Zwangsabonnenten fpärlich befucht war, im
Hörfaal des Nationalöconomen dagegen Fein Apfel zur Erde fallen Eonnte,
war jedenfalld feine Erklärung feiner harten Worte. Denn dad mar fchon
lange vor der academijchen Hoffähigfeitserflärung der Nationalöconomie nicht
ander? geweſen; und dieje Thatjache allein hätte ſchon fein Dietum widerlegt,
„dag niemand practifchen Nutzen aus ihr ziehe." Ja, wir jungen Juriſten
— ich geftehe e8 mit tiefem Erröthen — waren ſchon damals fo unklaſſiſch
veranlagt, daß mir jeder Frage der Volkewirthſchaftslehre mehr practifchen
Nutzen zutrauten, als den berühmteften Eramenfragen jened ehrmürdigen
Römiſchen Rechtälehrerd, unter denen die berühmteften lauteten: „Welche
) Gefchichte der Handelätrifen von Mar Wirth. Zweite vervollftändigte und verbeilerte
Auflage. Frankfurt a. M. 3. D. Sauerländer'd Berlag 1874,
19
Farbe hatte die Tinte Juſtinian's? Was war Juftinian’® Gemahlin für eine
Geborene ?“
Diefed Aufbäumen der zünftigen Jurisprudenz gegen die Wirthichafte-
lehre und die politijche Deconomie hat und Allen, die davon Zeugen waren,
jedenfalld nur in mohlthätiger Weife den Blick gefhärft für ihre Segnungen,
für ihren „practifchen Nugen“. Ich muß geftehen, ich habe, je länger ich
darüber nachdachte, ftudirte, und practifche Erfahrungen fammelte, außer der
Chemie, Geologie u. a. Naturwiffenfchaften, Feine anvere Wiſſenſchaft gefunden,
welche aus ihren NRefultaten felbft einen fo allgemeinen und unmittelbaren
practifchen Nutzen verſpräche, als die Nationalöconomie in ſachkundiger
und geübter Volkswirth oder Statiftifer befitt — um die Sache ganz
practtfh audzudrüden — fait in jedem Refultat feiner Forſchungen ein Ge-
heimniß, um Taufende glüdlicher, gefunder, behäbiger, ja reich zu machen.
Nur mit dem Unterfchiede, dag er meiſt, im Gegenfate zu vielen Vertretern
jener naturmwiffenfchaftlihen Dieciplinen, nichts eiligeres zu thun hat, ala fein
Geheimnig auf den offenen Markt zu tragen, und dafür — die allgemeine
Nihtbeahtung, im günftigften Falle Zweifel und Widerſpruch zu ernten; bie
dann das von ihm vorher Gefagte eintritt, und man fich der ſchon vergeffenen
Weiffagung erinnert, um — von neuem in dem nämlichen Falle die nämlichen
Thorheiten zu begehen. Jede große Fabrik, die ſich mit der chemiſchen Ver—
arbeitung von Rohſtoffen beſchäftigt, hält ihren Chemifer; jedes größere
Bergwerk hat fortwährend Männer engagirt, welche geologijche oder geo-
gnoftifhe Unterfuhungen zu madhen im Stande find. Aber wir find noch
jehr weit entfernt davon, dag große Banken oder Ereditinftitute, große in«
duftrielle Etabliſſements oder ſelbſt große ſtädtiſche Gemeinweſen ihren prac-
tiſchen, tüchtig theoretifch gejchulten Volkswirth und Statijtifer hielten, welcher
die für die betr. juriftifche Berfon wichtigiten Enqueten vornähme und wifjen-
Ihaftlich beantwortete, um dieſes Unternehmen in VBorjchlag zu bringen, von
jenem abzurathen, oder gewiſſe Reformen aus eigenem Antriebe dringend zu
empfehlen. Und doc find die Ergebniſſe diefer Wiſſenſchaft fo ficher, daß
3; B. ein berühmter deutfcher Statijtifer den ganzen Verlauf der Berliner
Baufpeculation in ihrer ftetigen Hauffe und Baiffe vor Jahren und zwar in
gleiher Vorzüglich Feit vor und nach der franzöfifchen Kriege — richtig vor-
ausgeſagt hat, jo richtig, daß nach der von ihm über diefed Thema com-
ponirten Zufunftämufit die Haufe der Jahre 1871 und 1872 und der Rück—
ſchlag ſeit 1873 nur verftärkte Töne der von ihm angejchlagenen Xccorde bilden.
Für die practifche Berechtigung diefer Wiffenjchaft wird man aber —
wenn es deffen heute überhaupt noch bedürfte — Faum ein Flaffifcheres Bei-
Ipiel finden können, ala das hier vorliegende Werf Mar Wirth’. Vor fieb-
zehn Fahren iſt die erfte Auflage desfelben erfchienen. Der Berfafler war
80
damals ein blutjunger Schriftfteller und Gelehrter. Alles was heute unf
nationale Größe ausmacht, ift erſt lange nad der Zeit vollbracht word
Unfere Nationalwirtbfhaft von heute ift eine durchaus andere wie die vo
fiebenzehn Jahren. Der deutfche Zollverein war damald noch mit Defterreich
jufammengefpannt und krankte am Schugzollfyften, am abfoluten Veto feiner
Blieder und an der durchaus mangelnden Vertretung des Volkes. Grit fünf
Jahre nachdem Wirth's Buch erſchien, wurden diefe unfeligen Bande theil- |
weife gelodert durch Abſchluß des deutfch- franzöfifhen Handelsvertrages.
Oeſterreich erlebte bereits im Jahr 1863 fein Sadowa auf wirthſchaftlichem
Gebiete. Das Freihandelsſyſtem wurde, wenn auch noch verſchämt, von
Deutfhland proclamirt. In den Zollvereindverträgen von 1867 wurde dann
endlich auch das abjolute Veto über Bord geworfen und ftatt deffen ein Zoll:
bundedrath und ein Zollparlament eingefet, welche Behörden beide mit ein-
facher Majorität der Stimmen beſchließen follten, und deren Functionen feit
1871 auf den deutjchen Reichsbundesrath und den Deutſchen Reichstag über-
gegangen find. Man follte denken, durch diefe gewaltigen Neuerungen fei
Wirth's Merk über Handeläfrifen gründlich veraltet gemefen. Und dennoch
ald die KHrifid von 1873 über Defterreich und Deutfchland hereinbradh, wur»
den diejenigen feiner Kapitel, welche bier einfchlugen, von der größten Zahl
der (namentlich öfterreihifchen) Zeitungen Wort für Wort abgedrudt, denn
faft Wort für Wort paßten fie auf die Urfachen und Wirkungen der großen
Krife, deren Folgen noch jest nicht überall verwunden find.
Mar Wirth ift feit dem Erfcheinen der erften Auflage feines Werkes
unter den jüngeren Volkswirthen mit am jtetigften fortgefchritten und in
bleibender Fühlung mit der Wiffenfchaft mie mit der Praxis gemefen. Gr iſt
befanntlih Jahre lang an der Spige ded „Arbeitgeber“ in Frankfurt a. M.
ald Nedakteur geftanden, dann Jahre hindurch Chef des Statiftifchen Bureau
der Eidgenofjenfchaft zu Bern gemefen, dann wieder in das journaliftifche
Fach übergegangen, zuerft bei der „Breslauer Preſſe“, feit einem Jahr bet
reinem der bervorragendften Blätter in Wien. In allen diefen Stellungen und
Berufen hat Mar Wirth auch auf dem Gebiete der „Handeläfrifen“ die
veifften Erfahrungen gefammelt, welche der vorliegenden zweiten Auflage fehr
zu Statten fommen. Dieſes Buch kann auf dem Gebiete, welches e8 behandelt,
Haffifh genannt werden. Es verfehont uns gänzlich mit jener dilettantifchen
feuilletoniftifchen Manier der MWehklage, Prophezeiung, Warnung u. dergl.,
welche bei jeder größeren volfäwirthichaftlichen Krije in einer Legion von
Flugfchriften vorherrſcht. Es iſt erſchöpfend theoretiih und biftorifh und
formulirt die gewonnenen Grfahrungen flar und bündig und ſicher. Möchte
es es recht viel geleſen, recht allſeitig beherzigt werden.
Berantwortlicher Redakteur: Dr. Sans Blum.
Berlag von $. 2. Herbig. — Drud von Güthel & Legler in Keipzig.
— — —
. Die
Grenzboten.
Bei tie ri fi
für
Bolitik, gitteratur und Kunfl.
Ne 4 42,
Außgegeben am 16. October 1874.
— —
Inhalt:
Die mechanifche und die BERN ——
Mar Heinze . :
Gin amerifanijcher Humoriſt. „Sans B {um
Die Banken in Luremburg N. Steffen. . .
Bilder aus Medlenburg. Aus den — de Bürgermehr,
Von Hugo Gaedcke. .
Der Fall Arnim, z.
Grenzbotenumichlag: Piterarifche Anzeigen.
Literarifche Beilage von Breitfopf & Härtel in Leipzig.
Literariſche Beilage von Alphons Dürr in Leipzig.
Leipzig, 1874.
Friedrich Ludwig Herbig.
(Ir. Wild. Grunow.)
Die mehanifhe und die feleologifhe Weltanfhanung. *)
Bon
Mar Heinze.
Schon in den Anfängen der griehifhen Philofophie tritt und der
Gegenfas der mechaniſchen und teleologifhen Weltanfchauung entgegen in
den Antipoden, Heraflit und Demokrit, die beide groß find in ihrer Weiſe.
Bis auf die Gegenwart haben fich diefe Gegenſätze gehalten. Würde der
Berfaffer der Philofophie de8 Unbewußten an Heraflit fih anlehnen, bei
welchem Lebteren das Vernünftige und Zweckvolle fih au ohne Bemwußtfein
bheraudarbeitet, fo würde die Mehrzahl der eracten Naturforfcher ala ihren
Führer anerkennen den in feiner Conſequenz gewaltigen Demofrit. Einer
diefer beiden verfchtedenen Grundanfichten Huldigen die meiften Philofophen
in Betreff ihrer oberjten Principien, und will man ſich nicht genügen laſſen
an dem äußeren Gefichtäpunft des Monigmus und Dualismus, fo laffen fi
die Weltanfchauungen theilen in eine mechanifche im weiteren Sinne und eine
teleologifche. Die erſte diefer beiden fann auch bezeichnet werden als die der
mechaniſchen Gaufalität, oder als die der wirkenden Urſachen im Allgemeinen,
indem wir bei den letzteren zunächſt denken werden an das mechanifche
Wirken, oder wenigſtens für alle mwirfenden Urfachen eine Analogie fuchen in
dem Mechanismus, jo dag ſich die Weltanfchauungen fchlieglich ſcheiden in
die der wirkenden Urfachen und die der Zwecke oder Endurſachen.
Die unbedingte Geltung der Gaufalität, fo weit die Erfahrung reicht,
wird von alten und neuen Dentern in gleicher Weiſe zugegeben. ' „Nichts
gejchieht ohne Urjache, fondern Alle aus einem Grunde und mit Noth»
wendigfeit*, ſpricht Demofrit, in feiner einfachen aber alle eigene Unficherheit
und allen Zweifel Anderer ausſchließenden Weiſe, und ihm haben es feitdem
Unzählige nachgefprochen. ine wahre Allherrjcherin ift die Gaufalität! Alles
unterliegt ihrem Zwange, und mögen mir diejelbe nur als ein Geſetz unferes
Geiſtes anfehen, mögen wir fie auf die transcendenten Dinge anmenden, alfo
auch — — von ihr machen, wir müſſen, um zu irgend
*) Vortrag, — beim Antritt der ordentlichen Profeſſur der ——— in Baſel.
Grenzboten IV. 1874.
82
welcher Erfahrung zu gelangen, gerade wie mit Naum und Zeit, fo auch mit
ihr operiren. Feſtgeſchloſſen ift die Kette von Urſachen und Wirkungen, nicht
ein Glied kann ohne dad andere herausgenommen werden, gerade fo wenig
wie der geringfte Theil von Raum oder Zeit aus dem Continuum für fi
berauggefchnitten werden Fann. Bon Urfahe wird man bei der Forſchung
zu Urfache getrieben, und es ift die Kette ganz ebenfo unendlich wie Raum
und Zeit, und ein Aufgeben geradezu des Gefeges ift ed, wenn man ein erfted
Glied der Reihe annimmt. Gin Bedürfnig des Menfchen mag dazu nöthigen,
das Geſetz felbft fchliegt den Anfang aus.
Mird died Gefek der causae efficientes als das meltbewegende ange
nommen, fo haben wir den Mechanismus, mie er fich ausgebildet hat in der
antifen atomiftifchen Lehre, in dem Materialismus der neueren Zeit, aber
auch mit beftimmtem Ausdruf in der Phyſik des Begründers der neuen
dogmatifchen Philofophie, de Descarte®, und befonderd bet defjen großem
Nachfolger, Spinoza. Aus der Lehre des Ietteren lernen wir, daß mit dem
Mechanismus nicht nothwendig verbunden ift der Materialiamud, Denn fo
häufig Spinoza auch zu den Materialiften gezählt wird, er darf doch nicht
ala folcher bezeichnet werden; man müßte denn unter Materialidmud ver
ftehen die Anerkennung der ausnahmsloſen Gaufalität. Dann mürden aber
viele Andere, die biöher nicht zu den Materialiften gerechnet wurden, fich
diefen Namen gefallen laſſen müfjen.
Bindend ift das Gefeg der Baufalität in allen Fällen, fo daß man ſich
nit von ihm löfen kann. Ob es aber au ausreicht zur Erklärung von
Allem, was in der Erfahrung aufſtößt? Die rein wirkenden Urfachen fcheinen
blind, ed Fann zu dem Einen das Andere nicht pafjend vorhergeformt werden
durch das blinde Aufeinanderfolgen von Urſache und Wirkung, und doc) tft
eine Harmonie in dem Ganzen der Welt troß der mannigfachen Diffonanzen
nicht in Abrede zu ftellen. Es befteht eine Harmonie zwifchen den einzelnen
Dbjecten im ganzen und großen Weltenraum und auch auf unferer Erde; e8
bejteht eine Harmonie zwijchen den einzelnen Cheilen der Organidmen, indem
fih Eins zum Andern fügt, Eins das Andere ftüst und fördert, fo daß Keins
ohne das Andere fich denfen läßt; es befteht aber ganz befonders eine Har-
monie zmwifchen dem Object und dem Subject, jo daß eine Empfindung, An-
Ihauung, Erfahrung zu Stande gebracht wird. Ohne genügende und wirkende
Urfahen kann man ſich nichts von dem allem entjtanden denken ; aber reichen
diefe hin um die Wirfung, wie fie vorliegt, ganz zu erflären? 8 findet fid
im Cicero die jehr bemerfenämwerthe Stelle:
„Wer meint, dag die Welt nur durch zufällige Zufammenfügung von
Atomen entftanden ift, der kann auch glauben, daß wenn unzählige Formen
von Buchftaben unter einander geworfen würden, die Annalen des Ennius
83
dadurd; hervorgebracht werden könnten, fo daß fie zu Iefen feien.“ Es läßt
fi) hier von vornherein mit voller Beftimmtheit nicht? ausmachen, aber die
Wahrſcheinlichkeit ift außerordentlich gering und wird unendlich Elein, daß die
ganze Welt mit allen ihren Einzelheiten dur das ziellofe Bewegen ter
Atome hervorgebracht fet, ebenfo wie die Wahrfcheinlichkeit unendlich Hein ift,
dag auf die angegebene Weife ein großes und treffliches Gedicht, eine Tragödie
oder Komödie, zu Stande komme. Wir müffen und hier nad) einem anderen
Rrineip no umfehen, das uns den Zufammenhang der Welt leichter erklärt,
oder überhaupt erklärt. Bei dem Gedichte ift es der fchaffende Geiſt des
Menfhen, der die Buchſtaben im Hinblide auf ein beftimmtes Ziel, das er
in fi) aufgenommen hat, zufammenfett. Nach einem Ziele. werden fih auch
die Atome der Natur bewegen, wie wir auch fonft die Atome auffallen
mögen, und jo würde dad Prineip, deſſen wir zur Erklärung bedürfen, der
Zwed fein. Mag der Zweck nun zu unferem apriorifhen Beſitz gehören,
oder mögen wir diefes Princip erft gewinnen aus der Thätigfeit des Menfchen
felbft, der einen zukünftigen Zuftand herbeizuführen fucht, jedenfalld ift er
[don in den Anfängen der Philofophie dur Sofrated übergeführt worden
von der menfchlichen Thätigkeit in die Natur, und feit jenen Tagen tft neben
bejonnener Anwendung viel Mißbrauch mit diefem Princip getrieben worden.
In der Außerlihen Art, den Zweck zu handhaben, ift Chryſippos, der
ehte Schüler des Sofrated, Chryfippod, der fi deshalb den Spott der
Epifureer und Akademiker verdiente. Artitoteles it ed, der in einer tieferen
Auffaffung den immanenten Zwed, den jedem Wefen eingeborenen Zweck feines
Dafeind und feiner Entwidelung auffuht, und von ihm find die causae
finales in die Speculation des Mittelalterd und der neueren Zeit über-
gegangen, um eine große Rolle zu fpielen.
Für die bedeutendften Gegner des Zweckes können außer den Atomiftifern
de8 Alterthums Francid Baco, Spinoza und endlich neuerdings viele Anhänger
Darwin’s gelten. Die Zmwedbegriffe gehören nad) Baco zu den idola tribus,
d. h. zu den falfchen Vorftellungen, die in der Natur eined jeden Menfchen
begründet find. Diefe Zweckurſachen feien die Quelle des flaunendwerthen
BVerderbend in der Whilofophie, da die Methode der Endurfahhen in der
Phyſik die Unterfuhung der natürlichen Urfachen geftört oder geradezu zurüd-
gedrängt habe. In der Natur fei aber Alles durch wirkende Urſachen und
causae physicae zu erklären. Deshalb ſei auch die Philofophie eines De
mofrit und Anderer, welche Geift und Gott bei der Bildung der Dinge nicht
anmendeten, die Ordnung der Welt aus dem zufälligen Spiele der Natur:
fräfte entftehen ließen, und die Erfcheinungen im Einzelnen aus materieller
Nothwendigkeit, ohne Berückſichtigung eined Zweckes ableiteten, in phyſika—
kalifcher Hinficht weitaus den Lehren des Platon und des Ariftoteled vorzu-
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ziehen. Die Betrachtung der Endurfachen gehöre in die Metaphyſik und nicht
in die Phyſik, aus der fie zu verbannen ſei, weil fie in ihr den größten
Schaden angerichtet habe.
Baco vermwirft alfo nicht für die ganze Philoſophie den Begriff des
Zwedes, aber wohl für die Phyſik, d. h. für die eracte Wilfenfchaft, und er
bat ſich hierdurch ein großes Verdienft erworben. Hier müffen die Thatfachen
erforfht, die materiellen und wirfenden Urfachen müffen ergründet werden;
methodifche und auf Erperimente fich ftügende Inductionen, das ift es mo.
durch die Phyfik Förderung erfahren kann. Mit diefer Anfiht verträgt fich
aber nad Baco gar wohl der teleologifche Geſichtspunkt. Denn wenn die
Gegenftände unferer Erfahrung auch nah der einen Seite ald MWirfung
mechaniſcher Kräfte angefehen werden, fo ſchließt died nicht aus, daß fie nach
der anderen nüglih und zweckmäßig erfcheinen. Die Augenwimpern dienen
allerdings ald Haare dem Auge zum Schuße, aber nicht ift die Frage in der
Phyſik: „Wozu nüsen die Augenwimpern?“ fondern: „Warum wachen an
diefer Stelle Haare?" ine Umkehr ded Sachverhalts, wie man ihn bei ge
nauer Unterfuhung findet, ift ed, wenn man den Nuten, der durch etwas
hervorgebracht wird, ald das Bewirfende felbit Hinftellt.
Zugleich weiſt nach Baco die teleologifche Betrachtung der Natur Hin
auf eine Vorſehung, melde das MWalten der Naturkräfte ordnet und lenkt;
denn einer folhen Ergänzung bedürfe die Erklärung aus phyfifchen Urfachen.
Mir fehen, der Vater der modernen Empirie hat für dad Ganze feiner
Weltanfhauung des Zweckes nicht entbehren wollen und können. — Er faßt
zwar das Princip etwas äußerlich, indem er nur den Vortheil im Auge bat,
verfolgt es auch nicht weiter, weil fein Schwerpunkt auf einem anderen Ge-
biete Itegt, aber er gebraucht e8 doch, und falfch tft e8 demnah, wenn Baco
als abfoluter Gegner der Teleologie hingeftellt wird.
Ganz entjchieden ſchloß von feiner MWeltbetrahtung den Zweck aus
Spinoza, der fich befonders in feinem berühmten Appendir zu dem erften
Bude der Ethik über diefen Begriff verwerfend audfpricht, und die fpinoziftifche
Philofophie erfreut fi deshalb auch hier und da bei den Naturforfchern der
Neuzeit einer großen Achtung.
Freilich richtet ſich Spinoza hauptfächlich gegen die fehr äußere Anmen-
dung des Zweckes, infofern die ganze Natur auf den Nuben ded Menfchen
angelegt fein fol. Da die Menfchen in fi und außer fi viele Mittel fän-
den, die zur Erreihung ihres Nutzens bedeutend beitrügen, wie die Augen
zum Sehen und bie Zähne zum Kauen, die Kräuter und Thiere zur Speife,
die Sonne zur Erleuchtung, dad Meer zur Ernährung der Fifche und dergl.,
fo ſei e8 gefommen, daß fie alled Natürliche gleihfam ala Mittel zu ihrem
Bortheil betrachteten, und ohne Zmeifel hat Spinoza volled Recht, wenn er
85
mit feharfer Polemik diefe niedrige und populäre Art der Teleologie bekämpft.
Aber hierbei bleibt fein Angriff nicht ftehen. Schon in dem menfchlichen
Handeln darf nah Spinoza das, was wir Zweck nennen, nit angenommen
werden; auch bier beruht die Annahme von Zwecken nur auf Unfenntniß der
Berfettung von Urfachen, und noch viel mehr ift dies der Fall, wenn wir in
die Natur einen Zwed ſetzen. Es führt zu nichts, ala alled Forſchen nad
der Urfache der Dinge abzufchneiden, und nur die Unmiffenheit flüchtet fich
in dieſes Afyl.
Die Natur bat fich Feinen Zweck vorgefegt, und alle Zwecke find nicht?
als menfhlihe Erfindung. Durch die Lehre vom Zwecke wird der wahre
Sachverhalt gänzlich umgedreht; denn das, was in Wahrheit die Urfache ift,
betrachtet dieſe Lehre als Wirkung und umgekehrt; ferner macht fie dad, was
in Wahrheit dad Spätere ift, zu dem Früheren, und was dad Höchfte und
Bolfommenfte ift, zu dem Unvollkommenſten, diefed dritte deshalb, weil die
legten Dinge um deren willen die früheren hervorgebradht worden am voll-
fommenjten fein müßten, nach Spinoza aber das die größte Vollkommenheit
bat, was von Gott unmittelbar bewirkt wird — eine unbemwiefene Behaup-
tung Spinoza's, die mit demfelben Rechte umgekehrt werden könnte. Richtig
ift es, daß durch Annahme von Zwecken das Verhältnig von Urſache und
Wirkung umgekehrt wird, doc nicht vollftändig: das Ding felbit, oder die
Veränderung, die in dem Zwecke vorgeftellt und gewollt wird, eriftirt noch
nicht realiter, fondern nur, um von und Menfchen zu reden, in der Vor-
ftellung.
Zur Reugnung der Zmede trieb den Spinoza der ftrenge Gedanfengang,
die zwingende Gewalt, die er feiner Philofophie beilegen wollte, das Princip
der Gaufalität, dem er feine Philofophie unterwarf. Dad Mufter für die
Demeidführung ift dem Spinoza die mathematifche. Den mos geometricus
führte er in feine Philofophie ein. Die Mathematik fennt feine Zwecke: das
Dreieck iſt nicht dazu da, damit irgend welche Sätze aus ihm abgeleitet wer—
den fönnen, fondern weil dad Dreieck der Art ift, wie es ift, folgen die das—
felbe betreffenden Säge; gerade fo nun, wie ſich aus dem Wefen der Figuren
die näheren Beitimmungen ergeben, implicite alle darin ſchon liegen, fo daß
es nur des folgernden Verſtandes bedarf, um die ganze Geometrie zur Dar;
ftellung zu bringen, gerade fo follte ed nur eines mathematifchen Verſtandes
bedürfen, um aus den Grundbegriffen des Spinoza die ganze Welt abzuleiten.
Es ift hier nur von Spinoza bei aller Großartigfeit feined Syſtems, die den
Geift fo leicht gefangen nimmt, ein bedeutender Fehler begangen. Die Ma-
thematif bedarf bloß einer logiſchen Entmwidelung, die Welt aber bedarf einer
zeitlichen Entwidelung; in der Mathematif Handelt es fih nur um Grund
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und Folge, in der Entwidelung der Welt, der Vielheit aus der Einheit, der
Modi aus der Subftanz, handelt es fi) um Urſache und Wirkung.
Urſache und Wirkung Haben wir in der reinen Mathematik nicht, die
Gaufalität ift aber dad Princip, von dem der gemaltige Denker feine Philo—
fophie abhängig macht, der zu Liebe er den Zweck vernichtet, und die Caufa-
lität gerade ift in feinem Syftem unmöglich gemacht, gerade fo unmöglich
wie der Zmed. Es tft bier demnach zu viel bewiefen, und gegen den Zweck
feine ftichhaltige Inſtanz vorgebracht, die nicht auch zugleich die Cauſalität
mit vernichtete.
Als den dritten Hauptgegner des Zweckes nannte ich viele Anhänger der
Dedcendenzlehre und ihrer näheren Begründung, der Selectionätheorie. Yin-
den die Anhänger ded Zweckes ein Hauptargument für diefed ihr Prinzip in
den zweckmäßigen Organismen und in ihrer großen Verſchie denheit, fo werden
nad der neuen Lehre diefe Gattungen von Thieren und Pflanzen aus einer
geringen Zahl vorbergehender abgeleitet, und diefe wieder aus einer einzigen
Stammmutter, indem fich die Gattungen herausgebildet haben nad) den ver-
fchiedenen Rebendbedingungen, und das einmal Vorkommende und für die
äußeren Umftände Paſſende dur Vererbung ſich fortpflanzt: „die natürliche
Auslefe im Kampfe ums Dafein, dad Zugrundegehn ded minder Zweckmäßi—
gen, das Ueberleben und Sichmeitervererben des Paſſendſten und Zweckmä—
Bigften, ift ein Borgang von mechanischer Caufalität, in defjen gleichmäßige
Befeglichkeit nirgends ein teleologifeh beftimmended, metaphyſiſches Princip
eingreift, und dod geht aus ihm ein Refultat hervor, das mwefentlich der
Zweckmäßigkeit entfpriht, d. h. diejenige Befchaffenheit befist, welche den
Drganidmen unter den gegebenen Umftänden die höchſte Zweckmäßigkeit ver:
leiht. Die natürliche Zuchtwahl löft das feheinbar unlöglihe Problem, die
Zweckmäßigkeit ald Kefultat zu erklären, ohne fie dabei ala Princip zu Hülfe
zu nehmen“ *), und auf diefe Art hat diefe Lehre den Götzen des Zweckbegriffs
zerbrochen. So triumphieren die Anhänger Darwin's.
Segen die Descendenz- und Gelectiondtheorie felbit ift von philo—
ſophiſcher Seite nichts einzuwenden. Es ift durch fie Vieled erklärt und fie trägt
gute Früchte, wenn fie auch felbft noch nicht über alle Zweifel erbaben ift,
wie ſchon andererfeitd darauf hingewiefen ift, daß fih Manches in den Dr:
ganidmen, 3. ®. die Fünftliche, auf äfthetifhen Genuß, nit auf Erhaltung
ded Lebens nur, zielende Einrichtung in Auge und Ohr aus dem Kampfe
ums Dafein allein nicht wohl erklären läßt.
Uber diefe Lehre zugegeben, follte durch fie wirklich der Zweck vollftändig
vernichtet fein? Cie nimmt die Zweckmäßigkeit ald Nefultat einer langen
) S. Oscar Schmidt, Dedcendenzlebre und Darwinidmud. ©. 176.
87
Kette von Urfachen und Wirkungen auf, fie erfennt diefelbe alfo do an, und
damit, daß fie ald Folge der natürlichen, caufalen Entwidelung angefehn wird,
ift der immanente Zweck noch keineswegs aufgehoben. Es ift die Immanenz
gleibfam nur weiter zurüdgefchoben ; es find alle fpäteren Bildungen hinein—
gelegt in die Urzelle, in das erſte Moner, oder dad, was man als das erfte
organifche Wefen annehmen mag. Es hat in diefem Urmwefen der Keim zu
der ganzen organifchen Welt gelegen; — nit durch Zufall kann diefe ent-
fanden fein, fondern dur Nothmendigfeit, durch den von innen heraus nad
dem ehernen Gaufalitätägefeg, d. b. nach Nothwendigkeit wirkenden Zweck,
muß fte fih entwickelt haben.
Auch die Eleinen Abweichungen in den Individuen, , die fih für die äu—
heren Verhältniſſe ala pafjend bewähren und fi) vererbend nun immer
zweckmäßigere Bildungäformen hervorbringen, fie find doch nit Zufällig.
feiten , fondern auch fie müſſen ihre Urfache in den vorangegangnen Gene:
rationen haben, wie die Anhänger Darwin’ felbjt am erften zugeben werden.
Wären diefe Abweichungen dem Zufall anheimgeftellt gemefen, und hingen
fie niht ab von immanenten Gefegen,, fo wäre wahrfcheinlih nichts Zmed«
mäßige8 entftanden, denn der unzweckmäßigen Organifationen kann man fich
unendlich viel mehr denken, ald der zmwedmäßigen. est müfjen wir aber
nah Darwin fogar fo weit geben, zu fagen, daß die organifche Welt in
ihrem jeweiligen Zuftande die vollfommenfte ift, d. h. die, weldhe ſich den äuße—
ven Berhältniffen unter allen denkbaren Fällen am beiten angepaßt hat, da
dad Gleichgewicht zwiſchen äußeren Bedingungen und der Organifution der
Mefen ftet? erreicht wird. Alfo nicht nur die Entwidelung, fondern aud) die
Entwickelung zum Beſten ift in der Selectionstheorie eingefchloffen, und
diefe Lehre muß bier zu demfelben Refultate kommen, wie der Optimismus
Reibnizen. *)
Das Einzelne und dad Ganze mußte vorgebildet fein, fonft hätte es
nicht entftehen können, vorgebildet mußte es fein, wie der Baum mit vielleicht
taufendjähriger Entwidelung vorgebildet ift in dem Samenforn, aus dem er
entftanden ; die äußeren Umftände treten hinzu und helfen diefer und jener
Möglichkeit zur Verwirklichung, unterdrüden andererfeit® diefe und jene
Anlage, aber fein Aft, fein Blatt, Feine Zelle Fann ſich bilden, wozu die
Möglichkeit und die Anlage nicht gegeben wäre.
So ruht und fchläft das Spätefte in dem Früheften, das Früheſte wird
zum Späteften. Wir haben beim Baum mie bei der ganzen Welt das große,
freilich ſchwer auszudenkende voregor reorepor, zu dem aber der Gedanfe
mit Nothwendigfeit drängt. Diefed varsgor reorsgor tft weiter nichts ala
) ©. du Boid-Reymond, Leibnizifche Gedanken in der neueren Naturwiſſenſchaſt.
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der Zweck, der im Anfang ſchon beitand, und von dem Zwecke kann ſich die
Selectiondtheorie nicht losmachen.
Auh noch etwad Anderes zmingt zur Annahme dieſes Principe nad
Darwin's Lehre. Der Kampf ums Dafein ift das Loſungswort der Theorie.
Aber beruht nicht der ganze Kampf ums Dafein auf dem Streben der Natur,
das einmal Hervorgebrachte zu erhalten, ald Individuum oder als Gattung?
Jedes Einzelgefhöpf ſucht fein Dafein fortzufegen, das iſt ein echter und
fihtbarer Zwef, den fogar Spinoza klar genug ausgeſprochen, und zum
Fundament feiner Ethik gemacht hat. Fiele diefer Trieb, diefer immanente
Zwed, der fi) dur den Trieb verwirklicht, einmal meg, fo hörte der ganze
Kampf um das Dafein auf, da jedes Gefchöpf fih dann ebenfo gern dem
Berderben anheim geben müßte, als fich felbft erhalten.
Mir find bier gerade bei der Lehre Darwin's zur Verbindung von Cau-
falität und Zmed gefommen. Bon beiten fünnen wir und bei der Betrad-
tung der Welt nicht los machen. Wollen wir ung nicht in dem Widerſpruche
der zwei WPrincipien gefallen, fo müfjen wir beide in einander aufnehmen,
wenn auch nicht das eine dem andern unterordnen. Die ftrenge Gaufalität
wird nicht ohne Zweck fich denken lafjen, ebenfowenig wie der Zmed ohne
Gaufalität. Die letztere ift nicht® Anderes, ald die logifhe Nothmendigfeit,
die fih in der Entmwidelung darlegt, — wird fie doch als Geſetz unſeres Geiftes
aufgefaßt und ift durchaus logiſch. Die Logik fchließt aber ſtets das Ende
der Reihe, alfo den Zwed in fih. Demnad würden wir in der Logik, in der
logiſchen Nothwendigfeit, die wir nun und nimmer aus der Welt unjerer
Erfenntniß, ebenfomwenig mie aus unferm Geifte entfernen Eönnen, die beiden
ſcheinbaren Gegenfäge, Caufalität, d. h. mechanijche Eaufalität, und dad teleo-
logifche Princip, verbunden finden. Nur ift die Teleologte nicht in der Meife
zu faffen, daß wir den Zmwed, worauf Alles ſtets hinarbeitet , jedes Mal er
Eennen, die Zweckmäßigkeit eines jeden Dinged angeben Fönnten, ebenjomwenig,
wie wir je dahin Fommen werden, die wirkenden Urſachen von allen Er:
fheinungen anzugeben, ohne doch daran zu zweifeln, daß ſich ſtets jolche
finden.
Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Gefchichte, fo ift der Verſuch,
Gaufalität und Teleologie mit einander zu verbinden, ſchon öfter gemacht. ch
gebe hier nicht auf Ariftoteled ein, den eigentlihen Philoſophen des Zwecks.
Bei ihm wird der Zweck noch nicht Herr über die Materie, und der Dualik-
mus bfeibt ftehen. Ich erwähne zunächſt die Stoifer, die mit einer Beitimmt-
heit das Cauſalitätsgeſetz ausſprechen und überall geltend machten, mie wir es
fonft in der alten Philoſophie nicht finden, und doch den Zmed als all
mächtig in ihrem Syſtem walten liegen. Zugleich waren fie Materialiften,
nicht in dem Sinne wie die Atomiftifer, aber doch in dem, daß fie nichts
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Immaterielles als wirfend, als wirklich, annahmen. Der Begriff, in dem fie
die fcheinbar widerfprechenden WBrincipien, die mechanische Gaufalität und
den Zwed, zufammenbanden, war der Aoyos anepnerimös, der ſich theilt
in unzählige Aoyoı onsouerixoi oder Samenfeime. Dieſe vernünftigen
Urfamen — der Name „Atom“ würde für fie nicht bezeichnend fein, —
find materiell und enthalten in fih dynamifch die ganze Entwidelung
der Melt, indem fie fi bald zu dem einen Gebilde oder Organigmus,
bald zu dem andern geftalten. Nach dem ftrengen Gefes von Urfache und
Wirkung ift ihre eigene Entfaltung und find ihre Einwirkungen auf die fie
umgebenden Stoffe nur möglich, aber doch gehen fie auf beftimmte Ziele, auf
beitimmte Formen los, die fie in nuce in ſich bergen, ohne etwa Typen für
die entftehenden Geſtalten zu fein, alfo ohne alle Aebnlichkeit mit den pla-
tonifchen Ideen, mit denen man fie öfter zufammenitellt. Nicht Borbilder
find fie, nicht Allgemeined oder Gattungsbegriffe, welche bei den Stoifern
feine reale Griftenz hatten, fondern auf etwas Individuelles ftet? angelegt
und in dadfelbe ausgehend.
Der Begriff ift von der Stoa nicht weiter ausgebildet, oder wir finden
ihn wenigitend in den fragmentarifchen Berichten über diefe Schule nicht
näher durchgeführt, aber ohne Zweifel ift er einer der mefentlichiten in der
ſtoiſchen Philofophie und hätte eine größere Bedeutung gewinnen follen, da
in ihm die drei wichtigften Prinzipien in der Philofophie: mechanische Urfache,
Materie und Zweck, mit einander vereinigt find. Die Harmonie der ganzen
Welt wurde dann durch den allmaltenden Logos, welcher alle diefe Samen in
fh zufammenfaßt zu einer Einheit, hervorgebradht und erhalten. — Man
mag über diefe Lehre abſchätzig urtheilen; ald ein VBerdienft muß den Stoifern
der Berfuh die entgegengefesten Standpunkte zu verfühnen, immerhin an:
gerechnet werden.
In ganz andrer Weiſe als diefe alten, ernten, häufig nicht genug ge
würdigten Denker, unternahm es Leibniz. Saufalität und Teleologie zu ver
einen, und er ftellte geradezu in feinen jüngeren Jahren es als Aufgabe feines
Lebens hin, die Atomiftit des Demofrit mit den fubjtanziellen Formen des
Ariftoteled in Einklang zu bringen. Als ftrenger Mathematiker mußte er der
mechanischen Weltanſchauung huldigen, aber ala umfafjender Geift hielt er da-
für, au in der Teleologie fei Wahrheit, und fo müßten die Gegenfäße ver-
einigt werden, wie er überhaupt es für Befchränftheit anfah, wenn jemand
auch auf anderm Gebiete in einem Gegenfage verharrte. Hatten nun die
Stoifer in ihrem Monismus alles Geiftige zur Materie gemacht, fo machte
umgekehrt Leibniz alles Materielle zu Geift, oder wenigſtens zu Monaden,
d. h. zu metaphufifchen Punkten, deren Kraft das Voritellen ift. Trotzdem
gelangt er zur Materie und zu Körpern, freilich auf etwas ſchwierige Weiſe.
Grenzboten IV. 1874. 12
0
Im Grunde beruht aber die Erfheinung der Materie nur auf unjeren ver-
worrenen Anfhauungen. Mit diefer Materie verbindet nun Leibniz ftreng
den Begriff der mechanischen GSaufalität. Die Monaden find auch Körper, in-
fofern fie Einzelmefen find, alfo Schranfen haben , und die Bewegungen der
Körper gehen alle nah mechanijchen Gefegen vor fih. Someit von einer
gegenfeitigen Ginwirfung von einem Beitimmtwerden durch einander die Rede
ift, fo vollzieht fih das Alles auf mechanifhem Wege. Jeder Körper ift
von vornherein eine Maſchine, fo daß fogar eine materialiftifche Naturan-
ſchauung bei Leibniz zu Tage tritt. Wie verhält fih nun zu diefem Herr-
ihen des Gaufalitätögejege® der Zweck bei ihm, durch defjen Annahme fi
feine Philoſophie jo weſentlich von der des Spinoza unterjcheidet ?
Es ift außer der leidenden Kraft, melde die Monade nach außen be
ſchränkt und fie untertban macht dem Geſetz von Urfache und Wirkung, noch
eine thätige Kraft in jeder Monade, welche ihren eigentlichen Inhalt bildet,
während jene leidende ihre Individualität, ihre Befonderheit überhaupt er-
möglicht. Dieſe thätige Kraft ift die Erfüllung der Eigenthümlichkeit einer
jeden Monade, nichts ala diefe eine Monade vorausſetzend. Wird die leidende
Kraft ald Materie betrachtet, fo diefe ald Form, daher auch entelechia
prima genannt. Sie ift gleichſam die Seele der Monade; die Seele geht aber
darauf aus, die urfprüngliche Anlage zu entfalten, und fo fommt in diefe
Entwidelung der Zweck hinein, ald das Beitimmende und Maßgebende. Auf
diefen Zweck, alfo die Entfaltung der urfprünglichen Anlage, arbeitet die
ganze Mafchine los, auf ihn arbeitet die Caufalität los, die fogar das noth:
mendige Mittel ift zu der Entmwidelung einer jeden Monade. Teleologie und
Mechanismus müſſen fich verbinden, um die Welt in ihrem Grunde zu erklären.
Allerdings bildet dabei die Teleologie das beftimmende und allgemeine Prin-
cip, die Gaufalität das untergeordnete, wie died Leibniz unzmeideutig aus—
ſpricht: causae efficientes pendent a finalibus. Während die Cauſalität nur
auf die Natur im engeren Sinne, auf die Körpermelt geht, erftredt fi das
teleologifche Prineip auf die ganze Weltordnung. Die mechanifche Welt darf
nicht abgejondert werden von der moralifchen, auf welche leßtere Alles ange-
legt ift.*)
Man ann nicht fagen, daß troß der beftimmt ausgefprodhenen Abficht
Leibnizens, die Gaufalität mit der Teleologie zu vereinen, diefe Aufgabe glücklich
von ihm gelöft fei. — Die eine Seite, die Gaufalität, zieht trogdem, daß Reibniz
auf dem Gebiete der Natur ein fo eracter Forfcher war, den fürzeren. Wird die
Materie überhaupt zu einem Phänomenon, menngleid) bene fundatum, fo
fommt aud die Gaufalität nahe daran, zu einem Schein zu werden, bloß
) Val. Kuno Fifcher'd Darftellung diefes Kardinalpunftes in der Leibniziſchen Lehre.
9
auf einer confufen Anficht zu beruhen. Immerhin iſt e8 viel werth, zu con-
ftatiren, daß Leibniz die Nothwendigkeit einer ſolchen Verbindung eingefehen hat.
Eine jede philofophifhe Anfiht muß ſich heutigen Taged mit der
Kant'ſchen Lehre, welche noch immer tonangebend ift, audeinanderfeßen.
Stellen wir und auf den rein Fritifchen Standpunkt, fo ift allerdingd nicht
die Rede von einer Teleologie, aber dabei darf man nicht vergeffen, daß dann
auch nicht die Rede fein kann von Gaufalität. Beide Principien ftammen
danach nur aus unſerem Geifte, find nicht conftitutiv, fondern nur regulativ.
Solange wir alfo nur die Formen unfered Geifted in der Außenwelt finden
und in dem Ding an fi nichts ihnen Entſprechendes, wird unjer ganzed
Thema gegenftandalos fein. Sobald Kant aber den fritifchen Standpunft
nicht einnimmt, fondern in die Welt der Erfahrung hinabiteigt, ftrebt er
felbft, Gaufalität und Teleologie zugleich anzuwenden. So lange wir in der
Natur audfommen mit dem Mechanismus, meint er, müſſen wir denfelben
anmenden, wir müffen fogar verfuchen, Alles auf mechanifche Weife zu er-
klären; kommen wir aber zu Naturerzeugnifjen, bei denen die Möglichkeit der
mechaniſchen Erklärung ein Ende hat, fo müfjen wir fo verfahren, als ob fie
nach Zweckbegriffen gebildet wären. Solche Producte findet nnn Kant in der
Natur vor, indem er zugleich den Zweckbegriff in ariftotelifch » leibnizifcher
Weiſe viel tiefer faßt, als die Aufflärungsphilofophie, welche in der populären
Art des Alterthums Alles auf den Nuten des Menfchen bezog, und fo ver-
dankt der Zweckbegriff dem Schöpfer des Kriticiamus ſehr viel, troßdem daß
er nur aus unferem Geifte ftanımen fol. Die organifchen Wefen find nach
Kant ohne den Zweck, der in ihnen deutlich hervortritt, gar nicht zu verftehen.
Denn alles das Einzelne ift auf das Ganze gerichtet, alles Einzelne exiſtirt
nur deshalb und hat nur darum einen Sinn, weil es fich zu einem beftimmten
Ganzen bilden fol. So muß das Ganze ald Urfache für die einzelnen Theile
angefehen werden, und diefe Urfache, d. b. diefe Endurjache, liegt ald formen»
des Princip in ihnen felbft. ft aber bei den Organismen die innere Zweck—
mäßigfeit anerkannt, fo ift e8 natürlich, daß wir fie auch fonjt in der Natur,
in den anderen Producten und den Gefegen der Natur nicht blos ſuchen, fon:
dern aud finden. Wenn gleib Kant ſelbſt diefen Begriff nicht zum Aufbau
einer naturmiljenfchaftlichen Theorie anwendet — dazu ift er zu vorfihtig —,
jo bat doc feine Naturerflärung für die Naturforichung der folgenden Zeit
die beiten Früchte getragen.
Kant läßt die beiden Principien nicht in einander aufgehen; fie haben
getrennted Gebiet. Wo das eine aufhört, fängt das andere an; die eine
Erklärungsart fchließt die andere aus. Erklären wir etwas nad) mechanifchen
Urfahen, jo können wir nicht mehr nach einem Zweck fragen, und können
92
wir etwas aus feinem Zweck herleiten, fo erjcheint es nicht ale mechaniſch
nothwendig.
Diefe Lehren Kant's würden zu einer beſtimmt bdualiftiichen Anficht
führen. Der Dualismud treibt aber den Stahel in den Geift und Täßt
diefen nicht ruhen, bis er in der Einheit des Princips Befriedigung gefunden
hat. In der vorhin angedeuteten Weiſe ift es möglich, den Dualimus zu
befiegen. Wendet man die Gaufalität allein an, fo vergißt man den Blick
nah vorn zu richten, vergißt man, daß jede Urſache eine beftimmte Wirkung
haben muß; braucht man einfeitig das teleologifche Princip, fo unterlißt
man den Bli nach rückwärts, denkt nicht daran, daß jede Erfcheinung von
einer Urfache abhängen mug. Gebt man aber die Entwidelung und das
Ende in den Anfang und braudt ald Bindendes und Einendes die Logifche
Nothmendigkeit, jo daß der Zweck nichts ift, ald das Endglied der logiſch—
caufalen Kette, das mit dem erften Glied zugleich gefegt fein muß, jo berüd-
fihtigt man beide® in der für unferen Verſtand nöthigen Weile. Dann
findet das fireng wiſſenſchaftliche Bewußtſein, das ſich an die Gaufalität
halten will, feine Befriedigung, aber indem der Zweck ald dee von vorn-
herein in dem Stoffe liegt und ihn zum Ziele führt, gelangen auch die
idealen Intereſſen und Bedürfniffe zu ihrem Nechte, das zu fordern ihmen
zufommt.
Fin amerikanifher Kumorifl.*)
Unter den jüngften Erzeugniſſen der belletriitifchen Xiteratur des Aus—
landes hat kaum eine Schrift in Deutfchland ſoviel Auffehen und Beifall
erregt, ald die Argonauten-Gefhichten von Bret- Harte, die vor mehr ale
einem Jahre im Verlage von F. W. Grunow in Xeipzig erfchienen. Unſere
beiten Zeitungen und Zeitfchriften brachten aus der Weder der hervorragenditen
Schriftſteller und Kritiker Deutfchlands Beſprechungen und Eſſays über
diefe Dichtung des Falifornifchen Autorde. Ste Alle zeigten fih durchaus
einig in der bewundernden Anerkennung feiner fünftlerifchen Kraft und
poetifchen Tiefe, feiner wunderbaren Begabung für anfchauliche, feine und
gedrängte Zeichnung von Landichaften, Stimmungen, Charakteren und Ereig-
*) Amerifanifhe Sumoriften. 1. Band. Prudence Palfrey und andere Leute von
Thomas Bailey Aldrih. Ins Deutſche übertragen von Morik Buſch. Leipzig, fr.
Wilh. Grunow 1874,
93
niſſen. Einmüthig war die deutfche Kritif über Bret Harte's Argon auten-
Geſchichten au darin, dag nur einem Dichter von Gottes Gnaden gelingen
fönne, aus dem groben und gemeinen Stoff des Falifornifhen Minenlebens
das echte Gold ver Poeſie herauszuſchlagen in folcher Reinheit und Feinheit,
dag alle Welt das Edelmetall, das Bret Harte dem fpröden Boden ab-
gemonnen, als foldhed anerkennen mußte. Namentlich Iehrte jeder Vergleich
feiner Argonauten-Gefhichten mit den Schriften unferer deutfchen Kallfornia »
Reifenden und Amerifa-Schilderer, wie unendlich hoch an poetifhem Werthe
jede der Fleinen anfpruchslofen Novellen Bret Harte's über all den didleibigen
und mit aller Kunft der Reclame zu angeblichen Ehrendentmalen deutjcher
Literatur aufgeblafenen Roman-Bänden ftehe, welche von Deutfchen über die-
felben Stoffe gefchrieben morden find. Nur das Eine tft Bret Harte's
Schreibweije nicht ohne Grund zum Vorwurf gemaht worden, wad an an—
deren Stellen man gern als einen feiner größten Vorzüge anerfennen wird:
feine Kürze und Gedrungenheit in der Schilderung und Entwidelung nämlich
erzielt oft den allergrößten Erfolg, beweiſt häufig in überrafchender Weiſe
fetne poetifhe Kraft; aber keineswegs felten verdirbt fie auch die Klarheit
und Anfchaulichkeit des Bildes, und namentlich ded Fadens der Handlung.
Die Situationen, die Charaktere, die Spracymanieren der Argonauten Bret-
Harte's find und ja ohnehin nicht ganz geläufig, und offen geitanden auch
nicht immer ganz behaglih. Für einen genauen Kenner der neuen und in-
fonderheit der Falifornifhen Welt mögen diefe Eurzen ſcharfen Striche, über
die Bret-Harte höchſt felten hinausgeht, genügen ; die Phantafie oder Lebens—
erfahrung mag dem Kenner die menigen Umriſſe des Künftler® von felbit
mit Richt und Schatten füllen. Und dagegen merden fie nicht immer genügen,
und nicht felten den Eindrud einer allzu flüchtigen Skizze zurücklaſſen. —
Es wird natürlich nie im Ernfte unternommen werden können, die höchſt
eigenthümlihe Art Bret-Harte'3 der eined anderen Schriftfteller® nahe zu
ftellen. Und ficherlich erjcheint fein Randamann Thomas Bailey Aldrid,
der heute bei den Xefern d. Bl. eingeführt werden fol, dem Dichter der
Argonauten-Gefhihten auf den erften Blick ſo unähnlich als möglich. Humor
wird freilich niemand Bret-Harte abjprechen. Aber die Tiefe feiner Seele ift
durchaus ernft. Er befist eine befondere Kunft darin, und eine befondere
Borliebe dafür, feine Gefchichten luftig anzufangen und mit Frohfinn und
Heiterkeit anzufüllen, und dann plötzlich mit einem Accord zu ſchließen, der
ung den tiefften Ernft des Menfchenlebend ausſpricht. Thomas Batley Aldrich
ift darin gerade dad Gegentheil von Bret-Harte. Auch er ift ficherlich weit
entfernt von einer leichten oder gar frivolen Auffaffung des Lebens, menſch—
liher Strebungen und menfchlicher Beſtimmung. Er tft ein vortrefflicher
Beobachter und Schilderer auch der ernfteften Züge des menfchlichen Herzen? ;
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er Kann fogar das jchmerfte Leid und die fürchterlichfte Lage, in die ein
Menih gerathen kann — fein Mr. Philipp Wentworth z. B. wird im
Todtengewölbe feiner plößlich geftorbenen Braut vergeffen und eingefchloffen
— mit einer realiftifhen und doch poetifchen Anfchaulichkeit ſchildern, daß
man glaubt, nur diefe Schilderung fei der Zweck ded Dichter. Aber im
Grund ift das keineswegs feine Hauptabfiht. Aldrich verfolgt fiherlih unter
anderm auch den Zweck, und zu fpannen, für feine Helden mit Intereſſe und
Sympathie, wohl aud mit Zittern und Zagen zu erfüllen, oder unfer Ge-
müth auf einen tragifchen Ausgang vorzubereiten. Aber der Haupt und
Endzweck aller feiner Sachen ift doch, ung ein herzliches Lachen abzugeminnen,
und zwar nicht am menigiten über und felbft, daß wir und von feiner Dar-
ſtellungskunſt verleiten ließen, bange zu werden und den Scherz für Ernft zu
nehmen. Aldrich ala ehrlicher offener Humorift wird nie zulafien, daß eine
Geſchichte übel endet.
Das wird und fchon bei der eriten Bekanntſchaft mit ihm zur Gewißheit
und er ift fo anftändig, Wort zu halten. Der arme Mr. Philip Wentworth
z. B., der nad) der Erzählung eined Mr. H. feine parifer Braut gerade in
dem Augenblid verlor, ald er im Begriff ftand, fie zu heirathen und auf ein
neuerfaufte® Landhaus bei Parid zu führen, und der dann, im Dunkel der
Grabgewölbe de Montmartre lebendig begraben , das Grabliht aufißt, um
fi feiner Familie zu erhalten und, nad einer Stunde und zwanzig Minuten
Aufenthalt im Grabe, mit grauen Haaren wieder an die Erdoberfläche be
fördert wird. — Diefer unfelige Mr. Wentworth ift bei Lichte befehen gar
nit Mr. Wentworth. fondern Mr. Jones, auch nie im Fall gewefen, eine
Braut zu verlieren oder lebendig begraben zu werden. Unbeftreitbar ift nur,
daß er graue Haare bei jungen Zügen und Muskeln hat, und das hat dem
Mr. H. „einem Mann mit literarifchen Neigungen, der beim Brüten über
einem großen amerifanifhen Roman, der noch nicht gefchaffen ift, ein bischen
von feinem Verſtande eingebüßt hat“, Gelegenheit gegeben, Mr. Aldrich „zum
Beten zu halten, um thatfählih die Wirkung eine feiner Gapitel an ihm
zu probiren.“ Das hält natürlih Mr. Aldrich nicht ab, und die Gejchichte
mit der vollendeten Täuſchung zu erzählen, der er felbft angeblich zum Opfer
gefallen ift. Diefe Täufchung des Leferd über die wahre Natur der Haupt:
perfon oder mehrerer Berfonen bildet faft durchgehende den Haupteffect ded
Humord bei Aldrih und fie wird meift mit um fo größerer Sicherheit
erreicht, weil alle andern handelnden Perfonen gleichfalls fich fo benehmen,
als ob fie volfommen an die Täufchung glaubten oder in der That wirklich
daran glauben, fo daß bei und jeder Zmeifel dann ſchwindet, dat Alles mad
Aldrih und zu erzählen für gut findet, auch wirklich wahr fei. Erft ganz
am Ende der Gefchichte merken wir, daß wir ebenſo vollftändig wie die
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Perſonen ded Stüdd myjtifizirt worden find: daß z. B. der ehrwürdige junge
Beiftlihe Mr. James Dillingham, der die vernünftigften und thörichtiten
Perſonen in der Hafenftadt Rivermouth in gleihem Maße entzüdt und
erbaut, niemand Anderes iſt, als einer der gefährlichiten Hochftapler der Union,
Namens Nevind. Oder wir fehen in einem Briefwechfel zmifchen zwei Freunden,
von denen der eine gefund im Bade meilt, der andere mit gebrochenem Fuße
frank daheim liegt, mit zunehmender Deutlichkeit Fräulein Majorie Dam
geichildert — der Gefunde fhildert fie dem Kranken — wir erfahren mie fie
ausſieht und fich Eleivet, was fie fpricht und thut, wie fie ſich allmählich in
den beinbrüchigen Unbekannten ſterblich verliebt und zwei vortreffliche Partieen
feinethalben ausfchlägt, bi® fie der Herr Papa nah dem Geftändniß ihrer
Liebe zu dem Unbekannten einfperrt, um fie zur Raiſon zu bringen. Da hält
ed der Kranke nicht mehr aus. Gr reift fofort in da® Bad — aber er findet
dad Haus nicht, in dem Marjorie Dam mohnen fol, er findet auch feinen
Freund nicht, fondern nur einen Brief deöfelben, der ihm mit dürren Worten
fagt: „es gibt durchaus Feine Marjorie Dam!" Sie murde nur erfunden,
um den Freund geduldiger auf feinem Lager zu machen, und vielleicht auch,
um Watkins, feinen treuen Bedienten, vor der unangenehmen Bekanntſchaft
mit den 27 Bänden von Balzac’d Werfen zu ſchützen, die lediglich zu dem
Zmede um das Kranfenlager aufgefhichtet waren, um dem Herrn ald Wurf:
geihoffe gegen den Diener zur Hand zu fein. Oder Aldrich jagt ung in einer
anderen Novelle im Boraud, daß Fräulein Mehetabel dem würdigen
Mr. Zaffrey ald jungfräulihe Braut dahingeftorben fe. Wenn aber nachher
Mr. Jaffrey ung bi8 in die kleinſten Detaild erzählt, wie der aus diefer nicht
vollzogenen Che mit Sicherheit zu erwarten gemwefene Sohn „Andchen“ ein-
Hläft und Zähne befommt, feinen Vater beftiehlt, einem alten Spinet die
Beine abfägt, und fchließlich in dem hoffnungsvollen Alter von elf Fahren
in der rothen Stube von einer Bockleiter fällt und den Hals bricht, fo wirft
die Sicherheit der Erzählung und die Fülle des Detaild fo berüdend auf
und, daß wir aud) hier auf Schritt und Tritt uns fragen: mas ift Täufchung,
was Wahrheit? Kann ein verwirrtes Gehirn fo confequent und folgerichtig
bloße Phantosmagorien ausbilden, oder liegt der Geſchichte ein wirklicher
Sohn des feligen Fräulein Mebetabel zu Grunde. Zuletzt erft find mir
her, daß „Andchen“ wirklich nur in der Ginbildung eriftirte.
An einer Stelle in „Prudence Palfrey“ fagt Aldrich: „Er beſaß Wis,
aber feinen Humor, und der Unterjchted zwifchen Wit und Humor ift, wie
mir fcheint, juft der Unterſchied zmwifchen einem zugeflappten und einem
offenen Federmefjer.” Er meint bier offenbar den Gegenfaß von Satire und
Humor; denn Wis und Humor find feine Gegenfäge. Der Wis fann fich
in bumoriftifcher oder in fatirifcher Yorm äußern. Er ſelbſt gebietet, wie
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wir fehen werden, über Humor und Satire in gleihem Maße, und wir find
überzeugt, daß viele feiner Novellen, wie 3. B. unzweifelhaft die Gefchichte
des begrabenen Mr. Wentworth „der Kampf um das Leben“, und vielleicht
au die Iuftige Phantafiegeftalt „Marjorie Dam“ und „Andchen“ in der
Hauptfache oder doch nebenbei den Zweck verfolgt, gewiſſe Modethorheiten
ded amerifanifchen Senfationdromang zu geißeln. Uber wir Deutfchen wiſſen
aus Karl Immerman's Schriften und deren negativem Erfolg, wie wenig
ein Schriftfteller, felbit in einer, literarifchem Schaffen fo vorwiegend zugeneigten
Epoche, wie diejenige war, in der Immermann fohrieb, damit augrichtet, den
geiftreichen Kritiker der literarifchen Verirrungen feiner Zeit zu ſpielen. Und
Aldrich zählt in dem meit weniger Eritifchen und weit productiveren und zeit
ärmeren Nordamerika unferer Tage zu den beliebteiten Schriftitellern der
Nation. Bon Smmermann’d Schriften ift im weſentlichen nur „Münchhaufen”
und von dieſem geradezu epochemachenden Roman wiederum uur jener Theil
zum unvergänglichen Gemeingut des deutfchen Volkes geworden, melcher fid
um den Hofiehulzen und die Liebe des ſchwäbiſchen Jägers zu Lisbeth webt.
Hier hat der Dichter Sitten und Neigungen und Charaktere geſchildert, die
dem deutfchen Wolfe von heute fo ureigenthümlich und theuer find, wie vor
vierundvierzig Jahren, ja die Faum eine Aenderung erfahren haben, feitdem
das Schwert Karl’ ded Großen unter der uralten Behmlinde auf rother
Erde beim Dingtag in der Sonne glänzte.
So iſt auch Aldrich's befte Kraft gefest an die treue und wahre Schil—
derung feine® Volkes, und der große und allgemeine Beifall, den feine Schrif-
ten über den Dcean gefunden, ein Beweis dafür, daß er richtig und vor-
trefflich darzuftellen vermochte, was Millionen mit ihm gleichzeitig empfanden.
Nur fpringt auch bier, in der Schilderung der Eigenthümlichkeit des nord-
amerifanifhen — oder wie er mit Vorliebe jagt „neuenglifhen“ — Lebens,
der Unterfhied zwifchen ihm und Bret Harte in die Augen. Die nordameri-
kaniſche Union ift in fich felbit das merkwürdigſte Beiſpiel der gleichzeitigen
Vereinigung aller Kultur- und Wirthichaftdepochen, melde die Melt je
gefehen hat. Große Stäbe, erfüllt von allen Tugenden und Gebrechen
moderner Großftädte. Ringsum der ſtädtiſche Nahrungsfpielraum mit der
intenfivften Bewirthſchaftung des Bodens foweit befchäftigt, als Induſtrie
und Handel vom Boden übrig gelaſſen haben. Dann weite Strecken Landes,
die einer mäßigen Landwirthſchaft dienen. Dann noch größere Flächen, melde
die Väter erft der Kultur gewannen, wo die Abſatzquellen ſpärlicher find, als
die Ernte. Dann jene immer noch unendlichen Streden jungfräulichen Bodens,
auf denen der Trapper den Büffel jagt, oder der Indianer die legten Jahre
feiner Freiheit verträumt oder der Goldfucher das gelbe Metall aus der Erde
Ihaufelt oder dem Flußfande abgewinnt. Alle diefe Fachwerke menfchlicher
9
Thätigfeit aber rütteln fich fortwährend durcheinander. Aus dem überfeiner:
ten Luxus der Großftadt ftrebt der verarmte Sohn eines reihen Haufes hinaus
in die Wildniß, um fein Glüd in den Minen zu fuchen. Won der äußerten
Peripherie des Landes ftrömen die Glüdlichen nad) den großen Gentren, um
dad Gewonnene im Genuß zu verjubeln oder doc) behäbig zu leben. inmitten
der größten Städte ift die Rechtsſicherheit und Rechtspflege etwas primitiv,
der Gemeinfinn und das öffentliche Gewiſſen der VBervolllommnung fähig.
Draußen aber an der Süd- und Weftgrenze oder in der Wildniß iſt von alledem
gar nicht? zu fpüren. Das befte Mittel gegen Frevelthaten aller Art iſt
dort immer noch, daß mohlmeinende Verſchwörer die Habeas-Corpus-Aete
ſtillſchweigend fufpendiren und notorifche Mitjethäter an den nächſten Ahorn
Mmüpfen, um deren Gundrechte an diefem Zuftande der Zufpenfion Theil nehmen
zu laſſen.
Bret Harte fchildert und nun mit Vorliebe das Yeben der Minen-Wild—
niß, der füdmeftlichen Peripherie; Aldrih dasjenige des Kulturbodens der
Vereinigten Staaten; indeffen nicht am liebften das Leben der großen Gentren,
fondern Fleiner Städte der Oftküfte. Bret Harte würde vermuthlich erit dann
zu der vollen Einfiht der dunfeln Seiten feiner Helden — auch der beitbe-
leumundeten unter ihnen — gelangen, wenn die Gründlichfeit einer deutfchen
Unterfuhungsbehörde fi) damit befchäftigte, das bedenkliche Vorleben und
die zweifelhafte Gegenwart derfelben actenmäßig im Werfonalbogen feitzu-
ttellen. Er findet den höchſten poetiſchen Reiz darin, zu zeigen, wie die»
felben Qugenden, die der moderne Kulturmenfch für fich in Anspruch nimmt,
diefelben Leidenfchaften und Zweifel, die diefen erfüllen und peinigen, auch da
draußen in der gejeßlofen, fast Fulturlofen Atmofphäre ver Wildniß bei einem
jufammengewürfelten Haufen meifterlofer Menfchen zu Tage treten, und die
jelben Eonflicte erzeugen wie in der Kulturwelt. Aldrich dagegen jchildert
und das verhältnigmäpig geordnete Leben alter gefeßter und mohlerzogener
Städte „Neuenglands“, in denen dad Puritanertbum der Roundheade nod)
deutlich wirft — alfo auch directe Erinnerungen an die vor zmeihundert Jah—
ren eingemwanderten Vorfahren ſich erhalten haben — Städte, welche bewohnt
find von einer für Amerifa denfbar confervativften und jtabiliten, dur und
durch autochthonen Bevölkerung, der es tagelang zum Stadtgejpräch dient,
wenn ein Kind der Gemeinde hinaugzieht, um fein Glüd in den Minen zu
fuhen. Und dennoch müßten diefe Städte nicht Theile der amerifanifchen
Union fein, wenn das milde Reben, welches da draußen in den Goldwüſten
brandet, nicht feine mächtigen und unreinen Wogen bis hierher wälzen jollte
in das reine glatte Waſſer der Kleinen Hafenftadt, hinüber über die Dämme
der Ordnung der civilifirten Theile der Union. Während alfo Bret Harte
mit Vorliebe ſich die Aufgabe jtellt, zu zeigen, wie auch inmitten des wert.
Grenzboten IV, 1874, 13
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lofeften Gefindela der Welt wahrer Seelenadel zu finden fei und die Erin-
nerungen an die gefittete Welt, an Erziehung, Religion und Gewiſſen, an
die taufendjährige Entwidelung des menſchlichen Geſchlechtes auch das ver-
lorenfte Geſchöpf diefer Wildnig in jtilen Stunden überwältigt, und der
Dichter fo uns die feite Hoffnung begründet, daß keineswegs alle Brüden ab-
gebrochen find zwifchen der Kulturwelt der Union und diefen gefeßlojen
Diftrikten: fo zeigt und Aldrich andrerfeit3, daß unabläjjig der meifterlofe
fulturlofe Sinn der Abenteurer der Goldfteppen in die befriedeten Kreife der
Kultur verheerend einbricht, innerhalb deren man fi fo groß, fo ficher, fo
unangreifbar und vollfonmen fühlte Mit einem Worte: Bret Harte ftellt
dar die unauslöfchlichen Spuren der Kultur und Sitte in der Wildniß, im
fulturfernen Menfchen, Aldrich die unausrottbaren Rüdfälle und Heimfuchungen,
welche die ftaatliche Gemeinſchaft mit fat Fulturlofen Territorien den gefitteten
Städten und Staaten der Union bringt. So fpielt, wie ſchon oben erwähnt,
in der Hauptnovelle des vorliegenden Bandes, „Prudence Palfrey“, ein Hod-
ftapler von eminenter Begabung, welcher dem Helden des Stüdes den fauren
Ertrag gemeinfamer jahrelangen Mühen in den Minen geftohlen hat, die
erite und fohmierigfte Holle der Novelle, unter der Maske eines Geiftlichen
der Ziegelkicche in Rivermouth. Selbitverftändlich hat er fich feine Predigten
in derjelben freien Weife angeeignet, wie die achtzig- oder hunderttaufend
Dollard feiner früheren Minencollegen. Mit welcher Feinheit und mit wel-
chem Humor diefe Figur gezeichnet ift, fol unten dargeftellt werden. Die
Art der Arbeitötheilung zwiſchen Bret Harte und Aldrich entfpricht vollkommen
ihren Naturen. Der Nachmeis edeljter Menfchlichkeit in den denkbar roheften
und gefeglofeiten Verhältniffen entipricht mehr einer erniten poetifchen Richtung ;
die Schilderung der Gonflicte, welche ein in die Kulturwelt verfchlagener
Abenteurer erzeugt, paßt mehr für den rein humoriftifchen Dichter.
Das it ein Theil der Probleme, melde die Gegenwart der Union
ihren Schriftftellern ſtellt. Das für und wohlmwollende Beurtheiler nord-
amerifanijcher Berhältnifje beflemmendfte Problem der Gegenwart aber: wie
die Gorruption in der öffentlichen Verwaltung der Gentralregierung, der
einzelnen Staaten und jeded größeren Gemeinweſens wirkt, welche Hoff-
nungen und welche Mittel für ihre Beſeitigung vorhanden find, befchäftigt
feinen der beiden Schriftiteller. Sie mochten mit Recht erfennen, daß die
wihtigfte Zufunftöfrage der Union nur in ernften politifchen Berathungen
und Thaten, nicht im Roman und in der Novelle ausgetragen werden
könne. —
Dagegen hat Aldrich zwei der wichtigften Ereignifje der Bergangen-
heit und Entwidelung ſeines Landes zum Gegenitand der Erzählungen in
diefem Bande gemacht: die Ginführung von Gifenbahnen und Telegraphen,
99
und den großen Krieg mit dem Süden unter Lincoln. Für Amerika bezeich—
net der Uebergang von der Poſt zur Eiſenbahn, von der Poſt zur Telegraphie
noch in ganz anderem Sinne den Eintritt in die neue Zeit, als für und alt»
eingefefiene Völker Europad. Denn erft von jener Epoche ab ift der größere
Theil der Union dem modernen Verkehr erjchloffen worden. Es ift daher auch
für die amerikanische Auffaffung diefer Neuerung höchſt charakteriftifh, wenn
Adrih an einer vormaligen Poftherberge der Union, „der alten Schenke an
Bailey's Kreuzweg“ zum erften Mal feit dreißig Jahren am Anfang diefes
Jahrzehnts einen Gaft vorfprechen läßt, und wenn er dem einzigen Stamm:
gaft diefer Schenfe, troß der enormen Maffe von Zeitungen und Beitfchriften,
die er fih hält, Muße genug zugefteht, um dad Wahnbild „Andchens“, des
elfjährtgen ungeborenen Sohnes der Jungfrau Mehetabel, in feiner Bhantafie
zu erzeitigen. — Der Krieg der Union mit den Südftaaten ſpielt in drei der
Erzählungen feine Role, in „Prudence Balfrey*, im „Roman in River
mouth”, und „Ganz recht“. In jedem diefer Fälle ift die Erinnerung an
den feit beinahe hundert Jahren größten Nationalfrieg der Union in höchſt
eigenthümlicher Weiſe wachgerufen, Jedesmal nämlich laſſen fich bei Aldrich
erft dann die Reute mit Handgeld zum Sternenbanner werben, wenn fie gar
nichts anderes mehr auf der Welt zu thun willen, um fich zu erhalten, oder
um zu vergefien. Der Beifall, den auch diefe „Noveld* Aldrich's in feinem
Baterlande gefunden haben, ift Beweis genug, da diefe Art von Verwendung
de8 Unionskriegs in feinen Novellen ihm vom nationalen Standpunkt aus
nicht verübelt worden, daß ein großer Theil feiner Landsleute fie der Wahr:
heit verwandt hält. Darin liegt für und Deutfche eine große Genugthuung.
Bei und würde der Schriftiteller, der conjequent nur verzweifelte Eriftenzen
unfern Fahnen zumeijen wollte, der einmüthigen Entrüftung der Nation be
gegnen, weil eine folche Daritelung mit der Wahrheit in den ſchreiendſten
Gonfliet träte. Für dad Miliziyftem kann es keine vollftändigere Impotenz—
erflärung geben, als die Motive, welche die drei Helden Aldrich's bewegen,
Handgeld zu nehmen. Unſrer Fahnenehre wäre der Gedanke ded Handgeldes
ſchon unerträglich. —
Der Leſer mag diefe Betrachtung vielleicht zu ernft nennen, wo es ſich
um die Beurtheilung humoriftifher Produktion handelt. Aber unmillkürlich
wird fie Jedem ſich aufdrängen, der Aldrich mit Aufmerkſamkeit lieit. Nur
joll bier diefer Gedanke nicht weiter verfolgt und au nicht — fo nahe das
läge — in Verbindung gebracht werden mit der Frage, ob nicht das un-
bändige Freiheitögefühl oder beffer die gänzlihe Entmöhnung von jedem
energijchen Zwang, den ung Aldrich in feiner Skizze „ein junger Raufbold“
jo föftlich perfonifizirt, ſchuld daran ift an diefem und den meilten anderen
Gebrechen, welche die Union heute zur Schau trägt, Die Verfolgung viefer
100
Gedanken ift, wie gefagt, den Fachpolitifern drüben zu überlaffen. Hier fol
der Lejer nur ein Bild des Humoriften nicht des Staatsphilofophen Aldrich
gewinnen. Und am beften wird dieſes Bild, nad) diefen einführenden Worten,
wohl durd ihn felbft gegeben, indem wir der bedeutendften feiner hier ges
fammelten Erzählungen, „Brudence Palfrey“, folgen.
Der Gang der Erzählung ift kurz der folgende: Der reiche ehemalige
Brauer, jest Rentier, Ralph Dent in Willombroof, bei Rivermouth , ift der
Vormund der Waife feiner ehemaligen Flamme Mary Gardner, Prudence
Balfrey, geworden und hält das Mädchen wie fein eigen Kind in feinem
Haufe Sein Neffe John Dent verliebt fi in die Mündel feine® Onfelg,
wie er ald Student die Ferien im Haufe des Onkels zubringt. Johns Vater
ift todt, Vermögen hat er nicht, eine Xebenäftellung ebenfowenig. Als der
Onkel rauh und entjchieden die Erklärung des Neffen von der Hand weiſt —
die Gefühle ded Onkels für die Tochter feiner alten Liebe waren damals
etwas zärtlicher, ala diejenigen eines Bormundes abfolut jein müflen — und
Sohn das Haus verbietet, wartet der junge Mann nur noch folange im
Pfarrgarten des ehrwürdigen Paſtors Wibird Hawkins — eined Freundes
ſeines verftorbenen Vaters — bis er „Prue“ noch einmal gefehen und ihr
Treue bis in den Tod gelobt hat, dann geht er von dannen in die meite
Melt d. h. natürlich in die Minen, um fein Glück zu machen. Für Prue
it die ſchlechte Behandlung John's dur ihren Vormund natürlich das
Signal, diefem offen ihre Liebe zu John zu erflären, an der fie bis dahin felbft
zweifelte. Der Onfel nimmt diefe Erklärung, nad) einem längeren Schmollen,
gütig auf, und der Neffe würde unzmeifelhaft zurüdigerufen werden, menn
man müßte, wo er wäre. Das erfährt man indeflen erft nach einem Jahr.
Sohn Dent hatte inzmifchen zufammen mit dem Sohn ded Diafonen
Twombley von Rivermouth und einem erfahrenen Goldfuhher Georg Neving,
der fich ihnen angefchloflen, gemeinfam ein Vermögen in Gold und Silber
gewonnen, und dachte bereit3 an die Heimkehr, als eined Morgend Georg
Nevind mit dem gefammten Vermögen feiner Aſſociés verſchwunden iſt.
Sohn Dent thut nun das Weußerfte, was ihm zu thun übrig bleibt, er
nimmt Dienfte im Kriegsheer der Union und wir willen für Jahre nicht, ob
er todt ift oder lebt. Prue bringt indefjen ihre traurigen Tage am liebften
bei Paſtor Hawkins zu, bis diefer überalte Mann dur den Einfluß ihres
Onfeld von den Diakonen der Gemeinde entlaffen wird, und infolge diefer
Entlafung — fofort an einem Schlagfluß ſtirbt. Das bisher Erzählte ift
als Epifode fpäter eingeflodhten, die Entlafjung ded Paſtors bildet das erfte
Kapitel der Erzählung und der vor unferm Auge in der Gegenwart fi ab—
fpielenden Thatfahen. Der Paſtor hat Hohn Dent zum Univerfalerben
feined bedeutenden Vermögen? eingefett. Doc fol der jung Mann erft
101
ein Jahr nach feinem Tode davon erfahren, und wenn er in diefer Zeit
ftirbt, fol das ganze Vermögen an Prue fallen. Der neue Geiftlihe nennt
fih James Dillingham — er ift in Wahrheit niemand Anders als Georg
Nevind, der Kohn Dent audgeraubt und feinen zweiten Gompagnon, den
jungen Twombley in einem Bankierhaus in Chicago placirt bat, um in
Nivermouth ganz ungeftört feinem Plan nachgehen zu können: Prue zu
beirathen,; denn Mr. Ralph Dent ift ihm fehr gewogen, und Dillingham-
Kevind Fennt das Teftament ded alten Paſtors und er verfuht daher
Sohn Dent durch einen Helferähelfer, der ihm ſchon früher die beften Dienfte
geleiftet, und dem jungen Mann fortwährend als Spion folgt, aus dem Wege
zu räumen, um dadurch Prue, auf deren Hand er hofft, die Erbichaft zuzu—
wenden. Bon al diefen Plänen und Dingen erlangen wir bei Aldrich
natürlich erft am Ende der Erzählung Kenntniß; aber der wahre Genuß der
Lectüre wird nicht verringert, fondern erhöht, wenn wir ed fhon im Voraus
wiſſen. Denn Aldrich gehört keineswegs zu jenem fchriftftellerifehen Mittels
gut, defien Producte man kaum ein zmeited Mal lefen möchte, nahdem man
glüdlich weiß, „wie es abläuft.“ Im Gegentheil: die vollen Feinheiten der
Sharakterzeihnung und des Humors, die Aldrich bietet, werden von und erft
dann ganz empfunden werden, wenn wir vom Intereſſe und der Spannung
der Handlung nicht mehr gefeffelt werden, alfo bei einer mehrmaligen Lectüre.
Sehen wir nun zu, wie diefer ehrmwürdige Mir. James Dillingham zu-
nächſt bei feiner Gemeinde fich einführt. „Rivermouth tft eine Stadt“, fagt
Aldrih, „wo beinahe buchftäblich nicht paffirt. Bisweilen heirathet jemand,
bisweilen ftirbt jemand — mit überrafchender Plöglichfeit, wie zum Erempel
der alte Paſtor, und biöweilen weht der Wind ein Schiff an die Felfen vor
der Mündung der Rhede. Aber von jenen lebendvollen Tragödien und Ko—
möbdien, aus melchen fi in großen Städten das Leben zufammenjest, wußte
Rivermouth nahezu gar nichtd. Seit in den Tagen vor der Revolution eine
oder zwei Heren gehenft wurden, ift das Amt eined Sheriffd dort thatſächlich
eine Sinecure gewefen. Das Polizeigericht, wo der einzige Gewohnheitäfäufer
periodifh nad dem Stadtgute gefchickt wird, fieht faſt wie ein Zmeig ber
Sonntagsfhule aus. Man kann fagen, die Gemeinde Habe dreißig Jahre
von einem einzigen Eheſcheidungsfalle gelebt, der fi) aus dem Davonlaufen
des Majord Tone Deering mit Frau Honoria Maddor entwidelte — noch
heutigen Tages eine gefährlihe Geſchichte, welche Matronen mit fcharfer
Zunge Jungfrauen mit niedergefchlagenen Augen erzählen.” ine Kleinftadt
diefer Art — die Detatld für die allgemeine Bereitwilligkeit zur Neugierde
und Klatfhfucht auf Koften der Nachbarn werden von dem Dichter bier und
an anderen Stellen der Novelle in der Tiebevollften Weife gehäuft — mar
natürlih für das feltene Ereigniß der Probepredigt eines neuen Pfarrers
102
ganz beſonders empfänglih. Allein noch keineswegs etwa für die Perjon
des Predigers und dad, was er fagen wollte. Im Gegentheil, dank der
langen Amtsdauer und Beliebtheit ſeines Vorgängers hatte Herr Dillingham
einer fo Eritifchen und unfympathifchen Gemeinde gegenüberzutreten, ald nur
möglih mar. Dafür aber war ed an jenem Morgen in der Ziegel-Kirche
ebenfo voll, wie in allen andern Kirchen der Stadt leer. „Joſiah Jones,
Hohmwürden, der ſich bei der Ausarbeitung feiner Predigt für den Vormittag
nicht gefhont hatte, ſah mit übel verfehltem Aerger, daß der größere Theil
feiner Heerde fih auf die benachbarte Meide verlaufen hatte.” Schon ala
Herr Dilingham die Kanzelftufen hinaufftieg, machte er, wie fi fpäter
herauäftellte, einige Groberungen. Er war „ein fchlanfer junger Mann, faft
ſechs Fuß lang, mit fanftem blauem Auge und langen Haaren von dunfel-
blonder Farbe, die er hinter die Ohren gebürftet trug. Der feftgejchnittne
Mund und das Entichloffenheit verrathende Kinn bewahrten fein Geficht
davor, weibifch audzufehen. Er war neunundzwanzig oder dreißig Jahr alt,
aber fah nicht fo aud.* Sein Erfolg wählt, ald er dad Gebet gejprochen
und den Grundtert zu feiner Predigt in der heil. Schrift marfirt hat „und
dag mildheitere bleihe Gefiht, da8 fo wenig zu verfprecdhen geſchienen, von
geiſtigem Leben erfüllt“ war. Die Predigt vervollſtändigte den Sieg.
Nur Seth Wiggins blieb unbezwungen, „da er in alles vergeſſenden
Schlummer gefallen war und inſtinetmäßig mit einem Ruck erſt erwachte,
um den Segen zu empfangen, und jenen halb um Verzeihung bittenden,
halb trotzigen Geſichtsausdruck annahm, der den chroniſchen Miſſethäter
bezeichnet.“ Wir übergehen die köſtliche Schilderung von dem, was die
Leute, namentlich die Frauen, zur erſten Predigt des neuen Paſtors ſagten.
Genug, den nächſten Sonntag fiel der Talar des hochwürdigen Paſtor
Wirbid Hawkins über ihn, und er war wohlbeſtallter Geiſtlicher in der
Ziegelkirche. „Wie ich die Dinge anſehe, war es eine Art Feuerprobe, die
Herr Dillingham in den erſten drei Monaten zu beſtehen hatte;“ — es
war nämlich herausgekommen, daß er unverheirathet ſei — „ein eitler Mann
hätte binnen Wochenfriſt Schiffbruch gelitten. Aber der hochwürdige Herr
Dillingham war, wie Ralph Dent erklärt hatte, ohne kleinliche Einbildung.
Die Aufmerkſamkeiten, die Herrn Dillingham von allen Seiten zu Theil
wurden, würden von zehn Männern, die in ſeine Stellung gelangt waren,
acht verdorben haben. Es iſt fo leicht, der hohen Meinung, welche andere
Leute von uns haben, noch ein Stockwerk aufzuſetzen. Es wurden — bei
den Honorationen — Abendgeſellſchaften für Herrn Dillingham gegeben; es
gab Pieniks den Fluß hinauf und Ausflüge nach der Rhede und unzählbare
Theeabende am Ufer. Ich weiß nicht, ob Herr Dillingham einen ſtark aus—
geprägten Sinn für Humor hatte, aber ſelbſt wenn er nur mäßig humo—
103
riitifch veranlagt war, muß die Menge von geftickten Bantoffeln, genial er-
fundenen Tintenwiſchern, Studirfäppchen und gejchnigten Papiermeſſern, die
bei dem um diefe Zeit zum Beſten der Heidenmiffionen abgehaltenen Bazar
auf jein Theil fielen, ihn ebenſo ergögt, als in Verlegenheit gejegt haben.
Wenn er ein Taufendfuß geweſen wäre, jo hätte er unter vier Jahren die
Bantoffel nicht abtragen fönnen, und wenn er fie auh Tag und Naht an-
bebalten hätte. Wenn er eine Hydra gemwefen wäre, fo hätte er nicht Köpfe
genug gehabt, um in einem Menfchenleben mit den Studirfäppchen fertig
zu werden. Briareus hätte nicht Hände genug gehabt, um die Papiermeſſer
zu halten. Die Pantoffeln überwimmelten das Schlafzimmer des Herrn
Dilingham wie Heufchredenfhmärme, die fi) auf Egypten niederließen. Die
Zintenwifher machten, daß fein Studirtifch wie ein Beet vielfarbiger Geor-
ginen ausſah.“ Er entgeht indefjen mit derfelben Anmuth und Heiterkeit
auch viel gefährlicheren Achtungsbezeugungen. „Es gab ein plögliches Senken
von Augenlidern, ſchwarzen und goldenen, wenn er ſprach; verftohlene Blicke
vol Schüchternheit und Ehrerbietung, halb geöffnete Lippen, die jenes athem-
loſe Intereſſe verriethen, welches das höchfte aller Gomplimente ift und mie
Mein zu Kopfe jteigt.”
Auh die Männer in Rivermouth wurden fämmtlih vom neuen Paſtor
begeiftert. Gr erwies fi) ald zartfühlender Wohlthäter der Armen. „Selbft
der einzige Gewohnheitsſäufer pflegte, falls er das Kicht feined Antlitzes nicht
gerade auf dem Stadtgute verbarg, krampfhaft nach feinem zerdrücdten Hut
zu greifen, wenn er dem jungen Paſtor auf der Straße begegnete. Auch er
fürdtete fih nicht, fi um einen Dollar an den Paſtor zu wenden, da er
entdedt hatte, daß er die Münzen ihm nicht aus einer folchen moralifchen
Höhe zufallen laffen würde, daß ihm davon der Athem aus dem Leibe ge-
trieben und alle feineren Gefühle verwundet werden würden.” Und Sam
Kembley, demokratiſches Mitglied des Obergerichts, fagte von Dellingham:
„Man fann mit hellen Augen ſehen, daß er zu der füdlichen Ariſtokratie
gehört, aber er Flettert nicht immer und ewig feinen Stammbaum hinauf.
Da haben wir den alten Blydenburgh, der hodt in einem weg auf den obern
Zweigen und fchmeigt mit Kokosnüſſen feiner Ahnen nad) den gemeinen
Xeuten herunter.“ Dder mie Aldrih auf eigene Rechnung binzufegt: „Sch
bin in der Hauptitadt des Freiſtaats Mafjachufett3 zwei oder drei jungen
Herren begegnet, welche die dee zu haben fchienen, daß fie in der Schladht
bei Bunkershill getödtet worden wären.“
All diefe Erfolge waren Herm Dillingham jedenfalld verhältnigmäßig
gleihgültig gegenüber denjenigen, die er in Willowbroof davontrug. Ralph
Dent war von Anfang an fein aufrichtigfter Bewunderer. Gr betrachtete
mehr und mehr die Verheirathbung feiner Mündel mit Herrn Dillingbam als
104
den fchönften Abſchluß feines Lebene. Aber Prue hatte ſich vorgenommen,
den neuen Geiftlichen zu haſſen und fie blieb aud lange ftandhaft. Wenn
dieſer nur ſich ein Klein bischen mehr von ihr erfreut gezeigt, für fie interef-
firt hätte, jo märe fie ihrem Vorſatz gewiß treu geblieben. Aber er fchlägt
die Einladung ihres VBormundes, in Willomwbroof zu wohnen, entſchieden aus.
Gr verkehrt täglih im Haufe, aber er ift ihr gegenüber fo fteif und Ealt wie
anı erften Tage. Dazu kommen die infamften Gerüchte „AZuerft ging das
Gerüht, Herr Dillingham intereffire fih ſehr ftarf für Fräulein Palfrey,
und dad war hinreichend verdrießlich; aber fpäter änderte das Gerücht feine
Taktik und berichtete, dag Fräulein Palfrey fih ftark für Herrn Dillingham
intereffire. Der Klatjch ift mie die Vorſehung unergründlich in feinen Wegen,
er hat feine Gefege, wie wir annehmen dürfen, Far ausgeprägt, wenn man
ihnen nur beifommen könnte; aber fie lafjen fich durch inductives Denken
nicht erreichen, und fo muß es ein Räthfel bleiben, wie e8 Fam, daß man in
Rivermouth glaubte, Prudence wäre in Folge ihrer unerwiderten Liebe zu
Herrn Dillingham unglücklich. Wollte ich fagen, dag fie von diefer ärger:
lihen Geſchichte nicht fobald, ald fie geboren war, gehört hätte, fo
bieße das jagen, Prudence hätte Feine vertraute Freundin gehabt, und da
gab es doch Fräulein Veronica Blydenburgh.“ Unter folchen Umſtänden
war es gewiß nicht ungerechtfertigt, daß Prudence „das Gefühl hatte, daß
e8 doch eine höchſt mohlthuende Rechtfertigung und ein rechter Triumph fei,
wenn Herr Dillinghbam fih mit Maßen in fie verliebte und ihr Gelegenheit
verfchaffte, den Beweis zu liefern, daß fie nad) diefer Seite hin fi) nichts aus
ihm made”. Das Fam eher als fie Dachte, und vielleicht ihr felbft nicht fo
gleihgültig, wie fie meinte. Ralph Dent, Dillingham und Prudence pflegten
miteinander fpazieren zu reiten. Eines Tages vertrat fich Herr Dent plöglich
den Knöchel und nun mußte das junge Paar vor Sonnenuntergang allein
augreiten. Sie ritten weit und einfam big zu einer verlaffenen alten Redoute,
manchen Abend hintereinander. Die Landſchaft flammte, von dort gefehen,
im Golde der finfenden Sonne „Nah und nad) zerichmolz der Scharladh-
ftreifen in Zinnober, dann in matted Gold, dann in Silber und dann gleich
dem Uebrigen in farbloſes Grau, wie die Aſche von Roſen und das erite
Zwielicht breitete fi über Land und See aus. „Es ift wie ein Traum,
nicht wahr?“ murmelte Prudence für fih; denn in diefem Augenblicke hatte
fie die Gegenwart ihres Begleiterd vergejen. Herr Dillingham beugte ſich
vor, ohne ein Wort zu fprechen, und legte feine Hand leicht auf die Hand
Prudenece's, welche ohne Handſchuh auf der ſchwarzen Mähne ihres Pferdes
rubte. Das Mädchen erhob ihre Augen mit einer fchnellen Bewegung nad)
dem Geſichte des jungen Gelftlihen, und zj0g dann langfam ihre Hand zurüd,
„Prue!“ ſagte Herr Dillingham leiſe.“
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Er hält in jenem Augenblik um ihre Hand an, wie wir fpäter erfahren.
Uber Prudence verdient ihren Namen. Sie zeigt ſich als die Klugheit felbit.
Sie nimmt ihn nicht an und weiſt ihn nicht ab. Sie fordert Bedenkzeit —
wie lange, fagt fie nicht. Inzwiſchen naht das Jahr nad) dem Tode des
Paſtor Hawkins feinem Ende, und Ralph Dent ala Teitamentsvollftreder hat
dann die Pflicht, feinem verfchollenen Neffen John Kunde vom Grbanfall
ju geben, was dieſen natürlich vorausfichtlic nach Siwermouth zurüdführen
wird. Grund genug für Dillingham-Nevins, ſich den doppelt gefährlichen
Nebenbuhler ganz vom Halfe zu fchaffen und damit wohl auch die lange Be-
denkzeit Prudence'3 abzufürzen. Zu diefem Zwecke läßt Dillingham Kohn durd)
jeinen Spion die Kunde zutragen, daß Prudence nächſtens den neuen Paſtor
beirathen werde. Und ala Kohn felbft wieder einmal fchreibt — im Begriff
ur Truppe zu ftoßen —, läßt er ihn von feinem Spießgefellen meuchlings
anſchießen, und diefer faubere Geſelle kommt dann unter der Maske eines
Dberften Todhunter felbft nad Rivermouth, um dem Onkel Ralph zu er
zählen, fein Neffe Kohn babe im Negiment des Oberften gedient und ſei ge
fallen. Diefe ganze Scene, bei der natürlich Dillingham zugegen ift, und
nit mit einem Muskel verräth, daß er den Mfeudoeifenfrefler und Gewohn—
beitätrinfer Todhunter jemals gefehen habe, — ebenfowenig ahnt es der
Leſer — gehört zu den vorzüglichften der ganzen Novelle. Um die Täuſchung
zu vollenden, treibt fi) der Oberſt noch tagelang in der Stadt umher in
allen Kneipen und Schnapsfchenten und wird fchließlic vom Paftor — mit
dem er dasſelbe Hotel bewohnt — mit Manier und erborgtem Reifegeld ge-
waltfam fortgebradht. Den Gemwohnheitäfäufer der Stadt „Jah man in diefer
Periode Todhunter im Zuſtande hoher Erregtheit des Gehirns in den Straßen
umberflattern. Er wurde unter dem Einfluffe oder richtiger den Einflößungen des
Oberften beinahe allgegenwärtig und brachte faft die ſchwierige Aufgabe fertig,
in demjelben Augenblide in zwei verfchiedenen Quartieren der Stadt. zwei
Hläfer zu leeren.” Dann, nad dem Verſchwinden des Oberften heißt «8:
„Der tapfere Oberft war zu den Nivermouthern wie der gute Queßalcoatl zu
den Aztefen und wie Hiamatha zu den Indianerftämmen Nordamerikas herab-
geftiegen und gleich diefen Gottheiten geheimnißvoll wieder geſchieden. Ein
Glaube, daß er miederfehren werde, um eine Aera gratis verabreichten Ja—
maica-Rums einzuweihen, bildete fi) unter einigen Auserwählten ganz von
jelbft zum Glaubenäbefenntnig aus. Herr Odiorne (der Verkäufer geiftiger
Getränke) hatte e& mit feiner Miederfunft fehr eilig, aber das war mehr
ein Wunſch ala ein Glaube”.
Ralph Dent theilt beide Nachrichten, die, daß Sohn felbft geichrieben,
und daß er bald darauf durch den Oberften todt gejagt worden ift, Prudence
nicht mit, um ihre Ueberlegung auf den Heirathsantrag Dillingbam’s nicht
Grenzboten IV. 1874, 14
106
zu ftören durch die lebhafte Rüderinnerung an John, der in der That aus
dem Kreife ihrer täglichen Gedanken mehr und mehr geſchwunden if. Un
den Tod John's glaubt überdie8 Herr Ralph Dent felbft nicht. Es ift nun
meifterhaft gezeichnet, wie das Bild des fernen Geliebten fich bei Prudence
wieder belebt und erwärmt, fobald fie ernſtlich mit ſich zu Rathe geht, welche
Untwort fie Dillingham geben fol. Somie fie aufhört, diefen dilatorifch zu
behandeln, legt die flammende Erinnerung an die erjte Liebe ihres Mädchen-
berzend ein abfolutes Veto ein, und die entfcheidende äußere Veranlaſſung
zur Abmeifung Dillingham's — wie diefer fie bittet das Lied „der Alte Robin
Gray”, eine ihrer eigenen Situation verwandte Ballade zu fingen — ift nur
die formelle Beftätigung defjen, was bei ihr ſelbſt längſt beſchloſſen mar.
Sie bricht mitten im Liede ab und läuft davon. Herr Ralph Dent, der das
Paar allein gelaffen hatte, um die erhoffte Enticheidung ja nicht aufzuhalten,
findet nur Dilingham, zum erften Male nicht in befonderer Raune.
Das Kartenhaus ded Schwindlers bricht nun rafch zufammen. Am an-
dern Morgen fehrt Hohn Dent verwundet und verfümmert zurüd, in einem
Anzug, „den fein Onfel von Zeit zu Zeit nachdenklich betrachtete und ent-
ſchloſſen mar, in nicht ferner Zeit im Garten hinter dem Haufe eingraben
zu lafjen.“ Leider entwijcht Nevin® mit feiner Beute (dem früher geftohlenen
Gelde John's) abermald. Denn Nevind hat fein Opfer bereit? am frühen
Morgen nah jenem Abend, an dem Prudence das Lied vom Alten Robin
Gray nicht zu Ende fang, in einer Drofchke über die Brüde fahren fehen,
die nah Willowbrook führt, und gefehen, wie John bier den Diener feines
Oheims geſprochen, der eben mit Prudenee's ſchriftlichem Nein Herrn Dilling-
ham zuftrebt. Erft am andern Morgen entdedt John durh eine Photor
graphie Dillingham'd, daß er Georg Nevins ift, und Onfel und Neffe finden
natürlich den faubern Vogel längft nicht mehr in der Stadt. Was aus John
und Prudence geworden, verräth und Aldrich deutlich genug am Ende, indem
er fagt, er habe im letzten Frühjahr bei feiner legten Anweſenheit in River-
mouth einen Heinen Mann fi auf einem Gartenthore der Befisung des weil,
Paſtor Hawkins jchaufeln jehen. „sch hatte diefe Eleine Perfönlichkeit nie zu-
vor gejehen, aber ed lag etwad munderlih Bekanntes in den ſchwarzen
Haaren und den aufgewedten fchwarzen Augen, etwad wunderlich Befanntes
in der biegfamen, gefchmeidigen Geftalt (ed war, wie wenn John Dent, von
fünf Fuß acht Zoll zu drei Fuß vier Zoll verfchnitten worden, wäre) und ala
er meinen Gruß mit jener cavaliermäßigen Mine erwiderte, welche unfern
jehsjährigen Mann von Welt bezeichnet, fo lag in feiner Stimme ein Ton-
fall fo feltfam gleich dem Tonfall in Prudence'd Stimme, daß ich In mid
bineinladhte.*
So kurz und gedrungen diefe Auszüge naturgemäß fein mußten, foviel
107
wird der Leſer daraus erfehen, daß Aldric ein Humorift von ungewöhnlicher
Begabung ift. Er mag Bret Harte vielleicht nachftehen in der Tiefe der
poetifhen Auffaffung und in der Feinfühligkeit feiner Naturfchilderungen —
Farbenfinn z. B. fcheint Aldrich nicht im Uebermaße zu beftgen, fonft würde
er u. A. nicht mit MWohlgefallen ſchreiben: „die Gruppen runder Inſeln auf
der Rhede fahen wie Smaragden in Türkis gefaßt aus“. Uber er ift Bret
Harte weit überlegen in der Sorgfalt und detaillirten Ausarbeitung feiner
Charakterfchilderungen: wir erhalten überall fertige, durchaus anfchauliche
Bilder, die nirgends in Nebel zerfließen, von denen wir fogar meift genau
wiffen, wovon fie leben. Und Aldrich's fpezififh humoriſtiſches Talent,
namentlich die Fülle feiner humoriſtiſchen oder ſatiriſchen Vergleiche und
Wendungen dürfte unter den Zeitgenoffen wenig Rivalen haben.
Endlich ift noch ein herzliches Lob dem Ueberfeger zu fpenden. Die aud-
geſprochene Vorliebe des Ueberfegerd für einige unfchöne Provinztaliämen,
wie 3. B. das häufig miederfehrende fächfifhe „Feixen“, abgerechnet, iſt
diefe Heberfegung ald außerordentlich gelungen zu bezeichnen. Nirgends iſt
der deutfchen Sprache Zwang angethan, um dem Driginal treu zu bleiben;
nirgend8 aber auch der Geift und Sinn ded Original® vergewaltigt, um mit
Umgehung fpradhlicher Schwierigkeiten bequem darauf los fchreiben zu können.
Eine Fülle Dialefte, Nüancen und Wortfpiele find mit Birtuofität wieder—
gegeben. Kurz, wer Aldrich im Original gelefen, wird fich herzlich freuen,
ihn fo verdeutfcht zu fehen; mer ihn in diefer Ueberſetzung lieſt, darf fagen,
Adrih zu kennen.
Hand Blum.
Die Yanken in Tuxemburg.
Mie ſich der materielle MWohlftand im Großherzogtbum Luxemburg
während der letzten 20 bid 25 Jahre gehoben, bemeifen am beiten die in
diefer Zeit hier ind Leben getreienen vielen und bedeutenden Banfinftitute.
Bor 25 Fahren vegetirten bier ein paar faum weiter befannte Heine Bank—
häufer. Der Handel und die Induftrie, welche, bei unferm geringen Verkehr
und den geringen Verfehrämitteln, halb und halb von der umliegenden Welt
abgetrennt waren, fhienen nicht im Stande, bedeutenderen Bauunternehmungen
die genügende Stütze und Garantie zu bieten. Aderbau und Viehzucht waren
die erften und bedeutendften Ermerböquellen ded Landed. Die menigen
Kleinen Fabrifen und Gewerbe, welche durch das Land zerftreut lagen, und
108
unter denen die Papier-, Steingut- und Zuchfabrifen mit der Lohgerberei die
bebeutendften waren, bedurften nicht erheblicher Betriebscapitalien und waren
daher auch nicht dazu angethan, große Kapitalien ind Rand zu ziehen. Das
bier fabrizirte Steingut wurde meiften® von den FEleinen Krämern und
Haufirern im Lande felbft oder in deffen nächſter Nahbarfhaft an Ort und
Stelle gekauft, auf Kleine Gefärthe, Teichte Wagen, Krämerkarren, Schieb-
farren, ja Hotten, verladen und ringsumher colportirt, manches jogar gegen
alte Rampen, altes Eifen oder fonft gangbare Waare vertaufht. ine Fabrik
konnte von Glüd fagen, wenn fie von Zeit zu Zeit eine tüchtige Sendung
per roulage, wie wir bier fagten, nad) Belgien ausführen fonnte. Unfere
Papierfabrifen, die ſich noch bis in die letzteren Zeiten mit der Handfabrifation
begnügten, Eonnten ſchon dadurch zu Feiner Bedeutung fommen. Uber wie
follten wir, jo von aller Welt ifolirt, zur Mafchinenfabrifation kommen ?
Wo hätten wir mit einer ftärferen Produktion Hin geſollt? Auch unjere
Tuchfabriken waren kaum über die erften Elemente der Tuchfabrikation
hinausgekommen. Site fabrizirten aus der einheimijchen Wolle ganz; tüchtiges,
freuzbraves Zeug, das vorhielt Generationen und Generationen hindurch , fo
daß — wie das noch beim Schreiber diefer Zeilen der Kal war — der Enkel
im Brautrod des Großvater zur erften Communion gehen konnte. Wer
aber die Glieder in dem liniendiden Zeuge kaum bewegen konnte, dad waren
die Enfel der Grofväter. Daß ein ſolches Produkt nicht fehr zum Erport
nad Rändern hin geeignet fein fonnte, die und in Allem ein halbes Jahr:
hundert voraus waren, begreift der Leſer gewiß ohne große Schwierigkeit.
Mie weit die Eifeninduftrie in jener Zeit bei und vorangefchritten war,
geht wohl zur Genüge daraus hervor, daß ein nicht unbedeutender Haufir-
handel mit altem, verroftetem Eifen, wobei jogar die alten verrofteten Schubr,
Huf und andere Nägel nicht verfchmäht wurden, durchs ganze Land ge
trieben wurde. Diele von diefen Haufirern, meiften® Juden, durdhtrabten
fogar ihren Bezirk auf Schufterdrappen, den ſchweren Sad mit dem „Eoft-
baren” Metall auf dem Rücken. Wir befaßen auch wohl damals ſchon
einige fogenannte Puddlingswerke, jo namentlich das des Herrn Collart in
Dommeldingen ganz in der Nähe der Hauptftadt, aber ach! meld eine kläg—
lihe Figur würde heute das ehemalige Dommeldinger Eifenwerf neben den
gewaltigen Hüttenwerfen der Gefellihaft Metz & Co. machen! Hier festen
damals die Haufirer ihr altes Eifen ab, wenn fie e8 nicht vorzogen, es den
einfachen Huf- und Grobfchmieden zu verkaufen, die dafür ein paar Heller
mehr zahlten.
So ſah es mit unferer Großinduftrie vor etwa 30 bie 40 Jahren no
aud, wenn der Name die Sade nicht noch Tächerlicher macht. Die Leber
Induftrie ſtand allen andern voran. Sowohl Häute ald Lohe waren in
109
reihlihem Maße im Sande vorräthig, fo daß hier unter fehr günftigen
Bedingungen fabrizirt werden konnte. Und fo machten unfere Lohgerber
Ihon früher recht brave Gefchäfte auf der Leipziger Meſſe, wie auch noch
heute. Doch Hauptfahe war der Aderbau und die "Viehzucht, und Haupt:
artikel unferd Exports waren Getreide, Pferde, Rindvieh, Schafe und
Schweine Unfere Jahrmärfte waren ſtets maffenhaft befucht von aus- und
inlfändifhen Getreide und VBiehhändlern, vorzüglich aber von israelitiſchen
Pferde, und belgifchen und franzöfifchen „Schweinfäufern“, wie die Reute
bier genannt werden.
Und mie der GErport, fo der Import. Beim Import machten die
Solonialmaaren die Hauptfache aus. Das Volk Eleidete ſich meiſtens noch in
jelbftgewonnenes, felbftgefponnenes und felbftgewebtes Zeug, welches feinen
beiten Glanz beim Blaufärber erhalten hatte. WBlauleinene Hofen und ein
blauleinener Kittel dazu war das gewöhnliche Nationalkoftüm bei ung.
Der Leſer begreift, daß, bei einer folhen faft patriarchalifchen Einfachheit
dad Geld nicht in floribus bei und zu fein brauchte, und bet unferer elementaren
Induſtrie auch wohl nicht in floribus fein konnte. Wozu hätten wir damals
große Bankinftitute gebraudt. Es genügte reichlich an den Herren Notaren
und Udvofaten, um den guten Bauern, die ſich da ſchinden lafjen wollten, das
Fell über die Ohren zu ziehen. Große Kapitaliften, die ihren Bortheil auch
damals ſchon verftehen mochten, fahen in unferm ifolirten Rändchen nichts,
was fie hätte in Verfuchung führen können, ihr Geld bei diefem oder jenem
Unternehmen zu riöfiren, dad etwa erft nad langen Jahren rentabel werden
ſollte. Unſere großen Schätze, die beften Reichthümer des Landes, unfere
Eifenerze und prachtvollen Hau- und Pflafterfteine mußten ungefhäst und
unbenugt in der Erde liegen. Die gehaltvollen Bohnenerze, die man nur
zufammenzufchaufeln und zu waſchen brauchte, um fie nach dem Schmelzofen
zu bringen, machten den guten Bauern nur Verdruß und entwertheten ihr
Erdreih. Die paar Hüttenwerke, weldhe unter ſolch günftigen Verhältniſſen
ind Leben gerufen wurden, famen nicht fort. Sie vegetirten und verfümmerten.
Es fehlte und an Verkehrsmitteln mit der Außenwelt. Wir ftanden ifolirt
von dem übrigen großen europäiſchen Körper, und die reichen Verkehrsadern
desſelben pulfirten nicht in unferm induftriellen Organismus, danf dem alten
heillofen Schlendrian der leitenden Gewalten bei und. Das war, mie
unfere Paftoren meinen, die goldene, paradiefifche Zeit, die Zeit der Unfchuld
und des findlichen Glauben? und Gehorfamd. Für die guten Herren mag
allerdingd die Zeit viel von einem goldenen Paradieſe (mie ed Pater von
Cochem in feinen „vier legten Dingen“ fo lebhaft ſchildert) gehabt Haben. Das
eiferne Zeitalter war es jedenfall® noch nicht, das follte und erſt der deutſche
Zollverein bringen, und zwar zugleich mit den Eifenbahnen, diefer verruchten
110
Erfindung des Zeufeld, denen auch der fromme und gottesfürchtige Banden-
führer in Spanien, Don Carlos, Verderben geſchworen hat.
Alfo, mie gejagt, erft mit unferm Gintritt in den deutfchen Zollverein,
jollte der Teufel bei und los gehen. Deutfhland braudte nämlich unfere
Schätze, wir meinen diejenigen, die bis dahin nuslo® in der Erde lagen. Wir
dagegen Fonnten da® deutfche Geld, Thaler oder Gulden, n’importe, fogar
das Papiergeld, die preußifchen Caſſenſcheine, brauchen. Zwar zogen wir das
franzöfifhe WFünffranfenftüf dem preußifhen Thaler vor (auch Flügere Leute
ald wir, thaten das), aber befjer doch immer ein preußifcher Thaler oder auch
nur ein füddeutfcher Gulden, ald gar nichte. Dabei ſagten ſich die großen
Herren und fpefulativen Köpfe, melde Geld hatten, dieſes: Wenn der deutfche
Zollverein unfere Eifenerze braucht und und dafür feine Thaler oder Gulden
geben will, fo wären wir ja Thoren, wenn wir ihm feine Eifenbahn bauen
wollten, auf welcher ex diefe Erze beziehen fann. Andere meinten fogar, wenn
wir einmal die Eifenbahn hätten, könnten wir auch felbit unfere Erze ver-
hütten und Deutſchland unfer Eifen fir und fertig (das Roheiſen vorerft)
verkaufen; denn dadurch, meinten fie, fpare man die Transportkoſten für die
Schlade und verfchaffe den armen Leuten im Lande Arbeit und Berdienft.
Ja! nun ging den Kapitaliften auf einmal ein Licht auf. Und als die
belgiſchen Koblenbefiger vernahmen, wir wollten, ſobald mir unfere Eifenbahnen
haben, „Hütten bauen“ (Eifenhütten wohlverftanden), da fam ihnen ſofort
der Gedanke, mir fünnten dabei wohl ihre Coaks gebrauden, und ein nettes
Stück Geld könnte auch für fie dabei herausfallen. Freilich mußte dazu
unfere Bahn Anflug an die ihrigen haben. Auf diefe Weife gab ein
Wort das andere, ein Projekt führte auf das andere und — unfere Eifenbahn-
Geſellſchaft Wilhelm-Quremburg conftituirte fi, bradyte das Kapital zufammen
und — baute und unfere Bahnen.
So kam das Geld ind Land, der nervus rerum der Banfen und —
aller Induſtrie; und mit dem Gelde die Großinduftrie und — die Banfen.
Hier gab's gar nichts zu riefiren. Der Reichthum, den unfer Rand in
feinem Schooße barg, und den man nur zu Tage zu fördern brauchte, zählte
nad Millionen. Da konnte es alfo feine Schwierigkeiten haben, das Betriebö-
Fapital Herbeizufhaffen. Doch hierzu bedarf es der Vermittlung der Geld—
inftitute, der Banken. Sofort trat nun unfere Internationale Bank, ein
deutfches Bankinftitut, mit einem Kapital von vielen Millionen, ind Reben.
Die Bank verlangte weiter nichts, als ihre Millionen dem Lande und feiner
Induftrie zur Verfügung zu ftelen; doch um nicht felbft zu kurz dabei zu
fommen, follte das Rand ihr erlauben, Papier zu fabriziren (nämlich Banfnoten-
papier) und zwar nur zum doppelten nominellen Werthe der Millionen, die
fie, zu fo und foviel Procent, dem Rande und der Induſtrie zur Verfügung
——
111
ftelte. Wir griffen mit beiden Händen zu, und dieß um fo eifriger, ald mir
die Millionen der Internationalen Bank höchſt nothwendig brauchten, wenn
es mit dem Bau unferer Eifenbahnen, von denen fonft alle® Uebrige abhing,
niht den Krebögang gehen ſollte. Und kurz und gut, die Banf gab und
ihre Millionen (natürlid nur auf Eredit), und wir ließen die Bank Papier
fabriziren. Und mirklih, wenn wir dabei Fein ſchlechtes Geſchäft gemacht
hatten, fo fchien die Bank felbft auch gar nicht übel zufrieden mit der
Commiſſion, oder Provifion, oder wie man die Sache betiteln will, zu fein,
die für fie dabei herausgefallen war. Sie profperirte zufehenne, und zwar
jo jehr, daß ihre Korbeeren einen andern großen Bankherrn und nod
größeres finanzielle und politifches Genie nicht Länger ſchlafen ließen. Dieſes
Genie war noch dazu ein großer Freund und protege von Franfreich, der
den „Preuß“ Faum minder verabfhheute, als den leibhaftigen Gottjeibeiund
jelbft. Der Mann kannte fomohl feine eigene Kraft als Ddiejenige der ge
waltigen Stügen, worauf fie fußte. Somohl ald Politiker, ald Finanzgenie
juhte er Seinedgleihen. Diefer Mann nun fam von Belgien ber in unfer
Rand mit dem feiten Entfhluß, zuerſt die deutfche Banf in den Grund zu
bohren und zu zermalmen, und dann, um und das große, reiche, jchöne
Frankreich, wo es die Banfherren und andere großen politifchen Herren damals
jo gut hatten, zu anneftiren. Für die vielen Millionen der deutfchen
Bank wollte und der franzofenfreundliche Bankherr doppelt fo viele von feinen
Millionen zukommen laffen, und dabei follten feine Millionen in Fünffranfen-
füden und nicht in lumpigen preußiſchen Thalern, gefchmweige denn in ſüd—
deutſchen Gulden, beftehen. Wer hätte da nicht mit beiden, ja mit zehn Hän-
den, zugreifen wollen, wenn er fie gehabt hätte, ich meine diefer die Hände,
und der andere die Millionen. Wie es ſchien, fehlte ed dem großen Bankherrn
faft noch mehr an den Millionen, ald und an den Händen, diefelben in
Empfang zu nehmen. Erſt müßten wir, meinte er, und das reiche Frankreich
annektiren, dann kämen die Millionen bald von felbft, und zwar direft aus
der franzöfifhen Nationalbanf. Denn die neue Banf, die der Herr bei ung
„gründen“ wollte, und die der deutfchen Bank den Garaus machen follte,
jolte ja meiter nichts fein, als die Succurfale der großen Nationalbanf von
Frankreih, und der Herr follte Oberdirektor derfelben werden. Doch fiehe!
die deutfche Bank ftand fefter, als der geniale Finanzmann fich dag vorgeftellt
hatte. Sogar feine beften Chikanen brachten fie nicht zum Wanfen. Es
ging dem Freunde Frankreich der deutfchen Bank gegenüber, wie e8 Franf-
veih felbft bald Deutſchland gegenüber gehen follte: er verlor die ſchöne
Partie und — ift bis zu diefem Tage noch nicht Oberdireftor der Succurfale
der franzöfifchen Nationalbank bei und. Wir haben nämliche diefe Suceurfale
bis dato noch nicht. Das große finanzielle Genie muß fich alfo mit einem
112
Kleinen, ziemlich unbedeutenden Bankinftitute begnügen, bi® dahin, wo — die
„Revanche“ kömmt, die Succurfale der Nationalbanf von Frankreich im
Schlepptau führend.
Seitdem aber ift ſchon ein anderes großes Banfinftitut beit und gegrün-
det worden, nämlid die „Nationalbanf“. Wir befiten fomit ſowohl eine
Nattonalbanf ala eine Internationale Bank, und beide überbieten fih darin,
und ihre Milltonen aufzufhmwasen und — Papier zu fabriziren, das man glüd-
licher Weife im Auslande nicht nehmen will, jo daß wir den ganzen colofjalen
Reichthum für und allein behalten. Glückliches Land! — und um fo glüdlicher,
als die Abneigung des Auslandeg, fich mit unfern Banfnoten zu bereichern, eher
zu» al® abzunehmen fcheint. So fagt die „Kölnifche” in ihrer geftrigen
Nummer, fogar der deutſche Neichdfanzler habe unferm Gefandten in Berlin
fein Wort gegeben, daß fich Deutfchland nicht durch unfere Millionen in
Banfnoten bereichern und und verfelben berauben wolle. Das ift ja recht
tröftlih für und und unfere Banken. Gin Glück, daß unfere Eifenbahnen
gebaut und in guten Händen find, und unfere Grofinduftrie nicht minder,
weil diefe fonft den ganzen papiernen Schwindel verfchlucfen würden. So
aber fann doch ein armer Teufel wie unfereind auch nody Hoffnung hegen,
feinen Theil von den Millionen, die fonft Niemand will, zu erhalten.
Doch, Spaß bei Seite! Mas wollen unfere Banfen mit ihren vielen
Banknoten anfangen, wenn diefe Niemand mehr nehmen will? Wird nicht
dadurch unferm Lande felbit eine tiefe Wunde geſchlagen werden? Wenn
auch das Land und feine Regierung keineswegs ſolidariſch mit unfern Zettel:
banfen find und feinen direkten Theil an deren etwaigen Verluſten zu tragen
haben, jo fann es doch für und nicht gleichgiltig fein, ob die Banfnoten
diefer Inſtitute Curs haben oder werthlos find. Uns fcheint durch ſolche
Verhältniſſe aus dem Handel und der Großinduftrie bei und Gefahr zu drohen,
wenn der Gredit der beiden bedeutendften Bankinftitute unfer® Landes durch
die Weigerung , ihre Noten in Deutjchland, auf welches fie doch großentheile
berechnet find, circuliren zu laſſen, erfchüttert wird. Wir geftehen gern, daR
wir in der Sache nicht competent genug find, um Far über die Folgen der
beregten Weigerung aburtbeilen zu können. immerhin aber muß es den
deutfchen Leſer intereffiren , diefe Frage hier aufs Tapet gebracht und etwas
näher beleuchtet zu fehen.
Wir werden nicht verfehlen, fpäter, wenn diefelbe fich erft noch weiter
in den Vordergrund drängen wird, an diefer Stelle auf diefes Thema zurüd-
zufommen, N. Steffen.
113
Vilder aus Mecklenburg.
Aus den Tagen der Bürgermwehr. 1.
Don Hugo Gaedde.
Unter meinem Fenſter fpielen die Kinder „Soldat“. Des Nachbars
Emil tt die Hauptperfon; die andern Kinder folgen ihm ehrfurchtsvoll, denn
er trägt einen Tjchafo, den er Gott weiß woher erhalten hat. Und fah’ ich
recht? MWahrhaftig, diefer mächtige Tichafo mit der ftrahlenden Sonne
vorn und dem Vogel Greif in der Sonne, diefer furhtbare Augenfhirm an
dem Tſchako und oben darüber der mächtige weiße Haarbujh —, das ft
wahrhaftig noch ein Käppi von der alten Roftoder Bürgerwehr. Du Reſt
vergangener Herrlichkeit, armed Käppi! Wleinte doc in deiner Blüthezeit ein
Anonymus in der Zeitung von Dir: „Mir ift ſchon das ſchwizeriſch Täbelnde
weibifche Wort Käppi etwas widerlihd. Wer es nicht weiß, der foll es
wahrlich nicht verrathen, daß mit jenem federleichten Wort ein fo ſchwerer
Sturmdedel gemeint ift, er wird fich jedenfall® eher ein ſpitzenbeſetztes Mull-
häubchen für ein Wickelkind darunter voritellen.”
Roftoder Bürgergarde! Ja, ed war eine fchöne Zeit, als diefe alte
Bürgerwehr jung gemejen. Jugendliche Begeifterung hatte in den Märztagen
des Jahres 1848 Alt und Jung auch in Roſtock entflammt. Es galt den
edfen und thatkräftigen Gedanken: Schu dem Volke durch das Wolf,
Aufrechterhaltung der fittlihen Ordnung und Erleichterung der Militärlaft.
Als daher am 18. März die Liſten für den freimilligen Eintritt in die
Bürgermwehr öffentlich ausgelegt wurden, zeichneten an diefem Tage eine Menge
tüchtiger Männer ihren Namen in die Lifte. Schon der zweite Tag zählte
200 Freiwillige; die Zahl ftieg bi8 zum 6. April auf 671 PBerfonen. Alle
Stände metteiferten in der Begeifterung. Einer wollte e8 dem Andern zuvor:
tbun. Herrliche Reden wurden gehalten; man verfchwor fi, für die Garde
und zum Schuß ded Vaterlandes Gut und Leben zu lajjen.
Zur einftmweiligen Benfhffnung fuchte man auf das Schleunigite aus den
dunklen Kammern des Rathhauſes nach den alten abgedienten Flinten, die
ohne Schloß und Feuerftein, feit Decennien dort verborgen lagerten. Einige
Unteroffiziere vom Militär wurden requirirt, um die nöthigen Exereitien zu
leiten; Alles war muthvoll und Fampfbejeelt. Namentlih die alten Degen
von 1813 lebten wieder auf. Es war ordentlidy eine Freude, zu fehen, wie
fie wieder jung geworden, von ihren Thaten erzählten und in dem Gebraud
der Waffen den Neuling unterrichteten.
Noch immer fhien die Begeifterung zu wachſen. Man begrüßte freudig
die Berordnung des Magiftrate®, melcher die gefehlichen REINE zur
— IV. 1874.
114
Errichtung einer fürmlihen VBürgergarde regeltee Cine Volksverſammlung
ward berufen, über Montur und Waffen follte dort das Meitere geplant
werden. In diefer Verfammlung platten aber die Geifter aufeinander. Die
Einen hielten einen Säbel für unnöthig, als Schugwaffe fei der Säbel nicht
wohl zu denfen, „denn vor einem Handgemenge mit dem Säbel werde der
Himmel die Bürgergarde gnädig bewahren.* Die Andern ftimmten für den
Säbel; namentlid) die braven Freimilligen von 1813, die alten Haudegen,
die den Gebrauch des Säbeld aus der eigenen Praris fannten und ihn wohl
zu führen gedachten. Die Einen wollten blaue Tuch, die Andern grünes
Tuch zur Uniform, aber auf feinen Fal ruſſiſch Grün; Ale waren fie einig
im Haß gegen den Modcomiter. Die eine Partei wünſchte died, die andere
das, — es galt hier fehon der verzweifelte Schmerzendruf, den ein Freund
der Bürgerwehr fpäter ausftieß: „Dergleichen verfchiedene Sinne bringe nun
einmal Einer unter das gleiche Käppi!“
Bei den Meiften freilih wollte in den nächſten Wochen ſchon die Be-
geifterung merklich abfühlen. Die tapferen 671 Männer und Yamilienväter,
welche ihren Namen fo begeiftert in die Lifte eingezeichnet hatten, wo ftedten
fie auf einmal? Die Meiften waren nirgends zu fehen. Ueber diefe Saum-
feligen ereiferte fi namentlich ein alter Vicefanzleidirector, der mit jugend-
lihem Feuer der guten Sache diente; er ſchalt Öffentlich in der Zeitung über
diefe Helden, die ihn und die wenigen Getreuen allein exereiren ließen. Es
erfchienen nämlich bei den öffentlichen GErercitien höchſtens 30 Mann, dies
Mal der Eine, das nächte Mal ein Anderer. „Es ift fehr zu befürdten“,
ruft der alte Vicefanzleidireftor jammernd, „daß die Noftoder Bürgergarde
bei ihrem erften Öffentlichen Auftreten entweder dur) die Mängel ihrer äußern
militärifchen Haltung oder auch durch unrichtige Ausführung ded Commandos
leicht die Heiterkeit der Strafenjungen erregen könnte.“
Inzwiſchen fuchte der Magiftrat der finfenden Begeifterung etwas nach—
zubelfen. Es erjchien am 7. April eine Verordnung ded Rathes, melche ein
feſtes Corps von 800 Mann, in acht Compagyien, von je 100 Mann ges
theilt, gründete, und den Dienft der Bürgermehr einem jeden Bürger zur
Pfliht machte, fobald er noch nicht das 50fte Lebensjahr überfchritten hatte.
Die Dienftzeit ward auf drei Jahre feftgeftellt; die Montur follte jeder
Bürger auf eigene Koften fi anfchaffen, dagegen wollte die Stadt die
nöthigen Waffen, — Flinte, Säbel und Batrontafhe, — jedem Bürger
Eoftenfrei liefern. Um diefe Zeit war die Uniform der Bürgergarbdiften in
der Plenarverfammlung im Allgemeinen berathen worden. Man hatte hierauf
eine Commijfion zur Organifation der Bürgergarde ernannt. Diejelbe trat
mit einem detaillirten Entwurf über die Uniform hervor, welcher wieder in
einer Plenarverfammlung berathen wurde. Nur einige wenige Abänderungen
115
erſchienen zweckdienlich; und fo follte man glauben, daß hiermit endlich die
Sache abgethan war. Aber nein! Deffentlih in den Zeitungen und unter
der Hand ward jetzt bald diefe, bald jene Abänderung der Uniform in Vor—
ihlag gebracht. Der Eine wollte für den Waffenrot den Militärſchnitt, der
Andere den Givilfchnitt, „denn der Civilfchnitt“, fagte ein Zeitungsartikel,
„ift meit eleganter und hat noch den Vortheil, daß die theure Uniform fpäter,
nach beendigter Dienstzeit, noch in einen hübfchen Leibrock kann umgearbeitet
werden.” Inzwiſchen kaufte der Eine das Tuch zu feiner Uniform von
Diefem, der Andere von Jenem und foheerte fih nicht im Mindeften darum,
ob es die vorgefchriebene Farbe hatte oder nicht. Andere fchrieen Zeter über
dad Modell des Bürgergardiftenfäppie. „Wir hatten Gelegenheit, heute ein
bereits fertige® Käppi zu fehen und waren nicht wenig erftaunt, ſolches mit
dem Vogel Greif geziert zu finden, welchen wir nur gewohnt find, bei un—
jeren Bolizeimachtmännern und Sprigenleuten wahrzunehmen. Iſt e8 der
Mille des Plenums, diefe Auszeichnung an den Käppis zu tragen?“ Dazu
war ſchon ein Unglück der neuen Interimsmütze begegnet, die bis zur An-
fertigung des Käppis das letztere vertreten follte. Zwei verfchiedene Gewerke
nämlih, die Mützenmacher und die Hutmacher, hatten fich die betreffende
Competenz ftreitig gemacht, — und jeder auf feine Hand nad) feiner Form
gearbeitet; fo lief nun ein Theil der Bürgergardiften mit der einen Form,
der andere mit der andern Mübenform umher. Und dann heißt es weiter
in einem Schmerzendrufe der Zeitung: — „inzwifchen haben nicht wenige
Bürgergardiften aud) ihre Käppis, der eine bei Diefem, der andere bei jenem
beitellt, ohne Gewißheit darüber, ob und in wie weit die Arbeiten der ver-
Ihtedenen Lieferanten wirklich modellmäßig feien.“
63 erhob daher ein eifriger Verehrer der Bürgergarde in der Zeitung
einen Mahnruf; er forderte die Gardiften auf, diefen Uebelftänden abzuhelfen
und die Uniform nur fo anfertigen zu laſſen, wie es bereitd durch die
Commiſſion für die Organifirung der Bürgergarde angeordnet worden. Cr
Ihloß fein Mahnfchreiben mit den Worten: „Halten wir feit zufammen, fo
müfen ſich jene Leute, welche, um Staat zu machen, Bürgergardiften wurden,
Ihon fügen.“
Auf diefen Mahnruf erfolgte in den üffentlihen Blättern die höchſt
ergötzlich und anfchaulich gefaßte Antwort: „Durh Ihr Schreiben, fürchte
ih, haben Sie der größeren Zahl der Bürgergardiften und dem Publicum
ein großes Vergnügen geſtört. Welch' ungeheure Heiterkeit würde ed nicht
verurfaht Haben, wenn wir hier einen befammteten Lieutenant, dort einen
Unteroffizier mit einer Goldtreffeneinfafjung am Kragen, bier einen Lieutenant
mit Goldftickerei, dort einen Unteroffizier mit ladirtem Lederzeug, hier einen
Lieutenant mit Sammet und doppelter Goldtrefjeneinfaffung an Kragen,
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Händen und Füßen u. dgl. m. zu fehen befommen hätten. Mit welchem
Jubel würde nicht jedes neue Abzeichen von der lieben Straßenjugend begrüßt
und dur ein bedeutendes Gomitat beehrt worden fein! Um dies große Ber-
gnügen haben Sie und durch Ihr Schreiben nicht allein gebracht, ſondern
Site haben und dadurch zugleich der Gelegenheit beraubt, eine große Zahl der
Reute kennen zu lernen, welche ded bunten Rocks wegen Vürgergardiften ge-
worden find. Das ift unverantwortlih von Ihnen gehandelt.” —
Inzwiſchen tönte mieder die ſcheltende Stimme des alten PVicefanzlei-
directord. Er hatte bet der legten Grereirübung nur noch 20 Mann gezählt.
Es muß danach die Autorität der Hauptleute nicht groß geweſen fein.
Hauptleute eriftirten nämlich damald wirklich ſchon; fie waren nad einem
allgemeinen Ausmarſch ded gefammten Bürgereorps auf freiem Felde gewählt
worden. Augenzeugen können nicht genug davon erzählen, wie ſtolz und
martialifch die erwählten Hauptleute (in Ermangelung eined Degend mit dem
Spazierftof über die Schulter), an der Seite ihrer neuen Compagnie in Die
Stadt heim marfhirten. Das waren die Hauptleute; nun fehlten aber wieder
die Lieutenant? und die Unteroffizier... Neue Klagen in der Zeitung geben
hiervon Zeugniß.
In diefem MWirrwarr fette die Commiffion für die Organifirung der
Bürgergarde gemächlich ihren Weg fort. Sie fümmerte fi mehr um bie
Uniform ald um die Gardiften. Ein Zornausbrud der Zeitung vom 25. April
macht fih in der Anfrage Luft: „Wie lange ed wohl noch währt, daß acht,
fage acht Compagnien Bürgergarde ſich bei der Nafe herumführen Taffen ?“
Endlih, nad langer Baufe, und kurz vor der Auflöfung der ganzen
Garde in ein Nichts, fährt neues Leben in die Glieder. Die Commiffion
ermannt fih. Das Dienftreglement wird zur Hand genommen, die zum Dienit
verpflichteten Bürger werden für die Garde audgehoben, man revidirt die
Gompagnieliften und ladet die faumfeligen Gardiften zur Verantwortung, —
wie dies Alles ſchon der alte Vicefanzleidirector in der Zeitung wiederholt ge-
predigt hatte. So Famen endlich im Monat Juni feine Worte noch zur Gel:
tung. Inzwiſchen waren auch Dffiziere und Unteroffiziere gewählt. Am
7. Juli rüdte denn zum erften Male die ganze Bürgergarde in voller Uni-
form zum Manöver ind Feld. Ein Zeitungsartikel rühmt die Garde als ein
ſchönes Corps, das feiner Baterftadt gewiß Ehre made. „Die kräftigen
Männer imponiren und werden ihren Zweck nicht verfehlen,“ jagt der Bericht:
erftatter. Es fragte fih nur: welchen Zweck? Auch der alte Vicefanzleidirector
ſprach jest in einem etwas fanfteren Ton. Auch er nennt in dem Zeitungs:
blatte die Garde ein hübſches, ja ein imponirended Corps. Es fehlte nach
feinem Bericht nur noch an taufend Fleinen militairifhen Anordnungen, na-
mentlih bei der Schießübung. Es wurde mit unbegreifliher Unfunde und
117
Fabrläffigkeit von Vielen beim Laden und Schießen verfahren. — Ebenfo
war ein ſachkundiges Commando nicht zu bemerken, inden das Commando
oft verworren und ftotternd hervorgebracht, ja nicht felten völlig unrichtig
gegeben ward, worauf dann die Befolgung des Commandos Stoff zur Be:
Iuftigung für die niemald fehlenden Zufchauer gab. Dazu Fam, daß die
Chargirten da8 Commando nicht ala ein ſolches, als einen Befehl, fondern
tgelmäßig in Form einer ganz ergebenen Bitte vortrugen. Natürlich fürch—
tete der Schufter mie der Schneider ald Bürgermwehrlieutenant, feine vorneh-
men Runden; der Herr Ober - Appellationd » Gerichtärath und der Herr Pro»
feffor Eonnten ihm die KRundfchaft entziehen, wenn er bei dem Commando
nicht ganz ergebenft bat, fie möchten doch fo gut fein und da® Gewehr prä-
jentiren oder linksum marſchiren.
Dann ereignete ſich bisweilen auch wohl einmal das Unglüd, welches ein
Zeitungsinferat meldet: „Und es geſchah, daß fie verfammelt waren, um
binaugzuziehen, der Hauptmann war aber nicht da. Und e8 ftellte ſich ein
Stellvertreter an die Spite der Bewegung und er fing an zu rufen und zu
befehlen den Leuten. Da geihah ed, — höret ihr Söhne ded Nordend, —
daß Einer in diefer Zeit, in der Alle befehlen wollen, nicht befehlen Eonnte,
fondern fich immer verhadderte. Und die Reute, die da gehorchen follten, wurden
fnitihabig und gingen in gereizter Stimmung brummend audeinander, da hieß
es: aud — ein — ander.“
AN diefem Elend ward mit einem Schlag ein Ende gemacht, ald endlich
im Spätherbft 1848 ein penfionirter Major ala preislich beftellter Comman—
dur der Bürgergarde die Bügel in die Hände nahm. Auf einmal Fam ein
ſtrammer Zug, ein militärischer Geift in da ganze Corpd. Wenn man
jest die Bürgermehr, die Muſik vor, mit der wehenden Fahne in gefchloffenen
Öliedern ind Feld marſchiren fah, war es ein wirkliches Vergnügen, jedem
Einzelnen mit den Augen zu folgen. In der kleidlichen Form des grünen
Waffenrocks und im grauen Beinkleide trat jeder Gardift ftraff daher; felbft
dad viel gefchmähte alte Käppi ſaß eigentlich ganz ftattlih auf dem Haupte
ſeines Gardiften. Mit Necht ift über die Uniform der Bürgerwehr und über
die Haltung ihrer Gardiften in mander Stadt gefpöttelt worden, — aber die
Roftoder Garde verdiente nicht die Strophe des dänifchen Volksliedes, in
weldher die Bürgerwehr von Kopenhagen bejungen wird. Die ergößliche
Strophe Tautet:
„Die Uniform von damals, dieſes Kleid,
Sie tragen e8 im Sturm und Regenzeit.
dein wohl war es von Wagon:
Enge, weiße Pantalons,
Geſchnürt feſt übern Magen, da er ausjah wien Gonggong.
Der Rothrock da
118
Saß Bater'n! Ah!
Die Patte
Dran hatte
Hellblau ; der Schwanz
Am Rod hing ganz
Bi zur Fußplatte,
Und von dem Tſchako blidte
Ein Bündel Federn, nidte
Nah dem Gewehr, — der Anblick, ach, erquidte!“
Unter der eifernen Fauft de alten Soldaten und braven Commandan-
ten, fam mie gefagt, eine neue Ordnung in das Getriebe des ganzen
Roſtocker Bürgercorpe. Vom Rathe der Stadt ward jebt eine neue Ber-
ordnung erlaffen, wonach jeder angehende Bürger vor feiner Aufnahme ala
folder in voller Montur und Bewaffnung dem Commando der Bürgermehr
fih vorftellen, diefem die gehörige Cinübung nachweiſen und von dem
Sommandeur eine Befcheinigung über die vollftändige Equipirung, Bewaff—
nung und Einerereirung erwirken mußte. Auf ſolche Weife ward für die
neue Ergänzung der Bürgergarde durch tüchtige und gefchulte Soldaten Sorge
getragen. Und fo gefchult ward diefe Bürgerwehr nach fo vielen Fährnifjen
und Abenteuern ſchließlich doch noch eine wirkliche Schutzwaffe für die Stadt.
Sie hat in den unruhigen Tagen, die auch Roſtock unbeilvoll bedrohten,
treffliche Dinge geleiftet und den Wöbel im Zaume gehalten, der, von den
Radicalen aufgehegt, den Verſuch machte, einen Aufruhr ind Werk zu feben.
Auf ſolche Weiſe erwarb fih die Bürgergarde um Roſtock ein bleibendes
Verdienſt und find damit die Opfer aufgewogen, welche die Stadt für diefe
Wehr und ihre Waffen mit faft 30,000 Thalern dargebracht hat.
Ein zweiter Artikel fol nun eine höchſt merkwürdige Gefchichte bringen:
die feierliche Auflöfung und das jonderbare Ende der Roſtocker Bürgermehr.
der Fall Arnim. |
Berlin, 11. October 1874.
Bis diefe Zeilen erjcheinen, wird vermuthlich in der Arnim'ſchen Sache,
welche nun ſchon eine Woche lang das Tagesgefpräch der deutſchen — und
mancher andern — Hauptitadt bildet, mindeſtens nach einer Richtung Hin,
ein feſtes Refultat erzielt fein. Wir werden bis dahin wahrfcheinlich ziemlich
beftimmt wilfen, welchen Kreis von ftrafbaren Handlungen die Anklage um—
faßt. Bis jetzt ſteht ficher in Ausficht die Anklage wegen Entfremdung von
öffentlihen Aftenftüden auf Grund der $$. 133 und 348, Abſatz 2 des
Di
119
Deutjchen Reichsſtrafgeſetzbuchs. Nach einigen ziemlich confequent in gut-
unterrichteten Preßorganen auftretenden Nachrichten fol dem Grafen außer
diefen Vergehen au dad Verbrechen des Berrathes von Staatsgeheimniſſen
zum Nachtheile des deutfchen Reiches zur Laſt fallen ($ 92 des Deutfchen
Reichsſtrafgeſetzbuchs). Diefed Verbrechen unterjcheidet fih von anderen og.
politiichen Vergehen dadurch, daß dad Geſetz die Strafe auf Zuchthaus nicht
unter zwei Jahren normirt, und Feſtungshaft nur bei Annahme mildernder
Umftände zuläßt, d. h. mit anderen Worten, bis zum Beweiſe des Gegen:
theild annimmt, daß die verbrecherifche Handlung „aus einer ehrlojen Ge-
finnung entfprungen“ fei ($ 20.). —
Wir wollen freudig aufathmen, wenn am Ende der begonnenen Woche
nur die erjte der beiden Anklagen Beitätigung findet, und der Angeklagte,
der jo lange einen der höchſten Vertrauenspoſten des Reiches inne hatte,
nicht eines Verbrechens verdächtig erjcheint, welches das deutjche Strafgejes
nad der Höhe des Mindeftftrafmaped unter die ſchwerſten und gemeinjten
Verbrechen zählt. Aber im Grunde Ändert das leider an der Ungeheuerlicy-
feit und dem jfandalöfen Charakter des WYalled nur wenig. Man wird
Gottlob lange fuchen müſſen, bevor man im Preußiſchen Beamtenthum einen
Diplomaten der höchſten Rangſtufe findet, welcher unter der nämlichen An-
Klage jtand, wie heute der Graf Harry von Arnim. Und der vorliegende
Fall ift ficherlich der denkbar häplichite.
Denn vor Allem — fo felbitverftändlich auch wir mit dem Urtheil über
Schuld oder Nichtſchuld und das Map der Verſchuldung zurüdhalten, bis der
Kichter feinen Spruch gefällt hat — ift e8 kaum mehr zmeifelhaft, daß der
Angefhuldigte den Thatbeitand der Entfremdung von Aetenſtücken aus den
Archiven und Wetenbeftänden der Botjchaft des deutfchen Reiches in Paris
jelbft unummunden eingefteht. Die Manöver feiner ungeſchickten Freunde aus
dem Kreuzzeitungslager, feine Weigerung der Herausgabe diefer Actenftüde bald
ald eivilrechtliches Retentionsrecht, bald als berechtigte Zurüdhaltung von
Privatbriefen des Kanzlerd an Arnim darzuftellen, fünnen bei feinem Un-
partetifchen mehr verfangen, feitdem man weiß, daß das Auswärtige Amt
von der Neclamirung der civilrechtlichen Correſpondenz ganz abgefehen hat,
und die angeblichen Privatbriefe des Kanzlerd an den vormaligen Botjchafter
des deutſchen Reiches fortlaufende Negiftrandennummern tragen und in den
amtlihen Documenten des Auswärtigen Amtes gebucht find. Damit jteht
im Einklang, daß die Haft des Grafen keineswegs den Zweck verfolgt, etwaige
Sluchtverfuche oder die Verdunfelung des Thatbeftandes zu verhindern, fondern
die Herausgabe jener Staatäfchriften zu erzwingen, deren Befig der Graf
einräumt, und deren Herausgabe an feine vorgefehte Behörde er trogdem ver»
weigert, bis ein Nichterfprud ihn dazu zwingen werde. Es ift auch geringe
120
Hoffnung vorhanden, daß die eindringlichen Vorftellungen einiger Angehörigen
ded Angeſchuldigten, ſowie feines eigenen Vertheidigerd, den harten Sinn er»
weichen werden. Und ſelbſt wenn Arnim nachgäbe und die Urkunden aus»
lieferte, würde die Unterfuhung ihren Lauf haben müffen, da die angezogenen
Paragraphen des Reichsſtrafgeſetzbuchs das VBeijeitefchaffen von amtlichen Do-
cumenten mit ganz derfelben Strafe belegen, wie die vorfägliche Verfälſchung
oder Befhädigung derſelben. Beifeitegefchafft find aber diefe Urkunden bis
heute ohne Zweifel.
Diefe Erwägungen führen von felbft zur Prüfung der Motive der That
und der bis heute vorhandenen Weigerung der Herausgabe. Und auch diefe
Motive find dem Angefhuldigten fo nachtheilig wie möglih. — Verletztes
Gelbitgefühl hat, nad) dem Urtheil der Freunde und Gegner — oder bejjer
Ankläger — des Angeklagten, diefen zu dem gegenwärtigen Conflict, zur
leidenfchaftlihen Feindfhaft gegen den deutſchen Kanzler getrieben. Aber
was hat mit diefer perfönlichen Mipftimmung — mag fie fo berechtigt oder
unbere&htigt fein wie fie will — die mwiderrechtlihe Zurückhaltung amtlicher
Schriften zu thun? Diejenigen, welche die Weindfchaft des Grafen gegen
Bismard — und zwar ficherlich der Wahrheit gemäß — ald Motiv feines
Deliets anführen, erheben damit, vielleiht ohne es zu ahnen, die ſchwerſte der
Anklagen gegen ihren Schügling. Denn die Zurückhaltung der Documente
Geiten ded Grafen wäre dann diefem — wie natürlid — keinesfalls Selbft:
zwed, fondern in urfächlichen oder abfichtlihen Zufammenhang zufegen zu feiner
Feindihaft gegen den Kanzler. Damit formulirt man aber von ſelbſt die
neue Anklage gegen Arnim, daß diefer die Documente nur zurüdhalte, um
der Politik des Kanzlers d. h. der Politik de Deutjchen Reiches zu ſchaden
und fi dadurd zu rächen. Diefer Zwed wäre aber wiederum abfolut un—
erreichbar ohne directe oder indirecte Veröffentlichung der betr. Urkunden;
denn da das Auswärtige Amt die Urfchriften oder Kopien diefer Documente
befist, fo könnte Arnim durch die bloße Hinterziehung derfelben eine fatale
Stockung der Gefchäfte u. dergl., in welcher er ald Retter der Noth erjchiene,
nimmermehr erzeugen. Das Fönnte alſo auch die Abficht feiner Beifeitefhaffung
derfelben nicht fein. — Der einzig denkbare Zweck diefed unerhörten Amts—
mißbrauchs wäre alfo lediglich ein beabfichtigter Verrath von Staatsgeheimniſſen
oder die Erpreffung einer neuen Carriere ald Gegenleiftung für dad Schweigen
des Grafen, für die Auslieferung der Documente.
Der preufifche Richterftand hat bei diefer Gelegenheit feine altberühmte
Unvarteilichfeit und Pflichtftrenge bewährt. Ein jäher Schred geht durd
die Neihen der Neichdrebellen. Mit faurer Miene fuht man die Fatalität
der Situation durch das hübſche — aber dem Herrn Grafen fehr ungünftige —
Märchen auözugleihen, Bismarck habe die Arnim'ſchen Enthüllungen gefürchtet.
Graf Arnim's Geheimniffe find Bismarck's Geheimnifje. Und der deutjche
Kanzler hat noch immer die Sympathien der denkenden Welt auf feiner Seite
gehabt, wenn er daran ging, jeine Geheimnifje auf den offnen Markt zu
fragen. u.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Hans Blum in Leipzig. =
Verlag von F. 8. Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Legler in Leipzig.
XXI. Jahrgang.
Die !
renzboten.
de 7—
für
Bolitik, Literatur und Kunſt.
Ne 43.
Ausgegeben am 23. October 1874.
Inhalt:
Seit:
Goethe's Tagebücher. 1780, 1781. 1783. EC. A. 9. Burkhardt. 121
Charles Wolfe. Skizze feines Lebens und Dichtens. 1. — |
DELL. . . 129 |
Die Goldausfubr und ‘die Müngreform. Mar Wir tb. 2 . 140 N
Bilder aus Medlenburg. Aus den ur: der Büngermehr. 2:
Bon Hugo Gacrdde . - » -» = or \
Schweizer Reijegloffen. F. 2. - ee ai u |
Die Revüe Univerfelle und die Örengboten, ee m |
Grenzbotenumſchlag: Literarische — i.
Leipzig, 1874.
Friedrich Ludwig Herbig.
(Fr. Bild. Grunow.)
bönnirt bei allen — und — des In⸗ und Auslandes.
rum
——
Goekhe's Tagebücher.
1780. 1781. 1782.
Im Anſchluß an die bereits mitgetheilten Tagebücher Goethe's laſſen
wir die von 1780—82 folgen. Auch fie liegen und nur abſchriftlich vor und
obwohl auch für diefe nicht feitzuftellen war, mie fie fich zu den Goethe'fchen
Driginalen verhalten, fo haben wir die Mittheilung derfelben um jo weniger
beanstandet, ald fie die Mittheilungen Riemer's über Goethe weſentlich er-
gänzen. Was von Niemer ganz oder theilmeife benust ift, haben wir durch
Klammern angedeutet. Aus der Bergleihung mit der Niemer’schen Arbeit
wird fi ergeben, daß die unverfürzte Wiedergabe diefer Aufzeichnungen für
die Kenntniß des Goethe'ſchen Lebens ſich mehr ala die Verarbeitung des
Materiald empfiehlt, das in Berüdfihtigung mancher Verhältniffe hie und da
eine Kürzung erfahren mußte. Selbſt auf die Gefahr hin, daß auch unfere
überfommene Abfchriften fich als lückenhaft erweiſen werden, wollen wir diefe
nicht zurücdhalten. Vielleicht entſchließen ſich die Goethe'ſchen Erben vor allem
die wichtigen Tagebücher aus den Originalen herauszugeben, die jedenfalls
auch in fpätern Jahren de ntereffanten viel bieten, wie wir aus einigen
andern Aufzeichnungen, die in der Folge mitgetheilt merden ſollen, ſchließen
müſſen.
Goethe's Tagebuch von 1780.
Januar 17. Früh Anfang zur Ordnung und Beſorgung gemacht.
Kriegs-Kommiſſion. Waren mir die Sachen ſehr proſaiſch. Zu Wieland.
Gut Geſpräch und Ausſicht beſſeres Zuſammenlebens. Vorſchlag zu einer
Societät. Nah Tiſch zu Boden. Weit läuſige Erklärung über a Y.“) Er
ift ein fehr ehrliher Mann, NB. [Sedermann ift mit dem Herzog ſehr zu
frieden, preift und nun und die Reiſe ift ein Meifterjtück**), eine Epopoe.]
Das Glück giebt den Titel, die Dinge find immer diefelben.
Sanuar 19. Auf die Vibliothet wegen Bernhard's Leben. Auftrag.
*) Loge Amalia ijt gemeint.
"*) Riemer II. 100 bat preift und an.
Grenzboten IV. 1574. 16
122
Zu Er. Eſſen. Sie drüdt mich durd eine unbehagliche Unzufriedenheit, ich
ward fehr traurig bey Tifch.
Februar. Den Anfang des Monat? mit wenigen Verfuchen im Zeich—
nen, Dietiren meiner Reifebefchreibung zugebracht, um nad) und nach wieder
in Thätigfeit zu kommen.
Vebruar 6. Früh Reife dietirt. Wenig an Wilhelm. Kam Albrecht.
Ging zu Er. ejfen. Abends zu ©, dann nah Haufe.
Februar 7. Reiſe dictirt. aftrop wegen ded MWegebaued, dann Fam
Albreht, ſprachen über Glectrizität, zu © effen. Gezeichnet. Zu der Geh.
N. Schardt, die Frank war. Halb 7 Uhr nah Haufe. Reichshiſtoria Karl V.
Acht aufs Theater. Kriegskommiſfion. Zu (, Friegte gegen Mittag meniged
Kopfweh, zu Sedendorf, zu © effen. Hatte Quft auf die Redoute, unterlieh
ed aber. Abends kam Wieland umd wir waren fehr Iuftig.
Februar 9. Früh Acten, Conſeil. Ging mit meinem Kopf mieder
jiemlih. Nach Tiefurt. Eſſen. Knebel las Amor und Pfyche. Abends mit
O und der Heinen Schardt hereingefahren. Corona zu Tiſch bey mir, waren
fehr Iuftig.
Februar 11. Abends auf der Redoute. Täglich geht es befjer und
ih kann anhaltender arbeiten.
Vebruar 12. Kriegdfommiffion und Beforgung wegen der Reife.
Februar 13. Nah Gotha, waren recht gut da, mit vieler mechjel-
feitiger accens*) und bonhomie. Kam mancherlet Intereſſantes vor. Verſprach
aufs Frühjahr wieder zu fommen.
Februar 16. Mit Wedeln zurüf im Wagen. Der Herzog ritt auf
Neuheiligen, war wild Stöpermetter.
Februar 17. Kriegdfommiffion, mit Corona gegeffen, war gut.
Februar 18. Früh viel meggearbeitet. Zu C zur Tafel. Ging ganz
leiht und gut die Cons., aufs Theater, nad) Tiefurt geritten, fand H. 4. o
die FE. Sch.“), die Hofdamen und Steinen. Knebel lad. Gen fieben
alles fort.
Februar 26. Mittag! zum Herzog. Den Reft ded Tags bis Abende
8 gezeichnet. [ES fängt an befjer zu gehen und ich fomme mehr in die Be
ftimmtheit und in das lebhaftere Gefühl des Bildes. Das Detail wird fid
nah und nad herausmachen. Auch hier fehe ih, daß ich mir wergebend
Mühe gebe, vom Detail ind Ganze zu lernen, ich habe immer nur mich aus
dem Ganzen ind Detail herausarbeiten und entwideln können. Durch Aggre
gation begreif ich nicht8, aber wenn ich recht lang Holz und Stroh zufammen-
geſchleppt habe und immer mich vergebend zu wärmen ſuche, auch fchon
*) acsance gefchrieben. ) Die Meine Schardt,
123
Kohlen darunter liegen und ed überall raucht, fo ſchlägt denn doch endlich
die Flamme in einem Wind übers Ganze zujammen. Ich ſprach davon mit
dem Herzog und er fagte, eine gute dee. Die Sachen haben fein Detail,
fondern jeder Menſch macht ſich drinn fein eignede. Manche können's nicht
und die gehen vom Detail aus, die andern vom Ganzen. Wenn man diefem
Gedanken beiftimmte, und ihm nachginge, eigentlih was er jagen will, nicht
was er fagt, beherzigte, würde es fehr fruchtbar feyn.]*)
März Bon Tag zu Tag die Gefchäfte ordentlich beforgt und hernach
gezeichnet.
Bis den 11. war ich fehr ftill, alled der Reihe nach beforgt. Gute Stun-
den mit &. Eine fehr fohöne Erklärung mit dem Herzog. Abends im Klofter
März 12. Mit Batty im Amt Großrudeftedt, feine Anftalten gut
befunden. Seine Handelöweife mit den Leuten unverbeſſerlich. Wenn wir
nahhalten, fo wird's gut, aber freilich Jahre lang immer nachhalten.
März 14. Werden Aepfelferne bey mir gefät. Ging meinen Gefchäf-
ten nah. War Confeil, aß mit dem Herzog. Fingen an, in den Inſtrue—
tionen zu lefen. Abends mit demfelben im Klofter.
März 16. Mit dem Herzog fpazieren. An Egmont gefchrieben. Nah
Tiefurt. Mit Knebeln hereingeritten. Diefe Tage ber hatte ich ſchöne
mannigfaltige Gedanfen.
März 21. Morgens nad) Belvedere zu Fuß. [An Herzog Bernhards
Leben im Gehen viel gedacht. Was ich guts finde in Ueberlegung, Gedanken,
ja fogar im Ausdrud, fommt mir meift im Gehen. Sitend bin ich zu nichts
aufgelegt. **)]
März 26. Früh zu Fuß nad Tiefurt, [mannigfaltige Gedanken und
Ueberlegungen ***) das Reben ift fo gefnüpft und die Schietfale fo unvermeidlich.
Wunderfam ich habe fo mandes gethan, was ich jetzt nicht möchte gethan
haben und doch wenns nicht gefchehen märe, würde unentbehrliched Gute
niht entftanden feyn. Es ift, ald ob ein Genius oft unfer Aynuovıxov ver:
dunkelte damit wir zu unjrem und andrer Vortheile Fehler machen. War
eingehüllt den ganzen Tag und konnte denen vielen Saden, die auf mid
drüden,, weniger widerftehn. Sch muß den Eirkel, der ſich in mir umdreht,
von guten und böfen Tagen näher bemerken, Leidenſchaften, Anhänglichkeit,
Trieb, died oder jenes zu thun, Erfindung, Ausführung, Ordnung, alles
mwechjelt und hält immer regelmäßigen Kreis. Heiterkeit, Trübe, Stärke,
Glaftizität, Schwäche, Gelafjenheit, Begier ebenfo. Da ich ſehr diät lebe, wird
*) Riemer II. 112— 118,
»N Riemer II. 114, der noch den Meinen Zuſatz bat: darum das Dictiren weiter treiben.
")®,c II. 114 und 115.
124
der Gang nicht geftört und ich muß noch heraudbringen, in welcher Zeit und
Ordnung ih mich um mich jelbit bewege.)
März 29 Ging der Herzog mit den Prinzen und andern nah
Querfurth. (Früh Hat ich den aufräumenden und ordnenden Tag.]*) Biel
Briefe weggefchrieben und alles ausgepußt. Abende Probe der Kalliſte.
O Kallifte, DO, Kallijte!
März 30. hat ich den erfindenden Tag. Anfangs trüblih, ‚ich lenkte
mid zu Geſchäften, bald wards lebendiger. Brief an Kalb. Zu Vlittag
Inah Ziefurt zu Fuß, gute Erfindung, Taſſo]“), Herders, Stein, Wertbern,
Knebel gut, mit beiden Männern lief ih um 4 herein. [Abends wenige
Momente finfender Kraft. Darauf acht zu geben, moher.]
März 31. Die Dämmerung ded Schlaf gleich mit frifcher Luft und
Waſſer weggeſcheucht. Sehnte fih ſchon die Seele nah Ruhe und ich wär
gern herum gejchlichen. Naffte mich und diftirte an der Schmeizerreije]***).
Antwort von Kalb angefagt. 7) IConſeil. Momentane Bewegung widerftanden
und überwunden. Es fcheint dad Glück mich zu begünftigen, daß ih in
wenig Tagen viel garjtige mitgefchleppte Berhältniffe abſchütteln fol. Nemo
coronatur, nisi qui certaverit ante. Sauer ließ ich mird denn doch werden.)
April 1. [Seit drey Tagen feinen Wein. Sich nur vorm Englijchen
Bier in acht zu nehmen. Wenn ich den Wein abfchaffen fönnte, wär ich ſehr
glüklih. ir) Nah Tiſche Thorheit. Kam Korona zu mir und Mine. Las
ih ihnen die Schweizer Reife. Kam der Herzog Abende und [da wir alle
nicht mehr verliebt find und die Lava oberflächlich verfühlt ift, gings recht
munter und artig, nur in die Rizzen darf man noch nicht vifitiren, da brennts
no] 4*4) |
April 2. Früh gleich wieder munter und gefhäftig, um 10 Uhr mit
Kalb 2 Stunden lange Erörterung, er ift fehr herunter. Mir fehmindelte
vor dem Gipfel des Glücks, auf dem ich gegen fo einen Menfchen ſtehe.
Manchmal möcht ich mie Polykrates mein höchſtes Kleinod ind Wafjer werfen.
Es glükt mir alled was ih nur angreife. Aber auch anzugreifen fey nicht
läffig. Zur Herzogin. Schweizer Reife gelefen. Wieland fieht ganz un
glaublich alles was man machen will, macht und was hangt und langt in
einer Schrift. Bis 10.
April 3. Von 6 Uhr bi8 halb 12 Diderot® Jaques le Fataliste in
der Folge durchgelejen, mich wie der Bel zu Babel an einem jo ungeheueren
Male ergöst und Gott gedankt, daß ich fo eine Portion mit dem größten
*) Riemer II. 116. *) Riemer II. 116. *9) Riemer II. 116—117.
+) Nun wird erft die Stelle, welche Niemer uuvollftändig gegeben, verftändlic.
++) Riemer IL, 117.
zrr) Riemer II. 117 in d. Anmerk,, aber unter Weglafjung der bezüglichen Perfönlichkeiten.
125
Appetit auf einmal, ald wärs ein Glas Waſſer und doch mit unbefchreiblicher
Woluft verfchlingen Fann. Zum Herzog effen. Kamen auf unfer alte mo-
ralifche Mferde und turnirten was recht? durd. Man Flärt fih und andere
unendlih durch folche Gefprähe auf. Zu ©. mar wieder franf. Sit mein
einzig Yeiden. Nah Haufe. War fehr ftürmifch Wetter.
April 15. War fehr ruhig und beitimmt, die legten ‘Tage wenig ein»
gezogen. Ich trinke fait feinen Wein und gewinne täglih mehr in Blick
und Gejchid zum thätigen Leben. Doc ijt mird wie einem Vogel, der fi
in Zwirn verwicelt hat, ich fühle, dag ich Flügel habe und fie find nicht zu
brauchen. Es wird auch werden, indeß erhole ich mich in der Gefchichte und
tündle in einem Drama oder Roman.*) Der Herzog wird täglich befjer, nur
it ein Uebel, daß ein Prinz, der etwas angreifen will, nie in die Verlegen—
heit Fommt, die Dinge im Alltagsgang von unten auf zu fehen. Er kommt
manhmal dazu, fucht wohl, was fehlt, aber wie ihm zu helfen? Ueber die
Mittel macht man fich Elare Begriffe, wie man glaubt, und es find doch nur
allgemeine.]**) Litte Prometheiſch! Waren in Leipzig. Vergnügte Tage, der
Fürft von Defjau war da mit Erdmannädorf. Ich gewann viel Terrain in
der Welt. In der ftürmiichen Naht vom 25. auf 26. zurüd.
April 30. lad ich meinen Werther, feit er gedrudt ift, das erite Mal
ganz und munderte mid).
May i4 Verzogen fi einige hypochondriſche Gefpenfter. [E38 offen-
baren fi mir neue Geheimnifje. Es wird mit mir noch bunt gehen. Sch
übe mich und bereite dad Möglichſte. In meinem jeßigen Kreife hab ich
wenige, fait Feine Hinderung außer mir. In mir noch viele. Die menjd-
lien Gebrechen find rechte Bandwürmer, man reift wohl einmal ein Stüd
(08 und der Stod bleibt immer fisen. Ich will doch Herr werden. Niemand
ald wer fich ganz verleugnet, ift werth zu herrſchen und kann herrſchen.
Rudte wieder an der Kriegskommiſſions-Repoſitur, hab ich das doch in andert-
bald Jahren nicht Eönnen zu Stande bringen! Es wird doch! Und ich
willd jo fauber jchaffen, ald wenns die Tauben gelefen hätten. Freilich ift
8 ded Zeugs fo viel von allen Seiten und der Gehülfen mwenige.]***) Briefe
von Batty! [das ift mein faft einziger lieber Sohn] an dem ich Wohlgefallen
babe, fo lang ich Iebe,7) folld ihm weder fehlen an nafjem noch trodnen.
Ich7) fühle nah und nad ein allgemeines Zutrauen und gebe Gott, daß
ih8 verdienen möge, nicht wies leicht ift, fondern wie ichs wünfdhe Was
ih trage an mir und andern fieht fein Menfh. Das befte ift die tiefe
*) Riemer II. 117,, wo der Roman weggelaifen.
**) Diefer Paſſus undronologifh bei Riemer 1. 120 ganz allgemein in den April gelegt,
») Riemer II. 115 unter dem 13. Mai. +) Riemer Il. 119.
ir) Riemer IL 119 unten aber in anderer Berbindung.
126
Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachſe und gewinne, was fie mir
mit Feuer und Schwert nicht nehmen Fönnen.]
Den 16.—22. folgenden Monatd.* In der Kallifte hatte ich die
ſchlechte Role mit großem Fleiß und viel Glück gefpielt und habe allgemein
den Eindrud gemacht, den ich habe machen wollen. Voigtens mineralogifde
Unterfuchungen vergnügen mid, ed wird ein artiged Ganze geben. [**) Defer
brachte die Decorationd:Malerey auf einen beffern Fuß. Und id) fing an die
Bögel zu fchreiben. Meine Tage waren von Morgens bis in die Nacht be-
fest. Man könnte noch mehr, ja das unglaubliche thun, wenn.man mäßiger
wäre. Das geht nun nit. Wenn nur jeder den Stein hübe, der vor ihm
liegt. Doch find wir hier fehr gut dran. Alles muß zulegt auf einen Punkt,
aber eherne Geduld und fteinern Aushalten. Wenns nur immer [hön MWetter
wäre. Menn die Menfchen nur nicht fo pover (sic) innerlih wären und die
Reihen jo unbehülflich.
Den 25. Juni. Einiges früh beforgt nad Ettersburg, fand Klauern,
der Deferd Büfte buffirte. Las ihm die Mitfchuldigen vor. Waren munter.
Nah Tische diktirt ich der Göchhaufen an den Vögeln fehr lebhaft und ſprach
viel dazmijchen über alte Kunft. Ward Feuerlärm, ritt nah Grosbrembach.
Kam mitten in die Flammen. Die Dürrung! Der Wind trieb grimmig.
War um die Kirche befchäftigt. Verſengte mir die Augenlieder und fing dad
Waſſer mir in den Stiefeln an zu fieden. Hielten fi die Leute gut und
thaten das Schidlihe. Nun war das Feuer umftellt. Der Herzog fam und
der Prinz. Das Halbe Dorf brannte ganz hinunter mit dem Winde wie ich
anfam. Ging mit einem Hufaren außerm Weg untern Wind, faum durchzu—
fommen. Nah Mitternacht mußt ic) ruhen. Legte mich ind Wirthshaus
über dem Wafler. Ein Hufar wachte. Früh dem Pfarrer Quartier geſchafft
und herein nad Weimar. Gefchlafen. Gelefen. Gefchrieben. —
Auguft 18. die Vögel in Etterdburg gefpielt. Zog die Herrfchaft auf
Belvedere. War der Herzog nicht wohl.
Den 26. Früh**) im Garten auf und ab und nachgedacht, was in
diefem meinen zu Ende gehenden 31ten Jahre gefchehen und nicht gefchehen
joy. Was ich zu Stande gebracht. Worin ich zugenommen. Conzepte fignirt.
Unterfhrieben.. Zu Haufe gegeffen.
Den 28. Früh im Stern fpazierend überlegt, wo und an welchen Eden
es mir fehlt. Was ich dies Jahr nicht gethan, nicht zu Stande gebradit.
Ueber gewifje Dinge mich fo klar ald möglich gemacht. Mittags zu O, artig
gegellen. Abends Gefelihaft im Garten, fehr vergnügt.
) d. h. 16. Mai—22, Juni. **) Riemer II. 122,
*) Das hat Riemer II, 124 ſehr unwahrfcheinlih nur unter dem 25. Auguft.
127
September 1. Confeil. AB der Herzog mit mir im Garten. Aus—
gebreitetes Gefpräcd über moralifche Verhältniffe, war fehr klar und Eräftig.
Detober 14. Bis 11 bey Corona, noch im Mondſchein fpazieren ge-
rannt und im Bette die Mönchsbriefe gelefen. Ordnung und Fleiß.
Taffo angefangen zu fehreiben. Coronen getröftet. Mit Prinz Conitantin
u thun.
November. Bid den 16ten immer Schritt vor Schritt nach) Vermögen
vorwärt®, Fürchtete die Krankheit vom Anfang des Jahres. An Tafjo
morgendlich gefchrieben. In Geſchäften mich gehalten. Wenn*) nicht gehen
mollte gezeichnet.
Den 21. November. Conſeil. Mittag allein. Abends bei Werther,
Garolinhen, die Schardt. Der Herzog Knebel und Schardt zu Tiefurt. Waren
gut und vergnügt. O war Franf.
December. [Biel Arbeit und Bearbeitung **) Volgftedt abgefchüttelt.
Diefen Monat hab ih mird fauer werden Iaffen.]
1781. A
Sanuar den 17. Früh im MWelfchen Garten, Hafen getrieben und in
der Falten Küche““). Dann auf der Ilm Schrittfehuh gefahren, mit ©, dann
mit Knebeln im Klofter gegeſſen, nah Tiſch O Herzog, Lichtenberg. Abends
mit Knebeln wohl eine Stunde ftarfed Geſpräch auf dem Eid. Dann in
Gonzert, zu 6. Spielte Kayfer. Abends zu ©.
Den 1. Auguft. Es thut mir leid, daß ich bisher verfäumt habe auf.
zufhreiben. Died halbe Jahr war mir fehr merkwürdig. Bon heut an will
ih wieder fortfahren.
Den 5. Auguft. Früh Concepte fignirt. Acten das Konkurs Patent
betreffend gelefen. Zu Coronen. Die Arien zu der Fifcherin berichtigt. Kam
Aulhorn und fie fangen die alten Duettd. Abends mit © fpazieren. Mit
ihr und Stein zu Nacht gegefien. Auf die Schnede, 7) das Bligen am Horizont
gefehen, war die Nacht fehr fchön.
Den 6. Auguft. Früh Konkurs Patent. Zu Haufe gegeffen. Nach—
mittags und Abends theild für mich, theild mit andern fpazieren und mandherley
Gedanken nachgehangen. Müllers Brief.
Den 7. Auguft. Früh Eonfeil. Zu © gegeffen. Nach Tifche mich
fill enthalten. Abends mit dem Herzog und Knebel nach dem Jagen. Vor
Bergern*) kampirt. Die Naht war ſchön.
*) Riemer IT. 125. **) Riemer II. 125, der den Namen Bolgftedt unterdrüdt,
»9 Der Theil des Parks wo die Felspartien find,
+) Bauwerk und Ausfihtspunft im obern Part,
+) Nabe Berka.
128
Den 15. Auguft. Kriegskommiſſion. Recapitulirte in der Stille,
was ich bey diefem Departement geſchafft. Nun wäre mird nicht bange ein
weit größeres, ja mehrere in Ordnung zu bringen, wozu Gott Gelegenheit
und Muth verleihe. Zu Corona. Sie fang Rouffeaus Lieder und andere,
ih war vergnügt.)
Den 16. Auguft. Früh über die Conecurs-Conſtitution. Betrachtungen
dietirt. Zu Haufe gegeſſen; nah Tiſch zu ©, Klauern, der Schardt. Allein
fpazieren. Abends zu ©, wo die Waldner mar.
Den 23. Auguft. Abend! Tiefurt. Nathan und Tafjo gegeneinander
gelefen.
Den 24. Auguft. Kein Eonfeil. Mit dem Herzog gegeffen unter der
Yaube. Nachmittags bei den Arbeitern. Abends Theater.
Den 25. Auguft. Der Herzogin Louiſe den Taffo vorgelefen. Mittags
bey Knebeln. War diefe Zeit her überhaupt gute Konftellation.
Den Reſt des Detober und den November Taäglich mehr
Drdnung, Beftimmtheit und Gonfequenz in allem. Mit dem alten Ginfiedel
nah Jena. Dort Anatomie. Auf der Zeichenafademie. Anfang Diteologifcher
Borlefungen. Glüd durh ©, hielte forgfältig auf meinen Plan. Haus ge-
miethet. Aufklärung und Entwidelung mander Dinge Dide Haut mehrerer
Berfonen durchbrochen.
December In Eiſenach, Wilhelmsthal, Gotha. Ueberall Glück und
Geſchick. Ruhe und Ordnung zu Haufe Sorge wegen ded Herzogs allzu-
koſtſpieligen Ausfchweifungen. Mit © ftille und vergnügt gelebt.
1782.
$anuar 1. Früh verfchiedenesd in Ordnung. Agenda durchgeſehen und
überlegt. Leben Pompals gelefen. Quintiltan. Zu © gegeffen. Nachmit:
tags viel gefprochen. Beſonders über die gegenwärtigen Verhältniſſe. Wir
waren nicht Elar und einig darüber.
Sanuar 3. Früh Acten. Kam Kalb und fprad über verfchiedenes,
befonder8 über die Kammerumftände AB zu Haufe Laß die Journeaux de
Paris. Abends Ballet- Probe. Zu ©, mit ihr zur Waldner.
Sanuar 11. Gonfeil. Mit dem Herzog gegellen. Wieder einmal eine
radicale Erklärung gehabt. Zu ©. Nachts Redoute. In der Nacht ge-
Ichlafen.
Januar 12. Verſchiedene Arbeiten. Zu Kraus. Gezeichnet. Mit ©
jpazieren gefahren, da gegeſſen. Nah Tiſch über Wedel's Schidfal und meine
Borfhläge Kam der Herzog. Ballet-Probe. Zur Herzogin Mutter. War
Wieland da und war gut. Nach Tifche geblieben. No zu @. Nah Haufe.
Januar 19. Den Morgen verpämpelt. Schön Gefpräch mit ©. Mit
129
dem Herzog gegeſſen. Sehr ernftlih und jtarf über Defonomie geredet und
wieder eine Anzahl faljcher Ideen, die ihm nicht aus dem Kopf wollen.
Wedel ftimmte mit ein bis auf einen gewiſſen Bunft. Ach blieb bie 6 Uhr.
Zur Herzogin Mutter zum Thee.
Sanuar 20. Kalbs Betrachtungen gelefen und Flagte mir feine Noth.
Bei Hofe zur Tafel. Nachmittag zu ©, zu Boden, der mir die Präparation
lad, womit der Herzog aufgenommen werden follte*). Im Concert. Alddann
1 ©. Kam der Herzog auch hin. Er war gar nicht wohl.
Jeder“) Stand Hat feinen eignen Beſchränkungskreis, in dem fi)
Fehler und Tugenden erzeugen].
Februar. Den 5. Aufnahme des Herzogd. Bid gegen 11 Uhr in
der o.
Juni 2. In die Stadt gezogen, zum erften Male binne gefchlafen.
uni 10. War Kalb bei mir zum erften Male nach feiner Entlaffung.
C. A. H. Burkhardt.
Charles Wolfe.
Skizze ſeines Lebens und Dichtens.
Von Guſtav Haller.
Sm Jahre 1759 ſollte der engliſche General James Wolfe (1726—
1759), ein Vorfahre des Dichters Charles Wolfe, von Louisburg aus ganz
Canada aus den Händen der Franzoſen erobern. Er ging im Juni mit
einer ſtarken Flotte und 8000 Mann den St. Lorenzſtrom hinauf und griff
die Canadiſche Hauptftadt Quebeck wiederholt und mit großem Berlufte von
der Oftfeite an. Die Naturhindernifje und die VBertheidigungdanftalten des
Marquis Montcalm, der bier die ganze franzöfifche Streitmaht zufammen-
gezogen, ließen den Erfolg mehr als zweifelhaft erfcheinen. Wolfe veränderte
deshalb feinen Plan, fchiffte fich wieder ein und Iandete unter den größten
Schwierigkeiten am 13. September 1759 unvermuthet weitlih von Quebed,
auf der Abrahamdebene. Hier Fam es zur Schlaht. Die Engländer fiegten ;
aber Wolfe wurde, von drei Kugeln durchbohrt, Hinmeggetragen. Schon
glaubte man ihn todt, als der Ruf „Sie fliehen!“ an fein Ohr drang. —
— —
) Nämlich in die Loge.
**) Riemer II. 140, der diefe Meuferung in den Anfang der Jahre fept.
Grenzboten IV. 1874. 37
130 7
„Wer flieht?“ fragte Wolfe, wie vom Tode erwachend. — „Die Franzofen!*
— „Dann fterbe ih ruhig!” — und er verfchied. — Die Schlacht war von
großem Erfolge; einige Tage darauf fiel Quebek und bald ganz Canada in |
die Hände der Engländer. Wolfe's Ueberrefte wurden nad England gebradt
und in der Weftminfter »Abtet beigeſetzt. |
Der Tod Wolfe's auf dem Schlachtfelde ift der Gegenftand eined Ge— |
mäldes des nordamerifanifchen Malers Benjamin Weit (1738 — 1820),
das diefen zu einem der berühmteiten Künitler feiner Zeit machte. Der geniale
englifche Kupferfteher William Woollett (1735—1785) hat e8 in reinfter
und fauberfter Grabftichel» Arbeit wiedergegeben, ein Blatt, das jebt außer-
ordentlih gefucht ift und in hohem reife ſteht. Photographifche Verviel-
fältigungen desſelben find jedermann zugänglich.)
Beinahe 50 Jahre nad) der Schlacht bei Quebeck wurden die Franzofen
auf einem andern Terrain abermald durch die Engländer befiegt; und auf
diefer Sieg, bei dem die glüdliche Einfchiffung der Engländer, wenn auch in
anderer Weiſe, eine Rolle jpielte, koſtete ihrem umfichtigen und tapfern
General das Leben, und fein Tod, insbejondere fein Begräbnig auf dem
Schlachtfelde wurde abermald der Stoff zu einem unfterblichen Kunſtwerke, |
diefe® Mal auf dem Gebiete der Dichtung, und zwar von einem bis dahin
unbefannten Manne aus der nachgeborenen Vermandtichaft ded Helden von
Quebeck. Es war am 16. Sanuar 1809 bei Corufa an der Nord - MWelt-
füfte von Spanien, als der britifche Generallieutenant Sir John Moore
(1761 — 1809) den franzöfifhen Marſchall Soult befiegte und fo die Ein
ſchiffung der englifhen Flotte fiherte. Moore felbft ward tödtlich vermundet
und ftarb in der folgenden Nacht mit der Gemißheit, daß fein Heer gerettet
fel. Auf dem Walle der Citadelle von Coruña ward er beftattet, und in ber
Paulskirche zu London feste man ihm ein Denkmal von Erz oder Stein.
Über ein Denkmal anderer Art ftiftete ihm der junge irische Gelehrte Charles
Wolfe (1791 — 1823), in deflen Adern das Blut des Helden von Quebeck
rollte. Eine Schilderung von der Beftattung Moore's begeifterte ihn zu feinem
berrlihen Gedichte „The Burial of Sir John Moore*, und diefed eine Ge
dicht ficherte ihm einen unverlierbaren Chrenplas in den Annalen der eng-
liſchen Literatur und machte in Ueberfegungen feinen Namen allen civilifir-
ten Völkern des Erdfreifes bekannt. —
Und 61 Jahre fpäter war es wiederum eine fiegreiche Schlacht gegen die
Franzoſen, die der Deutſchen am 18. Auguſt 1870 bei Gravelotte, aus der
eine ergreifende Gpifode einen Dichter zu unfterblihen Strophen begeifterte,
deren pathetiiher Tonfall dem an englifchen und franzöfifhen Muftern ge
bildeten ‘Boeten unverfennbar durch Wolfe's „The Burial of Sir John Moore*
131
infpirirt ift: — ich meine Yerdinand Freiligrath's „Die Trompete
von Gravelotte*.
Welch intereffante Verknüpfung Eunfthiftorifcher Daten am Faden der
Völker» und Staaten: Gefhichte! — Drei Niederlagen der Franzofen! Drei
blutige Siege germanifcher Völker, auf deren Weldern drei edle Blüthen der
Kimpfe gegen die Napoleoniſche Invaſion in Spanien.
Als General Dupont bei Baylen in Andalufien am 22. Juli 1808 mit
20,000 Franzofen capituliren mußte, erfannte Joſeph Bonaparte, daß er fid)
in Madrid nicht mehr halten könne, und zog fih am 1. Auguft mit feinem
ganzen Hofe nad) Burgos zurüd. Die franzöfifchen Heere waren bi8 zum
Ehro gewichen. Denn inzwijchen waren die Engländer unter Welledley (dem
nahmaligen Herzog von Wellington), Moore und andern Generalen in Por
tugal gelandet und hatten dort die Franzofen zum Weichen gebracht. Die
pyrenäiſche Halbinfel ſchien für die Franzofen verloren zu fein.
Da befahl Napoleon in Frankreich eine bedeutende Truppenaushebung,
jog einen großen Theil der Truppen von Deutjchland an fi, ließ die Con—
tingente der Rheinbundftaaten dazu ftoßen, fuchte fih durch diplomatifche
Kunft in der Erfurter Zufammenkunft mit Kaifer Alerander den Rüden frei
ju halten und führte fein großes Heer von 250,000 Mann, das fi dur
Nahfendungen noch beträchtlich vermehrte, felbit nad) Spanien. Leider
fandten die Engländer nur 20,000 Mann zu Hilfe, leider hatten die fpa-
niſchen unten es nicht verftanden, ein großes ſpaniſches Heer zufammenzu-
dringen; und fo Fam e8, daß die fpanifchen und englifchen Truppen bet
Burgos und in andern Einzelgefehten (November 1808) geſchlagen wurden
und Joſeph am 22. December 1808 in Madrid wieder einziehen Fonnte.
Sofort murde die Aufhebung der Inquifition, die Auflöfung vieler Klöfter
und eine umfafjende Amneftie verfügt, aber — die Spanier wurden durch all
dad nur defto tiefer verlebt.
Inzwiſchen war General-Lieutenant Sir John Moore*) mit dem bi8
) Moore mar fhon vor der Zeit feined Einrückens in Spanien einer der bewährteften
und beliebteften britifchen Helden. Im Jahre 1761 zu Glasgow geboren, trat er 1776 im bie
Armee ein, machte den amerifanifhen Krieg, 1793 den Zug nad Gibraltar, 1794 die Erpe:
dition gegen Gorfica mit. Dort zeichnete er fich bei der Belagerung von Galvi aus und er=
bielt dafür den Grad eined Brigadegenerald. Als ſolcher folgte er 1796 Sir Ralph Abercromby
nah Weftindien, der ihm nach der Eroberung von Gt. Lucia im Mai 1796 dad Goupernement
diefer Inſel übertrug. Moore reinigte diefelbe von den Negerbanden, mußte aber im Augnft 1797
feiner Gefundheit wegen nach England zurücfehren. Nun übernahm er ein Commando bei
den britifchen Streitkräften in Jrland und Teiftete der Regierung im Aufftande von 1798 außer»
ordentliche Dienfte, für die er zum Generalmajor emporftieg. Im Juni 1799 begleitete er den
132
zu nur 30,000 Mann verftärften englifchen Hilfäheere von Liſſabon audgerüdt.
Im Begriff über Marfhall Soult herzufallen, der ihn mit nur 18,000 M.
beobachtete, erfuhr Moore, daß Napoleon bereits felbit käme, um ihn den
Rückzugsweg zum Meere abzufchneiten. Augenblicklich begann er den Rück—
zug nad Coruña, am Meihnachtsabend.*) Aber erft am 2. Januar 1809 ritt
Napoleon auf der Straße nah Aftorga, ald ihn ein Courier mit Depefchen
aus Paris einholte. Gefpannt auf den Inhalt derfelben, ließ er auf offenem
Felde ein Feuer anzünden und begann eine Lectüre, deren fehr ernſter Cha-
rafter der Umgebung fofort aus den veränderten Mienen des Kaiferd offenbar
wurde. Seine Minifter meldeten ihm, daß an den feindfeligen Abfichten
Deftreih8 nicht mehr zu zweifeln fei, daß auch die Freundſchaft Rußlands
nicht mehr fo unbedingt zuverläffig erfcheine wie in Erfurt, daß der Katfer
erwarten müßte im Frühling aufs neue einen deutfchen Krieg zu haben, in
dem er fchmerlich auf ruffiiche Hilfe rechnen dürfe. Sehr nachdenfli flieg er
wieder zu Pferde. In Aftorga übertrug er Eoult die weitere Verfolgung
der Engländer. Er fonnte fih nicht noch weiter vom Mittelpunfte feines
Reiches entfernen, mußte fi der großen Straße nähern, um fchneller mit
Paris correfpondiren zu können, Eehrte ſich nach Valladolid, um dort zugleich
die ſpaniſchen Angelegenheiten definitiv zu ordnen und feine Befehle für neue
Rüftungen In Frankreich und Stalien zu geben. Das rettete Moore vom
Verderben, indem es die Kraft der franzöfifchen Verfolgung lähmte Es ge-
lang ihm jegt mit erftaunlicher Energie, fein von allen böfen Geiftern heim-
gefuchtes Heer fo weit zufammenzuhalten, daß er den Franzofen zuerft bei
Pietrod, dann bei Lugo, hier drei Tage lang, die Etirn bieten fonnte. So
erreichte er mit einem für die Verhältniffe fehr geringen Berlufte am
11. Januar die Höhen von Coruña. Da er frühzeitig Gouriere auf Couriere
abgefhict hatte mit der dringenden Bitte an den englifchen Admiral, die
Trandportflotte fchleunigft vor Coruña zu fammeln, hoffte er jetzt das Ende
der unfäglichen Strapazen erreicht zu haben; aber der erfte Blick, den er auf
Herzog von York auf der Erpedition nach Holland und wurde ſchwer verwundet. Kaum genes
fen, ging er nach Aegypten und ward bei Abukir abermald verwundet, was ihn jedoch nicht
binderte, an der Belagerung von Kairo tbeilzunehmen. Nah der Einnahme von Alerandria
fehrte er nah England zurüf und erhielt ein Gommando im Innern. Im Mai 1808 wurde
er zum Anführer des 10,000 Mann ſtarken Corps ernannt, das Schweden gegen die Ruffen
und Dänen unterftügen follte. Bei der Landung zu Gothenburg überwarf ſich der launenhafte
König Guſtav IV. Adolf mit ihm und ließ ihn, wenn auch nur für einige YAugenblide. feſt⸗
nehmen, worauf er die Grpedition zurüdführte. Dann erhielt er den DOberbefehl in der Er-
pedition nach Portugal und Spanien,
) Ich folge nun bis zur Einfhiffung der Engländer im Hafen von Coruña in allen
wejentlihen Punkten der autbentifchen Darftellung von Hermann Baumgarten in feinem
vortrefflihen Werke: „Geſchichte Spaniens vom Ausbruch der franzöfifchen Revolution bis
auf unjere Tage” (3 Theile. Leipzig 1865 — 1871), Th. I. ©. 333.
133
dad Meer werfen Fonnte, überzeugte ihn, dag neue Prüfungen feiner warteten.
Widrige Winde hatten e8 den Schiffen unmöglich gemacht, von Vigo, wo fie
gelegen, nad Coruña zu fegeln. Als feine Truppen, die er nur mit der
äußerften Anftrengung durch die Ausſicht auf vie rettende Flotte vorwärts
getrieben hatte, fih am Meere fo hilflos fahen wie im Lande, ja bilflofer,
weil jezt das Meer fie hemmte und die Macht der Franzofen die Möglichkeit
gab, fie zu erdrüden, erlagen fie volftändiger Muthlofigfeit. Sogar einige
Generale drangen in Moore, mit dem Feinde zu verhandeln, der am 12. und
13. Januar Zeit hatte, feine Kräfte zum Angriff zu fammeln. Moore blieb
anerſchütterlich. Zu feinem Glüde mar Soult jest fo unentfchloffen und be-
denklich wie vor Lugo. Gr ließ den 14. und 15. ungenüßt verftreihen, und
am 14. erjchienen die erften Segel der englifchen Flotte Am 15. fonnte
Moore die Einfhiffung feiner Gefhübe und Pferde beginnen. Jetzt aber war
die Ungeduld der Franzofen nicht mehr zu halten, die ſich einen gehaßten
Feind in dem Augenblicke entjchlüpfen fahen, wo fie ihn endlich gepadt zu
haben meinten. Um 16. befahl Soult den Angriff. Moore begegnete ihm
mit herrlicher Bravour: er felber führte feine Leute an dem zumeift bedrohten
Punkte und flug den Sturm des überlegenen Feindes blutig zurück, der
au jegt nicht mit der nachhaltigen Energie geführt wurde, wie fie font
franzöfiihen Marjchällen eigen gewefen war. Moore frönte an diefem Tage
dad Werk, deſſen erdrückende Laſt er feit drei Monaten mit wahrer Seelen»
größe getragen hatte; fein Heldenmuth ficherte die Einfchiffung der Armee big
auf den legten Kranken. Doch erleben follte er diefen Triumph nicht. Un-
mittelbar nachdem es ihm gelungen, das entjcheidende Manoeuvre beim Dorfe
Eviña auszuführen, traf ihn eine Kanonenkugel und zerfchmetterte ihm die
Schulter; nach wenigen Stunden verfchied er. „Sch hoffe, dad Volt von Eng-
land wird zufrieden mit mir fein“ — mar fein letztes Wort.
„So endete” — fagt Baumgarten’) — „ein Mann von faft antiker
Harmonie der Geifted- und Gemüthäbildung, fo liebendwürdig, edel, wahr und
ſelbſtlos, daß man den Menfchen noch höher in ihm ſchätzen muß als den
Feldherrn. Keiner der Engländer, die in diefem fpanifchen Kampfe in leitender
Stellung mitwirkten, hatte von der Anarchie und den böjen Zügen und Zur
ſtänden des unglüdlihen Volkes graufamer zu leiden, ala Sir John Moore,
und eben er war von allen feinen Landsleuten, fo viel ich weiß, der einzige,
der fi bis zuletzt ein ungetrübtes Urtheil über die Natur dieſes Volkes be
wahrte, den Glauben an feine Tüchtigkeit fefthielt, unbeirrt durch die häßlichen
Gewohnheiten, welche unter einer mehrhundertjährigen Mißregierung maren
großgezogen worden. Dieſe freundliche, wahrhaft humane Art lohnten ihm
) A. a. O. L ©. 334,
134
denn auch die Spanier in den lebten fehmweren Tagen dur eine brave Hin»
gebung, welche die früher erfahrenen Widerwärtigkeiten in feinem Geifte zurück—
drängte: die Bevölkerung von Coruña that ihr Aeußerfted, um die glückliche
Einfhiffung zu ermöglichen, obwohl fie wußte, daß fie dafür fchwer werde
büßen müfjen”.
Das „Edinburgh Annual Register* (1808 p. 458) enthält folgenden
furzen, bier getreu überfegten Bericht über die Beſtattung Moore's:
„Sir John Moore hatte oft gejagt. er wünfche, wenn er in der Schlacht
fallen follte, da begraben zu werden, wo er fiel. Der Leichnam wurde um
Mitternacht nach der Citadelle von Coruña“) gebradt. Dort auf dem Walle
wurde für ihn von einer Abtheilung des 9. Regiment? ein Grab gegraben;
wechjelmeife Hatten die Adjutanten dabet den Dienft. Kein Sarg fonnte be-
Ihafft werden; die Officiere feined Stabes hüllten den Körper, bekleidet wie
er war, in einen Militärmantel und in Decken. Die Beerdigung wurde eilig
vollzogen; dann gegen 8 Uhr Morgen? vernahm man einiged Yeuern, und
die DOffictere fürdhteten, daß fie im Fall eines ernfthaften Angriffs abcom—
mandirt würden und ihnen dann nicht geftattet wäre, ihm die letzte Pflicht zu
ermweifen. Die Dfficiere feines Stabes trugen ihn zu Grabe; der Reichenfermon
wurde von dem Gapellan gelefen; und dann wurde der Körper mit Erde
bededt.“
Diefer furze perfpectivenreiche Bericht über die jo einfache und doch fo
wunderbar:feterliche Beifegung der Leiche eines tapfern und allgemein verehrten
Generald war wohl geeignet, einen zündenden Yunfen in die Bruft eines
echten Dichterd zu werfen. Charles Wolfe bemächtigte ſich dieſes Stoffes
und fhuf „The Burial of Sir John Moore“.
Das Gedicht erfchien zuerft nur mit den Initialen von Wolfe's Namen
in dem irifhen „Newry Telegraph*, wo ed ohne Wiſſen ded Dichter einer
feiner Bekannten hatte abdruden laffen. Dann nahm es rafch feinen Weg
nad London, Dublin und Edinburgh in zahlreihen, aber mannichfach ver
—
*) Die Giudat, (d. i. in Spanien eine Stadt erften Ranges) La Coruña mit jet circa
28,000 Einwohnern ift die ſtark befeftigte Hauptitadt der gleichnamigen Provinz Spaniens an
der Nord» Weft- Küfte des Königreichs Galicien. Sie liegt fehr fhön am öftlichen Ufer der
Ria oder Bai gleichen Namens und befteht aus der obern oder alten und aus der untern oder
neuen Stadt. Die neue Stadt, auch Pedcaderia genannt, befindet fi) auf dem Iſthmus der ſchmalen
Landzunge, welche die geräumige und gegen alle Stürme geficherte, von malerifhen Granit:
felfen umſchloſſene Hafenbai von der Enjanada de Drfan trennt. Die Altftadt liegt auf einer
Anhöhe im öſtlichen Theile der Landzunge, ift mit Mauern umgeben und von der Eitadelle ges
fügt. Hier alfo werden wir dad Grab Moore's im Geifte zu fuchen haben. — Der Hafen,
in dem 1809 die englifhe Flotte und 1588 die „unüberwindliche Flotte” Philipp’8 II. lag. iſt
balbmondförmig und wird durch vier Forts und durch das vor dem Eingange auf einer Meinen
Belfeninfel gelegene Gaftell St. Antonio allfeitig gedeckt. Als Leuchttburm dient der angeblich
von den Römern erbaute Herculestburm, der am nördlichen Ufer der Landézunge auf einem
Felſen ftebt.
135
unftaltenden Abdrüden, wie es bei folcher Urt und Weiſe der Publication
begreiflih if. Sn engeren Kreifen mwunderte man fih, daß der Dichter fi
noch immer nicht nenne oder andere ebenbürtige Dichtungen veröffentliche.
Als Lord Byron in einer Gefellichaft, in der auch Shelley anmefend war,
mit Begeifterung es vorla® und pried, da wurde e8 populär. Byron ftellte
die Dichtung über verwandte Gedichte von Coleridge, Thomas Moore und
Gampbell, nannte fie eine Dde, die wenig den beften nachſtände, die das da—
malige fruchtbare Zeitalter hervorgebracht; vorzugsmeife lobte er die dritte
Strophe; er nannte fie vollfommen, befonderd Vers 3 und 4 derjelben
(ef. Thomas Medwin’s Conversations of Lord Byron, 2 ed. vol. II p. 154).
„The Burial of Sir John Moore“ ift in Deutſchland fehr verbreitet, aber
mir ift fein einziger Abdruck befannt, der authentifch wäre: ein Umftand, der
bei der Publicationsmeife des Gedichtes erklärlich und um fo verzeihlicher ift,
da auch die in England erfchienenen Anthologien felten correcte Abdrüde
dieſes Gedichtes bieten, obgleich die Heraudgeber fi doch auf Wolfe's „Remains*
fügen Fonnten, während die deutſchen Anthologen den engliſchen nachdruckten.
Nah langem vergeblichen Bemühen ift e8 mir endlich gelungen, ein Eremplar
der auch in England felten gewordenen: Remains of the late Rev. Charles
Wolfe, A. B. Curate of Donoughmore, Diocess of Armagh. With a brief
Memoir of his Life. By the Rev. John A. Russell, M. A. Chaplain to his
Excellencey the Lord Lieutenant of Ireland, and Curate of St. Werburgh’s,
Dablin. Second Edition. London: Printed for Hamilton, Adams, and Co,
33 Paternoster Row. MDCCCXXVL (gr. 8. XII. und 474 Seiten. — Ist
ed.: Dublin and London 1825. 2 vols. 12 mo.) zu erlangen melde die
wenigen aber meift fehr fhönen Gedichte getreu nah den Manufcripten
des Dichters enthalten. Daraus (Pag. 29—31) hier dad Gedicht felbft
buchſtäblich treu:
THE BURIAL OF SIR JOHN MOORE.
Not a drum was heard, not a funeral note,
As his corse to the rampart we hurried;
Not a soldier discharged his farewell shot
O’er the grave where our hero we buried.
We buried him darkly at dead of night,
The sods with our bayonets turning;
By the struggling moonbeam’s misty light,
And the lantern dimly burning.
No useless coffin enclosed his breast,
Not in sheet or in shroud we wound him;
136
But he lay like a warrior taking his rest,
With his martial cloak around him,
Few and short were the prayers we said,
And we spoke not a word of sorrow;
But we steadfastly gazed on the face that was dead,
And we bitterly thought of the morrow.
We thought, as we hollow’d his narrow bed,
And smooth’d down his lonely pillow,
Tbat the foe and the stranger would tread o’er his head,
And we far away on the billow!
Lightly they’ll talk of the spirit that's gone,
And o’er his cold ashes upbraid him, —
But little he’ll reck, if they let him sleep on
In the grave where a Briton has laid him.
But half of our heavy task was done,
When the clock struck the hour for retiring ;
And we heard the distant and random gun
That the foe was suddenly firing.
Slowly and sadiy we laid him down,
From the field of his fame fresh and gory;
We carved not a line, and we raised not a stone —
But we left him alone with his glory!
Ich Taffe eine Meberfegung von G. Emil Barthel folgen, die
derfelbe zur erften Veröffentlihung in diefem Artikel mittheilte:
Die Beftattung des Sir John Moore.
Kein Trauerchoral, keine Trommel erflang,
AL zum Wall wir den Leichnam erhuben;
Keine Salve rollte zum Abſchied bang
Ueberd Grab, das dem Helden wir gruben.
Wir gruben ihn trauernd um Mitternacht ein,
Bayonnette brachen den Ader
Bei des zitternden Mondſtrahls nebligem Schein,
Bei der trüben Laterne Geflader.
Nicht Taken dedten, nicht Finnen ihn zu,
Es umſchloß fein eiteler Sarg ihn;
Er lag wie ein Krieger fich Iegt zur Ruh,
Der Soldatenmantel nur barg ihn.
— 22
137
Wir beteten kurz, wir redeten nicht,
Berbiffen den Schmerz und die Sorgen;
Wir ſchauten ihm feft in das bleiche Geficht
Und dachten erbittert an morgen.
Wir gedachten mit Grimm, daß der Held uns geraubt,
Der zum Siege voran und gezogen, *)
- Daß der Fremdling, der Feind ihm tritt auf das Haupt,
Und wir dann fo fern auf den Wogen!
Ihr ſchmähender Mund wird den Geift, der entflohn,
Auch über dem Grabe noch ſchelten, —
Dod was fümmert ihn Spott, was kümmert ihn Hohn
In der Gruft, die ihm Briten beftellten!
Nur Halb fam das fchwere Werk zum Beichluf,
Als die Glocke zum Nüdzug ertünte,
Und wir hörten des Feindes ziellofen Schuß,
Der plöglid die Runde durchdröhnte.
Wir fenkten ihn langfam und traurig hinab,
— Des Schladhtfelds blutige Blume —;
Nicht Infchrift, nicht Stein bezeichnet fein Grab —
So ruht er allein mit dem Ruhme!
*) Diefe Ueberfegung ift fo treu, mie eine deutfche Ueberſetzung eines englifchen Gedichtes
im Metrum des Driginald nur fein kann; — nur an diefer Stelle glaubte ih mir eine
Eubfiituirung, die nicht gegen den Geift des Originals und die hiſtoriſche Wahrbeit verftößt,
erlauben zu müffen, weil ich wegen Vers 3 diejer Strophe:
„Daß der Fremdling, der Feind ihm tritt auf das Haupt”,
den ih um feinen Preid abſchwächen möchte [etwa durch:
über's Haupt ihm gebt (Peter von Bohlen. 1840),
betritt dein Aſyl (Georg Perk. 1862),
zu Häupten ihm ſchreit' (H. 3. D. U. Seeliger. 1563),
ſchreitet .. . über's Haupt ihm bin (Rouife von Ploennied, 1563),
bald über ihn gebt (Heinrih Stadelmann. 1864),
tritt über ihn fort (Giöbert Freiherr Binde. 1865),
gehn über ihn hin (Julius Mever. 1874) ]
einen paſſenden Reim auf „Haupt“ nöthig hatte; — und ferner, weil man im Deutfchen nicht
von pillow (Kiffen) in unmittelbarer Verbindung mit to smootli down (glatt ftreichen,
glätten) reden kann, wenn Erde gemeint ift. — Wer aber pillow durchaus nicht miffen will
und auf die Abſchwächung von Vers 3 feinen jo großen Wert legt, dem biete ich folgende
Ücberfepung der fünften Strophe, die mir freilich recht mangelhaft, aber immer noch eriräg-
liber erfcheint, ald die meiner obigen fieben Vorgänger:
Wir dachten und, ald wir fchaufelten dort
Und aus Erde das Kiſſen ihm bogen,
Das der Fremdling, der Feind tritt über ibn fort,
Und wir dann fo fern auf den Wogen!
Anmerkung des Weberjegeis,
Grenzboten IV. 1574. IS
138
Byron und nad ihm Chambers Haben dad Gedicht eine Ode ge
nannt, und wir fönnen uns diefe Bezeichnung des pathetifchen Ausdrucks we
gen, den der Dichter feinem Stoffe angedeihen läßt, gefallen laſſen; da aber
diefer Ausdruf nicht einem Gegenftande, fondern einer Begebenheit
zutheil wird, fo würde man die Benennung dur) den Zuſatz „epifh“ prä
cifiren müffen, und wir würden und durch die Bezeichnung „epifhe Ode“
einer contradictio in adjecto nicht mehr ſchuldig machen, ald wenn mir von
epifcher Lyrik oder Iyrifcher Epik überhaupt reden. Schon das mit dem Reim
verbundene anapäſtiſch-logaödiſche Metrum entfpricht weder nah altelaffifchen
noch nad) unfern modernen Begriffen dem Wefen der Ode, fondern erinnert
mit feinen vier Hebungen und unterfchtedlichen Senfungen in jedem Berfe
vielmehr an den epifch-Iyrifchen Ton, wie er fih in Deutfhland auf dem
Fundamente des mittelalterlichen Epos dur Goethe! „Erlkönig“ und
Uhland’3 hierher gehörige Dichtungen herausgebildet hat. In der epifchen
Lyrik möchte ich aber mit Theodor Ehtermeyer*, dem bierin aud
Heinrih Kurz*) gefolgt ift, von der Ballade, die dem mythiſchen Epen-
£reife (Edda), und von der Romanze, die dem romantifhen Kunſtepos (Barcival)
entfpricht, die Rbhapfodie trennen, die mit dem heroifchen Epos (Nibelungen:
lied) correfpondirt. Das Clement der Rhapſodie tft die Tapferkeit der
biftoriichen Welt. So mie die Ballade myſteriös und tragiſch, die Romanze
bel und ethiſch, fo ift die Rhapſodie, aud wo fie den Untergang darſtellt,
far und markig. Der Stoff der Rhapfodie tft dad gefammte Heldenleben
aller Völker, fie ſchließt fich aber vorzugsmeife an die Gefchichte ded Volkes
an, in dem fie entfteht, und bewahrt dadurd ein nationale® Intereſſe. Der
Form nad) erfordert fie den klaren und ruhigen Fluß der epiſchen Darftel-
lung, dem das Pathos durchaus nicht fremd tft, wie das Muftergedicht diefer
Gattung in Deutjchland, „Des Sänger Fluch“ von Uhland, veranfchau-
liht. — Diefer Charakteriſtik entſpricht vollkommen Wolfe'3 „The Burial“,
und fo entjcheide ich mich ohne Bedenken dafür, dag Gedicht den Rhapfodien
beizugefellen. s
Da ih dad Metrifche ſchon berührt Habe, fo wenden wir und nun von
der Betrachtung des Stoffd und der Form zu der dichteriſchen Compofition.
*) „Unfere Balladen» und Romanzen»Poefie”, eine ſehr beachtenswerthe, bereitö früber
von Theodor Echtermeyer veröffentlichte Abhandlung, die von der zweiten Aufl. an (Halle 1839)
jeder von desjelben Berf. „Auswahl deutſcher Gedichte“ einverleibt war bis zur 11. Auflage
(Halle 1861); jpätere Herausgeber des befannten Schulbuches haben diefe Abhandlung des in-
zwijchen verftorbenen (1944) Echtermeyer leider nicht wieder mit abdruden lafjen.
) Gommentar zu feinem „Handbuch der poetifhen Nationalliteratur der Deutfchen“
(Zürih 1842) ©, 377. — „Gefchichte der deutfchen Literatur.“ Bd. III. (Leipzig 1859 u. ö.)
S. 353 a. 358 b,
139
Die erfte und die legte Strophe bilden gleihfam den Rahmen zu dem
hiftorifchen Nachtbilde, das die ſechs inneren Strophen vor unferm geiftigen
Auge entfalten; fie verhalten fih etwa zu einander, wie Erpofition und Ka—
taftrophe. Die erfte Strophe führt und die Situation in Furzen Zügen vor:
fie begruben den Helden ohne alle militärifchen Ehren. Die folgenden ſechs
Strophen bringen die Einzelheiten des Begräbniffes felbft und die ſich von
Wehmuth und Schmerz bis zur Erbitterung fleigernden und dann wieder in
Wehmuth auflöfenden Gefühle der Begrabenden in ergreifender Weiſe zur An-
ſchauung und Nahempfindung: — das mitternächtlihe, nur durch den nebel:
umbüllten Mond und den trüben Schein der Laterne erhellte Dunkel —
Bayonette dienen als Spaten — fie hatten weder Sarg noch Leichen»
tuh — doch:
Er lag wie ein Krieger fich legt zur Kuh,
Der Soldatenmantel nur barg ihn.
Und dann der Ausdrud ded verhaltenen Schmerzes beim Anblick des Ge-
fihte, that was dead; noch gejtern lebte es und belebte fie alle! — Und
die Erbitterung über den Feind, der am nächſten Tage, vielleiht unwiſſend—
lih über feinem Haupte ftehend, die Stätte ded Todten durh Schmähungen
über den Sieger entmeihen wird —:
Dod was kümmert ihn Spott, was kümmert ihn Hohn
In der Gruft, die ihm Briten bejtellten !
. Aber no haben fie das ſchwere Merk nicht vollbracht, da fchlägt die
Stunde der Einfhiffung, und zugleih hören fie plößlich [suddenly — früh
gegen 8 Uhr in der Dunkelheit ded Januar» Morgend] ein entfernte® und
nichtiges Schießen [random gun — Fühlungsihuß??] des Feindes. — —
Nun knüpft die legte Strophe mit „we laid him down‘ wieder an das „we
buried him“ im letzten Verſe der erften und im erften Verfe der zmeiten
Strophe an: — fie erfüllen die legte traurige Pflicht; einen Dentitein können
fie ihm nicht ſetzen — fo rubt er fernab verlaffen, nur der Ruhm ift fein
Genoſſe! —
Und all das tönt und entgegen ald ein Bericht au dem Munde der
Soldaten, die das Bayonnett als Spaten ded Todtengräbers verwenden !
Der Gefühlsausdruck wird dadurch zum Ausdrud des Gefühls der gefammten
Armee, welche durch die kleine Schaar repräfentirt wird. Die Kraft, Gedrängt:
beit und innere Wahrheit der Darftellung ift im Hohen Grade, aber im
edelften Sinne des Wortes — effectvoll. Es ift alled in Wirklichkeit fo ge
Ihehen, aber die hiftorifche Wirklichkeit ift zur poetifchen — verklärt
und erhoben worden.
Und welche Anſchaulichkeit erzielt der Dichter durch ein glückliches Er—
greifen der Naturelemente der Sprache, durch bildliche Worte, wirkſame Laut—
140
und Zonverbindungen im Ginzelnen , und durch den frappanten, an den ger
ftiefelten und gefpornten feierlichen Schritt der Soldaten erinnernden Rhythmus
im Ganzen! Die finnliche Rebendigfeit wird unterftüst durh MWiederho-
lung ein und desfelben Wortes (not in Str. IB. 1u. 3. — bu-
ried in I, 4 und II, 1. — thought in IV, 4 und V, 1. —), durch
Allitteration (I, 1. — U, 3. — III, 2 und 3. — VI, 1. — VII,
1 und 2) durh Färbung ded Bocaliömuß (I, 1. — V, 4 —
VI, 1. — VII, 2 und 3. — VIII, 4.) und endlich dur die gleitenden
Reime in Strophe III und VI. AU diefe einzelnen Schönheiten des Ori—
ginal® vermag der Heberfeger, der mit Wohllaut Treue vereinen will, nur theil⸗
weiſe nadhzubilden.
Dem gemaltigen Xotaleindrude ded Gedicht? vermag fich bei einem
einigermaßen guten Vortrage auch der flüchtige Hörer nicht zu entziehen, aber
die einzelnen Schönheiten bleiben ihm natürlich verborgen. Und doch habe
ih in feinem englifchen — aud in den „Remains“ nit — und feinem
deutfchen Buche etwas gefunden, dad nur annähernd den Namen einer Cha:
rakteriftit oder Analyfe des Gedichtes verdiente. In Deutſchland ift es oft
genug, aber meiſt ſehr mangelhaft überfegt worden; eingehend befprochen und
gewürdigt fcheint e8 von niemand zu fein. ine faft tragifomifche Wirkung
macht e8, wenn Bodenftedt von feinem Mirza- Schaffy, dem pfeudo-
transfaufafifhen Dichter des Epikurismus berihtet*): „Einige Lie—
der von Thomas Moore und Lord Byron machten ihm große Freude und
waren ihm verſtändlich, ohne daß es eines Commentars dazu bedurfte. Einen
gewaltigen Eindruck auf ihn machte das wunderbar ſchöne Gedicht von
Rev. C. Wolfe: Not a drum was heard, not a funeral note etc. Nicht
fo gut ging e8 mit Uhland und Geibel*.
Die Hodausfuhr und die Münzreform.
Bon Mar Wirth.
Indem mir in der nachfolgenden Unterſuchung die wahre Urfache der
ftarfen Goldausfuhr, unter welcher Deutfchland feit einiger Zeit zu leiden
hat, fo wie die einzigen Mittel, um diefem Uebelftande abzubelfen, darzulegen
und bemühen, werden wir zugleich die damit zufammenhängende Geld-
*) Im 22. Gapitel von „Taufend und ein Tag im Drient“; Bodenſtedt's „Gefammelte
Schriften”. Bd. IL. (Berlin 1865) ©. 77,
141
entwerthung beleuchten, fo meit diefelbe eine momentane ift, bzw. die Preife
in Deutfchland feit einiger Zeit gefteigert hat. Denn was die bleibende
Beldentwerthung betrifft, welche Statiftifer und Volkswirthe, Kaufleute und
Ninanzminifter im Munde zu führen pflegen, die feit der Entdeckung der
Goldlager in Californien und Auftralien Plat gegriffen haben fol, und über
welche Poake und Newmarch einerfeit? und Levaſſeur andrerfeits ftatiftifche
Unterfuhungen angeftellt haben, die zu einander mwiderfprechenden Mefultaten
gelangten, — fo iſt diefelbe zwar möglich, aber noch nicht erwiefen.. Um den
wiffenfchaftlichen Beweis dafür zu erftellen und, wenn diefer gelingt, da Maaß
der Entwerthung und ihres Einflufje® auf die allgemeine Steigerung der Preife
teftzufegen, müßten nachher die Preife der Haupt-Artifel und Löhne aller
Yänder Europas über ein Jahrhundert zurüd zufammengeftellt und verglichen
werden. Dies ift aber bis jegt noch nicht gefchehen, obgleich bet der Orga—
nijation der Wiener Weltausftellung ein Anlauf dazu gemacht worden, und
eine Gommiffion niedergejegt ift, um die gemonnenen Materialien zu ver:
arbeiten.
Die außerordentliche Goldausfuhr aus Deutfchland, melde im Monat
September ihren Höhepunkt erreicht Hat, wird von Fachorganen in den erften
acht Monaten diejed Jahres auf gegen 300 Millionen Mark geſchätzt, melche
größtentheild nad Frankreich abgezogen find, da deflen Einfuhr an Edel:
metall in derfelben Zeit die Ausfuhr um 593,835 Fr. überftiegen, wovon der
größte Theil in Gold beftanden hat. Dagegen hat Deutfhland Faum für
2 Milionen Mark Gold in diefem Jahre aus England importirt. Die ge-
jammte Goldaudfuhr aus Deutfchland wird in Berlin auf eine halbe Milliarde
Mark oder ungefähr die Hälfte der bid zum 19. September geprägten neuen
Goldmünzen angenommen.
Diefe Bewegung ift fo außerordentlich, daß fie geradezu die Einführung
des neuen Münzgeſetzes gefährdet, d. h. wenigftens die Reichsregierung zwingt,
faft von vorn anzufangen; da anzunehmen ift, daß die erportirten Goldmünzen
ſtets wieder eingefchmolzen werden. Zugleich zwingt fie, alle Mittel zu er-
greifen, welche geeignet find fie aufzuhalten. Das zunächft liegende war die
Diecontoerhöhung; allein diefe kann dem Uebel auch nicht radical fteuern,
wenn man nicht den Ginfas fo hoch fchrauben wollte, daß dad Heilmittel
ſchlimmer ald das Lebel würde. Wie jene ftarfe Goldausfuhr möglich ift,
obgleih da8 Münz-Gefes den Fall vorbergefehen zu haben fchien, indem die
Zwanzig: Markt: Stüf um ungefähr 33 Centimes geringerhaltig ausgeprägt
find, ald 25 France Gold, erfcheint faft räthfelhaft. In Berlin ſchreibt man
fie von vielen Seiten, unter denen auch tüchtige Volkswirthe wie Julius
Faucher, der ungünftigen Handelsbilanz zu, indem die Ginfuhr ſich ftark ver-
mehrt und die Ausfuhr fih vermindert habe. Diefe Bermuthung erweiſt ſich
‚142
aber nicht als ftihhaltig. Es muß dabei nämlich beachtet werden, daß bie
Einfuhr im Allgemeinen und in der Regel höher ift und höher gemerthet fein
muß, als die Ausfuhr, weil zu der Urfprungefactura noch mehr Fracht, Zins
und BVerfiherungsprämie zu rechnen ift, als bei der ausgeführten Waare.
Im fpeciellen Fall aber haben England und Frankreich in dem erften Semefter
des laufenden Jahres ebenfalld eine Vermehrung der Einfuhr und eine Ber-
minderung der Ausfuhr aufzumelfen, ohne daß diefe Bewegung von der
gleichen’ Erfcheinung begleitet gewefen wäre. In Frankreich zeigt nämlich der
Ausfuhrhandel in den eriten drei Monaten von 1874 folgende Ziffern:
Einfuhr Ausfuhr
1873 Fr. 776,576,000 971,982,000
1874 „ 925,129,000 856,000,000
+ 148,553,000 — 115,982,000
Der Audfuhrhandel Großbritannien® ergab in derfelben Zeit:
Einfuhr Ausfuhr
1873 Pf. St. 84.877,000 92,374,000
1874 „ 62,376,000 57,802,000
— 22,501.000 - 34,572 000
Gerade in dem Lande, nad welchem aus Deutfchland am meiften Gold
erportirt wurde, hat alfo die ftärkfte Einfuhr ftattgefunden, und zwar den
Edelmetall: Import dabei außer Rechnung gelaffen, denn jene Ziffern fegen
fih folgendermaßen zufammen: Ä
1873 1874
Nahrungsmittel Fr. 160,987,000 202,561.000
Rohſtoffe 479681,000 586,272,000
Fabricate „ 97,383,000 96,698,000
Verfchiedene Waaren „ 38,625,000 39,598,000
_776,576,00 028120 000
Die weiteren vier Monate des Jahres, deſſen genaue Ziffern uns gerade
nicht zur Hand find, haben ein ähnliches Reſultat ergeben.
Zu allem Ueberflufie ift aber jene Vermuthung über die Berfchlechterung
der deutfhen Handelsbilanz gar nicht zutreffend, denn nad) dem fo eben ver-
Öffentlichten Ausmeife haben die Einnahmen an Yöllen im deutjchen Reiche
vom 1. Januar bid 31. Auguft d. J. 6,102,057 Thaler weniger betragen,
al® in der gleichen Periode des Jahres 1873.
Aus diefen Thatfachen allein geht zur Evidenz hervor daß die Handel
bilanz nicht die Urfache der enormen Goldaudfuhr if. Die wahre Urfade
muß anderswo gejucht werden.
Um diefelbe fofort in voller Klarheit zu erfennen, muß man fich in den
Prozeß des Umſatzes der Waaren und Dienftleiftungen hineindenfen. In
143
jedem Lande wird in einer gegebenen Zeit eine beftimmte Anzahl von Käufen
und Ablohnungen bewerkftelligt, welche zur Erhaltung der allgemeinen Wirth:
ihaft und zur Grnährung der Bevölkerung nothmendig find. In diefen
Trandactionen ift eine gewilfe Summe von Umlaufsmitteln nothwendig, ala
teren Grundlage die Edelmetallmünzen und Barren dienen. Ein Theil diefer
Umlaufsmittel fann auf die Dauer durch Greditmittel (Staatöpapiergelod,
Banknoten, Wechfel, Checks) oder durch organifche Einrichtungen wie Com—
penſationsbörſen (3. B. die Clearing- Häufer in London, Newyork, Bojton)
regt werden. Sin geordneten Zeiten aber haben fie einen fehr ebenmäßigen
Umfang, der vom Durchſchnitt nur wenig abweicht, ganz im Verhältniß wie
die Käufe und Lohnauszahlungen Umlaufsmittel erfordern. Außer vorüber-
gehenden Schwankungen, welche entweder durd ein Stoden der Gefchäfte bzw.
dur eine Verminderung des Bedarfd an Girculationsmitteln, oder durch
großen Auffhwung des Unternehmungsgeiftes hervorgerufen werden, ift aber
der Bedarf an Girculationämitteln in der Regel ein fehr gleihmäßiger. Nun
it an den Lehrfas zu erinnern daß die Preife und Löhne finfen, wenn die
Umfagmittel fi vermindern; daß die Preife und Löhne aber fteigen, wenn
die Umfagmittel fich vermehren.
MWerden nun die Girculationdmittel eines Landes im Verhältniß zu dem
Umfang der Umſätze fo bedeutend vermehrt, daß eine Preisſteigerung erfolgt,
welche fo erheblich iſt, daß fie den Wechfelcurd bis auf den Grad afficirt, daß
Metallfendungen fi) verlohnen, — dann wird einerfeit3 ein Theil der im
Auslande fälligen Zahlungen in Gold ftatt in Wechfeln gemacht, andrerfeitg
it der Reiz vorhanden, die billigere Waare des Auslandes in größerer Quan-
tität ald vorher zu kaufen. Die Folge diefed doppelt wirkenden Anftoßes ift
8, daß gerade fo viel Geld ind Ausland abftrömt, als über dad Bedürfnig
der Umſätze hinaus in Girculation gejegt worden war.
Befteht, in einem Lande die einfache Währung, d. h. dürfen zu größeren
Zahlungen gefeglich nur Gold» oder Silbermünzen verwendet werden, fo wird
fih die Sache ohne Schwierigkeit ausgleichen, weil das überflüffige Metallgeld
wie das Waſſer aus einem überfüllten Refervoir ablaufen wird. Befteht aber
ein Theil der Umlaufämittel aus Staatspapiergeld oder Banknoten und werden
die leßteren über dad Maaß des Bedürfniſſes vermehrt, dann ftrömt Edelmetall
aus dem Rande, weil Papier im Auslande nicht giltig if. Dauert die Ber:
mehrung der papiernen Gireulationdmittel fort, fo wandern zuerft ſämmtliche
gute Münzen der berifchenden Währung, dann die Theilmünze und endlich
jogar die Scheidemünze fort. Beſteht in einem Lande die Doppelmährung,
d h. dürfen alle Zahlungen bis zu beliebiger Höhe in beiden Metallen ge-
mat werden, fo wandert in einem ſolchen Falle dasjenige Metall aus,
welches gerade auf dem Weltmarkt höher im Curs ftebt, weil natürlich im
144
betreffenden Rande von Seiten inländifcher mie ausländifcher Schuldner, da
die Wahl gefetzlich freifteht, nun mittel® des im Curſe billiger ftehenden Metalles
gezahlt wird. Ueber alle dieje Vorgänge find in den letzten 20 Jahren fo
reihe Erfahrungen in den Vereinigten Staaten, in Deflerreih, Italien, Frank—
reih und in der Schweiz gemacht worden, daß man glauben follte, fie müßten
Jedem fo geläufig fein, wie das Schickſal der einftigen franzöfifchen Affignaten.
Zur Vorbereitung des Geſetzes betreffend die Ausprägung von Reiche:
goldmünzen vom 4. December 1871 war vom Bundesfanzleramte eine Sta—
tiftit der im Norddeutfchen Bunde ausgeprägten und eingezogenen Münzen
aufgenommen worden, welche folgendes Refultat ergeben hatte:
„ 0: Ueberſchuß der Ausprägungen
—— — über die Einziehungen:
—
zn en 175,726,396 | 2,500,535 | 173,219,851
ilber - Gourant =
\ Münzen 498,049,074 | 55,901,698 442,147,376
Eilber - Scheide» | |
Münzen 77,317,066 | 8,415,497 | 74,401,569
Kupfermüngen 2,730,547 99,775 1 2,630,772
154,323,073 | 61,923,505 | 692,399,568,
Zu diefer Summe kommen nod die von den füddeutfchen Staaten
Bayern, Württemberg, Baden und Heffen geprägten, abzüglich der eingezogenen
Münzen. Da und darüber Feine authentifhen Zahlen vorliegen, fo wollen
wir fie mit demjenigen Betrage compenfiren, welcher im Privatverfehr ver-
ſchloſſen d. h. verloren, eingefchmolzen, vergraben oder ind Ausland gelangt it.
Dian kann danach alfo annehmen, daß die Metalleirculation 1869 in Deutfd-
land gegen 500 Millionen Thaler betragen hat.
Nach einer im Jahre 1871 dem Reichstage übergebenen ftatiftijchen Zu—
fammenftelung erhob fi) jene Summe des Meberfchuffes der Ausprägungen
über die Einziehungen für ganz Deutfchland einfchliehlich der ſüddeutſchen
Staaten auf 597,700,000 Thaler, wovon etwa 26,700,000 Thaler Scheidemünze.
Die Annahme, daß der regelmäßige Bedarf an baarem Gelde bis jest 500
Millionen Thaler betrug, ift alfo feine übertriebene Schäßung und mag eher
unter als über der Wahrheit bleiben, ta die Baarvorräthe der Zettelbanfen
allein fih auf 300 Millionen Thaler erheben. Zu jenen Baarbeftänden,
welche zum Theil dur Noten repräfentirt werden, Fommen noch circa 100
Millionen Thaler ungededte Noten und endlich etwas über 50 Millionen
Staatspapiergeld, welches durch Reichskaſſenſcheine erfegt wird. Man Konnte
demnach bis 1871 den Gefammtbedarf an Umlaufsmitteln für das deutſche
eich auf etwas über 650 Millionen Thaler annehmen. Soetbeer, melder
auf die nämlihe Summe kommt, nimmt an, daß bis im März 1873 jener
Münzumlauf nod vollftändig erhalten oder um höchſtens 10 Millionen Thaler
vermindert geweſen fei, und daß damald ſchon ca. 200 Millionen Thaler
145
der neuen Goldmünzen ausgegeben worden, wovon nun etwa 10 Millionen
für den Mehrbedarf des Kriegsſchatzes abzuziehen feien. Der Vorrath an
baarem Geld mar alfo innerhalb eines Jahres um mehr ald 33 Procent
vermehrt worden. Wenn diefe Behauptung richtig ift, und wir haben feinen
Grund daran zu zweifeln, fo hätten ſchon damald, Kraft des oben gefchil-
derten Verkehrsgeſetzes jene fämmtlichen 200 Millionen, um melde die Um-
laufdmittel vermehrt worden waren, ind Ausland wandern müffen und jene
gerade in Geftalt der neuen Goldmünzen, weil der Preid des Silbers ſchon
von 1872 an zu meichen begann, da die Arbitrageure, wie bet allen ähnlichen
Borgängen, die der Ausführung des Münzgeſetzes mit Nothwendigkeit folgende
Abwälzung von wenigſtens 300 Millionen Silber ſchon im Voraus zu es—
ecomptiren begannen. Anfang 1873 war der GSilberprei® um 4°%,, Ende
1873 ſchon um 6'/, %, gelunfen und hat fi) während des laufenden jahres
durchſchnittlich auf menigftend 6 %, unter dem Stand von 1871 erhalten. Um
einem folchen Abftrömen des Goldes, das früher oder fpäter eintreten mußte,
weil ausländifche mie inländifche Schuldner natürlich möglichft in dem billi-
geren Metalle zu zahlen und dad Gold mit Agiogewinn fonft zu vermwerthen
ſuchen, mußte die Reichdregierung für die Goldmünzen, welche fie dem Ver
fehr übergab, diefelbe Summe an groben Silberftüden einziehen. An War:
nungen bat es auch im Reichstag nicht gefehlt. Allein die Reichöregierung,
welcher doch das wirthſchaftliche Geſetz des Umlaufs zweifellos befannt iſt,
hat ſich durch zwei außergewöhnliche Umſtände täuſchen laſſen, welche die
Wirkung des Geſetzes eine Zeitlang aufſchoben und verdunkelten. Der eine
war die Zahlung der Kriegsentſchädigung. Da Frankreich das dazu erfor-
derlihe baare Geld unmöglich in der gegebenen Zeit auftreiben konnte, jo
mußte e3 in Mechfeln zahlen. Dadurch ftiegen die Devifen auf Deutfchland
auf ungewöhnliche Höhe, fo daß z. B. in der Schweiz Anfang 1873 Preußijche
Banknoten über Bart ftanden. Der andere Umftand war die Meberfpeculation,
weldhe bereitd 1871 begonnen hatte und mit dem Ausbruch der Krifid von
1873 ihr Ende nahm. Dieſe Speculation fteigerte in Folge ihrer vermehrten
Umfäge den Bedarf an Girculationdmitteln beträchtlih. Gleichzeitig wurde
fie aber auch gerade durch die Herausgabe der neuen Goldmünzen, welche den
regelmäßigen Bedarf an Umlaufsmitteln überſchritt, noch anfehnlich gereizt.
Und in diefer Hinficht ift der Vorwurf durhaus nicht unbegründet, daß die
Reichäregierung mit Schuld, wenn nicht an der Kriſis, jo doch an der Er-
ſchwerung derfelben, hatte. Wie, nebenbei bemerft, unter folhen Umftänden
der Bankgefegentwurf dazu kommt, die ganze Schuld der mit der Heberfpecu-
lation verbundenen Steigerung der reife einzig den Notenbanfen in die
Schuhe zu ſchieben, begreifen wir nicht. \
Mir hatten bid zum Geſetz vom 9. Juli 1873 rechtlich die a
Gtenzboten IV. 1874,
146
von diefem Datum an die Goldwährung; der Uebergang von der einen zur
anderen muß aber nothmwendigermeife durch ein Broviforium ausgefüllt werden,
während deffen factifch die Doppelmährung herrſcht. Welche Nachtheile aber
leßtere mit fi) bringt, wenn das eine der beiden Metalle im Preiſe fich än-
dert, das haben wir angedeutet und merden wir noch näher prüfen. Wegen
diefer zu befürchtenden Uebelſtände follte diefe Uebergangszeit fo kurz als
möglich gegriffen werden. Die Reichöregierung hat aber, verführt durch jeme
beiden außerordentlichen Umftände das Gegentheil getban. Ste hat die Aus
führung des Münzgeſetzes fo in die Ränge gefchoben, als ob fie dadurch be-
fondere Vortheile zu erlangen oder Nachteile abzumenden hoffte. Sie hat
dadurch der Edelmetallfpeculation und der Arbitrage Zeit gelaffen im aller
Muße ihre Operationen ind Werk zu fesen und die Reichdcaffe viel mehr zu
benachtheiligen, al8 der höhere Preis des Goldes ausgemacht hätte, wenn
die Prägungen rafcher bemerkitelligt worden wären oder als der Zinsverluft
betragen hätte, wenn die Goldmünzen fo lange unter Verſchluß gehalten
worden wären, bis eine foldhe Summe vorräthig war, um die groben Silber
münzen rafch außer Cours jegen zu Fönnen. In Folge diefe Mißgriffe
haben wir jest, nachdem die Kriegsentſchädigung abgemidelt, Feine Urſache
zum günftigen Wechfeleurs für Deutfchland mehr vorhanden ift, und nachdem
die Blaſe der Agiotage und Meberfpeculation in der Krifid geplagt ift, das
wenig beneidendwerthe Vergnügen, das ganze Schaufpiel vor unferen Augen fi
wiederholen zu fehen, welches die Vereinigten Staaten, Frankreich, Belgien
die Schweiz und Stalien von 1852 bid 1865 abwechfelnd vorgeführt Haben.
Damals war es dad Gold, welches in Folge der neuen Lager in Californien
und Auftralten billiger wurde und das Silber in jenen Kändern, wo die
Doppelwährung berrfehte, aus dem Lande trieb, fo day die Vereinigten Staa-
ten genöthigt waren, 1853 die reine Goldwährung einzuführen, daß die Schmeiz,
um einer völligen Verfehröftodung vorzubeugen, fich veranlaßt fah, ihre Silber
münzen geringerhaltig auszuprägen, und daß endlich 1865 der lateinifhe Münz-
vertrag zu Stande fam, durch welchen für die contrahirenden Staaten wenig.
ften® der erfte Schritt zur Goldwährung gethan wurde, indem Eraft defien
die ein und zwei Franfen-Stüfe um 10°, geringerhaltig geprägt werden ;
wobei freilih durch die vorläufige Beibehaltung der Fünffranfen-Thaler der
Keim zu neuen Verwicklungen gelegt wurde.
Wie man nach folhen Erfahrungen in den alten Fehler zurüdfallen
fennte, das bleibt dem in die Geheimnifje der Staatöfunft Uneingemeihten
ein Räthſel. est ftehen die Sachen fo, daß die Regierung feit zwei Jahren
Syfiphusarbeit gethan hat und daß fie immer wieder von Neuem anfangen
und Millionen verfchleddern muß, wenn fie nicht den begangenen Fehler
und radicale Abhilfe ſchafft. Solche befteht aber darin, daß fie alle Mittel
147
ergreift, um die UVebergangäperiode der factifchen Goldwährung, in welcher
wir und jetzt befinden, abzufürzen. Die Didcontoerhöhung um 1%, Hilft
nit, weil die Ausfuhr von Gold durch ein Agio von 6%, begünftigt wird.
Den Zindfas aber noch höher zu fpannen, würde der Production zu große
Nachtheile zufügen; fie muß alfo alles Gold von jest an zurüdhalten, den
Borrath raſch fo zu vermehren fuchen, daß er den umlaufenden groben Silber-
münzen entjpricht, und fodann :lettere in den Fürzeften Friften außer Curs
ſetzen und umtaufchen.
Ale verfchiebenden Maafregeln arbeiten nur der Speculation in die
Hände.
BVilder aus Mecklenburg.
Aus den Tagen der Bürgerwehr. II.
Bon Hugo Gaedde.
(Nahdrud verboten.)
Der jechite Auguft 1848 war ein ftolzer Tag für die Noftoder Bürger-
wehr. Schon am Morgen ded Tages hielt fie auf dem Neuen Markte in
großer Parade; es galt der Huldigung ded Reichsverweſers. Schöne Jung—
frauen überreichten dem Commandeur eine goldgeftickte mächtige Fahne und
dem Fähnrich eine ſchwarzrothgoldne Schärpe, dann zog man de Nachmittags
hinaus, die Garde und der große Feſtzug, auf das weite grüne Feld, zu dem
Ölanzpunfte des Feſtes. Und hier beginnen wir eine neue denkwürdige Seite
der Chronik unferer Bürgergarde.
Der Großherzog fam in Perſon daher gefahren. Er fchritt Höchſtſelbſt
die Reihen der Bürgergardiften entlang und hört! er ſprach laut feine Freude
aus über das fchöne Feft und über die „mufterhafte Haltung“ der Bürger:
garde. Da nidten fie ſchmunzelnd, das gefiel ihnen mwunderfhön. Von nun
an ließen fie fih dafür auch alle Jahre im Herbft einmal, in großer Parade,
vom Rathe der Stadt und von den Deputirten der Bürgerſchaft feierlich be
ſichtigen. So noch an einem fonnigen Herbittage des Jahres 1852.
In altgeriohnter Weiſe nahmen die Herren VBürgermeifter und die Depu«
firten, (ein Nadler und ein Fabrifant von Selterswaſſer,) die „Honneurs“
entgegen; fie fchritten mit wichtiger Amtsmiene, fo ficher, wie alte Generäle,
die Front des präfentirenden Bataillond entlang und grüßten huldvoll.
Hinter ihnen folgten die Bürgermeifterdiener; die ftiegen nicht minder ftattlich,
148
in ihren blanken Neiterftiefeln einher; und es flammte der feharladhrothe
Frack im Sonnenfhein und die Silberborten an dem hohen Zweimaſter
blisten. Die Bürgermeifterdiener mufterten auch ihrerfeitd natürlich mit jad-
verftändigem Auge die Truppen. Die Zeitung fagte hierüber am andern
Tage: „Dem beunrubigenden Gerüchte, es feien die Abnehmer der Parade
diegmal weniger befriedigt geweſen, als das legte Mal, können wir auf das
Beftimmtefte miderfprechen ; vielmehr erklärte man fi auch diesmal durchaus
zufrieden mit der Haltung ded Corps.“
Es ift aber merkwürdig; man fol nichts berufen! Gerade, als die
Bürgerwehr an die nächfte Herbitübung dachte, wobei fie fih vornahm, in
diefem Jahre fich wieder fo mufterhaft zu Halten, und juft, ald die Deputirten
der Bürgerfchaft, (der Nadler und der Fabrifant von Selterdmwafler,) fih im
Stillen ſchon darauf freueten, wie prächtig fie in diefem Jahre wieder bei
der Parade fih audnehmen wollten, ja, da fam es, am 17. Juni 1853, wie
ein Schlag zwiſchen die Krufen mit Selterömafler, — da Fam der Befehl
aus dem hohen Miniiterium: „Alle Bürgerwehren des Landes find hiermit
aufgelöft.“
D feltfamed Spiel ded Zufald! Gerade hatte die Preußiſche Polizei
einem Mecklenburgiſchen in das minifterielle Ohr ein ſchreckliches Wort ge
flüftert, da8 Wort: „Hochverrath!“ Man wolle fih nur erinnern, mie ber
Minifter auf diefen Schreckensruf lebendig wurde; fürs erfte ließ er geſchwind
eine Handvoll Profeſſoren und Advofaten einfperren; der berühmte „Noftoder
Hochverrathsproceß“ ging in Scene.
Juſt in diefem Unglücksmond kam ein neuer Blitzſtrahl; — das Refeript
an den Magiftrat in Roftod: „binnen 14 Tagen an das Minifterium des
Innern zu berichten, daß und in welcher Weiſe die Auflöfung der Bürger
garde bejchafft ſei“ Aus jedem großen Buchftaben des Reſeripts guckte dad
ängftlih lauernde Geſicht des Herrn Miniftere. „Und mas die von der
Stadt Roftod im Jahre 1848 angefauften Gewehre betrifft” , hieß es weiter
im Refeript, „fo wird der Magiftrat diefelben, da ein derartiges Waffendepot,
wie es biöher beitanden, nah Auflöfung der Bürgermwehr nicht ferner geduldet
werden Fann, vorausſichtlich zu verfaufen beabfichtigen. Für diefen Fall wird
derfelbe angewiefen, die Waffen außerhalb Landes zu verkaufen.“
Uebrigeng, das muß man fagen, der Senat ward in dem Reſeript höchſt
zuvorfommend und artig darauf hingewiefen, falls e8 ihm nicht möglich fei,
den Verkauf innerhalb diefer Zeit zu realifiren, fo habe er die Gewehre „zur
einftmweiligen fihern Aufbewahrung“ an das Großherzogliche Zeughaus zu
Schmerin abzuliefern, wo fie etwaigen Kaufliebhabern „zur Anficht jeder Zeit
zur Dispoſition“ ſtehen follten.
Der Rath der guten Stadt Roſtock befah das Schreiben des Minifters
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von oben bis unten und ſchrieb hierauf einen freundlichen Schreibebrief an
den Herrn Minifter, in welchem man ihm auseinanderfegte, wie überall Fein
Grund vorliege, dem Schreiben des Herrn Minifterd nachzukommen. Nach
den Verträgen der Regierung mit der guten Stadt Roftod habe die Iektere
das Recht auf die Bewaffnung ihrer Bürger. Es ſei jedenfalld an der Stelle
der Bürgerwehr eine neue Organifirung der wehrhaften Bürgerfchaft nöthig;
dem ſcheine aber dad Refeript entgegen treten zu wollen und werde daher
zunächſt noch eine gefällige Erläuterung erbeten.
Der Herr Minifter hatte mittlerweile ſchon zehnmal das Gefiht zum
Fenfter hinausgeſteckt. Die Frift war abgelaufen. „Kommen denn nod) immer
nit die Gewehre von der Roftoder Bürgergarde?“
Er wiſchte die goldene Brille, er gudte: richtig, fie Famen noch im:
mer nicht.
Nun ward er aber ernſtlich böſe. Dbendrein Fam in diefem Augenblid
auch noch das obige, ihm höchſt verdächtige Schreiben des Roſtocker Ma—
giſtrats.
Ein neues Reſeript ward entſendet! „So gewiß binnen nunmehr acht
Tagen nach Schwerin anzuzeigen, daß und in welcher Weiſe die Bürgerwehr
aufgelöſt worden, als ſonſt das Minifterium unverzüglich dieſe Auflöſung
und die damit verbundenen Maßnahmen ſelbſt ins Werk ſetzen wird.“
Ja, das verſchlug! Die Herren vom Rath in Roſtock wurden ſchier
bedenklich; ſie ſteckten die Köpfe zuſammen. Es ward weitere Verhandlung
mit der Bürgerfchaft beſchloſſen.
Man überlegte.
Die Männer der VBorfiht meinten: „Er fommt und mit Militatrmadt.“
Die Männer der That erwiderten: „Mag Er fommen , die Ehre der Stabt
erfordert die Anmendung des Zwanges.“
Man rieth, ſich mit der beliebten Glaufel zu behelfen, die ſchon oft
hatte helfen müſſen. Und richtig! Man beſchloß die vortrefflihe Claufel:
„mit Vorbehalt der Nechte der Stadt“ dem Minifterium von der Auflöfung
der Bürgerwehr Anzeige zu machen.
Aber die Gewehre? Die follten auf feinen Fal nach Schwerin aus-
geliefert werden. Ganz ſachte wollte man die Waffen nach Hamburg fenden;
dort follten fie einfiwellen zur Dispofition der Stadt bleiben.
Schade! Der Minifter hatte fih doch fo herzlich darauf gefreut, den
guten Roftodern die Gewehre im Zeughaus „einftweilen ficher aufzu-
bewahren “.
Während er noch fo recht fehnfüchtig nach den taufend Stück Gewehren
auslugte, fuhren die Waffen Schwerin an der Nafe vorbei, Iuftig nah Ham-
150
burg. Der mit diefer Sendung betraute Senator hatte nämlich die MWeifung
empfangen, den Verkauf und die einftwelligen Verhandlungen einzuleiten.
Eben, ald die Sehnfucht des Minifterd nach den ſchönen Gewehren auf
das Höchfte ftieg, rückte das Proteftfchreiben des Roftoder Magiſtrats in die
Nefidenzitadt ein.
Ward aber der Minifter böjfe! „Was Proteft? Wartet, ih will Eud
bei Proteſten.“
Ein neues Refeript ward gefchmettert: „Binnen acht Tagen ift an
zuzeigen, daß und wie die Auflöfung der Bürgerwehr beendigt ift und binnen
4 Wochen der wirklich vollbrachte Verkauf der Gewehre außerhalb Landes zu
dociren, oder bei Ablauf diefer Frift find diefelben an die Direktion des Grof-
berzoglichen Zeughaufes in Schwerin abzuliefern.“
Reider follte Schwerin der Appetit nach den hübſchen Gewehren noch im-
mer nicht geftillt werden. Die taufend Obergewehre der Roftoder Bürger
garde lagerten ſchon in Hamburg.
Die Verhandlungen mit einem Kaufliebhaber wurden eingeleitet. Man
hoffte in Roftod auf den beiten Erfolg.
Aber o Schreden! Nun erfhien der Deputirte des Rathes und der
Stadt mit einem wahren Reichenbittergeficht: „Wie geht und das! Wie geht
ung dad!”
Was war ihm gefchehen? Er hatte richtig, wie ihm aufgetragen war,
den Verkauf eingeleitet. Der Kaufliebhaber aber hieß nicht umfonft John
R. Möller & Co.; ald ein geriebener Kaufmann ließ er ſich die Kiften mit
den taufend Gewehren öffnen, aber faufen wollte er die Waffen nicht, die
Gewehre „find nicht probegemäß“.
Das war eine nette Gefhichte! Hier drohte das Minifterium mit fo
und fo viel taufend recutiondtruppen hinter fih: „Gieb die Gemehre
heraus!“ und dort Tagen fie nun, heimathlos, in erbrochenen Kiften, im
Ausland, die unglüdjeligen taufend Schießprügel, die Niemand Faufen wollte.
Und dabei ftand das Ende der Frift, welche das Refcript geftellt hatte, nolend
volens vor der Thüre. Der Minifter puste ſchon wieder die goldne Brille
und gudte: „Kommen die Gewehre noch nicht ?*
Ein fatale Stück! Soviel ift gewiß: Sohn Möller verftand ſich auf
den Handel. Als gewiegter Hamburger überfchaute er mit ruhigem Auge
die Situation und die Operationdbafid. Er freute fih. Er ſah dort in
Roftod einen Rath in der Klemme und hier in Hamburg einen Markt, der
überſchwemmt war mit Waffen von jeglicher Art, die Niemand Faufen wollte.
Ungezählt nämlich war in jenen Tagen die Menge von Waffen, melde
in Hamburg ſich anfammeltee Denn die Entwaffnung der Schledmig-
Holfteinfhen und der Ungarifchen Armeen und die Wuflöfung zabllofer
151
Bürgerwehren in den deutfchen Staaten hatten große Maffen von Gemwehren
jeden Kalibers an diefen Haupt Erportplat des nördlichen Deutſchlands zu-
fammen geführt, ohne daß e8 bi8 dahin möglich erfchien, diefen Waffen die
erhofften Abzugscanäle zu verfhaffen, zumal die englifchen, fpanifchen und
portugtefifchen Colonien der Einfuhr diefer Waffen verfchloffen waren.
Alles dies hatte John Möller fehr wohl bedacht. Er blieb dabei: Die
Gewehre find nicht nach Probe. Hierin ward er noch durch einige Beulen
in ein paar Flintenläufen, durch verfchtedene verbogene Bajonette und einzelne
jrbrochene Ladeſtöcke auf das Glücklichſte unterftügt. Mafter John war aber
großmüthig. Er hatte zwar zuerft 4 Thaler für das Gewehr geboten und
an diefe® Angebot fich für fech® Tage gebunden; jet bot er aus reiner Güte
31, Thaler pro Stüd.
Mafter John wußte am leßten Tage der Frift mit feinem Erpreßfchreiben
noch trefflih zu operiren. Er fohrteb am 30. Juli Eurzweg: „Um erften
Auguft Habe ich Gelegenheit, die Gewehre nach Californien zu fenden. Nach
dem erften Auguft haben diefe Gewehre für mich gar feinen Werth mehr.”
Das wirkte. Sofort erhielt er den Zuſchlag für fein Angebot.
In einem Fläglichen Berichte erbat hierauf der Deputirte des Rathes
von feinen Eollegen und von der Stadt gütigft die nachträgliche Genehmigung
des Handels, den er In der eilften Stunde in feiner Herzendangit mit diefem
einzigen Käufer, zu dem Preife von 31/, Thaler für das Gewehr, abgefchlofjen
hatte. Und die Genehmigung ward ihm fröhlich erteilt.
So ift es gefommen, daß taufend Gewehre, Waffen von vorzüglichem
Kaliber und im Ganzen von befter Befchaffenheit, für den Jammerpreis von
31, Thaler pro Stüd Fopfüber verhandelt find, Gewehre, die man bei ihrem
Ankauf das Stüd mit 8 Thaler bezahlt Hatte.
Aber Gott fet Dank! Nun konnte man doch getroft an dad Großherzog.
lihe Minifterium des Innern ergebenft berichten: „Die Bürgerwehr ift auf:
gelöft! Die 1000 Gewehre find verklopft!“
Reiſegloſſen.
Wer, aus der nordiſchen Tiefebene kommend, durch das deutſche Paradies
von Darmſtadt bis Baſel hinauffährt, der müßte ein Herz wie Stein haben,
wenn er ſich nicht wie neugeboren fühlte. Wandert er gar am ſonnenhellen
Morgen hinein in eins der waldigen Gebirgäthäler diesſeits oder jenſeits des
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Rheins mit den raufchenden Flüßchen, den malerifhen Burgruinen und den
altertHümlichen Städtchen, da wird ihm die Bruft zu eng für all die Selig.
feit und wär's ihm auch feit Jahren nicht mehr paffirt, er muß ein luſtig
Liedchen trällern. Und doch, wie raſch find alle diefe Eindrüde vergefien, fo-
bald du den Jura im Rüden Haft! Wie oft du auch die Wunderwelt des
Hochgebirges geſchaut habeft, wenn du zum erften Mal wieder in Quzern auf
der großen Brüde oder in Bern auf der Terraffe ded Bundespalaftes ftebft,
da überwältigt dich ein unbejchreibliche® Gefühl des Entzückens zugleih und
der Ehrfurcht ob diefer Miſchung von liebliher Schönheit und ſchauriger Er-
habenheit. Die engen Formen dieſer gewohnten Vorftellungsmeife find mit
einem Sclage zertrümmert, nur langjam und mit Mühe findeft du Maßftab
und Bezeichnung für diefe ganz andere Welt. Und eine foldhe ift die Schmelz
nicht nur in geographifcher, fie ift e8 ebenfo in ethnographifcher, in politifcher
und in wirthſchaftlicher Beziehung. Dan kann die Schweizer nicht gerade
zu den liebendmwürdigen Völkern zählen, ihr ediged, ungefüges Weſen be-
wahrt fie vor diefem MWrädicate Dagegen ift auch von Stumpffinn und
Faulbeit, den hervorftechenden Merkmalen mancher Gebirgsvölfer, bei ihnen
wenig zu finden. Im Allgemeinen ift died Volk intelligent, ernft, fleißig,
berechnend, doch ohne Habgier; felbft der bigotte Urfchmeizer läßt bet aller
fonftigen Aehnlichkeit feinen Tyroler Nahbar an Geiftedanlagen und praf-
tiſchem Geſchick weit hinter ſich. Einen bedeutenden Antheil an diefer Ge
ftaltung des Volkscharakters hat ohne Zweifel die republifanifche Etaatdein-
richtung, die überhaupt mehr als alles Andere der Schweiz den Stempel eines
Unicumd in ganz Europa aufprägt. Mag man über den abfoluten Werth
der Republif den ketzeriſchſten Anfihten Huldigen, daß fie für diefe concreten
Verhältniffe die „beite Staatöform* ift, wird Niemand beftreiten, der die
Reiftungen der Eleinen fchmeizerifchen Gemeinweſen Eennen gelernt hat. Man
betrachte die prunflofen und doch fo impofanten öffentlichen Gebäude, nament-
lih die Armen» und Krankenhäuſer, die arme Gebirgäfantone aus eigenen
Mitteln hergeftellt, und man erfennt, daß es zur Erzielung folder Refultate
eine® Gemeinfinnd bedarf, wie wir ihn, wenn wir ehrlich fein wollen, von
monarchiſch erzogener Bevölkerung nur audnahmameife rühmen können. Im
Zufammenhange mit diefem Gemeinfinn fteht eine Außerft rege Thätigkeit
auf mwirthichaftlihem Gebiete. Wer jemald von der Höhe ded Brünig den
fchnurgeraden Faden der Yare, wie er fich durch den fäftig grünen MWiefen-
plan des Meiringer Thals hinaufzieht, überfchaut Hat, wird zugeben, daß
der Kanton Bern im Punkte der Flufcorreetion mehr als einen deutfchen
Staat befhämt. Mit befonderen Stolze aber darf die Eidgenoffenfchaft auf
ihre Verkehrseinrichtungen bliden. Nicht menige der vortrefflihden Einrich—
tungen auf dem Gebiete des Poſtweſens, mit denen und unfer Stephan beglüdt
153
bat, hat die Schweiz vor und befefjen. Bor Allem aber im Eiſenbahnweſen
berefht eine Zwecimäßigkeit und ein Entgegenfommen gegen die Wünfche und
Bedürfniffe des Publitumd, welches mir in Deutfchland größtentheild noch
Ihmerzlich vermiffen. „Ja“, mendet man ein, „die Schweiz muß eben von
den Fremden Ieben.“ Als ob unfere Eifenbahnen nicht auch von dem reifen-
den Publikum ihre Eriftenz friften müßten! Oder dürfen wir an die Goulanz
deutiher Bahnen nur deshalb nicht fo hohe Anforderungen ftellen, weil mir
Deutihe und nicht „Fremde“ find? Noch mehr aber, ald unfere Eifenbahn-
verwaltungen dürfen fi) unfere Gafthofbefiger ihre fchmeizer Collegen zum
Nufter nehmen. Man fann heutzutage dreift behaupten, daß die Schweiz
die beften Hoteld der Welt befist. Ich habe dabei nicht einmal jene fürftlich
eingerichteten Paläfte von Interlaken, Genf, Luzern u. f. m. im Auge; nein
auch die befcheidenen, theild nur mit Bretterwänden verfehenen Häufer tief in
den Thälern oder auf fechätanfeud Fuß hoher Alp find vortrefflih. Sch Habe
nie ein zweckmäßiger eingerichteted Gaſthaus, eine eractere und freundlichere
Bedienung, ſchmackhaftere Speifen und verhältnigmäßig mohlfeilere Preife ge-
funden,, ald weit hinten im Madaranerthal, dicht vor dem ewigen Eife deö
Hüfigletfeherd, mit dem vier Stunden entfernten Fleden Amfteg nur durch
einen ſchlechten Saumpfad verbunden. Auch bier freilich wendet man ein, daß
die Vortrefflichkeit der Gafthöfe ja doch nur eine felbftverftändliche Folge des
großen Fremdenandrangs fei. Nun, e8 giebt Gegenden im Schwarzmwalde, in
welhen der Yremdenandrang ſchon feit Jahren ebenfo groß, im legten Sommer
logar größer war; troßdem dürfen die Schwarzwälder Wirthe getroft glauben,
daß fie mit ihren Hoteld Hinter den fehmeizerifchen noch weit zurüditehen,
während von ihren Rechnungen, namentlich wenn man die ungleich fchmwieri-
geren Berhältniffe, mit denen die Schweizer zu fämpfen haben, in Anſchlag
bringt, fich ein Gleiches Leider nicht fagen läßt. Hoffen wir, daß diefer Un-
terfhied zu Nutz und Frommen der reifenden Menfchheit recht bald gehoben
wird. inftmweilen aber darf den ſchweizer Wirthen nicht beftritten werden,
daß fie, wenn auch ſchwerlich aus idealer Nächitenliebe, emfiger als alle
anderen darauf bedacht find, den Fremden den Aufenthalt angenehm zu
mahen. —
So haben die Natur und die Menſchen ihre Möglichſtes gethan, der
Schweiz eine ganz aparte Anziehungäfraft zu verleihen. Und das gefittete
Europa ermweift fich nicht fpröde gegen diefelbe. Wohl auf einem Fleck der
Erde begegnen fich die Angehörigen der verfchiedenften Nationen in folcher
Mafle, wie in der Schweiz. Und die politifche Neutralität des Landes be
wirft, daß man fich leichter mit einander verträgt. Im Jahre 1870 haben
allerding3 viele Deutjche über diefe Neutralität, wenigſtens über die neutrale
Gefinnung der Schmetzer ihre eigenen Gedanken gehabt. Die unerwartete
Grenzboten IV. 1874, 20
154
Bekanntſchaft aber, welche die Eidgenofjen im Februar 1871 mit den Gambetta-
Bourbafifchen Legionen machen mußten, hat ihre Schwärmerei für die „Hüter
der europäifchen Civiliſation“ empfindlih abgekühlt und man braucht, me-
nigften® in der deutfchen Schweiz, nicht mehr zu befürchten, daß der Franzofe
ald der Privilegirte der Schöpfung betrachtet werde. Es gibt nur noch eine
Nation, für welche das freie Volk der Berge eine ausgeprägte Vorliebe begt
— der englifche Geldbeutel. Schade nur, daß die Franzoſen, feitdem die
Schmeiz Sonne und Wind zwifchen ihnen und und glei getheilt hat, die
Begegnung mit und wie die Sünde haffen. Trügt mich mein Urtheil nicht,
fo hat der Beſuch der Schweiz von Frankreich aus feit dem Kriege auffallend
nachgelaſſen. Die zahlreichen. franzöfifchredenden Touriften, denen man aud
jegt nody begegnet, find, wenn man näher zufieht, meiſt Schweizer; trifft man
einmal auf echte Franzofen, fo kann man ficher fein, daß fie, fobald fie über
das Nationale ded deutſchen Wanderers im Klaren find, Abſperrungsmaß—
regeln treffen, ald ob die ſchwarze Veit im Anrüden wäre. Recht traurig in
der That, daß Galliend anmuthige Töchter „aus patriotifhen Nüdfihten“
auch in der freien Schweiz dad Ammenmärchen vom deutichen BarbarentHum
nicht vergeffen dürfen! Zu einigem Troft mag und yereichen, daß und doch
nod reichlich Gelegenheit bleibt, au der Neutralität des helvetifhen Bodens
Nusen zu ziehen. Haben wir Deutſche doch — Gott ſei's geklagt! — felbft
bald nöthig, ind Ausland zu gehen, um und ala Söhne einer Mutter
wiederzuerkennen!
Es mar am 2. September. Strahlend lachte die Sonne vom molfen-
lofen Himmel und in majeftätifcher Pracht erglänzte die Bergriefin des Ober-
landes, ald wir und zur Fahrt von Bern nad Interlaken anſchickten. Und
welcher Zauber erft lag über dem Thuner See. Und war, ald hätte jelbft
die alte Erde ihr Yeierfleid angelegt, den deutfchen Siegedtag mitzufelern und
urfröhlichen Sinnes tranfen wir dad Wohl des Vaterlandes, derweil und
der Dampfer durd die tiefblaue Fluth dahintrug. Nur ein dunkler Punkt
mifchte fi in died Meer von Luft und Freude Auf dem Schiffe befanden
ſich zwei Fatholifche Geiftliche, ältere Herren, der Mundart nach Deutfche.
Wie hätten wir, mein füddeutfcher Freund und ih, beide „Kulturfämpfer“
vom reinften Waller, er mit der Schneide ded Geſetzes, ich mit der Feder —
wie hätten wir, eben erſt dem wüſten Schlachtgetümmel entronnen , die
fhrilen Töne des großen Rufers im Streit, ded grimmen Ketteler, noch im
Ohr, die ehrwürdigen Prieſter anders ala „mit gemijchten Gefühlen“ betrachten
fönnen? Wir kommen nad Interlaken. Im Omnibus des „Schmeizerhofes*
ſperrte und der Zufall mit den beiden Geiftlichen zuſammen, bei Tiſch machte
er und zu ihren Nachbarn. Das Wetter mar ed an diefem Tage zehnfach
werth, die Unterhaltung zu eröffnen; fie fing denn auch richtig alsbald damit
155
an. Der ältere der beiden Herren, ein Sechziger, defjen freundliches, frifches
Geficht doch die unverfennbaren Spuren tüchtiger Geiftedarbeit trug, war
heiter und geſprächig; aber die Unterhaltung drehte fih um gleichgültige
Dinge. Erſt zwiſchen Gemüfe und Braten, ald wir Kulturfämpfer nad
echter deutfcher Sitte in ded Franzmanns fhäumendem Tranke unferer bis
dahin verhaltenen Feititimmung Ausdrud zu geben begannen, gewann die
Situation eine intereffantere Geſtalt. Was merden fie thun? dachten wir
Beide. Werden fie unfere patriotifche Demonftration ignoriren® werden fie
fih, im Geifte des Heiligen von Mainz, mit Abſcheu hinwegwenden von den
Berfuhern? Dder werden fie am Ende gar — —? Der Alte pflog Furzen
Rath mit feinem Gefährten, gab dem Kellner einen Wink und wenige Se
funden ſpäter prangte vor ihnen der filberne Kübel mit der eisbedeckten
Flaſche. Und nun Fangen unfere Gläfer Iuftig aneinander auf das Wohl
des theuren Vaterlande® und ungezwungen taufchten wir fortab muntere
Rede. Längſt hatte der mweite Saal fich geleert, ald wir und unter Fräftigem
Händedruck Lebewohl jagten, der Alte nicht anders, als unter der berzlichiten
Einladung, ihn gelegentlich an feinem MWohnfig zu befuchen. Jetzt Fannten
wir feinen Namen. Gr ift noch vor kurzer Zeit oft ald Candidat für eine
der höchſten Prälatenitellen im Deutfchen Reich genannt worden. — Sch muß
geitehen, als ich, den frifchen Eindrud dieſes ZTifcherlebniffes in der Seele,
unter der Veranda den Kaffee jchlürfte, die Augen verloren in der feierlichen
Majeftät der Jungfrau, da befchli mich die melandholifche Frage: „Warum
doch ftreiten fich die Menjchen?“ Wohl ſchüttelte ich nach und nad) diefe
naive Stimmung wieder ab; aber mir biieb dad Gefühl, eine Sedanfeier
erlebt zu haben, wie ich fie mir nicht fchöner hätte wünfchen Fünnen. Und
dad danke ich der neutralen Schweiz! — —
Das Berner Oberland ift von jeher der Brennpunft des ZTouriften-
verfehrd gemefen. Sein Vorzug, den Wanderer bei verhältnigmäßig geringer
Anftrengung in die nächſte Berührung mit der ganzen Grofartigfeit der
Gletſcherwelt gelangen zu lafjen, macht das erflärlich. Darum hat aber au
fine andere Gegend der Schweiz fo fehr ihre Eriftenz auf den Fremdenbeſuch
gegründet. Was bliebe von Interlaken, Grindelmald, Yauterbrunnen übrig,
wenn plößlich diefe Erwerbsquelle verfiegte? Die Ausnutzung derfelben ift
eine mit raffinirtefter Berechnung betriebene Induſtrie geworden, an welcher
die ganze Bevölkerung bis in die unterften Schichten theilnimmt. Sogar
der Vettel, zu welchem die Verfuhung für das blutarme Gebirgsproletariat
ja nur zu nahe liegt, wird, feitdem die Berner Regierung ftrenge Verbote
erlafien, durchweg in induftriellen Formen ausgeübt. Während man in Uri
nod jeden Augenblid von Kindern und halbwüchfigen Mädchen mit koketten
Blicken und Kußhänden direct um ein Almofen angegangen wird, ift im
155
Berner Oberlande das ſehnſüchtige Verlangen nach Feiner Münze regelmäßig
von dem Angebot einer Gegenleiftung — Alpenroſen- und Edelweißſträußchen,
Gefang, Echoerzeugung, Deffnen der Gatterthüren auf den Weidealpen u. ſ. m.
— begleitet. Auch der Geduldigfte wird Momente haben, wo ihm diefe viel-
geftaltigen Anfehtungen läftig werden; doch fehlt es auch nicht an Bildern,
deren naiver Komik felbft die galligfte Natur nicht miderftehen wird. Mer
fönnte z. B. ernft bleiben, wenn auf dem Abhange zwifchen Wengernalp und
Grindelwald aus einer Hütte urplößlich zwei ehrwürdige Matronen bervor-
hießen, fich feierlich in Poſitur ftelen und mit heiſerm Contraalt ein Duett
anftimmen! Etwas höher ald diefe ordinäre MWegelagerung ſteht die Echo—
induftrie mit Alphornflang und Böllerſchuß. Sie bringt nicht felten höchſt
überrafhende Effecte hervor. Aber fie fällt bereit? in dad Gebiet der Kunft,
die Natur zu unterftügen oder gar zu corrigiren, und diefe hat immer ihre
ſehr bedenklichen Seiten. Am großartigften und zugleich am gefchmadvollften
und am discreteften hat man fie am Gießbach angewandt. Die abendliche
Beleuchtung diefes prächtigen Waſſerfalls, wie oft man fie auch gefehen Habe,
it und bleibt ein Schaufpiel von überwältigender Wirkung. Jene Leute, die
überall Fritifiren müffen, find natürlih mit dem Anathem „Theatereffekt!”
zur Hand. Jawohl, es ift ein Theatereffeft, aber einer, den zu fehen ber
Mühe werth ift. Wenn ich daheim es übers Herz bringe, der magifchen
Decorationen wegen eine Feerie zu befuchen, weshalb fol ich nicht in der
Schweiz mit noch viel größerem Vergnügen den Anblick einer Scenerie ge
nießen, deren erhabene Pracht auch nur entfernt wiederzugeben für unfere
Theaterdecorationstechnif denn doch eine Unmöglichkeit ift? Wer das Schau
jpiel am Gießbach feinem vollen äfthetifchen Werthe nach würdigen will, der
muß das Pendant desfelben, die Beleuchtung ded unteren Neichenbachfalld
bet Meiringen gefehen haben — eine in jeder Beziehung klägliche Letftung.
Leider ift aber zu befürdhten, daß es bei diefer einzigen Nachahmung des
lucrativen Geſchäfts nicht bleiben wird. Ich mette darauf, wenn einmal die
projectirten Gebirg3bahnen des Oberlandes vollendet find, fo wird den Gäften
der MWengernalp mit der Zeit noch die SlMumination der Jungfrau zum
Deijert jervirt werden. In der That, wer kann fagen, was vor der indu-
ftriellen Speculation der Berner noch ficher ift? Traurige Perfpective! Wenn
unfere Enkel einmal der alten Mutter Natur ungehindert in da® ehrliche,
ewig jugendfchöne Geſicht fehauen wollen, werden fie fie fchwerlich im Berner
Dberlande auffuchen dürfen. —
Ein hartes Schickſal tft e&, daß den naturverderbenden Fortfchritten der
Kultur gerade die Krone der ſchweizeriſchen Naturfchönheiten, die hochroman-
tiſche und zugleich fo wunderbar idylliſche Landſchaft des Vierwaldftätterſees
zuerft zum Opfer fallen mußte Die Rigibahn ijt bereits das zweite Jahr
157
Im Gange, und wie lange wird's noch dauern, dann fauft der MWeltverkehr
von Hamburg und DOftende nad) Brindifi dur die ftillen Thäler der Ur-
fantone! Wie ftiegen ehedem die Fahrgäfte de Dampfboots bei Wäggis fo
frtedlih and Land und wie gemüthlich zogen dann die Karamanen den Berg
hinauf! est liegt Wäggis faft verödet, beim Anlegen in Viznau aber ent-
ſpinnt fh auf dem Boot eine wahre Völkerſchlacht, die fih am Eiſen—
dahnwagen und im Hotel auf Rigi-Kulm wiederholt. Die Bahn mat
glänzende Gefchäfte, die MWirthe nicht minder; aber der Freund des echten
Raturgenuffed wird ſich mit dem Eifenbahnunternehmen niemald recht be-
freunden Fönnen. Bon den verfchtedenen Punkten der Schweiz, die eine um—
fafiende Alpenanficht gewähren, ift feiner fo leicht, jo bequem zugänglich, wie
der Rigi; die abgefagteften Feinde des Bergſteigens Eonnten hier den ver-
Iodenden Verheißungen ihrer Bädeker nicht wiederftehen und fo hatte der
Berg das Verdienft, Laufenden und aber Taufenden doch wenigftend einmal
die Wohlthat jener für den Stoffmwechjel fo fegendreihen Schwißtouren zu
verſchaffen; heute fteigen die meiften diefer Leute Feine taufend Fuß mehr.
Und andererfeitd: früher konnte man mit ruhigem Gemwiffen bis zum Nach—
mittag in Luzern die Entwidelung des Metterd abwarten, gelangte man
Abends nah Staffel oder Kulm, fo konnte man immer ficher fein, noch ein
paſſables Unterfommen zu finden; heute ift, wenigſtens an fchönen Tagen,
niht mehr daran zu denken. Was Einen halbwegs mit der Rigibahn ver-
föhnen Fann, ift der Gedanke, daß fie wohl manchen förperlih Gebredhlichen
die Möglichkeit gewährt, ein Schaufpiel zu genießen, deſſen Anblik ihm fonjt
vielleicht fein Lebtag nicht vergönnt fein würde; aber der fröhliche Wanderer,
dem der unvergleichliche See fammt feinen Ufern and Herz gemachfen, den es,
wohin er auch fonft die Schritte Ienke, immer von Neuem an feine lachenden
Geftade zurüdtieht, er würde es doch faum jemals verfchmerzen, wenn ihm
eine der fchönften Zugaben diefer zaubervollen Landſchaft, dad hehre Alpen-
panorama, durch die Meberfluthung mit Eifenbahntouriften ganz geraubt oder
wenigften® gründlich verdorben würde. Und dag wäre, da auch der Pilatus
dem Zahnrade auf die Dauer fchmerlich entgehen wird, in der That der Fall,
wenn nicht glüdlicher Weiſe für Rigi wie Pilatus bereitd glänzender Erſatz
gefunden wäre.
Bon al den mechfelnden Perfpectiven, die fid) dem Wanderer bei der
Fahrt über den Vierwaldftätterfee öffnen, ift keine, die fi mit dem munder-
lieblihen Thal der Muotta vergleichen könnte. Im Bordergrunde der Hafen-
ort Brunnen, dahinter ein breiter, faftiger Wiefenteppih, hier und da von
Maisfeldern durchzogen, mit Nuß- und Obftbäumen befät, meiterhin terraffen-
förmig auffteigend, die fehimmernden Häufer von Schwyz und Nidenbad)
und ala Abſchluß die bis zur Höhe von 6000 Fuß ſenkrecht emporfteigenden
158
Teldfoloffe der beiden Mythen. Zumal der höhere der beiden, der fogenannte
Große Mythen, ift eine der barodften und impofanteften Erſcheinungen der
Schweiz. Daß der nah allen Seiten freiliegende ſchmale ftumpfe Hügel, mit
welchem er abfchliegt, eine großartige Augfiht gewähren müſſe, fieht man auf
den erften Blick; aber bis vor wenigen Jahren galt er unter den Touriften
für faum oder doc ſehr ſchwer eriteigbar. Inzwiſchen bat der fchmeizerifche
Alpenflub einen regelvehten Weg hHinaufbahnen lafien und feit diefem
Sommer hat der Berg begonnen, die mwandernde Menfchheit zu intereffiren.
Auch ich vermochte, nachdem ich mir den mwunderlichen Gefellen von Brunnen
aus einige Tage angefehen, der Berfuhung nicht zu widerſtehen. Am Mor:
gen des 8. September machte ih mih auf den Weg. Es war der Tag
Marik Geburt. Freundlih lachte die Sonne vom Himmel und feierlicher
Glockenklang halte durch das gejegnete Thal. Die prächtigen Dörfer Ingen—
bohl, Ibach und Rickenbach hatte ich buld im Rüden; jebt ging's fteil hin-
auf, den Weidenalpen zu. Am Saume eined Wäldchens traf ih auf ein
einſames Bauernhaus. Gin allerliebfte® Blondköpfchen, ein Mädchen von
4—5 Sahren, lag im Fenſter; raſch hatte es den älteren Bruder herbei.
gerufen. ch erwartete nicht anders, ald daß fie fchleunigft herbeieilen
und mich anbetteln würden. Mie war ich befhämt, ald fie ruhig an ihrem
erhabenen Standorte blieben, fih aber um die Wette bemühten, mich über
den Weg zu unterrichten! Meberhaupt ift das eine wohlthuende Bemerkung,
die man im Kanton Schwyz macht: ed wird nicht gebettelt. Auch drängen
ih die Leute, abgefehen von den Schiffern und Kutfchern in Brunnen, mit
ihren Dienften nicht auf; die Bevölkerung ift durchweg höflich und gibt auf
Tragen freundlih Beſcheid. Das Alles hängt ohne Zweifel mit der grö-
Beren Wohlhabenheit zufammen, mit welcher die Natur diefen Kanton vor
andern Gebirgdfantonen ausgezeichnet hat.
Bon Nidenbad bis zur Holzegg, dem Gipfel des von Schwyz nad) Ein»
fiedeln führenden Paſſes, ift der Weg herzlich fchlecht, meiften® ganz abjcheu-
liches Geröl. Dennoh murde mir leichter und leichter umd Herz. Im
berrlichiten Grün breiteten fi die Matten, von allen Seiten tönte das Ge
läut der Herden, die Hirten biiefen Iuftig das Alphorn. Und das Alles
durfte ich endlich einmal genießen, ohne daß die audgeftredte Hand eines
Wegelagererd mir die ganze Freude verdarb! Links zur Seite lag die ger
waltige Pyramide des Mythen; jet zeigte ſich auch der Zickzackweg, der mir
das Näthfel entzifferte, wie an der fchroffen Bergwand überhaupt hinaufzu-
fommen, zugleich mir aber auch zum Bewußtſein brachte, mad es noch zu
leiften galt. Ich Fam an einer Sennhütte vorbei, wo der Senne gerade die
friſch gemolkene Milch ausleerte. Mein Durft war groß und nicht geringer
mein Hunger; nicht umſonſt aber hatte ich im Bädeker gelefen, daß auf der
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Holzegg ein treffliches MWirthöhaus zu finden. Alſo bezwang ich meine Be—
gierde. Sehr erfchöpft erreichte ich die Paßhöhe. Das Wirthshaus war da,
aber die Thüren verfähloffen. Von der Seite der Mythen ber rief eine un-
fihtbare Stimme: „Sind Ale nah Schwyz zur Kirche.” Nie in meinem
Reben habe ich mich bitterer enttäufcht gefühlt. Die Zunge klebte mir am
Gaumen. In diefem BZuftande noch die 1'/, Stunde fteilen Steigen? an
ſchroffen Abhängen hin, in glühender Sonnenhike! Und wie, wenn der In—
baber der Hütte auf der Spike ded Mythen etwa auch zur Kirche war!
Indeß, nad Furzer Raſt ging ich muthig and Werk. Ein präctiger Weg!
— ſehr fteil allerdings und für leicht zum Schwindel geneigte Perfonen nicht
ohne Führer rathfam, aber in ganz ungeahnter Weiſe überrafhend. Mit
jedem Augenblide ermeitert fih der Horizont. Zuerſt tritt der Glärniſch
hervor, dann die Tödigruppe; fpäter öffnet eine Wendung den Blick nad)
Nordoſten, der Säntid und die Schwarzmwaldfette werden ſichtbar, big endlich,
von der Spitze aus betrachtet, die Vogefen, der Jura, die Kette ded Berner
Dberlanded, die Unterwaldener und Urner Alpen und die Gotithardtgruppe
die Rundfiht vollenden. Aber e8 dauerte eine gute Weile, ehe ich fomelt
gedieh. Mehr ald einmal mußte ih mich platt auf den Pfad Iegen, weil
mir die Knie zu wanfen begannen. Endlih war dad Ziel erreicht. Freudig
begrüßte mich der mwadere Eidgenofje, der dort oben in dürftiger Bretterbude
hauſt und fofort hißte er eine große weiße Flagge, damit auch die übrige
Welt wife, daß es wieder einmal ein Sterblicher der Mühe werth gehalten,
die fteile Höhe zu erflimmen. Der Wirt) — eigentlich ein fimpler Haus:
knecht des Hotel Bellevue in Rickenbach, früher in Dienften bei einer
franzöfifhen Familie, in welder Stellung er während des Kriegd als
Dolmetfh, reſp. ald Befänftiger der deutfchen Barbaren dienen mußte —
zeigte das erfreuliche Verftändnig für meine Rage, Dank feinem ſtaunenswerthen
culinarifhen Gefhik und dem nicht genug zu rühmenden Inhalte feines
Kelerd war ich in meiner Menfchenwürde foweit reftaurirt, daß ich mich ganz
in das grandiofe Schaufpiel ringsum verfenken Eonnte. Die Ausfiht des
Mythen übertrifft nicht nur die des Rigt, fondern auch die des Pilatus. Hat
der letztere das Berner Oberland näher, jo diefer die Glarner und Grau-
bündner Alpen; gar weit aber läßt der Mythen feine beiden Rivalen in Be-
treff des Vordergrundes hinter fich zurüd. Hier kommt ihm feine vollfommene
Iſolirtheit zu Statten; der fait fenkrecht auffteigende Berg hat auf feinem
Gipfel nicht Raum für 100 Menſchen. So fohmwebt der Beſchauer förmlich
in der Luft. Höchft großartig und lieblich zugleich ift befonders ter Blick
nach der Seite des Vierwaldftätterfeed. Aus einer Höhe von 4000 Fuß ſchaut
man auf Schwyz hinunter und auf das lachende Geftlde, vom Silberftreifen
der Muotta durchzogen, dann erglänzt der See von Fluelen bi8 über Buochs
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hinaus, und hinter ihm erhebt ſich der Seliäberg, der Urirothſtock, der Tiflis
und die zahlloſe Reihe der ſchneebedeckten Hörner. Ein ſchöneres Bild ift, nicht
denkbar. Und man darf diefe Pracht, Gott fei Dank! ohne die Sorge ge-
nießen, daß auch der Mythen der Eifenbahnepidemie zum Opfer fallen könnte.
Er wird für alle Zeiten dad unanfehtbare Befisthum der leider ftarf zufam-
mengefchmolzenen Gemeinde derjenigen bleiben, die noch willen, wozu ihnen |
der liebe Gott gefunde Lungen und Gliedmaßen gegeben hat. Wer den An-
ſpruch erhebt, zu diefer Gemeinde gerechnet zu werden, der verjäume nicht, bei |
der erften beiten Gelegenheit den Mythen zu beſteigen; aber, wenn Fatholifcher
Feiertag ift, verlaffe er fich nicht auf Leckerbiſſen der Holzegg!
Die Mevue Aniverfelle und die Grenzboten.
Wir haben in der erften Hälfte diefed Jahres unfere Leſer aufmerffam
gemacht auf die in Paris und Nantes erfcheinende franzöfiihe Monatsſchrift
Nevue Univerfelle.e Diefe Erwähnung mar eine entjchieden mwohlmollende,
wenn wir au damals den Wunfch begründeten, e8 möchte der Leitung diefer
franzöfifhen Zeitfchrift gefallen, im ihren Gonjeeturen über die deutſche Ge—
[hichte der Gegenwart weniger Fühnen Gedanken Raum zu geben, ala jenem,
daß der deutfche Zollverein von Preußen feit Begründung des neuen Reichs
verfchludt worden fei. — Die Revanche für diefen Artikel, welche und die
Nedaction der franzöfifhen Collegin im Voraus anzufagen die Güte hatte,
ift nun erfolgt — in Geftalt der franzöfifchen Ueberfegung des Eſſays unferes
Mitarbeiterd Scherer „Frankreih im Jahre 1871*,. von welchem aus der
legte Theil „die Nationalverfammlung“ nicht mit überfegt wurde, vermuthlich
weil der momentane Souverain Frankreichs das Privilegium genießt, nicht
Eritifirt werden zu dürfen. — Als Revandhe charakterifirt fich diefe Meber-
ſetzung — oder foll fie dieß thun — nur dur) die Noten und Verwahrungen
der Nedaction. — Diefe Zufäbe verdienen gelefen zu werden, „assur&ment
pas par leur mérite“, wie die franzöfifche Collegin fi ausdrüdt, auch nicht
aus dem pfychologifchen Intereſſe, welches die Wiedergabe unfere® Artikels
in der Revue Univerfelle veranlaßte. Sondern wer dort Tieft, wie unfer
Scherer ohne Weiteres zum Pruffien gemaht und feine Anfiht mit der
Preußens identifizirt wird, wie der Franzoſe nüchtern eingefteht, daß er feine
Schandthaten von Bazeille und Chateaudun feinen Siegen von Magenta und
Malakoff nachſtelle — beide aber offenbar ala Heldenthaten mit anerkennt —
und dennod den Muth findet, unferm Mitarbeiter Gerechtigkeit und Anftand
abzufprechen, der wird für jene Gloſſen nichts übrig haben, als ein pfychiatrifches
B.
Intereſſe.
Beranttwortlicher Redakteur: 1 Dr. Hans Blum in Leipzig.
Berlag von F. 2. Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Legler in Leipzig.
—*
@2 XXXIII. Jabrgang.
e — — — — — — —
Die '
renz;boten.
3 6 eısriı fi
für
»olitik, LSiteratur und Kunſt.
N® 44.
Ausgegeben am 30. October 1874.
Inhalt:
Seite
Die Drakel Griehenlande. C. Brud.. » 2 2 2 20. . 161
Charled Wolfe. Skizze feines Lebens und Dichtens. Bon
Butsn Saller 175
Wenjukow's Werk über Inneraſſenn.. 183
Serbftta e in Schwaben. I. (Gmünd. Lord. Der Hobenftaufen. Die
. Dwen.) Friedrich Lamperl.. . » . 0...
Bom deutfchen Reih und Reichſstag. C—r. . . BC ne
Brenzbotenumfhlag : Literariiche Anzeigen.
+ + Beilage von der E. F. Winter’fhen PVerlagsbandlung in
eipzig.
Riterarifche Beilage von Maufe’3 Verlag (Hermann Dufft) in Jena.
Literarische Beilage von Garl Flemming in Glogau.
— —00———— — —
Leipzig, 1874.
Friedrih Ludwig Herbig.
(Fr. Bild. Grunow.)
rt bei allen Buchhandlungen und Poſtämtern des In: und Auslandes
Er
Die Orakel Griechenlands.
Bon
C. Brud.
So lange Menfchen diefe Erde bevölfern und in ihren Herzen das un»
audtifgbare Sehnen ruht nah Glück, nach vollfommener Befriedigung aller
Bedürfnifie des feiblihen und geiftigen Lebens, welche die Gegenwart mit
ihrer Sorge, ihren Kämpfen, ihren unfertigen Unfängen, fo oft nicht gewährt,
fo lange befteht auch die fragende Hinrichtung des menjhlichen Blickes auf
die Zukunft, aus deren Schooß das Zufallen des heiteren, glücklichen Looſes
erhofft wird. Was ift der Baum der Grfenntnig des Guten und Böfen im
Baradiefedgarten, von dent die ältefte Urkunde des Menfchengefchlechtes er-
zählt, diefer Baum, deſſen Früchte das erſte Menfchenpaar fo lieblih und
verlocdend anladhten, weil der Genuß derfelben ug machen und in gott-
ähnlichen Zuftand erheben follte, was ift er anders, ala ein Beweis dafür,
dag ſchon die Urahnen unfere® Gefchlechtes fih in der Gegenwart — und
es mar doch eine Gegenwart paradtefifchen Glückes — nicht befriedigt fühlten,
fondern noch geheime Wünſche und Fragen an die Zukunft Hatten? Und
diefe® Wünfchen und Fragen ift geblieben, und wenn auch unter allen
Bölfern jenes Bemwußtfein lebt, dem Sophokles am Schluffe feine Ajas fo
flaren Ausdruck giebt, indem er den Chor fingen läßt:
„Biel fchauet der Menfch und erforſcht fein Geift;
Doch nimmer, er ſah's denn, dedet er auf,
Was ruht in dem Schoofe der Zufunft!*
fo fuht doch immer wieder die begehrliche Menfchenhand den Schleier auf-
zudeden, der dad Zukunftsbild verhüllt und fort und fort mühet fein Geift
fih ab, in das verſchloſſene Geheimnig einzudringen.
Iſt's denn ein völlig undurhdringliches, verfchloffenee Geheimniß ?
Sinken nit hier und da die einhüllenden Nebel, daß eine helle, Elare Aus—
ſicht in die Ferne fih uns eröffnet? Daß man durd Kombination und Be
rechnung einen ziemlich wahrſcheinlichen, ja fait gemiffen Schluß aus der
Gegenwart auf die Zukunft machen fann, daß z. B. ein erfahrener Staats—
Grenzboten IV, 1874. 21
162
mann, der die Tauſenden verborgenen Fäden der Diplomatie in feiner Hand
hält, mehr weiß von der zufünftigen Geftaltung des politifchen Lebens, ala
andere, diejen höheren Regionen ferner ftehende Sterbliche. Oder daß aus
natürlichen Anzeichen die Witterung des folgenden Tages fich beftimmen
läßt, ift doch nod) fein Zufunftsblid, und auch da bleibt die Möglichkeit,
daß ein unbeachteter Factor die ganze Berechnung ala falfch erweilt und ein
unvorhergefehened Ereigniß der ganzen Sache eine von der erwartenden ganz
abweichende Wendung giebt. Und wenn du aud glaubft, mit völliger Ge
wißheit auf das zufünftige Verhalten felbft eines dir nahe Stehenden ſchließen
zu fönnen, fo wirft du doch oft erfahren müſſen, daß das menfchliche Herz
ein Faetor ift, mit dem fich ſchwer rechnen läßt, der eben unberechenbar ift.
Aber von Möglichkeitd- und MWahrfcheinlichkeitsrechnungen ift auch nicht die
Rede, fondern die Frage jtellt fi) fo: giebt e8 ein Wiffen um die Zukunft,
welches nicht der Vermittlung durch gegenwärtige Verhältniffe bedarf? Kann
ein Menfh die zufünftige Geftaltung von Dingen fchauen, deren gegen,
wärtiger Stand ihm völlig unbefannt ift? Mir fönnen auf diefe Frage nur
mit einem entjchiedenen „Nein“ antworten und höchſtens das Vorkommen
von Ahnungen und dunklen Vorgefühlen zugeben, und je größer die Auf-
klärung und je weiter die Fortfchritte des Geiſtes, defto milliger wird jenes
„Nein“ zu geben fein. Kreilich fo Iange der Menſch noch in dem Zuftande
des rohen Naturfindes lebt, welches von den feften, ewigen, wandelloſen Ge
jegen nicyt3 weiß, nad denen alles natürliche Xeben fich entwickelt, deflen
Phantaſie das Auffallende, Außerordentliche gleich ala das Wunderbare auf-
faßt und diefe® Wunderbare liebt und gefliffentlih aufſucht, und deſſen Find-
liher Sinn alle Erfcheinungen des Lebens, die fein in engen Grenzen fid
bemwegender Geift nicht erklären Fann, ald unmittelbare, den Gang der Natur
durchbrechende Einwirkungen höherer Mächte und dämoniſcher Kräfte anfieht,
fo lange wird auch die natürliche Gonfequenz nicht ausbleiben, nämlich ſolchen
auffallenden, unerflärten Ereigniſſen einen entſcheidenden Einfluß auf zukünftige
Begebenheiten zuzufchreiben und in ihnen WVorbedeutungen deſſen zu fehen,
was noch kommen fol. Ja je näher die Dinge dem Menfchen ftehen, an
denen fich ſolches Auffälige zeigt, um fo gewiſſer wird in Ießterem das Be
deutfame und die Zukunft Beftimmende erfannt, fo daß ein befonderes, un-
gemöhnliched Verhalten von Thieren, ein Traum, ein merfwürdiged Zufammen:
treffen von mwefentlichen oder unmefentlihen Begebenheiten die bedeutungsvollſten
Momente für die Auslegung der Zukunft abgeben müfjen. Uber nicht jedem
Sterblichen, fo urtheilt der Eindliche Glaube, ift es befchieden, ſolche Zeichen
zu deuten und auf die gegebenen Verhältnifje anzuwenden; jondern die Gott-
heit wählt fich ihre Organe aus, auf die fie einwirkt, aus denen fie felbit
fpricht,, durch die fie fih offenbart, und wo dann ein Menfh an Geilt,
163
Talent, Klugheit vor Andern bervorragt, wo in fohmierigen, verwidelten
2ebendverhältnifien ein guter Rath gegeben wird, der den Knoten löſt und
die Wege ebnet, wo in ſchwärmeriſcher Begeifterung ein Ausſpruch gethan
wird, durch den Zufünftiges offenbart wird, da ehrt noch heute der Findliche
Sinn gläubig die Offenbarung der Gottheit und in der menfchlichen Perſön—
fichkeit, die der Mund derfelben ift, fieht man den Vertrauten, den begnabeten
Liebling höherer Mächte.
Auch die griechifche Gefchichte berichtet und vielfach von folhen Männern,
die fih rühmten, von den Göttern erleuchtet zu fein, und die darum in dem
höchſten Anfehen ftanden, die größten Ehren genofjen und einen ganz be-
deutenden Einfluß nicht bloß auf Einzelne, fondern aud auf das öffentliche
Leben des Volkes und politische Verhältniffe hatten. Man nannte fie Seher.
Ihre Kunft tft nach Plato eine zweifache, nämlich entweder eine natürliche,
ungelernte,, infofern fie nicht eined Unterricht? bedarf, auch feine bejtimmten
Regeln befolgt, fondern aus unmittelbarer göttlicher Einwirkung herrühtt,
oder eine Fünftlihe, die ein gewiſſes Studium erfordert und erſt durch reife
Grfahrung und langjährige Beobachtungen angeeignet wird. — Eine natür-
liche Weiffagungsgabe, Theomantie genannt, war nicht ein in jedem Augen-
bit gleihfam zur Verfügung ftehendes Gut, fondern brach nur bisweilen
biisähnlih, aus unmittelbarer dämonifcher Einwirkung herrührend, hervor
und zwar unter heftigen convulfivifhen Zudungen, in denen fi der von
dem Dämon Ergriffene wie ein MWahnfinniger geberdete und in einem Zu-
ande völliger Bemußtlofigkeit bald Worte ausftieß, die man ald Worte der
Bottheit jelbft anfah, bald durch heftige Geberden den Willen derfelben an-
deutete. Auf ſolche Weife mweiffagten z. B. die Sibyllen, fagenhafte Weiber,
deren Drafelfprüdhe bei den Griechen, ganz befonderd aber auch bei den
Römern *), in dem höchften Anfehen ftanden und deren Zahl gemöhnlich auf
sehn angegeben wird. Auch Orpheus, der mythifhe Barde Griechenlands,
fand angebli in vertrautem Umgang mit den Göttern und murde ihrer
Dffienbarungen gewürdigt, wie er auch dur ihren Beiftand viele Wunder:
werke, Kranfenheilungen u. |. w. vollbracht haben fol. Ueberhaupt aber
wurde in den älteften Zeiten jede Begeifterung, jede höhere Begabung, jedes
tiefere Wiſſen als Ausflug der Gottheit angefehen und mit dem Namen
Theomantie“ bezeichnet.
Meit bedeutungsvoller aber, weil allmählich zu einer förmlichen Wiſſen—
ſchaft ausgebildet, ift jene Art der MWeiffagung, die mir oben eine Fünftliche im
*) Bekanntlich foll der römifche König Tarquinius Superbus drei Bücher fibyllinifcher
Beiffagungen von einer unbekannten Alten angefauft haben, nachdem diefelbe erft neun, dann
nad) Berbrennung von bdreien die andern ſechs, und dann nad weiterer Berbrennung von
dreien, die legten drei zu demjelben hohen Preiſe angeboten batte.
164
Gegenfa zu der natürlihen nannten. Sie fnüpft an irgend melde äußere
Zeichen an, um aus ihnen auf die Zukunft zu ſchließen, und ed gehörte in der
That ein nicht geringer Grad von Scharffinn und von Kenntnifjen dazu, um
allen jenen Zeichen und Zufälligkeiten, die und völlig bedeutungslos erjheinen,
einen tieferen Sinn und höhere Deutung zu geben. So wurde von jeher ein ganz
befondereö Gewicht gelegt auf die Lebensart der Vögel, auf ihre Natur, ohne Rüd:
fiht auf befondere Umstände, unter denen fie erfchienen, fo daß diefer Vogel ald
ein glücverheißender, jener ald Unglüddbote angefehen wurde; oder auf die
befonderen Berhältniffe, die ihr Erſcheinen begleiteten, ſodaß einer und derfelbe
Bogel bald Heil, bald Unheil anzeigen konnte. Adler, Falken, Tauben,
Schwäne, Hähne, Reiher galten im Allgemeinen ald glücverheigende Vögel;
dagegen Beier, Habichte, Krähen, Naben (namentlih wenn diefelben z. ®.
gierig im Kreis herum flatterten), Schwalben, Eulen u. f. w. wurden meiften®
als Unglüdeboten angefehen. Doch konnten, wie gejagt, die begleitenden
Umftände auch ein an und für fi ungünftige® Omen zu einem günftigen
machen und umgekehrt. So mar das Verhalten der Vögel beim Freſſen, die
Art ihres Fluges, namentlih aber ihr Gefang, der Gegenftand eifriger Be:
obachtung, und ed bat denn auch niht an Männern gefehlt, welche fi
rühmten, die Sprache der Vögel zu verftehen, z. B. Apollonius von Tyana,
Demokritod® u. U. Daß den Vögeln eine ſolche Bedeutung zugefchrieben
wurde, mag wohl darin feinen Grund haben, daß man glaubte, fie befämen
durch ihr Wanderleben, durch ihr Umberflattern von einem Ort zum andern,
mehr von den Dingen der Welt zu fehen und hätten daher von mancdherlei
befjere Kunde, ald andere Gefchöpfe, die mehr an einen felten Ort gebunden
feien und deren Geſichtskreis darum ein befchränkterer fei. Auch andere Thiere
galten in ihrem Verhalten als bedeutungsvoll. Ameiſen follen dem phrygi-
ſchen Könige Midas, wie er ald Kind in der Wiege lag, Getreideförner in
den Mund getragen haben, woraus die Wahrfager den Schluß auf zufünf-
tigen großen Reichthum deöfelben machten. Ein Bienenfhwarm foll dem Plato
ald Kind Honig auf die Lippen gelegt haben, was auf die Macht der Rede,
die einft von feinen Lippen fließen werde, gedeutet wurde. Auch Pindar, der
große Iyrifhe Dichter der Griechen, foll, da er ald Kind audgefegt worden
war, von Bienen mit Honig ernährt worden fein, in welchem Umftande man
den Sangeszauber vorgedeutet ſah, mit dem er einft die Herzen entzüden
werde. Unter anderen Thieren, welche als bedeutfam galten, nennen wir
noch Heufchreden, Eber, Hafen, Schlangen und Kröten. Für höchſt bedeutfam
und auf zukünftige Dinge in entjcheidender Weiſe einmwirkend galten ferner
auch auffallende Naturerfcheinungen. Das Erſcheinen eined Kometen war
ſchon den Griechen, wie noch heute dem ungebildeten, abergläubigen Bolfe,
ein Bote furdhtbaren, allgemeinen Unglüds; mit gleicher Angft des Aber:
165
glauben® wurden Sonnen» und Mondfinfterniffe betrachtet, weil man ihre
natürliche Erklärung nicht kannte; deßgleichen ſchloß man aus dem Weſen
des Windes, aus Blitz, Donner, Erdbeben und anderen Naturerfcheinungen
bald auf Glück, bald auf Unglüd. Eine große Rolle in der Prophetie der
alten Griechen fpielten auch die Träume. Nicht jeder Traum aber
wurde für bedeutfam in Bezug auf zufünftige Ereigniffe gehalten, fondern
nur unter gewiffen Bedingungen ihm eine ſolche Bedeutung beigemejjen. Er-
ſchien 3. B. dem Schlafenden im Traume ein Gott, fei ed in eigener oder in
angenommener Geftalt, um jenem irgend etwas zu offenbaren, fo galt ein
folder Traum in höchſtem Grade für bedeutfam und die Worte ded Gottes,
die der Träumende gehört, ald untrügliche, unfehlbare Wahrheit. So be:
wegte der von Zeus gefandte, in Neſtors Geftalt dem fchlafenden Agamemnon
erfcheinende Traumgott Ießteren, fofort das Heer zu einer entjcheidenden
Schlacht gegen die Trojaner zu rüften, da die Worte ded Traumgotted ihm
Sieg in Ausſicht ftellten. Auch menn im Traum ein zufünftige® Ereigniß
als im gegenwärtigen Augenblic eintretend gefhaut wurde, fo wurde an das
einftige Eintreten desfelben mit zmweifellofer Gewißheit geglaubt. Hierher ge-
hört der Traum Aleranderd, der ihm als feinen zukünftigen Mörder den
Kaffander bezeichnete. Endlich legte man auch ſolchen Träumen eine tiefere
Bedeutung bei, in denen fid) das zukünftige Ereignig in fymbolifcher oder
allegorifcher Form darftellte. Ein folher Traum ängjtigte nah Sophofles
Elektra die Klytämneftra ; der gemordete Gatte, Agamemnon, erfehien ihr im
Zraume und bobrte den Herrfherftab, den er in der Hand hielt, in den
Heerd ded Haufes ein, aus dem dann ein junges, frifches Neid hervorfproßte,
von dem die ganze Stadt Mytenä befchattet ward. Diefer Traum wird von
dem Chor fofort auf blutige Rache gedeutet, die in Drefted, Agamemnong
Sohne, nahe. Auch jener Traum der Hekuba, der Gemahlin des trojaniſchen
Königs Priamus, aus ihrem Schoofe werde ein Feuerbrand geboren, wurde
ala allegorifch angefehen und von dem Wahrſager Aeſakos dahin erklärt, daß
der erwartete Sohn (ed war Paris) dem Reiche den Untergang bereiten werde.
Aus diefer Art der Weiffagung, die wohl an einzelnen Perfonen, keines—
wegs aber einen beftimmten Ort gebunden war, entjtanden nun die Drafel,
deren Eigenthümlichkeit eben darin beruht, daß ihre Weiffagungen nur von
einem beftimmten Orte aus ergehen und mit diefem Drte in engfter Verbin:
dung ftehen. Schon von einzelnen Sehern wird und erzählt, daß ihnen nad)
ihrem Tode ein eigenes Orakel geweiht wurde, 3. B. von Kalchas, deſſen
Drafel in Daunien auf dem Hügel Drium ſich befand, wo der, welcher feinen
Kath begehrte, einen ſchwarzen Widder opfern und dann auf der Haut des—
felben einfchlafen mußte. Die Entſtehungszeit der Orakel verliert fi alfo
in dem fernften Ulterthum, über dem nur ein mythiſches Dunkel ruht, und
166
au in Bezug auf die Beſchaffenheit derfelben find die gefchichtlichen Quellen
höchſt unfiher, da die alten Schriftfteller theils zu abergläubig find, um
ein ruhiges, unbefangene® Urtheil über die Orakel zu fällen, theild zu un:
gläubig, d. h. fo voll des Spottes und der fchärfiten Vitterfeit, daß Fein vor-
urtheildfreier Standpunft von ihnen zu erwarten if. Wie dem aber aud
fein mag, fo viel ift ficher, daß die Orakel Inſtitute von höchſter Bedeutung
für das private, bürgerliche und nationale Leben der Griechen waren, und
daß fie, wenn fih auch, namentlih in fpäteren Zeiten, viel abfichtliche
Täuſchung und grober Betrug mit ihnen verband, doch von großem Segen
geweſen find.
Schon früher beftand bei den Griechen die Sitte, gewiſſe Gegenden und
kleinere Plätze einzelnen Göttern ganz befonder® zu mweihen. Städte und
Ränder ftellten fi unter den befondern Schu einer Gottheit und glaubten
darum fich ihrer befonderen Huld erfreuen zu dürfen. Auch Haine, Quellen
u. f. m. wurden öfters einer Gottheit geweiht und diefe lettere dann gerade
dort bejonderd gegenwärtig gedacht. So wird und ſchon von Herkules (Soph.
Trach.) erzählt, er Habe auf dem Vorgebirge Kenäon dem Zeus einen grünen
Hain geweiht; eine Inſel unmeit Lemnos, wo Philofteted den verderblichen
Biß erhielt, war der Chryfe gemeiht und erhielt von ihr den Namen; ein
Hain bei Kolonos war den Eumeniden geweiht und wurde als ihr Wohnort
gefürchtet. Gewöhnlich wurden an ſolchen Stellen der betreffenden Gottheit
Altäre gebaut und an einigen fpäter auch Tempel, die dann als Sig und
Heiligthum der Gottheit verehrt wurden und wo diefelbe durch den Mund
der Wriefter, die fich ihrem Dienfte widmeten, fi offenbart. Auch jene Pro:
pheten, die wir oben fchilderten, find oft Gründer fpäter fehr berühmter Orakel
geworden. Sin der ſchwärmeriſchen Richtung ihres Weſens, getrieben bald von
dem Streben, ungeftört dem Gott, der fie begeifterte, dienen zu können, bald
freilich auch von dem egoiftifchen Zweck, den Auf einer befonderen Heiligkeit
zu erlangen und dadurch bei dem Volke eined größeren Einfluſſes ſich zu ver-
fihern, zogen fich Viele jener Propheten von dem Verkehr mit der Melt zu:
rü in ein einfames, einfieblerifched Leben. Ein dunkler Hain, wo der Wind
wie mit geheimnißvollen Götterftimmen durch die Wipfel der Bäume raufäte,
eine Quelle, deren Gemurmel und Geplätjcher mie Geifterftimmen aus der
Tiefe Elang, eine abgelegene Felfengrotte, von deren dunflen Wänden Geifter-
nähe den Eintretenden anftarrte, gähnende Erdfpalten und Klüfte, aus denen
beraufchende und betäubende Dämpfe aufftiegen, die Nähe der Gottheit an-
kündigend, furchtbare Einöden, unwirthliche Gebirgäpartien, ſchauerliche
Thäler, überhaupt Gegenden, die den Charakter des Ungewöhnlichen hatten
und auf den Menſchen einen erhebenden, großartigen, oder auch ſchreckhaften,
Furcht und Grauen einflößenden Eindruck machten — das waren die Orte,
167
die von jenen griebifchen Ginfiedlern aufgefucht wurden, wo fie nun
in völliger Abgefchiedenheit lebten, allein beichäftigt, dem Gott zu dienen,
für defien Organ fie fih hielten. Bald Fnüpfte fih an ihre Perſon
ein Ruf befonderer Heiligkeit und der Gabe, die Zukunft zu enthüllen und
denn Fragenden ihre fommenden Schickſale zu prophezeien. Bon nah und
fern ftrömte nun das gläubige Volk herbei, um in fohmwierigen Lebenslagen
ih Rath, über Bergangened Klarheit, über Zukünftige Gewißheit zu holen.
Zahlreihe und koſtbare Gefcyenfe wurden aus Dankbarkeit an den Stufen
des Altard niedergelegt und allmählich entftanden da, wo fonft Wildniß und
Einöde war, die herrlichiten Tempelbauten, in deren Hallen ein buntes viel-
geitaltiged Leben wogte. Der gottbegeifterte Seher, dem ein folcher Tempel
jein Entftehen verdankte, fand dann in einer oft vielzähligen Priefterzunft,
die fih dem Dienfte desfelben Gottes mweihte, feine Nachfolger, auf die fich
diefelbe Gottederleuchtung vererbte.
Auf folhe Weife werden die fpäter fo großartigen Orafelanftalten
Griechenlands entitanden fein, und was anfangs mehr der Zufall hervorge-
rufen hatte, das wurde fpäter in Eluger Berechnung gefliffentlich zu erhalten
und zu erweitern gefucht und hat in der That einen das ganze private und
Öffentliche VXeben des Volkes völlig beherrjchenden Einfluß gewonnen. Kein
Grieche ging an ein irgendwie wichtiged Unternehmen, ohne zuvor dad Orafel
um feinen Rath zu fragen, in Streitigkeiten wurde feine Schiedsſtimme an-
gerufen, in Krankheitsfällen ſuchte man bei ihm Heilung; bei öffentlichen
Wahlen fragte man dort an, auf wen ded Gotted Stimme fiele; Fein Krieg
wurde erklärt, fein Friede gefchloffen, der nicht durch einen Orakelſpruch feine
Sanction erhalten hätte, kurz nad) allen Richtungen des Lebens hin erftredte
fih der Einfluß der Orakel.
Unleugbar lag in diefem wichtigen Einfluß ein großer Segen. Wer e8
bört , wie ein Orakelſpruch langjährige Streitigkeiten, die nur zum Nachtheil
und Verderben beider Parteien mit Zähigfeit und Erbitterung genährt wurden,
befeitigte; wie vortreffliche Rathſchläge häufig den Fragenden ertheilt wurden ;
wie nur dur das Anfehen des Drafeld einem Lykurg und Solon möglid)
wurde, ihre vortrefflihen, das allgemeine Volkswohl wichtig fördernden Ge—
feggebungen und bürgerlihen Einrichtungen durchzuſetzen, gegen welche fd).
jonft dad an feinen veralteten Inftitutionen und verjährten VBorurtheilen mit
Zähigkeit hängende Volk ohne Zweifel aufgelehnt hätte; mie die Drafel der
Sis und die Freiftatt der Weisheit waren, von wo aus heilfame Kehren, ala
Götteraudfprüche doppelt hoch gehalten, in das Volk eindrangen: der wird
von der einfeitigen Geringfhäsung und vornehmen Verachtung diejer ja frei-
lich mit viel Aberglauben und abfichtlicher Täufchung behafteten nftitute
zurüdfommen und gebührender Weiſe das Gute anerkennen, das fie für ihre
168
Zeit gewirkt haben, und fie für einen wichtigen Factor in der Entwidelungs-
gefchichte der griechifchen Cultur anfehen.
Was fie waren, find fie freilih nicht geblieben, und nachdem fie
ihre Aufgabe erfüllt und fich audgelebt hatten, beginnt auch ihr Verfall. Schon
frühe mag es vorgefommen fein, daß dieſes oder jened Drafel, diefer oder
jener Prieſter desfelben anfing, fich für feine Ausfprüche beftechen zu lafien,
oder durch offenbare Betrügereien die Teichtgläubige Menge zu täufchen. Hier-
her gehört ſchon das VBeftreben der meiften Orakel, ihren Ausſprüchen eine
ganz unbeftimmte, vieldeutige Form zu geben, oder hinter Wortfpielen,
Doppelfinnigkeiten, Zmeideutigfeiten den Mangel an rechter Erfenntniß und
flarem Blick zu verbergen. Aus fpäterer Zeit werden aber auch ausdrücklich
einige Fälle berichtet, au8 denen die Verderbtheit und Depravation der Orakel
zur Genüge hervorgeht. So erzählt Herodot, daß Kleomened, König von
Sparta, um feinen verhaßten Mitregenten Demaratus zu jürgen, das Del-
phifche Drafel beftochen habe, die Spartaner auf ihre Anfrage, ob Dema-
ratus ein Sohn des Arifto ſei, oder ob die vorhandenen Zweifel an der Ehe—
lichkeit feiner Geburt berechtigt feien, in letzterem Sinne zu entjcheiden, mas
zur Folge hatte, dag allerdings Demaratus abgefest wurde. Der Leiche des
Pauſanias, deffen Berrätherei und elendes Ende befannt ift, wurde anfangs
ein ehrenvolled Begräbniß verfagt; in Folge eines durch Geld erfauften Orafel-
ſpruchs dagegen wurden feine Gebeine vor dem QTempel, in dem er fein Ende
gefunden, feierlich beftattet. ine großartige Betrügeret wird und auch von
Lyſander erzählt, der nämlich beabfichtigte, die ganze Staatdverfaffung feines
Volkes umzuftürzen, und dazu die Mithülfe des Delphiſchen Orakels durch An-
wendung feiner Autorität begehrte, die ihm auch völlig gewährt wurde.
Menn aus diefen Beiſpielen, die fich leicht vermehren ließen, einee-
theild deutlich hervorgeht, mie tief die Drafel im Kaufe der Zeit gefunfen
waren, jo muß es andererfeit® um fo mehr Wunder nehmen, ie troßdem
diefe Anftalten nod Jahrhunderte lang in großem Anſehen ftehen Eonnten,
und wie e8 Fam, daß nicht längit dem Volke die Augen geöffnet wurden.
Doch wenn man bedenkt, wie tief abergläubige Borftellungen im Bolfe wur:
zeln und wie leicht es ift, auch einen einmal ein wenig erfehütterten Glauben
bei demfelben wieder zu befeftigen ; wie wenig verbreitet damald noch die Bil-
dung im Wolfe war und einen wie Fleinen Kreis das Licht der Philofophie
befchten; welch ein Sinterefje die Vornehmen und Hocftehenden hatten, das
Volk in feinem Aberglauben und auf feiner niedrigen Bildungsſtufe zu er
halten und den Glauben an die Unfehlbarkeit der Drakelfprüche, die fie felbit
belachten und verfpotteten, zu nähren; wie endlich auch bei Vielen, die fih
in einzelnen Fällen von der feilen Beftechlichfeit und Augendienerei der
Orakel überzeugt hatten, dennoch) eine gewiſſe Pietät und ein gewiſſer Refpect
169
vor der Ehrwürdigkeit der Gottedausfprüche noch herrſchte, der natürlich noch
fi erhöhte und für lange Zeit aufs Neue feft gegründet war, wenn einmal
ein Spruch zufällig in Erfüllung ging: fo kann e8 und nicht mehr befremden,
da diefe Drafelanftalten noch in Anſehen und Blüthe ftanden zu einer Zeit,
da die MWeltgefchichte längſt über fie zur Tagesordnung übergegangen mar.
Yuf die Dauer freilich Tonnten fie dem Geſte der Zeit, der mehr und mehr
fh geltend machenden Gelbitändigfeit des Denkens, der meiter fich verbrei-
temden Aufklärung und Bildung nicht mehr Widerftand leiften und mußten
jllen, wie Alles fällt, ob's auch noch fo fiher und prunfend dafteht, was
auf den Sand kindlichen Weſens, thörichten Aberglaubend und menfchlichen
Gigennuße3 gebaut ift.
Betrachten wir nun noch in Furzen Zügen die beveutendften Drafelan-
falten Griechenlands in ihren befondern Eigenthümlichkeiten.
Eines der älteften Drafel Griechenlands war zu Dodona, einem Orte
in Epirud. Die Sage über die Entjtehung deöjelben tit folgende. Zwei
Zauben , welche der Thebe, einer Tochter des Zeus, gehörten und die Gabe
menjhlicher Sprache hatten, flogen von Theben in Aegypten aus. Die eine
kam nach Libyen und ftiftete dort dag Ammoniſche Drafel, die andere nad)
Epirus und ließ fi dort auf einem Eichbaum nieder, von dem aus fie die
Einwohner, welche Sellen genannt wurden, (Soph. Trach. V. 1139) auf-
forderte, dem Zeus zu Ehren an eben der Stelle ein Orakel zu ftiften. Da
nah Strabo die ägyptiichen Priefter behaupteten, daß zwei Priefterinnen ihren
Gultus nad Libyen und Epirus verpflanzt hätten, und da ferner in der
Sprache der alten Völker von Epirus dasfelbe Wort Tauben und alte Weiber
bedeutet, fo wird ed wahrſcheinlich, daß Hier eine Verwechſelung vorliegt und
der Sinn jener Fabel der ift, daß das Dodonifhe Drafel zuerft durch ägyp-
tiſche Priefterinnen geftiftet fei, die in dem heiligen Haine bei Dodona ihre
Beiffagungen ertheilten. Aus legterem Umftande bildete ſich dann die fernere
Sage, die Eihbäume jenes Haines Fünnten reden, mie denn auch behauptet
wird, das Schiff der Argonauten, welches aus Eichſtämmen jened Haines
gezimmert war, habe die Gabe zu reden und zu meilfagen gehabt. Die
Priefterinnen des Zeus, melde in dem Haine, den fpäter ein Tempel zierte,
weillagten, fuchten den Willen ihres Gottes auf fehr verſchiedene Weiſe zu
erforfchen. Bald horchten fie auf das Gefäufel ded Windes, der die Wipfel
der Eihbäume bewegte, bald auf das Gemurmel der Quelle, die aus dem
Boden hervorfprudelte, bald auf das Geräufh, das durch das Zufammen-
Ihlagen mehrerer um den Tempel hängender Fupferner Becken entjtand, bald
auf die Töne, die eine Figur dadurch hervorbrachte, daß eine aus drei Metall.
fetten beftehende und mit Metallfnöpfen beſetzte Peitſche, die fie in der Hand
hielt, wenn fie vom Winde bewegt wurde, an ein daneben u ehernes
Grenzboten IV, 1874.
170
Gefäß ſchlug; bald endlich auch entſchied das Loos, indem Zetteldhen oder
Würfel aus einer Urne gezogen wurden. Das Dodoniſche Orakel gehörte zu
den gefeiertſten des Alterthums, was die zahlloſen Weihegeſchenke, die den
Tempel ſchmückten, bewieſen, bis die Götter nach Strabo's Bericht, der zur
Zeit des Kaiſers Auguſtus lebte, es verließen.
Den erſten Rang unter allen nimmt aber unſtreitig ein das Orakel zu
Delphi in Phoeis am Fuße des Parnaſſos, der ſich Hier in zwei Berg—
gipfel zertheilte (Soph. Ded. Tyr. V. 458). In der Stadt, die mit ver-
ichmwenderifcher Pracht gebaut war, befanden fi die herrlichſten Baumerfe
und Denkmäler der Kunft. Unter allen aber ragte hervor der berühmte,
herrliche Tempel des Apollo, der hier an der Stätte des alten Orafeld Apollos
entitanden und von den Gejchenken derer, die fich hier Rath und Licht geholt
hatten, angefüllt war. Diefem Orakel allein verdankte Delphi aud feinen
Ruhm und Glanz. In welchem Anſehen dieſer Ort bei allen Völkern ftand,
geht auch aus dem Umftande hervor, daß er ald der Mittelpunkt der Erde
angefehen wurde, weßhalb Dichter, z. B. Sophofled im Ded. Tyr. B. 866,
ihn den Nabel der Erde nennen. Diefe Anfiht gründet fih auf die Fabel,
Zeus habe einft, um die Mitte der Erde zu beftimmen, zwei Adler, den einen
von Abend, den andern von Morgen ber, fliegen laffen und diefelben feien
zufammengetroffen an der Stelle, wo fpäter Delphi ftand. In dem Tempel
befanden ſich auch Marmorplatten, welche genau die Stelle bezeichneten, die
man für den Mittelpunft der Erde anſah.
Die Stadt Delphi hatte Anfangs den Namen Pytho zur Erinnerung
an den Drachen Pytho, den hier Apollo getödtet hatte. Daher wurde der
Drt im Tempel, wo eigentlich geweiſſagt wurde, Pythium, die PBriefterin,
durch deren Mund fi) Apollo offenbarte, Pythia und Apollo felbft Pythius
genannt. Jenes Pythium war eine tiefe Erdhöhle, aus der fortwährend ein
mepbitifcher Dampf aufftieg. Ueber diefer Dunfthöhle, um welche herum der
Boden erhöht war, damit der Dunft den Naheftehenden nicht ſchade, fand
ein fogenannter Dreifuß, der völlig mit Torbeerzweigen und Kränzen bededt
war, fo daß der gefährliche Dunft fi nicht nach außen verbreiten fonnte.
Wie diefer Dreifuß, deffen drei Füße übrigens Apollos Wiffen um Vergangen—
heit, Gegenwart und Zukunft ſymboliſch andeuten follten, eigentlich befchaffen
war, läßt fi nicht mit Gewißheit jagen. Bald befchreibt man ihn als ein
Gefäß, auf dem die Pothia ſaß und durch welches diefer der Dampf in den
Unterleib flieg, um dann aus ihrem Munde, mit wetffagenden Worten ver-
bunden, wieder herauszukommen; bald als einen weiten Keffel, in den die
Pythia hinabtauchte, um durch den auffteigenden Dampf in den Zuftand der
Betäubung oder Verzücdung verjegt zu werden, der zum MWeiffagen erforderlich
war; bald als einen mit einer Oeffnung verjehenen Topf, in dem fich kleine
—
171
Steindhen befanden, die durch die aufwärts ftrömende Dunftfäule gefchüttelt
wurden und aus deren eigenthümlichen Bewegungen die Pythia ihre Weiſſa—
gungen entnahm; wahrfcheinlich ift e8 aber nur ein einfacher, mit drei Füßen
verfehener Sit gemwefen, von dem aus die Pythia ihre Weiffagungen gab.
Anfangs wurde der Dienft der Pythia jedesmal nur von einer einzigen
Jungfrau verfehen , die -zuerft in jugendlichen, fpäter in reiferem Alter ftehen
mußte und gewöhnlich nach ihrer Herkunft aus der Umgegend von Delphi
tammte und den niedrigften Ständen angehörte. Später, als die Frequenz
des Orakels zunahm und eine Perſon den Dienft nicht mehr bewältigen
tonnte, wurden immer drei Pythien eingefeßt, die der Neihe nad) die Fune—
tionen ihres Amtes übten. Bevor die fungirende Pythia den Dreifuß beitieg,
um des Gottes Dffenbarungen zu empfangen, nahm fie ein Bad in der nahen
Quelle Kaftalia, ſchmückte fih das Haar mit Lorbeerkränzen und pflüdte
auch von einem nahe bet der Höhle ftehenden Lorbeerbaume einige Blätter
ab, die fie verzehrte. Dann zeigte ſich auch fehr bald an ihr die Wirkung
des Dampfes, der aus der Höhle zu ihr aufftieg. Sie gerieth durch denfelben
allmählich in einen förmlichen Paroxysmus, ihre Glieder zitterten, ihr An-
geficht glühte fieberhaft, ihre Augen traten faft aus ihren Höhlen und fun-
felten unheimlich, kalter Schweiß bededte ihren Körper und Schaum trat aus
ihrem Munde, faft erftidt von dem betäubenden Dunfte und feftgehalten auf
ihrem Site von den Händen der Priefter, brach fie endlich In ein förmliches
Wuthgeheul aus, in dem man nur einzelne abgebrocdhene Worte unterfchied,
die von den Prieftern forgfältig aufgezeichnet, fpäter in Zufammenhang ge
draht und den Fragenden ald Antwort des Gotted gegeben wurden. Diefe
Sprühe ded Drafeld murden gewöhnlich in herametrifchen Verſen ertheilt
und waren oft doppelfinnig und zmeideutig, ſtanden aber binfichtlih ihrer
Zuverläffigkeit in höchſtem Anſehen, bis überhaupt mit der zunehmenden
Aufklärung der Glaube an die Drafel mehr und mehr abnahm.
Auf der Inſel Delod, einer der Cykladen im ägätfchen Deere, von der
die Sage erzählt, dag fie einft ein auf dem Meere ſchwimmender, Eahler und
unfruchtbarer Felſen geweſen fei, aber ſeit Latona bier die Götterfinder
Apollo und Artemis geboren habe, auf Säulen ruhe, die von den Grund»
feiten der Erde aufftiegen, befand fich gleichfalld ein gefeiertes Orakel des
Apollo. Ein mit vielen Bildfäulen nnd Altären geſchmückter Tempel war
bier dem Apollo erbaut, in welchem ſich auch die berühmte colofjale Statue
des Gottes befand. In welcher Weiſe bier die Orakel ertheilt wurden, ift
nicht befannt, doch gehören die Sprüche des Apollo von Delos zu den zu—
verläffigften und Elarften. Mebrigend wurden diefelben nur im Sommer er:
tbeilt, da Apollo nad) der Mythe im Winter fi in Lyeien aufbielt, um dort
auch Orakel zu ertheilen.
172
Unmeit Milet ftand der Tempel ded Apollo Didymäus mit dem Drafel
der Branchiden, welches unter den ältejten Drafeln Griechenlands genannt
wird und auch noch in den erften Jahrhunderten der chriftlichen Zeitrechnung
Spuren feine Eriftenz und Wirkfamkeit zeigt. Den Beinamen Didymäus,
d. h. Smilling , hatte Apollo ald Zwillingsbruder der Urtemid. Die
Brandiden, eine vornehme Milefifhe Familie, weldhe ala Inhaber des Orakels
genannt werden, leiten ihren Urfprung ber von einer mythiſchen Perfönlichkeit,
Namens Branchus, der fih der befonderen Gunft des Apollo zu erfreuen
hatte und von diefem in feinen Tempel aufgenommen murde mit der
Beftimmung, daß ihm nad) feinem Tode göttliche Ehre erwieſen werden folle.
Aus der Geſchichte ded Orakels ift zu merken, daß zur Zeit der Perſerkriege
der Tempel des Apollo, in dem die Orakel ertheilt wurden, geplündert und
verbrannt wurde, indem die Priefter, die aus der Familie der Brandhiden
ftammten, ihn verrätherifcher Weiſe den Feinden überlieferten. Die Milefier
bauten fpäter den Tempel wieder auf und zwar nach einem fo weit und
großartig angelegten Projeete, daß er nicht vollendet werden Eonnte. Das
Drafel wurde vielfach von den Aeoliern und Joniern befragt und erfreute fi
in der öffentlihen Meinung fogar des erften Ranges nad dem Delphifchen,
wovon auch die großen Schäte und Koftbarkeiten, die ihm gehörten und von
der Dankbarkeit der zahlreihen Beſucher herrührten, Beweis find.
An der Spige ded Priefterperjonald von Didyma ftand der Stephanophorug,
der bei den Berrichtungen feined Amtes, wie der Name befagt, eine Krone
trug; die fpecielle Leitung ded Drafeld war das Amt des Propheten, der
durch das Loos ernannt wurde, über die Verwaltung ded Tempelſchatzes
waren die Beifiger gefegt, deren Zahl nicht immer gleich gemwefen zu fein
ſcheint. Was die Drafelceremonten betrifft, jo wird nur berichtet, daß die
felben ſich an eine Eleine, heilige Quelle Enüpften, die bei Didyma entjprang
und daß die Weiffagungen in enthufiaftifcher Weiſe ertheilt wurden, nämlich
jo, daß ein Weib, welches in der erwähnten Quelle die Säume ihres Ge
wandes und ihre Füße benegte und die aus derjelben auffteigenden Dünfte in
fi fog, ald Medium der Offenbarung gebraucht wurbe.
Ein Drafel in Lebadia hatte feinen Namen von einem gewiſſen Tro—
phonios, der mit feinem Bruder Agamedes ein berühmter Baumeifter war
und mit demfelben die Apollotempel zu Chryfa und Delphi erbaut haben
fol. Auch bauten die Brüder einem gewiſſen Hyrieus in Böotien ein Gr
bäude, worin derfelbe feine Schätze aufbewahren wollte Die verſchmitzten
Brüder festen einen Stein in die Mauer fo ein, daß ‚er bequem heraus:
genommen werden Eonnte, und benugten die Deffnung, welche ſpurlos wieder
verfchloffen werden Fonnte, um bei Nacht einzufteigen und von den Schäßen
des Hyrieus zu jtehlen. Letzterer ließ, da er die geheimnißvollen Diebereien
173
merkte, Schlingen legen, in denen fih Agamedes fing, während Trophonios,
nahdem er, um nicht verrathen zu werden, feinem Bruder den Kopf ab-
gefhnitten und in feinem Mantel verborgen hatte, nach Lebadia floh, mo in
einem Haine ihn die Erde verfhhlungen haben fol. — Wahrſcheinlich aber
hat er fich felbft eine unterirdifche Höhle zu feinem Verſteck gewählt, fpielte
hier den Wahrfager und wurde nad feinem Tode unter den Namen Zeus
Trophonios göttlich verehrt. Uebrigens Fam dieſes neue Drafel erſt durch
einen Delphiſchen Drafelfpruh in Aufnahme Die Böotier Hatten fih in
Folge einer großen Dürre an dad Delphifche Drakel um Rath gewandt, er-
hielten aber von demfelben die MWeifung, den Trophonios in Xebadia aufzu-
juhen. Lange wurde vergeblich gefucht, bi8 ein Bienenfhwarm den Meg
und jene Höhle des Trophonios zeigte, wo ſich Spuren von Götternähe
fanden und ihnen befriedigende Untwort wurde, zugleich mit der Anmweifung,
wie künftig Trophonios zu verehrten und um Rath zu fragen fei. Später
wurde hier ein Tempel gegründet. Das eigentliche Drafel befand fi in
einem Haufe, in welchem eine merkwürdige Höhle war. Bor derfelben war
ein Borhof, den ein Marmorgeländer umgab; aus vdemfelben trat man in
eine gewölbte Felfengrotte, und von diefer führte eine enge Schludt in eine
unter derfelben befindliche unterirdifhe Höhle, welche das dunkle, dumpfe
Aryton genannt wurde, Sobald der Rathfragende in diefe enge Schludht
fine Füße hineinzwängte, wurde er plößlicy mit reißender Gewalt wie von
einem Wirbel erfaßt und in die dunkle Tiefe hinabgezogen. Auf diefelbe
Beife beförderte die verborgene Mafchinerie denjelben wieder herauf und warf
ihn im bemußtlofen Zuftande auf den Boden der oberen Feljengrotte nieder.
Bolte Jemand den Gott um Rath fragen, jo Hatte er zuvor verfchiedene
Geremonien durchzumachen: ein kaltes Bad in dem nahen Fluſſe Hercyan,
Enthaltung von Wein und anderen Speifen außer dem Fleiſche der dar:
gebrachten Dpferthiere, in der legten Naht Opfer eines Widders, deſſen Ein-
geweide über die Annahme oder Zurücdweifung ded Fragenden entfchieden,
dann ein legted Bad im Hercyan und ein Trank aus den Quellen Lethe
ſd. 5. Bergeffenheit, nämlich alled VBergangenen) und Mnemofyne (d. h. Ge
dächtniß, nämlich für das, was ſich in der Höhle ereignen würde). Erſt nach—
dem alle diefe Stadien durchgemacht waren, durfte der Fragende und zwar
ganz allein die Grottenfapelle des Gottes betreten, wo er fein Gebet ver:
tichtete, um dann durch den engen Schlund in das unterirdiſche Adyton
hinabzufahren. Hier hörte derfelbe, umgeben von dicker Finfternig und in
bald bewußtlofem Zuftande liegend, geheimnigvolle Stimmen, oder ſah ge-
Ipenftifche Erjcheinungen, aus deren Geberden oder Bewegungen die Antwort
auf feine Frage zu entnehmen war. Sobald er nad) fürzerem oder längerem
Aufenthalte wieder an das Tageslicht gekommen war, murde er von den
.
174
Prieftern ded Trophonios auf einen Stuhl geführt und gefragt, mas er ge
hört und gefehen habe. Seine Antworten, in einem Zuftande von Betäubung
und Geiftedverwirrung gegeben und dictirt in dem Entfeten über das Gräf-
liche der gehabten Erfeheinungen, galten ald Dffenbarungen des Gottes.
Die Orakelgrotte des Trophonios ift noch heute unmeit Lebadeia zu
fehen und fcheint fpäter die Kripte einer chriftlichen Kirche geweſen zu fein,
deren Ruinen noch jet vorhanden find.
Bei Pateä in Achaja war ein dem Apollo geweihter Hain und nit
weit davon ein Tempel der Ceres, vor welchem eine Quelle entjprang, durd)
welche die Göttin, befonderd mit Bezug auf Krankheiten, Enthüllungen gab.
Man befragte diefed Orakel, indem man einen Spiegel an einem Faden in
die Höhlung, aus der die Quelle entfprang, hinab ließ, jedoch fo, daß er nur
eben die Oberfläche des Waſſers berührte, und dann, nachdem man der Göttin
geopfert und zu ihr gebetet hatte, die Zeichen und verfchlungenen Linien und
Figuren beobachtete und zu deuten fuchte, welche ſich in dem heraufgezogenen
Spiegel zeigten.
Zu Dropuß in Böotien, wo ein Tempel ftand, der dem Mahrfager
Amphiaraos geweiht war, war ein Orakel, das von diefem den Namen hatte.
Wer die Enthüllungen des Gottes begehrte, hatte fich während drei Tagen
des Meine und am lebten Tage auch aller Speifen zu enthalten, dann
wurde ein Widder geopfert, in das Fell desfelben gehüllt legte der Fragende
fih zum Schlafe nieder und erfuhr im Traume ded Gottes Auskunft. Sei—
nen Tribut für diefelbe mußte er in Geftalt von einigen Münzen in eine
nahe heilige Quelle werfen.
In der Nähe von Epidaurus, einer bedeutenden Stadt in Argolie,
befand fih auf dem Gebirge Arachnäon der berühmte Tempel ded Aesculap,
der Sahr aus Jahr ein von nah und fern Taufende von Kranken und Ge
brechlichen herbeilocte, die hier Genefung oder doch Linderung ihrer Leiden zu
finden hofften. In der Regel wurden denfelben zweckmäßige Arzneimittel bei
häufiger Bewegung in der frifchen, gefunden Luft der Umgegend und ent:
Iprechende Diät verfohrieben, in manchen Fällen aber, wo ihre Kunft und
Wiſſenſchaft nicht ausreichte, gebrauchten die Priefter des Aesculap auch an-
dere Mittel, um ihre Patienten zu beruhigen. Sie liegen diefelben fid in
einem großen Saal verfammeln und ermahnten fie, nachdem die für den Tempel
beftimmten Opfer auf einem Tiſche niedergelegt waren, ſich dem Schlaf hin-
zugeben und aud) bei etwa entjtehendem Geräuſch fi ganz ftill zu verhalten,
da Aesculap fich ihnen in Träumen offenbaren werde. Häufig vernahmen
denn auch die Kranken, wenn der fie begleitende Priefter mit den Opfer
gefchenken ſich entfernt hatte, Stimmen, welche fie für die Uesculaps hielten,
der durch diefelben ihnen die Mittel der Heilung angab.
175
Auch der ſchon oben erwähnte Orpheus fol in Lesbos aus einer
Höhle Orakelſprüche ertheilt haben, welche fogar anfingen, den berühmten
Drafeln Apollos Concurrenz zu machen.
Endlich notiren wir noch kurz, daß au in Klaros, einem Fleden in
Jonien, ein berühmter Tempel des Apollo mit einem Drafel fich befand, au
ein Drafel in Bura, einem Orte in Achaja, erwähnt wird, desgleichen ein
andered in Thalamiä, einer Stadt in Lakonien. Leber diefelben fehlen
aber die genaueren Mittheilungen und fo ſcheinen fie nicht die Bedeutung ges
habt zu haben, deren ſich die anderen, ausführlicher befchriebenen, erfreuen
durften, die doch auch dahinfinken mußten, überwunden von dem fortfchrei-
tenden Geifte der Zeit, und nur in ihren Trümmern no an die Zeit ihrer
Größe erinnern.
Charles Wolfe.
Skizze feines Lebens und Dichtens.
Von Guſtav Haller.
Schluß).
Bevor wir uns nun zu Wolfe's übrigen Dichtungen wenden, treten wir
ver Perſon des Dichters ſelbſt etwas näher.
Charles Wolfe war der jüngſte Sohn einer angeſehenen iriſchen
Familie, die zu ihren Vorfahren den bei Quebeck gebliebenen General James
Wolfe zählte. Er wurde am 14. December 1791 zu Dublin geboren. Sein
Vater ſtarb früh, und feine Familie zog nach England, wo fie einige Jahre
vermeilte. Er befuchte, oft Eränfelnd, von 1801—1808 drei Schulanftalten
in England und zeichnete fich ſchon dort durch poetifche® Talent und feines
Gefühl für Muſik aus. Im Jahre 1809 bezog er die anglicanifche Univerfität
in Dublin, und 1814 wurde ihm der Grad eine Baccalaureus ertheilt. Aus
den nun mit Eifer betriebenen Arbeiten zur Bewerbung um eine Gollegiat-
elle, die ihm eine geficherte Eriftenz bieten follte, rief ihn die Einladung zu
einer befreundeten Familie auf Land. Hier waren ed nicht nur die Schön-
heiten der Natur, die ihm die Rückkehr an den Arbeitstiſch erſchwerten: eine
Tochter des Haufes hatte fein Herz gefeffelt, und er begegnete feiner Abnei—
gung von ihrer Seite. MWiederholte Beſuche führten zum freundichaftlichen
Verkehr mit allen Familiengliedern, — da brachen die Eltern den Umgang
ab. Allerdings fehlten dem Dichter die Mittel, fich einen Haudftand zu grün.
176
den, und feine Ausſichten lagen im weiteſter Ferne. Weber die Mahl eines
beitimmten Berufes bis dahin ſchwankend, midmete er fi nun dem geiftli-
hen Stande. November 1817 *) fand feine Ordination ftatt. Ihr folgte
bald die Uebertragung der Randpfarre zu Ballyelog (Tyrone) im wördlichen
Irland. Schon wenige Monate fpäter erhielt er die Piarrftelle des nabe-
gelegenen Kirchipield Donoughmore in der Didcefe Armagh; in dem Haupt:
dorfe derfelben Gaftle» Caulfield nahm er feinen Wohnſitz. Mit freudigem
Ernite feste er für die Amtäpflichten im feinem verwilderten und weitaus—
gedehnten Pfarrfprengel all feine Kräfte ein. Seine Berfon Fam dabei nie
mals in Betracht. In dem Kleinen Pfarrhaufe herrſchte die vollftändigite
Bernahläffigung aller Bequemlichkeiten ded Lebende. Die Poefie war ab-
getban und night minder jeder Gedanfe an eine Heirat. Im Jahre 1820
wurde der Norden Irlands vom Typhus heimgeſucht. Wolfe's unermüdlicher
Eifer, den armen Kranken mit Teiblicher und geiftlicher Hilfe beizuftehen,
untergrub ihm die eigene Gefundheit. Ein anfänglich vernachläffigte® Bruft:
letden nöthigte ihn bald zu völliger Ruhe. Ortswechſel innerhalb Irlands
und auch ein Aufenthalt in Bordeaur brachten nur vorübergehend einige
Hoffnung auf Genefung. Ende November 1822 nahm er einen milderen
MWinteraufenthalt an der Bat von Corf und ftarb dafelbft am 21. Februar
1823, im 32. Jahre feines Lebens.
Sein Bruftbild, „engraved by H. Meyer from a Drawing by J. J. Russell.
(1826) ift den „Remains“ vorgebeftet. Danach mar er von großer fchlanfer
Geftalt. Sein Kopf zeigt ein ſchönes, tiefed und Fluges Auge, eine lange,
ipige, nur wenig gebogene Naje und einen nicht gerade jchönen, ziemlich
großen Mund,
Als Geiftlicher verband er mit dem Eifer eined WUpofteld eine vorzügliche
Begabung für Predigt und Seelforge. Die „Remains“ enthalten (Pag. 213—
447) fünfzehn „Sermons* von ihm, die ein ſchönes Zeugniß von feiner herz.
warmen und beredten Predigtweiſe ablegen.
Sein Freund Ruſſell fehilvert ihn in den „Remains* als eine erregbare
Feuernatur. Bei Ausbrüchen der Bewunderung, z. B. über ein Meifterftüd
*) In diefem Jahre fol nah Chambers („Cyclopaedia of English Literature‘)
„The Burial of Sir John Moore‘ zuerft — in jener irifchen Zeitfhrift — gedrudt fein. In
den „Remains" fehlt die Jahreszahl. Gedichtet ift es doch wohl unmittelbar oder bald nad
Erſcheinen des Berichtes im „Edinburgh Annual Register,“ als die Erinnerung an Moore
noch lebendig war. — Daf Chambers ferner die betrügerifche Aneignung des Gedichtes von
Seiten eine® fhottifchen Gelehrten in das Jahr 1841 verfegt und hinzufügt, Wolfe's Freunde
bätten deffen Anrecht verfochten und rebabilitirt, erfheint noch rätbielhafter, da Ruſſel dies in
den 1826 in zweiter Auflage erfhienenen „Remains“ als bereits abgethan beſpricht. Es ifl
doch wohl nit anzunehmen, daß auch nach dem Erfcheinen der „Remains“ fich diefelbe Sacht
zum zweiten Male ereignet bat.
177
mie Thomas Campbell's „Hohenlinden“, ein dem „The Burial* verwandtes
Gedicht, konnte er, oft zum höchlichen Ergögen feiner ruhigern Freunde, in
die Iebhafteften Gefticulationen gerathen. Beim Xefen oder wenn etwas vor
feine Seele trat, was feine Phantafie mächtig erregte, fprang er wohl von
feinem Site auf, den Stuhl zur Seite ſchleudernd; dann fehritt er im Zim-
mer auf- und nieder, feiner Erregung in wiederholten Ausbrüchen des Ge-
fühl® und unter den lebhafteften Geberden freien Lauf laſſend. Nicht? brachte
jolhe Ausbrüche heftiger hervor, ald Muſik. Er war ein feiner Mufikfenner
und indbefondere ein großer Verehrer Händel’. Vorzüglich glücklich war er
im Erfafjen des Geiftes und Charakters eines einfachen Liedes oder einer
Volksmelodie. Diefer Umftand führt und auf die Entftehungsmeife einiger
feiner [hönften Dichtungen.
Die Melodie eines fpanifchen Nationalliede® „Viva el Rey Fernando“
hatte ihn fo ergriffen, daß er fie fort und fort fang, bis ganz ungefucht bei
ihm ein englifcher Tert entitand, der ſich der Weife bewundernswerth an-
ſchließt. Das ift fein „Spanish Song“ (Remains p. 37), den Gisbert Frei-
hberrBinde* und 2 ouifev. Ploennies“) ind Deutſche übertragen haben.
Eine andere Melodie, die ihn befonderd ergriff, war die trifche Volks—
weife „Gramachree*“. Er meinte, e8 wären niemald® Worte gefchrieben, die
feiner $dee von dem eigenthümlichen Pathos entfprächen, das die ganze Mufif
durchzöge, allen bisherigen mangele die Individualität de Gefühls. Diefer
von ihm tief empfundene Mangel eines charakteriftifchen Textes ließ ihm feinen
ergreifenden Song: If I had thought thou could’st have died“ (Remains
p. 42) fhreiben, den Karl Elye***) in einem getreuen Abdrude bietet. (Deutſch
a. a. D. bei Binde ©. 267, beit Ploennied ©. 142.) Hier die Ueberſetzung
von Binde:
Ich wein’ um dich, weil ich vergaß,
Der Menſchen Loos fei dein:
Wie dacht’ ich, wenn ich bei dir ſaß,
Du könnteſt fterblich fein!
Mir kam c8 niemals in den Sinn,
Daß einft e8 anders wär’,
Wo du auf immer gingft dahin
Und lächelteſt nicht mehr.
*) In: „Rofe und Diſtel. Poefieen aus England und Schottland, übertragen von
Giebert Freiheren Binde. Zweite vermehrte Auflage. (Weimar 1865)", ©. 265. Dieſes ſchöne
Buch enthält Wolfe's Gedichte faft fammtlich überfegt und zwar meift in wahren Meifterftüden
der deutſchen Ueberſetzerkunſt; nur einige Jugendverſuche find unüberfegt geblieben.
») In: „Engliſche Lyriker des 19. Jahrh., in's Deutfche übertragen von Luiſe von
Ploennied. (München 1863)" ©, 143. Hierin ſechs Gedichte Wolfe's in lesbarer Uebertragung.
») in: „Englifher Liederfhag aus britifhen und amerifanifhen Dichten. Mit
einem biographifchen Berzeichniß der Berfafier von Karl Elze. Yünfte, verbefjerte und ver
mebrte Auflage. (Halle 1859)", p. 314. Hierin vier Gedichte von Wolfe.
Örenzboten IV. 1874, 25
178
Noch blick ich in dies Angeficht ,
Sein Lächeln zu erfpähn,
Noch faß' ich den Gedanken nicht, .
Daß ich es nie fol fehn.
Dem füßen Worte laufch ich lang,
Bergeffen haft du’8 nie: — —
Es ſchweigt dein Mund, num fühl’ ich's bang,
Ja, du bift todt, Marie! —
Und bliebeft du mir alfo doch,
Ganz friedlih und ganz bleich,
Dein ftilles Antlig küßt' ic) noch,
An Lächeln einft fo reich.
Den falten Leib umfaß ich hier,
So jcheinft du mir noch mein — —
Jetzt ſchließt das Grab ſich über dir,
Und jetzt bin ich allein! —
Ich denke nicht, wo du auch ſei'ſt,
Vergeſſen haft du mid);
Ruh findet wohl mein Herz zumeift, —
Gedenkt es auch an did).
Doch dich umfloß ein lichter Schein,
Wie überirdiſch Glück: —
Den konnte dir fein Traum verleihn,
Den bringt fein Traum zurüd,
Die Freunde fragten Wolfe, ob dem Gedichte ein wirkliches Ereigniß zu
Grunde Tiege. Er antwortete, er hätte die Melodie wieder und wieder ge:
fungen, bis er in eine Thränenfluth ausgebrochen fet; in diefer Gemüths—
ſtimmung hätte er das Gedicht gefchaffen.
Nah der unbekannt gebliebenen Melodie einer ihm befannten Dame
dichtete er den (Remains p. 44):
Song.
Go, forget me — why should sorrow
O’er that brow a shadow fling?
Go, forget me — and to-morrow
Brightly smile and sweetly sing.
Smile — though I shall not be near thee;
Sing — though I shall never hear thee.
May thy soul with pleasure shine,
Lasting as the gloom of mine.
Go, forget me, ete.
179
Like the Sun, thy presence glowing,
Clothes the meanest things in light;
And when thou, like him art going,
Loveliest objects fade in night.
All things look’d so bright about thee,
That they nothing seem without thee;
By that pure and lucid mind
Earthly things were too refined.
Like the Sun, etc.
Go, thou vision wildly gleaming,
Sofily on my soul that fell;
Go, for me no longer beaming —
Hope and Beauty! fare ye well!
Go, and all that once delighted
Take, and leave me all benighted,
Glory’s burning-generous swell,
Fancy and the Poet’s shell.
Go, thou vision, etc.
Dieſes tief empfundene melodifche LKied ift von Binde (S. 281) und von
Rouife von Ploennies (S. 147) überſetzt. Vincke's Webertragung iſt ein
fo glänzendes Zeugniß für die Kunſt dieſes Ueberſetzers in der Wiedergabe
von Wort, Sinn, Klang und Färbung des Driginald, daß ich mich nicht
enthalten Eann, diefelbe zur Bergleichung mit dem engliſchen Terte hier einzufügen :
Seh, vergig mich, daß niht Sorgen
Trüben deiner Freude Quell;
Geh, vergiß mich nur, und morgen
Lächle ſüß und finge hell;
Lächle, wenn ich auch nicht da bin,
Singe, wenn ih auch nicht nah bin:
Deine Seele ſtrahl' in Luft —
Dunkel iſt's in meiner Bruſt.
Gleich der Sonn’ erjcheinft du , Kleideft
Alles rings in lichte Pracht;
Und fobald du gleich ihr fcheideft,
Schwindet jeder Glanz in Nacht.
Allen Tiehft du holden Schimmer ,
Der ift mit dir fort auf immer!
Und dein Geiſt, fo rein und Far,
Läuterte was irdiſch war,
Fort, du Zraumbild! Raſch verſinkſt du,
Das ſich ftahl in Seel und Ginn.
Fort! Nicht länger glänzend mintft du: —
Hoffnung, Schönheit, fahret hin!
180
Fort! Und lag mich nahtumfangen,
Nimm, woran mein Herz gehangen :
Soldnen Ruhmes leuchtend Ziel,
Sängerluft und Saitenfpiel!
Mit Recht ftehen die Dichter, die heut zu Tage Terte für vorhandene
oder erft zu componirende Melodien — meiſt im Auftrage der Gomponiften —
Ihreiben, nicht im befonderen Anſehen bei den Kritikern und Literaturfreunden,
denn ihre Producte tragen faft indgefammt den Stempel der Mache, die im
beiten Falle als eine geſchickte zu bezeichnen ift. Aber welch ein Unter.
ſchied zwifchen jenen Fabricaten und diefen drei aus Wolfe's innerftem
Herzensbedürfnig zu vorhandenen Melodien geichaffenen Liedperlen! — Die
Engländer find, wenn wir dad evangelifche Kirchenlied in Deutſchland aus:
nehmen, in diefer Beziehung überhaupt glücklicher geweſen, als mir; id
errinnere nur an Byron's „Hebrew melodies“ und an Thomas Moore'd
„Irish melodies“.
Einen Gegenfaß zu diefen elegiſchen Klängen Wolfe's bildet ein anderes
Lied vol ernfter Männlichkeit, da® er nad der Rückkehr vom Lande in die
Mauern des Collegs zu Dublin dichtete; und mit diefem Liede treten wir
an diejenigen Dichtungen Wolfe's heran, denen ein innere und zugleich
äußered Selbfterlebniß zu Grunde liegt. Dies Lied ift der wohl irrige Meinungen
der Freunde über ihn abwehrende Song: „Oh say not that my heart is cold“.
(Remains p. 99. — Elze p. 215, — ®inde p. 280. — Ploennies p. 140.)
Hier die Ueberſetzung von Binde:
D nennt mein Herz nicht todt und falt,
Das doc fe laut geſchwärmt hat;
Sagt nit, daß Berg und Strom und Wald
Es ſchon nicht mehr erwärmt hat;
Daß mir erlofch im Banne hier
Der tiefften Negung Funken
Für liebe Freunde, die mit mir
Gejauchzt begeiftrungstrunfen !
Sol glänzend Bild hab ich entzüct
Noch oft heraufbeſchworen,
Und derer, die e8 mitbeglüdt,
Gedenk ich traumverloren ;
Die lichte Flur, des Waldes Dom,
Sie möcht ich mwiederfehen,
Vom Bergesrand den blauen Strom —
Und felig jubelnd ftehen.
Mid hält die Feffel ftarrer Pflicht
Im Kerler hier gefangen,
181
Ihr herbverdroßen Angeficht
Beftraft mein heiß Verlangen :
„Was foll dem Sclaven die Natur?
„Sein Fröhnungstagwerk ftört fie:
„Des Berges Luft, die weite Flur —
„Den Freien nur gehört fie!" —
Aus der Zeit feines Aufenthalte® auf dem Lande im Sreife der Familie,
an die ihn zarte Bande feffelten, find und in den „Remains“ nur drei Gedichte
erhalten. Die Strophen „To a Friend“ (Remains p. 113. — Winde p. 282)
find an den Hausherrn gerichtet; fie enthalten folgende Schilderung der
Familienglieder (deutfch von Binde):
D habt ihr denn feinen Heerd geſchaut,
Und die er vereint zur Stunde fo traut,
Dann hat eudy entzüdt
Der heitere Sinn, der den Heerd ihm ſchmückt.
Die Laune der leichten medenden Yuft
Vom Herzen kommt fie hier unbewußt,
Und fie gilt traum mehr,
Als das Narrengefeufz*) in der Welt umber.
Und wie dort alle fo munter find,
ft jedes doch Erin's echtes Kind,
Eine Geisblattranf'
An Erin’s Laube, wild und fchlant.
Die Wolle, wenn fie fi finfter ball,
Die bringt nicht Troſt für der Stürme Gewalt:
Mit dem Regenbogen
Kommt milder Frieden ins Herz gezogen.
— — — — — —
Diefe ſechszehn Strophen „To a Friend“, aus denen die mitgetheilten vier
ein biographifches Intereſſe bieten, enthalten fchöne Stellen; betrachtet man
fie aber ald Ganzes, fo muß man fich geftehen, daß der Dichter hier nicht jene
durchfichtige Klarheit des Ausdrucks und die geiftreiche Berfnüpfung der Ueber
gänge erreiht hat, die in Verbindung mit poetifhem Gehalt foldhen Ge-
legenheitögedichten den Stempel des Genius aufdrüden. Daöfelbe gilt von
dem phantaftifchen „A Birth-day Poem* (Remains p. 108. — Binde ©. 284.)
für die no im Stillen Geliebte, während der „Song“ (Remains p. I11. —
*) Wohl eine Anfpielung auf den damals graffirenden Weltfchmerz, in den Wolfe und fein
ländlicher Freundeskreis nicht verfallen war.
182
Binde S. 288), der wegen der Charakteriftif der Geliebten auch biographiſch
intereffant ift, den ſchönſten Xiebesgedichten voll von energiſchem Ausdrude des
Gefühls beizugefellen ift, welche die englifche Lyrik aufzumeifen hat. Binde
bat ihn trefflich überſetzt:
D mein Lieb hat ein Auge vom fanfteften Blau,
Doch das war es nicht, was mich entzüdt hat:
Ein glänzendes Tröpflein der Seele darin,
Das iſt's, was den Sinn mir berüdt hat.
Wohl mocht ich die Wange, die lieblihe, ſchaun,
Und vielleicht noch die Flamme beſchwor ich;
Dod ein fhüchternes Roth trat zitternd hervor —
Und mein Herz für immer verlor ich.
Wohl mocht ich vergeffen die Yippe fo roth —
Doch wie dem Gedanken entrinnen ?
Und ein fonniges Yächeln verklärte den Mund:
Das bleibt mir im Herzen tiefinnen! —
Denk nicht, daß die irdifche jchlanfe Geftalt
Mich verfolgt und mir überall Stand hält;
's ift der duftige Geift, der fie ftrahlend belebt,
Und die Anmuth, was mic, gebannt hält.
Ich mag nicht hören der Nachtigall Sang,
Ob auch einft mich befeligt ihr Singen:
D die Seel’ und der Sinn in dem flüfternden Wort
Läßt jede Muſik mir verflingen.
Und Tiebt ich dies Antlig im erjten Moment,
Wer tadelte wohl mein Belenntnif ?
Doch bet ich fie an um ihr warm, warn Herz,
Um des Herzens bezaubernd Berftändniß.
Außer den befprochenen Gedichten und einigen in einem „Appendix*
(p. 449—473) gebotenen Aphorismen nebſt englifchen und lateinifhen Werfen
der Schulzeit enthalten aus der poetiſchen Hinterlaffenfhaft Wolfe's die
„Remains*“ noch von Binde trefflich überfeste fünf Gedichte und zwei kleine
poetifchprofaifhe Stüde. Es find das eben Schöpfungen von mittlerem
Merthe, und e8 genügt, hier zur VBervollitändigung der Charakteriftit Wolfe's
ald Poet nur hervorzuheben, daß ſich unter den Gedichten noch zwei befinden,
die Hiftorifche Stoffe mit jugendlihem Pathos behandeln und nicht ohne
einzelne großartige Züge find, es ift das ein gefrönted Preisgedicht aus der
Univerfitätszeit (1809) über das gegebene Thema: „Jugurtha incarceratus
u. —
—8
*
*
PN
yitam ingemit relictam* und ein erjter Entwurf eine® größeren Gedicht:
„Battle of Busaco; Deliverance of Portugal“.
Und fo wäre ih denn am Beſchluß diefer fkizzenhaften Abhandlung über
dad Reben und Dichten von Charled Wolfe! Gin einfaches, engbegrenzted
Erdendafein, einmal dur&blist vom Hoffnungäftrahle der Xiebe und dann —
dad flarre Machtgebot der Pflicht, die Feſſel des wehmüthigſten Siechthums
und ein früher Tod! — Und innerhalb diefed Rahmens das Bild eines reich-
begabten Poeten, der in einer kurzen Spanne Zeit in der pathetifchen Rhap—
jodie und im elegifchen Tone des Liedes Bedeutendes leiftete und ungefuchte
Unfterblichfeit erlangte dur) ein Gedicht: „The Burial of Sir John Moore“!
183
Denjukows Werk über Innerafien.*)
Intereſſen. der mannigfaltigften Art haften an den meiten, noch wenig
befannten Gebietäftredten, welche man unter der Benennung „Gentralafien “
zufammenfaßt. Der Hiftorifer meiß, daß hier meift der Tummelplatz zahl-
teicher mächtiger Völferhorden geweſen, die verderbenbringend dad Herz Europas
überflutheten; der Geograph kennt diefe Region als eine derjenigen, welche
noh am mangelhafteſten dargeftellt ift, wo Flüffe, Gebirge und Städte nur
in unficheren Umrifjen verzeichnet werden können; der Ethnolog erinnert ſich
der turantfchen Völfergruppe und der damit verfnüpften ſchwankenden Begriffe,
und der Politiker endlich erwartet hier vielleicht den Zufammenftoß zwiſchen
der größten See- und der größten Landmacht der Erde. Uber dies ift es
niht allein, was unmillfürlih unfere Blicke auf Gentralaften lenkt. In
einem Zeitalter, wo Meer und Land vom Dampfe durhpflügt werden, ver-
Ihwinden die Entfernungen, und nahe gerückt foheint, was einſtens unerreichbar
weit war. Schon hat die Eröffnung ded Suez-Canals die Handeldmege nach
Oſtafien gekürzt, früher oder fpäter wird die Euphratbahn eine Wirklichkeit
geworden und Indien mit der europätfchen Eulturwelt durch Schtenenftränge
verbunden fein. Bon Jahr zu Jahr fchreitet der Ausbau des gemaltigen
ruffifhen Eiſenbahnnetzes vor, und ift einmal die in Angriff genommene
inte von Sfarama nad) Drenburg vollendet, fo ftehen wir au ſchon am
Beginne der Eirghififhen Steppe, durch welche in raſcher Frift ruffifche Heer-
*) Oberſt Wenjulow: Die ruffifch »afiatifchen Grenzlande. Aus dem Ruffifchen übertragen
von Krahmer, Hauptmann im fönigl. preuß. Großen Generalftabe. Mit zwei Karten. Leipzig,
Berlag von Fr. Wilb. Grunom. 1874.
er i
184 *
ſtraßen und nad) den islamitiſchen Wunderſtädten Bohära und Samarkand
führen werden. Dies ift in feiner Weiſe etwa da® Bild einer aufgeregten
Phantafie, vielmehr geht diefe Heranziehung des entfernten Oſtens ſchon theil-
weife unter unferen Augen vor ſich, und mad wir foeben angedeutet, wird
vielleicht in zmei Decennien buchftäblih in Grfüllung gegangen fein. Es be
greift fi daher, daß die MWiffenfchaft in den legten Jahren auf jene noch fo
wenig durchforſchten Gebiete ihre Aufmerkſamkeit concentrirt hat, und fi
bemüht, den Schleier zu lüften, der feit Marco Polo's Zeiten auf den-
felben ruht.
Die Erforfhungen in Gentralafien gehen von den Ruſſen und den Eng-
(ändern, den beiden Rivalen der aftatifchen Welt, gleichzeitig aus. Erftere
drängen unabläffig und feit langen Jahren nad Süden und Often, und
haben in der That in der jüngften Vergangenheit ihre Herrfchaft über jene
Gegenden bedeutend ermeitert; die wiſſenſchaftliche Forſchung folgt dort, fo
zu fagen, der militäriſchen Action auf dem Fuße, und der Geograph kann
daher nicht umhin den Gang der Ereigniſſe felbft mit in Betracht zu ziehen.
Gleichwie aber an die ruffiihen Fahnen die Wiflenfchaft ſich Heftet, und wir
heute die eroberten Landſchaften im centralen Afien — biöher von der Nacht
der Jahrhunderte bedeckt — genauer kennen als manche Theile der europäifchen
Türkei, fo folgt auch unausmeihlic die Cultur dem Giegedzug des ſchwarzen
Doppelaard. Rußland erfüllt, daran fann der Ethnograph nicht zweifeln,
eine wahre Gulturmiffion, indem ed auf feine Weife den orientalifchen
Völkern den europäifchen Ideenkreis vermittelt; mit einem Worte: für Afien
ift Rußland die Cultur, die Civilifatton. Der unbetheiligte aber muß erfen-
nen, daß die Ermeiterung der menfhlichen Kenntniffe, dieſes Aufſchließen
neuer Kreife für das Eulturleben der civilifirten Bölkerfamtilien der befte
Gewinn fei, den die Menfchheit feit den Zügen des Seſoſtris und ded mafe-
donifhen Aleranderd aus derartigen Kriegdunternehmungen gezogen hat.
Wenn ein englifher Staatömann nicht mit Unrecht behauptete, Britan-
nien fei weit mehr eine aftatifche, denn eine europäiſche Großmacht, fo kann
man dadfelbe mit Fug und Recht von Rußland fagen, den Staatencolof
den man den nordifchen zu nennen pflegt, deſſen Gebiet fi) aber bald nahezu
über alle Zonen der Erde erftredt und an Ausdehnung der halben Mond-
oberfläche gleihfommt. Seit wenigen Jahrhunderten hat ſich das ungeheuere
Reich aufgebaut, und feitdem ift Fein Decennium verftrihen, in welchem es
nicht unaufhaltfam, wenn oft auch unbeadhtet, an feiner Erweiterung mit Er—
folg gearbeitet hätte. Unter Iwan IV., der von 1533—1584, alfo länger denn
ein halbes Jahrhundert herrfchte, unterwarf es fich die tatarifchen Chanade
de8 Südens, mit Ausnahme der Krimm; Kafan, das fchon früher (1487) den
Czaren zeitweife unterthan ward, erobert ed 1552 nad) langem blutigem
185
Kampfe, Aſtrachan im Norden fällt 1554, und 1556 werden die Bafchkiren
unterworfen, gleichzeitig aber feter Fuß in der Kabarda am Kuban gefaßt.
Die Kofaken Yermak und Timofejew endlich erfchliegen durch die Entdeckung
Sibiriend in Iwan's letzten Regierungsjahren ihrem Vaterlande einen neuen
Gontinent und legen den Grund zu Rußlands afiatifcher Macht; 1587 wird
Tobolsk gegründet. Im achtzehnten Jahrhundert, 1727, gewinnt Rußland
durh einen Vertrag mit Perfien die ſchon vier Jahre früher unter Peter dem
Großen eroberten Provinzen Dagheftän, Schirwän, Ghilän und Mazenderän,
das heißt die ganze Weſtküſte der Haspi- See, muß fie aber 1734 wieder
zutückgeben; es find die beiden legteren die einzigen Landſchaften, welche dieſes
Reih einmal bejefien, verloren und nicht wieder gewonnen; 1813 mußten die
Perſer Dageftän und Schirmän wieder herausgeben, nachdem bereit® feit 1806
das wichtige Derbend in den Händen der Rufen war. Gin erneuerter Krieg
mit Merfien endlich dehnte dad Gebiet des Wiefenftaates über den Araxes
und bi8 an den Ararat aus und erwarb ihm im Frieden von Turfmantfchay
1828 die Provinz Arran. Und auch Heute noch hat Rußland fein Streben
niht aufgegeben, und jeder Tag fieht es fortjchreiten mit Rieſenſchritten im
Herzen der alten Welt. Rußland fteht nunmehr in Gentralafien.
Denkende Politiker können, feitdem der Weltverfehr nie geahnte Pro-
portionen angenommen, feitdem der Dampf die gefalzene See durchpflügt,
jeitdem Schienenftränge die Ferne nahegerükt, und die Diftanzen zufehend
verſchwinden, nicht mehr überfehen, von welch unberechenbarer Tragweite die
Machtentwickelung eined Staates fein muß, der nunmehr der uralten, nad
Jahrtaufenden zählenden Eultur Chinas ebenfowohl die Hand reicht, wie des
abendländifchen Europas moderner Givilifation. Wer die dem Wenjukow'ſchen
Werke beigegebene „Karte der Reichsgrenze zwiſchen Rußland und China“
im Maßſtabe von 1:8,500,000 überſchaut, erfennt fofort den meiten Raum,
auf dem das größte europälfche und größte aftatifche Reich fich berühren. Es
richt über etwa 60 Grade oder den jechiten Theil des Umfangs unferer Erde!
Mie Rußland feit den Tagen des Koſaken Jermak, dieſes fibirijchen
Gortey, allmählich zu feinem ungeheuren Befige gelangte, ſchildert Wenjukow
in feinem einleitenden Kapitel, wo die allmählichen Grenzerweiterungen ver-
folgt werden bis auf unfere Tage. Der berühmte ruffifhe Neifende und
geographifch - militärifche Schriftfteller fchrieb aber gerade als die große Gr-
pedition gegen Chiwa, das lebte der mwiderfpenftigen Chanate, im Gange war,
und fo konnte auch die letzte Gebietdermeiterung Rußlands, das Vorſchieben
feiner Grenzen bis an den Amu, nicht mehr berüdfichtigt werden. Sonft
aber Liegt in dem Wenjufom’fhen Werke die vollftändigfte
und zuverläffigfte Arbeit vor, die wir über Gentralafien
überhaupt befiten, fofern es fih um ein allgemein zufammenfaljendes
Grenzboten IV, 1874. 24
186
Werk handelt. Kein Staatsmann, der in der großen Politik fich bewegt,
fein Militär, dem die wichtigen Verhältniffe Inneraſiens nahe gehen, Fein
Geograph und Ethnograph, der das mühevolle Nachſuchen in hunderten von
Spezialarbeiten (meiften® in ruffifcher Sprache erſchienen) ſich erfparen will,
fann heute dad Wenjukow'ſche Buch entbehren. Es ift ein Eolofjaler Schat
darin aufgefpeichert und der Verlagshandlung wie dem Weberfeger, Haupt:
mann Krahmer, gebürt aufrichtiger Dank, dag fie dasſelbe in deutfcher
Sprache einem großen Publikum zugängig gemacht haben. Mit diefem Ur-
theile dürfte jeder Sachkenner übereinjtimmen, zumal die Ueberſetzung den
Eindrud einer höchſt gewifjenhaften Arbeit macht. Weberfchaut man in den
Riteraturnachmweijen, die jedem Kapitel angehängt find, die zahlreichen ruſſiſchen
Schriften, die über Central und Nordaften erſchienen und die einen koloſſalen
Schatz aufgeipeichert enthalten, dann überfommt und bei unferer Unkenntniß
der ruffiichen Sprache ein gewiſſes Gefühl der Befhämung Wir fehen den
Zeitraum immer näher beranrüden, in dem von und verlangt wird, daß mir
das Ruſſiſche jo gut wie das Englifhe und Franzöſiſche verftehen müffen, die
Sprache eined Volkes, das 80 Millionen Seelen zählt, eine Sprache, die von
der Oſtgrenze unfered Reiches bis mieder zu jener der Vereinigten Staaten
an der Beringsftraße herrſcht.
Mir geben, nahdem wir auf den allgemeinen Inhalt dieſes unentbehr-
lichen Nachſchlagewerks hingewieſen, einen Weberblic feines Inhalte. Wenjukow
geht von Dften nad) Welten an der 10,000 Werſt langen Grenze entlang
und beginnt mit der Inſel Sfahalin im nördlichen Stillen Ozean, die erft
neuerdings ganz in ruffifchen Befig übergegangen ift und durch ihren Kohlen:
reihthum ſich außzeichnet. Wie bei jedem folgenden Kapitel erhalten mir
eine hiſtoriſche Einleitung, es folgt die mathematifche Geographie und
Hydrographie, die Topographie, eine Schilderung der Naturprodukte, die
Ethnographie. Hierbei fei erwähnt, daß eine fehr große ethnographifche
Karte ald eine befondere Bereicherung dem Werfe beigegeben ift, auf der die
zahlreichen Völkerſchaften des afiatifchen Rußlands — die Karte führt 21
Unterfheidungen auf — verzeichnet find. Das 1871 von den Ruſſen er
worbene Gebiet von Kuldja ift jedoch hierbei noch unberüdfichtigt geblieben.
Ein militärifcher Ueberblick ſchließt das Kapitel ab.
Die folgenden Abjchnitte behandeln: die Küftenprovinz der Mandſchurei
(da8 ſog. Primorskiſche Gebiet); das wichtige Amurland mit feinem Riefen-
ftrom; die Mandſchurei; Transbaikalien; das Grenzgebiet ded Sfajan- und
Altaigebirges ; der Dſungariſche (Tſchjungariſche) Abſchnitt, die geographiſch
am ungenügendften bekannte Gegend; der Tianſchan oder das Himmeld-
gebirge, welcher das ruffifche Reich von dem neuen Reiche des unternehmenden
Emir von Kaſchgar trennt; das Grenzgebiet an den drei Chanaten Kofan,
187
Bohara und Chima bis zum Wralfee; endlich das Turkmenengebiet in den
Steppen am Oſtgeſtade des Fafpifchen Meeres.
MWenn wir hinzufügen, daß zahlreiche aſtronomiſche Ortäbeftimmungen in
dem Werke mitgetheilt find, daß, fomohl vom militärifchen wie kaufmänniſchen
Standpunkte aus die Verkehrsmittel und die Straßen beſonders berüdfichtigt
wurden, daß die Naturprodukte in jedem einzelnen Abſchnitte eingehend er-
örtert find, jo haben wir wohl genug gefagt, um dies unentbehrliche Werk
dem Soldaten, Bolitifer und Geographen zu empfehlen. Doppelt willtommen
und weit brauchbarer wäre e8 aber geworden, wenn demfelben — da ed doch
meientlich zum Nachſchlagen dient — ein Regifter beigegeben geweſen märe.
Wir vermiffen dasfelbe ſchmerzlich, umfomehr, da nicht einmal ein Inhalts—
verzeichni vorhanden ift.
Herbſttage in Schwaben.
1.
Bon Friedrih Kampert.
Flüchtige Skizzen flüchtiger Wandertag! Man mandert fo fchnell in
unferer Zeit, felbft wenn dad AZufußgehen der Eifenbabnfahrt fi gefellt.
Und zu Fuß muß man wandern im Schwabenland, wenn man wahren Ge-
nuß von feiner einfachen, aber fo überaus lieblichen Schönheit haben will,
und geht man dann ab und zu, wo's gerade nöthig Ift, zur Eifenbahn zurüd,
jo kann man in Tagen, wie ich's dem freundlichen Leſer zeigen mill, viel,
die ganze würtemberger Geographie fat, durchmachen.
63 war im September, in jenem Monat, wo zwar der Tag Fürzer,
aber die Quft reiner und der Himmel blauer, ala im ſchwülen, ermattenden
Hochſommer ift, wo es fih darum allenthalben am gefichertiten gegen
Wetterftörungen und namentlich mit der meiften Garantie für unverfümmerte
Bergauäfichten reifen läßt. — Die ſchon dem Untergang fich zuneigende Sonne
glänzte in den Fenftern des großen Jagdſaales des Weikersheimer Schloſſes.
68 ift dies Schloß ein Prachtſtück der Renaiffance,; der Epheu fchlingt fich
am Portal Hinauf, draußen im Garten aber ftehen Heden und Bäume ä la
Louis XIV. gefchnitten. Unweit des fürftlichden Parkes liegt der Bahnhof.
Bon Mergentheim Her, der alten Deutfchordensftadt, aus dem Tauberthal
herauf, fam der Zug. Er trat in ein Eleinered, von hohen Steilrändern um-
faßtes, das Vorbachthal, ein. Es ging aufwärts. Die Locomotive mühte
fih ab, Die Dunkelheit eines langen Tunnels bereitete auf die der einbrechen-
188
den Nacht vor. Auf dem Bahnhof von Grailsheim brannten jhon die Lich
ter. Die alterthümlih in die nächtlihen Schatten hineinragende Oberamte:
ftadt mit ihren Thürmen und ihrer ſteilgedachten Johanniskirche ift eine
pittoreöfe Bahnitaffage, aber für und diedmal nicht mehr ald das, wenn
einmal die nun bald vollendete Nürnberger Bahn hier mündet, wird man
ihr mehr gerecht werden.
Crailsheim ift Knotenpunkt; man muß Acht gaben, den rechten Zug
zu finden. Wir waren in dem richtigen, auf der „obern Jartbahn“, alfo
Ihon aus dem würtembergifchen Yranfen heraus, in dad mir, aus dem
bayrifhen fommend, bei Weikersheim eingetreten waren. Es ift der Beobach—
tung werth, wie viel Verfchiedenheit in Rand und Leuten, Sitte und Sprache,
felbft der äußern Erſcheinung des Bodens, auf einem verhältnigmäßig fo
kleinen Stüd Erde, wie dad von den ſchwarz-rothen Grenzpfählen umzäunte
ift, fich offenbart. Ich brauchte nur etwas im Waggon mid umzufchauen
und umher zu horchen: gleich der Dialekt fondert den würtemberger Franken
vom Schwaben ab; die Rede des erfteren hört fich meicher, fließender, gegen
die fchwerfällige, dem Sprecher nody dazu faft mühjelig zu entlodende des
Schwaben. Auch feine gemwandteren, gefälligeren Umgangsformen machen fi
jo gut kennbar, wie der Unterfchied der Kleidung. Der niedere breitfrämpige
Hut, der ſchwarzgraue lange Tuchrock mit der dunklen Manchefterwefte und
den langen Beinkleidern der Männer, wie die bufhärmligen Spenfer und
Reif- und Bandhauben der Frauen find ganz andere Erfcheinungen, als wir
fie bald da fehen werden, wo das deutjche Häubchen auf dem Haupte der
Yrauen, die Pelzmütze auf dem der Männer fist.
Ueber den Wiefen und grünen Büfchen des Jartthaled wallten Nebel auf,
aber Erlkönigs Töchter jpielen nicht an den profaifchen Eifenbahnen. Ellwangen,
die Hauptftadt ded alten Viengrundes, Station Goldshöfe, wo die Rems—
thalbahn mich aufnahm, „Aale“, wie jeder halbweg geſchulte Schaffner beim
ſchwäbiſchen Schilda anftatt des fohriftgemäßen „Aalen“ ruft, — all das
war endlich vorüber: in Gmünd erreichten wir des erften Neifetages Ziel. Im
Gafthof zum Rad „ſchwäbelte“ es ſchon ganz ordentlich an der Abendtafel
um und her. Offiziere, die zu den Herbſtmanövern da waren, rubten fi
bei der Flafhe aus. Guter rother „Heilbronner” funfelte in dieſer. Man
fol in Gmünd beffer noch ald anderäwo im Schwabenland das Zehen und
Subilieren verftehen. Gaudium mundi hat ed drum ehedem geheißen. Zuftinianus
Kerner hat davon gejungen:
„Und wenn bald ringsum verhallen
Bedherklingen, Tanz und Gang,
Wird zu Gmünd noch immer jchallen
Selbft aus Trümmern luft'ger Klang. —“
189
Uber noch hat’ mit den Trümmern gute Weile. Denn die gute Stadt
fieht trog ihres alterthümlichen Weſens noch recht folid und Fräftig aus.
Nur eine ihrer ſchönen alten Kirchen, die Johanniskirche, war etwas hinfällig
geworden. Man reftaurirte daran. Nicht immer bringen Reftaurationen
etwas Gejcheidted zu Wege. Man mengt zu gern dad Moderne in den alten
Stil. Aber hier ſoll's beffer werden. Man hofft den, namentlih in der
üppig reihen Ornamentik der Außenfeite merkwürdigen romanifhen Bau in
möglichiter Unverfehrtheit zu reproduziren. Gmünd hat gewiſſermaßen ein
Privilegium zu Kirchenbauten. War doch Heinrich Arler, der Schöpfer des
Mailänder Domes, ein Gmündner Kind. Ob ihn wohl manchmal, wenn er
vom marmornen Dad ſeines MWundermerked hinüber zu den fernen Alpen
idaute, ein Heimweh faßte nach dem ſchönen ftillen Thal, in dem jeine
Baterftadt fo fanft gebettet ruht? Hieß fie vielleiht audy) gaudium mundi,
weil ihre Lage fo gar herzergögend ift? Sie gehört fhon dem Kernland
Schwabens an, dem ſchwäbiſchen Hügelland mit feinen weichen und fanften
GConturen, den üppigen Frucht-, Obſt- und Rebenpflanzungen an Berg und
Thal. Diefem Boden entwuchfen, wie die alten Herzoge von Schwaben, die
Staufen, fo au die gegenwärtigen Fürften von Würtemberg. Hier ift aber
au die Wiege Keppler’d und Schiller's, hier dad Land, da auf mechfelvoller
Oberfläche jede Individualität fi ausprägt, fei ed die deö Weines, des
Dbited, der Rinder oder der Menfchen. — Es war claffifche Erde, über der
die Septemberfonne aufgegangen war. Der Schnellzug hielt in Lorch. Hart
an der Eifenbahn zieht fi der Weg einen nicht Hohen Berg hinan. Die
noh immer anfehnlihen Bauten eines alten Kloſters ftehen auf ihm: des
Denediktinerflofter8 Lorch, — der Hohenftaufengruft.
Ein Maufoleum des großen deutſchen Kaifergefchlechtes, wie es die
Habsburger bei den Kapuzinern in Wien, die Oranier in Delft, die Könige
Franfreih in Saint- Denis, die Hohenzollern im Münfter von Heildbronn
haben, ift ed nicht. Keiner von den Hohenftaufen,, die die Kaiferkrone ge-
tragen haben, fchläft in ihm. Wie fie ruhelod dur die Welt gezogen find,
fie fi dienftbar zu. machen, und dann da und dort das müde Haupt nieder:
gelegt haben, fo find fie au im Tode verftreut. Einfam, wie da® ganze
hohe Geſchlecht dafteht, wie heute noch der Berg, der feine Stammburg trug,
[odgetrennt von den übrigen Bergen der ſchwäbiſchen Alb, daliegt, find fie
auh begraben. Nur Einer, Philipp, ruht bei den Genoffen gleichen Ranges
im Katferdom zu Speier. Aber tft auch Feiner der alten bekannten großen
Hohenftaufennamen auf den Gräbern in Lorch zu lefen, fo verdient doch die
Heine Kirche den Namen, den wir ihr gegeben. Die Stifter des Klofters,
Friedrich von Schwaben und feine Gemahlin Agnes waren die Erften, denen
dad Trauergeleite vom nahen Hohenftaufen herüber hierher gegeben ward
190
Und fiebzehnmal bat dann noch das Todtenglödlein des Lorcher Kloſters
den Edlen ihres Haufes geläutet. Konrad’s I. Gattin und Söhne, Barbaroffa’s
Mutter und Kinder, Beatrix, Otto's IV. Gemahlin, auf deren Sarg die In—
ſchrift ſtand: „filia formosa, jam cinis, ante rosa“, find hier gebettet. Aber
unter all den Namen, die da der Hüter der Todtengruft nennt, Elingt Einer
am poetifchften aus der alten Zeit herüber:
„Nascituram Orientis,
laurus quondam atque palmac
cum cypressis salutarunt::
morituram occidentis
ilices et quercus almae
- commoerentes adumbrarunt.
nobilis Grajorum nata
eu, quo dura trahunt fata
sepulturae requiem!
nec solamine carebis,
jam cum angelis videbis
quem planxisti, conjugem ‚*
hat Victor Scheffel Irenen von Byzanz zur Grabfchrift gefchrieben. Als fie
von der Reiche ded ermordeten Gatten weg, von Bamberg nad dem Hohen-
ftaufen geflohen, fand fie bier bet den Todten auch da® Ende ihres Liebes:
wehs und Herzeleids. Beim Umgraben des Kloftergartend ſtieß man vor
Jahren auf den goldnen Ring. den fie einft Philipp am Traualtar gegeben.
Auf einen der alten romanifhen, das Kirchlein ftügenden Pfeiler fieht man
Beider Bild. Der Roſenſtrauch, der neben Irenen blüht, deutet auf Walter's
von der Vogelmeide Gruß an fie: „Ros’ äne dorn, ein tube Sunder gallen.“
Ahr Grab iſt nicht bezeichnet. Keins ift dad. in forglicher oder beffer für-
wisiger Abt hat einmal alle Gräber öffnen laſſen und aller Afche in Einen
großen Sarkophag, der mitten in der Kirche fteht, gefammelt. Da hat fih
au der Staub der fchönen griechiſchen Katfertochter dem der deutfchen
Fürften und WFürftenfinder gemiſcht. Aber alt, unverändert, wie ed vordem
war, ift Alles: der Boden des Kirchleins, die Wölbung des Dachs, die Mfeller
und die Bilder an ihnen. Durd die Yenfterbogen ſchlingt ſich alter Epheu;
die hereindringenden Sonnenftrahlen fielen gerade auf Sjrenend Bild. Draußen
aber vor dem Klofter fteht die alte Rinde, in deren Schatten ſchon alle die
lebend gewandelt, die da drinnen ſchlafen. Bor Jahren, ala ich einmal vom
Hohenrechberg hinüber nah Lorch Fam, war noch an dem alten mädhtigen
Baum Fein Aeſtchen geknickt. Diesmal fand ich ihm gebrochen. Zu derſelben
Zeit, als der Birnbaum auf dem MWalferfeld zu Grunde ging, fplitterte auch
von der Hohenftaufenlinde ein Sturm ein beträchtlich Stück ab. Auch die
Bäume der alten Kaiferzeit mahnten, daß die Zeit erfüllt, daß die Thatkraft
191
eined neuen Reichs an die Stelle der Trauer um das alte getreten mar.
Die Geifter Lorchs zeigten mir die Richtung meined Weiterwegs: vom Grab
zur Wiege der Hohenftaufen, nad Wäfchenbeuren. Gerade in der Mitte
zwiſchen Lorch und dem Hohenftaufen Tiegt das Dörfchen. Noch ftehen bie
Grundmauern ded alten Wäfchenfhlößchene.. Bon ihm flieg ein Friedrich
von Büren zur Höhe und baute fi auf dem Stwipfen, dem „Stufenberge*,
in hohes Haus. Kein Stein fteht mehr von ihm. Schon der Bauernfrieg
ihleuderte die Brandfadel in die Kaiſerburg. Martin Erufius fah 63 Jahre
ipäter ihre Trümmer, die von ihrer Größe zeugten, und ftimmte die Klage
an: „lieber Gott, fol eine fo große Herrlichkeit der mächtigften Fürften zu
emem fo fcheuglichen Anblick gediehen fein? Alles ift verſchwunden, wie ein
Rauch, Alles Hinmeggeflogen mie ein Vogel. Ein Bauernfhultheiß hat jetzt
die Schlüffel zu dem Thor, er mäht dad Grad im Schloßhofe, der Hollunder-
baum wächft da und dort in den Winkeln. In allen Theilen des Schlofjes
ift fein Bildniß, feine Infchrift, Fein Wappen, feine Farbe mehr. Alles ift
duch Feuer, Regen oder böfe Zeiten ausgetilgt. Was ein ſchöner Körper
war, ift jest nur ein Beingerippe.“ Jetzt ift auch das Gerippe verſchwunden.
Der Bauernſchultheiß hat fein Thor mehr zu verwahren, felbft fein Hollunder-
baum wächft mehr im Schloßhofe. Denn Thor und Schloßhof felbit find
nicht mehr vorhanden. So kahl und verlaffen Itegt Fein Berg im deutfchen
Reh. Der Emporblid an feinem Gipfel Hat im Anfang etwas Finfteres
und Wildes; der Anfteig ift fteil und mühfam, namentlich von der Seite auß,
auf der ih Fam, und dazu in der heißen Mittagsftunde. Auch die ift eine
Geifterftunde, fo gut wie die Mitternacht. Und ein Geifterreigen feltener
Art ſchwebt um die einfame Höhe her; ein unfagbar großes Stück deutfcher
Gefhichte baut fich der Erinnerung auf ihr auf. Weit reicht der äußere,
noch weiter der innere Blick: weit über den blauen Bergrand der Alb, weit
über das Iachende, blühende, bier zu Füßen gebreitete ſchwäbiſche Hügelland
geht diefer Hinaus; bis zu den Yluthen des Saleph, die über einem greifen
Kaijerhaupt zufammenfchlagen, bis zur Wltenburg, wo ein andere dem
Mörderdolch verfällt, nach Palermod glänzendem Hof, auf Neapeld Markt
und dad Blutgerüft, von dem des Testen Hohenftaufen blondes Haupt in
den Sand rollt.
Machte es gerade die Mittagsftunde oder war die Reifezeit wirklich ſchon
jo weit vorgefehritten, daß der Wanderer weniger waren: ich war allein auf
dem einfamen Berg. Die Gegend Tag nit im vollen Sonnenſchein; die
jerneren Berge, die Ted, der Hohenneuffen, die Ahalm und was man fonft
von der Alb Hier fieht, erjchienen nicht Far und deutlich, mie man's fonft
gewohnt, das Stück des alten hereyniſchen Waldes, da® man nordwärts
gewahrt, ſchaute fogar ganz düfler herüber, aber das alles dünkte mir faft
192
natürlich für die ernfte Hoheit, für die Melandholte de verlaffenen Kater:
bergs. Ich ſchritt abwärts; auf demfelben Pfad vielleiht, den der Rothbart
ging, wenn er von der Burg zum Dorfkirchlein niederftieg. Das ift das ein-
zige noch übrige gleichzeitige Zeugniß der großen Vergangenheit. Cine Thür
tft zugemauert. Es ift diefelbe, durch welche der alte Kaifer aus und einging.
„Hie transibat Caesar“ lautet die Infchrift über ihm. Sonft iſt das Kirch—
fein jeden Schmudes baar; allein jene Eine Inſchrift genügt; fie macht uns
die alte Zeit faft greifbar Iebendig, die Zeit, deren Größe auch durch die der
Gegenwart nicht gemindert oder getilgt werden Fann.
Bom Hohenftaufen geht man am beiten nad) Göppingen zur Eifenbabn.
In des feligen Philipp Schartenmeyer vortrefflihem Heldengediht vom gro
Ben Kriege gegen Frankreich ift das ſchwarz auf weiß ald wohlgemeinte An-
merfung zu feinem Chrengedähtnig für den Vorgänger des neuen Kaifers,
ven alten Rothbart, zu leſen. Aber der anerfennendwerthe Yingerzeig des
wadern „Präceptors“ war damald noch nicht gedrudt, ich hatte es mir felber
zu verdanfen, daß ich den rechten Weg nad Göppingen und Plochingen und
endlich bi8 Abende nah Kirchheim fand. Näher ald vom Hohenftaufen und
darum überfichtliher lag die Alb vor mir, eine lange gerade, nur von
wenigen, faum über die Bergfläche fi) emporhebenden Gipfeln unterbrodhne
Linie. Das erfcheint einförmig, ermüdend. Aber dem vermweilenden Auge
theilt fich bald jene Linie in eine Menge aneinander gereihter fargförmiger
Berge, mit welchen bie und da eine Kegelform, felten eine Halbkugel med:
felt. Auch das dünkt und noch feine befondere Schönheit. Aber da wirft
die fi neigende Sonne einen Strahl auf die Ferne und auf einmal erhei-
tert und belebt fi) dad ganze Bild. Die dunkle Farbe des Gebirged wird
durchſichtiger, der Sonnenfchein gießt eine leichte Röthe darüber, und in ihr
tritt bißher ungeahnter Wechfel der Form hervor. Reiche, die Höhen meit
hinauf befleidvende Buchenwälder ſchimmern entgegen, Vertiefungen mannig-
faltiger Thäler eröffnen fich zmwifchen den mehr und mehr von dem ganzen
Bergzug abgelöften Maſſen; mie funfelnde Punkte erfcheinen, wo die Vor
hügel einen Blick durdlaffen, Dörfer und Städte, am Fuße der Berge hin
und in fie hinein ziehen fih üppige Obftwälder ; die Höhen find mit weißen
Kalkfeljen, die vom Grün der Wälder fich jetzt deutlich abheben, überfät, und
auf den vereinzelnten Gipfeln zeigt das ſcheidende Tagesgeftirn vorher unbe-
merkte Schlöffer und Ruinen.
Die Alb hat ihre Charakteriftif fo gut und fo prägnant, wie irgend ein
Gebirgszug im deutjchen Land.
Sn früher Morgenftunde ftanden wir auf der Ted. Der Weg zu ihr
hinauf war nicht leicht zu finden. Mähder fohnitten das thaufrifche Grad an
den Berghalden, aber fie waren fchlechte Wegweiſer. Dazu täufcht der aus
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dem Walde vorftoßende, majjiv zufammengeballte Fels, den man leicht für die
Grundmauer der Burgruinen hält. Aber an ihn Hinaufzuflimmen würde
Rebendgefahr bringen. Nur ein enger Waldpfad führt auf die rechte Steige.
Wir fanden ihn glüdlih. Der Eintritt in den alten Burgraum ift über-
raſchend, denn es ift ein weiter, geräumiger Plab, den die verfallenen Mau—
ern umftehen. Die diefe einft erbauten und bewohnten, die Herzoge von
Tet, hatten vom 12. bis zum 14. Jahrhundert ein anfehnlich Gebiet; dann
verfielen fie, und die Gefchichte Hat von ihnen nicht® weiter zu ver-
melden, ald mad das Buch der Könige auch fchreibt: „und fie begruben
fie in dad Grab ihrer Väter in der Stadt David.“ Die „Stadt David“
wäre aber in dem Fall das Stäbchen Omen, in deffen Kirche jene Herzöge
ihrer Urftänd entgegenfhhlummern, und an das man von der einen Geite
der Burg niederfieht; — in das reizende Thal, das da ganz unter einem
liegt, eine verlodende Perſpektive für meitere Wanderung. — Auf der
anderen Seite der Ruine bietet der Blick ind fernere Neidlinger Thal ein
ganz anderes Bild: bizarre Kalkiteinformationen, bintereinandergefchobene
Hügel, dadurch nur wie verftohlen zu Geficht kommende Thalöffnungen und
in diefen wieder allerlei Burgen mit Ritterromantif und Sagenfpud. Und
zwiſchen diefen beiden, zur Rechten und Linken der Ted geftellten Landſchafts—
souliffen war nun ein gutes Stüf offenes Würtemberger Land vor und aud-
gebreitet, aus dem das Fernrohr des Förſters, der zur Neifezeit auf der Ted
ab und zugeht, bald dies, bald jenes, biß zum Maufoleum auf dem Rothenberg
bei Stuttgart, heranzog. Es war ein Glück, daß wir diefen edlen Grünrod
gerade auf feiner Filtale fanden, fat weniger um feines Fern», ald eined an-
dern Glaſes willen, dad er mit der dazu gehörigen Weinflafhe in einem
fühlen Kellerchen verborgen hält und auf Verlangen dem müden Wandrer
fredenzt. Mit bloßer Gegend fommt man jchleht aus. Aber im guten
Shwabenland braucht man nicht lang zu hungern oder zu dürften. Gibt's
fogar in alten Burgtrümmern etwas anderes Trinkbares, als „ſchlecht Waſſer“,
wie's im Katechismus heißt, fo fehlt's noch weniger auf anderen Wegen und
Stegen an allerlei troftreihen Zeichen, die fait ohne Ausnahme zu guter
Herberg weiſen. Sole ward und auch in der Poſt zu Omen. in forellen-
reiches, lichtklares Flüßchen raufcht durch das Lenninger Thal. Seiner edlen
Bewohner etliche ftanden wohlbereitet auf unferm Mittagstiſch. Dann gingen
wir fein Ufer felbft entlang.
Grenzboten IV. 1874. 25
194
Dom deuffhen Heid) und Reichstag.
Berlin, den 25. Oktober 1874.
Zum 29. Oktober ift der Neichätag einberufen. Die drei großen Gelee
über die Bildung der Rechtöorgane und des Verfahrens derjelben, nämlid:
das Geſetz über die Gerichtöverfafjung, die Civilprozeßordnung und die Straf
prozefordnung, werden nach allgemeiner Mebereinftimmung mährend dieſer
Seffion den Reichdtag nur in der Art bejchäftigen, daß letzterer eine Com—
miffion zur Vorberathung diefer Gefege ernennt und mit der Befugniß aud-
ftattet, ihre Thätigfeit über die Seffion hinaus zu erftredfen. Denn innerhalb
einer Seffion und zumal einer kurz bemefjenen, wie die bevoritehende, Tann
auch nicht einmal die Vorberathung fo umfaffender und dabei vielbeftrittene
Fragen ordnender Gefee von einer Commiſſion erledigt werden. Damit die
Commiſſion nah dem Schluß der Seffion fortarbeiten und ihr Ergebniß dem
Reichstag in einer jpäteren Seffion vorlegen darf, wird ed indeß einer reichs—
gefeslichen Vollmacht bedürfen. Denn bi8 jest wird auf Seiten ded Reichs—
tags und der öffentlichen Meinung überwiegend an dem Grundfag der
fogenannten Discontinuität der Seffionen, als einer nur ausnahmsweiſe zu
verlaffenden Regel, feitgehalten, obgleich diefer Grundſatz in der Reichsverfaſſung
nirgend ausgefprochen und nicht einmal eine Anfptelung darauf gemadht ift.
Man behandelt denfelben jedoch als einen Beftandtheil, um mid) fo auszu—
drüden, des gemeinen parlamentarifchen Nechted. Auf die richtige Hand—
habung dieſes Grundfaßes in der deutjchen Neichdverfaffung wird ſich Gelegen-
heit finden zurüdzufommen, wenn das Vollmachtsgeſetz berathen wird. Da
leßtered eine zeitraubende Verhandlung kaum herbeiführen wird, jo bleiben
dem Neichätag ala Hauptgefchäfte der diedmaligen Seffion der Reichshaushalt,
in welchem zum erftenmal die fpecialifirten Militärausgaben fi finden, und
das Bankgeſetz. Beide Gegenftände find ohne Zweifel bedeutungsvoll und
wiederftreitenden Auffafjungen ausgeſetzt. Aber ed wird möglich fein, dieſe
Arbeiten in der, durch den diesmal unüberfchreitbaren Markitein dee Weihnachts—
fefte8 kurz bemefjenen Seffion zu beendigen. Daß die Thronrede unerwartet
noch eine größere Geſetzvorlage ankündigen follte, ift nicht wahrſcheinlich.
Das deutſche Volk und feine großen regierenden Körperfchaften Eönnen
diedmal, wie e8 fcheint, in einem ruhigeren Augenblid, als fett lange, an die
Arbeiten der inneren Wortbildung geben und diefen ihre Aufmerkfamfeit
widmen. Die Aufmerkſamkeit wird jedoh auf allen Seiten zum großen
Theile durch eine andere Angelegenheit abforbirt, die allerdingd dem Weiche
nicht fremd ift. Mir meinen die gegen einen ehemaligen Botjchafter des
deutfchen Neiches ſchwebende gerichtliche Unterfuhung. Daß in Preußen ein
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Minifter oder ein den Minifterrang gleichitehender Staatsbeamter im Gefängniß
gehalten worden, it, joviel wir willen, feit dem Sturz des Grafen Danfel-
mann, ded Minifterö des legten Kurfüriten, der der erſte König wurde, nicht
vorgefommen. Welch eine Senfationdnachricht für die politifche Welt, für
ihre Eingeweihten und Laien, für die Spieler auf der StaatdBühne mie
für die Galerie, als auf den telegraphifchen Drähten die Verhaftung des
Grafen Harry Arnim am 4. Dftober Europa durdlief! — Wenn in einer
Zunft ein Meifter auftritt, der wieder einmal den Schlendrian zerreißt und
die Träger dedfelben in dunfeln Schatten ftellt, fo wird er grimmig geneidet,
das ift eine alte Erfahrung. Das unzünftige Publitum aber fpaltet fich in
die zwei feindlichen Chöre, von denen der eine das Ungewöhnliche liebt und
preift, weil e8 das Ungewöhnliche ift, der andere es anfeindet und anſchwärzt,
um das Recht und die Macht des Gewöhnlichen geltend zu machen. Als die
Senfationsnahriht Fam, da rief der Chor der Bemwunderer, deſſen Stimmen
aber diegmal jehr zeritreut und Schwach erflangen: immer derjelbe gewaltige
Mann, der bald in der Nähe, bald in der Ferne einen der Feinde zu Boden
Ihlägt, die ihm unaufhörlich eritehen. Dagegen erhob fi wie ein ver-
worrenes Gebraufe der Chor des Neided. Er kann feine Selbitändigfeit
mehr ertragen, weder in der Fremde noch im eigenen Lande, Feine eigene
Meinung und feinen unabhängigen Mann; dies muß der Anfang oder we—
nigftend der Vorbote des Anfang? vom Ende fein! Dazu nun die offictöfen
Anleitungen, die nicht au&bleiben Eonnten, um die erregte, in den abſonder—
lichten Bermuthungen ſich ergebende öffentlihe Meinung zu orientiren. Diefe
Anleitungen fuchten die Miene anzunehmen, als wäre der Neichäfanzler gar
niht im Spiele; was in einem gewilfen Sinne übrigend ganz richtig fein
wird. Daran aber, daß folhe Dinge im deutfchen Reich vorgehen Eönnen
unter der lediglich contemplativen Affiitenz des Kanzler, davon würde man
die öffentliche Meinung mwahrjcheinlicy nicht überzeugen, auch wenn eine folche
Erſcheinung einmal zur Wahrheit werden folltee Man würde darin höchſtens
auf andere Weife den Anfang vom Ende erbliden. Und weil man died nicht
fann, wo man möchte, und für unmöglich hält, wo man ed nicht wünſcht,
jo begegneten die offiziöfen Belehrungen den ftärkiten Zweifeln und überall
wenigitend der Annahme, daß in ihmen der Kern der Sache verjchwiegen
bliebe. |
Heute find e8 drei Wochen, daß der Graf von feinem Gute in das Ge-
füngniß der berliner Stadtvoigtei abgeführt murde, das er feitdem mit dem
Gewahrfam in der Charite vertaufcht hat. Suchen wir dasjenige zufammen-
zufafien, was in diefer Zeit in hinlänglich glaubwürdiger Geftalt an die
Deffentlichkeit gefommen ift, um dem Verftändniß des befremdlichen VBorfalles
fichere Wege zu bahnen.
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Zunähft Hat Graf Arnim ſelbſt verfchiedene Mittheilungen aus dem
Gefängniß an die Deffentlichfeit gelangen laffen, zwar nicht unter eigenem
Namen, aber unverkennbar unter feiner beftimmenden Eingebung. Alddann
hat das unterfuchende Gericht eine Erklärung erlaffen und das Halb amtliche
Drgan, die Provinzialcorrefpondenz, hat verfchiedene Aeußerungen zur Sache
gebracht. An dieje Erklärungen nebft den nichtamtlichen offiziöfen Mittheilungen
werden wir uns halten müflen.
Beginnen wir mit einer nichtamtlich offiziöfen Mittheilung, welde in
den letzten Tagen von einigen berliner Blättern gebraht wurde. Danach
find auf dem Archiv der EFaiferlihen Botfchaft zu Paris eine Reihe von
AUktenftüden vermißt und um diefelben ift an den bereit? zur Dispofition ge
ftellten, damals in Carlsbad meilenden vormaligen Botjchafter zu Paris ge
fchrieben worden. Graf Arnim hat einen Theil der vermißten Aftenftüde
eingefendet,, einen anderen Theil für fein Privateigenthum erklärt und, wie
aus früheren offiztöfen Mittheilungen zu ergänzen ift, weil ed von großer
Bedeutung fcheint, über einen dritten Theil ausgefagt, daß er den Verbleib
derfelben nicht Eenne. Das auswärtige Amt ded deutſchen Reiches, vertreten
durch feinen Staatdfekretär, v. Bülow, beharrte auf der, Aushändigung der
zugegebenermaßen im Beſitz des Grafen befindlichen Aftenftüde, morauf ber
Graf in dem auswärtigen Amt nicht mehr feine vorgejegte Behörde zu er-
fennen erklärte und die Entfeheidung über den ftreitigen Befig vielmehr dem
Kaifer anheim geftellt fehen wollte. Dad auswärtige Amt machte dem
Grafen bemerflih, daß zwifchen dem auswärtigen Amt und einem feiner
untergebenen oder untergeben geweſenen Beamten nicht die Entfcheidung des
Kaiſers durch die untergebene Stellung angerufen werden Fönne Darauf
fol Graf Arnim gefchrieben haben, er werde den Streitfall felbjt den Ge
richten unterbreiten. Man follte meinen, logifher Weiſe hätte er nur fagen
dürfen, er werde erwarten, daß man gegen ihn die Gerichte anrufe, um ihn
des unrechtmäßigen Beſitzes der Aktenſtücke zu überführen, die er aus der
Botſchaft zu Paris an fich genommen. Dad auswärtige Amt mandte fi
nun, fo folgen wir jener offiziöfen Mittheilung weiter, an feinen oberiten
Chef, den Reichskanzler. Diefer ließ durch den Staatäfekretär an den Kaifer
berichten. Der Kaifer, die Nothwendigfeit, wie es ſcheint, anerfennend, daß
der amtliche oder private Charakter der Aktenſtücke feftgeitellt werde, auf
welche dad auswärtige Amt fowohl ald der ehemalige Botjchafter zu Paris
den Eigenthumsanſpruch erhoben, und ſich beziehend auf den Wunfch des
Grafen Arnim auf einen gerichtlichen Ausspruch, entfchied, daß die Angelegen:
heit den Gerichten zu übergeben fet, mit anderen Worten, daß das auf
wärtige Amt feinen Anſpruch auf die vorenthaltenen Aktenſtücke bei den
Gerichten anhängig zu machen habe.
TIER
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Dies ift feitdem gejchehen. Aber unmöglih kann das auswärtige Amt
blos geklagt haben auf Herausgabe der vom Grafen Arnim zugegebenermaßen
einbehaltenen Aktenſtücke. Auf diefe Klage allein hätte das Gericht nie die
Verhaftung anordnen können. Die Verhaftung ift vielmehr angeordnet im
Intereffe der Unterfuhung und in demfelben Intereſſe durh das Kammer:
gericht in zweiter Inſtanz aufrecht erhalten worden gegenüber dem Geſuch
des Grafen, aud der Haft entlafien zu werden. Es kann alfo nicht nur eine
Unterfuhung ſchweben über den Charakter der ftreitigen Aktenſtücke, e8 muß
gleichzeitig auch eine Unterfuchung ſchweben über uneingeftandene Handlungen
des Grafen. Die Vermuthung ift unabweisbar, daß diefe Handlungen ſich
beziehen auf den dem Grafen angeblich unbewußten Verbleib eines Theiles
der in dem Botſchaftsarchiv zu Paris vermißten Aktenſtücke. Iſt diefe Ber:
muthung über den weiteren Gegenitand der Unterfuchung begründet, fo recht—
fertigt ſich allerding® die Inhaftnahme und die Fortdauer der Haft voll:
fommen. Denn außer Haft wäre der Graf gewiß viel leichter im Stande,
die Spuren ded Verſchwindens der vermißten Aftenftüde zu tilgen, wenn
anders feine eigene Handlungdweife mit diefem Verſchwinden im Zuſammen—
bang fteht. —
Offiziös ift auägefprochen worden, die politifchen und perfönlichen Diffe:
tenzen zwifchen dem Reichskanzler und dem ihm ehemald untergebenen Bot-
Ihafter zu Paris hätten mit dem gegenwärtigen Gerichtäverfahren wider den
Örafen Arnim gar nichts zu thun. Formel ift das ficherlich richtig. Es
handelt fih um vermißte Aktenſtücke, welche der Graf heraugzugeben theild
verweigert, theild in ihrem Verbleib nicht zu fennen behauptet. Der jtreitige
Charakter der innebehaltenen Aftenftücte müßte feitgeitellt, dem unbefannten
Verbleib der fehlenden Aftenftüde müßte nachgeforfcht werden, auch wenn «8
nie Differenzen zwifchen dem ehemaligen Botfchafter und feinem leitenden Vor:
gefegten gegeben hätte. Aber wenn folhe Differenzen nicht geweſen wären,
hätte der Graf dann wohl amtliche Aktenſtücke einbehalten, Könnte er wohl
im Verdacht ftehen, dem unbekannten Verbleib vermißter Aktenſtücke nicht
fremd zu fein? Nicht der formelle, wohl aber der fachliche Urfprung des
Proceſſes mird doch wohl in den Differenzen zwiſchen dem ehemaligen Bot-
Ihafter und feinem Chef zu fuchen fein.
Diefe Differenzen, worin beitanden fie? Der Botfchafter wollte eine
andere Politik ald der Kanzler ſchon während feiner Thätigkeit als Gejandter
bei dem päpftlihen Stuhl zur Zeit des vaticanifchen Coneils. Dies bezeugen
die Vrivatbriefe, welche zu diefer Zeit Graf Arnim mit verfchtedenen Perſonen
über den Gang des Concils gewechſelt und die fchmerlich ohne feine Mit-
wirkung, mie er freilich den Anfchein zu wahren gefucht hat, in dem wiener
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Blatt „die Preſſe“ veröffentlicht worden find. Noch ftärfer hat der Graf die
firchliche Politik des Kanzlerd in feinem an Döllinger gerichteten und für die
Deffentlichkeit beftimmten, weil durd den Adreſſaten der Deffentlichfeit nicht
vorenthaltbaren Schreiben gemißbillige. Weit mehr als in Rom hat der
Graf in Paris eine andere Politit ala die des Kanzlerd zur Geltung zu
bringen geſucht. Ein heftiger und unliebfamer Meinungstauſch hat in Folge
defjen ftattgefunden, der Graf wurde nad Conſtantinopel verfegt und fpäter,
nachdem der Brief an Döllinger erfchienen und durch öffentliche Erklärungen
ded Grafen zu motiviren gefucht worden, zur Diepofition geftelt. Seitdem
muß der Graf ald der offene, wie vorher als der heimliche Gegner des Kanzlers
betrachtet werden. Um fich gegen die Befchuldigungen des Kanzlers vertheidigen
zu können, behauptet er, eine Reihe Aftenftücde der parifer Botichaft bean-
ſpruchen zu müſſen. Weil die ohne Spur ihres Verbleibs aus dem Botſchafts—
archiv verſchwundenen Aftenftücde beftimmt fcheinen, gegen den Kanzler zu
wirfen, darum laftet auf dem Grafen Arnim der Verdacht, ihrem Verſchwin—
den nicht fremd zu fein.
Aus dem Publikum ift vielfältig die Frage laut geworden, warum der
Graf ſich nicht mit den Abfchriften der Dokumente begnüge, fondern auf dem
Befig der Originale beharre. Als Waffe aber find Originale wirkfamer, ala
Abjchriften jemals fein können, möchte der Inhalt noch fo ſprechend erfcheinen
und die Form felbit eine amtliche Beglaubigung erlangt haben. Abfchriften
fönnen verleugnet, angezweifelt werden, einjlußreihe Betheiligte können dem
Zweifel aufrichtig oder fcheinbar Wirkung einräumen. Originale können zwar
au gefälfht werden, aber es giebt Mittel, die Fälfhungen feitzuftellen.
Echte Originale erzwingen ſchließlich den Beweis. Für men dieſes Bemeid-
mittel der Echtheit fo eifrig zu wahren gefucht wird, auf wen es zulegt hat
wirfen follen, das läßt ſich bis jest nicht jagen. Der Reichskanzler jedenfalls
ift nicht derjenige, der diefe Originale, der die Bekanntmachung ihres Inhalts
fürchtet. Graf Arnim glaubte vielleiht, eine Waffe gegen den Kanzler zu
befiten. Der Kanzler entreißt feinem Gegner diefe Waffe durch ein öffent
liches Gericht. Läge die Wirkung der Waffe in der Veröffentlihung, jo wäre
fie dur den Kanzler felbft in ihr Element gebracht. Aber er fcheut diefe
MWirfung nicht und bekämpft den Gegner, indem er die Unrechtmäßigfeit ded
Beſitzes der vermeintlichen Waffe and Licht zieht.
Hören wir nun auch den Grafen Arnim. Gr hat zmei von ihm infpi-
rirte Aeußerungen der Deffentlichfeit zufommen laſſen. Die erjte davon be
trifft feine Differenzen mit dem Kanzler, die zweite betrifft den formellen
Charakter der wider ihn erhobenen Anklage. In der zweiten Yeußerung
deducirt der Graf aus dem perfönlichen, d. 5. feine Perſon auf das ftärfite
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berührenden Charakter der von ihm einbehaltenen Schriftftüde fein Eigen»
thumsrecht an den letzteren, obwohl er ihren dienftlichen und amtlichen Cha-
rafter nicht beftritten zu haben angiebt. Das ift eine Logik, gegen die es
nicht der Mühe lohnt zu kämpfen. Weiter fagt der Graf, er fei nun einmal
verfähtedener Anfiht mit dem auswärtigen Amt über das Eigenthumsörecht
an gewiflen Aktenſtücken. Dad ausmärtige Amt Fönne aber nicht Richter in
eigener Sache fein. Die Unrufung der Gerichte fei alfo in der Ordnung,
unverftändlich aber bleibe die ftrafrechtliche Unterfuhung. Der Graf verfchmeigt
aber oder hat vergeffen, daß er auch um den Verbleib von Aftenftüden befragt
worden, den er nicht zu Fennen behauptet. Meinte er, mit diefer Behauptung
fi die Sache abgethan? Was aber die zugeftandenermaßen einbehaltenen
Aktenſtücke betrifft, jo hätte ein correcter Staatödiener diefelben außliefern
und dann fein Recht bei den Gerichten verfolgen müffen. Aktenſtücke aber,
deren amtlichen Charakter der Graf felbjt nicht mehr beftreitet, an einem
unbefannten, ungenannten Ort zu verbergen, beißt, fih zum Richter in
eigener Sache machen, heißt die ftrafgerichtlihe Unterſuchung hberbeiziehen.
Wie kann der Graf behaupten, er habe jene Aftenftüde nicht bei Seite ge-
haft, er, der ihren Verbleib verborgen hält, obmohl er ihre Anfihnahme
eingefteht.
Die andere Kundgebung, melde Graf Arnim in die Deffentlichkeit ge-
bracht, iſt meit befremdlicher ald die eben erwähnte In einem Bericht,
welchen er der Boffifchen Zeitung hat zugehen laſſen, erzählt Graf Arnim die
Geſchichte feiner Miphelligkeiten mit dem Fürſten Bidmard. Er fett den Ur,
fprung derfelben in den Herbſt 1872, und behauptet, bi8 dahin mit dem
Reichskanzler im beften Einvernehmen geweſen zu fein. Das ift aber fehr
fonderbar, da der Graf dur die ſchon erwähnten Mittheilungen an die
wiener „Preſſe“ die Welt belehrt hat, mie zur Zeit des vatifanifchen Coneils
feine Anfiht über das Verhalten der deutſchen Politik gegenüber dem bevor-
ftehbenden Unfehlbarkeitsdogma von derjenigen des Fürſten abwich. Noch
fonderbarer ift e8, daß Graf Arnim fi die Initiative der nachherigen anti«
römischen Politik beimißt, die er doch in feinem Schreiben an Döllinger fo
jehr beflagt hat. Alsdann behauptet der Graf, daß er niemals eine legiti—
miftifhe oder orleaniftifche Reftauration während feiner Thätigkeit in Parts
begünftigt habe. Gleich darauf aber erzählt er, daß er in feinen Berichten
unaufbörlich die Gefahren der Befeftigung der Republik mit ſchwarzen Yar-
ben gemalt und Sorge getragen hat, feine Bedenken über den Kanzler hin»
weg an die höchſte Stelle zu bringen. Kann man fich da noch wundern,
dab der Kanzler den Grafen ala Furzfichtigen und ſchwachmüthigen Politiker,
aber auch als intriguanten Gegner behandelte? Das Stärkfte indeß, mas
der Graf in diefer Selbftapologie an ungeſchicktem und verbächtigem Gifer
200
feiftet, ift da Folgende. Weil einige Dilettanten der Politif und der Finanz—
wiffenfhaft die Meinung in Umlauf gebracht haben, die fchnelle Abzahlung
der Miltarden durch Frankreich habe eigentlich Deutfhland Schaden gebracht,
fo beeilt fih die Phantafie des Grafen, dem Publikum zu berichten, der
Träger diefer Phantafie fei von jeher für eine langfame Abzahlung der Milli-
arden geweſen. Diefelbe Gejchmeidigkeit läßt den Grafen ſich einbilden —
in MWirflichfeit wäre er troß feined fanguinifchen Urtheild eines folden Vor—
ſchlags nicht fähig geweſen — er habe vorgefchlagen, Deutſchland folle
fi das Recht referviren, ohne Kriegderflärung Franfreih bis zum
Meere zu befegen, wenn die franzöfifche Regierung fi) mit den Zahlungen
fäumig zeigen ſollte. Es ift fchade, daß der Graf diefen Vorſchlag erft in
feiner nachträglichen Einbildung gemacht Hat. Hätte er ihn amtlich dem
Kanzler unterbreitet, fo hätte diefer einen Grund gehabt, ſchon damald die
Stellung des Grafen zur Diöpofition wegen augenfälliger Unfähigkeit zu
verlangen. — Den 24. Mai 1873, den Sturz der Präfidentfchaft Thiers,
übergeht der Graf in feinem Bericht mit völligem Stillſchweigen, und doch
liegt in diefem Greignig die Hauptankflage gegen den Grafen, daß er die
Politik des vorgeſetzten Staatsmanns durchkreuzt hat.
Wenn nachgerade im Ausland wie im Inland die Meinung immer
mehr Boden gewinnt, der Graf habe geglaubt, die Politik beſſer zu verſtehen
als ſein Chef, und habe die Anknüpfungen geſucht, um durch Verbreitung
dieſer Meinung den Fürſten Bismarck zu verdrängen, ſo liefern den nicht—
eingeweihten Kreiſen die vom Grafen ſelbſt inſpirirten Aeußerungen unzweifel—
haft Anlaß zur Beſtärkung dieſer Anſicht.
Laſſen wir aber die außerhalb der Oeffentlichkeit liegenden Vorgänge
aus dem Spiel. Was konnte wohl Fürſt Bismarck thun, wenn ein Bot—
ſchafter, der wegen Unzufriedenheit des Chefs zur Dispoſition geſtellt worden,
wichtige Aktenſtücke an ſich nimmt und auf die Aufforderung zur Heraus—
gabe kurzweg erwiedert: Ihr habt mir nichts mehr zu ſagen!
In dieſem Fall, ſo ſcheint uns, bleibt dem leitenden Staatsmann nur
Eins von beiden übrig. Entweder er muß dem Kaiſer ſagen: Dieſer Bot-
ſchafter a. D. ift fo mädtig, daß er ungeftraft einen Aft der äußerſten In—
fubordination begehen kann; ich Fann nicht mehr der erfte Beamte fein, meil
da® arbeitende Perfonal mir nad Belieben den Gehorfam auffündigt! —
Wenn der Fürft nicht in der Lage war, fo zu fprechen, fo Fonnte er nur die
Genehmigung des Kaiferd zum Anrufen der Gerichte gegen einen rebellifchen,
vielletcht bis zur Gefährdung der Staatsinterefjen rebelliihen Staatsdiener
verlangen. C—r.
Berlan von $. 2. Herbig in Leipzig. — Drud von Güthel & Kegler in Leipzig.
⁊*
-
= XXXIT. Jahrgang. IL Semefter, —
Die
renzboten.
— ——
Zeitſchrift
für
Solitik, Literatur und Kunſt.
Ne 45.
Ausgegeben am 6. Nobember 1874.
—
Inhalt:
2 — Seite
Proben gleichzeitiger Volkslieder über die Schlachten bei Hemming⸗
edt (1404 u. 1500). In neuhochdeutſcher Uebertragung
mitgetbeilt von H. Shmolte. . . 22 2 2 2 20. 201
Herbfitage in Schwaben. 2. Gohenneuffen. Urach. Eningen.
Die Achalm. Lichtenftein. Reutlingen. Der Hohenzollern.
Die Schwarzwaldbäder. Hirfau.) Bon Friedrih Lampert 215
. uuulete GuR 2 Akte 5 2 5 Eee 229
Bom deutihen Reiihetag Cr. . 2 2 2 2 20. a
Grenzbotenumfälag: Literarifche Anzeigen.
Hierzu eine literarijche Beilage von Friedr. Brandftetter in Leipzig.
— — 5
Leipzig, 1874.
Friedrich Ludwig Herbig. F
AN
(Ir. Wild. Grunow.) EIZIN
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Sybel's Gefchichte der Revolutiongzeit. — Die
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fationsroman. — Henry Beyla (de Stendabl). —
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Leichenverbrennung. — Die Ecole alsacienne in
Paris. — Oeſterreich-Ungaru. Rüdblide und
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Jokai ald Humorifl. — Schweiz. Die Frage
einer eidgenöffifchen Univerfität. — Schweizer
Briefe. (Kirchliche). — Studien zur Geſchichte
der römifchen Kaiferzeit. — Belgien. Alerander
Sendebien, einer der Mitbegründer der belgijchen
Monardie. Nah Theodor Juſte. — Urtbetle des
Auslandes über die Altkatholifen. — Standina-
bien. Nachlefe zu den dänifchen Lyrikern. Feſt—
Kantate von Richardt, überjeht von Dr. Hugo
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Neue Schriften: Flugſchriften, Lieferungswerke
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in Italien nicht populär ift. Kritifche Briefe von
Ruggtero. Bonghi. I. IL. — Manzoei'd Jugend.
— Griechenland. Eine Ode von Valaoritis. —
Drient. Fragments relatifs à la doctrine des
Ismaclis — Das indifhe Erbrecht. — Nord:
Amerifa. Nord-Amerikaniſche Analekten. I. II.
r 12
P a
2 — —
—
Die soeben erschienene No. 44 der
Jenaer Literaturzeitung
im Auftrage der Universität Jena herau
gegeben von Anton Klette,
Jena, Mauke’s Verlag (Hermann Duf
enthält Besprechungen von:
M. Funk, J. A. L. Funk: von R. Sti
F. Oehme, Göttinger Erinnerungen: w
G. Frank. F. v. Sybel, das Recht des S%
tes bei Bischofswahlen: von O. Mei:
F. v. Sybel, das altkatholische Bisthum: %
O. Mejer. C. J. Eberth, Untersuchung
aus dem pathologischen Institut zu Zürich: v
K. Bardeleben. R. Wolff, der de
Getreides: von O. Brefeld. J yeric
des Vereins für Erdkunde zu esden:. v
Alfred Kirchhoff. Zwölf Briefe eines st!
tischen Ketzers: von J. Walter. L. Noi
die Entwicklung der Kunst in der Stufenfo)
der einzelnen Künste: von J. Walt
J. J. Baumann, sechs Vorträge aus dem &
biet der praktischen Philosopbie: von J. Walt
F. Helbig, die Sage vom ewigen Juden, il
poetische Wandlung und Fortbildung: v
«A. Schottmüller. H. v. Sybel, die deutse)
Universitäten, ihre Leistungen und Bedürfui=
von B. Delbrück. R. Volkmann, Geschic
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Homer: von Moritz Schmidt. H. Fisch
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Karl Lachmann: von H. Paul,
‚Das November-Heft der „„Deutid
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Neapolitaner Pfingften. Bon Kleinpaul.
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Von
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33 Bogen 2 Thaler.
Kürnberger's Feuilletons führen den Stemp:
kleiner Meisterwerke, die nicht an Zeit nr.
Oertlichkeit gebunden sind; sittlicher Erns:
warmes Interesse für deutsche Grösse un
deutsches Leben, feine Beobachtung, sicher«
und klares Urtheil sind ihre Wahrzeich.,
Geistvolle und formgewandte Darstelinn.
untermischt mit köstlichem Humor, bekuni.
überall den geschichts- undmenschenkundic-
tiefen Denker. .
Proben gleichzeitiger Volkslieder über die Schlachten bei
| Hemmingſtedt (1404 u. 1500).
In neuhochdeutſcher Uebertragung mitgetheilt von 9. Schmolfe.
Ditmarfchen ift ein fchmaler Landftreifen an der Weſtküſte Holfteind, der
fih, etma 7 Meilen lang und 4 Meilen breit, von der Elbmündung bis „ur
Eider Hinzieht und größtentheild aus, vom Meere angeſchwemmtem und mit
Sand vermifchtem, feinem Thonſchlamm, fogenanntem Schlick befteht. In un»
vordenkflichen Zeiten, ald die Nordfee no ein nur nad Norden geöffneter
Meeresbufen war, jhüsten hohe natürliche Dünen das tiefer gelegene Hinter-
land, von denen wir Ueberreſte in den zahlreihen Inſeln und Eilanden er»
kennen, die von der Rheinmündung bis zur cimbrifchen Halbinfel Hin die
Küfte umfäumen. Als aber dem unermüdlichen Anprall der atlantifchen
Hochfluth der Iſthmus zwifchen Dover und Calais plögli wich, und die
Mafjermaffen unaufbaltfam gegen die dftlihen und füdlichen Geftade fich
beranmwälzten, da zerbrachen die aus leichtem Sand gefügten Hügelfetten und
öffneten der Fluth einen Weg ind Land, das nun regelmäßigen, aber be
fruchtenden Ueberſchwemmungen audgefegt war. Frühzeitig vereinigten ſich
Hier die Kräfte der Menfchen zu gemeinfamer Arbeit, um den fetten Küften-
faum dur Fünftliche Deiche zu hüten und geregeltem Anbau zugänglich zu
machen. Sie zogen hohe Dämme, die ald Verkehrswege dienten, und durch—
fchnitten dad Land mit zahlreichen Entmäfjerungdgräben, die es für einen
Fremden fat unzugänglich machten, während fie von den Eingeborenen mit
ihren Springftangen leicht überfchritten wurden. So war das Ländchen ein
Geſchenk des Meeres, aber ein abgedrungened, das die peinlichfte Sorgfalt
und oft die höchſte Kraftanftrengung erforderte, um es vor der nimmerfatten
Gier des tückiſchen Elemented zu jehüsen, aber die verwandte Mühe auch mit
überreihem Ertrage belohnte.
Die Ditmarfen, mit den alten Sachfen, am nächſten aber mit den
Friefen verwandt, waren ein troßige® und kühnes Gefchleht, ähnlich jenen
Schweizer Bauern, die zwifchen ihren Bergriefen ſaßen, mie jene zwiſchen
Deichen und Gräben. Mit den Schweizern haben fie auch die größte Aehn-
Grenzboten IV. 1874. 26
— —
202
fichfeit in ihren politifhen Schidfalen. Die Hauptmomente ihres Freiheits—
fampfed fallen in die Zeit nad) der Schlacht bei Sempach und nad den
Burgunderfriegen. Dazu ift es derfelbe Conflict politifcher Principien, der
auf beiden Kriegsfhauplägen im Norden und im Süden ded Reichs aus-
gefochten wird: der Konfliet zwifchen den letzten Reſten nationaler Yreiheit
und dem aufjtrebenden fürftlihen Abfolutismus. Aber der Kampf der Dit-
marfen war härter, ihre Stellung tfolirter, die Macht ihrer Gegner furdt-
barer durch politifche Combinationen, jo daß fie, von Kaifer und Reich preis:
gegeben wie die Schweizer, nur allzu früh ihrem Schickſal erlagen.
Seit alten Zeiten gehörte das Land zum Erzftift von Bremen, deſſen
Dberhoheit aber nur formell anerfannt wurde. Nachdem zu Ende des
12. Jahrhunderts der Adel vertrieben worden war, bildete ed eine freie
Bauernrepublif, die fi nach einem eigenen Nechtdcoder, dem ditmarſiſchen
Randbuhe (zufammengeftellt 1348, gedrudt 1497), von felbft gewählten Be
amten regieren ließ. Es zerfiel in 4 Vogteien oder Dofften, jede Dofft in
Kirchſpiele, jedes Kirchfpiel in Dorfſchaften. Die Vögte, Kirchipielbeamten
und Dorfälteften verwalteten alle gemeinfamen Angelegenheiten, über ihnen
fanden als Controllbehörde die Achtundvterziger, eine Art Senat, zu dem jede
Dofft 12 Mitglieder ftellte, zu den großen Landesverſammlungen aber traten
außer den Achtundvierzigern und den Vögten noch Abgeordnete aus allen
Dorfichaften zufammen. Das Leben des Ditmarfen verftrih unter harter
Ürbeit und ftetigem Kampf mit den Elementen der Natur. Tägliche Waffen
übungen durften nicht fehlen. Mit 14 Jahren trat er zu feiner Ertegerifchen
Ausbildung in die junge Landwehr. Mit 17 Jahren und 1'/, Monaten
ward er mündig und in den Berfammlungen der Dorfgenofjen ftimmberechtigt.
Der Neihthum diefer ftolzen Bauern war ſprichwörtlich und reizte die nächften
Nachbarn zu häufigen Raubzügen.
Im Jahre 1402 machte Herzog Erih von Sachſen einen Einfall im
Ditmarfchen. Die Ditmarfen befhuldigten den Grafen Albrecht von Holſtein,
einen Sohn Heinrich® ded Eifernen, ihm Vorſchub geleiftet zu haben, und
forderten Genugthuung. Da erklärte ihnen Albreht mit feinem Bruder
Gerhart, der Herzog von Schleswig war, den Krieg und begann ihn mit
plündernden Einfällen. Um einen Stüspunft für ihre Unternehmungen zu
haben, erbauten die Holfteiner 1403 vor Meldorg, dem Hauptorte von Sübder:
ditmarfchen, einen feiten Thurm, die Marienburg. Wiederholt verfuchten die
Bauern, das verhaßte Bollwerk zu zerftören, aber immer vergeblih. In—
zwifchen ftarb Graf Albrecht auf einem Streifzuge und hinterließ fein Land
feinem Bruder, der die Feindfeligfeiten unabläffig fortſetzte. Da rief Rolf
Bodenjohn, einer der Angefehenften im Lande, wie das Volkslied erzählt, die
Ditmarfen zufammen:
203
„Tretet herzu, ihr ftolzen Ditmarſchen!
Unfern Kummer, den wollen wir rächen.
Was Hände gebauet haben,
Das fünnen aud Hände zerbrechen!“
Da — die — überlaut:
er „Wir wollen drum wagen Gut und Blut
„Das item wir nun — nimmermehre! Und wollen alle drum ſterben,
Wir wollen drum wagen Hals und Gut Eh' daß der Holſten Uebermuth
Und wollen das Schloß umkehren!“ So ſollte unſer Land verderben!“
Sie machten einen neuen Verſuch, die Zwingburg zu nehmen, wurden
aber mit Verluſt zurückgeſchlagen; Rolf Bockenſohn fiel mit vielen anderen.
Deſto beſſer gelang es ihnen im folgenden Jahre. Herzog Gerhart
unternahm im Sommer 1404 mit einem auserleſenen Heere von Rittern,
Herren und Knechten einen Einfall von Süden her. Die Holſteiner hauſten
aufs gräulichſte in den Dörfern, aus denen die Bevölkerung geflohen war,
und trieben namentlich alles Vieh fort, worin der Hauptreichthum des Landes
beſtand. Es gab damals nur zwei Wege, um ins Land zu gelangen: der
eine von Norden her auf Heide, den Hauptort des nördlichen Diſtrietes, der
andere von Süden über Meldorp auf Hemmingſtedt, beide durch ſogenannte
Hammen, dichte, jumpfige, von Gräben durchfehnittene Holzungen führend.
Auf dem Rüdzuge durch die Süderhamme ward das mit Beute beladene
Heer am 5. Auguft von den rakhedürftenden Ditmarfen überfallen und zum
Theil niedergemacht, zum Theil in den Sumpf gejagt. Herzog Gerhart fiel
und mit ihm die Blüthe des fchledwig-holfteinfchen Adels, darunter Heinrich
von Siggem, ded Herzogs Marfchall, mit zwei Söhnen. Er hatte fih, ala
er die Schlacht verloren fah, mit dem Banner durchgeſchlagen, aber auf die
Kunde von dem Tode feine® Herrn wieder in das Kampfgewühl geftürzt. —
Ueber diefe Schlacht gab es gewiß alte, gleichzeitige Wolkälieder, von denen
fi aber nur eined und zwar in einer 100 Jahre fpäter fallenden Ueber-
lieferung erhalten hat. Es bildet den Eingang zu einem umfafjenderen Ge-
dicht, welches die fpätere Schlacht bei Hemmingftedt zum Gegenftande hat,
und auf das wir unten mehrfach zurüdfommen werden. Der Dichter des
letzteren beabfichtigte, mie die Heberfchrift zeigt, die dasſelbe in der beiten,
einer Berliner Handfchrift führt:
„Was in hundert Jahren und num ift geſchehn
In Ditmarfhen: das mag man hier hören und fehn,* —
offenbar einen größeren epifchen Zufammenhang in feiner Darftellung zu
umfaffen und Fnüpfte naturgemäß an jenen erften großen Sieg über die
Randeöfeinde an, indem er ein Älteres Ried dabei benugte, deſſen Weiſe und
204
Verdmaß er annahm, wenn au nicht durdhführte. *)
{
Ebenſo erwachte bei
den Schweizern in der Bedrängniß der Burgunderkriege das Andenken an
die Heldenthaten von 1386, wie die im Tone der Sempacherlieder gedichteten
ſpäteren Schlachtgeſänge zeigen.“) Das Lied von der Schlacht in der Süder—
hamme lautet nach der Meberlieferung des fpätern Dichterd mie folgt:
„Als man fchrieb taufend vierhundert
und vier,
Da nahm in Ditmarjchen ein Herr
Quartier,
Des eifernen Heinrich's Sohn, ein Fürft
groß und reich,
Herzog Gerhart von Schleswig und Herr
von Holftein zugleich.“
„Fünfzehn Ritter find zufammen geweſen
Und vierhundert wadre Mannen auserlefen,
Ohne Bauern und Kriegesfnechte.
Ihrem Herrn wollten fie Beiftand thun
nad) Rechte.“
„Die Holfteiner griffen männiglich zu,
Es war Pferd oder Ochſe, Schwein oder Kuh,
Da ward von allem nichts vergefjen ;
Bon Kleider alles, was da war; Ge-
fchmeide ward abgerifjen.“
„Der Weg war zu ſchmal und zu enge,
Sie famen bald in groß ©edränge,
Niemand konnte dem andern weichen,
Der größte Haufe blieb, die Armen und
die Reichen.“
„Doch da der Ritter das vernahm,
Daß fein gnädger Herr nicht nad) ihm kam,
Ward er ohmemafen bange;
Er wollt’ ſich lieber todtfchlagen laſſen,
wenn er wär' gefangen.“
„Er hatt! entboten feinen guten Mannen
allen,
In Ditmarfchen wollt! er mit einem Heer
einfallen :
„Wollet ihr aud) nun alle bei mir bleiben ?*
Da riefen fie: „Gnädger Herr, mit Gut
und mit Leben!“
„Wie fie num famen ind Land gezogen,
Die Ditmarfchen find alle raſch geflohen
Aus dem Wege, wo fie fich fehen ließen;
Sie famen alle zur Hamme mit ihren
langen Spießen.“
„Da fie wieder in die Hamme kamen,
Die Ditmarfchen ihrer bald wahrnahmen,
Mit Armbrüften und mit ihren Spießen
In großer Grimmigfeit die Borderften
fie niederftießen.“
„Herr Heinrid) von Siggem, ein Ritter gut,
Der hatte zumal einen freien Muth,
Er wollte allein nicht berzagen ;
Das Banner bradt' er dur, da das
Heer gefchlagen.“
„Er ift wieder gefommen zu dem Haufen
geritten
Und hat mit feinen zwei Söhnen bie
zum Tod geftritten.
So gehört ſich's für einem edlen Mann
von Ehren,
Wie er dort hat fein Leben gelafjen für
feinen Herren.“
& *) Die Strophe beſteht aus 3 Kurzzeilen und einer doppelt jo langen Schlußzeile, doch
ift der urfprüngliche Bau durch Ueberfüllung der Reihen vielfach verdunfelt.
»*) Bergleiche des Verfaſſers Aufſatz: Die Kämpfe der Schweizer gegen Burgund u, j. w.
in Rr. 38 der „Orenzboten“.
3. Quartal 1874 ©. 460.
205
„Die Ditmarfhen machten da einen Bund, - „So ift e8 geblieben zehn Jahr in gutem
Sie legten Marienburg in den Grund, Beltand,
Sie wollten nirgends mehr Schlöffer leiden, Der eine mocht' befuchen des andern Yand
Wenn die Holften kämen, daß fie night Im einem guten Frieden wohl gelitten;
fönnten draus jtreiten.“ Daß fie fo ſtets in Ruhe fähen, das
war ihr Bitten.” —
Mit der Friedendliebe der Ditmarfen ſcheint es aber nicht meit her ge
weien zu fein, doch murden fie aud durch die andauernd bedrohliche Haltung
der Gegner zur Dffenfive gedrängt. Zehn Jahre fpäter, 1414, fielen fie ind
Holfteinfhe ein, murden aber zurüdgefchlagen. Ste wiederholten indeß ihre
Einfälle und fingen 1431 fogar mit Hamburg Fehde an. Als 1434 Feind-
haft zwifchen den einzelnen Randgemeinden entftand, und fich die Republik
in zwei Parteien zu fpalten drohte, vermittelten Lübifhe und hamburgifche
Abgefandte den Frieden, der nun länger ald 40 Sabre dauerte. — Mit dem
legten Viertel des Jahrhundert? aber zog fih über dem muthigen Völkchen
ein Ungewitter zufammen, dad an Furchtbarkeit alle frühern Bedrängniffe
übertraf.
Seit dem Tode Adolf VIII. (Dezember 1459), mit welchem der Mannes
Hamm des fchleswig-holfteinichen Haufed ausſtarb, war deſſen Schmiegerfohn,
König Chriftian I. von Dänemark, gewählter Landesherr von Schleswig und
Holitein und damit unmittelbarer Nachbar der Ditmarfen. In ihm erwuchs
dem Rande ein Feind, der durch militärifhe Macht und politifche Verbin-
dungen gefährlicher war als alle früheren. Chriftian war ein eifriger Partei—
gänger derjenigen politifchen Richtung, die in Ludwig XI. und Karl dem
Kühnen damald ihre Hauptvertreter fand, während ihr im Reich befonders
Markgraf Albreht Achilles und Herzog Albreht von Sahfen folgten. Die
Beftrebungen diefer Partei, deren Glieder in engen, freundfchaftlihen und
diplomatifchen Verbindungen ftanden, gingen hauptfählih auf Hebung und
Erweiterung fürftliher Macht und Unterdrüdung der alten Freiheiten des
Adeld, der Städte und der Randgemeinden. Im Zufammenhange damit ftand
8, daß der Kaifer im Sahre 1473 eine Urkunde ausftellte, durch welche Ditmar-
hen für heimgefallened Reichslehen erklärt und dem Könige von Dänemark
jugefprochen wurde. Im folgenden Jahre unternahm Chriftian eine Reife
nah Rom und erreichte bei einer Zuſammenkunft mit Friedrich III. zu
Rotenburg a. d. Tauber, daß die Graffhaften Holftein und Stormarn nebft
dem „ihnen incorporirten“ Ditmarfchen zum Herzogthum erhoben und ihm
aufd neue feierlich zugefichert wurden. Aber die Ditmarfen weigerten fich,
ihm den Huldigungseid zu leiften, indem fie geltend machten, daß fie an da
Stift zu Bremen gehörten, und der wanfelmüthige Kaifer erklärte fchließlich,
206
er babe von diefem Verhältniß Feine Kenntniß gehabt und hebe nunmehr die
Belehnung wieder auf.
Bald darauf ftarb Chriftian I. (1481), und ihm folgte fein ältefter Sohn
Johann ala König in Dänemark und gemeinfam mit feinem Bruder Friedrich I.
in den Herzogthümern. Derfelbe machte auf einem Tage zu Itzehoe 1489
feine Anfprühe auf Ditmarſchen formell geltend, ward aber durch feine
ſchwediſchen Angelegenheiten verhindert, fie zu verfolgen. 1496 unterwarf er
Schweden, wo ihm Sten Sture die Krone ftreitig machte, mit Hülfe der ſo—
genannten „großen“ oder „[chwarzen Garde”, einer Schaar friefifcher, ſächſiſcher
und anderer Nandäfnechte, die unter ihrem Führer, Junker Thomas Slenz
oder Slenitz, ſchon in Holland fih gefürchtet gemacht hatten. In die Herzog.
thümer zurücdgefehrt, verfiherte er ſich zunächſt der Beihülfe jeined Bruders
Friedrich, der mit den Ditmarfen über Helgoland in Streit gerathen war.
Darauf legte er auf einem Tage zu Rendsburg 1499 den ditmarfifchen Ab-
gefandten feine Bedingungen vor: fie follten 15,000 Mark in den Schatz
zahlen und fi) mit der Errichtung von drei feften Schlöffern einverftanden
erklären.
„Das eine follte zu Brunsbüttel ftehn,
Das andre an der Eiderfähre,
Das dritte follte zu Meldorg ftehn,
Da wollte er fein ein Herre.“
Da antworteten die Ditmarfen wie vor 100 Jahren, mit dem „über:
lauten“ Rufe:
„Das gefhieht nun und nimmermehre! —
Drum wollen wir wagen Hals und Gut
Und wollen alle drum fterben,
Eh’ daf der König von Dänemark
So follte unfer ſchönes Land verderben!" —
Die Rendsburger Verhandlungen und die darauf folgenden Rüftungen
auf beiden Seiten werden in dem oben erwähnten umfangreichen Liede fo be-
ſchrieben:
„Der König hat feinen Voten ausgeſandt, „Den Boten empfingen fie mit Hohn und
Er bat, fie follten ihm gehen in die Hand*) Grimm, en
Und ſich nicht ftellen jo verdrofien ; Was fie antworteten, dad war ſchlimm:
Er wollt’ ihnen ein gnädger Herr fein und Sie boten dem gnädgen Herrn für ſeine
fie bei ihren Privilegien laſſen.“ Kronen,
Wenn er ſich's wollt‘ genügen laffen, einen
Scheffel Bohnen.“
„Das hätt’ den KönigHanſen fehr verdrofien, Daß er wollte gehorſam machen etliche Lande,
Cr hätt? mit vielen Herren einen Bund Alles Bolt war ihm willlommen, das
gefchloffen , man ihm fandte.“
*) In die Hand gehen — den Huldigungseid leiſten.
207
„Der König ift mit Herzog Friedrich über- „Da nun die Städte dies hatten ver-
eingefommen, nommen,
Die oldenburgifchen Herren haben fie mit- Iſt eine große Berfammlung zufammens
genommen, gelommen,
Herr Hans von Ahlefelde ward nicht Da haben fie unter manch Anderm ger
vergefien , ſprochen:
Ritter und gute Mannen, die alle waren „Thürme, Mauern und Wälle wollen wir
hoch gejefien.“ - alle feſtmachen.“
Unter den Städten, die ed im Gefühl der gemeinfamen Gefahr mit den
Ditmarfen hielten, waren befonderd Hamburg und Kübel. Mit König
Johann aber waren außer der ſchleswig-holſteinſchen Ritterſchaft, unter der
die Herren von Ahlefeld ald alte Feinde der Ditmarfen fi audzeichneten,
feine olvenburgifchen Bettern, Zuzüge aus Yauenburg, Medlenburg, Pommern,
Brandenburg, fein Bruder Friedrich und die „große“ oder „ſchwarze Garde”.
Diefe bildete in einer Stärfe von angeblih 15,000 Mann*) den Kern des
über 24,000 Mann zählenden Heered und bot durch ihre Kriegsbereitſchaft
und Gewohnheit des Waffenhandwerfs die befte Bürgfchaft des Gelingens.
Wie ſehr die verwegene Tapferkeit diefer wilden Schaaren auf der einen
Seite gefhäst, auf der andern gefürchtet wurde, das zeigt uns ein gleich
zeitiged Lied, das, im echten Volkston gehalten, durch Lebhaftigkeit und Kraft
der Darftellung alle ähnlichen übertrifft. Es wird von dem Chroniften, der
es überliefert (Hand Detlev Ditmarf. Hiftor. Relation, Hdſchr. d. Kieler Uni-
verfitätäbibl.), troß feines eptfchen Inhalt? als ein Tanzlied bezeichnet und
lautet in mögkihft getreuer Nachbildung etwa jo:
„Der König wohl zu dem Herzog ſprach:
Ad Bruder, herzlieber Bruder,
‚Ach Bruder, berzliebfter Bruder mein,
Wie wollen wir das beginnen,
Daß wir das freie, reiche Ditmarjchenland
Dhn’ unfern Schaden mögen gewinnen ?*
„Sobald die Garde diefe Mähre vernahm,
Sie rüftete fi) mächtig fehre,
Sie rüftete wohl fünfzehntaufend Mann,
Der Trommelfchläger der jchlug wohl an,
Sie zogen über die grüne Heide.“
„Dem König gefiel die Rede nicht wohl,
Er thät bald wieder fprechen:
„Sobald das Reinhold von Mailand **)
vernahm
Mit feinem langen, gelben Barte,
Da ſprach er: ‚Wollen machen einen
Boten bereit
Und ſchicken nad der großen Garde.
Bill uns die Garde Beiftand thun,
Ditmarfchen foll bald unfer mwerden.‘
„Und da die Garde zum König kam:
‚Ah König mein lieber Herre,
Wo liegt denn nun das Ditmarfchenland,
Im Himmel oder auf fchlichter Erde *
„8 ift nicht mit Ketten an den Himmel
gebunden ,
Es liegt wohl unten auf der Erde.“
”) Diefe Angabe, die fi in zwei alten Liedern findet, ift entfchieden übertrieben; vielleicht
bezeichnet fie die Gefammtjumme der Zuzüge.
Ich kann den Namen nicht weiter nachweifen.
Iren
208
„Der Gardeherr fprah mit Muthe ftark:
‚Ad König, mein lieber Herre,
Iſt es nicht gebunden an den Himmel hoch,
Ditmarschen foll unfer bald werden!“
„Er ließen die Trommeln fchlagen alsbald,
Die Fähnlein, die ließ er fliegen,
Damit zogen fie einen langen Weg,
Dis fie das Land zu Gefichte Friegen :
‚Ah Ländchen tief! Nun bin ich nicht
weit,
Du ſollſt nun mein bald werden.‘
Im Februar 1500 erfchien der König in Holftein und entſchloß fih
troß der naffen Jahreszeit zum fofortigen Aufbruh. Am 11., Dienitagd nad
Scholaſtiea, ward Alverddorp genommen, dad an der Dftmarf ded Nandes
auf der Geeft liegt, und von da ging's ſüdweſtwärts auf trodenen Geeftwegen
gegen MWindbergen. Was fliehen Eonnte, floh in die weitlichen Marfchen
wohin die Königlichen nicht zu folgen vermochten; die ftreitbare Mannſchaft
aber fammelte fih im Norden des Landes um ihre Banner. Sie aufzufuchen,
wandte fi der König von MWindbergen nordwärts gegen Meldorp, das nad)
furzem Gefecht am 13. genommen murde. Die Garde plünderte die Kirchen
und das Klofter und haufte graufam in der eroberten Stadt, in der eine
Beſatzung zurücgelafien wurde. Davon fingt da® mehrfach erwähnte größere
Ried wie folgt:
„Dranf zeigte fi der König auf der
Holften Erde
Mit großer Mannheit zu Fuß umd zu
Pferde,
Ausſtreckt er feine Flügel zu beiden Enden,
Gewappnet von Haupt zu Fuß und an
den Lenden.“
„Die erſte Nacht blieben fie zu Alvers—
dorp ftehen,
Da mollte ihnen niemand entgegengehen,
Der eine lief nad) Süden, der andre nad)
Norden,
Denn die Garde wollte fie alle morden. “
„Des Donnerftags zogen fie nach Mel-
dorp unverdroffen,
Da haben fie fih mit den Ditmarfchen
geſchoſſen;
Die Garde die war gar unverzagt,
Alſo daß die armen Leute von dem Ihren
wurden gejagt.“
„So find fie gezogen in Ditmarſchen um
verzagt,
Des Dienftags nad) Scholaftica der reinen
Magd,
Mit alfo grogem Schmude ohnemaßen;
Sie hatten das fo ausgemacht, fie wollten
niemand leben laſſen.“
„Des Mittwochs find fie gen Windbergen
gezogen,
Ale, die da waren, find raſch geflohen,
Ein jeglicher, wohin er fich mochte
jalvieren ;
Denn wie follten die armen Bauern
Krieg führen ?“
„Die Kranken, die da nicht laufen konnten,
Blinde, Bettlägrige, fie jagen oder jtunden,
Da wurde nichts gefchont, die Mutter
mit dem Rinde
Wurde gemordet gleich einem fetten Rinde.”
no
209
„So haben fie Meldorp eingenommen
Und auch die Kirchen zu ihrem Frommen
(Nuten) ,
Da haben fie die Hände zu brauchen
gewußt ,
Was in Kaften und Kiften war, hat
heraus gemußt.“
„Zur Stunde ward der Thurm mit
einem Zeichen gezieret,
Einem Kreuze, mit Gold und Perlen
ausftaffiret ,*)
Gleich jenem, zu dem Kaifer Conftantin
einft flehte,
Daß Gott ihm defto befjer Beijtand thäte.“
Bid Ende der Woche blieb der König in Meldorp ftehen, da fein Bruder
und andere zur größten Vorfiht mahnten.
Der Meiterweg führte über
Hemmingftedt nördlich auf Heide und Lunden dur die tiefe Marfh und
mar ohne landfundigen Führer nicht zu befchreiten, da die Gräben in Folge
des anhaltenden Regens übergetreten waren. Der Verräther, der fih vom
König bereit finden ließ, Scheint jener Carſten Holm gewefen zu fein, von
dem das nachfolgende Lied erzählt:
Carſten Holm der fam dazu:
„Mein lieber Herr Hans, wohin geht's nu?”
„Mein lieber Garten, wartet eine Weile,
Ich will euch geben das Schloß zu Tiele."**)
„Denn würden fie meiner hier gewahr,
Mein Leben hinge an einem Haar.“
„Seid morgen früh dort unſre Gäfte,
Ich will euch geben das allerbefte.“
„Und jtedet das ganze Dorf nur an,
Die Bauern liegen ſtark daran.”
„Mein Lieber Carften, ich Iob euer Wort
Id meine, es gehet nun bald fort.“
„Mein lieber Herr Hans, id) kann's nicht
nehmen,
Muß mid der Bauernart bequemen.“
„Aber auf der Heide nicht weit von hier,
Da mwohnet Peterd Hans mit mir.“
„Sch will euch ſchenken Meth und Wein,
Dann ziehen wir nad) Lunden hinein.“
„Und ftedet an das halbe Yand,
Das übrige geht euch wohl zur Hand.“
Das andere Lied meldet nur die Ausfendung des KHundfchafterd und
feine Gefangennahme durch die Ditmarfen, die von ihm des Königs Abfichten
erfubren:
„Des Sonnabendd ward ein Mann
ausgejandt,
Der war im Lande wohlbekannt,
Zu erjpähen den Weg nad Hemmingftedt,
Und wo es meiter nad) Heide geht.“
„O Leben Freunde laßt mich nur leben,
IH will's euch offen zu erfennen geben,
Es joll euch allzumal frommen und nügen,
*) Gemeint ift der Danebrog.
) Die Tielenburg an der Eider.
Grengboten IV. 1874.
„Derjelbige Mann der ward gefangen,
Sie wollten beides, ihn morden und hangen,
Griffen ihn bei den Haaren, beim Hals
und Sinne:
„Sag' uns, was hat der König im Sinne?“
So wahr ihr mir hier mein Leben wollt
friften.*
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1
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210
„Da hat er befannt und geftanden jofort, Heide und Lunden zu nehmen auf einen
Wie der König und Herzog fic gegeben Tag.
das Wort, Das ich in Wahrheit euch wohl melden mag.”
Da bielten die Ditmarfen einen Rath und befchloffen dem König ent:
gegen zu gehen. Vorher aber beichteten alle ihre Sünden, nahmen das heilige
Abendmahl und riefen die Hülfe des Himmels an. Ihre Fahne vertrauten
fie einer Jungfrau aus Hohnwörden, die das Gelübde der Keufchheit gethan
hatte, und wählten Wolf Iſebrand, einen ihrer Xelteften und Angefeheniten
im Lande, zum Führer. Diefer rieth ihnen, auf dem Dammmege füdlich vor
Hemmingftedt eine Schanze aufzumerfen und dort den König zu ermarten:
„Isbrand, das war ein frommer Mann, „Er gab dem Land eine weiſe Lehr‘
Der immer foll in Lobe ftahn. Zu Hemmingftedt vorm Süderthor:
„Legt euch) ein wenig hier unter den Damm,
Daß euch hier niemand ſchießen kann.“
Sie gruben fih in der Nacht vom Sonntag zu Montag an der fo
genannten Dufenddümwelämwarf ein und befegten die von Melvorp herführende
Straße mit Gefhüsen. Am 17. früh bet dunklem, regnichtem Wetter brach
der König von Meldorp auf. Das Heer näherte fich unter dem Getöfe der
Drommeten und PBaufen, das bis zum Himmel drang; es war mie der Volks—
dichter fagt, gleihfam ihr Schwanengefang. Boran zog die Garde, im der
Mitte die Fußfnehte, dann die Ritter und der Wagentrog. Man wollte
die Fleine Schaar mit Uebermacht umzingeln und zum Schlagen zwingen; die
dänifhen Schügen gedachten alle Ditmarfen zu tödten. Aber es war nit
Und leget die Speere nieder an die Erde,
Damit fie nicht gefehen werden.”
möglich die Schladhtordnung zu entfalten, denn:
„Der Weg war enge, fchlammig und
dredig,
Der Deich hoch, der Graben tief und
ſchlicig,
Regen, Schnee und Wind war ihnen
entgegen;
Da begann ſich bald bei allen die Furcht
zu regen.“
„Mariens Hülf, der werthen Gottes—
mutter,
Die ſie erbat bei Jeſu unſerm Bruder,
Auf ſie allein war ihr Verlaß,
Sie achteten alle nicht der Feinde Haß.“
„Auch haben ſie empfangen alle gemein
Den Leib Jeſu Chriſti in einer Hoſtie klein,
— —
Die Ditmarſen aber
EEE a die Wege gar wohl
fannten,
Beſſer ald die da waren aus fremden
Landen ;
Drum hatten fie auch fo viel befjern Muth
Und tröfteten ſich felber in ihrer Noth.“
„Die gewannen fie mit Faften und Beten
Und andern guten Werken, die fie thäten;
Daß fie würden befreiet von ihren
Schmerzen,
Haben fie gebeichtet von allen ihren Herzen.“
Daß ihnen ihr Gott fo viel guädiger fein
wollte
Und fie von ihren Feinden erretten follte.“
— ⸗— ——e
“u m
211
„Eine reine Jungfrau bei ihnen war, Die führte ihr Banner auf allen Wegen,
Die brachte da8 Gelübde der Keufchheit dar, Daß fie ihnen möchte behalten Gottes
Segen.“
Als die Garden heranzogen, fingen die Gefchüge der Ditmarfen an zu
fpielen und beftrichen den Weg. Jene theilten ihre Spige und breiteten fich
mühſam rechts und link? von der Straße aus, während eine Abtheilung die
feindlihe Stellung weſtwärts gegen „tor Liet“ hin zu umgehen fuchte. Aber
in dem weichen, von Gräben durdhfchnittenen Boden konnten weder Mann-
haft noch Geſchütze fortlommen, und das Waſſer ſchwoll durch Deffnen der
Schleufen immer verderblicher an. est brachen die Ditmarfen unter Wolf
Iſebrands Führung hervor und fielen auf gewohnten Terrain mit leichter
Beweglichkeit die unbehülflihe Maffe an. Die Garde focht ihrem Rufe ent-
ſprechend und ſchlug den erften Ausfall zurück. Beim zweiten Fam fie ind
Weichen und verwirrte ih, da die Ritter von hinten nicht Hülfe bringen
konnten, in einen dichten Knäuel, in welchem die langen Spieße und Pieken
der Ditmarfen aufs graufamfte mütheten. Junker Thomad ward im Ge-
tümmel vom Pferde geriffen und, mie es heißt, durch Fußtritte erftict.*)
Nachdem fie mit der Garde fertig waren, machten fich die grimmigen Feinde
an die holfteinfchen, friefifhen und dänifchen Fußknechte, mit denen fie leichtere
Arbeit hatten. Jetzt wandte fi ſchon alles zur Flucht, auch die Ritter ver-
mochten trotz mannhaften Widerftandes der Niederlage nicht Einhalt zu thun.
Diefe mußte unter den vorhandenen Umftänden verderblich werden. Mas
nicht niedergemacht wurde, ertranf in den übergetretenen Gräben oder erftickte
im Schlamm. Der König felbft und der Herzog entkamen mit Noth, die
Didenburger Grafen und jener Hand von Ahlefeld fielen tapfer Fämpfend an
der Spige der Ritterfchaft. Weber eine Meile ging die Verfolgung. Der
ganze Troß blieb den Siegern ald Beute, dazu die dänifche Fahne, der Heilige
Danebrog.
Den Verlauf der Schlacht jhildert ein andered Lied, das angeblich von
einem Prieſter berrührt,**) folgendermaßen:
„Die Ditmarfen hatten ihre Büchfen geftelt „Die Garde fam vorgedrungen zur Zeit,
Sie fhoffen zu ihnen hinaus ins Feld Sie zogen ſich weſtwärts gegen „tor Liet“,
Mit einem freien Muthe. Sie wollten da8 Gut verderben.
Deß erſchraken fi die Edlen gar jehr, Sie ſchrien: „Wohlan, ihr ftolzen Bauern,
Es lamen ihrer fo viel zu Tode.“ Ihr müßt noch alle vor Abend ſterben!“
*) So der Ehronift Neocorus; vergl. das unten angef. Lied.
») Der Ehronift bemerft dazu: auctor fuit presbyter quidam. Priefter waren vielleicht
öfter die Berfaffer von dergleichen Liedern. So haben wir noch eines über die Schlacht bei
Hemmingftebt, welches ähnlich wie dad der Berliner Handichr. an die Schlacht von 1404 ans
nüpft und fih dann im Preife Gotted und des Notbhelfers Chrifti ergeht. Es zeichnet fich
weniger durch Energie der Darftellung ald durch glatte Verfification aus. Jenes oben erwähnte:
„der König wohl zu dem Herzog ſprach“ ift gewiß nicht von einem Prieſter.
212
Die Ditmarfen aber riefen in diefer Noth:
„Nun hilf, Maria, du reine Magd,
Wir loben dich mit ganzem Bertrauen:
Behalten wir heute die Ueberhand,
Ein Klofter woll’n wir dir bauen!“
„Ein Crucifir hatten fie mitgebracht ,
Davor die Garde fich fehr erichraf;
In kurzer Stunde Dauer
„Damit fo liefen fie aus ihrer Hut,
Recht mie der grimme Löwe thut,
Dem feine Jungen find genommen,
Durd; die Hülfe Gottes, des ftarfen Gottes,
Sind fie über die Garde gefommen.”
Blieben fiebentaufend von ihnen tobt. |
Das that Gott durch ditmarfche Bauern.“ |
Als fie mit der Garde fertig waren:
„Da riefen die Ditmarfchen in hohem
Muth:
‚Wohlan, ihr Helden, es will werden gut,
Seht jetzt an die Kriegesknechte!
Holften, riefen und Dänen mwollen wir
Todtſchlagen alle nad) Rechte.‘
„König Hans zu Herzog Friedrich ſprach:
‚Herr Gott, wie kämen wir in dies Un-
gemad) ?
Herr Hans, das thäteft du dir bräuen.
Behalten die Ditmarfen die Ueberhand,
Es wird und wahrlich reuen.“
„Die Ditmarjhen kamen herzu gedrungen,
Mit Pielen und Schwertern fie da rungen
Alle auf einem Heinen Felde.
„Sie jhlugen da manchen Kriegsmann todt,
Holften, Friefen, Dänen kamen in große
Noth,
Der Adel begann zu meiden.
Es blieben ihrer fo viel auf dem Plap,
Sie lagen im Schlid als Leihen.“
„Da rief auch einer von Ahlefeld :
‚Herr König, das ift nicht wohlbeftellt,
Laßt und nur bald umfehren !‘
Sie zogen ſich wieder ein wenig zurüd,
Da kamen fie ſchon mit ihren Speeren.
Da ward der Adel niedergejchlagen,
Das thäten die Ditmarjchen Helden.”
Der Tod des Junkers Slenz wird, etwas abmeichend von der Angabe
des Chroniiten, fo erzählt:
„Er hatte einen Harnifch über den Leib
gezogen,
Der ſchien von Golde fo roth;
Darüber war ein Panzer gefchlagen,
Darauf thät er fi verlaffen.“
„Den Landsmann ein andrer zu Hülfe
fanı,
Den Speer wollten fie wiederholen.
Der Gardherr war ftark, drei hatten
voll Werk,
„Indem fo fprang ein Landsmann herzu
Mit feinem langen Speer;
Er ftah fo ſtark, daß ein krummer
Halen ward,
Der bing in dem Panzer fo ſchwer.“
Eh’ fie ihn konnten wiedergemwinnn.
Sie zogen ihm nieder mit Sattel und
Roß
Wohl in den tiefen Graben.“
Ein fpäterer, wohl unechter Zufas nennt auch den Namen ded „Lande
manns“, der den ftarfen Junker vom Pferde rip:
—
213
„Der ung den großen Gardherrn erſchlug, Des hätt der große Reimer von Wimer—
Das will ich euch wohl fagen, ftedt gethan
Mit feinen langen, gelben, fraufen Haaren.‘
Diefer will auch der Dichter jenes Tanzliedes jein, aus dem die zuleßt
angeführten Strophen entnommen find.
Merfwürdig it eine Angabe, die fih in zwei Liedern findet, in dem eben
genannten und nod) einem andern, ald ob audy der König unter den Gefallenen
gewefen wäre. Dort heißt e®:
‚Da ward auch der Holjten König erfchlagen
Dit feinem ganzen großen Heere.
Da lag nun fein Pferd, da lag aud
fein Schwert,
Dazu die fönigliche Krone.
Die Krone die fol und Maria tragen
Zu Alen wohl in dem Dome.“
Das andere Lied ſpricht von der Königin:
„Da das die Königin ward gewahr, ‚Die Ditmarfen haben ihn todt geichlagen,
Da meinte fie alfo jehre: Wir fonnten ed nicht wehren;
Seid ihr Knechte nun nad) Haufe ge- Sie tragen feinen Helm, fie führen feinen
fommen , Schild,
Bo habt ihr gelaſſen euren Herren ?“ Dazu feine ftolzen Paniere.‘
Da diefe Strophen fih faum anders deuten Laffen*), jo müſſen wir an-
nehmen, daß nad) der Schlacht ein falfched Gerücht von dem Tode ded Könige
fih verbreitet und im Volksgeſange Aufnahme gefunden hat, ohne daß man
8 fpäter für nöthig hielt, den Irrthum wieder audzjumerzen.
Noch während der Schlaht machte ſich die Mannſchaft ded Süderſtrandes
gegen Meldorp auf, um die Eönigliche Beſatzung dafelbjt aufzuheben:
Fünfhundert waren in Dieldorp geblieben, „Der Süderftrandmann kam gedrungen
Denen hatte der König die Macht gegeben, mit Macht,
Daß fie ihm die Stadt bewahrten. Pieken, Büchſen und Schwerter hatt’ er
Da fie diefe große Noth vernahmen, mitgebracht,
Bie ſchnell fie zur Flucht fich fehrten.“ Im Meldorp find fie eingedrungen.
Da haben fie alles todt gefchlagen,
Was fie noch haben gefunden.‘
„Wären fie zwei Stunden eher gekommen, Den König und den Herzog mit allenı
Sie hätten’8 gethan zu großem Frommen, Bolt,
Die ih fürmahr mag jagen: Die hätte man da erfchlagen.”
Hiernach fcheint es, daß fie die Abficht hatten, dem gefchlagenen Heere
dei Meldorp den Nückzug zu verlegen, aber zu fpät dazu famen. Dafür fiek
die fämmtliche Bagage mit vielen Schäen und reihen Worräthen in die
Dände der Sieger, wovon das Volkslied fpottweife fingt:
*) Berl. v. Rilieneron zu diefer Strophe, a. a. D. ©. 454,
214
„Sie gingen ein wenig zwifchen die Wagen,
Da fanden fie Gefotten und Gebraten.“
„Saget dem König gute Nacht;
Er hat und gebratene Hühner gebracht.“
„Öreift munter zu ihr Lieben Gäfte!
Das giebt ung König Hans zum Beften.*
„Seftern waren fie no alle im Glüd,
Jetzt fteden fie hier in dem Sclid.*
„Seftern wollten fie noch hoch hinaus,
Jetzt baden ihnen die Naben die Augen aus,“ —
Eine Fortfegung des Krieges erſchien nach folher Niederlage kaum mehr
möglih. Wenn e8 auch der König wohl wünfchte, der Holfteinfche Adel und
feine übrigen Verbündeten meigerten fi, ein neues Heer aufzubringen.
Durh Hamburgs und Lübecks Bermittelung fam am 15. Mat ein Friede zu
Stande, in welchem König Johann feine Anfprühe aufgab und die Selb-
ftändigfeit der Ditmarfen anerkannte.
und ſprach mit dem Dichter:
„Nun ift es geſchehn durch Gottes Gunft;
Und ftänd e8 noch fo ſchlimm mit uns,
Ein jedermann foll auf ihn felber vertrau’n,
So darf ung vor dem Tode nimmer grau’n.“
„Wer lann die Gerichte Gottes ermeffen!
Hätt' erTaud alle Bücher geleſen,
Wollt’ er auch alle Berge erfteigen,
Er vermöcht' fie doch nimmer zu be
ſchreiben!
Das Volk aber gab Gott die Ehre
„Auch darf ſich niemand feiner Stärke loben.
Menn Gott ftredt feine Hand von oben,
Und trüge er auch Königskrone,
Er wird zerrieben wie eine Bohne,“
„Lobt Gott und Marien, die fitr euch haben
geftritten,
Daß ihr dies alles mögt in Frieden be—
figen,
Und leget Gott alle Zeit bei die Chr",
Denn von eurer Macht gefchah e8 nimmer»
mebr.“
Auch waren fie fich der Gefahr bewußt, die ihnen immerwährend noch
drohte und die faft 60 Jahre fpäter, nach erneutem heldenmüthigen Ringen,
ihrer Wreiheit ein Ende machen follte. Faſt wie eine Vorahnung dei
fommenden Unheil® klingt e8 in folgenden Strophen:
„Wollet euch auch nicht zu jehr überheben,
Denn durch Mariens Fürbitte oben
Iſt euch diefe Victoria gejchehen.
Vielleicht möchtet ihr euch noch wohl ver:
ſehen.“
„Ach Gott, wie wandelbar iſt unſre Zeit!
Wenn wir Frieden meinen, ſo haben wir
Streit.
„Wollet euch auch nicht immer Gelingen
verſprechen.
Vielleicht denken jene es noch zu rächen,
Die nun ſind oder die noch geboren
werden;
Das Rad kann ſich auch einmal umlehren.
Aber wenn du nur unſer Schifflein willſt
leiten,
Und wir uns brüderlich lieben zu allen
Zeiten !"
215
Serbfliage in Schwaben.
2
(Hobenneuffen. Urach. Eningen. Die Ahalm. Lichtenftein. Reutlingen.
Der Hohenzollern. Die Schwarzwaldbäder. Hirjau.)
Bon Friedrih Nampert.
Es war gut, daß bier und da ein ſchwarzrother MWegzeiger land, daß
wir von den Kindern, die unter den Bäumen fpielten oder von dem Roftillen,
kt gerade vor dem Wirthshaus feinen Schoppen trank, die unverfennbaren
giſchlaute Schwäbischen Idioms hörten, ſonſt hätte ih wirklich glauben
fönnen, ich manderte nicht zmwifchen gut würtembergifchen Kirfch- und Uepfel-
bäumen, fondern an den Ufern des Bierwaldftätterfeed zwiſchen Gerjau,
Brunnen und Bedenrieth, fo wunderbare Aehnlichkeit mit diefem TLieblichen
Grdenwinfel hat das Lenninger Thal. Das Auge hat gerade fo viel, ald es,
ohne ſich anzuftrengen, braucht, es faßt immer die Schönheit des ganzen
Thales mit Einem Blick zufammen: die fanft abfallenden, reich mit Wäldern
und aus deren Dunkel malerifch vorfcheinenden weißen Kalkfelſen geſchmückten
Berge hüben und drüben und in der Mitte das Obftbaumbeer, das mit
zwingender Gewalt den ganzen Thalgrund befegt Hält. Kaum läßt es die
Ihmale Straße durch, gefchweige, daß es viel anderer Pflanzung Raum giebt.
Aber die menſchlichen Wohnungen hat es doch nicht ganz verdrängt, nur daß
diefe fi auch dem malerifchen Charakter des Ganzen willig einordnen und
jedes Gehöfte uns faft mie eine bäuerliche Villa, von Bäumen und Blumen
umgrünt und umblüht, erfcheint. Und damit auch die eigentliche Romantik
zu ihrem Rechte fommt, fo fehlt's auch Hier an Burgen und Ruinen nicht.
Da ftehen die abgebrochenen Mauern der „Salzburg“ auf dem grünen Hügel
mitten im Thal, dort det fi der „Räuber* mit Tannendunfel und hier
wäht eine prächtige Baumgruppe mitten au8 den Trümmern des „Wieland-
feines” heraus,
So geht? im Tieblichiten MWechfel ftundenlang fort, bis dad Dorf Gutten—
berg, überragt von dem mie ein Schwalbenneft am Bergrand hängenden Hof
Krebftein, den ſüdlichen Thalfhluß bildet. Uber reizender noch als diefeg,
verbirgt fich auf ſchwellenden Matten, im dichteften Obftbaumverftel, im
eigentlichſten äußerſten Thalwinkel, der Weiler Schlattjtadt. Die Welt ift
wieder einmal mit Brettern verfchlagen. Im fühlen Grunde geht ein
Mühlenrad. Kein weiterer, nur der Rückweg feheint mehr aus ihm möglich.
Da tönt über und Wagengerafjel? Wo kommt da8 her? Die Zweige der
nähften Bäume biegen ſich auseinander und erftaunt fehen mir eine breite,
fühn gebaute Straße, eine „Steig”, wie diefe aus den Thälern zur Albhöhe
216
ſich hebenden Chauffeen heißen, den Berg hinan ſich winden. Aber Faum
find wir ihr gefolgt, fo dünft und wieder, als fei es unmöglih, daß fie an
der Felswand meiter Elimmen könne. Uber immer findet fie den Ausweg,
in mädtigen Stüden ift der Berg abgefprengt, tief hinabgehende® Mauer:
werk ftüßt fie auf der anderen Geite. Immer höher hebt fie fich empor,
Thon erfcheint und das im Thal Liegende verfchwindend Elein, endlich iſt aud
das letzte Haus desfelben dem Auge entzogen. Diefed erquidt fih nur nod
an dem tief gejättigten Grün der Buchen und Tannen, die ihre Wurzeln in
den jähen Hang gefchlagen haben und deren Spisen dad Straßengelände
ſaäumen. Anderthalb Stunden waren wir auf diefem Wege, der fich wirklich
einer Alpenftraße zur Seite ftellen könnte, emporgeftiegen, da endete er oben
jo überrafchend, wie er angefangen. Wie durch ein Waldthürlein waren wir
auf die Hochebene herausgetreten; — da war plößlich verſchwunden, wie durch
ein netdifche® Zauberwort all die Herrlichkeit Hinter und zugefchloffen, die ung
eben no in Wie und Wald, Baum und Flur umfangen. Und wir hatten
die Formel vergefjen, die und die Pforte dazu noch einmal hätte öffnen
fönnen.
Die ganze Umgebung war verändert. Cine weite Fläche umgab und.
Die Felder fehienen fteinig und unfrudtbar, eine ftaubige, ſchlechte Straße
zog langmeilig vor und ber. Kein Baum gab Schatten gegen die immer
noch warm herabfcheinende Nachmittagsfonne, Fein Menſch begegnete uns.
Nichts war, auf dem dad Auge hätte befriedigt ausruhen können, höchitens
das ungefähr eine halbe Stunde noch entfernt vor und liegende Dorf und
das kleine Wäldchen dahinten gab einen folcyen Ruhepunkt ab. Aehnliches
fiedt man auf dem Hodplateau der fränkifchen Schweiz. Dort geht man
aud auf uninterefjanter Fläche, ohne etwas von den Weizen zu ahnen, die
vieleicht nur wenige Schritte feitwärte, ein paar hundert Fuß tiefer, im den
Thälern fih jammeln, wo die ganze Signatur der Landſchaft nachzuholen
ſcheint, was hier oben verfäumt if. Nur ift dort infofern noch etwas mehr
Abwechslung, ala die Hochebenen der fränkischen Schweiz felfige Hügel be
decken, die fi fogar an einzelnen Stellen zu höheren Maſſen aufthürmen.
Hier taucht nur da und dort einmal ein weißer Kalkiteinblod etwas vorlaut
oder verfhämt am Rand des Gefichtöfelded auf, der der Thalwand angehört,
die fi dort zum lieblichen Wiefengrund niederjenft. Wie gefagt, jest ging's
eben fort, gerade auf jened Dorf zu, das Grabenftetten heißt. Ein „Heiden-
graben“ fol in feiner Nähe fein, eine römische Verſchanzung, die unter den
Karolingern zur Begrenzung eines Thiergartend gedient haben joll, allein die
Mittagsfonne hatte und jegliche archäologiſche Stimmung audgetrodnet ; viel-
mehr verfpürten wir etwas — vgl. V. Scheffel — von der Hildebrand- und
Hadubrand’ihen Sehnjuht nah einem „Wirthshaus mit Fühlen Bieren“.
1
217
Und wir fanden, was wir fuchten. Cine Schaar junger Mädchen und Kinder
fa, Hopfen zu blatten, vor dem Haufe Der mwürzige Duft drang zum
offenen enfter herein. Rang war die Raft nit. Die Sonne war fchon
tief gefunfen. Aber in wahrhaft blendendem Glanze ftrahlte fie noch um das
alte Bergſchloß Hohenneuffen, das nach einer halben Stunde vor und
lag. Allein dies felbit noch zu betreten, dazu war es zu fpät. Nachts foll
man ſchlummernde Burggeifter nicht weden. Und foldhe treiben gewiß auch
auf dem Hohenneuffen ihr Wefen, und wenn's der Geift jenes pflichtgetreuen
Hauptmannd wäre, der, ala auf der Burg noch Garnifon lag, die inhalt:
Ihwere Meldung machte, auf Höchftdero Feſtung Neuffen ift nichts Neues
vorgefallen.. „ „Gottlob, wenn nur nichtd Altes eingefallen iſt““, antwortete
der Herzog. Heut aber fünnte Sein Liebden doch manches eingefallen finden,
denn, wenn auch Hohenneuffen jest noch das beiterhaltene und ftattlichite
Bergſchloß ganz MWürtembergs ift, fo find doch auch feine mächtigen Ge-
mwölbe und Kafematten vom Zahn der Zeit nicht unberührt geblieben. Durch
Rebengärten ftiegen wir am Abend zum ftillen Städtchen, das am Fuß des
Schloßberges liegt, hinab, und andern Morgens wieder zur Burg hinan.
Dann tritt Wald an deren Stelle, und zwar hodhftämmiger, reichbelaubter
Wald. Er mag fhon fo ſchön und laufchig gemefen fein zu Gottfried von
Neuffen's Zeit, des ritterlichen Minnefängers, der, wie feine ganze Sippe, der
Hobenftaufen treuer Freund und Kriegsgenoſſe, fo frühlingswarm und finder-
froh, bald von Anger, Blüthen, Wald und MWiefe, bald von feiner Frauen
roſenrothem Mund gefungen hat. Nun haben die Waldvögelein die Mufifanten-
tolle auf Hohenneuffen übernommen, allein jest natürlih, mo ſchon manch
toth und gelbes Blatt fih in den Waldſchmuck gemifcht hatte, waren aud)
fie verftummt.
Der Blick von Hohenneuffen gleicht dem, über den die andern Albberge
gebieten. Es muß ja nothmwendig immer diefelbe Landſchaft fein, die das
Auge überfliegt; nur daß ihm von der einen oder der andern Höhe der oder
jener Punkt mehr in den Vordergrund gerückt erfcheint oder die verfchieden-
artige Beleuchtung auch verfchiedene Bilder vorführt.
Mieder kamen ein paar reizlofe Wegftunden, wir gingen eben wieder auf
der Hochebene. Nur Hohenneuffen bot einen prächtigen Rüdblid. Als ob
ihm dieſes Stück Welt ringsum ganz allein gehörte, fo ftol; und gebietend
lag das alte Schloß da. Dann war es auch verſchwunden. An einem
Waldfaum hatten und ortöfundige Leute einen fchmalen Pfad mitten ind
Didicht hinein gezeigt. Er führte jäh abſchüſſig hinab. Allein ed war der
rechte; denn er brachte und mitten hinein ind ſchönſte und Tieblichite aller
Albthäler , ind Urachthal, neben dem felbft das Renninger bei Manchem den
Kürzern ziehen mag. Es vereinigt faft mehr noch als diejes alle Neize der
Grenzboten IV. 1874. 28
—
218
Albnatur in größter Fülle und Vollſtändigkeit in ſich. Die Buchenwälder
bedecken wieder feine Berghänge, die Kirſchen-, Zwetſchken-, Aepfel- und Nuß—
bäume in ungeordneten Schaaren ſeinen Wieſengrund.
Blendendes Linnen glänzt auf dem Wieſengrund, die altberühmte Uracher
Bleiche. Die Erms rauſcht zwiſchen durch, forellenreich, wie alle dieſe Bäche.
Folgt man ihr aufwärts, fo wird das Thal wilder, felfiger, enger; es geht
wieder der Hochebene, und zwar Münfingen, dem würtembergifchen Sibirien
zu. Urach dagegen liegt noch in voller, miederum faft füdlicher Pradt.
Kaum finden wir feine Häufer aus dem Obſtbaumdickicht heraus. Cie zeigen
zum Theil altertbümliche Formen, hohe Giebel, fpise Dächer, ſchlanke Thürme.
Auf dem Markte fteht ein prächtiger gothifcher Brunnen, in der Meife des
Ulmer Fiſchkaſtens. Unweit feiner ſchlingt fih Epheu um ein altes, noch
halb hölzernes Gebäude. Es iſt Eberhard’, des Grafen im Bart, Schloß.
Sein Wahlſpruch attempto, d. h. tento, ich wag's und der Palmbaum des
wallfahrenden Helden ift im Portal farbig eingezeichnet. Urach war fein
Rieblingsaufenthalt. Im großen, zierlih gemalten Ritterfaal des Schloſſes
feierte er feine Hochzeit mit einer mantuanifchen Prinzeffin. 14,000 Berfonen
tafelten dabei und der Wein floß ihnen aus einem Brunnen unmittelbar in
den Becher. In einem andern Gemach fieht man Eberhard's Brautbett und
in der Stadtkirche feinen ſchön geſchnitzten Betſtuhl. Des Fürſten Jugend:
leben war bekanntlich nicht jledenlod. Dad Urach nahe liegende Klofter
Güterftein mag zu feiner ſpätern Sinnedänderung viel beigetragen haben,
wenigſtens ftand ihm defjen Prior, „der alte Water“, fehr nahe, und ale die
Reue ihn nach dem heiligen Grabe trieb, legte er bei jenem fein Teftament
nieder und empfing Enieend feinen Segen. Auch auf Hohenurachs waldſtille
Trümmer gehen die Erinnerungen an Eberhard mit hinauf. Doch da find
fie düfterer Art. Auf diefe Bergveſte hatte er feinen wahnfinnigen Bruder
Heinrich gelodt, um ihn bi® zu feinem Tod gefangen zu halten. Ein eiferner
Ring hielt den Unglüdlichen an die Kerkermauer gefchmiedet. Aber doc fiel
ihm ein Sonnenftrahl in diefe Nacht. Sein treue® Weib war ihm in die
wilde Bergeinfamfeit gefolgt und gebar ihm dort fogar nod einen Sohn,
der der Stammvater der jebigen Könige von Mürtemberg geworden. Auf
Hohenurach mehte lange Zeit Kerferluft. Auch den Dichter Nicodemus Friſchlin
hatten die „Hofteufel*,, der Adel, eiferfüchtige Mitlehrer und die Fürften-
diener, „die der Könige lange Hand gebrauchen”, hierher gebracht. Won der
jäh abfallenden Felſenkante wollte er fih binablaffen und die Freiheit fuchen.
Das Seil ri, man hob einen jämmerlich zerfchellten Leichnam auf, um ibm
dann doch ein ehrlich Begräbniß zu geben.
Bon den Mauern und Wohnräumen, die von all dem Zeugen gemefen,
fteht wenig mehr, aber die Refte zeugen von einftiger Feftigfeit und Schönheit.
— — — —
219
Reizend iſt der Blick auf das Städtchen im Thal, beſchränkter der in die
fernere Landſchaft; zwei Bergſäulen ſchließen dieſe gleichſam ab; nur mit
einem ganz kleinen Abſchnitt, mit dem Schloß Hohenheim und den frucht—
baren Bergebenen von Stuttgart im Hintergrund, lugt ſie zwiſchen jenen
herein. Waldeinſamkeit herrſcht auf Hohenurach, auch in ſeiner nächſten
Umgebung. beim Brühlbach-Waſſerfall. Sein Rauſchen tönt bis zum Schloß
herauf.” Er iſt der einzige der Alb, Feiner von den vielgenannten, welt:
berühmten, wie fie in Tyrol, der Schweiz oder fonft „in den Bergen“ zu
Dugenden ftäuben und ſprühen. Aber es ift immerhin ein anmuthig Bild:
de „ſchöne Wieſe“, ein ftiller abgefchiedener Waldplatz, an defjen Rand der
Rafferbogen hervorfpringt und fi über den Zuffitein fenfrecht niedermwirft,
dihtverfchlungene, ihre Zweige tief herabhängende Bäume, die fi in der
Haren Fluth fpiegeln und drunten wieder dag ruhige Bächlein, das des ftür-
miſchen Anlauf und Falles ganz vergeffend, ftil und platt durch dag einfame
Waldthal meiterfließt.
Die freundliche Wirthin in der Poſt zu Urach hatte Recht gehabt, ale
fie und mahnte, wollten wir anders jenen hoch zu rühmenden Gafthof nicht
zum Nachtquartier machen, mit dem Aufbruch nicht zu fäumen. Noch war
eben die Sonne, die hohen Stämme vergoldend und durd dad Neb der
grünen Zmeige glänzende Lichtfäden webend, hinter dem Tannenwald geftan-
den: da war fie bei unferm Austritt aus ihm ſchon untergegangen. Auch die
Dämmerung hält an ſolchen Herbitabenden, fo [hön und duftig fie auch find,
nit lange vor. Es war volle Nacht, ald mir wieder fo eine Treppe gleihfam,
mie fie die Hochflächen der Alb mit den zwijchen ihren Steilrändern geborgenen
Thälern verbinden, die „neue Eninger Steige“, hinabftiegen. Aber die Sterne
leushteten hell und aus dem Thal herauf glänzten die Lichter des größten
und ſchönſten Dorfes Würtembergd. Das it Eningen.
Wenn der Eninger Kongreß ftattfindet, d. b. wenn an Safobi und Weib:
nachten jeden Jahres die das ganze deutſche und außerdeutiche Land durch—
jiehenden Spitzen-Galanteriewaaren- und ſonſtigen Eninger Krämer auf ein
paar Tage zur Heimath und zum „Geſchäft“ mit den Reifenden und Agenten
aus aller Herren Ländern kommen, dann geht's in den faubern, ftattlichen
Straßen fo lebhaft zu, wie auf einem Stapelplag der großen Welt. Dann
ta wohl auch im Gaſthof des Heren Bazler etwas lauter und Iebendiger,
ald wir ed an diefem Abend fanden, wo wir die einzigen „Fremden“ waren.
‚Een Sie gern Suppe“ bob Herr Bazler an, „eflen Sie gern Forellen, Kar:
pien, Krebfe?* und fo fuhr er fort, ſich und und dur Fiſch, Fleiſch, Braten,
Mehlſpeiſen, Obft, Wein und Bier durchzufragen, daß e8 ung ganz feltfam
u Muth ward ob dieſes Reichthums einer Dorfmwirthähausfpeifefarte. Das
Näthfel löfte ſich. Herr Bazler hatte, Tags zuvor eine große Hochzeit aud-
e !.
220
gerichtet und da hatten die biedern Schwaben doch noch einige beaux restes
zu Nug und Frommen bungriger Wanderer übrig gelaffen.
Zur befjern Würdigung feined Kaffees hatte und unfer vorforglicer
Wirth, ald er die Lichter in unferm auch mit allem, fonft „auf dem Land“
ungewöhnlichen Comfort außgeftatteten Schlafgemach entzündete, einen vor:
bereitenden Spaziergang auf die Achalm angerathen. Nur in dunklen Um-
riffen hatten wir ded Nachts den einzeln auffteigenden, fich faft zierlich zu
ipigenden Berg gejehen. Seine ifolirte Lage macht feine Ausſicht umfafjender
und eigenartiger, ald die von der Ted und Hohenneuffen. Der Kreis von
Bergen, der und rings umgiebt, dort die um das Honauer Thal mit dem
Schwalbennejtchen Kichtenftein im Hintergrund, hier die fagenreichen Pfulinger
Höhen, und oftwärtd die ganze, bi zum Staufen wie im Reih und Glied
aufgeftellte Alb, zu Füßen mit dem Dorf Eningen die Städte Reutlingen
und Pfullingen, in der Ferne dad Tübinger Schloß und die unendliche Weite
des „Gäus“ bis zum Schwarzwald — dad alled zufammen lohnte reichlich
den etwas mühlamen Aufſteig. Die Phantafie mag fih dad Schloß auf-
bauen, defjen Gründer ihm feinen Namen gegeben, al fein Pfeil den Ketten
des von ihm befiegten Gefchleht3 im Angeficht feines brennenden Haufes zu
Tode traf und diefer noch zum Allmächtigen einen legten Seufzer empor-
ſchicken wollte, ihm aber dad Wort auf den Rippen erftarb und nur fein
Anfang: „Ah allm“ — die Taufe der neu erbauten Burg murde, Seht
liegt auch diefe fhon wieder in Trümmern, denn der hohe Thurm, der meit-
bin die Achalm fihtbar und Eenntlih macht, iſt ein Bauwerk neuerer Zeit.
In Eningen läuteten die Morgengloden, ald wir den Kaffee getrunfen
hatten und den offenen Wagen beftiegen, in dem Herr Bazler's Geipann und
das Honauer Thal hinauf an den Fuß des Kichtenftein bringen ſollte. Nur
an den Fuß, höchſtens vor dad Burgthor, weiter nicht, das hatte man und
in Eningen gefagt und fagte man und nun auch im Wirthshaus von Ober:
haufen wieder. Die Frau Herzogin von Urach geborne Prinzeſſin von
Monaco, die Schloffrau vom Kichtenftein, referirte die gefprächige Yrau
MWirtbin, fei auf der Burg anmwefend und da merde feiner, auch nicht der
beftempfohlene und am meiteften herfommende Reiſende hineingelaffen. Mein
ungläubiges Lächeln fohien die Frau zu verdrießen. „Schie werde fcho jehe“,
rief fie mir fpöttifh nah, ald ich) den Pfad mwaldein- und bergaufmärts
einſchlug.
Wollte doch ſehen, ob das Zauberſchlößchen wirklich jo unnahbar fei.
Der Bewohner von Lichtenſtein fährt, wenn er Luſt hat, aber dann mit
Vieren, den Berg hinauf, andere Leute gehen zu Fuß und werden etwas
warm und müde dabei, denn nicht nach 18, wie höchſt betrügeriſch das Reife
—
221
handbuch ſagte, ſondern erſt nach wohlgezählten 48 Minuten, ſtand ich
da, wo
„aus einem tiefen grünen Thal
Aufſteigt ein Fels als wie ein Strahl,
Drauf ſchaut das Schlößchen Lichtenſtein
Vergnüglich in die Welt hinein.“
So fingt Guſtav Schwab und Hauff ſchildert in feiner vielbekannten Er—
zählung, bei der dad Schlößlein Pathenſtelle vertreten: „wie ein koloſſaler
Münſterthurm fteigt aus dem tiefen Albthal ein fchöner Felfen frei und kühn
empor. Weitab liegt alles feite Rand, ala hätte ihn der Blitz von der Erde
weggelpalten, ein Erdbeben ihn loögetrennt, oder eine Wafferfluth vor ur-
alten Zeiten das wmeichere Erdreih ringdum von feinen feiten Steinmaffen
abgejpült. Selbft an der Seite von Südweſt, wo er dem übrigen Gebirge
ih nähert, klafft eine tiefe Spalte binlänglicy weit, um auch den Fühnften
Sprung einer Gemje unmöglich zu machen, doch nicht fo breit, daß nicht die
erfinderifche Kunft des Menfchen durch eine Brüde die getrennten Theile ver-
einigen konnte.“ Aber von alledem ſah ich nichts. Unten im Thal hatte
ih den „Belfenftrahl*, den „Münſterthurm“ wohl auffteigen fehen, aber nun,
da ich oben auf dem Plateau war, war er mir rein entſchwunden. ch fand
nichts, ala ein Jägerhaus, ſchöne Parkanlagen, einen Felfenvorjprung, auf dem
eine Buͤſte Hauff's, des Hiftoriographen des Kichtenftein, in das Thal hinunter-
haut. und ein feftverfhloffenede Thor. Hinter dem mußte alfo erft das
Schlößchen ſtecken, innerhalb diejes erſt die „Spalte zu finden fein, über die
feine Gemfe hinwegſetzen kann“, aber die auf allen Bildern Kichtenfteind zu
fehende Zugbrüde hinüberführt. Aber über dem Thor ſtand wirklich flar und
mit großen Buchftaben zu leſen: „Verbotener Gingang“. Sa, und dazu hatte
der Verwalter, der drüben im Jägerhaus mit mir gefrühftüdt hatte, gejagt:
‚Die Frau Herzogin wünſchen ungeftört zu fein.“ Aber eine Niederlage
meined® Touriftenbemußtfeind, ein unausgefülltes Blatt in meinem Reife
feuilleton, eine Lücke in diefen Skizzen, konnte auch die ruhebedürftigite
Herzogin nicht verantworten. Das mußte ihr Elar geworden fein, denn als—
bald kam der Major Domud, dem ich meine Karte übergeben und der fie
ſehr bedenklih in Empfang genommen hatte, mit der fehr freundlichen Ein»
ladung der Burgfrau zum Eintritt und zur flüchtigen Beſichtigung zurüd.
So war der Bann gebrochen, ich ging durch den mohlgepflegten, blumenreichen
Borhof, und ftand nun erit vor dem eigentlichen Kichtenftein. Wie ein echtes
und rechte in die höchften Wipfel einer Eiche gebauted Neft ſchwebt das
Sch lößchen über der ſchwindelnd tiefen Kluft. Nur ein Genie, wie Heideloff,
fonnte dad Magniß unternehmen, einer folhen Welfennadel eine ganze, bei
aller fcheinbaren Kleinheit außerordentlich geräumige Ritterburg reinften Style
222
aufzuoceuliren. Lichtenftein hatte bekanntlich einft feine „berühmte“ Zeit, we
in der Trinfhalle mit ihrem Halbdunfel der gemalten Yenfter, den alten
Rüftungen und den heitern launigen Trinkſprüchen an den Wänden jo oft
die Tafelrunde des ſchwäbiſchen Dichterfreife® um den Burgheren, den Sänger
der „Lieder des Sturms“ verfammelt ſaß. Die gegenwärtigen Bemohner
fheinen in feinem Contakt mehr mit ihr zu ftehen, fonft würden fie das
Schlößchen mit feinen vielen Kunſtſchätzen nit fo unnahbar machen.
Nun war's an der Wirthin von Oberhaufen, ein ungläubig Geficht zu
machen. Sie konnte es nicht fallen, daß ich „drin“ geweſen. Sie mußte mid
für was befonders „Vornehmes“ halten, daß ich das möglich gemacht, beeilte
fih darum, mir meinen Schoppen Wein für zweie anzurechnen und mir tau-
jendmal vergnügte Neife zu wünſchen. Die mußte fich von felbft finden, wenn
man ein fo lieblih Thal durchfuhr, wie auch das Irnauer eins ift, rechts
und linf® von waldigen Almen umlagert, mit drei lachenden Dörfern bejest,
von wafjerfrifchen Wieſen durchgrünt, von der fprudelnden Echat belebt, im
Kleinen an dad Yauterbrunner Thal erinnernd.
Mir kamen über Pfullingen, im Mittelalter ein Afyl für „uffrechten
redlihen, ungefährlihen Todſchlag“, dann hielten wir in Reutlingen
Mittag. Der Eindrud der alten Reichsſtadt ift moderner, ald man von ihr
vermuthen ſollte. Ein drei Tage lang mwüthender Brand hat im Jahre 1726
das alterthümliche Gepräge etwas zufammengefchmolzen. Auch die prächtige
Marienkirche brannte damald aus, allein ihre herrlichen gothiſchen Formen
blieben und nun ift fie diefen entjprechend würdig reftaurirt. Daß ein Kriege
werfzeug, ein Sturmbof das Modell einer Kirche abgiebt, Eommt wohl felten
vor. Die Reutlinger haben's zu Wege gebradt. Im Jahr 1247 lag Hein:
rich Raſpe, der Gegenfönig Konrad's IV., vor der Stadt. Die bedrängten
Bürger gelobten der Jungfrau Marta ein ſchönes Gotteshaus, wenn fie ein
Einjehen mit ihnen haben wollte. Ob diefes nun der Fall war oder ob die
Neutlinger fih doch auch etwas auf ihre eigene Fauſt verließen: der Raſpe
zog ab und ließ fogar einen mächtigen Sturmbocd vor den Mauern zurüd.
Den brachten fie nun jubelnd herein und machten ihn fofort zum Maß ihrer
Votivkirche, fo dag deren Echiff wirklich gerade fo lang wie jener, nämlich 127
Fuß lang, wurde. Von des Sturmbods Zeiten ber blieb den Reutlingern
ein Friegerifcher mannhafter Sinn, trogdem fie feit lange denfelben friedlichen
Beichäftigungen, die heut noch in der Stadt blühen, ald Nothgerberei, Yär-
berei und dergleichen oblagen. Und fo räumten fie unter den Rittern des
Grafen Ulrich v. Würtemberg — an 1377 ward — ähnlich auf, wie die
Schweizer bei Moorgarten gethan.
„Wie haben da die Gerber fo meifterlich gegerbt,
Wie haben da die Färber fo purpurroth gefärbt!”
223
bat Uhland davon gefungen. Und noch einmal machten fie in Würtemberg
Rumor. Bei einer einfachen Schlägerei in einem Weinhaufe war der Wür—
temberger Burgvogt, der In der Stadt fisen durfte, „etwas übel weggekom—
men“, d. h. erichlagen worden. Die Stadt wollte den Thäter nicht auäliefern,
jo rüdte Herzog Ulrich mit einem Heer an, grub jener die Brunnen ab und
hate ihr mit feinen Karthaunen und Handbüchjen hart zu. Die Belagerten
webrannten ihre Vorftädte, damit fich der Feind in ihnen nicht feitjegen follte,
dieſer ſchoß wieder die Stadtmauern zufammen, dann aber fror bei ftrengem
Binter der Stadtgraben zu und der Rath mußte capituliren. Nun legte fi
der ſchwäbiſche Bund in den Handel und eroberte Reutlingen dem Reiche zu:
rüd; der Herzog mußte fein Land meiden und 16 Jahre lang ließ der Geift
des erihlagenen Burgvogts ganz MWürtemberg Feine Ruhe.
Jetzt fieht Alles, Stadt und Reute eminent friedlih aus und in dem
Wernerifchen Bruderhaud macht jene fogar auf eine ganz befondere Friedenäftätte
Anſpruch. Wir haben nicht ohne Bewunderung für die Thatfraft Eines
Manned, von dem das alled aufgegangen, die mancherlei Anftalten durch—
wandert, die, ähnlich dem rauhen Haus zu Horn aber praftifcher ala dieſes,
den Verſuch machen follen, Soctaliamus und Chriftentbum zu verfchmelzen
und die “dee der Klöfter und Congregationen im Geiſt des Proteftantidmug
ju regeneriren. Und ein Zweitintereſſantes, wenn freilich” wieder auf ganz
anderm Gebiet Liegendes, bot und noch Neutlingen: dad pomologiſche In—
fitut ded Herren v. Qucas, defjen Leiftungen und gemeinnüßigen Einrichtungen
in ihrer befondern Sphäre in Deutjchland mohl einzig find. Mit großer
Liebenswürdigkeit führte und der Eigenthümer durch feine weitausgedehnten
Gartenpflanzungen mit ihren Hunderten von Obftarten, die Lehr- und Hör:
fäle, die reichhaltigen Sammlungen, und wir jchieden mit hoher Achtung
auch von diefem Manne, der mit feltener Energie und Befähigung, nur aus
liebe zur Sache und aus opfermilligem Sinn für dag Gemeinwohl, bier ein
ganz neue Arbeit» und Erntefeld gefchaffen hat.
Uber es waren und nur flühtige Stunden für beide Anftalten, um
derentwillen man nicht an Reutlingen vorüberfahren darf, vergönnt. Wir
waren wieder an der Eifenbahn und die mußte und an dem Abend noch nad)
Hehingen bringen. Dad Nedarthal hüllte fih in Dämmerung; ſchon
Tübingen mar etwas umflort. Die würtembergifche Univerfitätöftadt bat
nicht die großartige Nage ihrer Schweitern Freiburg und Heidelberg, aber
lieblich ift fie und anmuthig, und auch viel befungen. Manch Greifen- und
Mannesauge ruht heut noch mit freudig-wehmüthigem Bli auf dem Städtchen
zwiſchen Nedar und Ummer, der Stätte fröblicher Jugend. Wir fuhren
diegmal vorüber ; erft auf dem Rückweg vom Hohenzollern wollten wir Halt
mahen. Es ging im Nedarthal aufwärts. Wohlhabende Dörfer Tiegen in
224
ihm, malerifche Volketracht hat fi noch in diejen erhalten. Wir waren aus
Mürtemberg heraus, in den hobenzollerifchen Yanden, auf dem Bahnhof von
Hehingen. Der Gafthof „zur Linde“ liegt gerade am entgegengefesten Ende
der ehemaligen Hauptitadt der hohenzolleriſchen Lande. Wir hatten fie ganz
zu durchgehen, bergauf, bergab, mie ihre Straßen laufen. Gut, daß der Mond
voll und Kar am Himmel ftand. Mit dem Fürſten fcheint die Beleuchtung
der Reſidenz ausgegangen zu fein. Uber jo fanden wir unjern Weg und im
Mondenliht ſah ſich manch altes vornehmes Haus vielleicht doppelt ftattlich
an, raufchten die fehönen Brunnen, an denen die Mädchen plaudernd ftanden,
und lag auf einmal ein hoher, fpiter Berg dicht vor unfern Augen und auf
ihm eine herrlich hehre Burg : der Hohenzollern, die Kaiferburg des neuen
Reichs.
Ich ſah noch lang hinaus in die Nacht. Der Mond war hinter eine
Wolke getreten, Lichter ſchienen aus den Burgfenſtern hernieder. Auf dem
neuen Kaiſerberge war alſo Leben, anders als auf dem einſamen, verlaſſenen
Hohenſtaufen. — |
In früher Stunde ftand ich oben auf der Iuftigen Warte. Dur tbau-
frifche MWiefen, durch herrlichen Buchenwald war ich emporgeftiegen. Das
NReihäbanner flatterte über mir im Morgenmwind. In der letten Pracht ’dea
Jahres, im vollen Herbitihmud, Tag das Land ringsumber erſchloſſen. Das
Stammland der Hohenftaufen liegt huldigend dem Schloß der Hohenzollern
zu Füßen. Der Bergfranz der Alb umſchlingt die Eine Hälfte des Bildes,
die andere findet im Schwarzwald ihre fernen Grenzen. „Vom Feld zum
Meere", das ift der Eingangafprudh über dem Thor der Felt. Wer den
Grundftein zu ihr gelegt? Die Gejchichte kennt den Namen nicht; die Burg
jtand ſchon als der erfte urkundlich beglaubigte „Graf von Zollern” Thafjilo,
um dad Jahr 800 aus der vorhergehenden Sagendämmerung in da® belle
Licht der Gefchichte tritt. Ob er’d hätte tragen Fünnen, wenn aus dem
Dunkel des nachbarlichen Eichenheimes eine Belleda getreten wäre und ihm
mit Prophetenmwort die künftige Gefchichte feined Haufes, deſſen Siegedgang
„vom Feld zum Meere“ verfündigt hätte? Aber ein Stück vom fpätern
Zollernthum lag ſchon in den Leuten. Thaſſilo's Sohn Thanko bie ſchon
für den Kleinen Kreis feiner Zeit, wa8 der, der nun dem Zollernſchild das
Kaiferwappen angefügt, für die Welt geworden: „ein Schiedsrichter über
Krieg und Frieden“. Des Thanko's Urenkel, Friedrih I. von Zollern, ſoll
um 980 dad Stammſchloß der Ahnen erneuert und erweitert haben. Sein
Enkel Friedrich III, um 1111 Kaifer Heinrich’3 oberiter und geheimfter Rath,
war ein allgemein beliebter Mann feiner Zeit. Sein Sohn Rudolf U. ent-
ſchied als muthiger Anhänger der Ghibellinen, die blutige Schlacht auf der
MWohred (Wöhrd) bei Tübingen (1164). Bon der Zeit an theilte fi der
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Zollernſche Stamm in zwei Aeſte, wovon der eine in Franken dad Haus
der Burggrafen von Nürnberg gründete, der andere durch Rudolf's Sohn
Friedrich IV. die väterlihen Erbgüter in Schwaben erhielt. Die Gefchichte
erzählt nun mehr von den erfteren, deren zehnter, Friedrich VL, — heuer
find’8 501 Jahre, daß er geboren wurde —, in den Befit der Mark Branden-
burg mit der Kurwürde gelangte und der eigentliche Ahnherr derer wurde,
die ald Könige Preußens die verfallene Stammburg aus den Trümmern
wieder fo Herrlich auferbaut haben. Unter Friedriy VII. von Zollern, dem
Dettinger, wie er hieß, war diefe jämmerlich zerftört worden. Mißgeſchick
hatte den edlen Grafen verfolgt; gegen die Wittwe Graf Eberhard's von
Bürtemberg, defien Rath er gewefen, hatte er, als er ihr den Dienft auf-
gefündigt, das trogige Wort gefprodhen: „Kann mich auch ein giftige®
Weibsbild verſchlingen?“ fie aber ihm drohend erwidert, wie Guftav Schwab
fingt:
„Berfchlingen allerweg will ich
Dein Out, dein Schloß, dein Leben, did!
Kein feiges Weib, wie du geglaubt,
Es traf dein Spott ein Fürftenhaupt.‘
Er unterlag der Feindin und fein Schloß ward gebroden. Was fein
Sohn Nielas wieder herftellte, war nur ein kümmerlich Ding. Jetzt aber tft
der Hohenzollern eine Königsburg, wie fie würdig ift des Geſchlechts, das
die deutiche Kaiferfrone trägt. Kein anderes Haus hat fie die verlafjene,
vereinfamte Stätte feiner Ahnen geehrt. Die Hohenftaufen Fonnten freilich
ihrer Stammburg fih nicht mehr annehmen. Aus den Brettern eines
Schaffots zimmert man fein Königshaus. Aber fühnend und vergeltend haben
ihre Erben in der Katferkrone in dem Stammland beider, in der Herrlichkeit
ihrer Burg auch die vergangene und verſchwundene ded Hohenftaufeng
mit erneuert.
Halb Feſtung, Halb Schloß ift die heutige Hohenzollernburg. Mächtige
Borwerke und VBefeftigungsmauern ftügen den hohen Bau des Iegtern, in
welhen und der ganze Glanz einer feudalen Burg ded 13. Jahrhundert?
entgegentritt. Durch einen fchnedenartig auffteigenden Tunnel gelangt man
aus dem untern in den obern Burghof; der treue Gefelle aller alten Burgen,
der Epheu, ſchlingt fih auch um diefe neue, in deren Gemächern Fönigliche
Pracht in Ausftattung und Einrichtung, auch in reichen Gebilden der Kunft,
fih entfaltet. Die evangelifche und die katholiſche Kirche, welch letztere aus
der uralten Burgfapelle erbaut tft, ſchließen die beiden Seitenflügel des Schlofjed
ab. Ihre Glocken läuteten eben den Morgengruß Hin über Wald und Flur.
Auch von Hechingen tönten gleiche Klänge herauf. Ich überlegte mir, in
Nähe und Ferne fehauend, mein fernere® Manderziel. Ein Städtchen dort,
Grenzboten IV. 1974. 29
226
ungefähr drei Stunden entfernt, hatte mir der Caftellan als Balingen. ein in
feiner Nähe emporragended Schloß als Geislingen bezeichnet, Das iſt der
Wohnſitz des Präfidenten der bayrifhen Abgeordnetenfammer, jegigen Nach—
folgers des Fürften Hohenlohe im Präfidium des Reichstages, des mannbaf-
ten Volksvertreters Freiherrn Franz von Stauffenberg. So nahe dachte
ih mich dem Haufe des Freundes nit. Durfte ih an ihm vorübergehen ?
Schon um Mittag mar ich dort, mitten in einem der liebenswürdigſten
Familienfreife, wie fie nur die höchſte Geifted- und Herzensbildung fchaffen
können, und die Stunden flogen in ernften und heitern Geſprächen dahin.
Die Sonne ftand ſchon tief, als wir dankbar fchieden und den Wanderftab
weiter festen. Geidlingen hatte und die Reiſerichtung verändert. Die Zeit
war mir nur no fnapp gemeflen. Nah Tübingen fonnte ih nicht zurüd.
Alfo Verzicht darauf und an einer andern Stelle hinab ins Nedarthal wieder,
bei Sulz, wo der Fluß in tief eingefchnittenem Thale fliegt und fein Rauſchen
faft troßig und unbändig ob der von den gar fo eng ihn umjchnürenden
Bergen ihm angethanen Unbill in unfern Schlaf herein Hang.
Nur eine Station aufmärtd führte und andern Morgens die Bahn
nad Horb, einem alten, mit Mauern, Thürmen und fchledhten Häufern an
das linke Ufer hoch hinaufgebauten Neft. Wenn der Schienenweg aud hier
— und das ift mohl jest ſchon vollends gefchehen — Felſen und Berge
durchfprengt hat, dann wird man rafcher von Horb in Nagold fein, als dad
und bejchieden war, die wir das mit ein paar Stunden befchwerlicher Poſt—
wagenfahrt, bergauf, bergab, erfaufen mußten. Wir famen und auf einmal
wieder jehr weit ab von der Welt vor. So ein alter Rumpelfaften kann
ganz antidiluvianifche Stimmungen aus einem herausmartern. Die Poſt zu
Nagold trug ganz das Gepräge der alten Zeit, wo es nur Woftillong,
Beichaifen, Reifewagen, Netouren, feilſchende Hauderer, fchläfrige Hausknechte,
— und vor allem Muße und ruhigen Aufenthalt für ein Prühftüd oder
Mittagefjen gab. Zmar tft Nagold ſchon Eifenbahnftation, allein der Bahnhof
liegt von der Stadt etwas entfernt und auf der Hauptftraße, die von hier
nah Wreudenftadt auf die Höhe des Schmarzwaldes führt, wird noch lange
der Eilmagen und der Lohnkutſcher, überhaupt das Fuhrwerk feine Allein-
berrichaft ausüben. Drum ſah's vor der Voft fo erinnerungsfreudig an das,
wie e8 vordem war, aus. Selbſt fo eine Badeequipage, wie fie da eben für
die blafje, Eranfe, junge Engländerin zugerichtet wurde, indem Kammerjungfer
und DBediente Betten, Matragen, Deden, Speiſekörbe u. ſ. m. in ihr auf
ftapelten, fieht man felten mehr. Ob fie nah Wildbad oder Baden fuhr,
das erfragten wir nicht, aber das mußten wir, daß!wir felbft in der Nähe der
hochberühmten Chwarzmaldbäder waren, daß wir gerade fo viel Zeit noch
herausbefommen Eonnten, wenigftens eins zu befuchen. Bor dem ariftofratifchen
*
t
227
Wildbad fam uns aber noch ein Fleinered, weniger anſpruchvolles, das lieb»
liche Teinach. Das war Schwarzmwaldnatur, Schwarzmwaldluft! Deutjchland
hat herrliche Wälder, aber als der fehönfte ift mir immer der Schwarzwald
erſchienen. Es war doch Herbit, aber fo frifh wie im Frühling leuchtete
dieſes MWiefengrün, das den Fußpfad nah Teinach umfäumt. MWürziger
Duft entftrömte den Tannen, die das enge Thäldyen umrahmen. Dem Kranken,
der hierher fommt, muß es fehon beim erften Bli auf den ftilen Kurort
wie eine beftimmte Hoffnung der Genefung überfommen. Alles ift freundlich,
bequem, zwedentfprechend eingerichtet. Der Kurarzt namentlich, Herr Dr. Wurm,
ft der beforgte Freund feiner Gäſte. Die Zerftreuungen eined Weltbades
bietet natürlich Teinach nicht. Seine Natur ift Alles, was es giebt, aber
Mran hat man genug.
Wir fliegen nah Zavelftein hinauf, dem kleinſten Städtchen Würtem—
bergs, das aber einft doch einen eigenen Abgeordneten in den Kandtag
ſchicken durfte,
„Rie von Riß und Sprung genöthet
Ragt fein ſchlanker Römerthurm,
Wie gegoffen und gelöthet
Quaderfeſt im Zeitenfturm“
eitirte Ich meinem Söhnlein aus dem „Gaudeamus“ Viktor Scheffel’8 und aud:
„Ruhſam ftand der Ortsbewohner
Bor dem Haus im Sonntagskleid,“
denn Sonntag war's und die biedern Zaveliteiner ftanden wirklich gar ruhſam
unter ihren Thüren. Es waren andere ‘Typen, ald wir bisher in Schwaben
gefehen: dunkler Teint, ſchwarze Haare, mehr Rund: ald Langkopf; der
dunfelblaue Rock mit der auffallend Eurzen Taille und den blanfen Metall:
nöpfen, der Sonntagdftaat der Männer; der fchmarze, faltenreihe, am
Mieder mit hellblauen Bändern verzierte der der Frauen. Auch mie andere
Sprache klangs in unfern Ohren; jene breiten, gedehnten, unausfprechlichen
Diphthongen macht fein Sterblicher dem Schwarzwälder nad).
Immer mehr nahm auch die Landſchaft den eigentlihen Schwarzwald:
barakter an. Nur Ein Dorf auf dem ganzen Weg, Oberreichenbach, aber
wreinzelte, auf die grünen Matten hingejtreute, in fich abgeſchloſſene Gehöfte.
In folh hölzernem Blockhaus, aus über einander gelegten Balfen gefügt,
mit feinem niedern Schindeldach und der Holztäfelung an Dede und Wänden,
wohnte wahrjcheinlih ſchon der erfte Anfiedler im Schwarzwald. In fol
abgefchiedenen Gegenden verändert ſich der Menſch und fein Haus menig.
Ernſt wie diejer ift der Wald, der nun auf beiden Seiten in langen, dichten
Tannenreiben die Straße begleitete. Stundenlang gings fo fort. Endlich
jemkte fich der Weg zu wildfchönem, flußdurchrauſchtem Thal. Bahnhoflichter,
Locomotivpfeifen, alfo zu Ende die Waldftille, wieder Welttreiben in der
Nähe: Calmbach und in einer halben Stunde Wildbad. Die Saifon neigte
fih zu Ende, font hätte und wohl da8 äußerft comfortable Hotel Frey nicht
eine8 feiner fchönften Beletage- Zimmer eingeräumt. Weit ging der Blid aus
deſſen Fenſtern nicht, nur über den Kurplag, dann aber hemmten ihn ſchon
die Berge. Bekanntlich hängen diefe förmlich über Wildbad herein. Das
mag manchem, der zur Kur hierhergefommen, anfangs düfter erfcheinen, aber
bald gewinnt er diefe Enge, diefed In- und Beleinander von Feld, Wald
und Fluß lieb. Bon Iesterm fteigt er auf in den tiefdunflen Tannenhain
und vom Granitblof, der aus uralter Zeit daltegt, fchaut er wieder zur
lautraufchenden Enz hernieder. Beſchränkt find allerdings? auch die Spajier-
wege Wildbads, wenigſtens die im Thale, in welchem ja dad Städtchen
eigentlich nur Eine Hauptitraße ausfindig machen Eonnte, und aufmärtd kann
nicht jeder der Gäſte Elimmen, denn dad, wofür gerade jene wunderbaren
Thermen fo heilfräftig find, ift eben bei den Meiften des Bergfteigend Wider-
ſpiel. Behaglicher, reinlicher, mir möchten jagen ſchon dem äußern Anfehen
nah fo dem Kurzweck dienend, als mie die zu Wildbad, haben wir noch feine
Bäder eingerichtet gefunden. Auch für den Gefunden ift’3 eine wahre Molluft,
in diefe Baffin® niederzufteigen, wo die Quelle unmittelbar aus dem feinen,
weiten Sand treibt und ſich dad warme Waffer fo wohlig wie ein weiches
Gewand um den Körper legt.
Wir meinten, auch und hätte e8 alle Müdigkeit der vergangenen und
abſchlagsweiſe auch der Fommenden Tage meggenommen, als mir den geftern
gemachten Weg wenigſtens theilmeife zurüdgingen um bei Calw das Ende der
gemifchten Reife d. h. der aus Eifenbabnfahrt und Fußmwanderung gemifchten,
zu erreichen und uns fortan nur noch der erftern zu überlaffen. Für letztere
aber machten wir in Hirfau den lesten Halt.
Es giebt genug Klofterruinen in der Welt, aber einzelne von ihnen haben
ganz befondern architektoniſchen und Tandfchaftlichen Weiz vor den andern
voraus. Zu diefen gehören Baulinzelle auf der grünen Waldwiefe im Thüringer
land. Dann, am Fuße der rheinbefpülten Stebenberge, Allerheiligen im Schwarz:
walddunfel. Dazu gebört auch Hirfau im ftillen Nagoldthale.
Es war einit der geiltig anregenditen Klöfter eind im ganzen deutjchen
Rande Ein Bürgermeifter des benachbarten Calw erfühnte fich, einen Strid
durch einen Gontributtond.- Brief des Kfalzvermwüfterd Melae zu machen; die
Brandfadel flog dafür in die herrlichen Gebäude, Was von diefen heut
noch da tft, find Trümmer; aber nicht die Franzofen allein haben diefe auf
dem Gewiſſen; auch die Mürtemberger Beamten haben fie vernichten helfen.
Eine noch ganz unverfehrte Kapelle wurde ald Baumaterial abgebrochen,
Gräber wurden geöffnet, die Denkſteine zerfchlagen und umhergeworfen. “est
en
maltet allerding® erhaltende Ordnung unter den Ruinen von Hirſau. Wur
cherndes Grün hat fich überall zmifchen diefe gedrängt; einem Ulmenzweiglein
mard’3 vor vielen Jahren zu eng unter dem alten Gemäuer, das ſchob ſich
duch das Geftein und Geröll und jest wiegt der mächtige Baum feine
Iuftige Krone hoch über den vier ihn umftehenden audgebrannten Wänden:
„als ob die nur beftimmt
den fühnen Wuchs zu fchirmen
der zu den Wolfen klimmt.“
Diefe Ulme, die Uhland befungen, ift das Mahrzeichen Hirfaud. Sie
ninft und den Abſchiedsgruß zu. Wir haben Calw erreicht; der Bahnzug
iommt; er fteigt mit und zur Höhe, in großen Windungen nur ift das zu
meihen; mwürtembergifhe Kifenbahntechnif hat hier Wunderbared geleiftet ;
aber die würtembergifche Eifenbahnfchuld fih au um eine hübfhe Summe
vermehrt. immer wieder wird das malerifche Calw im Thale fihtbar; aber
endlih finft es doch tiefer und tiefer; da Hat die Rocomotive den Scheitel
des Berges erflommen; fie jagt mit und durch flache, in der Erinnerung
an die MWaldeinfamfeit der Kloftertrümmer von Hirfau und an das Tannen-
dunkel ded Schwarzwald weniger anmuthendes Rand, bis fie in den ſchönſten
Bahnhof des deutfchen Reiche, den von Stuttgart einführt. Das Bild der
Hauptftadt Mürtembergd würde zu denen paffen, die wir ihrem reichen,
ſhönen Sand entnommen haben, aber ſchon zu groß vieleicht ift deren Zahl
geworden. Der Leſer dankt mir vielleicht, daß die „Herbfttage in Schwaben“
bier zu Ende gehen.
Briefe aus der Kaiferfladf.
Berlin, 1. November.
Mit dem heutigen Tage hat die Ausftellung der königlichen Akademie
der Künfte ihr Ende erreicht. Sei es mir geftattet, ihr eine kurze Grabrede
u halten. Die Auäftellungen der Akademie kehren alle zmei Jahre wieder;
ihr Zweck ift, gemiffermaßen eine Ueberſicht über zeitgenöffifches Schaffen auf
Km Gebiete der bildenden Künfte zu geben. Man kann indeß nicht fagen,
daß diefer Zweck ganz erreicht werde. Zunächſt pflegt das Ausland fich nur
ſhwach zu betheiligen; ziemlich zahlreich find in diefem Jahre die Italiener,
Deiterreicher und Belgier vertreten, Franzofen und Holländer dagegen nur
jpärlih. Auch von der Production in Deutfchland erhalten wir fein er:
230
fchöpfendes Bild, mehrere hervorragende Meifter, wie 3. B. Knaus, haben
in diefem Jahre gar nicht ausgeſtellt. Trotzdem umfaßte der Katalog nidt
weniger ald 1067 Nummern und man Fann immerhin annehmen, eine Vor:
ftelung von dem Durchſchnitt der fünftleriichen Leiſtungsfähigkeit der Gegen:
wart, fo meit Deutfchland in Frage fommt, erhalten zu haben. Der Ge:
fammteindrud, offen geftanden, war fein befonders erhebender. Hervorragen—
der Reiftungen waren wenige, man fah viel Mittelgut und entjeglich viel Un-
bedeutended. Ueppig wuchernd und in den verfchiedenten Formen trat die
Bortraitmalerei auf, bald ald Portrait ſchlechthin, bald in Verbindung mit
Landſchafts-, Thier-, Coſtüm-, Genre», ja Hiftorienmalerei. Unter den
eigentlichen Portraits wurden beſonders die Bilder aus der Faiferlichen Familie
von Herrn v. Angelt in Wien bewundert. Unftreitig den beiten Platz unter
denfelben nimmt das Bild des Kronprinzen ein, eine ebenfo Fünftlerifch ſchöne
wie getreue Darftellung dieſes Typus Fräftiger Männlichkeit. Sehr bemerken:
werth wegen der vornehmedidcreten Behandlung der Farben und der Wärme
im Ausdrud auch das Portrait der Kronprinzeffin; nur herrſchte über die
Mehnlichkeit allgemeiner Zweifel. Am menigiten befriedigt das Bild des
Kaifere. Wie ganz anders erfcheint die Figur des greifen Helden doch auf
dem Camphauſen'ſchen Reiterbilde! Allerdings hat Kamphaufen den Kaifer
gemalt, wie er vor vier Jahren an der Spige des deutfchen Heeres dem Feinde
entgegenzog. eine Geftalt von unverwüftlicher Frifche und Kraft, während auf
Angeli's Darftelung wohl das lange Unwohlſein des Kaiſers im vorigen Winter
unvorthetlhaft eingewirft hat. — Am meiften von allen Bortraititüden aber hat
fi) das von Guftav Richter gemalte lebensgroße Bildniß der Fürftin Caro—
lath die Gunft des Publikums erworben. Das Bild war in der That eine
Perle der diedmaligen Ausftellung. Es zeigt eine Dame von nahezu Elafftiher
Schönheit, in gejhmadvoll: einfachem weißem Gewande und in ungefünftelt:
graztöfer Haltung vor dem Kamin fisend, ihr zu Füßen eine prächtige Dogge.
Die gedämpfte Beleuchtung, von der einen Seite der Feuerfchein des Kamind,
erhöht noch den eigenthümlichen Netz des Ganzen. Derfelbe Künftler hatte,
außer einem Bilde Bancroft’3, noch verfchiedene PBortraitgruppen in Genre
bildform ausgeſtellt. Auf einem diefer Bilder ift feine Gemahlin mit einem
Kinde auf dem Arm dargeitellt; ein anderes zeigt den Maler felbjt,. wie er
feinen fehelmifch-lächelnden Buben, das gefüllte Champagnerglas in der Hand,
zum Fenſter hinaushält — Beides Compofitionen von fo frifhem, lebens—
wahrem und zugleich fo poefievolem Humor, daß man feine herzliche Freude
an ihnen haben muß. — mei in der Erfindung höchſt eigenthümliche und
In der Ausführung fehr bedeutende Portraitgemälde waren von dem Brüffeler
Alma Tadema ausgeſtellt. Diefelben gehören zur Collection des Palazzo
Palmieri in Nizza. Das eine ftelt einen antiken Bildhauerladen, das andere
u 231
dad Gabinet eine? Kunſtliebhabers, ebenfalld® aus der Zeit des Flaffifchen
Alterthums, dar. Auf jenem ift der Maler mit feiner Yamilie, auf diefem
der Eigenthümer portraitirt. Die Perfonen erſcheinen in ftreng antifer Ge—
wandung, find aber troßdem prächtige, lebensvolle Geftalten. Ueberhaupt,
was diefen Bildern einen ganz eigenartig en Merth verleiht, ift der Gedanke
ung das Leben der Alten in menfchliher Weife nahe zu bringen, mit einem
Worte, antife Genrebilder zu fchaffen. Die Ausführung ift trefflich gelungen.
— Hiftorifched Genre mit Portraitmalerei vereinigt trafen wir auch in einem
Bilde unferes U. v. Werner, nur dab es fich Hier nicht um das Wortrait
ner heute lebenden, fondern um das einer der betreffenden Epoche felbit an-
gehörenden Perfönlichkeit handelt. Das Bild zeigt Luther auf einem Fami—
lienfeſte. In einer Villa fit die Keine Tifchgefellihaft beim reichen Mahle,
duch das Fenſter und die offene Thür fieht man draußen einen Männerchor
poſtirt, welcher ein Ständchen bringt. Weiterhin liegt die Stadt mit ihren
Thürmen, ihren Ziegeldächhern und Feltungsmauern. Der Reformator hält
dad Meinglad in der Hand und Taufcht dem Gefange, getreu feinem Sprude:
„Wer nicht liebt Mein, Weib und Gefang, der bleibt ein Narr fein Reben
lang.“ Die energiſche Charafteriftif der Figuren, das urfräftige Behagen,
welches fi) in dem Ganzen ausprägt, von einem Werner’fchen Bilde noch
bejonder® rühmen zu wollen, wäre Ueberfluß.
Daß das Gebiet der eigentlichen Genremalerei heutzutage noch immer
dad ergiebigfte und rentabelfte ift, hat auch die diesjährige Ausftellung wieder
gezeigt. Die Zahl der hierher gehörigen Bilder und Bildchen mar Legion
und es fällt fehr fehwer, aus ihnen die ermähnendmertheften auszuſcheiden.
Zu den hervorragendften gehörte eine äußerſt drollige und bis in den Fleinften
Zug dem Leben abgelaufchten Scene unferes gefhästen Künftlerd Paul Meyer-
beim: „In der MWildenbude.* Auf der Bühne vollführen die Rothhäute
unter fchaurigem Geheul und entfeglichen Verrenkungen ihre grotedfen Künfte,
unten fteht, phantaftifch coftümirt und mit prahlerifcher Geberde, der Erplt-
cator. Mit andächtigem Graufen betrachten die Mädchen und Weiber, mit
loderndem Enthufiagmus die Buben die wilden Sprünge in gemaltiger
Sagdhund maht Miene, fih an der Vorftellung activ zu betheiligen, wird
aber von feinem Heren, einem derben alten Waidmann, mit der grünen
Pfeife im Munde, nod) rechtzeitig befänftigt. — Mit zwei trefflichen Genre-
bildern war der Düffeldorfer Künftler Karl Boecker vertreten. Das eine,
„Am Drehbrett“ betitelt, zeigt einen Jahrmarkt; im Vordergrunde verfuchen
Bauernfinder mit dem befannten Hazardfpiel ihr Glück. Das Zagen und
Wagen de drehenden Knaben und die ängftlihe Neugier der umftehenden
Buben und Mädchen find prächtig getroffen. Auf dem andern Bilde, „Theure
Hotelrehnung”, ift eine Bauernfamilie in ein elegantes Hotel gerathen. Wie
fie ſich gütlich gethan, zeigen die Reſte auf dem Tiſche. est kommt der
Moment, wo für jeden Sterbliden die Gemüthlichfeit aufhört. Das lange
Geſicht des pater familias, die Verlegenheit der hübſchen Tochter, die Ver—
blüfftheit de8 Jungen, der fich eben no einen Biffen zu Gemüthe führen
will, — dad Alles könnte natürlicher und ergöblicher nicht wiedergegeben
werden. In einem dur Klarheit der Zeichnung und Feinheit der Charak—
teriftit ausgezeichneten Bilde hat Seyfferth in Weimar das Kartenlegen
(„Dorforafel*) dargeftelt. — Jagd- und Räubergeſchichten, ftet3 ein beliebtes
Thema für Genrebilder, durften natürlich auch hier nicht fehlen. Erwähnen
wir aus der Region der erfteren Grützner's „Sägerlatein“, eine Iuftige Illu—
ftration , wie „Jagdgeſchichten“ erzählt und aufgenommen werden. Als Re:
präfentant der Räubergefhichten mag „Der erſchoſſene Wilderer* von Simmler
dienen. Hoc oben in den Schneebergen, an öder Stelle, liegt der Leichnam.
(Eben kommen die Dorfleute, ihn zu holen. Die Kinder ded Todten, die
ihnen voraudgeeilt, ftehen im wilden Sturme unmeit des Vaters, dad Mädchen
in Graufen und Verzweiflung, der Knabe in finfterem Brüten. — Das
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4
!
Ganze ein düftere®, aber ergreifende® Bild. — Die Nachtjeite des haupt |
jtädtifchen Lebens entrollt Frig Pauljen in feinem „Kümmelblättchen“. Die
Scene ift aus dem vollen Leben gegriffen, eine Befchreibung weiter nicht |
nöthig. — Mehrere Genremaler hatten diedmal ihre Vorliebe für Schufter
und Schuftermerfitätten bekundet, am ergöglichften der Italiener Orfeo Orfei.
Heberhaupt zeichneten ſich faſt alle von Stalienern ausgeftellte Genrebilder
durch deutliche Charafteriftit, Lebendigkeit und Klarheit der Farben aus.
So befonder® die von Guglielmo Guglielmi. Was wir Deutjchen jedoh an
ihnen vermiffen, ift da® Gemüth. — An fog. Idyllen war auch diedmal Fein
Mangel; doch ſcheint ed, als ob fich unfere Maler endlich mehr und mehr
daran gemöhnten, fie ald überwundenen Standpunkt zu betraditen. Als jehr
anfprehend mag Robert Beyſchlag's „glüdlihe Mutter“ hervorgehoben
werden, eine Bäuerin, die ftrahlenden Antlitzes ihr Kind hoch in die Luft
hält. — Die bei den heutigen Genremalern nur allzu beliebten Rührfcenen
nahmen auch diemal einen breiten Raum ein. Als das ergreifendfte und
am wenigflen gefünftelte darf Otto Günther's „Wittwer* genannt werden.
Ein junger Bauer fehrt eben zurüd vom Grabe feiner Frau. Ueberwältigt
vom Schmerz ift er vor dad Bett hingefunfen und birgt fein Gefiht in den
Falten der Vorhänge. Die Alte hinter ihm hält fein blühendes Mind auf
dem Urme; fie weiß, es ift ihm der einzige Troft, aber doch wagt fie nicht,
ihn in feinem Sammer zu flören; er muß fih ausweinen! — Ein vortreff-
liches Bild hatte Carl Schlöffer in Darmftadt ausgeſtellt. Eine alte ver-
lafjene Wittwe erhält von einem Freunde „Rath in der Noth.“
Reihlih war aud eine Abart vertreten, die man am zutreffenditen ala
ethnographifche reſp. geographifiche Genremalerei bezeichnen könnte. SHervor-
ragend an coloriftifcher Kraft und Mannichfaltigfeit, wie an dramatifcher
Lebendigkeit zeigten fich zwei dem italienifchen Volkäleben entnommene Com»
pofitionen ded Wiener Malers Alois Schöne: „Volkstheater in Chioggia”
und „Heimkehr der Fiſcher.“ Einer von Mar Michael in Berlin ausgeftellten
Mädchenſchule im Sabinergebirge* fehlte e8 auch nicht an wirkſamen Zügen.
E. Young in Münden bot einen „Hochzeitözug im Gebirge”, lauter natur-
wahre, lebensvolle Geftalten des Hochgebirges, in friſchem, effectvollem Colorit
dargeſtellt. Mehr in geographifcher, als in ethnographifcher Beziehung
harakteriftifch ift eine von Hermann Kregichmer in Berlin dargejtellte Scene
aus dem Spreewald: „Heimfahrt aus der Schule.” Die fröhlichen Kinder»
gruppen in den Kähnen, der warnende Schulmeifter am Ufer find zwar aud)
cht anfprechende Momente, was dem Bilde aber fein individuelled Gepräge
verleiht, ijt eben der eigenthümliche Charakter der Landſchaft. — An Dar-
tellungen einzelner Volkstypen Titt die Austellung auch feinen Mangel.
Hervorzuheben ijt ein „Mädchen aus dem Berner Oberlande“ von Emma Ende.
Gin „Slorentiner Blumenmädchen* von Oscar Begas ift coloriftifh vor-
trefflich, könnte aber ebenfo gut in Berlin in einem befjeren Zingeltangel ale
Hebe figuriren. Wohin fi der Geſchmack begabter Maler verirren Fann,
zeigte Trübner's „Mohr, eine Cigarre haltend.*
Auch das hiſtoriſche Genrebild war, was wenigftend die Anzahl betrifft,
hinter den verwandten Branchen nicht zurüdgeblieben. Man wird unter
diefe Kategorie auch die aus Dichterwerken entlehnten Scenen fubfumiren
dürfen. In diefer Richtung that fi Karl Beder in Berlin hervor. Ein
Scene aus „Figaro’d Hochzeit“ und Dlivia und Biola aus Shakeſpeare's
‚Was ihre wollt“, in dem Moment, ald Dlivia dem vermeintlihen Pagen
ihr ſchoͤnes Antlig entfchleiert, glänzten durch Reichthum der Farben und
Anmuth der Darftellung. Das lebtere Bild ift offenbar eine Frucht des
Gaftfpield der Meininger, die Leiftungen und felbft die Züge der betreffenden
Künftlerinnen find unverkennbar nachgeahmt. Ein wahres Juwel hat Grüßner
In Münden aus Scheffeld Effehard entlehnt. Es ift die Scene, wo der
Mönch Rudimann im tiefen Keller mit der Magd Kerhildis zu liebkoſen be-
ginnt — ein warnended Erempel, wie die tolle Zeit der Weinlefe auch die
gejeßteften und frömmften Naturen zu Reihtfüßen macht. — Daß eigentliche
biftorifche Genre war weitaus am bedeutendften durd ein Bild von Defregger
in München, das „Ieste Aufgebot im Jahre 1809 in Tirol“ darftellend, re
präſentirt. Wir befinden und in einem Tyroler Dorfe. Ein Haufen bejahrter
Männer, voran ein hochbetagter Greiß, ziehen mit ihren Senfen und jonftigen
Geräthen gegen den Feind. Nicht Verzweiflung und auch nicht rafende Wuth
jpiegelt fich in ihren Mienen, fondern nur der entjchlofjene — Und
Grenzboten IV. 1874.
234
die gleiche Entſchloſſenheit, der gleiche furchtbare Ernit liegt auf den Gefichtern
der Weiber, die ihre Männer zur Wertheidigung des häuslihen Herdes
hinausziehen fehen. Der gemitterftürmifche Himmel und die fahle Beleuchtung
vollenden die düftere Stimmung des Ganzen. Das Bild zählt unftreitig zu
den wenigen wirklich hervorragenden Schöpfungen, mit welchen dieſe Aus
ftelung und befannt madte. Man Fann fich die fittliche Größe jenes hiſto—
rifhen Vorganges nicht ergreifender und lebenswahrer dargeftellt denken. —
Gine beachtenswerthe „Scene aud dem Bauernkriege* von Burmeiſter tft
bereitö bei einer früheren Gelegenheit in diefen Blättern beſprochen worden.
Die großen Hiftorienbilder der diedmaligen Austellung trugen mie ge
wöhnlich gar zu fehr den Stempel der Schablone. ine Compofition von
Albert Baur in Weimar, „Otto I an der Reiche jeined Bruderd Thankmar“
vorftellend, ift fauber gearbeitet, zeigt auch eine Reihe charakteriftifcher Köpfe,
aber das Ganze macht den Eindrud ded hergebrachten Conventionellen. Die
gleiche Bemandtnig hat ed mit dem Bilde von Faber du Yaur: „Wbreije
Friedrichs V. von der Pfalz aus Prag nad der Schlaht am Weißen Berge.”
Mehr eigenthümliches Gepräge trägt das große Bild von Ferdinand Keller
in Karlsruhe, Nero darftellend, wie er von einer Villa aus den Brand Roms
betrachtet. Der Gegenfag zwifchen der den Kaifer umgebenden Drgie und
dem Bilde unfäglichen Elends ift draftifch genug; aber der Erjcheinung des
Imperators felbft fehlt der, der furdhtbaren Größe ded Moment? entjprechende
Ausdrud. — Mehr in dad Gebiet der hiftorifchen Genremalerei fpielen zwei
prächtige Bilder von Camphauſen hinein, da® eine eine drollige Scene aus
der Schlacht bei Roßbach, das andere die „achten Hufaren bei Waterloo“
darftellend. Sie führen und zur Schlachtenmalerei. Diefelbe war auf der
diedmaligen Ausftellung, in Unbetracht des Umftande®, daß wir und vom
Ende des legten großen Krieges erft drei Jahre entfernt befinden, nicht gerade
reichlich vertreten. An der Spitze erfchien Bleibtreu. Sein „Sedan“ zeigt im
Bordergrunde auf einer Anhöhe den Kronprinzen mit feinem Stabe, in der
Verne den wogenden Kampf und die brennende Stadt. Dad Ganze ift mitten
aus der Wirklichkeit gegriffen, die Gruppirung fehr effectvol. Das Gleiche
gilt von desſelben Maler „Wörth.“ Eine faft peinlich genaue Copie der
Wirklichkeit ift das im Beſitze des Herzogs von Meiningen befindliche Bild
„Die 22. infanteriedivifion in der Schlaht bei Sedan“, von Adam in
Münden. Die Ausführung ift vortrefilih, doch Hat das allzu äÄngftliche
Veithalten an den mwirklihen Vorgängen die Einheit des Gefammteindrudg
beeinträchtigt.
Reihen wir an die moderne Schlachtenmalerei die Darftellung eines alt-
deutjchen KHriegsbildes an! Die „Walküren“ von Auguft v. Heyden in Berlin
waren eine der originelliten und gehaltvollften Gompofittonen der ganzen Aus
235
felung. Die Schlacht ift gefchlagen, über dag meite Gefilde Hat fich die
Naht gebreitet; im Hintergrunde lodert die Flamme der zerftörten Bergfeite.
Da faufen die Töchter Odins auf weißen, feuerfehnaubenden Roſſen dur die
Rüfte daher, die gefallenen Krieger, deren Leiber am Boden liegen, nad Wal:
halla zu laden. Es liegt etwas Grauenerregended und doc zugleich ungemein
Feſſelndes in dem Bilde. Im Stoffe mit ihm verwandt, in der Ausführung
aber weit verfchieden it die „Rückkehr aus MWalhall* von Bürck in Dresden.
Hier Fällt der Hauptaccent auf eine ſchlanke Jungfrauengeſtalt, die auf einem
Kahn in der Bucht eines Sees bet ftiller Mondnacht den Geliebten aus Wal:
halla zurücdermwartet; das in den Wolfen erfcheinende Reiterbild ift nur müh—
hm zu erfennen. Bon dem fpecifiih deutfchen Sagenkreiſe angehörenden
Darftellungen ift Knille's „Tannhäuſer“ wegen feiner coloriftifchen Wirkſam—
fit hervorzuheben. Das Bild zeigt den Moment, da der Ritter fih aus den
Banden der Venus losreißt. Am beften ift dem Künftler, in Haltung und
Ausdruf, die Venus gelungen. — Auch der antifen Mythologie waren ver-
ihiedene Stoffe entlehnt. Lindenſchmit in Münden hat ein Bild „Venus und
Adonid“ gemalt, eine Nahahmung der Benetianer des 17. Jahrhunderte.
Leider kann es nicht als einer der glücklichſten Würfe des gefchästen Künſtlers
betrachtet werden. Eine „Dryade* von Schau in Weimar ft vortrefflich
gemalt, nur bleibt er und die Aufklärung des Geheinmifjes fchuldig, warum
ein beliebiged ſchönes Weib unferer Tage, wenn e3 fi nat in den grünen
Bald legt, eine Dryade wird. Ueberhaupt ift es auffallend, wie ängftlich
unfere Maler für ihre Nuditäten nach einem Vorwand fuchen. Auch Hilde
brand hat ed fo mit einem viel bemunderten Bilde gemacht. Er nannte e8
‚Am Meereöftrande”; e8 hatte aber weiter feinen Zweck, ald uns eine nadte
Frauengeftalt zu zeigen. Der menfchliche Körper ift das vollendetite Kunft:
wert der Schöpfung. Warum foll fi da der Künftler geniren, wenn er ihn
eben als das vollendetite Kunſtwerk darftellt?
Bom Gebiete der das menfchliche Leben wiederfpiegelnden Kunſt bleibt
noch die religiöfe Malerei zu erwähnen. Cie war ſchwach vertreten. Cinige
Bilder aus dem Reben Chriſti von Plodhorft gehören nicht zu den bedeu-
tendften Leiftungen dieſes Künftlerd. Feſſelnd durch feine Eigenart ift eine
„Kreuzigung“ v. E. v. Gebhardt in Düfjeldorf. Gebhardt hat mit der Tra-
dition vollkommen gebrochen, er will die Geftalten der heiligen Gefchichte ald
gewöhnliche Menfchen darftellen. Bom Standpunkte der Wahrheit und Na-
türlichkeit tft dagegen nichts einzuwenden; aber es fragt ſich doch, ob „reli-
giöfe* Malerei und ftrenger Naturaliamus nicht einander mwiderfprechende Be—
griffe find. Die fehr realiftiiche Scene, welche das genannte Bild und vor-
führt, ift genial concipirt, aber wir erhalten den Eindrud einer gräßlichen
Hinrichtung, durchaus nicht den des „Berföhnungstodes am Kreuze." — —
Mit außerordentlicher Freigebigkeit hatte die Landſchaftsmalerei die Aus.
ftellung befcheert. Nur Weniges von diefem Gebiete kann als ganz verfehlt
bezeichnet werden; die ungeheure Mehrheit der Bilder waren mittelgute
Reiftungen,, forgfältig und correct ausgeführt, ohne jedoch Hervorragend zu
fein. Neben den deutichen nahmen wie immer die italienifhen Motive den
erften Plag ein. An der Spige der zur letzteren Kategorie gehörigen Werke
ftebt ein Bild von Damald Achenbach. Auch Gurlitt, Krüger, Hertel haben
Tüchtiges geleiftet. Unter den Darftellern deutfcher, fchmeizerifcher und tyroler
Gegenden mögen Hummel, v. Kamecke, Ruths und Spangenberg befonders
hervorgehoben werden. Die Romantik des Meereöftrandes® mar in hervor:
ragender Weiſe dur Douzette, Scherred, Andreas Achenbah zur Anſchauung
gebracht. — Auch in der Arcitefturmalerei war Tüchtiges geleiftet. — Nicht
minder Anerkennenewerthes enthielt die Abtheilung der Aquarellen und
Kupferftihe. Der Raum verbietet aber, weiter darauf einzugehen. — Als
Thiermaler verdient Paul Meyerheim mit einigen prächtigen Gremplaren er
wähnt zu werden. Auch an einer Anzahl recht brav componirter „Stillleben*
fehlte es nicht.
Die Skulptur pflegt auf unferen Auaftellungen gegen die Malerei ganz
zurüdzutreten. Doc enthielt diefe Abtheilung auch diesmal eine Reihe febr
beachtenäwerther Stücke. ine höchſt geniale Compofition iſt da® Modell
eines für den Sohn des Dr. Stroudberg beftimmten Grabmonumentd von
Reinhold Begad. Die reinfte Freude fonnte man an zwei anderen Bild»
werfen deäfelben Meifters haben: „Merkur und Pſyche“ (Gypsmodell) und
„Ban und Pſyche“ (vortrefflih in Marmor ausgeführt). Bon fonjtigen ein
heimifchen Künftlern war eine Reihe tüchtiger Portraitbüften auägeftellt
Die Staltener glänzten, wie gewöhnlich, mit einer Reihe zterlicher Marmor-
ftatuetten; doch fommt man immer mehr zu der Erkenntniß, daß hinter der
anmuthigen Form ihrer Bildwerfe herzlich wenig Geift zu finden ift.
Und nun genug! Ich bilde mir nicht ein, im Vorſtehenden dem Leſer
auch nur entfernt ein anfcbauliches, umfaſſendes Bild unferer diesmaligen
Ausftelung gegeben zu haben; in dem ganzen Rahmen eines einzigen Briefes
war da& bei der Ueberfülle des Steffs eine Unmöglichkeit. Meine Darftellung
mußte fih auf eine bloße Andeutung der bier zur Erfcheinung gelangten
Hauptrichtungen befchränfen. Dem unbetheiligten Lefer wird damit ohnehin
übrig genug zugemuthet fein.
237
Vom deutſchen Reichstag.
Berlin, den 1. November 1874.
Die Thronrede hat dem Neichätag eine größere Arbeitsfülle in Ausſicht
geftellt, ald man erwartete. Zu den drei Gefegen über die Gerichtöverfaffung,
dad Civilverfahren und das Strafverfahren, fol, wie es feheint, noch in diefer
Seſſion au die Coneurdordnung vorgelegt werden. Dur dieſes letztere
Gefe wird fich allerding? die Reichdtagsarbeit nicht vermehren, fondern nur
Ye Arbeit der zur Vorberathung der Neichäjuftizgefege zu bildenden Com—
affion, die man ja bevollmädtigen will, ihr Werk einer fpäteren Seffion
vorzulegen.
Anders fteht e8 mit den angekündigten Vorlagen über das Heermefen.
Diefe werden tem parlamentarifhen Fleiß reichlich zu thun geben. Da find
drei Gefegentwürfe, nämlich: 1) über den Landfturm, 2) über die Gontrole
vr Beurlaubten, 3) über die Naturalleiftungen für die bewaffnete Macht
im Frieden. Dazu fommt bei der Berathung der Heeredauspaben die längft
erwartete Mehrforderung, welche durd; Erhöhung der Matrikularbeiträge auf
gebracht werden fol. Der Vorſchlag diejer Erhöhung wird unausbleiblich
dazu führen, den Modus der Aufbringung des Reichsbedarfs principiell zu
erörtern. Wir werden von Reichseinfommenfteuer und von Tabakſteuer zu
hören befommen. Sehr interefjante Gegenftände für den Finanzpolitiker,
und überdem von praftifcher Unvermeidlichkeit, aber nicht zu erledigen in dem
turzen Raum diefer Seſſion. Die Beſchlußfaſſung über die Heeredausgaben
wird durch die immerhin nicht zu umgebende Anregung diefer Frage nicht
on Kürze gewinnen. — Die Borlegung ded Banfnotengefegentwurfd ift mit
Leftimmtheit erwartet worden und der Reichötag hat feine dringendere Pflicht
als dieſe Vorlage pofitiv zu erledigen. Dagegen ift wohl die Frage erlaubt,
od ed nöthig war, das Geſetz über die Ginrichtung des Reichs-Rechnungs—
befed und das damit im Zufammenhang ftehende Komptabilitätögefeg, deren
Entwürfe fhon im Frühjahr vorgelegt, aber nicht berathen wurden, bereits
wiederum Diefer im Verhältniß zu ihrer Dauer überlafteten Herbitjeffion aufzu-
türden. Die Prüfung der Rechnungslegung über die Jahre 1867—71 erfordert
hen ein gut Stüd Arbeit, ohne zu den Hauptgegenftänden der Seffton zu ge,
hören. Zum erften Mal bat der Neichdtag über den Haushalt des Reiche.
landes Elſaß und Kothringen zu befchliegen. Wenn diefer Haushalt auch
riht von großem Umfang fein wird, fo dürfte die erfte Erörterung desſelben
doch zu einer weitläufigen Verhandlung ſich geftalten, weil fie eine gewiffer-
maßen grundlegende Arbeit if. Der gewichtige Schluß, mit welchem die
Thronrede auf die auswärtigen Verhältniffe Bezug nimmt, bedarf unferes
238
Commentares nit. Da wo man es hören fol, wird man vielleicht beherzigen
daß ſyſtematiſch fortgefeste Verläumdungen für den Verläumder ihre Gefahren
haben Eönnen, aud) wenn der Verläumdete ftill Hält. Eines Tages Fann der
Berläumder, um fich nicht felbit Rügen zu ftrafen, genöthigt fein, die erften
Schritte auf dem Wege zu thun, den er einfchlagen müßte, wenn er feinen
Ausftreuungen felbft Glauben ſchenkte. Auf diefem Wege wird er aber dem
Schwerdte der Bertheidigung ohne Verzug begegnen. —
In der Arnim’schen Angelegenheit hat die abgelaufene Woche miederum
einige merfwürdige Incidenzpunkte zum Vorſchein gebracht. Der Graf hat für
gut befunden, feine Briefmechfel mit dem auswärtigen Amt über die feiner:
ſeits einbehaltenen Schriftftüde außer an verfchiedene ausländifche Blätter
an zwei oppofitionelle deutfhe Zeitungen mitzutheilen. Ferner ift der Graf
auf Grund ärztlihen Zeugniffes, welches die Folgen der Gefängnißhaft für
feine Gefundheit als nicht wieder gut zu machende bezeichnet, gegen Caution
aud dem Gefängniß entlaffen worden, nachdem fein diefem Yeugniß voran-
gegangener Antrag auf Entlaffung aus der Haft in allen drei Inſtanzen
verworfen war. Wenn die Entlafjung ſchließlich doch erfolgt ift, fo hat
man, wie glaubwürdig verlautet, den Grund nicht blos in dem auf die neuefte
ärztliche Unterfuhung baftrten Zeugniß zu fehen, fondern vor allem in dem
Umftand, dag die Vorunterfuhung gefchloffen und Feine Verdunkelung dei
Thatbeftandes mehr durch den in Freiheit gefesten Angeklagten zu befürchten
fteht.
Diefer Angeklagte thut indeß, was in feinen Kräften iteht, um big zum
Tage der gerichtlichen Verhandlung die öffentlihe Meinung auf die Noth—
wendigfeit feiner Verurtheilung vorzubereiten. Welche Verblendung muf
einen Mann befangen, der im Stande ift, einen ſolchen Briefwechſel der
Deffentlichkeit zu übergeben, deſſen Inhalt das gerichtliche Urtheil, und nur
nicht die Verurtheilung, überflüffig madht. Der allgemeine Gang der An-
gelegenheit, wie er bereit® befannt war, wird hier beftätigt, aber durch be
deutungsvolle Einzelheiten bereichert. Recapituliren wir noch einmal.
Im Botſchaftsarchiv zu Paris wird eine erftaunlicd große Lücke in den
Aftenftücen bemerkt. Man fchreibt an den zur Dispoſition gejtellten Bot:
ſchafter. Derfelbe fendet vierzehn Erlaffe und Goncepte ein. Damit tft in
deß die Lücke bet Weitem nicht ausgefüllt. Man fehretbt alfo nochmald an
den bisherigen Chef der Botſchaft, erinnert ihn an feine Verantwortlichkeit
und fordert ihn auf, fich über die fehlenden Nummern amtlich zu äußern.
Und nun verlegt fich diefer bisherige Chef einer der wichtigſten Botſchaften
auf Einreden und Ausflüchte, die geeignet fein müßten, den audgezeichneten
Auf der Pflichttreue des preußifchen Beamtenftandes gänzlih zu erjchüttern,
wenn ſich nicht bald die Bemerkung aufdrängte, daß man einen geiftigen
Ausnahmezuftand vor fih bat. Graf Arnim meigert fih, eine amtliche
Yeußerung abzugeben, weil er nicht mehr Beamter fe. Ald ob ein zur
Diepofition gejtellter und ein aus dem Staatsdienft entlaffener Beamter
nit gerade darin unterjchieden wären, daß der erftere jeden Augenblick zu
amtlihen Dienftleiftungen berufen werden kann und folglich den allgemeinen
Berpflihtungen des Staatödienerd zu genügen hat. Aber felbft der entlaffene
Staatsdiener ift durch feinen Dienſteid verpflichtet, Hinfichtlich feiner ehe»
maligen Amtöführung jede erforderliche Auskunft zu geben. Unter fophi-
fiiher Berufung auf das Neichsbeamtengefeb behauptet der Graf, zur Die-
zeſition des Kaiferd, nicht aber zu der feiner ehemaligen Oberbehörden zu
fhn. Als ob der Kaifer durch ein andered Organ, ald da® der Oberbe-
hörden, mit einzelnen Beamten in Verkehr trete, ald ob der Kaifer bei der
Ierfügung über einzelne Beamte etwas anderes, ald die Vorfchläge und Be-
dürfniffe der Oberbehörden zur Richtfhnur nähme! — Sodann ſucht der
Graf einen Unterjchied aufzuftellen zwijchen dem Entnehmen von Aktenftüden
und dem VBorenthalten derfelben dadurch, daß man fie nit am gehörigen
Orte niederlegt: ein Unterfchied, der allzu fein tft. Was aber jeden Leſer
dieſes Schriftwechfeld, der die altpreußifchen Traditionen liebt und ehrt,
Hören und Sehen vergehen machen muß, ift die Behauptung ded Grafen,
daß er nicht verantwortlich fei für die Lücken, die ſich nach feinem Abgang
im Archiv der ihm unterftellten Botfchaft gefunden haben könnten, felbft
dann nicht, wenn fie während feiner Amtsführung entftanden wären. Man
freuzigt fich und fragt fih: ift das der preußifche Beamtenftand, wo fo cas
wlierement, zu deutſch: fo lüderlih von der Behandlung der Staatddocu-
mente gefprodhen wird? Das Erftaunen mehrt fich bei den Auslaſſungen des
Grafen über die einzelnen Nummern der fehlenden Aktenftüce. Da heißt e8 einmal
um dad andere: „jollte eigentlich bei meinen perſönlichen Akten fein, ift aber
nit dabei.” Der Herr Botjchafter 5. B. fertigt die Behörde, die er nicht
mehr als vorgefegte anerkennen will, mit dem Befcheid ab: „gehört Eu
nicht und Ihr könnt es auch nicht Friegen.” Ein kurzes und leichtes Ver—
fahren ohne Zweifel, das demofratifche Sympathien verdient, bei dem aber
tin Staat möglid ift. Das Merkwürdigfte jedoch kommt noch. Cine Reihe
von Erlafjen, zehn an der Zahl, behandeln die Amtsführung des Botfchafters,
gegen welche die Erlaſſe Genfuren verhängen und Anklagen ausfpreden.
dieſe Erlafje erklärt der Graf für fein Privateigenthum, weil fie feine Amts
führung betreffen. Auf diefe Weife würden allerdings die intereffanteften
Aktenſtücke ſämmtlicher Geſandtſchaftsarchive Eigenthum der zeitweiligen Chefs.
Der Graf erläutert dieſen ſeltſamen Anſpruch durch die Behauptung, daß er
zu feiner Vertheidigung der Anklagedocumente bedürfe.
Hier fallt plötzlich ein ſcharfes Licht auf das nach dem bisherigen äuße—
240
ren Anſchein nicht Leicht erflärliche Benehmen de Grafen. Der Natur
Sache nad iſt eine vorgejeßte Behörde in Betreff der Dienitleiftungen in
Regel Unkläger und Richter zugleih; fie weiß am beiten, worüber fie Flagt
und bedarf nicht des Vorhaltend ihrer eigenen Anklagen. Aber der Graf wollte
vielmehr diefe Anklage einer dritten Perſon vorhalten, bei der er fi, mit:
Mebergehung feiner vorgefegten Behörde, vertheidigen wollte Diefe dritte
Perſon ift Niemand anders, ala des Kaiſers Majeftät. Graf Arnim wollte,
die gegen ihn erhobenen Anklagen in der Hand, feinen Ankläger anklagen;
Er ſchreibt an den Staatsfekretär ded auswärtigen Amts: der Reichskanzler
befhuldige ihn, mit einer der Perſon ded Kaiferd vermandtfchaftlih jo nahe
als möglich ftehenden Perſon gegen den Neichäfanzler conſpirirt zu haben.
Es find offenbar diefe, nach halbamtlichen Verficherungen überdied gegen da
Driginal geänderten Worte, um derentwillen Graf Arnim diefen ganzen
Schriftwechſel der Deffentlichkeit übergeben hat. Gin beredte® Zeugniß für:
die Befchaffenheit feines Patriotismus. Wenn der Graf in feinen Zujchriften
an dag auswärtige Amt mit herausforderndem Trotz feine Gleihgültigkeit
gegen ein ftrafrechtliches Verfahren ausdrüdt, fo fieht man deutlich: er hat‘
darauf gepodht, daß man die Herauögabe folder Dokumente niemals werde‘
gerichtlich erzwingen wollen, um den Inhalt nit an die Deffentlichkeit
kommen zu lafjen. est wo dies dennoch gefchehen ift, trägt der Graf Sorge,
den Inhalt der von ihm einbehaltenen Dokumente in den großen europäijchen
Zeitungen zwifchen den Zeilen lesbar zu machen, damit da® Gericht, durd
etwaigen Ausſchluß der Deffentlichfeit dad Staatäintereffe und hohe Rüd-
fihten des Anftandes zu wahren, außer Stand gefegt werde. Dieſe letzte
dur den Grafen bewirkte Beröffentlihung muß den Verdacht erzeugen, da
er die einbehaltenen Aftenftüde nicht blos einbehalten hat, um fie an ded
Kaiferd Majeftät zu bringen, wo er die Bekanntſchaft mit dem Inhalt voraus
fegen mußte, fondern auch noch zu anderweitem Gebraud. —
Menden wir und für heute zu einem humoriftifchen Zug in diefer trau-
rigen Gejchichte, traurig durch den Beweis, zu welchem Grad von Pflicht:
vergeffenheit Größenwahnfinn und Eitelfeit einen Mann vom alten preußifchen
Adel in hohen Vertrauensämtern führen Eonnten. Der humoriſtiſche Zug
aber ift folgender. Graf Arnim, erinnert, daß für jeden Beamten zur Did
pofition eine vorgefeßte Behörde gegeben bleibe, fragt: wer denn die vor:
gefegte Behörde des in Ruheſtand verfegten Reichskanzlers fei: Die felbft-
verftändliche Antwort: der aktive Reichskanzler, hat er nicht gefunden, weil
er fih an die Logik der Krähwinkler auf den Bilderbogen für Kinder hingab.
Ein ſolcher Mann iſt von dem Ehrgeiz gepeitſcht, den Fürſten Bismarck zu
erſetzen. Iſt das nicht humoriſtiſch? C—r.
— — — —
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Hand Blum in Leipzig.
Berlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Kegler in Leipzig.
Die
Grenzsboten.
Zeitfhrift
für |
Solitik, Literatur und Kunfl.
Ne 46.
| Ausgegeben am 13. Nopember 1874.
— —
Inhalt:
. Seite
Hiftorifhe Studien über Don Garlos. I. a Maurenbreder. 241
Selbftbiographie von Friedrih Bifhbad. . ». .... . 255
Bilder aud Medlenburg. Aus den Tagen der ⸗— 3.
j Bon Hugo Öaedde . » 2: 2 200 nen . 264
Vom deutfchen Reichstag. C—t. » » » 2 2 nn — 219
Die Challenger-Erpedition. G. . 0... 273
| Der obligatorifche Unterricht in der frangöfihen BR im oieß⸗
herzogthum Luxemburg. N. Steffen 277
Grenzbotenumſchlag: Literariſche ——
Hierzu eine literariſche Beilage von Dtto Spam er in Leipzig.
nn EEE OF ⏑ü— —
Leipzig, 1874.
Friedrich Qudmwig Herbig.
(Ir. Wild. Grunow.)
Dan abonmirt bei allen Buchhandlungen und Poftämtern des In: und Auslandes.
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nis, Datum, einer Zahl oder Thatsache X
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} 1963 Il. Oktavseiten mit 52,000 Ar- —
| tikelnund über [VO Karten und Beilagen. w
Gebunden in 1 Halbfranzband 5 Thlr. ®;
Vorräthig in allen Buchhandlungen, —3
Bihliographisches Institnt in Leipzig "
(vormals Hildburghausen), ”
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In Ferd. Dümmler's Verlagsbuchhandlung
arrwitz und Goßmann) in Berlin erfcheint:
Magazin
für die
Kiteratur des Anslandes.
Begründet
| von
Joſeph Lehmann.
Dreiundvierzigfter Jahrgang.
Wöcentlih 11%, bie 2 Er Quart; Preis viertels
jabrlih 1 Thle. 10 Sar.
Das „Magazin“ ift durch a Poftanftalt und
Buchhandlung, auch von der Verlagsbuhhandlung
zu beziehen. Gine Probenummer liefert jede Buch—
handlung unentgeltlich.
No.
Artikel:
Deutſchland nnd Das Ausland. Für Longfellow
gegen E. Eckſtein. 649. — SHiftorifhe Porträts
und Schlahhtenbilder auf der Berliner Kunſtaus—
ftellung. 651. — Jtalien. Zeitungen des nörd-
lihen Staliend. Bon Ludwig Geiger. I. 652. —
England. Der 5. November in England. 655.
— Nenlateinifhe Literatur. Olympia Fulvia
Morata. Bon Dr. Herman Müller. L 656. —
Afien. Indifhe Archäologie. 659. — Heine
literarifhe Rebue. Sainte-Beuve, Premiers
Lundis, 660. — Der moderne Diogenes. 661.
— Leid und Luſt. 661. — Religion und Natur-
wiffenjchaft. 661. — Petrus de Ebulo, liber ad
honorem A ti. 662. — Kodmopolitißmus und
Patriotiämus. 662. — Sprechſaal. Fünfund⸗
„pmwanzig Jahre Kaifer. 662. — Höhere Bürger:
chule in Karleruhe. 663. — Attike Malerei. 663.
45 des „Magazin“ enthält folgende
|
|
En
” Die soeben erschienene No. 45 der Je
Literaturzeitung im Auftrage der Unive:
J
ena herausgegeben von Anton Klette, J«
Mauke’s Verlag (Hermann Dufft)
‘enthält Besprechungen von:
C. J. Böttcher, Germania sacra:
Eb. Schrader. L. Büchner, der Gottesb»;
von W. Bender. E. Löning, die Verwa)
des Generalgouvernements im Elsass
H. A. Zachariä. P. Gautsch v. Fran!
thurn, die confessionellen Gesetze :
W. E. Knitschky. J. Amann, zur m:
nischen Behandlung der Versionen und Fl.
nen des Uterus, von A. Hempel. H.Roser
Curven dritter Ordnung: von F, Lindem;
A. Jentzsch, die geologische und mine:
gische Literatur des Königreiches Sachsen -
E. Schmid. Descriptiones terrae san:
herausgegeben von Titus Tobler: v. K. Por
L. Mendelssohn, de senati consultis Ro
norum ab Josepho antiqu. XIII. XIV. rel:
von W. Grimm. P. Scholz, Erwerbung
Mark Brandenburg durch Karl IY:
S. Riezler. Platonis editio Didotiana: :
H. Sauppe. Thucydidis libri I. II., ed
A. Schöne: von J. M. Stahl. E. ©. Geh!
de elocutione Isocrates: von P. Bl:
W. Hörschelmann, de Dionysii Thraeis ir
pretibus veteribus: von Moritz Schm
C. Stephany, de nominum oscorum deelinat:
cum latinis comparata: von F. Büche
O. Korn, de codieibus carminum Ovidiano
ex Ponto datorum Monacensibus: von A. Rie
C. Tacitus a C. Nipperdeio recognitus:
A. Dräger. O. Schüssler, de Q. Caurtii |
eodice Oxoniensi A.: von A. Bussr
O. Erdmann, Untersuchungen über die Syn
der Sprache Otfrieds; von BE. Windis:
W. Begemann, zur Bedeutung des schwacl
Präteritums der germanischen Sprachen: ı
E. Sievers. J. Jacob, die Bedeutung
Führer Dante's in der divina commedia: :
FE. X. Wegele. H. C. Hilmer, s. je pror
personn. frangais: von H. Suchier. P,.W. w
per, sur le conditionnel: von H. Suchi
G. Klöpper, sur l’emploi du partieipe fran;
dans la langue ancienne et moderne: ı
H. Suchier.
Soeben erfhien und ift in allen Budhba
lungen vorräthig :
Induſtrie⸗
Handelsgeſchichte
& erfi
Sandelsfäjulen, Handelsbefliffiene und
Greunde des Handels.
Bon —
Profeſſor Friedrich Körner
Eleg. broſch. Preis 1 Thlr..25 Sgt.
Leipzig, November 1874.
r
—.
* RAY:
Hiſtoxiſche Hfudien Über Don Garlos.
1.
Wie parador es Flingen mag, Antheil und. Intereſſe ded größeren
Publikum an den wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen der Geſchichtsforſcher iſt
eine Sache, die ihre zwei Seiten hat. Welcher Hiſtoriker ſollte ſich nicht
erfreuen und beleben bei dem Gedanken, daß auf ſeine hiſtoriſchen Arbeiten der
Blick weiterer Kreiſe ſich richtet, — und doch liegt dabei die Gefahr nahe,
daß Liebhabereien und Vorurtheile derjenigen, welche die Arbeit ſelbſt nicht
mitmaden, welche aber von ihren Früchten mitgenießen wollen, auf den
Arbeitenden Einfluß gewinnen! Berührt eine hiftorifche Arbeit ein Gebiet
oder eine Frage, die von politifhen PBarteiftrömungen erfüllt find, fo pflegt
fehr ſchnell und fehr Leicht das Urtheil über die hiſtoriſche Arbeit fih nah
dem Verhältniß ihrer Refultate zu der politifchen oder fonftigen Tendenz
des Urtheilenden zu beftimmen. Wer 5. B. heute über die Geſchichte des Papft-
thums Forſchungen anftellt, kann fich täglich da8 Vergnügen verfchaffen, diefe
erbauliche Erfahrung zu machen. Bielleiht noch bedenklicher geftaltet fich
dies Verhältniß da, mo poetifche und Afthetifche Reminiscenzen und Sympa-
thien ihr Wort mitreden. Alle Eritifche Arbeit Hiftorifcher Forſchung bleibt
ohnmächtig gegenüber den Dichtungen gottbegnadeter Lieblinge der Menfchen.
Mit unüberwindliher Macht bannt das Dichterwert Geift und Seele der
Menſchen in eine beftimmte Vorftelung hinein; es läßt fie nicht los und
zwingt immer wieder diefelbe Vorftellung den Gemüthern auf.
Wir haben ja recht häufig die Gelegenheit diefe Beobachtungen zu erfahren
an der Herrfchaft, die Schiller’d Don Carlos noch immer über den hiftorifchen
Don Carlos ausübt. Wie groß auch die dichteriichen Vorzüge ded Schiller:
[hen Dramas fein mögen, alle Welt weiß, daß der wirkliche Don Carlos
ein ganz anderer gemejen als der ideale Jüngling unfere® Dichters. Eben
wegen diejer Verjchiedenheit der beiden Figuren follte man hoffen dürfen, daß
fie einander in Ruhe laffen, daß fie friedlich neben einander fortleben Fönnten.
Uber nein, der rührende und intereffante Infant Schiller’3 läßt den traurigen
Namendvetter der Gefchichte gar nicht recht auffommen.
Es bedarf nur einer furzen Bemerkung, um an die biftorifchen Arbeiten
zu erinnern, melde den Unterſchied zmifchen dem poetifchen und hiftorifchen
Grenzboten IV. 1874. 31
242
Don Garlos feftgeftellt und das Bild des hiftorifchen zu umzeichnen verfucht
haben. Bekanntlich beruht Schiller's Drama auf einem Hiftorifhen Roman
de8 17. Jahrhunderts, dem Büchlein des Franzofen Saint-Real Don
Garlo®, Nouvelle historique 1692. An die hier vorgetragene Erzählung
glaubt Fein Menſch mehr: in der Zeit, in welcher die öffentlihe Meinung
von Europa dur die franzöfifche Literatur beherrſcht und von franzöſiſchen
Abfichten geleitet war, in der e8 den Franzoſen daran lag, gegen die dereinſt
fo mächtigen Spanier Gegenfag und Abſcheu zu erregen, in jener Zeit
zimmerte aus einzelnen überlieferten Anekdoten und Zügen Saint-Real die
befannte Gefchichte zufammen von dem Liebesverhältniß des Prinzen Don
Carlos zu feiner Stiefmutter, von dem feindlichen Gegenſatz zwiſchen Vater
und Sohn und von der durch König Philipp herbeigeführten Vernichtung des
gefangen gefegten Infanten. Nun Hatte aberding® ſchon 1817 der Spanier
Llorente diefe Ueberlieferung erfhüttert und ihren Widerfpruch gegen authen:
tifhe Documente gezeigt. Nachher war es das DVerdienft Leopold von
Ranke's 1829 die mwichtigften und bedeutendften Controveröpunfte dieſes
Gegenftandes erörtert zu haben, indem er die jpanifche und die antifpanifche
Literatur einander gegenüberftellte und an ficheren Akten fie beide prüfte (Zur
Geihichte ded Don Carlos, in den Wiener Jahrbüchern der Literatur, Bd. 46).
Damit war freilich die Frage felbft immer nod nicht entjchteden ; ed blieben
noch viele Räthfel übrig. Auch nachdem der Liebesroman aus der Geſchichte
des Don Carlos getilgt und der prinzipielle Gegenfas des für die Volks—
rechte begeifterten Prinzen und des tyrannifchen Königs nahezu ausgelöſcht
war, aud dann blieben immer noch der innere Charakter des Don Carlos,
die Urſachen feiner Einfperrung und feine Unterganges zu erforjchen. Da
haben fih nun deutfhe und aufßerdeutfhe Forfher mit diefem Probleme
befhäftigt — Raumer und Helfferih und Warnkönig, Prescott
und de Eaftro und Lafuente, Mouy und Gahard — unter allen
anderen aber ragt das große Werf Gachard's hervor (Don Carlos et
Philippe II. 1863 in 2 Bänden). Das fpanifche Arhiv von Simankas hat
Gahard gründlich benust und durchforſcht; außerdem aber noch die Samm-
lungen in Paris, Wien, Venedig, Florenz, Turin und London zu Rathe
gezogen. Er bat eine große Fülle von Notizen zufammengetragen, man
fann fagen, dur ihn ift das hiftorifche Fundament für unfere Kenntniſſe
und Urtheile dauerhaft. gelegt: eine jede jpätere Erörterung wird vornäm-
ih mit diefem Materiale Gach ard's zu operiren haben.
Auf Grund diefer Nachrichten Fonnte man ein Doppeltes für befeitigt
halten: einmal die dichterifche oder romanhafte Annahme eines Liebesver—
hältniſſes zwiſchen Stiefmutter und GStieffohn, fodann aber auch die oft
zur Erklärung ded ganzen Räthſels geäußerte Vermuthung, der fpanifche
1 Lu
243
Prinz fei dem Proteftantismus zugeneigt gemwefen. Es mar außerdem
der äußere Verlauf des Lebens durch Gachard fichergeitellt, der Beſtand
der Thatfachen bei der Verhaftung des Prinzen war klar gemacht und dazu
war noch alles zufammengetragen, was die fpanifchen Staatdmänner, der
ſpaniſche König felbft und die auswärtigen Diplomaten an feinem Hofe von
Urtheilen und Motivirungen und Anfichten über den Vorfall ausgefprochen
hatten. Auf die Frage, mad denn eigentlich die Urfache zur Kataftrophe des
Prinzen geweſen, mar es jett erft möglich, mit einiger Ausſicht auf Erfolg
eine Antwort zu verfuhen. Ich bin dur archivaliſche Studien über das
Zeitalter Philipp's II. auh an died Thema herangeführt worden und habe
[bon früher den Verſuch gemacht — 1864 in einer Abhandlung über Don
Carlos in der Hiftortfchen Zeitfchrift, und 1869 in einem Vortrage, der in
der Virhom-Holzendorf’fhen Sammlung von populären Vorträgen gedruckt
ift (Heft 90) — mit dem vorhandenen Materiale Gahard’®, dad ich aus
meinen eigenen archivaliihen Studien noch um einige nit unwichtige Stüde
vermehren konnte, dies intereffante Problem zu löfen. Mit möglichiter Vor—
fiht galt es fich nicht in Vermuthungen zu bewegen, die von Andern aufge-
ftellten Hypotheſen vielmehr an den Aftenftüden zu prüfen und durch eine
Zergliederung ihres Inhalte dem wirklichen Sachverhalt wenigſtens möglichft
nahe zu Fommen. In der erften Abhandlung hatte ich ausführlicher den
Inhalt der Quellen dargelegt und in mehr zurücdhaltender Weiſe die Frage
nah dem wirklichen Grunde der Kataftrophe des Don Carlo behandelt.
Nah erneuerter Erwägung der einzelnen Zeugnifje hatte ich fpäter geglaubt
beftimmter das Refultat formuliren zu dürfen. Sch wies fehr entjchieden die
auch von Anderen ſchon miderlegte Annahme unerlaubter Beziehungen zu
feiner Stiefmutter ald Grund ſeines Unglücks ab. Ich konnte mih auch
davon nicht überzeugt halten, daß der Prinz ein Anhänger freierer, Humanerer,
liberalerer Tendenzen, ein Gegner der Kirchlich-politifchen Beſtrebungen feines
Vater? geweſen oder daß er Hinneigung zu proteftantifchen Meinungen
Irgendwie an den Tag gelegt habe. Dagegen glaubte ih ald Motiv für die
Befeitigung des Prinzen die bei König Philipp zum Durchbruch gelangte
Veberzeugung aufftellen zu dürfen, daß Don Carlos nit ein geeigneter
Nachfolger für fein Werk fein werde, — „ei e8 daß er mehr an dem BVerftand
und Charakter feine® Sohnes, ſei e8 daß er mehr an dem Glauben und
Willen deffelben gezmeifelt.“ Mir hatte fich ergeben, daß der Prinz halb
für verrüdt halb für Kirchen» und ftaatögefährlich angefehen wurde, — „ih
denke, fein Wefen ift eine Mifchung aus diefen unheilvollen Elementen ge
weſen,“ fo ſchloß meine Erörterung.
Died war das Refultat wiederholter Studien und Ermägungen. Das
Material aber war und ift überhaupt ein doppelte, auf >18 man ſich bei
244
diefer Unterfuhung zu ftügen hat: zunächſt find es Berichte diplomatifcher
Agenten am Mapdrider Hofe, Depefchen der venettanifchen, florentintjchen,
päpftlichen, franzöfifchen und Hiterreihifchen Gefandten; fodann neben den»
felben (theilmeife auch in denfelben überliefert) Erklärungen der fpanifchen
Regierung, fhriftlihe und mündliche Aeußerungen Philipp's und feiner Staat
männer über den Sohn, mie wir fie ebenſowohl aus den der Kataftrophe
vorhergehenden jahren 1558—1568 Fennen, als auch aus der Zeit nad
der Gefangenfegung ded Don Carlos befisen. Man kann ſich nicht über
allzugroße Deutlichkeit diefer fpanifhen Erklärungen beklagen; ja gerabe da-
durch ift zum größten Theile die Unficherheit unferer Ergebnifje hervorgeru-
fen, daß jene Mittheilungen der Regierung mehr mit geheimnigvollen An.
deutungen, mit Winken und halben Worten ſich begnügen ald ganz und
rund heraus die Sache felbft bezeichnen. So wie unfer Material bejchaffen,
mußte ein vorfichtiger und gewiſſenhafter Forfcher ſich hüten ein allzu beut-
liches Reſultat aufftellen zu wollen; das geheimnigvolle und räthjelhafte der
Erklärungen in den eriten Quellenausfagen mußte nothwendiger Weiſe auch
in dem fritifhen Endrefultaltefich mwiederfpiegeln. Begreiflich mag e8 daher fein daf
mit einem Gefühle nicht voller Befriedigung man die Unterfuchungßalten
ſchloß. Aber ohne neue Zeugniffe war nad meiner Meinung es wohl
nicht geftattet, weiter zu gehen in der Aufftellung pofitiver Refultate und An:
fichten, als ich 1869 in dem gedrudten Vortrage gegangen.
Freilich wer nun glaubte den poetifchen Don Carlos aus der Gejchichte
gebannt zu haben, der follte eine Enttäufchung erleben. Dad mag ja wahr
fein, Gefpenfter weichen nicht vor halben und unentſchiedenen Sprüchen zu
rück, — nur ein feſtes, deutliches, nicht mißzuverftehehended, nur ein, menn
ih fo fagen darf, hieb⸗ und ftichfeited Wort fcheucht fie von fremdem Boden
fort. Ein ſolches zu Sprechen waren wir aber bisher nicht in der Rage. Und
fomit haben wir neuerding3 einen Wiederbelebungdverfuh des Schiller’fchen
Don Garlod als des Hiftorifchen gefehen. *) Wenn ich fage, daß derjelbe
ausgegangen iſt von einem unferer gemiegteften und verdienteften Hiftoriker,
von Adolf Schmidt in Sena, fo wird Jeder willen, in welchem Sinne
allein ich die8 Wort von der Wiederbelebung des Schiller/fhen Don Carlos
gebrauchen darf und gebrauht Habe. Davon Fann feine Rebe fein, daß
Schmidt mit poetifchen Vorausſetzungen oder mit poetifhen Tendenzen an
die Frage herangetreten ift, oder daß er auch nur die Eleinfte Anleihe bei
poetifhen Motivirungen hätte machen wollen, — nein fein Material ift ein
zig das hiſtoriſche Quellenmaterial, und zwar Fein anderes ald es im Bude
Gachard's zu Jedermanns Benutzung ausgebreitet liegt, mit ſelbſtverſtändlicher
æA. Schmidt, Epochen und Kataſtrophen. Berlin, A. Hofmann 1874. (3. Abhand⸗
lung: „Don Garlod und Philipp II.“) Vgl. meine Recenfion in der Jenaer Literaturzeitung.
245
Hinzunahme der durch mich befchafften Ermeiterungen; feine Arbeit ift unter
nommen mit vollftändiger Berükfichtigung und Kenntniß der biöherigen Be-
arbeitungen und Berfuche; feine Abficht ift eine rein Hiftorifhe, ohne jeden
Nebengevanfen. Aber nichts deftoweniger unterfcheidet ſich der Charafter fet
nes biftorifhen Don Garlo® nicht gerade fehr viel mehr von demjenigen Bilde,
dad Schiller idealifirt bat. In der äußeren Geſchichte des Helden weicht
Schmidt von Gachard und mir kaum mefentlih ab; die Kataftrophe des 18.
Januar 1568 erzählt er in allem mefentlichen in Uebereinftimmung mit und;
in der Auffaſſung und Beurtheilung der letzten Periode, jener Zeit zwiſchen
Sefangenfegung und Tod ded Prinzen (19. Januar bis 24. Juli 1568)
ſchließt er fich theilmeife meinen früheren Ausführungen an. Alfo nit da—
tin beruhen die Differenzen. Wohl aber tritt Schmidt bei der Frage über
den Charakter ded Don Carlos und den Grund feiner Befeitigung dur Kö—
nig Philipp auf den Boden der früheren, dur die archivalifhe Forſchung
wie man vielleicht hoffen durfte, befeitigten Auffaffung zurüd.
Sch mwiederhole, nicht in prinecipielem Widerſpruche, zur Forfhung an
ſich fondern mit Benusung alles zu Tage geförderten Materialed langt er
bei diefen Endergebniffen an; gerade indem er die Waffen der Gefchichtäwif-
Ienihaft, die fie zum Umfturz ded Romanes gebraucht hat, in etwas anderer
Weife ſchwingt, baut er in engfter Nachbarfchaft beim Romane fein neues
Gebäude auf. Indem er die Liebedintrigue zwifchen Königin Elifabeth und
Don Carlos ald eine bloße Erfindung preiögiebt, hält er an der „gegenfeiti-
gen innigen Herzendneigung,“ an dem „inneren’Seelenanjhluß* der beiden ju-
gendlichen Gemüther feft. Und den Grund zur Kataftrophe fieht er in der aus
principiellem Gegenfage entftandenen Entfremdung zwiſchen Water und Sohn,
in der Auflehnung des Prinzen wider das ganze politifch Kirchliche Syſtem
feines Vaters. Nicht fomohl ein Charakterfehler oder eine Verfehrtheit in
Don Garlod wäre ſonach anzunehmen, vielmehr würden ihm ald dem Ber-
treter freierer Meinungen die Sympathien erleuchteterer Jahrhunderte zufallen
müſſen; unzweifelhaft hätte der heutige Hiftorifer für den Prinzen gegen den
Bater, deffen Scheußlichfeit mehr mie einmal der Beratung und dem Ab-
Iheu der Leſer gekennzeichnet wird, Partei zu nehmen. Nicht unfer Mitleid,
fondern unfere Bewunderung würde der Prinz verdienen.
Nun ift mir feinen Augenblif darüber ein Zweifel möglich, welche von
diefen beiden Charafterfhilderungen, die von Schmidt oder die von mir ge-
gebene, die Gigenfchaft befist, den gebildeten Lefern in Deutſchland am be
ften zu gefallen. Ein Hiftorifer wiſſenſchaftlichen Rufes, ein firenger Forſcher
beiten Namen? giebt unferem Publikum das Recht zurüd, dad einige unlie-
bendwürdige Kritifafter ihm beftreiten wollten, fi für den ihm in der Dich—
tung liebgewordenen Infanten als einen gefchichtlich beglaubigten Märtyrer
246
und Helden des Fortfchrittes, der Freiheit u. j. mw. zu begeiftern. Wer wird
fich dieſes Rechtes enthalten oder wieder entäußern wollen? wer wird über-
haupt fo bösartig fein wollen, died8 Vergnügen zu ſtören? Man darf er:
warten, daß der von Eritifcher Forfhung neu belebte Heldenjüngling gleich—
fam im Triumphzuge durch die Spalten der Journale hindurd in die Her-
zen poefieliebender Menfchen wieder hineingeführt wird !
Grade aber weil die Gefahr fo nahe liegt, daß die Grenzpfähle zmifchen
Geſchichte und Poeſie verpflanzt und die Arbeit forgfamer wiſſenſchaftlicher
Vorfhung mit Hälfe der dur die neue Aufklärung angenehm angeregten
Öffentlichen Meinung über den Haufen geworfen werde, gerade deßhalb wird
es Pflicht fein, da8 größere Publikum, das ſich für die Sache intereffirt, über
den Sachverhalt felbft und feine Begründung fo ſchnell ald möglich aufzu—
flären. Mit einem Worte, die Charafteriftit des Don Carlos durh Schmidt,
jo geiftreich fie angelegt, fo fcharffinnig und fpannend fie vorgetragen und fo
fritifch begründet fie zu fein feheint, fie ift dennodh unhaltbar uud kann vor
einer kritiſchen Prüfung ihrer Gründe nicht beftehen.
Noch mehr. Die etwa eingetretene oder eintretende Erwärmung alter
oder neuer Don Garlod-Verehrer bin ich in der Rage, ganz unabhängig von
dem Schmidt'ſchen Buche, durch Darreihung eines erfältenden Sturzbades auf
die normale Temperatur fofort wieder herabzuftimmen: Don Carlo if
ſchwachſinnig gemwefen, und die nah und nach feitgeftellte Weberzeu-
gung dieſes feines geiftigen Mangels tft dad Motiv, weßhalb König Philipp
ihn bat unfchädlich machen, d. 5. ihn Hat einfperren müffen. Ich bin fo
glücklich gewefen, bei archivalifchen Studien im Wiener Archiv, die ich in den
legten Ofterferien angeftellt habe, ein Document zu finden, das biäher dem
Auge der Porfcher entzogen und das alle bisherigen Zweifel und Unficer-
beiten und Räthſel im hiſtoriſchen Endurtheile endgültig befeitigt und und
jegt endlich in den Stand fest, mit Beftimmtheit und Nachdruck zu fprechen.
Und wie es bei derartigen archivalifchen Studien auf ſchwierigem und jhlüpf-
rigem Boden öfter geht: hat man erft einmal das auffchließende Wort ge-
funden, fo gewinnen auch ſchon befannte Dinge und Umftände einen. neuen
Sinn und eine neue Bedeutung.
Wir legen hier in möglichfter Kürze den Sachverhalt dar, indem mir
nur die Differenzpunfte etwas genauer beleuchten.
Ueber die erfte Jugend des Don Carlos bedarf es nur weniger Worte.
Am 8. Juli 1545 geboren, hatte er früh feine Mutter verloren und war
bei der wiederholten Abweſenheit feine® Waterd aus Spanten unter der
Zeitung feiner Tante Sohanna von Fremden erzogen worden. Was wir aus
den 13 erften Lebensjahren wiſſen, find abgeriffene Anekdoten, mie fie am
fpanifchen und am kaiſerlichen Hofe erzählt und von den fremden Geſandten,
— ——
247
beſonders von den Venetianern berichtet wurden. Biel Werth iſt darauf
nicht zu legen: ein unbändiged wildes Temperament verrathen fie faft alle.
Nur ein Umftand verdient Beachtung. Ein BVertrauter der habsburgiſchen
RKaiferfamilie, der 1548 mit Erzherzog Mar nad) Spanien gefommen, Gamiz
filderte den fünfjährigen Knaben in einem confidentiellen Berichte als
förperlich gute8 verfprechend, aber von befla genswerther Heftigkeit; er hielt
8 für einen Fehler, daß der Prinz nicht genug von Männern regiert wurde,
die ihn zu bändigen wüßten, und ſah nichts gutes voraus, wenn man nicht
einſchreite.) ALS aus dem fünfjährigen ein dreizehnjähriger geworden, ſprach
fin eigener Hofmeifter, Honorato Juan, es aus, daß feine Untermeifung
nicht rechte Früchte trage, daß er bei feiner Erziehung auf Schwierigkeiten
im Prinzen ftoße, die er nicht überwinden fönne: nur von der perfönlichen
Nitwirfung ded Vaters hoffte er eine befjere Wendung. Diefe fehr inhalts—
ſchwere Meldung des Erziehers ift nun freilich in einer Ausdrucksweiſe ab»
gefaßt, die es abfichtlih umgeht deutlich zu reden: „Philipp werde felbit
jehen“, damit ift unfere Einfiht heute wenig gefördert. Wir erfahren eben
nur jo viel, daß Grund zu bedenklicher Auffafjung der Zukunft des Prinzen
vorhanden war, daß man den abmefenden Vater vorbereitete auf irgend-
welche unerfreulichen Dinge in Don Carlos, — deutlicher redete man nicht.
Nun ift hier gleich der Punkt gegeben, in dem allerlei VBermuthungen
in die Gefchichte Eingang ſich zu erzwingen ſuchen. Was das Mipfallen
der Erzieher hervorgerufen, was des Vaters Bedenken fofort damals
erregt hat, das foll nicht? anderes gemefen fein als der Anfang einer prin-
iipiellen Abmwendung ded Sohnes von dem politifchen und kirchlichen Syfteme
des Baterd. Entgegen den erwähnten üblen Auffaffungen des Prinzen bringt
Schmidt eine Anzahl zeitgenöffifher Stimmen herbei, welche gute Hoffnungen
von dem jungen Prinzen bezeugen. Da möchte ich doch fragen: ift das ein
mit den Grundfägen kritiſcher Forſchung übereinftimmendes Verfahren, wenn
ih Berichte von Diplomaten, die in den eingemeihten Hoffreifen leben, und
wenn ich vertrauliche, nicht für den Markt der Deffentlichkeit beftimmte Er-
Öffnungen betheiligter Perjönlichkeiten widerlegen oder fchlagen oder bidcredi-
firen will durch gelegentliche Lobesphraſen von Kiteraten, die gar nicht über
die Sache beſonders genau unterrichtet find und die vielleicht Hunderte von
Meilen weit von dem Hofe entfernt figen, über den fie reden; aud das
Zeugniß des trefflichen Melanchthon, der in feinem Wittenberg den Studen ten
über das ferne Spanien und die Gerühte aus Spanien gelegentlich etwas
erzählte, kann in diefer Frage ſchwerlich etwas bemweifen. Was etwa heut-
zutage ein braver Paſtor oder Schulmetfter in Deutjchland von Hörenfagen
*) Bericht ded Gamiz an König Ferdinand, vom April 1550, den ich dem Wiener Archive
entnommen und in der Hiftorifchen Zeitjchrift abgedrudt habe, XXXIL, 233,
248
über den lafterhaften Hof Iſabella's II. auftifcht, würde gewiß Niemand in
Vergleich oder in Gegenſatz ftellen mit einem Berichte Eined unferer Diplo-
maten über Iſabella, die am fpantfchen Hof beglaubigt gemefen. Aehnlich ift
bier das Verhältniß der Quellen.
Nun weiß Echmidt audy allerlei zu fagen über die Voreingenommenheit
des Vaters gegen den Sohn, über den tiefen Gegenſatz zwiſchen Beiden, den
er fogar recht dramatifch ausmalt, über den Entfhlug Philipp’ ihn von
allen Staatsangelegenheiten fern zu halten. Bei allen diefen Ausführungen,
die fo fpannend und fo interefjant zu Iefen find, Fann man aber doch die
Frage nicht unterdrüden, woher died alle gewußt wird? mit welchen Quellen:
ausfagen die einzelnen Angaben belegt werden follen? Und mie feltfam ift diefe '
ganze Geſchichte, fobald man ſich nur nicht die Zeitangaben ganz entziehen |
läßt. Bon melden Perfonen ift die Rede? Bon einem Bater, der, als er
1559 nad) Spanten heimfehrte, eben 32 Fahre alt geworden — der alfo in
den Jahren, um die es fich in diefem Augenblid handelt 1559 —1561 in der
erften Hälfte der Dreißiger ftehbt, und von einem Sohne, der noch nichte
weiter ald ein Knabe von 14—16 Jahren if. Wir hören aus der möglicit
fiherften Quelle, d. h. wir hören von dem Erzieher, dem alle Welt die
größten Lobſprüche ſchenkt (und mit Recht erteilt fie ihm aud Schmidt), daß
es nicht gut ftehe mit der Entmwidlung ded Knaben, der, wie mir fonft ver |
nehmen, in diefen Jahren auch vielfach Fränfelte und dahinſiechte. Wo in
aller Welt redet man in ſolchem Falle von „Gegenfas zwiſchen Vater und
Sohn“? Sonft pflegt man dies einen unerzogenen oder ungezogenen Jungen
zu nennen: wenn Einer nichts lernen will oder nichts lernen fann, fo verfugt
der Erzieher ihm das nöthige beizubringen, ohne Rüdfiht auf die eigenen
Meinungen des Zöglinge. Das wäre doch eine recht abenteuerliche Pädagogik,
die einem unerzogenen jungen Manne fo ohne Weiteres dad Recht einräumen
wollte, in kirchlichen und politifhen Dingen als Vierzehn- bis Sechdzehn:
jähriger eigene Wege gehen zu wollen. Wer hat fonft ald Entſchuldigung
für ſchlechte Erziehungsreſultate einen prinzipiellen Gegenfaß des zu Erziehenden
zum Bater gelten laſſen? Wer hier mit derartigem kommt, verfchtebt un-
willkürlich das natürlihe Verhältnig der Perfonen zu einander. Mad mir
bier wiflen, tft nicht® meitere®, ald daß man mit Carlos’ Erziehungdfrüchten
unzufrieden war. Die äußeren Ehren entzog ihm deßhalb Fein Menſch, bei
den Staatdactionen trat er auf an der Stelle, wo er hingehörte, und gerne
hätte man Ihn noch anders befchäftigt, al® es bei dem damaligen Zuſtande
des Prinzen möglich erfchien. Aber, wendet man ein, Philipp hat ihm nicht
EhHrenpoften eingeräumt in der Verwaltung der ſpaniſchen Monarchie, mie es
fonft Sitte war! Das foll dann vom Mißtrauen de Vaters in die ftaatd-
gefährliche Nidhtung ded Jungen Zeugnig ablegen! Zu dieſen künſtlichen
— —
249
Auskunftdmitteln wird nur der greifen, dem es undenkbar ift, daß allein wegen
feiner nicht gehörig geförderten Entwidlung und Ausbildung Philipp von
der Gewohnheit des habsburgiſchen Hauſes abwih. Wie einft Karl V. feinen
Bruder und feine Schweftern, feine Frau und Kinder, den Sohn mie die
Töhter und den Neffen, auch in jungen Jahren nominell an die Spiße
einer Landesverwaltung geſetzt, fo verfuhr auch Philipp, mie befannt, ohne
jeden Anftand mit feinen beiden Halbgefchrotftern. Auch von der Verwendung
des Don Carlos war 1559 ſchon die Rede und oft trug man ſich auch troß
feiner mit den Jahren zunehmenden Charakterverfchlehterung noch wieder mit
dem Projekte, ihn zu vermerthen bei der politiihen Arbeit der Monarchie;
nit Mißtrauen In feine Richtung, wohl aber Mißtrauen in feine Fähigkeit
hat jedesmal die Ausführung gehindert. Freilih, daß Statthalterpoften, an
Vierzehnjährige oder Sechszehnjährige verliehen, Keine wirkliche Bedeutung
haben Fönnen und felbft bei Zmanztgjährigen noch nicht viel befagen, liegt
auf der Hand, aber es wird mie es fcheint gern vergeffen.
Recht draftifch ift ed ferner, wenn man meint, eine religiöfe Entfremdung
habe damald ihren Anfang genommen — im vierzehnjährigen Knaben! Man
kann fi dies zu lebhaften Effektbilde auddenfen. Gezwungen dem Autodafe
am 21. Mai 1559 beizumohnen, in auffallend unverfchämter Weife genöthigt
zu einem ide, den Fatholifhen Glauben ſchützen zu wollen, fei es nicht zu
verwundern, führt Schmidt aus, wenn Carlos zu einem Gegner der Inquiſi—
tion und der Firchlichen Regierungdmarimen Philipp's heranwuchs. So leitet
Schmidt von der abjchredenden Einwirkung der Inquifition die Motivirung
des kirchlichen Gegenfages im Prinzen her. Sch würde der Reste fein, der
Jemanden das Recht zu fubjektiven Gefühlsäußerungen beftreiten möchte.
Ebenſo wie ich ſelbſt vor Kurzem eine Erörterung über die Inquiſition an—
geſtellt habe *), welche eine rein hiſtoriſche und möglichſt objektive Charakteriſtik
dieſes feltfamen Inftitutes erftrebte ohne Beimifhung irgend welcher apologe-
tiichen oder polemifchen Abfiht, ebenfo fiher hat Schmidt die vollfte Berech—
tigung feine entfchiedene fittlihe Entrüftung über die Gräuel der Inquifition
fund zu geben; er darf verfichert fein, daß bei der heutigen Stimmung der
Menfchen feine Worte lebhaften Widerhall finden werden. Aber ein Anderes
darf er niht, — von feiner Gemüthäftimmung einen Salto mortale in die
Gedankenwelt des fpanijchen Knaben zu machen, das ift ihm nicht geftattet.
Was er von Barlos’ damals, 1559, erregten Gefühlen, über die man fih nicht
wundern fönne, erzählt, hat er die Pflicht aus gleichzeitigen Quellen zu be:
weiſen; und von diefer Pflicht wird ihn das eigene fittlich erregte Pathos
wider die Gräuel der Inquifition nicht befreien können. Es find aber, mie
*) Studien und Skizzen zur Gefchichte der Reformationdzeit (Reipzig, F. W. Grunow 1874),
S. 16—21.
Grenzboten IV. 1874. 32
250
ſchon früher bemerft worden ift, Angaben über den Gindrud jener Vorgänge
auf Don Carlos nicht vorhanden.
Was die Kirchliche Haltung ded Prinzen in fpäterer Zeit betrifft, fo habe
ih in meiner früheren Abhandlung gezeigt, daß irgend welche vplaufibeln
Beweiſe für eine firhliche Abweichung vom Katholieismus überhaupt meder
im früheren noch jpäteren Leben vorhanden find, daß alle, was in diejem
Sinne vielleicht auf den erften Blick verftanden werden könnte, im Hinblid
auf die ganz ficher bezeugten äußeren Thatfachen aus dem Lebenslaufe des
Prinzen anders verjtanden werden muß. Das liegt Far audgefprochen vor
und — die einzelnen Zeugniffe habe ich damals zuerft zufammengeftellt —
daß Philipp die Beforgnig gehabt hat, fein eventueller Nachfolger merde
vielleicht nicht der Mann fein, in feinem Sinne feine Rebendaufgabe für die
Aufrichtung der Fatholifhen Kirche fortzufegen; ja in den Kreiſen der fpa-
nifhen Staatsmänner gefiel man fi die zugefpiste Phrafe zu wiederholen,
im Dienfte der Kirche, im Kampfe gegen die Ketzer würde der fpanijche König
nöthigenfalld des eigenen Sohnes nicht [honen. Und man hatte allen Anlaf
zu derartigen Vetheuerungen gerade damald, ald der deutiche Habsburger
Marimilian in dem fehr gegründeten Verdachte des Proteſtantismus ftand
und ald man alle Mittel aufbot, ihn im Schooße der katholiſchen Kirche zu
halten oder ihn dorthin zurückzutreiben: gerade im Hinbli auf diefen Apoftaten
in der Familie erhält jene mehrfach wiederholte Aeußerung der Spanter einen
fehr prägnanten Sinn.*) Seitdem mir ferner wiſſen, was man 1562 ala
Grund alles Mißbehagens über Don Carlos bezeichnet hat, bietet fih auf
für die Worte der Beſorgniß des Vaterd und des Königs über die Zukunft
des Sohned und des Neiches eine ganz ungezwungene Erklärung: ein ſchwach—
finniger Prinz, der feine Arbeit fortfegen follte, mußte ficherlich dem Vater
die größte Unruhe erregen.
Sm Jahre 1560 trat nun in die Umgebung des Prinzen feine Stief-
mutter, die junge Königin Elifabeth ein. Eliſabeth war ungefähr gleichalterig
mit Don Carlos (geboren am 13. April 1545); man hatte 1556 die beiden
zehnjährigen Kinder verlobt und fie mit einander dereinft zu vermählen die
Abfiht gehabt. Der neue franzöſiſch-ſpaniſche Krieg feit 1557 hatte diefen
Pakt felbftverftändlich zerriffen. In den Friedendverhandlungen aber von
1559 trat Philipp felbft, zum zweiten Male Wittwer, in diefe Abmachungen
ein, er nahm fie felbft zur Frau. Anfangs 1560 Fam die beinahe funfzehn-
jährige Jungfrau als Königin nad) Spanien.
Wir befigen über diefe jugendliche Fürftin eine fehr detaillirte und mit
eracten Angaben reichlich ausgearbeitete, auf ſehr zuverläſſige zeitgenöſſiſche
) Bgl. meine Abhandlung zu zur Geſchichte Maximiliau's IL. in dem 32. Bande der Hiflo-
riſchen Zeitfchrift.
251
Quellen vorfihtig und gewiſſenhaft geftügte Biographie aus der Weder de?
Marquis du Prat.*) Wir vergegenwärtigen und an ihrer Hand aus den
Gorrefpondenzen des franzöfifchen Gefandten und der franzöfifchen Umgebung
der jungen Königin ohne Schwierigkeit die betreffenden Verhältniſſe. Da
tele ih nun heraus, daß Carlos freundlih der Mutter und fie mit Herz-
ihkeit und Theilnahbme ihm entgegengefommen ift. Wir erfahren fehr
Veutlih, was für Eliſabeth das Motiv ihres befonderen Intereſſes war: fie
folte und wollte die Hand des Stieffohnes für ihre eigene jüngere Schweſter
gewinnen, zu diefem Endzwecke fuchte fie auf ihn einzumirken. In der That,
jehr einfach und deutlich ift der Sachverhalt, — ein ganz reined Verhältniß.
Aber ſtandalſüchtige Klatfchen hat es au im 16. Jahrhundert gegeben —
unfaubere und pifante Erfindungen fanden auch damals ein gern und eifrig
lauſchendes Publitum. Nun wurde nad) dem Tode ded Don Carlos, dem
ja fehr bald der Tod der Königin folgte (der, beiläufig, der Behandlung der-
jelben im Wochenbett durch die fpanifchen Aerzte vieleicht nicht mit Unrecht
Schuld gegeben wurde) allerlei gezifchelt und ausgetragen, ald ob Philipp
beiden Borfällen nicht fremd geblieben. Der große Prinz Wilhelm von
Dranten verfündete offen und ungefcheut in feinem großen Manifefte 1581
dem erfchredten Guropa diefe Dinge, in jener mit der ganzen Leidenjchaft
ines unverföhnlichen Haſſes gefchriebenen Brandfchrift gegen feinen jpanifchen
Gegner: wir fühlen mit gejpanntefter Theilnahme mit diefem wirklich großen
Tanne, wenn wir auc) nicht jedes feiner in der Leidenſchaft hinausgeworfenen
Shmähmworte für richtig halten, — wir verftehen jedenfalls die Wuth, die feine
Feder geführt. Ungefähr zwei Jahrzehnte nachher griff der franzöfifche
Abenteuerer und Pamphletiſt Brantome diefelben Dinge auf. Brantome
war jelbft in Madrid am Hofe geweſen; er hatte die Königin Elijabeth ge-
eben und ebenfo den Infanten. Er miſcht in feiner Schilderung allerlei
durcheinander, ſelbſt erlebted und nur geleſenes; es fommt vor, daß er fogar
einzelne Züge aus befannten Novellen bisweilen wieder als felbft erlebteg
auftiſcht: er will vor allem mit feinen Anekdoten amüfiren, und je ſchlüpfriger
die Dinge darzuftellen ihm gelungen, deſto behaglicher wird ihm dabet;
ohne eine Bote ift es ihm ſchwer irgend einen Abſchnitt zu Ende zu bringen.
Und ein fo befehaffener Autor fol jegt wirklich wieder als Zeuge für ein
Verhältnig zwifchen Elifabeth und Carlos zugelaffen werden! Es wird nicht
ju umgeben fein, daß mir uns feine Ausſage etwas genauer anfehen. Er
berichtet das Folgende: „Eliſabeth fei von wunderbarer Kieblichkeit und
Schönheit gewefen, in fo hohem Grade daß fie Jeden, der fie fah, bezaubert;
jo habe Philipp ſich, nachdem er ihr Bild gefehen, in fie verliebt und, dadurch)
*) Histoire d’Elisabeth de Valois reine d’Espagne par le Marquis du Prat. Paris, 1859.
vu gr
252
erregt, babe er feinem Sohne die Braut geraubt; bei ihrer Ankunft in
Spanien fet allgemeiner Jubel entjtanden, man fagte, Eliſabeth fet vor
Anfang der Welt concipirt und in der Abficht Gottes referpirt morden für
diefen ihren Gemahl. Auh Don Carlos habe fih in fie verliebt; er fei
eiferfüchtig auf den Vater und voller Zorn gegen ihn geworden, fo fehr daß
er ihm eines Tages das Unrecht geradezu vorwarf, ſeine Braut ihm geraubt
zu haben: und dies ſoll, fügt Brantome hinzu, neben anderen Dingen Ur—
ſache feines Todes geweſen ſein. Die Cavaliere des Hofes hätten nicht gewagt,
— ſo ſchön war die Königin — ihr Auge zu ihr zu erheben, aus Beforgnif
fi fonft in fie zu verlieben und dann die Eiferſucht des Königes zu erregen
und ihr Xeben zu riöfiren. Auch die Mriefter verhielten ſich ebenfo aus
Furcht der Verſuchung zu erliegen, da ſie ſonſt bei ihrem Anblicke nicht Hert
und Meiſter geweſen wären über die Gelüſte ihres Fleiſches! ) — jedoch
die hier excerpirte Stelle wird genügend gezeigt haben, wie Brantome dad
erbaulihe Thema von der allmächtigen Schönheit der Königin in ſehr wenig
erbaulicher, dafür aber recht eyniſcher Weiſe behandelt hat. Ich denke, wer
ſich ein wenig in dieſen Schriftſteller hineingeleſen hat, wird ſich weigern als
vollgültigen Zeugen für eine in ſolchem Zuſammenhang vorgetragene Sache
ihn gelten zu laſſen. Außer der Biographie Eliſabeth's verfaßte er auch eine
Lebensgeſchichte des Don Carlos. Hier kehrt dieſelbe Geſchichte wieder; hier
aber theilt Brantome auch allerlei anderes noch mit und erklärt ausdrücklich
eines jeden Urtheiles über den ganzen Handel ſich zu enthalten.
| Die Bemühungen Clifabeth’8 für ihre Schwefter fanden feinen Anflang.
In Spanien felbit gab es eine Partei, welche den Prinzen mit feiner Tante,
der Prinzeffin Johanna, vermählt zu fehen wünfchte. Der fpanifchen Politil
lag einmal der Gedanke nahe, für ihn eine Verbindung wit der Schotten.
fönigin Maria Stuart zu ſuchen, — doch fegte died Projekt bei Carlos immer
eine geroiffe Reiftungsfähigfeit voraus, da ihm ſchwierige politiſche Aufgaben
gerade in Schottland zufallen mußten. In der Familie war man darauf
aus, die Bande zwiſchen den deutſchen und ſpaniſchen Habsburgern zu per⸗
ſtärken und Carlos mit der deutſchen Prinzeſſin Anna, feiner Baſe, zu verloben.
Ueber alle diefe Dinge wurde gehandelt und berathen. Philipp hielt die
Entfheidung in der Schwebe: er mußte erft die Entwidelung feines Sohnes
abwarten. Die Berhandlungen mit Kaijer Ferdinand find nun unfere vor-
züglichite Quelle, die und Auffhluß und Einbliet über die Entmidelung und
Natur des Don Carlos gewährt. Wir haben allen Grund, die durch fie erhal
tene Information für eine gute und aufrichtige anzufehen: wenn Philipp die
*) Les gens d’eglise en faisaient tout de mesmes de peur de tentation ne cognais-
sans assez de forces ct commandement à leur chair pour l’engarder d’en estre tentöe.
Bol. über Brantome die Pritifchen Bemerkungen Ranke's a a. O. S. 241 f.
253
eigene Familie anlügen wollte, was hätte ihm das für Nuten gebracht?
Man darf nämlich nicht überfehen, daß mie zwifchen den herrſchenden Per-
jonen, jo auch zwifchen den Rolitikern von Wien und Madrid die allerengten
Beziehungen walteten: unter Karl V. hatten fie ja alle Einem Herrn und
Ginem Ziele gedient; und diefer Zuftand wirkte damald noh nad. Der
Diplomat, der den Kaifer Ferdinand von 1560 bis 1563 in Madrid vertrat,
Martin de Guzman murde mit dem vollften und rüdhaltlofeften Vertrauen
von Ferdinand und auch von Philipp beehrt; ihm murde die Wahrheit gefagt,
und auf feine Didcretion verließ man ſich vollſtändig; er, der Spanier hatte
in Mabrid Gelegenheit Nachrichten einzuziehen und Urtheile fi zu bilden,
nie faum ein anderer der fremden Diplomaten. Und durch diefen Guzman
wurden gerade die Erörterungen über Don Carlos und feine Verlobungsan-
gelegenheit geführt. Während aber Guzman in Spanien Philipp's Erklärung
über Don Carlos’ Zukunft herbeizuführen befchäftigt war, hatte Philipps
Vertreter am Wiener Hofe, der Graf von Luna, eine andere delifate Ange-
legenheit zu betreiben: Philipp wünfchte einen oder zwei feiner Neffen, unter
ihnen den älteften, den jungen Erzherzog Rudolf, nah Spanien gefhidt zu
erhalten, um fie hier gut Eatholifh und gut fpanifch erziehen zu laflen. Das
war ein Pfand für die Gefinnungsänderung Marimilian’s, für feinen Entſchluß
beim Katholieismus auszuhalten; es wurde aber zu gleicher Zeit ſchon ein
Hinweis gegeben auf die Möglichkeit, daß Rudolf der Erbe auch der fpani«
jhen Krone würde. So ftand ja die Sache: Philipp felbft war nit von
fefter Gefundheit; aus erfter Ehe hatte er den einen Sohn, Carlos, an deijen
Succeffionefähigfeit er damals ſchon zweifelte, die zmeite Ehe war Finderlod
geblieben ; und die dritte Frau, Elifabeth, war noch fehr jung: fie war biäher
nicht ſchwanger geworden; man beforgte damals noch, daß fie überhaupt un.
ftuhtbar fein könnte: daraus ergab ſich aber dad eventuelle Erbrecht der
deutſchen Linie, und Philipp wünfchte aus diefem Grunde unter feinen Augen
den Neffen aufwachſen zu fehen. *)
Miederholt war im Jahre 1561 verlangt worden, daß Philipp fih äußere
darüber, ob Carlos die Erzherzogin Anna heirathen würde. Er hatte immer
eine beftimmte Antwort vermieden, er hatte die häufige Krankheit des Prinzen
ald Urfache feiner Zögerung angegeben. In Wien war man damit nicht zu-
frieden ; man wiederholte die Anfrage in dringlicherem Tone. Da entihloß
fih Philipp deutlicher zu werden. Im Mär; 1562 erhielt Guzman einen
Beſcheid, welcher den Mangel an Gefunpheit und die „indisposicion“ des
Prinzen ald Grund anführte, weshalb man zur Zeit über feine Zukunft noch
*) Detaillirtere Mittbeilungen, Eitate und Wortlaut der mwichtigeren Aktenftüde findet man
im 32. Bande der Hiftorifhen Zeitfhriftl. Das entfcheidende Document, das endgültig alle
Gontroverfen über Don Carlos erledigt, ift ein eigenhändiges Schreiben Guzman's an Fer⸗
dinand vom 10. März 1562 a. a. D. ©. 290 f.
254
nicht beftimmen könnte. Neben diefer förmlichen Erklärung gab aber Philipp's
leitender Minifter, der Herzog von Alba, dem Gefandten mündlide Auf:
fhlüffe, die als fehr vertrauliche und fehr geheime behandelt werden follten:
danach war Philipp im Principe wohl einverftanden mit der Verlobung zwiſchen
Carlos und Anna, aber jest hielt er e8 für unmöglich, ſich zu entjcheiden;
als Grund dafür bezeichnete er „den Mangel an Gefundheit, verbunden mit
den Mängeln in der Perfönlichkeit des Prinzen, ebenſowohl in Urtheiläfraft
und Charakter ald im Verftande, der meit zurüdgeblieben ſei hinter dem, mas
man in feinem Alter zu erwarten pflege**); und Alba fügte hinzu, Philipp
wünfche, weil er an feinem Sohne verzweifelt — desconfiado de su hijo —,
grade die Gegenwart feiner Neffen in Spanien; jo würde man die Zeit ge
winnen, um zu erfahren, ob nicht mit Befferung der Gefunpheit auch dad
andere fich befjern werde: dann könne man endgültigen Befchluß über die
Verlobung u. f. w. faffen.
Diefe wichtige Eröffnung des fpanifhen Königs, die ich erft vor Kurzem
aus dem Miener Archive enthoben, giebt und nad meinem Ermefjen den
Schlüſſel zu allen Unklarheiten und Räthſeln. Sie berührt augenfcheinlic
diefelben Dinge, die einft Honorato Juan 1558 fehon dem Vater gemeldet:
feitvem hatte Philipp zwei und ein halbes Jahr felbft feinen Sohn beobachtet
und diefen traurigen Eindrud von ihm gewonnen, Begreiflich finden mir e&,
daß man noch immer an die Hoffnung ſich feitflammerte, eine Wendung fei
möglich, begreiflih, daß man deshalb dem Prinzen Gelegenheit gab, fich in
eigener Thätigfeit zu üben und zu erproben (fogar in den Staatörath lief
man ihn eintreten und behandelte ihn, den Außerlichen Formen nad, durch—
aus nicht in ungewöhnlicher Weiſe) — begreiflich freilich, daß man ihn nicht
in felbftändigen Aemtern befhäftigte, fondern ihn unter den Augen und unter
Aufficht behielt, begreiflich aber auch, dag man died traurige Mißgeſchick des
Herrſcherhauſes nicht vor der Welt paradirte, fondern, wenn man es gar nit
umgehen Eonnte fiy darüber zu äußern, dann mit geheimnißvollen Andeu—
tungen fi begnügte. Wir dürfen zur Erklärung diefer Geheimnißtäuerei
wohl daran erinnern, wie zart und wie ſcheu einft die Habsburgifche Familie
einen andern ähnlichen Fall, die Geiftesfrankheit der Königin Johanna, ſchon
behandelt hatte: es galt damald gemiffermaßen für eine Schmach. für ein
möglichſt ſorgfältig zu verdeckendes Unglück, eine Wahnſinnige oder einen
Schwachſinnigen in feiner Familie zu haben! Aus keinem andern Grunde ver
mied man es, ſich über diefe Sache offen zu erklären.
Alerdingd, das Geheimnig ließ fich nicht vollftändig bewahren. Es
) La falta de salud del principe junta con las que en la persona de su alt. ay, asy
en juicio y ser como en entendimiento, que queda muy atras de lo que en su edad #
requiere,
| |—
255
mangelt niht an Anzeichen, daß die fremde Diplomatie in Madrid der Sache
auf die Spur gekommen ift. Wir begegnen in Gefandtendepeichen wiederholt
mehr oder weniger verdedten Hinweiſungen; wir erfahren durch diefelben De-
pefhen, dag auch die Minifter Philipp’3 fi den fremden Botſchaftern gegen-
über mitunter in einer Weiſe audgelafjen haben, die ähnliche Gedanken in
ihnen wachrufen mußte. Der vattcanifche Gefandte glaubte fhon 1563 in
feiner Relazton , alfo in einem Schriftftüde, das in der diplomatifchen und
höfiſchen Gefelfhaft von ganz Europa befannt werden mußte, von der zeit-
weifen Geijtegabmefenheit des ſpaniſchen Infanten reden zu dürfen, mit dem
Zuſatze, daß diefer Zuftand bei ihm um fo bemerfendwerther wäre, als er
ihn durch erbliche Webertragung von feiner Urgrogmutter überfommen zu
hıben fchiene.
Hter aber entjteht die Frage, welchen Glauben wir diefen Mittheilungen
kr Spanischen Regierung und den durd fie beeinflußten diplomatifchen Be—
tihten beimeffen können. Schmidt erhebt gegen ihre Glaubwürdigfeit Be—
denken und Einwendungen, die ihm und vielleiht auch Manchem feiner Leſer
von Bedeutung erfcheinen. Wir haben ihrer Prüfung unfere Aufmerkjamteit
demnächſt zugumenden. Wilhelm Maurenbreder.
Friedrich Fiſchbach's Helbfihiographie.*)
Brief an einen Kunſtgelehrten.
Lieber Freund. Ich folge mit einigem Widerſtreben Ihrem wiederholten,
freundlichen Drängen, Ihnen mitzutheilen, wie ich mich in meinem Fache
biher herangebildet und bewegt habe. Sie wiſſen mie leicht der Vorwurf
verfönlicher Eitelkeit und Ueberſchätzung von gewiſſen „Feunden“ verbreitet
wird, und diefer dürfte mir um fo weniger erfpart werden, ald ja mein Fach
dad Afchenbrödel der Kunftfamilie und ala Kleinkunft nur die große Baſis
ft, von der ſich die „ausgezeichneten“ SImdividualitäten der hohen Kunft
erheben follen.
Nachſtehende Selbftbiographie war urfprünglih nicht für die Deffentlichkeit beftimmt.
Sie follte nur Material liefern zu einem biographifchen Artikel. Da fie aber ala lebendige
Schilderung des Lebendganged eines unferer bedeutendften Ornamentiften, welcher in vielfei«
tigfter und erfolgreichfter Weife auf die Kunftinduftrie unferer Tage von Einfluß gemwefen ift,
und noch ift, feiner Beftrebungen und Kunft, feiner Anſchauungen, die in ihrer urfprünglichen
Form jedoch auch für weitere Kreife von Intereſſe und für unfere Zeit im höchſten Grade
Harakteriftifch ift, theilen wir fie bier unverfürzt mit. Sie fann manchem jungen Talent ein
&itftern fein.
256
Indeſſen glaube ih, daß auch für das Allgemeine, wenn es im Gegen-
faße zur herrfhenden Mode erkannt und zum Siege gebracht werden foll,
energifche Talente nöthig find, deren Kampf für fpätere Zeiten von einiger
hiſtoriſcher MWichtigfeit fein dürfte, und deren Bildungsweg für die jüngeren
Fachgenoſſen von Intereſſe it. ine übertriebene Befcheidenheit möchte ich
mir daher auch nicht vormerfen, da ich gern und offen geftehe, daß ich mehr
meinem Studium und meiner Beharrlichfeit und einer glüdlichen Begabung
für chythmifche Formen und Harmonie der Farben, ald einer befonders großen
Geftaltungsfraft meine Erfolge verdanke. Noch mehr aber verdanfe ich der
Zeit, in der ich zu wirken berufen bin, denn diefe wandte fi durch die
Belehrungen bedeutender Literaten wie Falfe ꝛc. und durch den Einfluß der
Architektur und der Mufeen den Stylbeftrebungen zu und würdigte nach
und nad eine Fünftlerifche Thätigkeit, die zur allgemeinen Reform abfolut
die Hauptbedingung iſt. MWelder Arciteft und melder Kunftgelehrte hat
wohl Luft und Beruf, die erfannten Wahrheiten oder Principien mit den oft -
ſehr trivialen Mitteln des Kunſthandwerkes praktiſch zu verwirklichen?
Daran ſcheitert einftmellen fehr viel. — Wir leben in einer fonderbaren
Kunftepocdhe, in der es fait mehr Schriftiteller über das alte Kunftgewetbe,
ald produktive Ornamentiften giebt. Es ift wohl das Zeichen der Uebergangs—
epoche und daher ift das DBeifpiel der „jhaffenden* Künftler von einigem
Werthe. — Sonft ift ein Edftein im Grunde ja ein gewöhnlicher Stein und
nur der Platz verjchafft ihm die größere Bedeutung. Mir fommt vor Allem
zu ftatten, daß die Mafchineninduftrie feit einigen Jahren in die Phafe ein:
getreten ift, die Trivialttät der Mode zu verlafien, um mit der Handarbeit
der beten Kunftepochen zu wetteifern. Wenn man bedenkt, daß zu diefer
Aufgabe der Zeichner zunächſt die Sprache der Drnamentif in faft allen
Materialien und fait aller Zeiten fludiren muß und nicht minder au die
technifchen und commerziellen Eigenheiten der Mafchineninduftrie zu würdigen
hat, fo wird man die intellektuelle Arbeit der Ornamentiften weniger mie
bisher bei der Gründung von Kunftgemwerbefchulen unterftügen dürfen. Der
Kohn des Erfolges liegt dafür in der Verbreitung einer Fülle von fchönen
Drnamenten, die früher nur für einzelne Paläfte und Kirchen beftimmt
waren, jet aber fozufagen Gemeingut der gebildeten Welt werden. — Hierzu
ift aber ein Zufammenmirken des Fabrifanten, Händler und Zeichnerd und
ein Entgegenfommen der Käufer nothwendig. Letztere zählen bei der Mafchinen:
induftrie nad Tauſenden und "jomit ift wiederum der Erfolg von der ge
fteigetten Bildung des Geſchmacks der Maſſen abhängig. So hatte ich in
meinem Kreife zunächft den Einfluß auf Fabrikanten und Händler, dann
durch Wort und Schrift auf die Maflen zu erreichen, um einen dauernden
Erfolg mir zu fihern. Es war und ift noch eine Kette mühſeliger Arbeit,
257
die nur durch die Lichtblicke des geficherten Erfolges belohnt wird, und fomit
darf ih fagen, daß wenn fpäter im ficheren Geleife Alles ſich bewegt, und
Deutihland ganz von Paris fich emancipirt hat, meine Arbeit mehr wie die
vieler Anderen ein Suchen dieſes ficheren Weges war.
Meine perfönlichen Erlebniffe find durchaus nicht abenteuerliher Natur
und nur infofern mohl von Intereſſe ala ich in Berührung mit vielen be-
Kutenden Männern fam, die mich in meinem Streben mwürdigten und för-
detten. Doch ich muß hübſch von vorn beginnen. Zunächſt daß ich das
große Glück hatte, ein Elternpaar zu befißen, da® in feinem idealen Weſen
von Allen verehrt war, die je in feinen Kreis traten. Mein Vater Peter
Fiſchbach war Wriedensrichter in Aachen, Wallerfangen und Bensberg und
farb ald Abgeordneter 1870 in Berlin. Seine religiöfen, politifhen und
fumoriftifchen Lieder habe ich 1871 mit einem meiner 4 Brüder heraus—
gegeben. Meine Mutter Catharina Fiſchbach geb. Severin, war eine Schülerin
von Beter von Gorneliud und -von Kolbe in Düffeldorf und blieb der damald
dort gepflegten poetifchen Richtung bi® zu ihrem Tode 1872 treu. ihrer
itealen Auffaffung des Lebens, der Natur, ihrer Begeifterung für die Claſſiker
und vor Allem ihrem Beifpiel verdanke ich das Befte, was ich bin und leiſte.
Sind auch ihre Gemälde in Bezug auf realiftifches® Colorit weniger hervor-
ugend, jo haben fie do eine Reinheit und Kraft in der Darftellung des
Pealen, die ich höher ſchätzen darf, ala realiftifhe Wahrheit ohne die Weihe
iner edeln Fünftlerifhen Auffafjung, Im meiner Wohnung habe ih eine
größere Anzahl diefer Wilder placirt, an die ich von frühefter Jugend gewöhnt
bin und die mir das Mefen der theuren Mutter in ihrer fünftlertichen
Sprache gegenwärtig halten.
Billiger Weife legen wir Alle auf unfere frühefte Entwidelung den
größten Werth, denn fie tft beftimmend für die fpätere. Ich muß mir jedoch
verfagen, die erjten Eindrüde an diefer Stelle feftzuhalten, fondern will
lapidariſch kurz ermähnen, daß ich 1839 in Aachen geboren bin, von 1840
bis 1844 in Wallerfangen bei Saarlouis und von 1844 bid 1854 in Bens—
berg bei Göln meine Kinderjahre verlebte, dann in Cöln bis 1859 das Gym-
nafium bis zur Prima und bis 1862 die Mufterzeichenfchule in Berlin
beſuchte.
Auf dem Gymnafium Hatte ich ſchon Vielerlei gezeichnet und in den
Herbftferien die Düffeldorfer Maler in den Wald bei Bensberg begleitet, um
Eichen zc. zu zeichnen. Mein Bater folgte dem Rathe des Commerzienrathes
8. Schöller in Düren, mich Deffinateur werden zu laffen, obgleich ich nur
ehr dunkel die Bedeutung diefes Worte damals erfannte. In Berlin machte
I einen ordentlichen Curſus im Zeichnen nad der Antike durh und fam
dann in die Compofitiondklafje zum Direktor der Anftalt Ban der Syp. —
Grenzboten IV. 1874. 33
258
Wenn ich heute an diefe Lehrjahre zurücdenfe, jo finde ich nur das Gute,
daß ich mandherlei Naturftudien machen mußte und vor Allem einen gründ-
lihen Haß gegen die geiftlofe Effekthaſcherei des ſog. Naturalismus einfog.
Heute die Nofe nah rechts, morgen ein ähnliche® Bouquet mit der Rofe
nad) Iinfa, dag war dad Alpha und Omega und von Styl oder vernünftiger
Beachtung des Materialed und Zweckes gar feine Rede. Ich war dur ein
Kleine Stipendium an diefe Anftalt gefeljelt, die mir um fo gründlicher ver-
leidet wurde, ald mir dur die freundliche Theilmahme und Belehrung des
Herrn Profeſſor 8. Rohde die Augen über die Bedeutung der Ornamentif
und über meine Nebendaufgabe nah und nad aufgingen. Immer mehr trat
ih in Oppofition gegen den franzöfirten Belgier Ban der Syp, der meine
Beitrebungen zu unterdrüden fuchte und höhniſch mir 1861 noch fagte, id
werde fein rechter Drnamentift, weil ih „zu deutſch“ fe. —
Damals begann ich dad Sammeln der Webeornamente von den Bildern
der Berliner Gallerie und wurde in Cöln mit dem für die kirchliche Para-
mentif jo einflugreichen Canonicus Dr. Fr. Bock befannt.
Die gefammelten Muſter arbeitete ich zunächt für Tapeten und Kirchen:
ftoffe au, wodurch ih die erjten Honorare von Gebrüder Hildebrand in
Berlin und Gafaretto in Erefeld erhielt. Diefe benugte ich, um 14 Tage in
Halberftadt und Quedlinburg die alten Stofffammlungen zu copiren. —
Der Beſuch des in Defterreich renommirten Tapeten-Decorateurd Fr. Schmidt
in Berlin, veranlaßte mein Engagement nad Wien und fomit ſchied ich von
dem mir durch freies Theater und durch Vorlefungen in der Univerfität und
durch die Mufeen in der Bildung überaus förderlichen Berlin, um meine
praktiſche Carriere an der Donau zu beginnen. — Welche Wahl blieb wir
auch übrig, wenn ich nicht nach Paris gehen wollte, welches ich ja in feiner
Tendenz befämpfte? Die Fabrifanten des Zollverein? hingen von Paris ab
und waren zu vorfihtig und zu wenig organifirt, um ſich auf eigene Füße
zu ftellen. Wien mar daher damals für mich das befte Feld, denn dort war
ein jelbftändiger Geſchmack und eine Anzahl reicher Fabrifanten, die aus
Ehrgeiz das Beſſere anftrebten. Zunächſt erfannte ich in dem Decorationd
geihäft von Schmidt u. Sugg das Zufammenmirken der verjchiedenen Induſtrie—
zmweige, um die Wohnung harmoniſch zu jhmüden. Da jedoh Schmidt eine
viel zu felbftifche Natur war, um mich anders als einen gewöhnlichen Zeichner
zu benugen, fo übernahm ich von 1863 bis 1865 die artiftifche Leitung eines
neuen Decorationdgejhäftes von R. und B. Sieburger. Hier. lernte ich die
Berhältnifie kennen und benugen, die zwifchen dem Fabrikanten, Händler und
Rublicum beftehen und Hatte die Aufgabe überall fo einzugreifen, um ein
gutes Refultat zu erzielen. — Es waren derbe Lehrjahre, in denen ich einige
taufend Räume in Wien decorirte und täglich oft an 12 Stellen die Arbeiter
259
beauffihtigte. Indeſſen führten R. und B. Steburger mit gutem Erfolge
einige Dutend meiner Mufter in Tapetendruck aus und trat ich mit Giani
und Ph. Haas u. Söhne in Verbindung, welche in Kirchenftoffen und Teppichen
meine gefammelten und componirten Ornamente webten. Der fich fteigende
Erfolg diefer Firmen ift befannt. Nebenbei befuchte ih ſchon 1863 einige
Vorlefungen von Eitelberger und murde bald nachher in die Enquöte in
Bezug auf die Sammlungen de 1864 gegründeten Kunftinduftrie - Mufeums
berufen. Die Bekanntfhaft mit Jacob Falke und den berühmten Architekten
Schmidt Hanfen und Ferſtel war mir durh den Austauſch der Anfichten
während meines achtjährigen Aufenthaltes in Wien ungemein fördernd. ch
murde zum Gorrejpondenten und Zeichner des E. f. Mufeumd für Kunft-
induftrie ernannt und übernahm ed, die inzwijchen von Bock angefaufte Stoff:
jammlung zu copiren. Außerdem hatte ich in Cöln, Münden, Nürnberg,
Salzburg und in Wien meine eigene Sammlung bedeutend vermehrt. Diefe
wurde jpäter vom Muſeum mit den Copien nad der Bockſſchen Sammlung
angefauft. — Bon 1865 big 1870 bejchäftigte ich mich lediglich theild mit
ſolchen archeologifchen Arbeiten und theild mit Compofitionen für die vers
Ihiedenften Induftriellen und Anftalten. Speziell in Tapeten eroberte ich mir
nah und nad faft alle Fabrifanten von Defterreihh und Deutfchland. ch
nenne Speziell Engelhard in Mannheim, Schüt in Wurzen, Herting in Einbed,
Flammerdheim in Cöln und fpäter Hochftätterd Söhne in Darmftadt. In
Teppichen war fpeziell Th. Haas u. Söhne meine Kunde bis 1870, da ich
fpäter auch noch Roßeamp in Springe, Korte u. Cie. in Herford und in um-
fafenderer Weiſe Geverd u. Schidt in Schmiedeberg Teppich: Mufter compo—
nirte. Joſ. Dierzer in Linz und Schöller in Düren führten nur wenige
Nufter aus.
In Welpwäaaren befchäftigten M. Faber & Cie. mich feit 1865 für ge-
webte Vorhänge und Spitzendecken, die durchgreifenden Erfolg hatten. Dann
führten 1868 Brune & Lippelt in Bielefeld eine größere Anzahl Tifchdeden
in feinftem Damaft nad) meinen Entwürfen aus. Später auch Hille & Ditt:
rich in Warſchau. Alle diefe Arbeiten Tieferte ich zugleich in der Patrone, da
in der Vergrößerung und Ausarbeitung die in Stylformen ungeübten Fabrifs-
jeichner mir jede ftrenge Contur verhuntzten. Diefe Tupfarbeiten für Teppich
und GStidereigefchäfte veranlaßten mich 1869 mein Album für Stiderei her
auszugeben, welches bekanntlich in den nächſtfolgenden 5 Jahren vier Eleinere
Auflagen erlebte. Noch heute ift e8 ohne Goncurrenz, weil es wenige eich.
ner giebt, melde es verftehen, die claffifchen Stylformen in den geeigneten
Varben fo audzuarbeiten, ald ob fie in dem quadratifchen Nete gemachfen
fein. — Es liegt eben die Hauptfache der Compofition in dem Sinne für
260
das Allgemeine und Einfach» Elementare, was die Grundlage diefer an und
für fich befcheldenen aber ungemein verwendbaren Ornamente bildet.
Jetzt erlangen diefe Ornamente dur die große Druderei von E. Ebner
in Stuttgart eine audgedehntere Verbreitung als es durch meinen Selbftoer
lag möglich mar.
Die Wichtigkeit der Publication der Ideen über die Reform der Kunft:
induftrie mie der Zeichnungen war mir ſchon von 1864 an Flar, ala ich be,
gann, die erften Feuilletons in der E. E. Wiener Zeitung über die Tapeten
decoration zu fohreiben. Ohne diefer Thätigkeit eine fachliche Bedeutung ald
Schriftſteller beizumefjen, habe ich doch jährlich fowohl in den Fachblättern
z. B. der Gemwerbehalle, der Wochenſchrift Kunft und Gewerbe und den Blät-
tern für Kunſtgewerbe von Teirich manchen Beitrag geliefert, mehr aber noch
der Tageöliteratur Berichte über Ausftelungen und Abhandlungen für Taged-
fragen gefchrieben, die zum Theil noch in guter Erinnerung find, So war id
1867 Berichterftatter der Didascalia in Wien und lieferte außerdem der bor-
tigen Deutichen Zeitung und der Rheiniſchen Zeitung Berichte. Das Studium
der großen MWeltaußftellungen hat mich nächft den Mufeen wohl am meiften ge:
fördert. Sie find die Univerfitäten der Kunftinduftrie.
Die erfte Publication meiner Etoffcopien unter dem Titel „Styliftifche
Flachornamente“ 1866 murde in der Fortjegung durch A. Morel unterbroden,
da diefer dad Werk in großem Mapftabe vorlegen wollte. Es war bis 1870
big zur 70. Tafel meinerfeit fertig, ald der Tod Morel’3 und der deutid-
franzöfifhe Krieg Alles in Stoden brachte und die Fortfegung in Frage
ftellte. 1873 holte ich mir die in Unordnung gerathenen Sachen aus Paris
zurück und liefere nun wohl ununterbrochen dieſes Werf, an dem ich 15 Jahre
gejammelt habe. Es ift zunächft auf 120 Tafeln Buntdrud in der Auflage
von 1200 Eremplaren berechnet und fol möglichft billig die beften Stoffor-
namente vom 8. bis 18. Jahrhundert der heutigen Kunftinduftrie zugänglid
machen. — Zu beachten ift, daß unfere deutfchen Zuftände mich einftmetlen
noch zwingen, Sammler, Zeichner, Lithograph und Selbftverleger in „einer“
Perſon zu fein und daß es feine beneidendwerthe finanzielle Aufgabe ift, die
großen Unkoften ſolcher Werke allein zu tragen und fchlieplich noch den Ab:
ſatz derfelben zu leiten. —
Ich muß jedoch zurücgreifen und nachholen, dag Zurüdjegungen von
Seiten der Mufeumddireftion in Wien und ferner der Wunfh, das unge:
funde Klima Wiend nah einer fehr ſchweren Krankheit meiner Frau (feit
1868 vermählt) mit einem befferen zu vertaufchen, mich 1870 veranlaßt hat:
ten, eine mir in Einbed angebotene Stelle anzunehmen. Nach vielem geifti-
gen Ueberarbeiten war mir die dort durdy den Krieg verurfachte Muße eine
Wohlthat, denn ich arbeitete den Sommer hindurd meine fachlichen Erfah-
261
zungen foftematifch aus. Im Herbfte 1870 übernahm ich dann die Lehrer—
ftelle an der Eöniglichen Ucademie in Hanau a. M., die mir ſowohl den ent:
iprehenden längft gewünſchten Wirkungskreis ald auch die Muße zur Fort:
führung der biöherigen Thätigkeit für die Kunftinduftrie bot. Die Eönigliche
Academie zählt jest 460 Schüler und 30 Schülerinnen. — —
Fehlt mir auch die „tägliche” Anregung einer Weltftadt, fo giebt mir
doch der möchentliche Beſuch Frankfurtd und der jährliche Beſuch einer Welt-
dadt wie Wien oder Paris genügenden Erfas und habe ich den für den
haffenden Künftler fo fchwermiegenden Vortheil, daß ich in Hanau Land»
und Stadtleben vereinige und diejenige Muße finde, die das Befte in und
wur Reife bringt.
Immerhin preife ich mich jedoch glücklich, die befte Zeit der großen Bau—
woche Wiens in Verbindung mit den bahnbredenden großen Männern verlebt
u haben, und nunmehr die dort zum Siege geführten Ideen auch in den
Verhältniffen der Heimath einzubürgern. So glüdte es mir denn auch in
Verbindung mit dem Direktor der hiefigen Academie Hausmann und mehreren
einfihtövollen Männern Hanaus den hiefigen Kunftinduftrieverein zu gründen
und zur fchnellen Blüthe zu bringen.
Andererſeits glüdte mir die Bereinigung einiger Induſtriellen, wie Hoch—
Hitter's Söhne und 3. Joſt in Darmftadt und Frankfurt, welche in epodhe-
mahender Weiſe Paris gegenüber die zerlegbare architektoniſch gegliederte
Iopetendecoration zum Siege brachten. Meine erfte derartige Decoration
murde 1869 vom Gewerbverein in Wien mit 300 fl. prämiirt und von Schüß
in Wurzen gedrudt.
Hatte ih in Wien noch fpeziel für Porzellandecoration durch Email:
lithographie mit Koch, und Glasdecoration mit H. Ulrih und in Parquetten
für Gebrüder Leiſtler gearbeitet, fo fügte ich bier noch die Fabrikanten für
Vederinduftrie 3. B. 3. F. Knipp in Bezug auf Albums, Engelhardt in
Wiesbaden für Holzverzierungen und %. G. Zimmermann in Hanau für
Gifenguß, fomwie Naumann und Dandorf in Frankfurt für typographifche
Randverzierungen und Rampenfchirme in den Kreid meiner Arbeiten für die
Öroßinduftrie. |
Ich übernahm ferner die Herausgabe von Nofetten und Eckſtücken für die
Tapetendecoration und fomit ftehe ich nicht weit vom Ziel, um fagen zu
dürfen, daß für alle Gegenftände der Wohnungddecoration, welche von der
Maſchineninduſtrie geliefert werden, die geeigneten Gompofitionen für jegliches
Material vorhanden find.
Um diefe Ideen in der Durdführung zu erleichtern und die früheren
Mufter vor Vergefienheit zu retten, da die Stylmufter von den Händlern
grade wie Modemufter behandelt werden, alte jährlich den neuen weichen
262
follen, verfuchte ich die wichtigſten Sompofitionen zu publiciren. Es erſchienen
die Beiden Lieferungen ded Albums für Wohnungsdecoration, in denen die
für Vorhänge und Teppiche gelieferten und ausgeführten Compofitionen mit
Ungaben der Bezugsquellen publicirt wurden. Die Teppicheompofitionen
werden in der Folge auch im Buntdruck erfcheinen, fo wie auch die Tapeten:
borden un. |. w.
Sn Paris Iernte ich 1867 den Slavonier Felirday fennen, der mit feinen
nattönalen Teppichen großes Auffehen machte. Als er von mir die Bebeutung
der Ornamentik für Haudinduftrie erfuhr, ftellte er mir das Material zur
Publication zur Verfügung und übernahm einen Theil der Unkoſten. So
entftand das 1872 herausgegebene Werk „Südflavifche Ornamente”, meldet
in vorzüglichem Drude von Dondorf ausgeführt wurde. Die Minifterien in
Berlin und Rußland abonnirten, jedoch lehnte das öfterreichifche Miniſterium
nad dem Gutachten Eitelberger'8 da8 Abonnement ab. Das ungarifche kgl.
Miniftertum betraute mich 1873 mit der Heraudgabe eines ähnlichen aber
größeren Werkes, welches 1875 erfiheinen wird. Zu gleicher Zeit ift noch
ein Borlagemwerk für den elementaren Zeichenunterricht in Arbeit.
Diefe Aufgaben hätte ich nicht Iöfen Fönnen, wenn ich nicht mir bie
Hülfe in guten Mitarbeitern auf meinem Atelier verfchafft hätte. 1865 gab
ih Zeichenunterricht in dem Taubftummeninftitute Wiens und bemerkte dort
einen talentwollen Jungen von 14 Jahren. Diefer Joh. Redinger ift feit 10
Jahren mein Gehülfe und hat fih in Allem tüchtig bewährt.
Der Eontraft im fubjectiven Schaffen und objectiven Genießen und Stu-
biren ift zu beachten, um täglich ein große® und vielfeitige® Arbeitspenſum
zu abfolviren. Wichtig ift ferner mit allen befonderen Erjcheinungen der
Ornament-Publicationen vertraut zu bleiben und die beiten Sachen auf dem
Meltmarkte zu ftudiren. MWarnen muß man jedoch jeden Zeichner, zu viel
zu copiren und mehr wie Skizzen zu machen, um die eigene Originalität
nicht einzubüßen. Nie fol man beim Componiren zu viele Anbaltspunfte
neben fich legen, fondern diefe erft zur Ausarbeitung in gewiſſen Fällen
berbeiziehen, wenn der Charakter des Ganzen fhon feititeht. — Nur hierdurd
retten mir die Originalität und Naivetät der Compofition, und entgehen dem
Eklektieismus, der in unferer Zeit mehr mie je dur Publicationen genährt
wird und die halben Talente groß zieht. — 1873 fand ich in Stalien, welches
ich in feinen michtigften Städten bis Neapel kennen lernte, fehr viele Drna-
mente, welche von Wiener Coryphäen als eigene Erfindungen in Cours ge
bracht waren. Spätere Zeiten werden diefe fflavifchen Copien ſcharf tadeln,
da wir Tedigfich die Aufgabe haben, das Gute der alten Zeit zu ſtudiren,
um unfer eigenes Empfinden und Erfinden um fo vollfommener und reicher
zu geſtalten.
263
Deshalb fuchte ich auch über die alten Vorbilder hinaus, die ich von
Stoffen und Bafen ꝛc. fleißig fammelte, möglihft zu deren Vorbildern in ber
Natur zurückzugreifen. Auf Spaziergängen fammelte ich viele Jahre hindurch
und heute noch fehöngeformte Blätter und Blumen und verdanfe diefer Be-
(Häftigung einen ebenfo großen Genuß der Naturfreude ald auch manches
Drrament, welches heute im Handel verbreitet if. Mein Sprüdhlein:
Leben und Entfaltung
Herrſcht in der Natur,
Rhythmus der Geftaltung
Zeige die Contur.
enthält wohl dad Wefentliche, was der Ornamentift beim Studium zu beadhten
bat, denn bezeichnend genug Fönnen wir nur diejenigen Pflanzen vermerthen,
melde rhythmiſche und geometrifche Geftaltung erlauben. — Für die rein
geometrifche Ornamentik fand ich den Schlüffel in der Theorie des Lichtes
und publicirte diefe Studium unter dem Titel „Einfluß von Licht und
Farbe auf die Formbildung der Ornamente“ in der Gewerbehalle 1873.
Indeſſen ift nicht zu überfehen, welche Anzahl bedeutender Kräfte fich in den
legten Jahren der Pflege der Kunftinduftrie widmen und daß ich diefen meine
Erfolge zum Theil mit verdanke. Erhalten wir den 1873 in meiner mit
Zimmermann in Hanau verfaßten Petition angeftrebten Meiſterſchutz, fo
dürfen wir in einigen Jahren wohl behaupten, daß Deutſchland im artiftifchen
Bettlampf mit Frankreich einem Siege entgegengeht, der wie in der Malerei
um jo fiherer und ſchöner iſt, ald er zunächft im Werthe des idealen In—
haltes und fpäter auch in der techniſchen Ausſtattung der Gegenftände beruht.
Jedes Bürgerhaus foll eine Stätte der Kunft werden, das iſt die große Auf—
gabe der Kunftinduftrie und fchäge ich mich glücklich berufen zu fein, diefe
Aufgabe thatkräftig ihrer Röfung entgegen zu führen. Den Sporn dazu ver-
danke id) wie ſchon bemerkt, zum Theil meinem franzöfifchen Lehrer Ban der Syp,
wie ja eine ftarf gebeugte Feder um fo ftärfer emporfchnellt. Prof. Lohde
in Berlin ift aber in Wahrheit mein Führer im erften Jahre meined Schaffens
gewefen und dann audy förderte mich) Gropius, während Böttcher's nüchterne
Theorie mich zwar jehr intereffirte, aber zum Glück nicht zu flarf beſchäftigte,
da in ihr die Profa des Galculd die Friſche de? Empfindens beeinträchtigt.
Die kirchliche Richtung von Schmidt, Eſſenwein und Bock führte mid,
zu vielen gothifchen und romanijchen Entwürfen für Teppiche, Kicchenftoffe
und Paramenten. Da ich aber ftet? vom ftofflich-decorativen ausging, fo
fonnten die fchroffen Principien diefer Stylarten mich nicht davon abhalten,
daß eigene moderne Empfinden mit den alten Motiven zu verfhmelzen. Diefe
individuelle Berechtigung erkenne ich ebenjo den griechiſchen, römifhen und
orientalifhen Stylarten gegenüber an und fehe darin die einzig mögliche
264
Weiterbildung der alten Stylformen. Im Großen und Ganzen tft dieſes
das Mefen jeder Renatffance und mithin gehört auch ihr mein Schaffen,
wenn ed auch anders ift als die ſpeziell italtenifche, franzöfifche oder deutſche
Renaiffance der früheren Jahrhunderte. Jede Zeit hat ihre eigenen Aufgaben
und Anſchauungen, die auch in der Kleinkunft zur Geltung fommen müflen.
Der MWohlftand und die hohe Bildung der Bewohner Frankfurtd und
der umliegenden Städte laffen mich hoffen, daß bier der Mittelpunkt für
die Funftinduftrielle Führung Deutſchlands fich bildet, da das verhältnigmäßig
arme Berlin diefer Aufgabe bisher ſchlecht entſprochen hat. in Eentral-
Kunftinduftrieverein für Mittelmeftdeutfchland ift angebahnt.
Nun, lieber Freund, will ich meinen Bericht fchließen und will Ihnen
und Anderen überlaffen, die Schattenftriche zu zeichnen, die ich in menſchlicher
Schwachheit und Gigenliebe vergefien habe. Wer fein Ziel feft im Auge be
hält und nicht viel ablenken will, ftößt wohl oft an den und den an und es
giebt wohl Biele, die mir dieſes verdadht haben. Darüber muß ih mid
tröften. — Wäre ich nicht auf der Mittagshöhe des Lebens, nämlich 35 Jahre
alt, fo machte ich mir eigenhändig ein ordentlich.grufelndes Kreuz auf meinen
Reichenftein und dächte, ich fei um Mitternacht erwacht und leſe im Monden-
fein meine etwas lang ausgefponnene Grabſchrift. Diefen Gefallen mödte
ih jedoch den Franzofen einftweilen nur ungern thun und fomit hoffe id
noch manches Glas Mein in treuer Freundfchaft mit Ihnen zu leeren und
dabei an „Allee, was wir lieben“ zu denken. —
Ihr Kunftgelehrte wollt ja Alles fohriftlih Haben und fomit habe ih
Ihren Wunſch erfüllt, anftatt Ihnen bei einem Glafe die ganze Kurz- und
Rangemeile meines Lebens vorzuerzählen.
Herzlich grüßt Sie
Ihr
Hanau 1874. Friedrich Fiſchbach.
Hilder aus Mecklenburg.
Aus den Tagen der Bürgergarde IU.
Bon Hugo Gaedde.
(Nahdrud verboten.)
Mit Vergnügen erinnere ich mich noch des Taged, an welchem adt-
hundert Roſtocker Bürgergardiften mit einem fühnen Handftricy vierundzwanzig
Schneidergefellen gefangen nahmen. Es geſchah dies in dem großen Jahre
265
der Revolution. Eines fchönen Mittags erflang plöglich in den Gafjen ber
Stadt der Generalmarfh. Es galt der Bürgergarde. Wir Knaben, die juft
aus der Schule Famen, fahen von allen Seiten die gemaffneten Männer der
Ordnung eilig daherftürzen. — „est geht's los!“ — Einer rief e8 dem
Andern zu. Es Hang höchſt gefährlid. — „Hurrah, jest geht's los!“
jubelten die Jungen. Wir liefen fpornftreich8 nach dem Drte des Schredeng,
nah dem „Schütting“ ; fo heißt nämlich die Herberge der Schneidergejellen.
Da faßen fie, die Vierundzwanzig und einige, oben in den geöffneten Fenitern
und ließen die Beine zum Fenfter hinaushängen, ſchwenkten ihre volle Flaiche
und tobten, fangen und fchimpften ausbündig. Und ba, — jest Fam die
Garde daher, ihrer Achtmalhundert, nun rüdten fie an mit Wehr und Waffen
und ftürmten den Schneiderfhütting, nahmen die vierundgmanzig betrunfenen
Schneidergejellen gefangen, faßten fie beim Kragen, führten fie Einen bei
Einem nah dem Rathhaufe und ftellten eine Menge Wachtpoften vor die
Thüren des Hauſes.
Hier auf der geräumigen Diele des Rathhauſes, wurden bis auf Weiteres
die vierundzwanzig Schneidergefelen in eine Art von hölzernem Pferch, alle
miteinander eingeſperrt. Das erſchien freilich gegen die Schneiderehre, die
Infaffen tobten furchtbar und höhnten die Garde und drohten, Einer immer
noch toller ald der Andere. Es war ein fchredlicher Rumor. Die Bürger:
wache ftand mie rathlod dabei. Da meinte ein alter Polizeidiener ganz
pfiffig: „Töv, id will fe woll ftillfriegen.“ — Uber wie? Ganz einfach).
Der alte Praktikus machte auf der langen Diele des Haufed die beiden fidy
gegenüberftehenden mächtigen Eingangsthüren auf. Und nun mit einem
Male, juft wie aus einem Blafebalg, fegte der ſchneidend fharfe Zugwind
jur einen Thüre hinein und zur andern Thüre mieder hinaus, durch die
vierundamanzig Schneidergefellen mitten hindurd. Das half. Als ver Zug-
wind ihnen auf ein Wal fo empfindlich Falt an den Magen fam, hoben fie
ein Bein um da® andere und fchimpften und fpeftafelten: „Thüren „u!
Thüren zul Es zieht hier!" — „Sa, töot man“, nidte der alte Volizift,
„it will je woll ftill Eriegen.“ Und der kalte Zugwind blied mit neuer
Wuth mitten unter die achtundvierzig Schneiderbeine. Das half! In weniger
als drei Stunden waren die revolutionären Schneider gehörig durchgefühlt;
ihre Courage war vermeht. Sie verhielten fi ganz mäuschenſtill. Höflich
baten fie nun: „Machen Sie doch gefälligft die Thüren zu. Es zieht hier
ganz infam!“ Verſuchsweiſe ward dann, erft die eine Thüre, hernach auch
die zweite Thüre wieder gefchloffen. Und rihtig! Das Mittel erichien
probat. Die Rebellion war zu Ende. Kleinlaut marfchirten die vierund-
zwanzig Schneidergefellen mit einem Zwangspaß zum Thore hinaus, — Roitod
war gerettet!
Grenzboten IV. 1874. 34
266
Denn alle die unzufriedenen Gemüther, die HN im Hintergrund nur auf
den Erfolg der Schneiderrebellion gewartet hatten, verbielten fi hinfort
ſchweigſam und ruhig, — Danf der guten Fauft der Roftoder Bürgermehr!
Ein Vierteljahrhundert ift feitden dahin gefhmwunden. Und immer noch
ſeh' ich fie Tebendig vor Augen diefe harakteriftifchen Figuren der alten
Bürgergarde. Hier den alten Meifter der Beredſamkeit, das Gewehr hoch
im Arm und das Käppi tief im Naden, — ein Bild der Berufdtreue, der
leibhaftige Ernft zur Sache. Mit abgemefjenen Schritten marſchirte er auf
dem MWadhtpoften vor der Steinthorwahe auf und ab; er kannte feine ſtrengen
Befehle, namentlih auf die zu Stadt und Markt einfahrenden Bauermagen
fireng zu vigiliren. Es galt ja die ftädtifche Acciſe! welch ein erhabenes
Beifpiel der VBürgertugend! Er, der alte Glaffiker, der mit Sophofles und
Euripides font griehifche Chöre fang, er, der daheim in Gedanken auf hohem
Kothurn, im griechifchen Gewande dahergefchritten Fam, hier ftand er Schild
waht als Bürgergardift und vifitirte die Landwagen nah „veracciöbarer‘
Butter!
Und dort wieder dad gerade Gegentheil von dem alten PBrofefjor war
der junge Advokat R., ein Bild des ſchalkhaften Humors, der jede Gelegen-
heit wahrnahm, der ehrliebenden Bürgerwehr Eind anzuhängen, er, ein ge
preßter Mann der Garde, ftreifte mit Humor jeded Mal den Zügel ab, mit
dem ihn die eiferne Fauſt des Commandeurs zu bändigen fuchte. Unvergeßlich
ift mir namentlich die nachfolgende Scene. Wieder einmal hatte diefer Luftige
Gardift allen Befehlen zum Trotz das letzte Exereitium unaufhörlich ge
ſchwenzt. Der Commandeur hatte befohlen: „J, da fol an dem Menſchen
doch ein Erempel ftatuirt werden!” und jest rüdte fie an, mit Wehr und
Maffen, die Ubtheilung beherzter Bürgermwehrmänner, die den hartnädigen
Cameraden, „wenn es fein muß, mit Gewalt“, zum Exercierplatz abholen
wollte. Das Detachement marfchirte feierlih die Straße Hinab; es fahte
Poſto vor dem Haufe des Delinquenten. Die Morgenſonne leuchtete lieblich
in die Gaſſe. Beim Attentäter aber waren bie Fenfter noch verhangen;
vermuthlich erfreute er ſich noch eined gefegneten Morgenſchlafes. Der
fommandirte Lieutenant trat in das Schlafzimmer des Gardiften. Der erhob
fih verwundert in feinen Betten, wo er mit größter Gemüthsruhe den Befehl
ſeines Commandanten entgegennahm. Gr nahım äußerft bedächtig zuerft den
einen Etrumpf zur Hand, dann den andern, und ebenfo langfam zog er die
Stiefel an, — dem Herrn Lieutenant wurde Zeit und Weile lang. Auch die
Gameraden draußen zeigten fich bereit? höchſt ungehalten. Der Delinquent
rief inzwifchen nach der Dienftmagd; er flüfterte ihr heimlich zu: „Eine
Drofhfe!” — Die Magd eilt von dannen. Nun endlich ift der faumfelige
Gardiſt mit dem Anzug ins Klare. Er tritt in Uniform auf- die Straße.
267
Die Sameraden reihen ſich zur Escorte für den Sträfling, der natürlich ein
ernſtes Geſicht macht, wie e8 der michtige Augenblick mit fih bringt. Eben
will der Lieutenant fein: „Marſch!“ ertönen laffen, — da nahet die Drofchke.
Wie ein Blis fährt der Advofat mit Käppi, Ober: und Untergemehr in die
Drofchke, ruft: „Nah dem Erercierplag!* und Schlägt die Wagenthüre zu, —
Alles in einer Secunde, — ſpornſtreichs jagt die Drofchfe davon, — und
halt! Halt! ale Bürgermehrmänner in vollem Galopp hinterdrein. Sie
dürfen auf Feinen Fall ihren Arreftanten verlieren. Welch' eine Berufätreue !
Sie laufen, daß ihnen der Schweiß von der Stirne rinnt. —
Mitten hinein in diefed tolle Leben, zmijchen diefe prächtigen Figuren
mit den feierlich ernten Gefichtern und der Iuftigen Uniform, mitten hinein
in da® jteif hölzerne Erercitium, in die heitern Scenen der Wachtſtube und
die Großthaten der Parade, mitten in die ganze närrifche Welt tönte plötzlich
der Ruf: „Die Bürgermehr ift aufgelöſt!“ So ging aud für Roſtock diefes
Wort in Erfüllung, das von einer Stadt zur andern, durch ganz Deutſch—
land gellend dahin flog.
Die Bürgergarde war aufgelöft; die Gewehre hatten richtig ihren Käufer
gefunden. Schade, follten die 1000 Infanterieſäbel nun ungenützt verfommen ?
Und die vielen Patrontaſchen und alle die fchönen Käppis mit dem hohen
Federbufh? So war ed eigentlich Bin glüdlicher Einfall, wenn Jemand vor:
hlug, die acht Compagnien Bürgergarde nun einfah ala „Fahnencorps“
und „Feuerwehr“ fortbeftehen zu laffen. Und richtig, fo geſchah ed. Wer
als ſtolzer Bürgergardift ahnungslos Abends zu Bette gegangen war, jtand
nun auf ein Mal am andern Morgen ald ordinairer Feuermenſch wieder auf.
Das gab ein allgemeines Lamento. Nein, fo daftehen zu müffen, dicht bei
der Spritze und vor den Waſſerkufen, in der alten berühmten Uniform ber
Bürgergarde, und in einen Kreid um dad euer herumzutreten, damit das
Haus fozufagen mit einer gemiffen Feierlichfeit herunterbrennen könne, nein,
dad war doch zu viel. Als daher die Fahnencorp® zum erften Male fi
fammeln follten, waren auf einmal die fämmtlichen Offiziere und Gorporale
nit zu haben. Mit der Auflöfung der Bürgergarde hielt fih Fein Gardift
mehr, gefchweige ein Eorporal, Kieutenant, oder gar der Herr Hauptmann zu
diefem Dienft ald ordinärer Feuermann verpflichtet.
Erſt eine geftrenge Verordnung des Rathes brachte Ordnung in die neuen
Dinge. Feder angehende Bürger follte von nun an den Dienft in der Feuer:
wehr drei volle Jahre hindurch leiften, und feinen Eid ald Bürger in Uni-
form vor dem Magiftrate der Stadt ſchwören, in derfelben Uniform, die ſchon
manchen Profeſſor und Juſtizrath als Bürgergardift fo hübfch gekleidet hatte.
Unglücklicher Weiſe war aber mit der Auflöfung der Bürgerwehr auch die
vorfihtige Rathsverordnung in die Brüche gegangen, wonach jeder angehende
268
Bürger in feiner Uniform ſich vor der Ableiftung des Bürgereides beim Com—
mandanten der Garde melden und über feine Gquipirung und fein Erereitium
fi näher ausmeifen mußte. est Fam ein Uebelſtand zur Geltung, der bie
her Flug vermieden war. Jeder konnte fich für diefen kurzen feierlichen Augen-
blick der Eidleiftung al® Bürger nunmehr bequem mit der Uniform eines
guten Freundes außhelfen. So famen merkwürdige Erfcheinungen bei diefem
feierlichen Moment zu Tage, da nicht jede Uniform einem Jeden angepafit
war und mancher MWaffenrod zu diefem feterlihen Actu8 von dünnen und
dicken Freunden gleich gerne angeliehen ward.
Eine weitere Folge war denn natürlih, daß bei Erercierübungen nur
ein Heiner Theil der Bürgerwehrmänner in Uniform erfchten und daß die
Mehrzahl zu Haufe blieb, weil ihnen, dem Einen dad Käppi, dem Andern
der Waffenrock und dem Dritten vielleicht Beides fehlte.
Bon den prercitien diefer Handvoll Bürgermehrmänner merden denn
noch heute höchſt ſpaßhafte Gefchichten erzählt. Ein Feldweibel, welcher früher
unter dem Militär gedient, hatte die jungen Feuerwehrmänner in dem fchwie
rigen Grereitium zu unterrichten. Unglüdlicher Weiſe nun litt diefer Feld-
weibel unaufhörlih an einem fürdhterlichen Durft; dabei war es ein zweites
Unglüd, daß nicht weit von dem Exercierſchuppen eine Schenkwirthfchaft lag.
Daher ereignete fih wohl das folgende Manöver. Sobald der Feldweibel
feine jungen Efeven in Reih und Glied aufgeftellt hatte, begann er fein
Gommando: „Links um! Marfh;" da aber die Schenfe zur Rechten lag,
machte das ganze Bataillon auf dad Commando des Weldmweibeld einmüthig
Rechtsum und marſchirte fpornftreidy®, ohne fich halten zu laffen, zur Thür
hinaus, direct in dad Schenkhaus hinein. Der alte Feldweibel fuhr natür-
lich ſcheltend hinterdrein. Er lamentirte: „Kinnings, Kinningd, datt geht
jo nit! Wenn de Senator fümmt, find wi all verlurene Minfchen!” Und
wenn dann auf feinen Weheruf das volle ſchäumende Seidel ihm entgegen
duftete, wiederholte er ſchmerzlich refignirt die Worte: „Kinnings, Kinnings,
wenn be blos nid kümmt.“ — Freilich wurden hernach einzelne faumfelige,
undanfbare Bürgerwehrmänner von ihm in fein Taſchenbuch notirt, weil fie
zu diefen Erereitien nicht erfchienen waren. Sie wurden in Strafe genommen
und bei wiederholtem Nichterfcheinen vor dad Bericht geladen. Es begegnete
einem folchen Mebelthäter auch mohl einmal, daß er vom Herrn Senator
befragt wurde: „Haben Sie eine volftändige Bürgergardiftenuniform?* wo—
rauf dann wohl mit der größten Geſchwindigkeit von Seiten des beforgten
Feuerwehrmannes ernfthaft verfihert wurde: „Die Einzelheiten fehlen, das
Uebrige ift da,“ was der Herr Senator in der Geſchwindigkeit ganz überhört
haben muß.
Nicht viel beffer ging es diefem Corps, wenn zu einem entftehenden
&
Brande der Trommler die Männer feiner Compagnie zufammenrief. Da
fehlten auch die Einzelheiten und das Uebrige war da. Namentlich bei einem
Feuer zur Nachtzeit, wo dann oft ganz feltfame Bürgerwehrmänner, in dem
alermerfwürdigften Coftüm auftauchten. Wann hernad) das Eleine Häuflein
der Plichttreuen beim Apell nad) dem Namen aufgerufen wurde, übernahm
@ wohl die Handvoll erfchienener Wehrmänner mit gutem Humor aus reiner
Sreundfchaft bei jedem Mann der Compagnielifte zu antworten: Müller?
‚Hier!“ Fiſcher? „Hierl“ Lehmann? „Hier!“ und fofort ad infinitum.
Damit war denn allen Bedürfniffen geholfen. — Kein Wunder, daß fid
diefe Mebelftände von Jahr zu Jahr vergrößerten. Mancher ftile Wunſch
nad) einer Auflöfung diefer Bürgerwehr wurde öffentlich laut. Auch in den
Zeitungen erfholl dann und wann ſchon ein heller Klageruf. Freilich ward
ed dem jungen Bürger nicht möglich, von feinem Dienft ald Bürgermehrmann
fh zu befreien, wenn er nicht etwa von vorn herein durch feinen Stand
geſetzlich dieſer Bürde ledig war, oder wenn er nicht juft, wie ein guter
Freund von mir, ald VBürgerwehrmann feinem Gameraden eine tüchtige Ohr—
feige applieirte. Er ward wegen diefer Unthat vor das Ehrengericht geladen
und in feierlicher Seffion Kraft ded Geſetzes für immer aus der Bürgermwehr
audgeftoßen. Diefer Teste Vorfall muß nicht publif geworden fein, fonft,
fürchte ih, hätte es vielleicht Ohrfeigen geregnet.
Endlih ſchlug die Erlöfungdftunde Der Magijtrat der Stadt Roftod
empfahl die Auflöfung der VBürgerfeuerwehr, und die Bürgerfchaft gab „mit
Vergnügen“ ihre Zuftimmung. So ward denn endlih am 1. März 1868
diefed Inſtitut zu Grabe getragen. Man gab der Kriegdfaffe anheim, für
die „beitmöglichfte Veräußerung der Waffen und Monturen“ Sorge zu tragen.
Und wieder begann hier dad Schickſal mit feinem Humor mitzufpielen. Die
ehrlichen alten Waffenröcke, welche die Stadt für die armen Feuerwehrmänner
dargeliehen hatte, wurden freilich für hundert und einige Thaler glücklich
verfleigert. Nicht fo die Waffenftüde. Es begann ein großartiges Audbieten
dieſes beau reste der alten Bürgergarde. Man denfe nur, welches Angebot
auf diefe Waffen gemacht wurde. Ein Hamburger Handeldmann bot nämlich,
— hört! hört! — für jeden Säbel eines Dfficierd oder Feldwebels 20 Sgr.,
für jede Trommel 19, Thaler, und für jedes Käppi mit Haarbuſch 21/, Sgr.
Denkt! für diefe Herrliche Zierde der Bürgergarde, inclufive der goldenen Sonne
mit dem Vogel Greif darin und inclufive Federbufh zwei und einen halben
Silbergroſchen! für jede Batrontafche fogar nur Anen Silbergrofchen und drei
Pfennige. Während der Magiftrat nicht abgeneigt ſchien, für diefen Preis
die Zierftüde der alten Bürgergarde loszuſchlagen, wollte die Bürgerſchaft
doch auf diefen großartigen Handel nicht recht eingehen. „Der gebotene
Preid“, meinten fie bei den bezüglichen Verhandlungen des erwähnten Jahres,
270
„fi denn doch zu fpöttifh und deshalb ziehe fie ed vor, diefe Gegenftände
noch einige Zeit länger auf demjenigen Rager zu halten, auf welchem fie jeht
fett faft 20 Jahren gelegen haben,“ — wenn anders nicht noch eine Einigung
zwifchen Rath und Bürgerfchaft dahin erzielt werde, daß diefe Gegenftände
Öffentlich in einer Auction verfauft würden. ine Einigung über diefen
Verkauf ift meines Wiſſens noch nicht erzielt, und fo liegen denn die ſchönen
Sinfanteriefäbel, die Trommeln und Patrontaſchen, die Käppis nicht zu ver
geffen und die hübfchen Wederbüfche heute und noch einige Zeit länger auf
demjenigen Lager, „auf welchem fie jest feit fait 20 Jahren gelegen haben.“
Nur in einem Punkt freilich bedarf died noch einer Berichtigung. Rath
und Bürgerfchaft der Stadt Roſtock find nämlich, — mas ich beinahe ver-
geffen hätte, zu erwähnen, — dahin überein gefommen, 12 Garpiftenfäbel,
ein Käppi, eine Trommel und eine Patrontaſche der alten Roſtocker Bürger:
wehr ald Requifitenftüde an das Roſtocker Stadttheater abzugeben. Es wird
alfo auch in Zukunft noch mit diefen alten Reſten der Bürgergarde Theater
gefptelt werben.
Und hierin, meine ih, liegt ein eigener Humor! Dies ift das kleine
Ende der großen Comödie.
Bom deuffhen Reichstag.
Berlin, den 8. November 1874.
Fünf Sitzungen hat der Reichstag bis jett gehalten. Die erfte am
Gröffnungdtage betraf die gewöhnlichen Ginleitungsformalien. Die zweite am
31. Oktober fah die Vornahme der Präfidentenmahl. Daß Herr von Forkenbeck
die erſte Präſidentenſtelle wiederum übertragen erhielt, war in Folge einer
feltenen Uebereinftimmung de3 ganzen Haufed. Daß man zur erften Bice
präfidentenftelle den Freiherrn von Stauffenberg berief, rechtfertigt fi durch
die Rüdficht auf die füddeutfchen Reichsgenoſſen ſowie durch die Berfönlichkett
des Erwählten. Daß man die zweite Vicepräfidentenftelle wiederum dem
fortfchrittlihen Führer Herrn Dr. Hänel übertrug, ift unfere® Erachtens nicht
zu rechtfertigen. Die Verantwortung diefer Mahl trifft die auafchlaggebende
nattonalliberale Fraktion. Die erfte Vicepräfidentenftelle war bisher in der
Perſon des feitdem zum Botjchafter in Parid ernannten Fürſten Hohenlohe
mit einem Freiconfervativen und Süddeutfchen beſetzt geweſen. Gewiß hatte
2 271
die freiconfervative Fraktion wiederum den Anſpruch auf die Stimmen der
Nationalliberalen für tie Berufung eines Freiconfervativen in das Präfidium
des Haufe. Konnte ed nicht wieder die erfte Vicepräftdentenftelle fein, fo
hätte die zweite genügt. Eine Stelle im Präfidium gebührt aber wenigftend
der Fraktion, die ebenfo nattonal ift, al® die nationalliberale Partei, und
ve, was ihrer Anzahl abgeht, durch ihre Bedeutung erſetzt. Wenn die national«
iberale Fraktion unter anderm geltend gemacht hat, die erfte Bicepräfidenten:
tele gebühre ihr, meil Herr von Forkenbeck als der allgemeine Vertrauens
mann des Haufed zu betrachten jet, fo iſt died doch ein ſehr unbilliges
Raifonnement und überdem eine unangenehme Reminidcenz aus der einftigen
Fraktion Grabom. Wenn eine Fraktion dad Glück hat, daß eines ihrer
Mitglieder das allgemeine Vertrauen erwirbt, fo fann doch unmöglich in Folge
defien diefed Mitglied der Ehre verluftig gehen, der befondere Vertrauen®
mann derjenigen Kraftion zu fein, der er angehören würde, wenn er nicht
die Präfidialgefchäfte zu leiten hätte Der wirklich durchſchlagende Grund
für Herren von Stauffenberg konnte nur feine Eigenſchaft als angefehener
und verdienter Reichsgenoſſe in Süpddeutfchland fein. Daß nun aber die
freiconferpative Fraktion aud; bei der zweiten Bicepräfidentenftelle nicht be
üdfihtigt wurde, das hat fchlieglic Doch nur den Grund, das Band mit
kr Fortſchrittspartei unverfehrt zu erhalten, um ja nicht in Bergeffenheit
iommen zu lafjen, daß man ein Stüd Oppofition bleiben möchte, daß man
aus der Oppofittondrolle nur von Fall zu Fall herauätritt, und daß man in
jedem Augenblick wiederum eine ganze Oppofition werden könnte. Auch eine
Regierungdpartei darf niemals auf die felbjtändige Prüfung verzichten. Aber
das iſt etwas anderes, ald das Liebäugeln mit einer principiellen Oppofition.
Und dünft, dies ewige Vertufchen der Wahrheit, daß die Grundlage der
nationalliberalen Partei und die Grundlage der Fortfehrittöpartei unerträglich
und einander entgegengefest find, Fann eined Tages der nationalliberalen
Partei ſchlimme Früchte bringen.
Die dritte Reichstagsſitzung fand am zweiten November flat: Es
dandelte ſich um zahlreiche Fleinere technifche Vorlagen, die bis zum Abſchluß
der zweiten Berathung gefördert wurden. Die vierte Sigung am 4. Nov.
brachte außer dritten Berathungen einiger technifchen Vorlagen die erfte Be-
tatdung eined Gefegentwurfs, betreffend die Einführung der Reichsmünz-
gefege in Elſaß-Lothringen. Bei diefer Gelegenheit Fam es zu einem Borjpiel
der umfaffenden Erörterung unferer Münz- und Gelöverhältniffe, welche ſich
an den Banfgefegentwurf ſ. 3. anfnüpfen muß. Unfere Berichterftattung
wird diefe große Materie in ihrem richtigen Zufammenhang bei Gelegenheit
der Berathung des Bankgeſetzes zu beleuchten haben. Wir geben alfo über
die bisherigen vorläufigen Aeußerungen verjchiedener Reichstagsmitglleder
272
hinweg, mit Ausnahme eined einzigen Punktes. Nah den Weußerungen
der competenteften Reichdtagsmitglieder ſowohl, ald des Bundesbevollmädhtigten
und preußifhen Finanzminiftere Camphauſen ftellt fih die Handeldbilanz für
Deutfhland augenblidlih ungünftig und das Abſtrömen der Reichsgold—
münzen wird dadurd bis zu einem beftimmten Grad eine Nothwendigkeit.
Es wurde nun gejagt, die Handeläbilang werde und nicht immer ungünftig
fein und da® Gold werde in befferen Zeiten mwiederfommen.
Das wird fich hoffentlich bemahrheiten. Woher fommt aber die Gefahr,
daß eine längere und felbft eine fürzere Abwefenheit der deutfchen Goldmün-
zen aus dem einheimifchen Verkehr zum dauernden Berluft unſeres Goldes
führt? Uns dünft, bier liegt die große Schattenfeite einer blo8 nationalen
Währung auch in denjenigen Geldforten, melde der Beftimmung nicht zu
entziehen find noch entzogen werden dürfen, dem internationalen Verkehr zu
dienen. — Die erite Berathung eined Gefezentwurf® über den Markenſchutz
führte zu dem Beſchluß die Einzelberathung ded Entwurfs im Plenum des
Haufed ohne Vorberathung dur eine Commiſſion eintreten zu laflen. —
In der 5. Situng am 5. November ftanden der Gefegentmurf über den
Randfturm und den Gefegentwurf über die Controle der Beurlaubten zur
erften Berathung. Beide Entwürfe wurden einer und bderfelben eigend zu
bildenden Commiffion übermwiefen. —
Mit derfelben Regelmäßigkeit, wie die großen, zur Arbeit verfammelten
Reihäkörperfchaften, forgt der in Unterfuhung befindliche, aber haftfrei
hohe Reichsbeamte für die Inanfpruchnahme der dffentlihen Aufmerfjamteit.
Und zwar liegt er diefer Sorge lediglich aus eigener nitative ob. Am 4.
November brachte die Kreuzzeitung wieder eine Veröffentlichung des Grafen
Harry Arnim in Form eined Privatbriefe® an einen Vetter. Der Graf be
Ihäftigt fi in diefem Schreiben mit der Auäftreuung, daß er dem Börfen
fptel nicht fremd geblieben und folhem Spiel Einfluß auf fein Verhalten
geftattet habe. So lange dergleichen Beſchuldigungen nit vor Gericht durd
den Öffentlichen Ankläger begründet merden, tft die Ausftreuung gewiß feht
unreht. Aber mie vertheidigt fi) der Graf? Man muß geftehen, er hat
die Feder für dieſes Privatfchreiben, das aber augenſcheinlich nur um der
Beröffentlihung gefchrieben, ungewöhnlich tief in Galle getaucht. Das Schre-
ben ift demnach pifant genug audgefallen, nur leider hat die Galle alle
Logik ertränft. Nachdem die Brieffteller erklärt, daß eine „beherzte Abfer-
tigung“ der Rüge, feinerfeitd in der Preffe unternommen, nicht? beweiſen
würde, unternimmt er fofort eine ſolche Abfertigung. Dies ift ein rheto-
rifches Mittel, dad, um wirkfam zu fein, einer feinen Handhabung bedarf.
Mie fällt nun die „beherzte Ubfertigung“ aus? Der Graf verfichert, das Fleiſch,
was er für feinen Börfenverdienft Faufen könnte, dürfte er am Charfreitag
273
effen , ohne die Faften zu brechen. Eine fehr hübſche Umfchreibung, die fich
die zahlreiche Schaar profejfioneller Börfenfpieler vielleicht aneignen wird, die
viel gefpielt und oft gewonnen, aber f&hließlich nicht? behalten Haben. Muß
man immer was davon tragen, wo man dabei gemwefen iſt? Der Graf fcheint
es zu glauben. Das wäre eine angenehme Neuerung. Um feine Unſchuld
am Börfenfpiel, das ihm Keiner nachſagen wird, der etwas auf fich hält,
bevor der Graf öffentlich überführt ift — meiter ind Licht zu ftellen, werfichert
der Briefiteller feine Unfenntnig der Worte report, deport u. f. w. ber
Niemand hatte ihm infinuirt, daß er Agent gemefen. Um das Maaß diefer
wunderbaren Logik vol zu machen, vermweift der Brieffteller jeden, der auf
feine Vermögensverhältniſſe neugierig ift, an Herrn Hanfemann. Herr Hanfe-
mann wird aber doc, wohl jeden ſolchen Neugierigen zur Thür hinauswerfen
laſſen; und Fann ſchließlich Herr Hanfemann felbft die gefammten Operationen
jedes Gefchäftsfreundes überfehn? Der Schluß des Briefed ift mit concen=
trirteer Galle gefchrieben und die geſchickte Bosheit wird an der Stelle, auf
die fie zielt, hoffentlich die Fünftleriiche Würdigung finden, die fie verdient.
St e8 aber nicht eine komiſche Behauptung, die Öffentliche Meinung fet in
ben Händen eines Generalpächtere, wenn man felbft eine erfiedliche Anzahl
Zeitungen — wir fagen natürlich nicht — „gepachtet”, fondern: — zur
Verfügung hat? C—r
Die „Shallenger“- Spedition.
Die Erforfhung der Meeredtiefen, indbefondere die Keititellung der
Temperaturverhältniffe und magnetiichen Bedingungen, ſowie die Erfenntniß
ded Thierlebens in den Tiefen der Dceane bat neuerdingd dur verbefjerte
Inftrumente eine bemerkenswerthe Förderung erfahren. Allerdings war
Forbes Irrthum, der den Meereätiefen völlige Dede andichten wollte, dur
Waliſch's, Heuglin’d u. A. bahnbrehende Unterfuhungen, namentlich
durch Sondirungen in den tiefiten Einfenfungen des atlantifchen Beckens,
welhe einen ungemeinen Reihthum an Organismen in diefen Abgründen
nachwieſen, Tängft widerlegt worden. Immer aber fehlte ed noch an den für
eine genaue Beobachtung der Erjheinungen in diefen gewaltigen Meerestiefen
unbedingt nöthigen Hülfämitteln, namentlih an einer gut conftruirten Senf:
blei und Rothungd-Vorrihtung, endlich an Thermometern, welche den enormen
Drud großer Waflermaffen auszuhalten und ohne Nachhülfe durch erhebliche
Gorreeturen den Wärmegehalt der Tiefen anzuzeigen im Stande waren. Den
legteren Erforderniffen haben Dr. Müller und Cafella durd Herftellung
von Thermometern, die durch eine Kapfel mit Weingeift vor der ie
Gtenzboten IV, 1874,
274
gefhüst find, im erfreulicher Weife zu entiprechen gewußt; andererſeits bat
man in England eine Lothleine hergeftellt, die, obwohl fie leichter und halt-
barer ift und fchneller arbeitet als die früheren Rothe, doch größere Maſſen
(bis 1500 Pfund ftatt fonft 630 Pfund) in die Höhe zu bringen vermag.
Mit diefen verbefjerten Inſtrumenten audgerüftet, haben britiſche
Gelehrte, melde auf Dr. Carpenter's, des befannten Hydrographen der
Royal Society, VBorfhlag im December 1872 auf dem Erpeditiongjhif
„Challenger“, Kapitain Nared, von der Rondoner Regierung zur Vor.
nahme von Tieffedforfhungen im atlantifhen Dcean audgefandt worden find
und fi gegenwärtig in den auftralifhen Gewäſſern befinden, fo bemerfen?-
werthe Ergebnifje erzielt, daß wir im Intereſſe unferer Lefer zu handeln
glauben, wenn wir Näheres über die wichtigeren Beobachtungsreſultate nad
dem Berichte Prof. Thomſons, des Chefs der wiljenfchaftlichen Erpeditton
(zu der u. U. Mofely, v. Willemoed-Suhm, 3. Murray und 3. J. Buchanan
gehören) bier folgen lafjen.
Der „Challenger trat am 21. December 1872 von Portsmouth aus
die Fahrt nad Gibraltar an, um von dort aus den Atlantifchen Deean zu
kreuzen. Mährend diefer erften Durchfreuzung, welche vom 26. Januar 1873
bi8 zum 16. März 1873 (Ankunft in St. Thomas) ftattfand wurden von
dem „Challenger“ 22 Tieffeelothungen vorgenommen und 12 Reihen von
Temperaturmefiungen in den verfchiedenften Tiefen beftimmt, Unterfuchungen,
welche ein überaus werthvolles Material einerfeits für Feftitellung der Geftalt
de8 Bodenreliefs des atlantifchen Dceand, andererfeits für die Beſtimmung
von Sfothermal » Linien und ihre Tracirung innerhalb der verfchiedenen
Strömungen und Stromgebiete des atlantifhen Oceans lieferten.
In erfterer Hinficht mag zur Kennzeichnung des Grades unferer früheren
Auffaffung von der Configuration des Meeredbodend im atlantifchen Dean
auf die Thatfache hingewieſen werden, daß vor nicht Ianger Bett auf ber
großen und belebten Weltverkehrsſtraße zwifchen Europa und Nordamerika,
wo fortwährend Dampfer und Segelfchiffe curfiren, nad den Seefarten
bald eine 35 Faden tiefe und 320 Seemeilen lange Bank (die Beaufort- oder
Milne-Bank), bald ein tiefes Koch, bi8 zu 4300 Faden — 25,800 Fuß Tiefe,
vorhanden fein follte, während an anderen Stellen noch riefigere Tiefen, bid
zu 6600 Faden, in den Segeldtrectiven und Karten figurirten. Die Mefungen
des „Challenger“ haben dieſe mythiſchen Phantafiegebtlde aus den
nautifchen Hülfsmitteln für immer ausgemerzt. Die größte von ihm ge
fundene Tiefe beträgt nur 3875 Waden, und zwar wurde diefe nicht an den
fonft als tieffte Einfenkungen angefehenen Stellen, fondern dicht bei den
Meftindifhen Inſeln, einen Breitengrad nördlid von Anegada, er
mittelt; zwet andere Abftürze von 5070 und 3700 Faden Tiefe reducirte der
275
‚Shallenger“ auf 2700 und 2650 Faden. Während der Meeresboden an der
europäifchen Weſtküſte, mit einzelnen Ausnahmen z. B. im Golf von Biscaya,
fh ziemlich allmälig zu dem Tiefferbeden des mittleren Theild des Oceans
hinabfenkt, ift der Abfturz an den Inſeln des Garaibifhen Meeres
viel jäher. Nahe bei Cuba, 3 Seemetlen von der Hüfte, wurden 1320,
milhen Cuba und Haiti 1750 Baden, unfern der Südküſte von Haiti ſogar
2136 Faden Tiefe gemeffen. Dies hatte jhon Irwing (1870) bei der
%gung des fubmarinen Kabeld nad den Fleinen Weftindifchen Inſeln ge
funden; es murden von ihm zwifchen Santa Cruz und Sombrero 1825,
zwiſchen Santa Lucia und St. Vincent 1346 Faden Tiefe ermittelt. Won
Jatereſſe wird die Notiz fein, daß dad Loth ded „Challenger“ — in der
Schwere von 3 Gentnern — bei St. Thomad 1 Stunde 12 Minuten ge:
brauchte, um in 3900 Faden Tiefe auf dem Boden zu gelangen, während zum
Hinaufwinden der Leine (ohne Gewichte) 2 Stunden Zeit erforderlich waren.
Der „Challenger“ durchkreuzte den Atlantifhen Deean im Jahre 1873
dreimal, und gewann hierbei bereit3 zuverläffige Grundlagen für eine Mapptrung
der Bodenumriffe de Nordatlantifchen Meeres. Das Bodenrelief des
leßteren läßt fih graphifch durch die Form eined S, aber umgeändert in ein
liegended , veranfchaulichen. Dieſes Bild ftellt die Trace ded von der Höhe
vr Bahama⸗-Inſeln bis nach der Afrikanifchen Weftküfte Hin, zwifchen Canari—
ſten und Cap Verde-Inſeln, von Weften nad Dften ftreichenden tiefſten
Kanals dar, der ſich 2500 und mehr Faden tief in den Boden einfenft.
Zwei andere tiefe Rinnen gehen von Norden nad Süden. Die eine
sieht fich zmotfchen Madeira und San Miguel an der europäifchen Seite des
Deeans bi zur Breite des britifchen Nordſee-Kanals und an der amerifanifhen
Seite zwifchen der Milne und Neufundland» Bank bis zu 480 N. B. hin,
die andere ftreicht zu beiden Seiten der Bank „Dolphin Rife* (öftlich von
den Antillen) hin und dehnt fich weſtwärts bis 12 N. B. öſtlich, parallel
mit der afrifanifchen Küfte, aber bis zum Tiefbecken des füdatlantifchen Oceans
aus. An diefe Einſenkungen ſchließen fi nördlich und füdlid von den
Azoren Plateau von 2000 Faden Tiefe. Diefe erftrecden fich oftwärt bie
zum 520 N. B., weſtwärts bis zum Eingange in die Daviäftraße (Grön:
land); im Süden der Azoren ftreihen fie öftlih von der Brafilianifchen Küfte
zwiſchen St. Paul Rocks und dem Giland Fernando Noronha bin, um dann
weiter ſüdlich ebenfalld in die füdatlantifche Tiefſee Hinüberzuführen. Es
find died nur die Hauptlinien für Feitftellung des nordatlanttfchen Boden-
telief®, deren weitere Firirung natürlich fortgefester Mefjungen bedarf; fie
haben aber die Bahn für diefe weiteren Feſtſtellungen fo wefentlich geebnet,
daß die vollftändige Mappirung des Bodenreliefs im nordatlantifchen Ocean
feinen befonderen Schwierigkeiten mehr begegnet.
276
Ebenfo beachtenswerth find die Feltftellungen des MWärmegehalted der
Meeresfhichten. Die auf dem „Challenger“ befindlichen Beobachter gingen
hierbei in der MWeife zu Werke, daß fie durh 7—10 gleichzeitig in dad Meer
hinuntergelafjene Thermometer die Temperatur der über einander gelagerten
Stromſchichten, möglihft bis zu 1500 Faden Tiefe, in ein und derfelben
Beobachtungéperiode feitzuftellen fuchten. Dabei wurde auch fonft alle Sorg-
falt beobachtet, welche der Bedeutung der zu erzielenden Refultate entiprechend
iſt, insbefondere wurden die Fehler eliminirt, welche der Drud des Waſſers ıc.
in den Inſtrumenten hervorzubringen pflegt.
Es iſt felbftverftändlich, daß die Temperatur, je näher dem Meeresboden,
defto tiefer finkt. Die Temperatur der Gemwäfler unter dem Aequator, öſtlich
von St. Paul Rode, wurde ald normale In allen Schichten angefehen.
Die Abkühlung wählt hier ziemlich rapid, proportional der Tiefe, dergeftalt,
daß, während 3. B. an der Oberflähe 78° F. beobachtet wurden, in 60
Faden Tiefe nur no 61,5 °, in 150 Faden 50°, u. f. w. Wärme fi fan-
fanden. Die Grenze des Einfluffes der Sonnenftrahlen wurde auf 60-80
Faden Tiefe feftgeftellt.
Capitain Nared, der Kommandeur der Corvette „Challenger* hat die fämmt-
lichen Zemperaturbeobadhtungen der Erpedition für den atlantifchen Deean
in vier Jſothermal Sectionen zufammengefaßt. Diefelben erftreden
fih, foweit die Richtung von Weft nah Dft in Betracht fommt, von den
Bermudas nfeln nah den Azoren, von MWeftindien nad den Canarifchen
Sinfeln, von Pernambuco über Fernando Noronha bis zum 14049' mw. L.
v. dr. und von Bahia über Triftan da Cunha nad) dem Kap der guten Hoffnung.
Auperdem find zwei Fothermal-Sectionen für die Richtung von Nord nad
Süd, und zwar von 3454’ n. B. bis zu 26015°&.B., feftgeftellt wor
den. Die erläuternden Tabellen geben die Temperatur der Meeresfchichten
von 100 zu 100 Faden bis hinab auf den Meeresboden, dergeftalt, daß die
Iſothermal-Linien verfolgt werden können. Beifpieldweife lauten die Daten
für 32054’ N. B. 63022 W. L. v. Gr.:
Oberfläche 60. 110. 350. 400. 450. 520. 680. 750. 870. 1230. 1590. 2360
Fahrenheit 70° 709 65% 60% 55° 50% 450 40° 390 380 37% 360 35%
Außerdem ift auf einer graphifchen Skizze durch dunklere oder hellere Farben-
töne der MWärmegehalt der Meeresfchtchten marfirt worden.
Es würde die Aufgabe, welche fich diefe Blätter geftellt haben, — ben
Zweck der Anregung — überfchreiten, wollten wir alle Detaild des inftruc,
tiven Begleitberiht8 von Mr. Thomfon bier wiedergeben. Erwähnt ſei nur
noch, daß zwiſchen 60 und 40 n. Breite die Iſothermen des Waſſers durch
den Einfluß des warmen Golfftrom. Gürteld an der Meftfeite des Atlantic
in größere Tiefen herabgedrücdt werden. Sit diefer Gürtel überfchritten, fo
277
ſteigt das herabgedrüdte Waſſer wieder in die Höhe und die Iſothermen ent-
ſprechen in ihrer Lage denfelben Schichten, die in der Section 1000 Seemeilen
füdficher vorgefunden werden. In der Region, wo der Golfftrom gegen
die Küften Europas trängt, ift wieder eine Alteration der Iſothermen wahr-
zunehmen. Diefer Strom wird nämlich von den Küſten Europas zurüdge-
mworfen, dringt ſodann, obwohl er bereitö 15° feiner Temperatur verloren
hat, mit feinen wärmeren Waſſern in die fälteren Schichten ein und bewirkt
fo, daß die Sfotberme 459 %., melde etwa dem Gebiete in 550 Faden
Tiefe angehört, bis auf 700 Faden Hinabgeht, alfo diefe Schichten um etwa
3 Grad über den Normal-MWärmeftand erhöht. Der Einfluß ded Golfſtroms
erreicht in der Bai von Bidcaya felbft no die Schichten am Boden, fo daß
diefe um 1° wärmer find, als in der Normalzone, während das Wafler 5. 2.
an den nordamerifanifchen Oftküften in den Schichten am Meeredboden um
2,,° Kälter ift, al® unterm Aequator, Dank dem Einfluffe der Gemäfler des
in der Tiefe hinftreichenden arktiſchen Stroms.
Es ergiebt fi aus dieſen Feſtſtellungen die intereffante Thatfache, daß
zwiſchen Amerika und den Azoren ein ungeheured Warmmwaffer-Refer:
voir eriftirt, deſſen Flächeninhalt etwa 2 Millionen Quadratmeilen (engl.)
und deſſen Tiefe 1000 Fuß beträgt, — Mächtigfeitöverhältniffe, welche den
erheblichen Einfluß dieſes Baffind auf die klimatiſchen Verhältniffe Weft-Eu-
ropas erflärlich machen.
Die Baffind des füdatlantifchen Deeans find zum Theil nicht unerheblich
fülter, ald die entſprechenden Schichten de Nord-Atlantic; immer aber zeigen
fie noch einen höheren Temperaturftand, al® den der äquatorialen Gemäfler.
Um 17. December 1873 feste der „Challenger“ feine Reife von der
Simond- Bai (füdlihften Bai ded Kaplandes) nach Kerguelens-Land fort,
um auch im indifchen Deean feine Tieffeeforfhungen vorzunehmen, melde die
gerechte Aufmerkſamkeit der wiffenfchaftlichen Kreife verdienen.
| G. T.
— — — —— — — — —
Der obligatorifhe Ankerricht in der franzöſtſchen
Sprache im Großherzogkfum Luxemburg.
Wir Quremburger find nicht in demfelben Falle, wie die Bewohner der
neuen Reichdlande in Elfaß-Lothringen, wir haben nicht während des legten
Jahrhunderts zu Frankreich gehört, und dennoch ift bei und der Unterricht
der franzöfifchen Sprache obligatorifch in den Primärſchulen. Freilich! unfere
Fransquillons, welche ſchon die Sache wilfen müffen, behaupten ja auch, wir
feien Franzoſen dur und durch, mit Leib und Seele, und unfere Bauern,
278
d. h. unfere Paftöre, wollen ein für allemal nichts von Deutfchland wiſſen.
Weßhalb indeffen diefe unfere Bauern deutfh ſprechen, und Fein Sterben?
wörtlein Franzöftfch verftehen, und unfere Baftöre Deutſch in der Kirche lehren
und predigen, davon verftehen ſolche „Preußen“, wie Unfereins, nichte. Dad
weiß unfer großer Ethnologe und Ethnograph, Herr A. Fund, beffer. Er
meint, wir feten zwar ein deutfchiprechender Volksſtamm, aber von franzöfiicher
Abftammung und von franzöfifchem Weſen und Geifte. Nur vergibt er und
zu fagen, wie wir, als grundfranzöfifcher Volksſtamm zu unferer altfächfifchen
Sprade, und zu unfern biederben altdeutſchen Volksſitten, Volksbräuchen
Volksſagen und Märchen, und VBolfäliedern gekommen find. — — — Das
„Ruremburger Wort“, das fromme und wahrhaftige Blatt, dem es bei feinem
eifrigen Fatholifhen Chriſtenthum auf ein biächen weniger Logik nit an
fommt, will nun auch heute franzöfifh fein mit Haut und Haar, während
es noch fur; vor 66, wir meinen vor Sadowa, mit Haut und Haaren deutid
fein wollte. Wie e8 fcheint, hat Sr. Gelahrtheit, Herr A. Fund, das „Wort“
feitdem eine Befjeren belehrt. Wielleicht auch hat e8 der „Preuß“ bei Sadowa
getban, und zwar durch feine Argumenta ad hominem Defterreich gegenüber.
Weil Defterreich nicht deutfch bleiben wollte, oder durfte, fo mollten ober
durften es auch feine vielgeliebten Lehrer und Meifter, die Jeſuiten, nicht
bleiben. ohne fich felbft in den Bann der hl. Kirche zu thun; und — feit
der Zeit find fie franzöfifch, und wer nicht mit ihnen tft, der — iſt wider fie,
wie da® Evangelium lehrt. — Früher arbeiteten die Jeſuiten aus allen
Kräften an der Ausdrottung der franzöfifchen Sprache im Lande, namentlid
in der Volksſchule. Heute fol die ganze Welt bei und franzöfifch lernen,
um — mit nah St. Hubert in Belgien, zur fligmatifirten Heiligen von
Bots d’Haine, nad Lourdes, Paray le Monial, und die taufend andern
MWunderorte in Frankreich, wallfahrten zu können. Heute ift das Deutjche
in den Augen unferer frommen Sefuiten Fein Deutfc mehr, nur noch
„Preußiſch“.
Noch Heute kommt unſere „Indeépendance“, die gutwillige Wiederkäuerin
der Enten, die das „Wort“ ſchon zehnmal aufgetiſcht hat, und beweiſt uns
Luxemburgern, daß wir noch immer die alten Stockfranzoſen ſind, und das
Franzöſiſche daher in unſern Schulen lernen müßten, fintemal es ſonſt nirgends
im Lande gefprochen wird, wenigftend nicht comme il faut. Was fol auf,
mag Herr Joris bei fih denken, aus und werden, wenn nun die „Revande“
kommt, und wir Eönnen diefelbe nicht, wie fich diefes ſchickt, auf gutfranzöfiſch
fetiren? — Wäre das nicht eine Schande für das ganze Land, das jo in
tieffter Seele franzöfifch ift? — — Und fo hat denn auch die madere „Inde-
pendance” ganz Recht, wenn fie den Beamten unjerer Eifenbahnverwaltung
den Tert dafür Iieft, daß fie fo faul im Erlernen des Franzöfifchen feien, in
279
einem dur und dur — deutfchen Lande, wo die Regierung, die Kammer,
die Poft-, Telegraphen-, Steuer- und andere Verwaltungen, nebft allen un»
feren Fransquillons, das Franzöfifche radbrechen, jo gut, oder beffer, fo ſchlecht
es gehen will. Was find denn das für deutfche Eifenbahnbeamte, meint die
„Sndependance”, die da nicht einmal das Franzöſiſche fprechen, es nicht
einmal lernen wollen, und wäre e8 au) nur den — franzöfifchen Telegraphen-
formularen zu lieb. Gerade ald ob bei und der Telegraph, der mährend des
legten Kriege mit allen franzöfifchen Telegraphen und Zeitungen um die
Wette franzöfifch gelogen, und faft dad Kreuz der Ehrenlegion dafür erhalten
‚hätte, nun auch noch Deutjch lernen follte, den Beamten unferer beutfchen
Eifenbahnen zu Liebe.
Und dann denkt das fchlaue „Wort“, ä part soi, während der ſchönen,
vielen Bett, wo die Kleinen in den Schulen dad Franzöſiſche — nicht lernen,
lernen fie doch menigften® auch nicht? andere. Und das ift ſchon ein großer
Gewinn, wenn auch nur ein negativer — für das Volk nämlich. Alle Welt
weiß, daß bei unferm gegenwärtigen Regime, wie e8 in unfern Bolfs-
ſchulen herrſcht, gar nicht die Rede von der Grlernung zmeier fremden
Sprahen (denn auch das „Preußifche” ift für und Luxemburger heute eine
fremde Sprache) fein Fann. Dafür ift die vorgefchriebene Schulzeit zu Kurz,
der Katechismus des Herrn Laurent zu di und zu theologiſch, find die
Spieltage , Feiertage, Vakanzen und Ferien zu zahlreih. So gar viel mird
auch in der Schule nicht gewonnen. Ein Glüd noch, daß die Kleinen Rangen
ihr gute®, biderbe3 Iuremburger Deutſch mährend der Schulzeit nicht ver-
lernen. Wie fie e8 fonft machen follten, um ſich unter fi und unter den
Reuten zu verftändigen, ift eine Frage, die wir und nicht zu beantworten ge-
trauen. Denn von Deutfh und Franzöfifh verjtehen die armen Würmlein
kaum mehr, wenn fie aus der Schule audtreten, als bet ihrem Eintritt in
diefelbe. Und doch fagt Herr ludi-magister Philipp, ein treuer Anhänger
des „Quremburger Wort“ und ein faft ebenfo tüchtiger Echulmeifter, die Er-
lernung der franzöfifchen Sprache in den Primärfhulen könne nur der Er-
lernung der deutfchen Sprache Vorſchub leiſten. Wir find mit dem gemiegten
Pädagogen gänzlich einverftanden, d. h., wo die beiden Sprachen wirklich
und gründlich gelehrt werden, was indefjen bei und zu Lande, unſers Wifjeng,
nirgend® gefchieht, nicht einmal in der Schule ded braven Mannes felbft. —
Doch das ift ja auch Nebenfahe. Nicht um durch die eine Sprache die
andere zu erlernen, kommen die beiden in dad Schulprogramm, fondern
vielmehr, damit die eine die andere verdränge, ertödte. Der Schulmeifter foll
nad allen Seiten die Hände gebunden haben, hier durch den dicken Katechis—
mus, den er nah $ V. Art. 51 unſers mohllöblichen Schulgeſetzes, auf
Begehren des Paſtors, und unter feiner Leitung, zu lehren hat;
280
bald dur das Franzöfiiche, wodurd er den Kleinen das Deutjche begreifli
machen fol; bald durch dad Deutfche, welches die Kinder kaum befler ver—
ftehen, al® dad Franzöfiihe; bald durch die vielen Feier- und Ferientage;—
bald durch die zahllojen Abwejenheiten der Eleinen Rangen, die während der
befferen Jahreszeit von ihren bejorgten, liebevollen Eltern zu Haufe behalten
werden, um bei dem theuren Zucht- und Maſtvieh Wacht zu halten, damit
demfelben ja beileibe nicyt8 abgehe, und reife und Prämien den Weg ins
Dorf nicht verfehlen. —
Unjere hochpatriotiſchen Blätter, die wenigitend ebenfo fromm als
patriotifh find, ignoriren das Alles nicht. Aber in einem Rande, wie da®
unfrige, „dem erften Sande der Welt und drüber hinaus“, wie eine biefige
rhetorifche Größe ſich auszufprechen pflegt, muB alles gut und recht fein per se.
Und fo wollen wir denn mit Herren ori, dem Strohmann der „m
dependance Quremburgotje*, und Herrn Breisdorf, dem Dito des „Nuremburger |
Mort für Wahrheit und Net“, hoffen, daß das Franzöfifche ja noch recht
lange, zur Erläuterung des Deutſchen (nah Herren Philipp) in unfern Pri—
märfchulen, nah dem „dien Katechismus“ gelehrt werden müffe, und
müßten wir auch am Ende unfer fchönes luremburger Deutſch darüber ver« /
lernen, d. h. gar Feine Sprade zum — Klagen behalten. Reden ift zwar ;
Silber (wenn man daraus auch Feine Reichsmark ſchlagen Fann), doch Schwei—
gen tft Gold, wie die Elugen Xeute meinen. Nun denn! Deſto befier, wenn
wir au noch zu dem Franzöfifchen und „Preußiſchen“ unjerer Mutterſprache
quitt werden. Wir werden dabei nur um fo reicher. Und wer Gold hat, für
den liegt am Ende wenig daran, ob er ded Wortes mächtig fet, oder nicht. —
Freilich gewinnt das Ding, was unjere Bhilojophen und Germanophilen
Geift nennen, dag Wenigſte dabei. Aber Geift! was ift Geift? Man zeige
und doch nur Geiſt in unferm Lande! Und für ein ſolches unſichtbares, un-
greifbared Ding, das nirgend® bei und zu finden tft, fämpfen nur jene Ideo—⸗
logen, die unfere Kleinen ſchon mit 12—14 Jahren zu Gelehrten, zu Denfern
(warum nit gar zu Doktoren?) machen wollen. Sie können nur Unrube
und Unfrieven im Bolfe ftiften, das ſich bis heute jo gern und willig von
feinen Vorgeſetzten jeder Art hat leiten lafjen, Wenn das Volk, die großen
Maffen mit ihrem Loos und ihrem Zuſtand zufrieden find, ob fie „preußifch“
ſprechen fönnen oder nicht, mas geht® die unverbefjerlichen Weltverbefferer,
die thörichten Ideologen u. ſ. w. an?
Und fo begreift man denn, wie eö bei jo bewandten Umfländen und
Anfichten, in unfern Schulen ausſehen muß. Biel Schein, fein Wefen; viel
Geſchwätz, menig Gehalt, eine breite Oberfläche, feine Tiefe; zwei fremde
Sprachen, und feine eigene; kurz: „Biel Lärm um nichts“. — Und dazu all
das Rühmen unferer Tagesblätter über die Vorzüglichkeit unferer Schulen,
unferer Geiftlichfeit, unferer ſchwarzen Schulſchweſtern und ihrer hochgeftellten
Protektoren , kurz, des ganzen ultramontanen Schwindeld. Und da® unge:
ſchmälerte Eigenlob, das ſich die Strohmänner diefer Blätter tagtäglich zollen.
Ich möchte willen, wie e8 in den minder vollfommenen Rändern, und bei
den uneivilifirteften Nationen zugeht, wenn es hier, bei dem vorzüglichiten,
dem erften Volk der Welt und darüber hinaus, ſchon fo — ganz nad dem
Sinne unferer Sefuiten und Frandquillond hergeht. — Der Himmel bewahre
alle Gebilveten vor einer ſolchen — Kivilifation, — jeden ehrlihen Mann
und treuen Baterlandöfreund vor dem Segen, den fie ihm bietet. Der muß
ftarf fein, der ihn trägt, ohne darunter zufammenzubrechen. —
N. Steffen.
Berantwortliher Redakteur: Dr. Hans Blum in Reipzig.
Berlag von $. L. Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Legler in Leipzig.
Die
Nan abonnirt bei allen Buchhandlungen u
Grensboten.
Beısı Sri
für
Politik, SJiterafur und Kunfl.
Ne: 47.
Ausgegeben am 20. November 1874.
Inhalt:
Seite
Hiftorifche Studien über Don Carlos. I. Wild. Maurenbrecher. 281
Zur Gefhichte des Septennatd, 1. Die Gründung. Georg Zelle 293
Ein ameritanifcher Humorift. (Marf Twain) 9.8. 306
Vom deutfchen Reihötag.e C—-r. . 2» 2 vn 314
Briefe aus ber Kalferfladl £ + + » = 318
Grenzbotenumſchlag: Literarifche Anzeigen.
ey — HH do — — — —
Leipzig, 1874.
Friedrich Ludwig Herbig.
(Fr. Bild. Grunow.)
nd Poftämtern des In= und Auslandes,
Baedeker’s Handbuch für Italien.
Ober-Italien bis Livorno, Florenz und Ancona und die Insel Corsica, nebst Reise-Routen 4
die Schweiz und Oesterreich. Mit 8 Karten und 23 Plänen. 7. neu bearbeitete Auflage
9 *
Mittel-Italien und Rom.
beitete Auflage 1874
Mit 7 Karten, 2 Plänen und einem Panorama von Rom, 4, neu [
-
—
Unter-Italien und Sicilien, nebst Ausflügen nach den Liparischen Inseln, Tunis (Cartha
Malta, Sardinien und Athen. Mit 7 Karten und 8 Plänen.
in Ferd. Dümmler’3 PVerlagsbuhbandlung
(Harmwig und Goßmann) in Berlin erfcheint:
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von
Joſeph Lehmann.
Dreiundvierzigfier Jahrgang.
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jährlich 1 Thle. 10 Ser.
Das „Magazin“ ift durch jede Poftanftalt und
Buchhandlung, auch von der Verlagsbuchhandlung
zu beziehen. Eine Probenummer liefert jede Buche
handlung unentgeltlich.
No. 46 des „Magazin” folgende
Artikel:
Deutihland und das Ausland. Moderne Kul—
turzuftände im Elſaß. (Neue Folge) Noch Lud—
wig Spa. 665. — Grillparzer ald Archivdirektor.
667. — Nenlateinifhe Literatur. Dlympia
Fulvia Morata Bon Dr. Herrmann Müller. II.
669. — Italien. Zeitungen des nördlichen Ita—
liend. Bon Ludwig Geiger. IL. 672. — $ranf:
reih. Guizots Teſtament. 674. — Die Reform
des höheren Unterrichtsweſens in Frankreich. TIL.
675. — Polen. Eine polnifche Ueberſetzung der
Odyſſee. 676. — Drient. A Grammar of the
Arabie Language. 677, — Kleine literarifde
Menue. Das öfterreichifche Hochdeutfh. 678. —
„Am deutjchen Herd.“ 678, — Der Landrichter
von Bibenhaufen. 678, — Lehrbuch der MWürfel-
kunſt. 678.
Im Verlage von Fr. Bild. Grunow in Leipzig
erfchien:
Geſchichte
der deutſchen Literatur
ſeit Leſſing's Tod
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5. Auflage.
gr. 8. Preis 8 Thlr. 15 Ngr.
enthält
3 Bände,
Neue Auflage in Vorbereii
Die soeben erschienene No, 46 der
Jenaer Literaturzeitun
im Auftrage der Universität Jenaher:
gegeben von Anton Kilette,
Jena, Mauke’s Verlag (Hermann De
enthält Besprechungen von:
H.-Ewald, die Lehre der Bibel von Gott:
Eb. Schrader. H. Serin, Chronologie des
bens Jesu: von RB. A. Lipsius, K, v. Au
Erbenfolge und Verwandtschaftsgliederung«
den alt-niederdeutschen Rechten; v. ©, St!
A. Dalcke, das Gesetz über die Enteign
von Grundeigenthum: ven G. Meyer. |
scheidungen des Mecklenburgischen 0
appellationsgerichts zu Rostock : von ©. We
F. X. Nenmann, die Theuerung der Leb
mittel: von J. Conrad. E. Richter, Chira
der Schussverletzungen im Kriege:
C, Lotzbeck. E. Hallier, Exeursionsbach
A. Engler. H. Seeger, die Element
Arithmetik: von G. Frege. M, Venetin
der Allgeist: von Fritz Schultze. C, Büss
Theopompea: von E. Wölftfliin. K. Bäcd
die Aufstände der nnfreien Arbeiter I —
v. Chr.: von C. Peter. A. L. Ewald, die
oberung Preussens durch die Deutschen:
G. Hertzberg. Dantis Alligheriiide monarı
libri III, edidit C. Witte: von EX, Wer
J. Baader, Verhandlungen über Thomas
Absberg und seine Fehden: von H, Ulms
K. Fischer, Geschichte der auswärtigen Po!
und Diplomatie im Reformationszeitalter:
C. Varrentrapp. C. Hostmann, der Un
friedhof bei Darzau: von J. H. Mü
H.Ewald, hebräische Sprachlehre: v.R.Schra
C. H. Vosen, kurze Anleitung zum Erler
der hebräischen Sprache: von Eb; Schr
F. C. Seeliger, de Dionysio Halicarn
Plutarchi in vitis X oratorum austtore:
F. Blass. A. Dräger, historische Synta
— = Terache : von BE», Lühl
. Lueretius Carus, redigirt und erklärt
E. Bockemüller: von W. ve elm
M. Tullii Ciceronis orationes ie, ei
runt A. Eberhard et W. Hirschfelder:
J, Frey. Die Murbacher H 3 so, mach
Handschrift herausgegeben von E. =
E. Steinmeyer. E. Laur, zur Ge *
französischen Litteratur: Yon &, Gräber.
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Hiſtoxiſche Hfudien über Don Garlos.
II.
Wer ſich die gleichzeitigen und authentiſchen Zeugniſſe über die Jugend
und Entwickelung des Prinzen Carlos vergegenwärtigt, wer ſich der Ausſagen
feiner Erzieher, der beſorgnißvollen Worte ſeines Vaters und endlich der ver-
traulihen Mittheilung von fpanifcher Seite an die nächſten Verwandten er-
innert — (mie mir fie in dem vorhergehenden Artikel dargelegt haben) —
dem muß ſich ein ganz andered Bild jenes bemitleidendwerthen fpanifchen Jüng—
ling® ergeben haben, als es nad der vom Dichter früher vermittelten und
neuerding® neu porgetragenen Annahme gemwefen fein fol. Faſt unglaublich,
jedenfalld jehr feltfam muß es erfcheinen, daß überhaupt ein Roman aus den
gefchilderten Zügen entftehen Eonnte. Der Ausgang ded Prinzen wird allein
die Erklärung für diefe auffallende Thatſache und bieten.
Wenn heute der Thronfolger eines großen Staates oder ein Prinz eines
mächtigen KHönighaufes oder wenn, wie wir e8 fo eben erlebt haben, ein her-
vorragender Diplomat oder Staatsmann plötzlich ins Gefängniß gefegt wird,
fo bleiben Erzählungen und Bermuthungen und Erfindungen über die ver-
baftete Perfönlichkeit und die Urfache der Verhaftung ganz gewiß nicht aus.
Je feltfamer die Geſchichte ausgeputzt werden Fann, deito größer ift der
Eindrud und Erfolg, den fie mat, bei dem flaunenden und aufbordhenden
Publifum. Wenn wir und nun in die Stimmung der öffentlichen Meinung
jener Zeiten verfegen, tritt un faft auf allen Seiten eine große Entfremdung
und Übneigung gegen Spanien und den fpanifchen Köntg Philipp II. ent-
gegen; feine politifchen Widerfacher in Italien und in Frankreich) und in den
Niederlanden, feine reltgiöfen Gegner in der proteltantifchen Welt beobachteten
mit Mißtrauen jeden feiner Schritte und nahmen mit behaglicher Genug-
thuung von jedem Mißgeſchick Notiz, das ihn in feiner Politik oder in feinem
Haufe betraf. Man kann ſich leicht vorftellen, mie man in diefen Kreiſen
die Gefangenfegung des Thronfolgerd aufgenommen und in welcher Richtung
fih fofort die Erflärungäverfuche und Deutungen bet allen diefen Feinden
Spanien® bewegt haben. Die Feinde Spaniens aber haben damals die öffent-
liche Meinung Europas gemacht oder beherrfcht; fie haben in der Kiteratur
Örenzboten IV. 1874. 36
ar
282
fiegreih ihre Tendenzen durchgefegt. Wir Haben ſchon an diefer Stelle auf
die weitreichende Wirkung bingewiefen, welche die Verläumdungen des Dra-
nierd gegen Philipp gehabt haben. Aus der von diefen Anregungen auge:
gangenen Literatur, die alfo vornehmlich von politifchen Tendenzen, mehr
ald von romanhaften Kiebhabereien ihren Antrieb erhalten, ijt diejenige
Verſion der Carlod- Gefchichte entitanden, deren fpäterhin ſich die Dichtkunft
bemädhtigt hat. Wer aber fi einmal in dem Dunftfreis jener Vorftellungen
und Erzählungen bewegt hat, der Fann ſich nachher nur ſchwer entjchliegen,
den nüchternen Ausſagen diplomatifcher Berichte oder amtlicher Erklärungen
Glauben zu ſchenken und feine Lieblingdmeinungen fahren zu Iaffen.
Auch der neuefte Darfteller de8 Don Carlos, auch Adolf Schmidt
ift von dem Gefühle politifchen und kirchlichen Gegenſatzes gegen Philipp II.
von Spanien fehr lebendig erfüllt und bewegt; er läßt Feine Gelegenheit vor:
beigeben, feine Leſer von bdiefer feiner Gefinnung zu unterrichten: ihm it ed
durhaus nicht genehm, daß andere Hiftoriker eine weniger leidenſchaftliche
Auffaffung am Plate halten und es ablehnen, das hiftorifche Urtheil von den
damaligen Feinden Spaniens ſich vorfagen zu laffen. Doc wie auch immer
das Urtheil über König Philipp fich dereinft geftalten mag, nachdem man
ihn fennen zu lernen in der Rage fein wird, — ich behaupte, daß aus dem
gedruckt vorliegenden Materiale eine ſolche Kenntniß heute nicht möglich ft,
— mie immer auch dereinft dies fich geftalten mag, ganz ficher wird es nicht
erlaubt fein, bei der Feitftellung der Thatfachen dem Urtheile über den König
maßgebenden Einfluß zu gewähren.
Oder follte fih eine Fälfhung der Thatfachen, eine lügenhafte und ten-
denziöfe Verdrehung des Thatbeftanded in den und vorliegenden hiſtoriſchen
Zeugniffen vielleicht dem fpanifchen Könige felbft nachmweifen laffen? Schmidt?
Meinung fheint dies zu fein. Darum handelt es fih alfo, ob eine folde
Trübung der Ueberlieferung durch den fpanijchen König fih nach weiſen läft.
Schmidt ftellt den Ausfagen der Diplomaten und den Erklärungen
des Hofes feine Fritifche Theorie gegenüber, die ihnen die Glaubmwürdig:
feit beftreitet und als Xendenzlügen fie erklärt. Er meint, die ita-
lienifhen Depeichen feien nahezu werthlos, weil fie „abfichtlih auf
geitreute Hofgerüchte melden, die für den unbefangenen Forfcher den Stempel
foftematifcher Verdächtigung des Infanten an der Stirn tragen“. ine
mejentlih größere Glaubwürdigkeit ftehe den franzöſiſchen Berichten
zur Seite: am glaubwürdigften aber feten die öfterreihifchen Berichte;
gerade aud den vorliegenden Depeſchen Dietrichftein’d glaubt er ein andere
Charakterbild heraudfefen zu können, als dasjenige, das den Außftreuungen
des Hofes entfprungen. Wir dürfen wohl annehmen, grade die Beobachtung,
daß fih Hier und da günftigere Aeußerungen als die üblichen über Don Carlo?
283
in den bezeichneten Depejchen Dietrichftein’d vorfinden, hat Schmidt zu feiner
Annahme geführt einer fyftematifchen Verläumdung ded Prinzen durch
feinen ihm feindlih gefinnten Vater. Augenſcheinlich argumentirt er fo,
wenn einige Beobachter günftig über den Prinzen berichten und urtheilen, fo
muß dad, was die fpanifche Negierung direft und indirekt und über ihn mit-
theilt, da es fo viel ungünftiger lautet, Unwahrheiten enthalten; denn die
Glaubwürdigkeit jener günftig berichtenden ift aus fonftigen Gründen anzu-
nehmen, fie ift jedenfall® vorzuziehen der Glaubwürdigkeit der Spanier, welche
Kartei find und melche dad Don Carlos zwar erft fpäter zugefügte aber ſchon
beabfihtigte Unrecht zu befchönigen Haben. Man fieht, in diefer Fritifchen
Grundlage ift allerding® Syitem. Zwar, meine ih, wäre immer noch da-
rüber zu didcutiren, welcher Seite mir zu folgen hätten, wenn ein Wider
ſpruch zwiſchen den Erklärungen der Megierung und den Berichten der Fran-
jojen und Defterreicher fich herauäftellen follte. Das Mißtrauen gegen Philipp's
Yeugerungen wäre doch erſt zu begründen: allein mit der vor jeder Unter-
fuhung, mie e8 fcheint, als Artom feitftehenden Annahme einer Feindfchaft und
Berfolgungsfudht des Königs wider feinen Sohn wäre nicht? auszurichten bei
einem Hiftorifer, der auch für died Ariom um Beweife erfuchen würde; — das
aber wäre ein nicht lobendwerther Hiftorifer, der etwa aus Höflichkeit oder
aus eigener Liebhaberei eine foldhe Bitte um Beweiſe unterdrüden mollte!
Doch wir haben feinen Anlaß, diefe abwägende und vergleichende Unterfuhung
der Olaubmwürdigfeit hier vorzunehmen, — der eben angenommene Widerſpruch
ft gar nicht vorhanden. Jene Diplomaten haben ala gewiſſenhafte pflicht—
treue Leute ihren einheimifchen Regierungen nur das berichtet, was fie am
Hofe erlebt, was fie dort vom Prinzen gehört; fie haben ihr eigenes Urtheil,
wie es fich ziemte, nur fehr behutfam und fehr vorfichtig zu formuliren fich
bemüht: alles aber fteht im Großen und Ganzen in Einklang mit dem, was
jene von Schmidt fo verworfenen Italiener und was die fpanifchen Minifter
jelbft gelegentlich erzählt und gefagt haben.
Es ift gewiß richtig, daß die franzöfifchen Diplomaten am fpanifchen
Hofe Gelegenheit hatten fi gute Nachrichten zu verfchaffen. Und Königin
Elifabeth, die ja felbft für Don Carlos ſich zu intereffiren angemiefen war, mag
dabei ihnen behülflich geweſen fein. Sie erzählen nun einzelne Eleinere Erleb-
niffe und Vorfälle, fie geben einzelne feiner Aeußerungen wieder, die ihnen
binterbracht find: — meiftend find es Detail, aus denen fie felbft Feine
Folgerung auf feinen Charakter ziehen und die auch uns nicht darüber zu
einem Vrtheile verhelfen. Doch ift Einzelne auch von anderer Natur. So
3 ®. berichtet der Gefandte im Auguft 1563, daß Ruy Gomez ihm gefagt,
die Kränklichkeit und der Blödfinn, die man an Don Carlos bemerkt habe
(Findisposition et I’ imbeeillit& qui se voyait en sa personne), hätten den
u
284
Bater biöher verhindert ihn zu verheirathen, der Gefandte überliefert viefe
Mittheilung des Minifterd, ohne anzudeuten, daß er eine andre Meinung von
Garlod habe; hatte er fie, fo war es nöthig fie bier Fund zu geben.
Im Suni 1564 lefen wir in dem Berichte deffelben Gefandten, daß man in
Spanien eine Ehe ded Prinzen mit feiner Tante wünſche, im Hinblid auf
feinen Schwahfinn (ä cause des qualitez assez imb£cilles de luy), der in
den trefflihen Eigenfchaften der Dame eine Ergänzung finden würde; zu-
gleich erwähnt derfelbe Bericht, dag der Prinz anfange gegen feinen Vater
und deilen Befehle widerſpänſtig zu werden. Wie von einer durch ihn
nicht bezweifelten Thatfache redet alfo auch der Franzofe von dem Schwach—
finn des Prinzen. Ta, er hatte auch dag Urtheil ſchon niedergefchrieben, da
Don Earlod’ Eigenjchaften ihn nicht zur Uebernahme ſchwieriger Aufgaben, wie
etwa in Schottland fie ihm bevorftehen würden, befähigten; ein Urtheil, das
naher fein Nachfolger in der Gefandtichaft zu beftätigen mehrmals ſich ver-
anlaßt gefehen. Aus der Xektüre der franzöfifhen Depeichen habe ih nichts
weniger als den Eindrud gewonnen, daß fie in der Schilderung und im Ur:
theile über Don Carlos von dem. fonft befannten abweichen.
Um Madrider Hofe war aber fein Fremder in fo günftiger Rage über
Carlos fih zu erkundigen, als grade die Öfterreihifchen Gefandten.
Sch wies neulich ſchon auf ihre Stellung zwifchen den beiden Höfen hin: es
fom Hinzu, daß ſeit der ernftlihen Behandlung des Eheprojektes durch den
Miener Hof fie das größte Intereſſe hatten, von dem wirklichen Zuftande
dedjenigen, den die Erzherzogin heirathen follte, Kenntniß zu erhalten. Wenn
man bedenkt, wie große VBerantwortlichkeit jeded Wort und jeder Winf des
Geſandten gerade in diefer Situation haben mußte, wird man fi) eine Vor
ftelung von der Sorgfalt machen können, mit der fie Erfundigungen ein-
zogen, von der zaudernden Vorfiht und ſtets nach allen Seiten bin fich um
ſchauenden Bedenklichkeit, mit der fie ihre Berichte abfaßten, von der Scheu
ein Urtheil beftimmt auszuſprechen; dann aber wird man aud dad Schwanfen
in ihrem Urtheile felbit richtig zu veranfchlagen geneigt fein.
Jener Martin de Guzman, dem man im Mär; 1562 ziemlich unver
blümt den Sachverhalt eröffnet Hatte, kannte felbjt den Prinzen recht mohl;
er ſprach fofort mit dem Nachdruck vollfter Meberzeugung eine gut und au
thentiſch unterrichteten Zeugen ed aus, diefe Gröffnung über Don Garlos
enthalte nichts erfonnenes, fondern fo jet ed in Wirklichkeit (no es fingido
sino pasa asy en realidad de verdad); feine eigene Unfiht war, felbit wenn
Garlod gefunder werden follte, würde die Heirath nicht möglich fein. So
blieb alfo den deutfchen Verwandten nicht? übrig ald zu warten, ob vielleicht
eine Aenderung im Weſen des Prinzen eintreten würde.
Zunächſt erfolgte eine Verfchlimmerung feines körperlichen Zuftandee.
285
Im April 1562 that Carlos den unglüdlichen Fall in Alcala, der ihn an
den Hand des Grabes brachte, fo dag die Rettung vom Tode nur wie ein
Wunder von den damaligen Menfchen angefehen wurde. Aus Deutfchland
erfolgte im nächſten Jaͤhre wiederum ein Antrag und ein Gefuh an Philipp,
fih jest über Carlos' Ehe zu entfcheiden. Cingehende Erörterungen fanden
darauf am fpanifchen Hofe Statt: es war aud von der fehottiichen Seite
da8 Projekt der Maria Stuart auf neue angeregt worden. Die Entſchei—
dung ging dahin, einmal daß wegen der Befchaffenheit ded Prinzen und weil
die gewünſchten Nefultate ſeines Auftretens in Schottland für die Fatholifche
Sache nicht zu erwarten wären, die ſchottiſche Möglichkeit fallen zu laſſen fei,
und daß man wegen der bdeutfchen Ehe durch einen befonderen Gefandten
König Marimilian-von der zuftimmenden Abfiht Philipp's und von der Be
ihaffenheit des Prinzen unterrichten follte.*) So erhielt Guzman im No:
vember 1563 nur einen dilatorifchen Beſcheid; bis in den September 1564
zog fih Die neue Gefandtfchaft Hin, die aber nicht? neued mitzutheilen: hatte.
Ueberhaupt verblieb Philipp bei einer Wiederholung feiner früheren Worte;
er bezog fich auf dad, was er fohon früher gefagt; er bedauerte feine Aen—
derung conſtatiren zu Eönnen; er vertröftete die öfterreichifhen Werber immer
nur auf die Zukunft.
Inzwiſchen waren im Frühjahr 1564 die beiden Erzherzoge in Spanien
angelangt, begleitet und geführt dur den Freiherrn von Dietridhftein,
diem es noch beſonders aufgetragen war, die ſchwebende Ehefrage endlich ind
Reine zu bringen. Gerade in feinen Berichten hat Schmidt Anlaß und Ma:
tertal gefunden, die höfiſchen Mitteilungen über Carlo der Züge und ſyſte—
matifhen Verdächtigung zu zeihen. Es wird nöthig fein, daß wir die be-
treffenden Ausfagen Dietrichftein’d prüfen.**) reili halte ih, um das von
vornherein zu fagen, für unerlaubt, einzelne Worte aus dem Zufammen-
hange zu reißen ; man muß die Reihe der Depefchen ganz leſen; man barf
nit vergeffen, daß derjenige, der ald Empfänger die einzelnen Briefe Lieft,
die vorhergehenden Briefe ſchon Kennt, ebenfo mie der Schreiber fich deſſen be-
wußt bleibt, was er felbit ſchon früher gefchrieben hat. Noch ehe Dietrich:
Rein jelbit den Prinzen gefehen, erfuhr er vielerlei über denfelben; er entwarf
na diefen Mittheilungen in der Depefche vom 22. April 1564 ein Bild
von ihm, das wenig erfreuliche Züge verrieth — körperlich mißgeftaltet und
kränklich, kindiſch und urtheilslos fol er gewefen fein. Nachdem Dietrich:
Kein darauf ihn felbft geſehen und mit ihm geſprochen, ſah er fich veranlaft
zu einigen Modifikationen ; „man ftelle feine Fehler größer dar, als fie wir:
) Died Aktenſtück babe ich 1864 zuerft aus dem Archiv von Simancas publicirt, in der
diſtoriſchen Zeitfchrift XI. 296.
N Koch, Quellen zur Gefchichte Mar II. (1860).
286
[ic wären ;“ er berichtete nun felbft auch einige günftige Züge. Schmidt nennt
diefed Schreiben vom 29. Juni einen „fürmlihen Widerruf des früheren“,
überfieht dabei aber, daß troß der einzelnen Modifikationen und Einfchrän:
tungen Dietrichftein ausdrüdlich fagt: „ich Fann ihn nicht viel anders bes
fchreiben, als ich zuvor gethan,“ ein Urtheil, das er am 11. Juli förmlich
wiederholte. So ift hier gewifjermaffen das Verhältniß: die erfte, anfängliche
Charakteriftit fchmwebt ihm immer vor Augen ; wiederholt und immer wieder
bezieht und beruft er ſich auf fie, indem er fie bald im allgemeinen beftätigt,
bald einzelne Züge in ihr berichtigt und ändert. Man fieht aus den ein-
gefandten Berichten, die manches unter ſich nicht recht zufammenpafjende De-
tail ganz objectiv nebeneinander ftellen, die ded Prinzen Zorn und Heftig-
feit, feinen Stolz und feine Bosheit, feinen Eigenfinn ebenfo ins Licht fiel-
len, wie fie feine Gotteöfürdhtigfeit, fein Gedächtnig, feine MWahrheitd- und
Gerechtigkeitäliebe erwähnen, — man erfieht aus diefen alle Einzelzüge forg-
fältig wiedergebenden Berichten, welhe Mühe Dietrichftein auf feine Bericht:
erftattung verwendet. Er hebt aus eigener Erfahrung einmal hervor, daß
Carlos ihn gar nicht fo ungereimted Zeug gefragt habe, als er nad) den vor-
hergehenden Schilderungen von ihm erwartet hatte. Beſondere Sorgfalt wid-
mete Dietrichitein der Unterfuhung, ob man mit Grund ihn für impotent
ausgeben dürfe, mit feltener Ausdauer fommt er wiederholt auf diefen Punkt
zurück, den er doch zulegt unentfchieden laſſen muß.
Dietrichftein war einige Male der Anficht, das Weſen des Prinzen mürde
bei befierer Erziehung nicht fo ſchlimm geworden fein — unmwillfürlich erinnern
wir und hierbei der beforgten Worte, welche ein anderer Yamtliendiplomat
1550 über den Fünfjährigen geäußert. Im Sommer und Herbit 1564 er
zählt er und von Ermahnungen Philipp's an den Sohn, von einem Verſuche
auf ihn durch Zureden zu wirken; im November meint er eine „Befjerung‘
zu bemerfen, doch feßt er wiederum hinzu: „fonft kann ich ihm nicht anders
depingiren als früher gefchehen ift.* Natürlich bleibt für ihn ein Hauptgegen-
ftand feinge Erwägungen, den er klar zu ftellen unausgeſetzt fih abmüht —
er fol erfahren, was Philipp's eigentliche Abficht mit dem Sohne fei, weh.
halb er zu einem definitiven Entfhluß nit fommen fönne Mir machen
in feinen Depefchen den ganzen Kreislauf feiner Vermuthungen und Hypo
thefen mit; da er eine unzmweideutige Antwort aus Philipp nicht herauszu—
locken vermochte, fah er fih auf Muthmaßungen und Schlußfolgerungen an
gewiefen. Wir find durch diefe ausführliche Berichterſtattung Dietrichftein’d
in die Lage verſetzt allen Kleinen Veränderungen des Momentes zu folgen:
wenn Garlod einmal fich vernünftiger zu betragen fcheint, fteigt ihm die
Hoffnung höher, daß es doch zur Ehe fommen könnte; geberdet er ſich einmal
etwas toller oder unbändiger, fo ftellen fi ihm trübe Ahnungen über den
287
Ausgang ded ganzen Handel? ein. Soviel halte ich für fiher, daß er vor
feinem Abgange nah Spanien von jenem Berichte Guzman’d vom 10. März
1562 nit Kenntniß erhalten, — ja ich glaube es für wahrfcheinlih halten
zu dürfen, daß nicht einmal Marimilian von feinem Bater vollftändig einge
mweiht worden iſt. So erklärt es fi, daß Dietrichftein in Madrid zu einem
feften Urtheile zu gelangen fo außerordentliche Schwierigkeiten hatte; fo er-
klärt e8 fich auch, daß er in den Berichten — mindeitend ſoweit wir fie
fennen — fich niemal® auf jene frühere Thatjache bezieht.
Im Sommer 1565 hörte er von „allerlei Anfechtungen und Nadh-
denken ‚“ die Carlo feinem Water verurſacht; indem er felbit fich wiederum
auf feinen früheren Bericht beruft, meinte er die Geſundheit desfelben habe
ſich gebeffert. Später aber im Detober meldete er wieder eine Verſchlimmerung
des Buftandes: „bei diefem großen unordentlihen Weſen, das er treibt, ift
wahrli zu beforgen, daß er nicht werde alt werden.“ Im Mär; 1566 er-
flärte er wieder einmal, nicht zu wiſſen, weßhalb die Sache fo in die Ränge
gezogen würde, — er felbit hatte damals wieder neue Hoffnungen für Don
Carlos gefaßt. Dagegen glaubte er im Auguft 1566 fih dahin aussprechen
zu können: „jo viel dad Mifterium betrifft, nämlich den Verzug von des
Prinzen Heirath, könne er nicht anders dies verftehen, ald daß Philipp diefe
Sache allein um ded Prinzen willen binziehe, nicht allein feiner Geſund—
heit wegen, — er wäre jetzt ftärker und gefunder — fondern damit er erft
fein Benehmen befjere und feinen Charakter ändere (ut mores emendet et
quos ex prava educatione pessimos contraxit cursu temporis amittat et
conditionem suam mutet).
Bei der abmartenden Haltung des Königd wurde Dietrichftein oft un-
geduldig; nicht geringer aber war die unruhige Spannung und Erwartung,
mit welcher in Wien der Kaifer der Erledigung der Sache entgegen fah.
Auch Don Carlos, der feinen Sinn felbit auf die Hand der Prinzeffin Anna
gerichtet, wurde über die Zögerungen des Vaters fehr unluftig und machte
feinem Unmuthe oft in wenig refpeftvollen Worten Quft. Im Kaufe des
Jahres 1567 verfinfterte fi) der Horizont zufehends für den Prinzen. Die
Atmofphäre in Madrid wurde für ihn immer ſchwüler. Schon meinte Dietrich-
fein (10. März 1567), wenn er feine Eigenfchaften nicht Ändere und jeine
Affekte nicht beffer beherrfche, würde es nicht gut mit ihm werden. Und Carlos
jelbft war nun älter geworden; dem Zmeiundzwanzigjährigen Eonnten nicht
wohl die Ehe und eine angemefjene Ausftattung verfagt werden, falld man
ihn nicht geradezu für [hmwachfinnig und unfähig offen erklären wollte. Eine
Anzahl einzelner Borfälle fohienen eine Zunahme feiner Berkehrtheit anzu:
zeigen. Dietrichftein hielt es für bedenflih, ja auch für fehr fehmierig, ein
Urtheil über die ganze Sache zu wagen; er meinte wohl (26. April 1567),
288
wenn überhaupt no an die Hetrath gedacht werden follte, fo begreife er den
Aufſchub nicht; er hielt ihn für „ungezogen“ und meinte „er wird fich menig
verändern“ (18. Mat 1567): er habe viele böfe Eigenfchaften, aber aud viele
guten; jest habe er den Vorſatz gefaßt feinen fchlechten Gelüften nicht meiter
nachzuhängen; würde er wirklich nach diefem Vorfat leben, fo könnte er doch
noch ein andrer werden, ald man gemeint.
Kurz, ed hat recht lange gedauert, bie der öfterreichifche Diplomat zu
einer beftimmten Anfiht kommen fonnte. Aber er ift zulest doch zu einer
folhen gelangt. Gerade weil auch ich diefen hin und hergehenden, die wechjelnden
Stimmungen präcis zum Ausdruck bringenden Depefchen Dietrichftein’d großen
Werth beilege, gerade deßhalb wiegt für mich dad Endurtheil fo fehmwer, zu
welchem er dur alle diefe Erwägungen pro und contra fi hindurch ge
arbeitet hat, welches alfo wohl erwogen und reiflich überlegt if. Nachdem
der Schlag gegen Don Garlod am 18. Januar 1568 gefallen, hat er es
ausführlih und motivirt feinem Souverain auseinandergeſetzt (21. und 22.
Sanuar 1568). Er fagt: mit Beitimmtbeit könne wohl Niemand die Urſache
(der Gefangenfegung) wiſſen, wie wohl er glaube, daß aus feinem anfänglich
erftatteten Bericht über die Eigenſchaft und Gondicion ded Infanten forte
aus den eigenen Mittheilungen Philipp's der Kaifer fie vermuthen könne.
Sedermann fei bier der Meinung, daß Philipp dazu gar Hohe und große
Urſachen habe; feine (Dietrichftein’d) Anficht wäre, daß ded Prinzen eigen-
finniger Wille, den er nicht mit Vernunft regieren Eonnte, feine Heftigfeit und
fein Zorn ihn dahin gebracht. Der Botſchafter erinnerte an Philipp's wieder:
holte Verfiherungen, wegen des jeltfamen Mefend feined® Sohnes die Ehe
nicht zulafien zu können: er habe oft ihn ermahnt und ihm gedroht, wenn
er fi nicht ändere und befjere, ihn al8 einen unvernünftigen Menfchen be
handeln zu müflen. Und den Entſchluß, einzuſchreiten und jest nicht Länger
mehr duldend zuzufehen, ſchreibt Dietrichftein dem Anfalle des Carlos auf
Don Juan de Auftria zu. Zuletzt kommt Dietrichſtein auf feine eigene Auf
fafjung wieder zurüd, daß Don Carlos feltfame Eigenfhaften und
feltfamed Wefen gezeigt, — wenn man auch mit ihm Mitleidven haben
fönne, jo müſſe man doch fagen, dat Philipp zu feiner letzten Mafregel
billige Urfachen gehabt Habe. Und diefen Sat miederholte er am 13. April
noch einmal: „wer nicht intereffirt oder paffionirt ift, der giebt dem Vater
Recht, daß er zu feinem Verfahren billige und gerechte Urfachen gehabt
habe.”
So lautet das Urtheil, da® der beftunterrichtete der Diplomaten In
Madrid zu fällen ſich genöthigt gefehen. In der That, auf ihn fich gegen
Philipp zu berufen, durch feine Mittheilungen die Ausfagen der fpanifchen
Regierung Lügen zu ftrafen, das ift ein kühnes Unternehmen, das, wie aus
289
dem Angeführten hervorgeht, nicht als gelungen betrachtet werden fann. Der
vornehmlichite Belaftungszeuge, den Schmidt gegen Philipp ind Treffen ge
führt, legt Schließlich felbft ein Zeugnig ab in Uebereinftimmung und zur
Bekräftigung desſelben, was er hat widerlegen follen!
Der deutfhe Kaifer Marimiltan war im Sommer 1567 durch einen
befonderen Agenten über Carlos’ Beihaffenheit mehr aufgeklärt worden, ale
früher. Damald wurden, den Aufihub der Ehe zu motiviren, Einzelheiten aus
Carlos' Leben ihm mitgetheilt; er empfand, wie er fi in einem Briefe an
Philipp ausdrückte, Schmerz über Philipp's Unzufriedenheit mit dem Sohne;
er war es zufrieden, daß er im nächſten Jahre den Prinzen kennen lernen
jolte, dann, fo war man überein gefommen, follte die Zufunft deäfelben
erwogen und feftgeitellt werden. Auf diefe Eröffnungen durfte man jest, im
Januar 1568, Bezug nehmen, wenn man Mar die SKataftrophe erklären und
rechtfertigen wollte.
Nah der Gefangennahme ded Prinzen, während derfelbe vollitändig
von der Melt abgefperrt gehalten wurde, während alfo Fein Menſch ſich ſelbſt
mehr eine Anfiht von ihm verfchaffen Fonnte, war in Madrid Alles voll
von Gerüchten und Reden und Vermuthungen. Wie in den Berichten der
anderen Diplomaten finden wir auch in den Depeſchen Dietrichitein’® allerlei
derartiges verzeichnet. Nun muß man genau unterfcheiden das Urtheil, das
Vetrichftein ala fein eigene® auf Grund feiner eigenen Wiſſenſchaft gewon—
nened ausfpricht, und dasjenige, was er nur ald Aeußerung anderer Perſonen
teferirt. Befonderd mar ed auch das zufünftige Schickſal ded Gefangenen,
über das man ſich den Kopf zerbrach, und über dad Dietrichftein fremde und
eigene Muthmaßungen vorzutragen wagt. Bald aber gelangte er zu der
Veberzeugung, daß von einer Freilaffung wohl nicht mehr die Rede fein
fönnte (13. April 1568). Er berichtete zu gleicher Zeit, daß man den Beicht—
vater, einen frommen, hriftlichen Mann zu ihm gelaffen; bet ihm follte der
gefangene Prinz auch zu Oſtern 1568 gebeichtet und communicirt haben.
Dies letztere war ein Greigniß, da zu denken gab. Nach Dietrichftein’s
Anſicht mußte die Thatfache, daß man dem Gefangenen die Dfterbeichte ge—
ſtattet, zwei Verdachtspunfte von ihm hinwegnehmen: einmal, daß er nicht
ein guter Katholik geweſen, und zmweitend daß er feiner Sinne beraubt ge=
weien wäre; man würde alfo, fchließt er, folgern dürfen, daß die Gefangen-
(haft „allein feiner Eigenfhaft und Gondicion halber“ als eine väterliche
Zühtigung geſchehen ſei. Er erzählt fein Gefpräh mit dem Beichtvater ;
derfelbe betheuerte e8 dem Gefandten mit Nahdrud, der Prinz jei immer ein
guter Katholik geweſen, auch habe er nichts fträfliched gegen die Perſon
feine? VBaterd unternommen gehabt, er habe allerdings feine Mängel, aber
diefelben feien mehr durch die allzufreie Erziehung verurfaht und weil er
Grenzboten IV 37
290
„eines unftäten harten Gemüthes und eigenfinnig fei“, ald daß er fonft an
Vernunft einen Mangel hätte: dephalb hoffte der Beichtvater auch, die jegige
Strafe würde zur correctio morum ihm dienen (Depefche v. 22. April 1568).
Wir fehen alfo, der Beichtvater ded Prinzen äußerte fih damald in einem
meit milderen, weit optimiftifcheren Sinne, ald wir es fonft von den Staats—
männern und Hofleuten Philipp's und von den fremden Diplomaten gewohnt
find. Schmidt hat gerade auf diefe Aeußerung großen Werth gelegt; er will
in ihr eine ganz unbefangene Ausſage fehen, welche die anderen Wartet
zeugniffe vollftändig aufmwiegen und widerlegen fol. Ich glaube nit, daß
fie eine foldye Tragweite haben kann. Wenn der Beichtvater es — natürlich
auf Wunfch des Königed — unternommen hatte, den Prinzen beichten und
communiciren zu laffen, dann war es für ihn, fobald man ihn danach fragte,
ein Gebot der Nothwendigfeit die Geiftesftörung feines Beichtkindes abzu-
ſchwächen und in möglichft geringem Umfange hinzuftellen: wie hätte er
einem feiner Sinne beraubten Menfchen das Sacrament reichen dürfen! Nach
meiner Auffaffung läugnet er nur die völlige Vernunftlofigkeit, — Mängel
im geiftigen Zuftande ded Prinzen giebt er ja felbft zu. Diefe Ausfage ift
alfo lange nicht durchgreifend genug, um in dem Sinne Schmidt’8 vermerthet
werden zu Fönnen; fie ift aber ein erfreulicher und mwohlthuender Beweid von
der Barmherzigkeit und dem Mitgefühl, mit welchen diefer Mönch aus Carlos’
Umgebung feinen Schüßling behandelt und betrachtet hat. ntfcheidend für
mich aber ift es zu beobachten, welchen Einfluß Dietrichftein diefer Aeußerung
ded von ihm Hochgeachteten Geiftlihen auf fein eigened Urtheil eingeräumt
bat. Ich finde nicht, daß fie ihn, den genau unterrichteten und fehr gewiſſen⸗
haft und vorfichtig feine Meinung formulirenden Diplomaten zu einer Xen-
derung feine® Gutahhtend bewogen hat. So meinte er kurz nachher, am
8. Mat 1568, der Kaifer merde jet wohl die Urfachen der Gefangennahme
fennen, — „daß fie aus feinem Zorn oder Unmillen ded Königs, viel
weniger zu einer Beftrafung gefcheben, fondern allein zum Nutzen des Prinzen,
wegen feiner Eigenf&haft und natürlichen Condicion und Gebrechen“; auf eine
Befferung, fette er hinzu, dürfe man faum noch rechnen. Am 19. Mai endlid
artheilte er, bei Carlos’ Eigenfhaft, Thun, Weſen und Haltung gebe es
Niemanden, der nicht feinem Vater ein längeres Leben ald ihm prognofticire,
außerdem daß er in Wahrheit eine feltfame Etgenfhaft und condicion
gehabt habe.” Wir find nach allem diefem wohl zu dem Schluffe berechtigt:
wenn die günftige Ausfage des Beichtvaterd einen fo wohl unterrichteten
Mann wie Dietrichftein nicht von der Wiederholung feiner früheren Urtheile
zurücdhalten fonnte, fo dürfen auch wir und in dem Ergebniß unferer Unter
fuhung durch diefelbe nicht beirren laſſen.
Veberbliden wir noch einmal die Entwidelung des Prinzen.
291
Schon in feiner früheiten Jugend hatte man über feinen Jähzorn und
Eigenfinn geklagt. Der Heranmwachjende hatte nicht recht Iernen wollen,
fondern Lehrer und Erzieher große Schwierigkeiten bereitet. Auch der Water
hatte dann im Jünglinge große Fehler entdedt, Schwächen und Mängel des
Verftandes, der Urtheildfraft, de Charaktere. Bet allen den vielen Krank:
heiten, die der Arme zu durchleben hatte, war dies immer unbeilvoller ge:
worden, beſonders die üblen Eigenſchaften feines Charakters traten mehr und
mehr hervor. Man hatte verfuht ihn zu beffern; man Hatte ihn einmal
vom Hofe entfernt leben lafjen, dann aber wieder ihn an den Hof gezogen,
eine gewiſſe äußere Stellung ihm gemacht und in amtlicher Thätigkeit ihn
befhäftigt. Alles Hatte nichts geholfen. Die Ausſicht einer Ehe mit einer
Verwandten hatte die Ungeduld des Schwachfinnigen erregt und, da man ihm
nicht fchnell zu Willen fein durfte, zu heftigen Ausbrüchen ihn gereizt. Be—
fanntlih pflegen krankhafte Geifteözuftände allmälig eine Steigerung zu er
dulden; was anfangs Elein und gering geweſen, entwicelt fih zu größerem
Umfange und artet zulest in Tobſucht und völlig unzurechnungsfähige Hand»
lungen aus. So war es auch hier weiter gegangen, bis es auf einen Bunft
fam, bei dem man einen Entihluß über die Zufunft ded jungen Mannes
überhaupt faffen mußte. Philipp hatte ſchon feit Jahren die Ueberzeugung
gewonnen, daß der Erbe ſeines Reiches und feiner Politik nicht diefer ſchwach—
finnige Menſch fein könne; er ſprach dies zulest unverhohlen aus. Als die
Scenen immer häufiger wurden, in welchen Don Carlos fih an Perſonen
des Hofes thätlich zu vergreifen fuchte, — eine ganze Reihe derjelben ift und
dur die Berichte und Correfpondenzen der Zeit beglaubigt; ein vergebliches
Bemühen tft ed, wenn Schmidt fich anftrengt, die einzelnen Berichte umzus
modeln oder mwegzudeuten, damit Fein Anklagematerial gegen Don Carlos
mehr übrig bleibe, — da endlich wurden Maßregeln gegen ihn berathen.
Anfangd wurde noch durd eine befondere Gefandtfhaft Kaifer Mar in
Ausſicht geftellt, erft mit ihm mürde die Sache befprochen werden. Dann ließ
der Minifter Ruy Gomez Andeutungen fallen bei dem franzöfifhen Gefandten
(Herbft 1567), daß man eine Einfperrung ded Prinzen vielleiht demnächſt
verfügen würde, daß man aber erft fehen molle, ob nicht die Königin, deren
MWocenbett bevorftand, dem Rande einen männlichen Erben fchenfen würde.
Den letzten Entſchluß, zur Einfperrung zu greifen, fcheint endlich der Plan
ded Prinzen von Madrid zu entfliehen und dann nod die heftige Scene
zwifchen ihm und Don Juan hervorgerufen zu haben, bet der beinahe Don
Carlos den ihm früher fo befreundeten Stiefonfel umgebracht hätte.
Am 18. Januar 1568 wurde Carlos gefangen genommen und im tief
ſten Geheimniß jedem Verkehr mit der Außenwelt entzogen. Man hat erzählt,
daß der König die Abficht gehabt, durch eine befondere Commiſſion die be-
292
treffenden Thatfachen und Vorfälle feftitellen und unterfuchen zu lafjen, um
den Prinzen dann ded Rechtes der Nachfolge für verluftig zu erfären. Es
fam nicht dazu; ein Spruch murde nicht erlaffen. Carlos erlag feinem na
türlihen Schidjal. Er erkrankte im Gefängniß und ftarb, wie man jagte,
am 24. Juli 1568.
Ueber die Art feine® Zoded wurden Muthmaßungen und Gerüchte fofort
in Umlauf gefegt. Zwiſchen ihnen eine Entjcheidung zu treffen, wird ein
gewiſſenhafter Hiftorifer, wie ich früher ſchon ausgeführt habe, Bedenken
haben müffen: wir willen von dem Prinzen feit dem 18. Januar 1568 ab:
folut gar nicht? mehr ald dad, mas uns die offiziellen Vertreter der Regie—
rung erzählen; es fehlt geradezu an der Möglichkeit ihre Angaben zu con
troliren. Allerdings nimmt Schmidt von diefer, auch von ihm erkannten Be
ſchaffenheit unfere® Quellenmateriale® neuen Anlaß zu Angriffen gegen die
fpanifche Regierung; er hält an dem Verdachte, ja an der MWahrfcheinlichkeit
einer Mordthat feſt. Ich muß died Verfahren für abfolut unzuläffig erklä—
ren aus den fchon angeführten Gründen. Ob Carlos’ Tod ein natürlicher
oder ob man der Natur in irgend welcher Weije nachgeholfen, darüber iſt
nichts zu wiffen und zu jagen. Die Bermuthung eines Verbrechens hier leicht:
fertig ausfprechen, das hieße felbft ein Verbrechen begehen. Nichtsdeſtoweniger
darf das gefagt werden, daß König Philipp niemals eine Freilafjung oder
Heritellung des Sohnes beabfihtigt hat und daß für den Untergang des
Prinzen die volle Verantwortlichkeit ſomit auf den Vater fällt; er felbft
bat geglaubt zu der Befeitigung des unfähigen Sohnes nicht allein berechtigt,
fondern auch verpflichtet zu fein.
Die Minifter des Königs erhielten gleich) nad) der Gefangennahme des
Prinzen den Auftrag, den fremden Gefandten in Madrid die nöthigen Auf
lärungen zu geben. Diefe Ausfagen ftimmen unter ſich überein; fie ftehen im
Einklang mit allen früheren Erklärungen von fpanifcher Seite; fie ftellen den
Sachverhalt dar und führen zu dem Urtheile Hin, wie wir fie aus Dietrid
ftein’8 Berichten kennen gelernt haben: fie motiviren die Kataftrophe mit der
Beichaffenheit des Prinzen, deſſen Zulaſſung zur Nachfolge auf dem Throne
nad langen Beobachtungen und vielen Erperimenten fi als unmöglid er
geben haben fol.
Philipp felbft richtete über den Vorfall Schreiben an den Papſt, an feine
Tante, die Königinwittwe von Portugal, an feine Schmefter und feinen
Schwager in Wien. In allen betont er fehr foharf den Gedanken, daß die
Mafregel eingegeben fei von der Nüdficht auf das Wohl feined Volkes und
der heiligen Kirche; er liebt e8 dabei fich auf frühere Mittheilungen über den
Sohn zu beziehen, welche died Ende ſchon hätten voraudahnen laffen. Seinen
vertrauten Minifter, den in den Niederlanden abwefenden Herzog von Alba, ver
RR
293
wies er auf die eigenen früheren Erlebniffe und Erfahrungen mit dem Prinzen,
— mir wiſſen, e8 war Alba gewejen, der 156% jene merfwürdige Mittheilung
über den Schwachſinn ded Prinzen dem öfterreichifchen Gefandten eröffnet hatte.
Ale diefe Aeußerungen Philipp’ 3 vom Jahre 1568, über deren ftellen-
weiſe nicht zu leugnende Undeutlichkeit man biäher fo oft geklagt hat, fie er-
halten jegt ihr volles Licht und Verſtändniß, feitdem wir jene ausdrückliche
und unumwundene Erklärung über den Schwachſinn ald den Grund der üb»
len Entwicklung des Prinzen kennen gelernt haben.
Sch geftehe, ich Halte ed für abjolut undenkbar, dag wir alle diefe Aus»
jagen und Erklärungen ala Lügen verwerfen follen, — etwa aus dem Grund, weil
wir Philipp's II. politifches und kirchliches Syftem von unferem modernen
Standpunkt aus für ſchädlich und ftaatäverderblih anfehen? Iſt ed wirk-
Ih ein zu ſtarkes Anfinnen an den Hiftoriker, daß er die Thatjachen der Ge
ſchichte ſo nehmen ſoll, wie die Hiftorifchen Documente fie zeigen, ohne feinem
genen Urtheile über vergangene Menfchen und vergangene Thaten Einfluß
zu geitatten auf die Feſtſtellung des Thatbeitandes felbit?
Nein, auc bei dem entjchiedenften Gegenfat gegen das politifche und
firhlihe Syftem Philipp's II. wird ed dem Hiftorifer nicht erlaubt fein, diefen
ſpaniſchen König zu einem alles menjchlichen Gefühles entkleideten Teufel zu
mahen: „Gerechtigkeit auch dem Gegner“ ift eine Loſung, von der fich loszu—
jagen dem Hiftorifer am wenigſten anfteht.
Wilhelm Maurenbreder.
Zur Gefdicte des Heptennafs.
J.
Die Gründung.
Die Mehrheit der franzöſiſchen Nationalverſammlung befand ſich nad
der Veröffentlihung des Chambord'ſchen Schreibend vor einer offenbaren
Zwangslage. Wie große Opfer fie auch für die Wiederherftellung des König—
thums zu bringen bereit war, eine bedingungslofe Unterwerfung unter fein
Machtgebot geftattete ihr weder ihre Neigung noch die Stimmung der Nation,
die man nicht unberücfichtigt lafjen durfte. Bei den gemäßigten Anhängern
des Königthums — und die überwogen entjchieden in der Mehrheit der Ver—
fammlung — hatte e8 von Anfang an feftgeftanden, daß der Graf nur unter
der Bedingung und Vorausſetzung einer verfafjungsmäßigen von ihm unum—
294
mwunden anerkannten Beſchränkung feiner Herrjchergemalt auf den Thron
feiner Ahnen berufen werden dürfe. Unter diefer Boraudfegung glaubte man
an der Rückkehr zum erblichen alten Königthum eine Gewähr für die Wieder
beritellung fefter und geordneter Zuftände fehen zu dürfen. Diefe Stimmung
war im Lande weit verbreitet und namentlih aus diefer Rückſicht hatten au
die Drleaniften fi an den Reftaurationdbeftrebungen betheiligt. Ohne Zweifel
war ihnen der Graf von Chambord Feine eben angenehme Perfönlichkeit, und
wenn fie ohne Zmifchenregiment die Krone auf dad Haupt des Grafen von
Paris hätten ſetzen können, fo würden fie jede Vereinbarung mit den An.
hängern der älteren Linie abgemiefen haben. Da file aber nur im Bunde
mit diefen die Nationalverfammlung beherrfchten, fo blieb ihnen Nichts übrig,
ald aus der Noth eine Tugend zu machen, für dad Recht des Tegitimen
Erben einzutreten und fich für ihren Prinzen, zumal derfelbe, troß aller ehr:
geizigen Wünfche, der Entjchloffenheit völlig entbehrte, die zur Durchführung
einer jelbitändigen Rolle gehört, und dabei den Franzoſen eine ganz gleid:
gültige Perfönlichkeit war, mit der Anmwartfchaft auf den Thron kraft des
Erbrechts zu begnügen. Diefe Erwägungen hatten ohne Zweifel für den
Entfhluß aller Orleaniften den Ausſchlag gegeben, und nachdem fie fich einmal
in das Gebot der Nothwendigfeit gefunden hatten, fonnten ihnen auch die
Bortheile, die aus der Nüdkehr zu dem Grundfag des reinen Erbrechts ſich
ergaben, nicht entgehen. Es war doch nicht gering anzufchlagen, wenn dem
langen Hader der königlichen Parteien durch eine Vereinigung der beiden
Zinien ein Ende gemacht, wenn den neuen Staatd: und Geſellſchaftszuſtänden
dadurch, dag man fie unter den Schuß des alten Königthums ftellte und die
Gegenwart mit den gefchichtlichen durch eine Reihe gewaltfamer Ummälzungen
zerriffenen Meberlieferungen wieder verknüpfte, eine neue und ftarfe Bürgfchaft
der Dauer geboten wurde. In diefem Sinne konnte eine Rückkehr zum
Regitimitätäprincip allen Anhängern des Königthums willlommen fein. Um
jo entjchtedener aber mußten fie jeden Verdacht zurückweiſen, ald ob fie fih
zu dem politifchen Syſtem befennten,, welches fich mit dem Banner der Legi—
timität dedte, ald ob fie den Grundſätzen huldigten, welche von den Iegitimi-
ftifhen Doctrinären als die einzigen feiten Säulen des Königthums gepriefen
wurden. Cie hatten, um fich des Beiftandes der Geiftlichfeit zu vergewiſſern,
der mächtigen und mit fteigendem Selbftvertrauen auftretenden Elerifalen
Partei die unwürdigſten Zugeftändniffe gemacht; aber zur Herftellung eine?
auf den Grundfägen ded Syllabus beruhenden Königthums, wie es dem
engen Geifte des Grafen von Chambord ala Ideal vorſchwebte, eines König.
thums, das fich für berufen hielt, die äußerften Anfprüche der römiſchen
Hierarchie durchzuführen und Europa ale Gefeg aufzuzwingen, das die ab-
folute Macht der altfranzöfifchen Monarchie dem Vatican zur Verfügung zu
295
ftellen bereit war: zur SHeritellung eines fo gearteten Königthums konnten
fih die gemäßigten Elemente der confervativen Partei nicht herbeilaffen. Als
der Brief ded Grafen von Chambord die Hoffnungen, die man auf ein Ein-
lenken von feiner Seite geſetzt, zeritört hatte, da galt es bei der großen
Mehrheit der monarchiſtiſchen Parteien für audgemaht, daß das alte Erb:
fönigthum, von deſſen Rückkehr man eine Beruhigung der Parteileidenfchaften
gehofft hatte, da8 die Gegenwart mit den Meberlieferungen der Vergangenheit
verfnüpfen und harmonifch mit einander verjchmelzen follte, fi ſelbſt den
Todtenſchein audgeftellt Habe. Man erfannte, daß man feit Monaten einem
Phantome nachgehaſcht hatte, welches in Rauch und Nebel zerfloß, in dem
Augenblid, wo man es zu greifen glaubte und mo ed unter der Berührung
ſeſte Geſtalt und Fleifh und Blut zu gewinnen fehien.
Die Mehrheit befand fih, als fie zu diefer Erfenntniß gelangt war, in
einer gefährlichen Lage, Alles ftand für fie auf dem Spiel. Die eifrigiten
Anhänger ded Grafen von Chambord fahen mit nichten in dem Brief des—
jelben einen Berzicht und fie waren weit entfernt, ihre Sache verloren zu
geben. Aber auch fie konnten fih doch nicht verhehlen, daß vorläufig an
eine Miederherftellung des Königthums nicht zu denken war, und es war ein
faft Eindifcher Trotz, wenn fie, ftatt ihre Wünfche zu vertagen, ſich fträubten,
zu einer MWiedervereinigung der Gruppen der Mehrheit ihre Hand zu bieten.
In diefer Haltung der äußerften Regitimiften Tag eine um fo größere Gefahr,
da man nur durch raſches und entjchloffened Handeln die Republifaner
hindern Eonnte die Rage der Dinge zu einem parlamentarifchen Gewaltſtreich
im Stil vom 24. Mai augzubeuten, Mac Mahon zu ftürzen und die Leitung
des Staats wiederum in die Hände Thier® zu legen, was unter den ob—
waltenden Umftänden die Proclamation der fogenannten definitiven Republik
und die fofortige Auflöfung der Nationalverfammlung zur Folge gehabt
haben würde. Wieder lagen die Verhältniffe jo, daß dem Entſchloſſenſten
der Sieg zufallen mußte, und wiederum zeigten fich im entfcheidenden Augen-
blife die Konfervativen ihren Gegnern an Entſchloſſenheit und Fähigkeit zum
Handeln überlegen. Die Republikaner hatten ſchlechterdings Nichts gethan,
um der MWiederherftellung des Königthums ein ernfthafte® Hinderniß in den
Weg zu feben, fie hatten fi damit begnägt, in allen ihren Parteiverfamm-
lungen mit ermüdender Confequenz feierlich zu conftatiren, daß das Land der
Republif ergeben ſei und daß an der republifanifchen Begeifterung der Nation
die Pläne der Königmacher elend zu Schanden werden würden, während es
doh jedem unbefangenen Blicke einleuchtend war, daß ein auf Wieder
berftellung des Königthums gerichteter VBefchluß der Verfammlung im Lande
nit dem geringften thatfächlihen Widerftand begegnen, fondern höchſtens
einige ohnmächtige Verwahrungen im Stile der Klubbeſchlüſſe der Linken
296
hervorrufen würde. Es mar eine durchaus abgeſchmackte Prahlerei, menn
die Nepublifaner fidy ein Verdienſt an dem Scheitern der Reftauration zus
ſchrieben. Nicht die republifanifche Gefinnung des Landes, nicht die Politik
der Linken brachte die Entwürfe der Yufioniften zu Fall, fondern Tediglich der
gewiſſenhafte Eigenfinn des ehrlichen aber bejchränften Romantiferd, der fein
Recht auf die Krone für zu heilig hielt, um dasſelbe dur Anwendung
irdifcher Mittel, ohne die fi do nun einmal der Weg vom Recht zum
thatfählichen Beſitz nicht zurücklegen läßt, beflecken und entweihen zu laffen.
Die einzige Gefahr, die der MWiederherftellung gedroht, hatte in der Eigen-
thümlichkeit defjen gelegen, den man zum Könige preffen wollte. Man hätte
nun glauben folen, daß die Republikaner ihre Vorbereitungen für den Fall
einer Ablehnung der von dem royaliftifchen Ausſchuß geftellten Bedingungen
von Seiten des Grafen von Chambord treffen würden, um die Augenblide
der erften Verwirrung zu einer rafchen That zu benußen. In der That aber
zeigte fih, daß fie auf Nichts vorbereitet waren; fie ließen fi durd ein
Greigniß, um deſſen Möglichkeit feit Wochen fih alle Erörterungen der
Preſſe drehten, vollftändig überrafchen; fie ftanden mie betäubt, als der Brief
des Grafen fie von der furdhtbarften Gefahr befreit hatte. Das Glück hatte
ihnen freigebig Macht und Herrfchaft geboten, aber an den Unentfchloffenen
und Ungeſchickten find alle Gaben des Glückes nutzlos verfchmwendet. AL fie
fih gefammelt Hatten, war es zu fpät. Die Confervativen hatten den Fall
des Mißlingend während der Verhandlungen mit dem Grafen von Chambord
niemald aus den Augen gefest; ihre Niederlage traf fie daher nicht unvor
bereitet. Als fie fahen, daß fie ihren Plan aufgeben mußten, war der Ausweg
aus der gefährlichen Lage bereit gefunden: die Verlängerung der Vollmachten
des Marfhalld Mac Mahon bot fih als einziged Nettungsmittel, und in
dem rafchen Ergreifen desfelben bewährte die Mehrheit diefelbe Entjchloffenheit
und Energie, die ihr in dem Kampf gegen Herren Thierd den Sieg ver
ſchafft Hatte.
Uber freilich, fobald es ſich um die Einzelheiten der Vollmachtsverlängerung
handelte, gingen die Anfichten der verfchiedenen Gruppen weit audeinander,
und bis zum Augenblicke der Entſcheidung blieb e8 durchaus zweifelhaft, ob
e3 gelingen würde, eine Mehrheit auf eine beitimmte Formel zu vereinigen.
Man mußte fehr wohl, dag Mac Mahon fi mit der einfachen Erklärung,
daß er die biöher ausgeübte Gewalt zunächſt ohne Beftimmung einer gemiflen
Zeitdauer unter den alten Bedingungen weiter führen follte, niht würde zu
frieden ſtellen laſſen. Für den Marfchall, der fich des Vortheild, der für
feine Stellung aus der allgemeinen Verwirrung hervorging, fehr wohl bewußt
war, hatte die einfache Verlängerung des Status quo gar feinen Werth.
Wie gering man auch über feine politifchen Fähigkeiten denken mochte, er
ui Du
297
befaß jedenfalls Selbftgefühl genug, um den entſchiedenſten Widerwillen gegen
die Zumuthung zu empfinden, noch länger der Mehrheit ald Schildwache zu
dienen. Er hatte die Beftrebungen der Noyaliften in Feiner Weiſe gehindert
und ihnen durch feine faft apathifche Haltung den beiten Dienft geleiftet, der
ihnen überhaupt von feiner Seite geleiftet werden Fonnte. Als aber die kö—
niglihen Parteien, nachdem ihre Hoffnung traurigen Schiffbruch gelitten
hatte, wieder zu ihm ihre Zuflucht nahmen, da meigerte er fih, ald Aus:
funftömittel fih gebrauchen zu laſſen. Er forderte nicht weniger, ald eine
von der Berfammlung thatſächlich unabhängige Stellung: die Ausdehnung
feiner Gewalt auf zehn Jahre und die Ausftattung mit Gefegen , die ihn in
den Stand festen, die ihm übertragene Gewalt auch wirkſam auszuüben.
Während die Verfammlung vorausfihtlich bald auf dem Punkt der Zerrüttung
und Ohnmacht ankommen mußte, wo ihre Auflöfung unvermeidlih war,
wollte er fih feine Macht auf eine lange Reihe von Jahren verlängern
laſſen. Mochte die fouveräne Verſammlung für fi immerhin das Recht auf
eine unbegrenzte Lebensdauer in Anſpruch nehmen, da® war bei ihrer zu-
nehmenden Zerfegung, bei der erſchreckenden Unfruchtbarkeit ihrer Thätigfeit,
ein fehr mwerthlofed Recht; und menn dem Marſchall verfaffungsmäßig eine
beftimmte nicht allzu kurz bemefjene Dauer feiner Macht zugefihert wurde, fo
hieß das nichts andres, als feine Vollmachten über die vorausſichtliche
Lebensdauer der fouveränen Berfammlung hinaus verlängern. Berfallung?-
mäßig blieb ja die Berfammlung der Souverän; wenn fie aber die Mandats—
dauer ihres Beauftragten von ihrer eigenen Eriftenz unabhängig machte, fo
ftellte fie felbit ihre eigene Macht vor der feinigen in Schatten , ja fie forderte
den Präfidenten zu einem, fei ed offenen und gemwaltfamen, ſei es verfteckten
Staatäftreich förmlich heraus. So lange der Präfident mußte, daß die Auf-
löfung der Verſammlung auch feiner Macht ein Ziel fehte, lag ed, wenn er
niht unbedingt feiner Wiederwahl dur eine neue Verfammlung fiher mar
in feinem Intereſſe, die Sache der Verſailler Volksvertreter als feine eigene
zu betrachten, fie vor den verderblichen Folgen ihrer eigenen Schwäche zu
ſchützen und Alles aufzubieten, um die Auflöfung der Berfammlung fo lange
als möglich hinaus zu ſchieben. Einen Conflikt Hervorzurufen, wäre in diefem
Falle ein politifher Selbftmord oder die offene Ankündigung eine® gemalt:
famen Staatäftreih® gewefen. Ganz anders, wenn der Präfidentengemwalt
das Recht gemährleiftet war, die Berfammlung zu überleben und fie gemifjer-
maßen zu beerben, oder über ihr Erbe zu verfügen. Brad unter diejen
Umftänden zmifchen dem Präfidenten und der Verſammlung ein ernfted Ber
würfnig aus, fo wurde ihm offenbar die Verſuchung nahe gelegt, die DBer-
fammlung zu den thörichtften Maßregeln zu verloden, keineswegs aber fie
vor den Folgen ihrer Thorheit zu ſchützen. Sein Vortheil war es, konnte
Örenzboten IV, 1874. 38
298
es mwenigften® unter Umftänden fein, wenn die Verſammlung in der Gunft
der öffentlihen Meinung tiefer und immer tiefer ſank, wenn fie fortfubr,
wie bisher von den Grundlagen ihrer Macht einen Stein nad dem andern
abzutragen. Died waren Bedenken der ernfteften Art, denen fi die Mehr
heit unmöglich verſchließen konnte; e8 Tam ihr unendlich ſchwer an, den
Marſchall in eine thatfählich fat unabhängige Stellung zu verfegen, aus der
er, ohne Anwendung irgend einer Gewaltmaßregel, machen Fonnte, was er
wollte, und bie jedenfalld an Bedeutung und Macht in dem Maße zunehmen
mußte, als das Anfehn der Verfammlung abnahm. Aber man hatte eben
nit mehr freie Hand; an den Gedanken einer einfachen Vollmachts⸗
verlängerung unter den biöherigen Bedingungen hatte man fih bereitd ge
mwöhnt, man hatte fie ſchon mährend der Verhandlungen mit dem Grafen
Chambord für den Fall des Scheitern® derfelben als letztes Rettungämittel
ind Auge gefaßt, und man fah fehr wohl ein, daß man fi den von Mac
Mahon geftellten Bedingungen unterwerfen, oder auf jeden Widerftand gegen
die Republifaner verzichten müßte. immerhin mochte jede Partei fich vor:
behalten, zu gelegener Zeit auf ihre Pläne zurüdzufommen, für den Yugen-
bit galt eg, Mac Mahon am Ruder zu erhalten, mie bitter e8 auch mar,
fih Bedingungen ftellen zu laffen von einem Manne, dem man die höchfte
Gewalt nur anvertraut hatte, weil man überzeugt war, er werde fie ſtets nur
ald gefügiges Werkzeug feiner Auftraggeber ausüben. Diefe Nachgiebigkeit
war zur Nothwendigfeit geworden, und die fohüchternen Verſuche, fich der-
jelben zu entziehn, ftellten nur die Schwäche der Parteien in? grellfte Licht.
Diefem Schiefal verfielen vor Allem die Orleantften. Ganz behaglich
war ihnen die Unterordnung unter den Grafen Chambord mit Aufopferung
ihrer felbftftändigen Anſprüche niemals gewefen. Was Wunder, wenn ihnen
jetst der Eluge Einfall kam, die allgemeine Auflöfung zu einem orleaniftifcen
Handftreih audzubeuten ? Sie befchloffen alfo in -einer Parteiverfammlung,
einem ihrer Prinzen die Generalftatthalterfchaft de Königreih® anzubieten.
Daß man zu diefer Stellung meder das Haupt noch das befähigte Mitglied
der Familie, fondern den wenig bedeutenden Yoinville auserſah, zeugte von
der Unficherheit und dem geringen Selbftvertrauen der Eläglichen Planmacher,
deren Furchtſamkeit und Unentichloffenheit ganz ihrer Begehrlichkeit gleichkam.
MWahrfheinlih war man durchaus nicht überraſcht, als Joinville, der denn
doch zu Hug war, fi auf ein jo hoffnungsloſes Abenteuer einzulaffen, durd
feine vertrauten Freunde erflären ließ, er könne auf kein derartiges Anerbieten
eingehn, da feine Verbindlichkeiten gegen feinen Better, die durch deffen Brief
keineswegs gelöft feien, ihm jedes felbftändige Auftreten verböten. Dieſe Ab—
weiſung ernüchterte die Drleaniften volllommen, und fie würden fich jest
felbft eine Tebenslängliche Verlängerung der Vollmacht Mac Mahon's haben
299
gefallen laſſen. Sie waren von diefem Augenblid an die eifrigiten Anhänger
Mac Mahon’s, der, mo er fich öffentlich zeigte, tet? von einem Gefolge von
Prinzen und Freunden des Haufes Orleans umgeben war. Ohne jeden Halt
in der öffentlichen Meinung, fahen fie fich zu völliger Nichtigkeit verdammt,
wenn fie fih nicht auf die Regierung flügen Fonnten. Sie entfchloffen fich,
weil ihnen zunähft nicht? Andres übrig blieb, die Rolle der gouvernementalen
Partei zu übernehmen, um fih von Mac Mahon und Broglie, den fie ganz
ald den Ihrigen betrachteten, über Bord halten zu laffen.
Nicht fo Leicht und auch nicht vorbehaltlos ergaben fich die eifrigen Legi—
timiften in ihr Schikfal. Von der Nothmendigkeit einer Verlängerung der
Vollmachten waren auch fie allerding® überzeugt; aber fie waren durchaus
nicht geneigt, zuzugeben, daß die Verfammlung irgend einen Beſchluß faffen
fönne, der fie in ihrer Allmacht befchränfen und alfo hindern könnte, zu
jeder ihr gelegen fcheinenden Zeit auf den gefcheiterten Verſuch zurüdzufommen
und das Königthum miederherzuftellen. Bis diefer Augenblick einträte, mußte
Mac Mahon, das fahen fie fehr wohl ein, am Ruder erhalten merden.
Man mochte auch immerhin feine Amtsgewalt auf eine längere Reihe von
Jahren ausdehnen: dad war auch in ihren Augen ein treffliche® Schugmittel
gegen die Entwürfe der Republikaner, Bonapartiften, Orleaniften, die ihnen
allmählich verhaßter, ald alle anderen Parteien wurden; aber die Entfagung,
die fie von den anderen forderten, auch fich jelbft aufzuerlegen, lag keineswegs
in ihrer Abfiht. Sollte ed gelingen, früher oder fpäter eine Stimmen»
mehrheit für den König zufammenzubringen, fo war nad ihrer Anficht
Mac Mahon felbftverftändlich verpflichtet, fofort feine Gewalt an den recht—
mäßigen Herrfcher abzutreten. Spätere Enthüllungen zeigen, daß Broglie
bei diefer Gelegenheit eine ziemlich zmeideutige Rolle gefpielt und ſich über
die Tragmeite der Verlängerung der Gemwalten den Anhängern Chambord's
gegenüber gang im eimer ihren Anfchauungen entſprechenden Weife geäußert
hat. Wie weit die Aeußerungen Broglie'd auf den Entſchluß der Legitimiſten
von Einfluß waren, läßt ſich trog mehrfacher Enthüllungen noch nicht mit
Sicherheit beurtheilen: aber gleichviel ob fie fi hintere Licht haben führen
laffen, oder ob fie eben nur dem Zwang der Berhältniffe nachgaben: im
entjheidenden Augenblicke begnügten fie fi, indem fie für die Verlängerung
der Vollmacht ftimmten, ihren Standpunkt und ihr Gemiffen mit der nicht2-
fagenden Erklärung zu wahren, daß fie daran feithielten, die Monarchie als
die natürliche Berfaffung Frankreichs anzufehen. Zwiſchen diefer matten
Erklärung und der entjchieden feindlihen Haltung der Kegitimiften be»
fand ein offenkundiger Widerſpruch; indeffen war die Regierung felbft auf
die Oppofition von Seiten diefer Partei von Anfang an gefaßt geweſen, da
ihre Preſſe unausgeſetzt den Sat verfoht, daß die Nationalverfammlung fi
300
ihrer fouveränen Machtvolllommenheit nur nad Gründung einer definitiven
Regierung entäußern könne, und daß fie bi8 zur Gonftituirung einer foldhen
befugt fet, jeden ihrer Befchlüffe zurücdzunehmen, womit natürlich einer Ber:
längerung der Vollmachten auf eine beftimmte Zeit jede ernfte Bedeutung
abgefprohen wurde. In Gonfequenz diefer Anficht Hätten die Legitimiften
eigentlich fämmtlich gegen die Vollmachtenverlängerung ftimmen müffen, denn
eine Verlängerung auf beftimmte Zeit mit dem fei ed audgefprocdhen, fei ed
unaudgefprochenen Vorbehalt ded Widerrufs war ein Widerfinn und eine Rüge,
durch welche die Iegitimiftifhe Partei im Voraus ihrer Oppofition die Spite
abbrach, indem fie ihre Sache durch Halbheit und Zweideutigfeit entwürbdigte.
Zunächſt ließ die Regierung indeſſen die Commentare der Tegitimiftifchen
Blätter auf ſich beruhn; denn fie konnte der legitimiftifchen Stimme um fo
weniger entbehren, da die Bonapartiften der dee der Vollmachtsverlängerung
gegenüber ſich unerwartet fpröde verhielten. Die Eugen Führer diefer Partei
waren allerding3 meit davon entfernt, die Confervativen wegen des Streiches,
den fie ihren Verbündeten vom 24. Mai dur ihren Reſtaurationsverſuch
gefpielt Hatten, geradezu in Stih zu laſſen. Dur Gefühldregungen ließ
fih Herr Rouber überhaupt nicht beftimmen; jeder feiner Schritte war wohl
berechnet und fein Anfehen war groß genug, um die Heißfporne der Partei,
die durch ihre Prahlerei und ihr wüſtes Toben ſich in oft läftiger Weiſe be
merkbar machten, wenigftend von unbefonnenen Handlungen zurüdzubal:
ten. Rouber nun erkannte fofort die Vortheile, aber auch die Schwierigkeiten
der Rage: es galt, die einen gründlich audzubeuten, durch die andern geſchickt
fih hindurchzuwinden. In gewiſſer Beziehung lagen die Dinge ähnlich wie
im Mat, infofern die Confervativen alle Urfache hatten, fich des Beiftandes
der Bonapartiften zu verfichern; infofern Tagen fie wieder anders, als die
Bonapartiften durch ihre Principien gehindert waren, unbedingt der Politik
fih anzufchließen, über melde die Regierung mit der Mafje der conferva-
tiven Partei fi entweder ſchon geeinigt hatte, oder mwenigftend im Begriff
ftand, fich zu einigen. Das Recht, auf lange Zeit, über die Dauer ihres eignen
Daſeins Hinaus, über die höchfte Gewalt zu verfügen und diefelbe mit ver-
faſſungsmäßigen Befugniffen audzurüften, Eonnten fie ihrem oberften Grund:
fate gemäß der Verfammlung gar nicht zugeftehn. ine foldhe Entſcheidung
fonnte nur das Volk in feinen Urverfammlungen treffen. In ihren Anfichten
über die Befugniffe der gegenwärtigen VBerfammlung flimmte fie alfo im
Weſentlichen mit der eigentlichen Linken überein, und da merfwürdiger Weife
auch die Mlebicitivee bei einem Theile diefer Partei Anklang fand, fo
ihien es im Augenblid faft, ald ob ein Bündniß zmifchen Republifanern
und Bonapartiften zu Stande fommen werde. Indeſſen erklärte fich die
Mehrzahl der Republikaner doc entfchieden gegen eine Bolksabftimmung im
301
bonapartiftiihen Stile, und was die Bonapartiften felbft betrifft, fo waren
die Verſuche einer Annäherung an die Linke ſchwerlich ernft gemeint. Um die
MWiederherftellung des Königthums zu hindern, wären fie allerding3 wohl
bereit geweſen, ſich mit allen Parteien zu verbünden, die entfchloffen waren,
den Plänen der Royaliften den äußerften, wenn es fein mußte, gewaltfamen
Widerftand entgegenzufegen; aber an diefer Entfchloffenheit hatte e8 eben den
Republifanern in den Augenbliden, wo nur ein Eräftige® Handeln die Roya-
liften in der Verwirklichung ihrer Pläne hindern zu können fohien, durchaus
gefehlt. Jetzt, wo die Reftauration gefcheitert war, wo die Royaliften fürs
erfte unbedingt auf ihre Hoffnungen verzichten mußten, fahen die Bonapar-
tiften ihre gefährlichften Feinde wieder in den Republifanern, die fie nur in
Gemeinfhaft mit den übrigen Gruppen der confervativen Partei bekämpfen
fonnten. Mit erneuter Zuverfiht ftellten fie ihren alten Sat auf, daß es
ih in dem Entfheidungdfampfe um die Zukunft Frankreichs um Republif
und Kaiſerthum handele, und die Republikaner, wie ſchwer ihnen auch das
Geftändnig der Furcht vor dem fo oft mit verächtlichen Worten zu den Todten
gemorfenen Cäſarismus wurde, fonnten doch nicht umhin, die Richtigkeit ihres
Satzes zu befräftigen. Verhandlungen zwifchen den beiden Parteien fanden
allerdings ftatt; aber bei dem gegenfeitigen Mißtrauen Eonnten fie zu feinem
Ergebnig führen. Die Bonapartiften lehnten e8 ab, bei der Präfidentenwahl
für Grevy zu flimmen, die Mehrzahl der Republikaner verwarf das Plebiseit.
‚Hatten die Bonapartiften ihrem Zufammenhang mit der confervativen
Partei von Neuem Ausdrud gegeben, fo waren fie andrerſeits, mie ſchon
bemerkt, doch ſchon durch die Verhältniffe auf eine gefonderte Stellung inner-
halb derfelben angemiefen. Einen Wechfel in der höchſten Staatögemalt
fonnten fie natürlich nicht wünfchen. Mac Mahon betrachteten fie Halb und
halb ala einen der Ihrigen, und ihn zu flürzen, um Thiers wieder and
Ruder zu bringen, lag durchaus nicht in ihrer Abficht. Andrerſeits aber
mochten fie durh eine Abftimmung zu feinen Gunften ihm gegenüber feine
moralifche Verpflichtung eingehn; es lag ihnen vielmehr daran, für alle Fälle
freie Hand zu behalten. Zunächſt waren fie auf eine abwartende Haltung
angemwiefen, und auf welche Weiſe die widerſpruchsvollen Forderungen, melde
ihre eigenthümliche Rage an fie ftellte, mit einander zu vereinigen wären, da-
rüber mußten fie fchlieglih nach dem Verlauf der parlamentarifhhen Berhand-
lungen im letzten Augenblide ihre Entfcheidung treffen.
Auh die Republikaner konnten, nachdem fie den erften Augenblid der
Verwirrung ohne jeden Verſuch die Macht an fich zu reißen, hatten vorüber:
geben Tafjen, gegen eine Verlängerung der Vollmachten Mac Mahon’d nichts
einwenden. Ihre Bemühungen, noch vor der Entiheidung der Proroga:
tiondfrage den Herzog von Broglie zu ftürzen, fcheiterten befonderd an dem
—
302
MWiderftande Mac Mahon’s, deſſen Politik auf die Wiederherftellung der alten
Mehrheit abzielte, und der einer Verfchiebung des Schwerpunkts der Ber:
fammlung in das linfe Centrum um fo entfchiedener abgeneigt war, da er
mit Recht fürdhtete, in diefem alle ein Werkzeug feines gefährlichiten Geg-
ners Thiers zu werden. Den Kampf um die Macht fahen die Republifaner
fih alfo genöthigt zu vertagen, und es blieb ihnen ſomit Nichts übrig, ale
der Verſuch, für das Zugeftändniß der Vollmashtenverlängerung die fürmliche
Anerkennung und Organifation der Republik durchzufegen und im Yugen-
blick ſchienen fih in der That die Ausfichten für diefen Verſuch nicht ganz
ungünftig zu geftalten.
Am 4. November hatte, da die Regierung in diefer Angelegenheit der
Berfammlung die Initiative überlaffen wollte, Changarnier feinen Antrag
geftellt, deffen erfter Artikel die Verlängerung der Vollmachten des Marſchalls
auf 10 Jahre forderte. Nach dem Artikel 2 follte er diefelben nach den gegen
wärtigen Bedingungen ausüben, fo lange fie nicht durch conftitutionelle Ge
fege verändert fein würden. Zur Berathung diefer Gefege ſollte nach Artikel 3
ein Ausfhuß von 30 Mitgliedern in öffentlicher Sitzung und durch Liſten—
ferutintum (nicht von den Abtheilungen) ernannt werden. Sofort ftellte der
Bonapartift Echaſſeriaur den Gegenantrag, am 4. Januar 1874 eine allge
meine Abftimmung über Kaiſerthum, Republif, Königtfum zu veranftalten;
legterer Antrag wurde ebenfo wie der Vorſchlag Dufaure’s, beide Anträge der
Commiſſion zur Prüfung der conftitutionellen Gefete zu überweifen, abgelehnt,
und befhlofien, zur Vorberathung ded Antrags Changarnier’ö eine befondere
Kommiffion zu ernennen.
Die Rechte glaubte fich ded Sieges ficher, hatte dabei aber nicht bedadt,
daß die Wahl eines Ausſchuſſes durch die Ubtheilungen oft zu den auffallend
ften und überrafchendften Ergebniffen führt. So auch diedmal: von dem 15
Mitgliedern des Ausſchuſſes gehörten 8 der republifanifchen Partei, 7 der
Rechten an.
Selbftverftändlich war die Verfammlung in feiner Weiſe an die Befchlüffe,
welche der Ausſchuß etwa fallen würde, gebunden. Nichtödeftomweniger fah
die Linke in diefem. Wahlergebniß einen bedeutenden Erfolg. Der moraliſche
Eindruf des Ereignifjed auf die ſchwankenden Mitglieder der Verfammlung
war groß; was aber eben fo wichtig war, auch die Regierung mußte mit
den Republifanern rechnen. Die Commiffion mar das rechtmäßige Organ
der Kammer; ihre Beichlüffe waren unter allen Umftänden von Wichtigkeit;
die Regierung mußte fuchen, einen für fie annehmbaren Commiſſionsbeſchluß
herbeizuführen, fie mußte unterhandeln, und dad war für die Republikaner ein
unſchätzbarer Vortheil ; fie Eonnten als legitime Macht auftreten, mad ihnen
lange nicht vergönnt gemwejen war.
Indeffen zeigte fi bald, daß die Verhandlungen zwiſchen der Regierung
und der Gommiffion nicht zum Biele führen würden. Die Mehrheit ver
Commiſſion, deren Führung Caſimir Perrier übernommen hatte, beftand da-
rauf, daß die Abftimmung über die Verlängerung der Vollmachten und die
conftitutionellen Gefege gleichzeitig vorgenommen würden, d. 5. fie wollte die
Präfidentfchaft als organifchen Beftandtheil in eine republikaniſche Verfaſſung
einfügen, während Mac Mahon unbedingt die Trennung beider Fragen ver-
langte: die Verlängerung der Vollmachten ganz unabhängig von den confti-
tutionellen Gefegen, deren Nothwendigfeit auch er erkannte, die aber, wie er
die Sache auffaßte, nicht die Republif begründen, fondern nur die Befugniſſe
der Erecutivgewalt regeln und Träftigen follten. Dad war dad grade Gegen-
theil von dem, was die Mehrheit des Ausſchuſſes durchzuſetzen wünſchte, und
an diefem grundfäglichen Gegenſatz mußten natürlich alle Bereinbarungdver-
ſuche ſcheitern.
Je klarer fich dies herausſtellte, um fo mehr war die Regierung darauf
angewieſen, mit der Rechten fi vollftändig zu verſtändigen. Dazu bedurfte
es aber von Seiten Mac Mahon's eined Zugeftändniffes in Betreff der Zeit,
für welche feine Vollmacht zu verlängern wäre, da an den 10 Jahren nicht
bloß die Republikaner und Bonapartiften, fondern auch die NRoyaliften in
überwiegender Mehrheit Anlaß nahmen. Am 17. November erlieg Mac Mahon
eine Botfchaft, in welcher er erklärte: Frankreich würde einer Staatögewalt
kin Berftändnig abgewinnen können, deren Dauer man ſchon in ihrem
Beginn Vorbehalten unterwürfe, durch welche diefelbe von dem conftitutionellen
Geſetze abhängig gemacht würde. Dadurch würde in wenigen Tagen wieder
in Frage geftellt werden, was man heute befchliegen würde. In biefem
Hauptpunkte alfo blieb Mac’ Mahon feſt, und erkannte die8 um fo ficherer,
da er hierin au auf die Zuftimmung der Bonapartiften rechnen konnte.
In der Zeitfrage gab er dagegen nad und erklärte, fich mit einer Ver—
längerung feiner Amtögewalt auf 7 Jahre begnügen zu Eönnen.
Damit war die Brüde der Verftändigung mit dem Ausfchuffe abgebrochen
worden. Die Mehrheit des Ausſchuſſes ſchlug vor, die Ubftimmung über die
Verlängerung der Gemalten und über die conftitutionellen Geſetze gleichzeitig
und zufammen vorzunehmen, die Minorität ftellte durch den Abgeordneten
Depeyre diefem Vorſchlag den in einigen Punkten modifiecirten Antrag
Changarnier’3 (u. a. war der Titel „Präfident der Republik“ in den Geſetzes⸗
vorſchlag aufgenommen worden) entgegn. Nach Iebhafter Debatte, in der
die Bonapartiften ihren Standpunkt dur die Forderung der allgemeinen
Abſtimmung wahrten (Rouher felbft ergriff bei diefer Gelegenheit das Wort),
wurde der Antrag Depeyre in allen feinen Thetlen mit bedeutender Stimmen:
mebrheit angenommen. Bon der Linken war der Verſuch gemacht worden,
J F
304
wenigſtens den Sturz des verhaßten Broglie herbeizuführen. Aber auch dieſer
Verſuch ſcheiterte. Allerdings reichte das Miniſterium, wie ſich unter den
obwaltenden Umſtänden von ſelbſt verſtand, ſeine Entlaſſung ein; aber Broglie
wurde mit der Neconftruction des neuen Septennatsecabinets beauftragt.
Und in der That lag für Mac Mahon gar fein Grund vor, fi von einem
Minifter zu trennen, der von feiner Kunft, jeder Sache zu dienen,
ohne fih und feinen Chef zu compromittiren, während der Fuſionsperiode
die glänzendften Bemeife abgelegt, der nad) Veröffentlichung des Chambord—
hen Briefe raſch fih in die neue Rage gefunden und fie beherrſcht, der
durch feine Gefchielichkeit e8 durchgefegt hatte, daß dem Marſchall feine Boll
machten unter von ihm felbft geforderten Bedingungen d. 5. fo gut wie be
dingungslos, verlängert wurden. Dazu Fam, daß am 24. November die
Berfammlung Herren von Broglie ein glänzendes Vertrauensvotum ertheilte,
indem fie mit 364 gegen 314 Stimmen über eine die Nichteinberufung der
Wahleollegien behufs Vornahme der Erfäswahlen betreffende Interpellation
Leon Say's, auf melde die Oppofition große Hoffnungen gefettt hatte, zur
Tagesordnung überging. So war alfo Broglie vorläufig durchaus der
Mann der Situation, er benuste die Gelegenheit, um fich des ungefchidten
Beuld zu entledigen; außerdem fchieden die Legitimiſten de la Bouillerie,
Batbie, Ernoul aus. Broglie felbft übernahm mit der Vicepräfidentfchaft des
Rathes das Innere, der Herzog von Decazed das Aeußere; die übrigen Mit:
glieder der reconftruirten Gabinet3 waren: Fourtou: Unterriht; Deffeilligny:
Handel; Larey: öffentliche Arbeiten; Depeyre: Juſtiz; Magne: Finanzen;
du Baratl: Krieg; Dampierre D’Hornoy: Marine. Die beiden bonapartiftifcen
Minifter waren alſo geblieben und der Unterrichtäminifter Fourtou ftand
den Bonapartiften menigftend fehr nahe. Charakteriftifh für das neue
Gabinet war das Burüdtreten des entſchieden Iegitimiftifchen Elements,
welches durch die unaudgefegten heftigen Angriffe der Tegitimiftifchen Blätter
gegen das Septennat vollflommen motivirt war. Daß Broglie dad Porte
feuille de Innern übernommen hatte, fonnte ald Beweis gelten, daß die
Regierung entſchloſſen war, alle ihre Gegner mit Anwendung der äußerſten,
ihr zu Gebote ftehenden Mittel zu bekämpfen.
Der Grund zu einer fiebenjährigen Dictatur war gelegt. Da fi in-
defien der rechtmäßige Souverän, die Nationalverfammlung, doch nicht ganz
bet Seite fhieben ließ, fo war man darauf angemiefen, die Dietatur unter
parlamentarifhen Formen zu verfteden und zu biefem Zwecke die Wieder
berftellung der alten Mehrheit in Angriff zu nehmen. Wo es galt, den
Republifanern Widerftand zu leiften, Hatte ſich diefelbe auch bereitö wieder
zufammengefunden; aber außer dem Haß gegen die Republikaner gab es fein
gemeinfame® Band für die confervativen Gruppen. Died zeigte fich bei den
305
Wahlen für die Dreißigercommiffion. Alle Gruppen der Mehrheit waren
einverftanden, die Republifaner von der Theilnahme an der Commiffton mo-
möglich ganz audzufchliegen. Aber nahdem etwa die Hälfte der Mitglieder
ernannt war, gerieth die Wahl völlig ind Stoden, da die Mehrheit über die
Frage, nach welchem Verhältniſſe die Zahl der Mitglieder unter die einzelnen
Gruppen zu vertheilen fet, völlig auseinanderftel. Sitzung auf Situng folgte,
ohne daß es gelang das MWahlgefhäft zu Ende zu führen. Als man endlich
28 Mitglieder ernannt hatte, — darunter einige menige Republifaner —
drohte die ganze Wahloperation zu ſcheitern; die Linke und ein Theil der
Regitimiften enthielt fi der Abftimmung, und in Folge davon wurde nicht
mehr die zur Wahl nöthige Anzahl der Stimmen (die abfolute Majorität der
Verfammlung) abgegeben. Man mußte fi entſchließen, mit der Rinfen zu
verhandeln, und derfelben die letzten zwei Stimmen (Cazanne vom linken
Centrum und Vacherot von der Linken) zu bemwilligen.
Eine feſte Majorität gab es alfo in diefem Augenblid nicht. Die
äußerfte Rechte fchien zu ſyſtematiſcher Oppofition entfchlofjen, die Bonapartiften
fanden ihren Vortheil dabei, fich in Feiner Weife zu binden, fondern ganz
nad den Umftänden zu handeln. Die Drleaniften waren die einzigen, die
fih dem Septennat ohne audgefprochenen Vorbehalt anfhloffen, aber auch
fie nicht ohne Hintergedanfen. Ihr ganzes Trachten ging dahin, für den
Herzog von Aumale, der eben dabei war, fich in dem Bazaine'ſchen Procefie
RKorbeeren ganz eigenthümlicher Art zu pflüden, eine Stellung ausfindig zu
machen, die Ihm die Unmartfhaft auf Mac Mahon's Stelle gäbe.
Die Ausfihten für Bildung einer gefhloffenen feptennaltftiihen Partei
waren alfo von Anfang an fehr gering. Aber grade diefe Zerrüttung der
Rarteiverhältniffe konnte, gefchictt benust, für Mac Mahon ein Machtmittel
werden. Vermochte er nicht, ſich auf die Mehrheit zu ftügen, fo hörte auch
feine Verpflihtung gegen die Mehrheit auf. Ye ziellofer die Parteifämpfe
fi geftalteten, um fo höher ftieg in Frankreich das Bedürfniß nach einer
farfen Regierung. Konnte Mac Mahon eine folche, fet es ohne die Nattos
nalverfammlung, fet es felbft im Gegenfat zu ihr, begründen, fo war er ber
Herr der Situation. Dazu bedurfte es Feiner hohen ſtaatsmänniſchen Bega-
bung, nur einer gewiffen ausharrenden Zähigfeit in der Behauptung des ein-
genommenen Platzes. Diefe Zähigkeit fchrieb man dem Marfchall in Er-
innerung an fein befanntes Wort: „j’y suis et j'y reste* zu. Hatte er den
feften Willen, auf feinem Poſten zu beharren, fo ließ ſich für den Augenblid
nicht abfehn, wer es wagen und vermögen follte, ihn von demfelben zu ver-
drängen. ®eorg Zelle.
Grenzboten IV. 1871. 39
306
sin amerikanifder Humorxiſt.
(Markt Twain.)
Markt Twain ift den Leſern der Grenzboten ein alter Bekannter. Im
Sommer 1873 braten diefe Blätter unter dem Titel „Ein Beſuch auf den
Sandwichsinſeln“ eine Reihe feiner vorzüglichen humoriftifchen Reiſeberichte.)
Heute liegt und die angenehme Pfliht ob, eine Auswahl feiner Schriften in
deutfcher Meberfegung bei unfern Xefern einzuführen. Es ift dieß der zweite
Band, der bei F. W. Grunow erfiheinenden „ Amerifanifhen Humo-
riften“*), eine Sammlung, deren erften Band wir vor Kurzem rühmend
zu erwähnen Gelegenheit hatten.***)
So liegen’ denn bis jetzt aus diefem Verlage Meberjegungen von Bret
Harte, Thomas Bailey Aldrih und Markt Twain vor, die alle den gleid
gewandten Meberfeger verrathen. Der dritte Band der Serie „Amerikaniſche
Humoriften* foll die berühmte „Geſchichte vom ſchlimmen Jungen“ von The:
mad Bailey Aldrich enthalten, der vierte und mit Mar Adeler's „Fern vom
Weltgetümmel“ befannt machen. Wenn diefe Sammlung vollftändig erjchienen
ift, wird vielleicht die Gelegenheit fich bieten, diefe amerikanischen Humoriſten
und Dichter unter einander zu vergleichen. Für heute enthalten wir und dei
Verſuchs diefer Arbeit. Mark Twain fpricht fo fehr für fich felbft, daß er
der Empfehlung und Charafterifirung beim Leſer durchaus nicht bedarf, um
verftanden und herzlich willkommen geheißen zu werden. Es Fann völlig ge
nügen, wenn hier gejagt wird, daß die neueften Schriften Mark Twain’d —
die hier noch nicht überſetzt find — darauf hindeuten, daß diefer Schriftfteller
mehr und mehr die politifche Satire als feine vorzüglicfte Domäne cultivirt,
Sein im vorigen Jahre erfehienener Roman The gildedage (das vergoldete Zeit:
alter) ift die graufamfte Berfiflage der öffentlichen Zuftände oder beſſer Mipftände
der Vereinigten Staaten, die ſich denken läßt. Und der Erfolg, den diefe Fühne
That gehabt hat, dürfte den Dichter um fo mehr beftimmen in feiner Spe
zialität fortzuarbeiten, als bekanntlich in den letzten Jahren eine fehr mäch—
tige Oppofition der ehrlichen Leute der Union, unter der Führung unfres
einftigen Landsmannes, des Senator Karl Schurz ſich regt, um die Gorruption,
die fih drüben in alle öffentlichen Verhältniffe, in die Verwaltung und Ge
feßgebung der Gemeinde, der Partikularſtaats- und der Bundedangelegenheiten,
ja felbft in die Juſtiz, im meiteften Umfange eingenijtet hat, aus dem Sattel
*) Grenzboten 1873 III. ©. 25. 56. 100. 140. (Heft 27—30).
**) Amerifanifche Humoriften. 2. Band. Jim Smiley's berühmter Springfrofeh und dergl.
wunbderliche Käuze mehr. Im GSilberlande Nevada von Mark Twain. Ins Deutfche über
tragen von Moritz Buſch. Leipzig, F. W. Grunow. 1874.
*9) Grenzboten 1874, IV. ©. 92.
307
zu heben. Die jüngften amerifanifhen Wahlen find ein Beweis für die
Stärke diefer Oppofition. Leute, die lange drüben gelebt haben, ftellen ent-
Ihieden in Abrede, daß den Sieg bei den letzten Wahlen die „Demokraten“
davongetragen hätten, d. h. jene politifche Partei, welche im Seceffiondfrtege
niedergemorfen, und bei und Deutfchen in der Pegel ald die „reactionaire*
angefehen wurde. Bielmehr hat die Oppofition der ehrlichen Leute gegen
die Sorruption jener Verwaltung, die Grant's populären Namen und feine
Duldfamfeit gegen politifche Parteigenofjen mißbrauchte, den Sieg davonge-
tragen, und nun die Majorität im Congrefje, eine an Majorität ftreifende
Minderheit im Senat erlangt. So mird' das letzte Wahlergebniß von der
amerifantfchen Preſſe aller Farben beurtheilt. Eine fpätere Zeit erft wird
darüber richten, welchen Antheil an diefer tiefen Wandlung, deren fruchtbare
und bedeutfame Folgen jest noch nicht einmal überfehen werden können, jener
kecke Humorift hat, der die faulen Zuftände feined Baterlandes mit dem
ſchärfften Spotte ſchoönungslos geielte und dadurch vorläufig alle Lacher auf
feine Seite brachte, bis dann der Ernſt des politifhen Wirkens in Verfamm-
lungen, Flugfhriften und Preßartikeln die Oppofition der ehrlichen Leute in
dadfelbe Lager zog.
Diefe mächtige Begabung Mark Twain's für politifche Satire tritt in
der vorliegenden Auswahl feiner Schriften für denjenigen, der feine fpäteren
Sachen gelefen hat, allerdings ſchon in recht merflicher Deutlichkeit hervor,
und unfere Leſer follen davon fpäter einige ſchmackhafte Proben erhalten.
Aber im Ganzen iſt hier der Humor noch Selbſtzweck; oder wenn man will
nothmwendige natürliche Folge der entfprechenden Weltanſchauung des Dichters.
Wir werden in den im nädhiten Hefte zufammenzuftellenden Auszügen aus
Markt Twain's Beobachtungen und Abenteuern auf einer Meberlandreife von
St. Joſeph bis Nevada und im Silberlande felbit, nachmweifen, welch gottbe-
gnadete Fülle von Humor ihm innewohnt, wie er felbjt die trübfeligften
wüfteften Einöden der Erde, die thierifchen Sammergeftalten, welche fie be—
völfern, die menfchlichen und thierifchen Ueberrefte, welche in der brennenden
Sonne aus dem tiefen Haidefand hervorragen und ded Nachts phosphores-
cirend Teuchten wie matte Mondicheinftrahlen, — wie er all das mit unfterb-
licher Heiterfeit der Seele zu betrachten und zu fohildern weiß. Und diefe
fröhliche Lebensanſchauung verläßt ihn auch nicht, wenn er felbft vielleicht
denkt oder fich vornimmt, befonders ſcharf und boshaft zu fehreiben. Ich meine,
felbft die Opfer feiner Späße müffen mit ihm lachen. Und nur Wenige wird
ed geben, denen ein Pfeil im Fleifche zurückbleibt, den Markt Twain hinein:
trieb. Und diefe Auserwählten haben es jedenfalls reichlich verdient und felbft
für amerifanifche Gewohnheiten übertoll getrieben. Aber daß der Pfeil eine
308
ehrliche gerade glatte Spite hatte und völlig giftfrei ift, müſſen ſicherlich auch
fie zugeben. —
Die Kleinen Erzählungen Mark Twain's, welche diefer Band vereinigt,
haben eigentlich alle einen fatirtfhen Anflug. Sie geißeln alle, eine jede in ihrer
Weiſe, ein yankee'ſches Nationallafter: die übertriebene Wettluft; die mweitver-
breitete VBervolllommnung in der Begabung für das Rügen, gegen melde
Mündhaufen ald armfeliger ABE-Lügner erfcheint; die Neigung feiner
Landsleute für fenfationelle Stoffe; das allgemeine Behagen, mit dem drüben
Mordgeſchichten in ihren abfchredendften Detaild niedergefchrieben und gelefen
werden; die Schattenfeiten der „Rady“.Erziehung und dergleihen mehr. Aber
diefe Moral der Gefhichte tritt vor dem leuchtenden wärmenden Humor ded
Dichter fo volftändig zurüd, daß man bei der Lectüre niemal® durch eine
zu enge Fühlung mit der Tendenz durchfröftelt wird. Einige Beifpiele mögen
ftatt weiterer Bemerkungen folgen.
Die erfte Erzählung, „Jim Smiley's berühmter Springfroſch“ ſchildert
ung die Symptome und den üblichen Verlauf der Wettkrankheit. Sim Smiley
ift der vom MWettteufel Befeffene. Er mettete auf Alle nur Mögliche, kaum
wurde was erwähnt, jo erbot er fich, darauf zu wetten, dafür oder dagegen,
es war ihm Alles eind: auf MPferderennen, Hunde, Kaben- und Habnen-
kämpfe. Wenn zwei Vögel auf einem Zaune faßen, fo bot er eine Wette
an, welcher zulegt megfliegen würde. Dder wenn ein Gottesdienft unter
freiem Himmel mit mehreren Predigern abgehalten wurde, fo mar er regel
mäßig von der Partie, um auf den Paſtor Walker zu mwetten,.den er für
den beften Ermahner hier herum hielt... . Es war ihm Allee Wurft, wenn
er nur wetten Eonnte, der Hölenkerl. Paſtor Walkers Frau lag einmal eine
gute Weile todfranf darnieder, und es ſchien, ald ob man fie nicht durd-
bringen würde. Da kommt er eined Morgens herein, und Smiley fragt,
wie's ihr gehen thut, und der Paſtor jagt, es ginge erheblich beffer. Gott
fei Dank für feine unendliche Barmherzigkeit — und ed machte fich fo gut
mit ihr, daß fie, wenn die Vorfehung ihren Segen dazu gäbe, wohl nod
wieder gefund werden würde — und mad fagt da diefer Smiley, ohne fid
lange zu befinnen? „Na, gut, ich riäfire dritthalb Dollar, daß fie nicht
wieder wird, Punctum!“
Jim Smiley hielt fi) aber auch verfchtedene Haudthiere, welche ihn in
die Rage verfegten, die Bedürfniſſe feines MWettgenied nicht dem geiftlofen
Zufall preidzugeben. Da war die „Funfzehn: Minuten: Mähre“, fein Wett:
pferd, welches in jedem Nennen durch verzweifelte Hegen und Strampeln
Huften, Niefen, Naſenſchnauben und Staubaufwirbeln immer eine Kopflänge
eher am Ziel anlangte ald jedes andere Pferd. Da mar Andrew Jackſon
feine Kleine Bulldogge, der er viel Geld verdanfte. Denn fie hatte eine eigen
thümliche Taktik, jeden andern Köter im Kampf unterzufriegen., Sie ließ fi
erft abwalfen und herumzerren, beißen, zwei bis dreimal über die Schulter
hmeißen von feinem Gegner, bis fie — auf einmal den andern Hund beim
Gelenke feined Hinterbeines Friegte und dran hängen blieb mie angefroren.
„Er kaute nicht, verftehen Ste wohl, fondern biß fi nur feft und hing dran, bie
fie den Schwamm in die Höhe warfen, und wenn ed ein Jahr gedauert hätte.
Smiley gewann mit diefem Hunde immer, bid er einmal auf ihn gegen
einen andern wetten that, der feine Hinterbeine hatte, weil fie ihm von einer
Kreisſäge abgefchnitten worden waren, und als die Geſchichte Tange genug
gedauert hatte und das Geld alle gejest war, und Andrew Jackſon feinen
Leibbiß thun wollte, da fah er im Augenblid, wie er betrogen war, und wie
ihn der andere Hund, fo zu fagen, in der Klemme hatte, und fo verlor er
die Courage und gab fich feine Mühe mehr, zu gewinnen und wurde zuletzt
garftig abgeführt. Er warf Smiley einen Blick zu, wie wenn er fagen wollte,
fein Herz wäre gebrochen, und er wäre Schuld daran, da er ihm einen Hund
gegenüber geftellt hätte, der feine Hinterbeine nicht hätte, an die er fich halten
könnte, was doc das wäre, worauf er fich beim Losgehen hauptfächlich ver:
laffen thäte. Und dann hinkte er ein Stüd fort, legte ſich nieder und flarb.
63 war ein guter Hund, diefer Andrew Jackſon, und er mürde fi einen
Namen gemacht haben, wenn er leben geblieben wäre, denn dad Zeug dazu
hatte er und Genie au — ich weiß das, obfchon er Feine Gelegenheit nicht
gehabt Hat, davon zu fprechen. Es macht mich immer traurig, wenn ih an
diefe feine lebte Bataille denke, und an die Art, wie fie ablief.
Das munderbarfte Thier aber, da8 Jim Smiley zu Wettfiegen ab-
gerichtet Hatte, und das feine ganze Erziehung ausfchlieglich feinen pädagogi-
hen Zalenten verdankte, war ein Froſch. Er that an die drei Monate lang
nichts, als daß er in feinem Hinterhofe faß und diefem Froſche das Hüpfen
lernte. Na und ob er’ ihm lernen that! Er gab ihm einen Eleinen Schubs
binten, und in der nächſten Minute ſah man, daß der Frofch wie ein Pfann-
kuchen in der Luft wirbelte, einen Purzelbaum oder, wenn er richtig aus.
geholt hatte, ein paar ſchlug und dann ganz ordentlich wieder auf die Beine
fam mie eine Kate. Er richtete ihn fo auf den Fliegenfang ab und erercirte
ihn fo fleißig darauf ein, daß er jedesmal feine Fliege wegſchnappte, fobald
er eine vor ſich ſah. Smiley fagte, Alled was ein Frofh brauchen thäte,
dad wäre Erziehung, dann Fönnte er faft Alles fertig Eriegen, und ich glaube
ihm. Cie haben in Ihrem Leben feinen Froſch nicht gefehen, der fo befcheiden
und geradezu gewefen wäre. Und wenn ſich's um den Weitfprung auf einer
Fläche handelte, fo fam er mit einem Sabe viel weiter als fonft ein Vieh
von feiner Sippfchaft, dad man fehen konnte. Weitfprung auf ebnem Boden,
dag war feine Hauptforce, und wenn es dazu fam, fo feste Smiley Geld
310 &
auf ihn, fo lange er einen rothen Gent in der Taſche hatte Smiley war
fürchterlich ftolz auf feinen Frofh, und er hatte Recht damit; denn Leute,
die gereift hatten und überall gewefen waren, die fagten, daß er über alle
Fröſche ginge, die ihnen vor die Augen gefommen wären. Nun vermahrte
Smiley feinen Springfrofch in einem Eleinen Käfig aus Stäbchen, aus dem
er ihn mitunter herausholte und zu einer Wette auffordertee Nun Fommt
ibm da einmal ein Burſche — er war fremd bier im Nager — über den
Meg, fieht den Käfig und fagt: „Ei was mag wohl das bier fein, was
Sie in dem Käfig haben ?* Und Smiley fagt, wie wenn er fih nichts draus
machen thäte: „Na e8 könnte ein Papagei fein oder am Ende ein Kanarien-
vogel — aber nichts damit, 's ift blos ein Froſch.“ — Und der Burſch nahm
ihn in die Hand, befah ſich ihn genau, drehte ihn bald nach diefer Seite um
und bald nad) jener und fagte: „Hm, richtig. Na, wozu ift der wohl gut?"
„se nun,“ fagte Smiley leichthin und gelaffen, „er ift gut genug für eind,
fol’ ich meinen — er fpringt weiter mie irgend ein Froſch in Calaveras
County.“ Der Burfhe nahm den Käfig noch einmal, betrachtete fich ihn
wieder lange und forgfältig, und gab ihn dann Smiley zurüd, indem er
fehr entjchieden fagte: „Na, ich fehe an diefem Frofche nichts, was beſſer
wäre ald bei andern Fröfchen.“ — „Mag fchon fein,“ fagte Smiley. „Mag
fein, daß Sie fih auf Fröſche verftehen, mag fein, daß Sie nichts davon ver-
ftehen, vielleicht, daß Sie Erfahrungen haben, vielleicht, daß Sie nur ein Laie
in dem Wache find. Sei dem, wie ihm wolle, id) habe meine Meinung in
der Sache, und ich wette vierzig Dollars darauf, daß er meiter fpringen Fann
als irgend ein Froſch in Salaverad County.“ — Der Burſche überlegte fichs
eine Weile, dann fagte er traurig: „Sa, ich bin hier fremd und habe feinen
Froſch, aber wenn ich einen hätte, fo wollte ich wohl mit Ihnen wetten.“
Und dann fagte Smiley: „Schon gut, fhon gut — wenn Sie meinen Käfig
eine Minute halten wollen, fo will ich hingehen und Ihnen einen Froſch
holen.“ Und fo nahm der Burfhe den Käfig und legte feine vierzig Dollars
neben Smiley'n feine hin und fette fich hin, um zu warten. — So faß er
eine gute Meile da und fann und grübelte vor ſich hin, bis er's Hatte; da
nahm er den Frofch heraus und fperrte ihm das Maul auseinander und
füllte ihm mit einem Theelöffel den Bauch vol Wachtelſchrot. Er ftopfte
ihn voll, faft bis an den Hals, und feste ihn dann auf die Erde Smiley
war dermeile nad) dem Sumpfe gegangen und mwatete im Schlamme herum,
lange Zeit, und endlich erwifchte er einen Froſch und brachte ihn herzu und
gab ihn dem Burſchen und fagte: „Na, wenn Sie jet parat find, fo fegen
Sie ihn neben Daniel'n hin, feine Borderpfoten ganz in derfelben Linie wie
Daniel'n feine, und ich werde das Signal geben.” Dann fagte er: „Eins
— zwei — drei — hopps!“ und er und der Burſche gaben den Fröfchen
„m
311
hinten einen Tipp®, und der neue Froſch hüpfte fort. Aber Daniel that
einen Seufzer und bob die Schultern — Jo — wie 'n Franzofe — aber 's
half nichts, er Fonnte fi nicht rippeln noch rappeln, er faß fo feit mie ein
Ambos, und er war nicht mehr im Stande, fi zu regen, als wenn er mit
einem Anker feitgefettet wäre. Smiley war fehr überrafht davon und fehr
böfe darüber, aber er hatte natürlich Feine Ahnung, an was es lag. — Der
Burfche nahm das Geld und machte, daß er fort Fam, und ald er zur Thür
hinaus ging, zeigte er mit feinem Daumen über feine Schulter — fehen Sie,
jo — nad) Daniel’'n hin und fagte wieder fehr entfchieden: „Nein, ich fehe
an diefem Frofche nichts, was beffer wäre ald bei andern Fröſchen.“ Smiley,
der ftand da und fragte fih am Kopfe und ſah nieder auf Daniel, eine
lange Zeit, und zuleßt fagte er: „Möchte doch willen, warum in aller‘ ‘Welt
diefer Froſch den Kürzeren gezogen hat — ich möchte miljen, ob 'was mit
ihm los ift — er fieht mir fo vollgefadt aus.“ Und er Eriegte Daniel'n
beim Kragen und hob ihn in die Höhe und fagte: „Ei der Teufel, da will
ih doch gleich gehenkt fein, wenn der nicht feine fünf Pfund wiegen thut!“
Damit drehte er ihn fo, daß der Kopf nad unten hing, und da famen mohl
zwei Handvoll Schrot heraudgefollert. Und jet kriegte er's weg, wie die
Sache ftand, und wurde ganz toll und thöricht. Er feste feinen Froſch hin
' und rannte dem Burfchen nach, ermifchte ihn aber nicht.“
Die amerikaniſchen Exemplare der Familie Münchhauſen fchreiten zahlreich
durch dieſes Buh Mark Twain's. Da tft der „alte Admiral” (der unfern
Leſern ſchon aus der Reiſe nach den Sandwichsinſeln befannt ift), der jeden
Keim eined Zmeifeld an feinen gefchichtlihen Wahrheiten mit einer Verſchwen—
dung von Zorn und Flüchen niederfämpft, welche ihn zum unbeftrittenen
und alleinigen Befiger der Gefellichafts- Kajüte machen, fo oft er e3 für an—
gemeſſen findet, feine gefchichtlihen Abhandlungen aus dem Geceffiondkriege
loszulaſſen, bis er endlich mit feinen eigenen Waffen mundtodt für immer ge-
macht wird. Dann ift bier „Marfig, der Lügner“, der in feinem Fade
vielleicht den höchften Preis verdient, und bei Allem, was um ihn gefprochen
ift, feine berühmte Wahrheitäliebe kaum länger zügeln fann, und immer da,
wo man ihn am menigften erwartet, mit einer fabelhaften Gejchichte heraus-
plast, für deren Wahrheit er ftet3 höchſt glaubwürdige Perfonen, am liebſten
aus der Gefellichaft felbit, an die er fi wendet, aufruft. Das ift feine
Spezialität. Er erzählt 3. B. von einem Kamin, den er befeffen, und „der
fo qualmte, daß der Rauch darin ſich förmlich in Kuchen verwandelte und
dag ih ihm mit der Spishade heraudhauen mußte. Sie mögen darüber
lachen, meine Herren, aber der High Sheriff Hat einen Klumpen davon, den
Ih vor feinen Augen Iosgebrodhen habe, und fo haben Ste e8 vollfommen
leicht, wenn Sie bingehen und die Sache prüfen wollen.“ Zwei Wochen
—M
— =)
fpäter überfällt er eine andere Geſellſchaft mit der Erzählung von dem Nat:
matat-Baum auf der Inſel Unalaſchka, See von Kamtſchatka, der nicht einen
Zoll meniger, als 415 Fuß unten am Stamme bat. Der alte Gapitain
Saltmardh in der Geſellſchaft wird von ihm als Zeuge aufgerufen. Der aber
erwidert entrüftet: „Ach, mein Junge, da haft Du Deinen Anker abgerifien,
Du haft die Kette zu ftraff angezogen. Du verfprachft, mir diefen Riefen-
ferl von einem Baume zu zeigen, und ich ging mit Dir durch das verflud-
tefte Walddickicht mehr ala elf Meilen, um ihn aufzuftöbern; aber der Baum,
den Du mir zulegt wieſeſt, war nicht dicker ald ein Bierfaß, und Du weißt
das felber recht gut, Markiß.“ Markiß: „Nun höre eins den Menſchen
reden! Natürlih war der Baum fo dünn ‚geworben, aber habe ich's Dir
denn nicht erklärt, wie? Antworte mir: hab’ ich, oder hab’ ich nicht? Sagte
ih Dir nicht, ich wollte, Du hätteft ihn fehen follen, wie ich ihn zuerft fah.
Als Du auf Deinen Karren ftiegft und mir allerhand garftige Namen an-
bingft und fagteft, ich hätte Dich elf Meilen herumgeſchleppt, um Dir zulest
ein winzige® Stämmchen, einen wahren Schößling zu zeigen — habe ich Dir
da nicht erklärt, wie die Walfifchfahrer in den nördlichen Meeren fi Länger
als fiebenundzmwanzig Jahre ihr Holz von ihm geholt? Und glaubte ic
denn — hol's der Teufel! — der Baum würde ewig ausreichen? Ich ber
greife nicht, wie Du auf diefe Art die Dinge verfchweigen und den Berfuh
machen Fannft, einen Menfchen zu beleidigen, der Dir in feinem Reben nichts
zu Leide gethan hat.“ Dann, kaum zehn Tage fpäter läßt Markiß die Ge
Thichte von feiner Stute Margarethe folgen, die achtzehn Meilen lang mit
feinem Buggymägelchen, auf dem er felbit faß, immer dreißig oder vierzig
Yards vor dem furchtbarſten Sturm berlief, den Markiß In feinem Reben
ſah, ohne daß der Sturm die Stute einholen konnte oder ein Tropfen Regen
aus der Sturmmolfe fie hätte erreichen Fönnen. „Aber allerding® mein Hund
hatte zu ſchwimmen dur den Molfenbrud den ganzen Weg lang.“ Kaum
vierzehn Tage fpäter liefert Markiß das nach feiner Erfahrung klaffiſchſte
Belfpiel für Knauferet. John James Godfrey wurde von der Hay-Blofjom-
Geſellſchaft in Californien für. gemiffe Sprengungen verwendet. Auf einmal
fliegt ex mit feiner Brechſtange in die Ruft, fo hoch bis er gar micht mehr
gefehen wird, und fällt dann nach einiger Zeit genau wieder auf die Stelle
herab, wo er vorhin arbeitete. „Er war nicht länger als ſechzehn Minuten
in der Quft abmwefend geweſen, und doch z0g ihm jene Geſellſchaft von
Knauſern fo viel von feinem Lohne ab, als die verlorene Zeit betrug.”
Diefen Rebendgewohnhetten entſpricht Markiß' Ende. Er hat fich eines
Morgens gehangen und einen Zettel an feine Bruft befeftigt, auf meldem
er feinen Selbftmord atteftirtt. Grund genug für die Jury fowohl an feinem
Tode, ald an der Freimilligkett desfelben zu zweifeln, da die nie wankende
313
Beharrlichkeit ded Charakters dieſes Herrn Markiß während der leiten dreißig
Jahre fi als gemaltiged und unzerſtörbares Zeugniß dafür erhöbe, daß jede
Behauptung, die er aufzuftellen beliebe, die Berechtigung und den Anfprud
darauf habe, fofort und ohne weitere Frage und Prüfung ald Rüge an-
gefehen zu werden.“ „Und fo ftand der Sarg in dem tropifchen Klima von
Lahaina fieben Tage lang offen, dann aber gab ihn felbft die gefegliebende
Jury auf.“ Im „Silberland Nevada“ begegnen wir felbftverftändlich noch
einer Reihe von Menfchen, die in Bezug auf Wahrheitäliebe genau fo ver-
anlagt find, wie diefer felige Marfip.
Die ungewöhnlichen Hindernifje, welche der anglo-amerikanifhe Gefhmad
von feinen Nomanhelden überwunden zu fehen wünſcht, ehe fie fich Friegen,
find von Mark Twain meifterhaft gehäuft in der kurzen Geſchichte „Aurelta’s
unglüdlicher Bräutigam“. Diefer Unglüdjelige geht nämlih in der Zeit
zwifchen Berlobung und Hochzeit förmlich in die Brüche. Zuerſt entftellen.
ihn Boden. Dann bricht er, in die Betrachtung eines Nuftballond vertieft,
ein Bein, das ihm oberhalb des Knied abgenommen werden muß. Dann
folgt der eine Arm durch zu frühes Losgehen einer Kanone bei der eier
de8 vierten Juli; drei Wochen fpäter reißt ihm eine Krämpelmaſchine den
andern aud. „Stück für Stüd verließ Aurelia's Geliebter die Braut und fie
empfand, daß er in diefem unfeligen Reductionsproce& doch nicht ewig aus—
reichen Eonnte . . . fie bedauerte faft, wie Börfenmänner, welche Papiere feit-
halten und dabei verlieren, daß fie ihn nicht gleich genommen habe, bevor er
eine fo beunruhigende Entwerthung erlitten.” Er verliert aber außerdem
noch ein Auge, fein andered Bein und feinen Scalp. Das ift allmählich,
jufammengerechnet fo viel geworden, daß die Frage ernithaft ventilirt wird,
ob es fich der Mühe lohne, den. Reſt zu heirathen. Aber Twain räth der
zweifelnden Braut entfchieden dazu. Das Verlorene kann durch Fünftliche
Gliedmaßen erfegt werden. „Es will mir nicht ſcheinen, Aurelia, daß damit
viel gewagt würde, weil, wenn er bet feiner hölifchen Neigung verharrt, fich
jedesmal Schaden und Abbruch zu thun, wo er eine gute Gelegenheit dazu
gewahr wird, fo muß fein nächſter Verſuch mit ihm ein Ende machen und
dann find Sie fein heraus. .. Es würde auf Seiten Ihres Caruthers ein
glüdlicher Einfall gewefen fein, wenn er mit feinem Halfe angefangen und
den zuerft gebrochen hätte; da er's indeffen für paffend gehalten hat, eine an-
dere Politik zu verfolgen und fi fo lange als möglich audzufpinnen, fo
denke ich nicht, dag wir ihn darüber fchelten dürfen, wenn ed ihm Vergnügen
gemacht hat.” —
Bon diefem padenden Humor find alle die andern kleinen Erzählungen
diefed Bandes durchdrungen. Doch der Raum geftattet nicht, davon mehr
im Auszuge mitzutheilen. Mark Twain's Talent offenbart ſich aber doch am
Örenzboten IV. 1874 40
314
reichften und fchönften in den Reiſe- und Lebensbildern aus dem „Silberland
Nevada”. Hier fleigt neben dem Humoriſten auch der Dichter, der Schilderer
Mark Twain auf den Gipfel feiner Bedeutung, und deßhalb werden wir
diefe Bilder im nächſten Hefte eingehender unferen Leſern vorführen.
98.
Dom deuffden Keihstag.
Berlin, den 15. November 1874.
In der fechiten Sitzung des Reichſtags am 9. November ftand der Reichs—
haushalt für 1875 zur erften Berathung. Die Verhandlung ward vom Prä-
. fiventen Delbrüd mit einer Ueberſicht über die Finanzlage auch des Taufenden
Jahres eröffnet. Die Mittheilungen über das Taufende Jahr Eonnten in
ziemlicher Vollitändigfeit gegeben werden, weil die Budgetberathung zum erften
Mal am Schluffe des Berathungsjahres ftattfindet. Herr Eugen Richter nahm
au diegmal den gewohnten Pla als erfter Kritiker des Reichshaushaltes
ein. Wenn wir fagen ala erfter Kritiker, fo meinen mir zunächſt, als erfter
der Zeit nah. Da ein gewiller Scharfblid und eine gewiſſe Geläufigfeit in
der Behandlung von Winanzgegenftänden Herrn Richter nicht abzuſprechen
find und da ihm ambererfeit3 eine apologetifche Behandlung der Regierung?
vorlage allezeit höchſt fern Itegt, fo hat fein Auftreten den VBortheil, daß
man fogleich überfieht, melde Angriffspunkte, fcheinbare oder wirkliche, eine
Vorlage etwa darbietet. Bei der diedmaligen Kritif des Reichshaushaltes
hatte ber finanzfundige Abgeordnete fi) zwei Angriffpunfte hervorgefudt.
Er fand einmal die Angabe der Militatrauggaben nicht fpectaltfirt genug.
Er tadelte, daß die Gehälter und Röhnungen der Truppentheile nur ſumma—
riſch angegeben feien. Er verlangte die vollftändige Mittheilung der einzelnen
Poſten, aus denen bei jedem Zruppentheil die Abſchlußziffer fih zufammen-
fest. Wir müſſen den Leſer aufmerkjam machen, daß hinter diefer Erinnerung
nicht etwa die Peinlichkeit calculatorifcher Gemiffenhaftigfeit oder Pedanterie
zu ſuchen iſt, fondern eine politifche Tendenz von beträchtlicher Tragmeite.
Das in diefem Frühjahr vereinbarte Reichs-Militairgeſetz hat für das Reichs—
heer die Zahl und Befchaffenheit der Truppentheile ſowie der dazu gehörigen
Beamten feitgeftelt. Danach fann über den Betrag der Gehälter und Löh—
nungen bei den verjchiedenen Truppentheilen im Ganzen fein Zweifel fein und
bie Kriegäverwaltung darf fi) berechtigt halten, die Beiträge für jede Ab-
theilung nur im Ganzen in den Haußhalt aufzunehmen. Aber es ift ja felbft-
veritändlih, daß bald hier bald dort einmal eine Stelle mehr, d. 5. über den
315
geſetzlichen Etat, einmal weniger, alfo unter dem gefeglihen Etat, durch die
wechſelnden Bedürfniſſe einer fo großen Verwaltung aktuell befest if. Nun
ergiebt fi die Frage, ob die Kriegdverwaltung dem Geſetz genügt, wenn
fie fih im Ganzen an den vorbezeichneten Rahmen hält, oder ob fie für
alle Abweichungen im Einzelnen, auch wenn diefelben das gefammte Ergebnif
nicht verändern, der Genehmigung des Reichstags bedarf. Es iſt Far, daß
die Natur der Sache eine beftimmte Reihe folder Abänderungen in jedem
Verwaltungsjahre unvermetdlih mit fih bringt. Wollte man den ganzen
großen Etat der Berfonal- Ausgaben des Heered, der alljährlih gewiſſen
Schwankungen nothmwendig unterworfen ift, für jedes Jahr bis in die Fleinfte
Einzelbeit dur Verhandlung und Bereinbarung mit dem Reichdtage regu-
Iiren, fo hieße das nicht? andered, ald dem Reichstag die Heeredverwaltung
in die Hand geben. Damit hätte die Stetigfeit der Kriegäverfaffung troß
des Reichs-Militairgeſetzes ein Ende und bald auch die MWehrhaftigfeit der
deutfchen Nation. Vielleicht begreift dies fogar Herr Richter. Wielleicht be»
anſprucht er die Herrfchaft über die Heeredverwaltung für den Reichstag nur
im Prinzip, zu dem Behuf, die Regierung vom Reichätag abhängig zu machen
unter dem Vorbehalt, einer Verwaltung, die diefer Abhängigkeit gehörig
Rechnung trägt, den unentbehrlichen Spielraum fo lange zu gewähren, ala
die Berfonen der Verwaltungsvorftände dem Reichstag gefallen. Es ift ein
fehr befanntes Ziel, auf welches Herr Richter auch Hier hinfteuert, und wir
haben die Erfprießlichkeit desſelben augenfcheinlich nicht zu erörtern.
Der zmeite Angriffspunft, den Herr Richter audgefucht, betraf die Ueber-
Ihüffe des Iaufenden Jahres. Der Kritifer wollte diejelben bereits für die
Dedürfniffe des jetzt zu berathenden nädhftjährigen Haushalte in Einnahme
geftellt wiffen. Er wollte, daß man über die Heberfchüffe verfüge, noch ehe
fie vorhanden find. Denn fo lange die Jahresrechnung nicht abgeſchloſſen,
Eönnem die Ergebniffe nur auf Wahrfcheinlichkeit beruhen. Der Kritiker ver-
folgt mit diefer zweiten Forderung dasſelbe Biel, wie bet der erften. ine
Finanzverwaltung, welche über ihre Ueberſchüſſe verfügt, noch ehe fie diefelben
eingebracht hat, welche die Anfchläge ihrer Einnahmen eher zu hoch, als zu
niedrig zu machen genöthigt wird, muß jedes Jahr in die Lage fommen,
außerordentliche Dedungsmittel vom Reichstag zu erbitten. Sie muß fehr
befliſſen ſein, ſich die Gunst des Reichstages durch jede denkbare Nachgiebigkeit
zu erhalten, um nicht entweder peinlichen Verantwortungen ausgeſetzt zu ſein,
oder durch Verabſäumung nothwendiger Ausgaben gegen das eigene Gewiſſen
zu handeln. Der ſichere und ſtetige Gang der Verwaltung wird unter allen
Umſtänden gehemmt werden und die bekannte Verbindung von verſchwenderiſchem
Schlendrian und koſtſpieliger Verſäumniß eintreten, die wir anderwärts als
Folge der parlamentariſchen Allmacht über das Finanzgebiet in Blüthe ſehen.
316
Noch eine dritte wichtige Frage trat bei diefer erften Berathung des
Reichshaushaltes wiederum hervor. Die Frage nämlich nach der Aufbringung
des Reichsbedarfs, fomweit derfelbe aus den dem Reich bis jetzt zugemiefenen
ungenügenden Einnahmen nicht gededt ift, durch die Matrifular- Beiträge.
Diefe Matrifular- Beiträge bilden fi mehr und mehr zu einer wunden Stelle
der Neihäfinanzen aus. Durch die Befchwerde, welche ihre Aufbringung den
Einzelftaaten verurfacht, rufen fie den Widerftand gegen audgiebige Leiftungen
der Reichsfinanzen erft im Bundedrath und dann im Reichstag bei den
Vertretern aus den Cinzelftaaten hervor. Es mag mehr ald ein Mitglied
des Reichstags geben, welches durchaus nicht die Gedanken des Herrn Richter
über die richtige Stellung der Finanzverwaltung dem Parlament gegenüber
theilt, und welches dennoch für eine prinzipiell unzuläffige Befchränfung der
Neichd - Finanzverwaltung zu flimmen gedrängt wird, um die Laſten der
Heimathlandſchaft nicht über die Erträglichkeit anwachlen zu laffen. Die Be
feitigung der Matrikular» Beiträge durch Vermehrung der eigenen Finanz
quellen des Reiches wird bereits zu einer drängenden Frage. Die Beibehaltung
der Matrikular-Beiträge läßt fich eigentlich nur no denken von dem Stand-
punkte eine® ungeduldigen Unitarierd, der den Ginzelftaaten die Griftenz
fobald als möglich verleiden möchte, oder eines Reichsfeindes, der die centri-
fugale Tendenz der Einzelftaaten angefacht fehen möchte. Die richtige Ver—
theilung der Einnahmequellen zmifchen dem Reich und den Einzelftaaten ift
ein fohroterige® aber dankbares Problem unferer nächften Entwickelung. —
Die beiden von Herrn Richter angeregten Fragen follen, wie es fcheint, ihre
grundfägliche Erledigung durch das Gefeg über die Verwaltung der Ausgaben
und Einnahmen des Reiches finden. Ob die Vereinbarung fchon in diefer
Seffion gelingt, fteht dahin. Das Ergebniß der erften Berathung des Haud-
haltes war, daß das den ganzen Haushalt zufammenfaflende Geſetz, die
Heeredaußgaben und die Matrikular- Beiträge der Budget» Commiffion zur
Vorberathung überwiefen murden. Die anderen Theile des Haushaltes
werden im Reichstag ohne Kommiffiondvorbereitung,, wie es bereit? üblich
geworden, auf Grund von Referaten von Mitgliedern, die für das Neferat
über gewiffe Gruppen vom Präftdenten ernannt find, berathen werben.
Die fiebente Sisung mit ihren gelegentlich) der dritten Berathung über
die Einführung der Reichsmünzgeſetze in Elfaß-Rothringen erhobenen Klagen
über bte dortige Verdrängung der Franken ; mit ihrer zmeiten Berathung ded
Markenſchutzgeſetzes und einiger Eleineren technifchen Vorlagen übergehen wir.
Ebenfo die achte Sitzung. Der in diefer Sigung befhloffene neue Paragraph
der Gefchäftdordnung, welcher die Behandlung der Ueberfichten über die vom
Bundedrath gefaßten Entſchließungen auf Initiative Beſchlüſſe des Reichstags
regelt, Kann befprochen werden, wenn er zur praftiichen Anwendung fommt.
317
Auch die neunte Situng betraf nur techniſche Vorlagen. Darunter
rechnen wir das allerding® wichtige Geſetz über die Naturalleiftungen für die
bewaffnete Macht im Frieden und die Genehmigung der Verordnung über
die Gefchäftsfprache der Gerichte in den unmittelbaren Reichälanden. Die
zehnte Sigung behandelte dad Markenſchutzgeſetz im Testen Stadium und
ebenfo die Verordnung über die Geſchäftsſprache der Gerichte Die erfte
Berathung des Geſetzentwurfs über die Steuerfreiheit des Reichseinkommens
wurde noch nicht beendigt. —
Die Unterfuhung gegen den Grafen Arnim hat zu einer neuen Inhaft—
nahme des Grafen am 13. November geführt, die auf ärztliche Intervention
zu einer polizeilichen Interntrung im Palais feiner Schwiegermutter geworden
ft, Wie zuverläffig verlautet, hat der Graf Dokumente der pariſer Botfchaft,
deren Verbleib er anfänglich nicht zu kennen behauptete, dem Gericht aus
freien Stüden zugeftellt mit der Angabe, daß er die Dokumente unerwartet
bei fi gefunden habe. Durch diefe Procedur ft der Verdacht beftärft
worden, daß der Graf von diefen Dokumenten einen ftaatsgefährlichen Ge
brauch gemacht, obwohl er bei Beginn der Unterfuhung mit der größten
Heftigkeit in Abrede ftellte, daß er aus den von ihm einbehaltenen Staat?-
papieren jemald etwas habe an die Deffentlichkeit bringen wollen. Unterdeß
hat der Graf auch Sorge getragen, daß fein Organ, die „Wiener Preffe“,
einen Brief vom 11. Mai d. J. veröffentlicht, den Herr v. Döllinger an den
Grafen gefchrieben. Herr v. Döllinger erklärt darin, er habe die ihm von
dem Grafen wegen früherer Mißſchätzung gegebene Ehrenerklärung feinerzeit
nur deöhalb veröffentlicht, um die Autorfhaft des Grafen für ein gewiſſes
Memorandum, das ebenfalld in der „Preſſe“ veröffentlicht worden, durch das
Selbftzeugniß des Autors feftzuftellen. Herr v. Döllinger möge und nicht
übel nehmen, daß mir diefe Rechtfertigung etwas lahm finden. Die Echtheit
jened Memorandum ging in diefem Fall genügend daraus hervor, daß Graf
Arnim gegen die ihm bei der Veröffentlihung pofitiv beigelegte Autorjchaft
nit remonftrirt hatte. Wenn Herr v. Döllinger da8 betreffende Memoran-
dum für ein „Meifterftüd ſtaatsmänniſcher Einfiht und Vorausſicht“ erklärt,
jo möge er und nochmals nicht verübeln, wenn wir bei aller Achtung vor
feiner auggebreiteten Gelehrfamfeit ihn für gänzlich incompetent in der poli«
tiichen Prarid halten. Jenes Memorandum war das dilettantifche Produkt
eined überall dilettantifchen Kopfes. Der höchſte Grad, den der Dilettantid-
mus erreichen kann, tft, wenn er in harmlofer Eitelkeit dem unverföhnlichen
Feinde die Goncepte corrigirt, damit der Feind fich nit ſchade und mit
denen im Frieden bleibe, denen zu fehaden fein gebieterifches Lebensbedürfniß it.
0-1.
Briefe ans der Kaiferfiadt.
Berlin, 15. November.
„Schwere Zeiten!” Wo wäre diefer Seufzer heut nicht am der Tage
ordnung! Man braucht nicht erft die ultramontanen eremiaden über die
diocletiantfche Chriftenwerfolgung oder die foctaldemofratifchen Verwünfchungen
der völfervernichtenden modernen Productionameife zu hören, noch aud die
Klagen der Wiener und fonftigen Journale über die lettres de cachet des
Berliner Stadtgerichts — jeder Schufterjunge weiß von der allgemeinen
Mifere zu erzählen, jedes Stubenmädel, dem die außeretatmäßigen Silberlinge
dermalen weit feltener und mit viel geringerem Wohlwollen in die Hand ge
drückt werden, als mweiland zur Zeit des floritenden Gründerthums. Dennoch
hat das öffentliche Leben Berlins durchaus nicht den Anſtrich des Darbend
und der Gelähmtheit. Im Allgemeinen hat der „große Krach“ bei und mehr
die Wirkung eines heilfamen Schred3, als die der direeten Zerftörung gehabt.
Was er wirklich vernichtet hat, ift im öffentlichen Intereſſe kaum zu beflagen.
Weß Geiftes Kinder die Hauptperfonen jener fchmwindelhaften Unternehmungen
waren, bat ja eine Reihe von riminalverhandlungen gezeigt. Nicht un
möglich, daß die ſchlimmſten der Mebelthäter ungepeitfcht von der Ruthe ded
Strafgeriht3 davongefommen find. Aber wenigſtens aus der tonangebenden
Stellung, welche fie im öffentlichen Leben einnahmen, find fie zurüdgedrängt.
Jenes praffende Geldprogenthbum, welches mit feiner geiftigen Rohheit den
ſchönen Beruf des Reichthums für die Pflege des höherer Kulturlebend in
widerlichfter Weife parodirte, an die Stelle eines Afthetifch-geläuterten Luxus
die gefehmadlofefte Prahlerei und Meberladenheit fette, in der Muſik, der
dramatiſchen und der bildenden Kunft ausfchließlich die grobfinnliche Richtung
begünftigte — jene Mißbildung ift in unferer Gefelfhaft, wenn nicht für
immer befeitigt, jo wenigſtens gründlich Tahnt gelegt. Auch der unvermeld-
liche Schweif der Gründerbarone, jene jugendlichen Employés der über Naht
aufgefhoffenen Banken und Actiengefellichaften, zum großen Theil fade Geden,
fitten« und bildungdlofe Pflaftertreter, die efelhaftefte Sorte von „jeunesse
dorde* — aud das faubere Völkchen ift bis auf wenige Reſte hinweggefegt.
Und fo hat unfer öffentliches Geſellſchaftsleben in der That ein erheblid
gefündere® Ausfehen gewonnen.
Kein Zweifel tft freilich, daß die große Krife neben unbeftreitbar ſegens⸗—
reichen auch eine gemeinfhädliche Wirkung. ausgeübt Hat und noch audübt,
dag fie im Gefchäftäleben eine andauernde Stodung erzeugt, und daß fie
mande auf urfprünglich folider Baſis beruhende Schöpfung mit ind Ber
derben geriffen hat. Die allmähliche Befeitigung dieſer Mebelftände nach Maß—
2 319
gabe der fortfchreitenden Genefung des volfawirthfchaftlichen Organidmus und
ded miederfehrenden Vertrauens kann indeß nicht ausbleiben. Es ift Fein Ge-
heimniß, daß die Qurusinduftrie noch immer ſchwer zu leiden bat; doch wird
man fi kaum irren, wenn man in ihren Abfasverhältnifien gegen das Vor—
jahr eine erhebliche Befjerung zu bemerken glaubt. So wird es auch mit
manchen fonftigen Unternehmungen gehen, nachdem fie dad Wegefeuer durch»
gemaht und die romantifhen Zuthaten der Schwindelepodhe abgeſchüttelt ha-
ben. Unter den Berliner Gründungen wäre eine ſolche günftige Wendung
am erften der in diefen Briefen bereit? vor Jahresfriſt beklagten Meftendco-
lonte zu wünfchen. Unter den verfchiedenen Villenanfiedelungen, welche ſich
In neuerer Zeit um die Hauptftadt gruppiert haben, ift das „MWeftend“ auf
der Anhöhe hinter Charlottenburg unftreitig die anziehendfte, fomweit von
landfhaftlichen Reizen in Berlind unmittelbarer Umgebung überhaupt die Rede
fein kann. Die Quiftorp’sche Actiengefelfhaft, welche dort ihr Weſen getrie-
ben, ſchickt fih eben an, endlich einmal zu liquidiren. Es ift aber faum denk—
bar, daß der Kolonie nicht in anderer Form mieder auf die Beine geholfen
werden follte. Auf die Ausführung der riefenhaften Prachtbauten, deren
Ruinen feit Jahr und Tag fo melandholifh ind Land hineinſtarren, wird
freilich wohl verzichtet werden müffen.
Ein ähnliches Schickſal, wie den Quiſtorp'ſchen Schöpfungen, wurde im
vorigen Winter einer in Charlottenburg unternommenen großartigen An—
lage auf Aetien prophezeit. Ullein, Fürft Putbus hat mit derfelben mehr
Glück gehabt, ald mit der Nordbahn. Die „Flora“ mit ihrem Palmen—
garten — ich habe ihrer im Frühjahr unmittelbar nad ihrer Eröffnung Er-
wähnung gethan — hat fi bemährt und es ift jest ausgemachte Sache, daß fie
auch im Winter ein wirkſamer Anztehungspunft bleiben wird. Der wundervolle,
Rofenflor, der noch bis tief in den Oktober hinein den Eintretenden begrüßte,
ft nun freilih dahin, die glänzenden Yarbeneffecte der mit feinem Fünftle-
riſchem Geſchmacke arrangirten Blumenteppiche find erlofhen, um fo über-
tajhender und wohlthuender aber ift der Eindrud der immergrünen Tropen»
welt. Seit der Eröffnung hat fi die Vegetation des Palmenhauſes außer—
ordentlich reich entwidelt. Tauſend Kleinigkeiten find da zum Vorſchein ge-
fommen, immer Neued entdeckt das forfchende Auge, es ift eine Welt voll
Ipriegenden Lebens und unendliher Mannichfaltigkeit. Nichts anziehender
aber ala der Blick aus dem großen Concertfaale durch das riefige Glasportal
in das Palmenhaus. Es giebt feinen feltfameren Contraft, ald den unge
heueren, in taufendfältigem Kichtglang ſchimmernden, mit folider Pracht aus-
geftatteten, von fröhlichen Weiſen wiederhallenden Raum und daneben im
Schatten der Dämmerung diefen ftillen Hain mit den Gebilden einer fremden
Welt. Es ift Feine Frage, unter jenen Orten, die der Bewohner der Haupt-
320 =
ftadt auffuht, um die Laſt des Dafeind mit neubelebendem Genuß zu
tauſchen, gebührt der „Flora“ einer der erften Plätze. r.
Daß übrigend an diefen Orten und Gelegenheiten Berlin feinen Man
leidet, ift befannt. Die Satfon hat diedmal von vornherein mit vollen Ham
den gefpendet. Daß Heer der Theater wetteifert mit einander um den Prei@
die Concerte jagen fi förmlich und — last not least — die beiden glänzeme
den Circus, mit denen wir fett vorigem Jahre beſchenkt find — früher hatt
Nenz das Feld allein —, haben diesmal ihre Hallen einen vollen Mond
früher geöffnet ala ſonſt. Das Hauptinterefje concentrirt fih, wie immer
auf die Leiſtungen der dramatifchen Mufe. a
Das Föntglihe Schaufpielhaus hat bereits drei größere Novitäten gebracht,
außer Hebbel’8 „Heroded und Marianne“, was fofort wieder vom Repertoir ver
ſchwand, „Alte Schweden“ von Brachvogel und „Ein Erfolg“ von Raul Lindau
Das legtere Stüd ift, infolge einer äußerft rührigen Reclame, mit einer gewiſſen
Spannung erwartet worden. ch bin biöher durd eine Verfettung midrige
Umftände verhindert gewefen, es zu fehen, verfpare alfo feine Befprebung auf
einen der nächſten Briefe. Brachvogel's „Alte Schweden“ kündigen fih als ein
Schaufpiel an; in Wahrheit find fie nicht? als eine dramatifirte Novelle
Diefe Novelle ift eine Epifode — aus dem Reben des alten Derfflingen
Dad Stück zerfällt in zwei Theile. Der erfte behandelt Derfflinger'
Mebertritt von Schweden zu Brandenburg, der zweite Derfflinger's Braußs
fahrt. Um den Plural „alte Schweden“ zu rechtfertigen, wird noch Görtzke
mit vorgeführt; er ift indeß nur Nebenfigur. Dem Dichter hat offenbaz
die Abſicht vorgefchwebt, ala die t’efere dee feined Dramad die aufs
fteigende Macht Brandenburg zur Anſchauung zu bringen. Verſchiedent
Aeußerungen Derfflinger’d am Unfange und dann die Schlußfcene, in weldye
der Große Kurfürit den Gefandten Frankreichs, Schwedend und Polens über
feine Eünftige Politik ziemlich unverblümt die Meinung fagt, laflen darübeg
feinen Zweifel. Diefe Idee hat auch die Einheit des Stüdes herftellen ſollen
Das tft jedoch nicht gelungen. Die hohe Politik fteht völlig unvermiſcht
neben den übrigen, durch und durch anefootenhaften Beitandtheilen. r
Auch abgejehen von der politifhen Einkleidung entbehrt das Stüd
durchaus der Einheit und Geſchloſſenheit; es tft eine mehr oder weniger will«
fürliche Aneinanderreihung einzelner Scenen. Unter dem dramatifchen Gefichti
punfte betrachtet iſt es aljo entjchieden al® verfehlt zu bezeichnen. Dennoch
wird es jedem harmloſen Tcheaterbefucher einen genußreichen Abend ver
ſchaffen. Es geht ein unmiderftehlicher Hauch frifhen Humord und unge
fünftelter Gemüthlichkeit durch das Ganze. Dabei find die Scenen unt
Perjonen mit feinem Hiftorifchem Gefühl getreu aus ihrer Zeit herausgebildetä
der alte Derfflinger zumal, bier allerding® noch in den Vierzigen, iſt leib
baftig aus dem Holze ded dreißigjährigen Krieges gejchnigt. Die biderbe
rt, wie er heute mit den Kandöfnechten, morgen mit dem Kurfürften, übers
morgen mit dem geliebten Mädchen redet — die Sprache dabei das ergößs
lichte Kaudermälih von der Welt — muß ihm jedes Herz gewinnen. Auch
feine nahmalige Braut Katharina v. Schappelow und deren Bonne Euphrofym
Gramzow find trefflich gezeichnet, für unfer moderned Empfinden allerding;
etwas ſehr refolut, aber hiftorifh wahrfcheinlih. Die Scenen, in welches
diefe drei Perfonen zuſammenwirken, find der Glanzpunft des Ganzen. Ur
fie voll zur Geltung zu bringen, aus den Geftalten des Dichterd „etwas F
maden“, dazu gehören freilich drei fo vorzügliche Kräfte, wie wir fie U
Herrn Berndal, Fräulein Kepler und unferer unübertrefflihen komiſchen Alten
Frau Frieb-Blumauer befigen.
Berantwortlicher Redakteur: Dr. Hand Blum in Leipzig.
Derlag von F. 2. Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Regler in Leipzig.
Gerenzboten.
Zeitſchrift
für
Solitik, Jiteratur und Kunfl.
Ne: 48.
Ausgegeben am 27. Nonember 1874.
— —
Inhalt:
Zur Geſchichte des Septennats. 2. Das Mairesgeſetz und die
tellung ber Parteien. Georg Zelle . . 2. 2 2.0.
m Silberland Nevada. Rah Markt Twain ». . 2... 333
Die fähfifhe Politi. RE: - 2 2 2er 346
Bom deutſchen Reihätag, CH. * 2 2 2 nen 353
Weihbnahtsbüdherihauu . 2: 2 2 0 nr ee 360
@Brenzbotenumfhlag: Literarifche Anzeigen.
Hierzu vier fiterarifepe Beilagen. B. ©. Teubner, Leipzig. W. Spe⸗
mann, Stuttgart. Fr. Brudmann, Münden u. Berlin.
©. ©. Theile, Leipjig.
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Leipzig, 1874.
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zu beziehen. Cine Probenummer liefert jede Buche
' handlung unentgeltlich.
No.
Artikel:
— — —
47 des „Magazin“ enthält folgende
dertage in Italien. 681. — Mdolf Schmidt.
Epochen und Kataftrophen. 681. — Frankreich.
Der Todtentanz in der Kirche des S. 8. Innocents |
zu Paris. 682, Italien. Der öffentliche |
Unterricht in Italien. 683. Spanien. Zur!
Spanifchen Romanzen »Poefie. Bon Adolf Laun.
I. 685. Nord: Amerika. Die Negerfrage
688. Afrita. Bei den Niam-Niam und
Monbuttus. 689. — Auſtralien. Gnglande |
neuefte Annerion. 690. — S#leine literariſche
Nevue. Cliah: Lothringen unter deutjcher Ber:
twaltung. 693. — Die Reform des Zolltarifes.
693. — Sprechſaal. Profeffor Homeyer. 693.
Dnorato Decioni über die fiterarifeße let:
694. Ein römischer
— — —
—
— — ⸗— —— nz
tanten im alten Rom.
Gel,
-
Deutſchland und das Ausland. Deutihe Wan- |
Die soeben erschienene No, 47 der
Jenaer Literaturzeitung
im Auftrage der Universität Jena heraus-
gegeben von Anton Klette,
Jena, Mauke’s Verlag (Hermann Duft‘
enthält Besprechungen von:
' E. Riehm, Handwörterbuch des biblische‘
' Alterthums: von. Siegfried. H. N. A. Jen
| sen, Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte:
' von W. Gass. F. Ablfeld, Bruder Berthold‘
von G. Graue. D. Harries, der Altkatholie=
mus: von F, Nippold. M. v. Buri, über Ca»-
salität: von K. Binding. Th. Gimmerthal, da
Eigenthum: von K. Czyhlarz. H. Hardonin,
sur la contrainte par corps: von A, Rivien
W. Filehne, über das Cheyne- Stokes'sche
Athmungsphänomen: von H. Senator. H. Y,
Stockfleth, Handbuch der thierärztlichen Cbi-
rurgie: von F. A. Zürn. R. Bonsels, zur Ans
Iyse des Arsen: von E. Reichardt. A. Hoch
heim, über die Differentialcurven der Kal
schnitte: von F. Lindemann. F. F. Tacket,
Hochalpenstudien: von E. Schmidt. E, Pie
derer, Empirismus und Skepsis in D. Hans‘
Philosophie: C. Sigwart. P. de Ebulo, liber
ad honorem Augusti, herausgegeben von E,
Winkelmann: von W. Arndt. H. v. Zwieli
neck-Südenhorst, Zeitungen und Flugschriftes
aus dem 17. Jahrhundert: von G. Droysen
Derselbe, Christian d. Andere v. Anhalt: von
demselben. N. Wecklein, der Areopag u. d
Epheten: von R. Schüll. L. Lange, de ephr
tarım Atheniensium nomine: von dems. Dir
selbe, die Epheten und der Areopag: voö
dems. A. Philippi, der Areopag und die Ephe
ten: von dems. Derselbe, der Athen. Volk
beschluss v. 409/8 von dems. Derselbe, da
Amnestiegesetz des Solon: von dems. C,F. We
ber, de Messallae qui dieitur libro de progeni
Augusti, edidit J. Caeaar: von E, Bachrent
H. v. Friesen, Altengland u. W. Shakspere:
v. R. Wülcker. J. Ostendorf, Volksschule,
| Bürgerschule und höhere Schule: von C„Peter.
Derselbe, die Conferenz. zur‘ Berathung übe
' das höhere Schulwesen in Preussen : von deu
selben. Derselbe, unser höheres Schulwesen
von demselben. M. Wohlrab, Gymnäsiun I
Gegenwart: von demselben. E. Loew, Ü"
Stellung der Schule zur Naturwissensehaft: vo
demselben, 7
Im Verlage von * A. Herbig in Berlin erehke:
Dr. O. Michaelis, volkswirth-
schaftl. Schriften, Zwei Bande Pr
* jeder 3 Til:
22%, Sgr. Inhalt: I. Eisenb —*
krisis von 1857. II. Von der — ad
anleihen. Theorethisches, Bankfragen, './,
en we er
rar
Zur Geſchichte des Hepfennafs.
1
Das Maireögefeh und die Stellung der Parteien.
Die Anforderungen, welche von Seiten der Regierung an die Thätigfeit
ded zur Vorberathung der conftitutionelen Gefege ernannten Ausſchuſſes
geftellt wurden, waren nicht gerade unbejcheiden. Der Gefammtorganiamud
ded Staated war ja aus den Stürmen des Kriegäjahres im Ganzen unge
ſchädigt hervorgegangen. Die alte Berwaltungsmafchine arbeitete in der Art
wie unter dem Kaiſerthum; zur Befeitigung der von Gambetta und Genoffen
eingefegten republicanifch gefinnten Staatöbeamten und zu ihrer Erfegung
durch Barteigenofien der confervativen Mehrheit bedurfte ed Feiner neuen Ge-
fege; da gefammte Präfecten- und Unterpräfeetenperfonal war ganz von der
Gnade der Regierung abhängig, die jeden mißliebigen Beamten ohne Weiteres
feiner Stelle entfegen Fonnte. Wenn die Regierung biöher von diefem Rechte
einen mäßigen Gebraudh gemacht hatte, fo Hatte died nicht in ihrer Scheu
vor durchgreifenden Maßregeln feinen Grund, fondern lediglich in dem Mangel
an Berfönlichkeiten, die zur Uebernahme der höheren Verwaltungsämter ge
eignet waren. Bon den Beamten ded Julikönigthums waren nur noch ver-
einzelte Ueberbleibjel vorhanden, die Nepublif von 1848 hatte zu Eurzen
Beftand gehabt, um ein Beamtenthum heranzubilden, abgefehen davon, daß
eine republicanifche Vergangenheit die fchlechtefte Empfehlung in den Augen
der Regierung war. Die wirklich fähigen und im Dienfte erprobten Beamten
hatten ihre Schule unter dem SKaifertbum gemacht, und waren in über:
wiegender Mehrzahl der Sache, der fie lange gedient hatten, ergeben geblieben.
Auf diefe Männer zurüdzugreifen, hatte natürlich für die Regierung in der
Zeit, wo fie im Fahrwaſſer der Noyaliften fegelte, ernfte Bedenken. Ohnehin
war troß aller Maßregelungen von Seiten der Septembermänner in allen
Zweigen der Beamtenhierarhie — Thiers war viel zu fehr Verwaltungdmann,
um e3 über das Herz zu bringen, unte den erprobten Kräften aufzuräumen
— dad bonapartiftifche Element noch immer fo ftarf vertreten, und machte
fi durch einen zähen verſteckten MWiderftand der Regierung oft fo läftig, daß
ihr der Gedanke an eine Vermehrung desfelben im höchſten er zuwider
Grenzboten IV. 1874.
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war. Zu einem durchgreifenden allgemeinen Beamtenmwechfel hatte fich daher
die Regierung Mac Mahon's bisher ebenfomenig entſchließen können, als
Thiers feiner Zeit. Mit der Einfegung des Septennat3 und der Hebernahme
des Minifteriums des Innern durch Broglie änderte ſich died. Seit der
Niederlage der Royaliften war ein großer Theil der Bedenken, die gegen die
Verſtärkung ded bonapartiftifhen Element? im Beamtenperfonal vorgelegen
hatten, fortgefallen. ine unerfreulihe Nothwendigkeit blieb e8 immerhin,
die Iocale Verwaltung den Anhängern des geftürzten Negimed anzuvertrauen,
deren provagandiftifchen Eifer man hinreichend Fannte, aber es war eben,
wenn man anders die Regierungsmaſchine mit voller Kraft gegen die republi»
canifche Agitation arbeiten laffen wollte, eine Nothmendigkeit, der Broglie
fi unterzog. Den Kampf gegen die Republicaner betrachtete er als feine
nächſte und mwichtigfte Aufgabe, und für diefen Kampf Eonnte er der Unter-
ftüßung de3 alten Beamtenthumd gar nicht entbehren. Straffed Zufammen-
faffen der Staatögewalt, dad war die Loſung im Regierungslager; ob man
damit diefer oder jener befonderen Gruppe der Mehrheit in die Hände ar
beitete, darauf konnte die Negierung in der Rage, in der fie ſich befand, in
einem Augenblid, wo ed galt, die Grundlage der aus dem Schiffbrud der
fufioniftifchen Beſtrebungen geretteten Gewalt Mac Mahon's zu befeitigen,
feine NRüdficht nehmen.
Wie Schon angedeutet, bedurfte die Regierung, um die Verwaltung im
Gange zu halten, Feiner durchgreifenden organifchen Geſetzgebung. Es war
in diefer Beziehung genügend, wenn fie fi dad Recht der Ernennung der
Maires, welches man in den Honigmonaten des Decentraliſationsſchwindels —
denn etwas Andres, ald Schwindel und Humbug find die Verſuche der Frans
zofen auf dem Gebiete der Selbftverwaltung niemals geweſen — den Gemeinden
übertragen hatte, zurückgeben Tieß. Im Mebrigen befchränften fi die Wünſche
der Regierung darauf, dem Marfchall in einer zweiten Kammer eine Art von
Senat, ein Gegengewicht gegen die Nationalverfammlung zu fchaffen und
dur eine Modification des Wahlgefees diejenigen Elemente, in denen man
die Hauptftüge des Radicaliamus zu fehen glaubte, von der Betheiligung an
den nächſten Wahlen auszufchließen.
Die Dreißigereommiffion nahm denn auch alabald ihre Arbeiten in An-
griff und feßte vorläufig zwei Tage in der Woche für ihre Berathungen feft.
Aber es zeigte fich fehr bald, daß Monate darüber vergehen würden, bis fie
auh nur über einen der ihr zur Berathung vorliegenden Gegenftände einen
Beſchluß faßte; ja ihre Hülflofigkeit und DVerlegenheit war fo groß, daß bie
Anſicht wohl gerechtfertigt erjcheinen Eonnte, fie werde überhaupt Nichts zu
Stande bringen. Welchen Gegenftand follte fie zuerft in Angriff nehmen?
Der Regierung war offenbar an dem Wahlgeſetze am meiften gelegen. Nun
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befand fi) unter den zahllofen von der Nationalverfammlung eingefeßten
Gommiffionen, die feit zwei Jahren Ind Faß der Danaiden fchöpften, bereits
eine Commiffion, welche mit der Vorberathung eines Wahlgeſetzes betraut
war, ohne ihre Aufgabe mefentlich gefördert zu haben. Sollte diefe Com—
miffion neben dem Dreigigerausfhuß ihre verdienftliche Thätigkeit fortfegen ?
Dad erfchien den Herren denn doch als eine allzugroße Verſchwendung ihrer
Kraft und Eoftbaren Zeit. Sie wünfchten daher ihre Arbeit einzuftellen und
die Nationalverfammlung erfannte die Gerechtigkeit ihred Wunfches an und
beauftragte fie, alle ihre Vorſchläge als ſchätzbares Material der Dreißiger—
commiffion mitzutheilen. Gefördert wurden indeſſen die Arbeiten der Dreipiger
durch diefe Meberweifung keineswegs; Vorfchläge gab es fat fo viel, als
Mitglieder da waren. Uber je mehr Anträge, defto fehwerer die Wahl. Und
nun folte man ſich noch mit fremden Gedanken befafen, fie fichten und die-
eutiren! Man kam nicht von der Stelle. Das allgemeine Stimmredt galt
für facrofankt; es follte unangetaftet bleiben. Zugleich aber follte e8 im con-
ferwativen Sinne regulirt werden. War died Problem überhaupt lösbar?
Republicaner und Bonapartijten waren in diefem Punkte gleich empfindlich;
fie fchwuren beide nicht höher, ald auf das allgemeine Stimmredt. Das
war ein bedenklicher Umftand für die royaliftiich gefinnten Abgeordneten.
Man mochte der öffentlihen Meinung Vieles bieten, aber jeder Verſuch, dem
Sande ein Recht zu entziehen oder auch nur zu verfürzen, dad nun einmal
ald Palladium der Freiheit, als nationalfte® Grundreht galt, erfchlen ge-
fährlich.
Doc überlaffen wir vorläufig die Dreigiger ihren Verlegenheiten und
ihrer unfruchtbaren Gefchäftigfeit. Im Grunde befümmerte man fi zunächſt
um ihre Arbeiten außerordentlich) wenig. Auch die Regierung hatte es mit
den Verfaſſungsgeſetzen durchaus nicht eilig und fie war weit davon entfernt,
dem Ausſchuß feine Arbeit durch eine kräftige Snitiative zu erleichtern. Das
Wahlgefe lag ihr zwar fehr am Herzen, aber bis zu allgemeinen Neuwahlen
fonnten vielleicht noch Sabre vergehen und fo fonnte man ſich denn noch
immer einige Zeit gedulden; jedenfalld gehörte da8 MWahlgefeg nicht zu den-
jenigen Gefegen, von denen fich eine unmittelbare Beſſerung der Lage hoffen
ließ. Mac Mahon und feinen Miniftern fam e8 vor Allen darauf an, die
Verwaltungdorgane völlig und unbedingt in Händen zu haben. Das
Mairesgeſetz war alſo für den Augenblid für fie bei weitem wichtiger, als
alle Verfaſſungs- und Wahlgefete. Die Berfaffungsgefege follten dazu dienen,
der Dictatur eine gewiſſe regelmäßige Form zu geben und fie in den Stand
zu fegen, ihren gehäffigen Charakter zu verſtecken; dad Mairesgefeg war bes
fimmt, eine der Grundfäulen der Dictatur zu werden; die eine diefer Grund»
fäulen, die Armee, war dem Marfchall fiher ; die zweite Säule war ſchwankend,
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fo lange die Mehrzahl der Communalbeamten, wie e8 damals der Fall war,
der republicanifchen Partei angehörte. Hier raſch Wandel zu fchaffen, erfehien
der Regierung von ihrem Standpunft aus mit Recht als eine Lebensfrage
erften Ranges.
Ein wie großes Gewicht der Herzog von Broglie diefer Angelegenheit
beimaß, geht daraus hervor, daß er das Septennat mit der Vorlage feines
Mairesgeſetzes (28. September) gleihfam einweihte. Der Entwurf beftimmte:
bis zur Beſchlußfaſſung über die organifchen und Gemeindegefege werden die
Maired und Adjunften in den Hauptitädten der Departementd, Arrondiſſe⸗
ments und Gantone von dem Präfidenten der Republik, in den übrigen Gr
meinden von dem Präfecten ernannt; in den Departements und Arrondiffements-
hauptjtädten üben die Präfeeten und Unterpräfeeten die Befugniß eines Polijzei—
präfidenten aus, in den übrigen Gemeinden die Maires unter Aufficht der
Präfeeten und Unterpräfecten; ein befonderes Verwaltungdreglement wird für
die Etädte und Gemeinden, je nad) ihrer Bevölkerung, die Organifirung dee
Bolizeiperfonal® näher beftimmt, alle Polizetinfpeftoren und Agenten werden
vom Präfeeten ernannt und abgefegt; die Polizeiausgaben fallen den Ge—
meinden zur Raft; wenn ein Gemeinderath die erforderlichen Mittel gar nicht
oder nicht im ausreichenden Maße bewilligt, fo wird der nöthige Beitrag von
Amtswegen in dad Budget der Gemeinde eingetragen.
Es läßt fih gar. nicht in Abrede ftellen, daß diefer Entwurf den fran-
zöfifchen Anfchauungen und Vermaltungdmarimen vollftändig entſprach. Man
hatte im Jahre 1871 aus Eiferfuht gegen Parts viel von der Autonomie der
Gemeinden gefhmwast, die Nationalverfammlung hatte auh die Ernennung
der Maired durch die Gemeinderäthe befchloffen und nur auf Thiers ent-
ſchiedene Erflärung, das hieße der Regierung die Mittel entziehen, die Ord—
nung aufrecht zu halten, diefen Beſchluß dahin modificirt, daß in allen Städten
von mehr ald 20,000 Einwohnern, ſowie in allen Departementd- und Arron
diſſementshauptſtädten die Maired vorläufig von der Regierung ernannt
werden follten (14. April 1871). Der damalige Beſchluß war ein Beweis von
der unglaublichen Leichtfertigkeit und Ungründlichfeit gemefen, mit der diefe
ganze Angelegenheit von den Gefekgebern Franfreich® behandelt wurde. Eine
logifche Gefeggebung würde zuerft die Befugniffe der Gemeinden abgegrenzt
und dann erft über die Ernennung der Gemeindebeamten Beftimmungen ge
troffen haben. Die Folge des Beichluffes, in dem die Vorliebe des Franzoſen
für den Formalismus des Wahlweſens einen bezeichnenden Ausdrud fand, mar
denn auch die geweſen, daß die Gemeindeverwaltung überall in Zerrüttung
gerieth und daß die Mahlen zu bloßen politifchen Barteidemonftrationen
wurden, bei denen man auf die perfünliche Befähigung ded Kandidaten nicht
das geringfte Gewicht legte, fondern nur danach) fragte, ob er Monarchiſt
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oder Republicaner fe. Dadurch wurde denn den Conſervativen, die fich
überall von ihren Gegnern überflügelt fahen, die Decentraliſationsſchwärmerei
gründlich verleidet. Die Commiffion, welche mit den Vorarbeiten für die
Reorganifation der lokalen Verwaltung beauftragt wurde, war mit dem viel»
verfprechenden Namen Decentralifationdceommiffion beehrt; ihre Tendenz ent-
ſprach aber ihrem Namen in feiner Weife. Uebrigens theilte fie dad Schickſal
aller Ausſchüſſe: fie Fam mit ihren Arbeiten nicht von der Stelle. Dem
Herzog von Broglie blieb daher Nichts übrig, ala felbft die Initiative zu
ergreifen , um menigftend die Frage, welche für die Negierung augenblicklich
die größte Wichtigkeit hatte, die Mairedernennung, rafch zur Entjcheidung zu
bringen.
Daß fein Entwurf von vielen Seiten Anfechtung fand, war begreiflich
genug. Im Grunde dachten zmar alle Parteien über diefe Frage genau eben
jo wie die Negierung, und es wäre lächerlih, zu glauben, daß Gambetta,
wenn er wieder einmal and Ruder gelangen follte, den Gemeinden die Wahl
ihrer Beamten überlaffen würde. Aber er befand fi nicht am Ruder, und
deshalb hatte er, wie alle Republicaner nicht das Intereſſe der Regierung zu
färken, fondern ihre Bewegungen zu hemmen und lähmen. Se Elarer die Re—
rublicaner erkannten, daß fie nicht im Stande fein würden, den Kampf um
die Staatdreform durch einen Gewaltftreich zur Entfcheidung zu bringen, um
jo eifriger waren fie bemüht, die Machtmittel der Negierung im Einzelnen
zu ſchwächen, vor allem aber die einflußreiche Stellung, melche ihnen dag
Mairedgefeg von 1870 in der örtlichen Verwaltung geichaffen hatte, gegen
jeden Angriff nah Kräften zu vertheidigen. Aehnlich ftellten fich die Legiti—
miften zu dem neuen Gefege. Sie übten in einigen Gegenden ded Landes
im Verein mit ihren geiftlichen Bundesgenoſſen in der That einen nicht un-
bedeutenden Einfluß auf die ländliche Bevölkerung, jedenfall® einen größeren,
als ihre orleaniftifchen Nebenbuhler, denen es trog aller Anftrengungen nicht
gelingen wollte, in irgend einer Volksſchicht Boden zu gewinnen. Sie hatten
daher von Anfang an eine große Begeifterung für Selbftverwaltung und
Gemeindefreiheit zur Schau getragen, die allerding®, fo lange fie Theil an der
Macht hatten, nicht über große Worte Hinausging; jest aber, wo eine Re
gierung an der Spite ded Staates ftand, die fie in Verdacht hatten, daß fie
ganz von orleaniftiichen Antrieben beherrſcht werde, trieb fie die Eiferfucht,
Ihrer Schwärmeret für die wahre Freiheit in einer entjchloffenen That Luft
ju machen. Die Urtheile der legitimiftifchen Blätter, denen fi, mie immer
in der damaligen Zeit die Organe der Herifalen Wartet anfchloffen, lauteten
daher fo ungünftig wie möglich über das Gefe des Herzogs von Broglie. Die
„Union“, das Hauptorgan des Frohsdorfer Hofes, fchüttete die volle Schale
ihtes Bornes über die gemäßigte Nechte aus. Nichts, erklärte fie, ift jo ge
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fährlich, wie eine doctrinäre Politif, (EI war ein ganz gefchidter Kunſtgriff,
deffen fih auch die Republicaner bedienten, die Orleaniftifhen Barteihäupter
mit dem feit Guizot's Verwaltung in Verruf gelommenen Namen der Doc:
trinäre zu bezeichnen.) Die Anhänger derfelben hätten fi angemaßt, vom
Könige Garantien zu verlangen, und heute fähen fich diefelben Männer ge
nöthigt, dem blinden Abfolutismus in die Hände zu arbeiten. Der leßtere
Ausfall war veritändlih genug: die Union wollte damit andeuten, daß aud
der Regierungspolitik fchlieglih nur die Bonapartiften Nutzen ziehen würden.
„Sie fuhhen, fagte fie von den Männern der gemäßigten Nechten einige Tage
fpäter, einen Herrfcher und wenden dem Könige den Rüden. Wir fchlagen
ihnen vor, fi) unter einem Scepter zu fammeln, und fie fuchen Büttel...
e8 giebt einen Grad des BVerfalld, wo man fi) nur noch mit der Knecht—
Schaft befreunden Fann.“ Noch fohärfer ging mit der Regierung die legiti-
miſtiſche Provincialpreffe ind Gericht, die, weil man in Paris wegen der Voll
machten der Militärbehörden fich einer gewiffen Vorficht befleißigen mußte,
grade zu den rückſichtsloſeſten Kundgebungen benugt wurde. So fohrieb die
„Siperance du Peuple“: „Herr Graf von Chambord war den edlen Hergögen
(Broglie und Decazed), die jest Frankreich regieren, nicht liberal genug und
jest fchlagen fie Gefege vor, die wir drafonifch nennen können. . . . Dem
neuen Miniftertum gegenüber haben unfere Freunde nur eind zu thun: die
Herren Herzöge zu flürzen, den loyalen Soldaten, der an ber Spise fteht,
feinen Berdienften nach reſpektirend.“ Leider befand ſich nur der loyale Sol:
dat grade jet im vollften Einverftändnig mit feinen Miniftern, die mehr und
mehr anfingen, ald Organ Mac Mahon’s fih zu fühlen und augenfcheinlid
darauf bedacht waren, eine eigenthümliche von jedem befonderen Parteipro-
gramme abfehende feptennaliftifche Politik zur Geltung zu bringen.
Größeren Beifall ala bei den Nepublicanern und Legitimiften fand das
Mairesgeſetz bei den Bonapartiften, die in demfelben eine Rückkehr zu den
Principien des Kaiſerthums fahen und nur wegen der Handhabung desfelben
beforgt waren. Die Bonapartiften, als die einzig wirklich praftifchen Polis
tifer, faßten überall mit ficherem Takt die Perfonalfrage ind Auge. Das
von ihrem Standpunkte aus vortreffliche Gefeß hatte in ihrer Schätung doch
nur geringen Werth, wenn feine Durhführung und Handhabung nicht zuver
läffigen Perfönlichkeiten anvertraut war. So erklärte der „Pays“, das ftreit-
barfte der imperialiftifchen Blätter, das Geſetz für theoretifch ganz vortreff-
ih; fo lange aber das Perſonal der Präfecten fo bunt zufammengefest fei,
liegen fih die fchlimmften Yolgen von denfelben befürchten. Yuerft muß die
Regierung für zuverläffige Präfeeten forgen, da® mar das ceterum censeo
aller Artikel der bonapartiftifchen Blätter, die mit unermübdlicher Zähigkeit
die Negterung zu Reinigung des Beamtenflandes drängten. Bor allem der
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‚Bays* betrieb das Denunciationdgefhäft mit einer eyniſchen Unverfchämt:
heit. Man könnte es auffallend finden, daß fie einen Miniiter, der ihnen
doch jo verdächtig war, wie Broglie, zu firengen Maßregeln in der PBerfonen-
frage drängten. Ihre Haltung erklärt ſich indeflen ganz einfach aus dem
Umftand, daß fie mußten, Broglie werde bei jeder größern „Präfecten-
bewegung * feine Zuflucht zu den alten Fatferlihen Beamten nehmen
müffen, weil in den übrigen confervativen Gruppen das tüchtig gefchulte
Beamtenthum faft gänzlich fehlte. Hierin lag ja gerade ein Hauptgrund der
Unentbehrlihkeit und Unfehlbarkeit der Bonapartiften, und diefem Umſtand
verdanken fie ed nicht am wenigiten, daß fie nach und nach immer entjchiedener
ald die Vorkämpfer der confervativen Parteien den Republicanern gegenüber
in den Vordergrund traten. Uebrigens bedurfte e8 für den Herzog von Broglie
nit erjt der Ermahnung zur firengen Handhabung der Beamtendigciplin den
Bräfeeten gegenüber: noch im Laufe des Decemberd wurden 18 neue Präfecten
und zahlreiche Unterpräfeeten ernannt, wobei die Bonapartijten natürlich nicht
zu kurz kamen.
Daß das orleaniflifche rechte Centrum und die gemäßigte Rechte Nichts
einzuwenden hatten, war felbftverftändlih. Die Drleaniften betrachteten fich
ald die eigentliche Regierungspartei, oder benahmen ſich doch menigitend ala
folhe, und daher mußten fie einem Gefete, welches darauf berechnet war,
die Macht der Regierung zu verftärfen, freudig ihre Zuſtimmung geben. Be
denken grundfäglicher Art lagen diefer Partei fern. Den abjolutiftifchen Be—
ftrebungen der reinen Legitimiſten hatten fie allerdingd während des Fuſions—
dramas MWiderftand entgegengefegt, weil fie von der Undurhführbarkeit der
Pläne des Grafen von Chambord überzeugt waren und nicht Luſt hatten, fi)
für eine Donquidhotterie aufzuopfern; ganz abgefehen davon, daß für fie die
Aufrehterhaltung der parlamentarifchen Regierung unter dem legitimen König
gradezu eine Lebensfrage war, da fie nur in einer einflußreichen Kammer
einen Schuß gegen die Fanatiker des ancien régime zu finden hoffen durfte,
die in den orleaniftifchen Verbündeten einen nothwendigen, aber läftigen An:
bang jahen, deffen man fi fofort zu entledigen haben würde, fobald er
feinen Dienft geleiftet. In der gegenwärtigen Lage aber gab es für fie durch—
aus Fein Bedenken, die Negierung in allen ihren Plänen zu unterjtügen.
Hätten fie dabei den Schein des Liberalismus wahren können, deſto
beſſer. Ließ fich der Kiberaliamus mit dem Macmahoniämud nicht ver
einigen, fo entſchieden fie fi ohne allen Serupel für den letzteren. Auf—
richtige Anhänger Mac Mahon's waren fie natürlich nicht, und dafür wur—
den fie au von Mac Mahon nicht gehalten, der immer deutlicher zu erfen-
nen gab, daß er nicht die Abſicht habe, ſich als Werkzeug irgend einer Par—
tet gebrauchen zu laſſen. Dies entging aud den Orleaniften nicht; aber Durch
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diefe Wahrnehmung Tiefen fie fih in der Verfolgung ihrer verfchlungenen,
ränfevollen Politik durchaus nicht beirren. Ihren alten Plan, den Herzog
von Aumale zum Generaliffimus ernennen zu laffen, oder ihm die Präfident:
ſchaft des Senats mit der Anmwartfchaft auf die Präfidentfchaft der Republit
zu fihern, nahmen fie mit erneutem Eifer auf. Viellelcht ließ fich die Prä-
fidentfchaft der Republik in eine Statthalterfchaft ded Königreich® verwandeln.
Uebrigens beftand — das ift ein Punkt, der meift überfehen wird — ſchon damald
zwar nicht ein foharfer Gegenfaß, aber doch ein nach und nad) immer deutlicher fid
geftaltender Unterfchied zwifchen den eigentlichen Orleaniſten und den YAumaliften.
Diefer Unterfchied war fehon in der Fühlen Haltung hervorgetreten, die Aumale
und feine Freunde während der Fuſionsbewegung einnahmen, in der Zurüdhal:
tung, mit welcher diefer Prinz, während die übrigen Mitglieder und vor Allem
das Haupt des Haufes felbit mwetteifernd dem Grafen von Chambord ihre Huldi-
gungen darbrachten, eine gefonderte Stellung behauptete, wie man allgemein, und
gewiß mit Recht annahm, um für den Fall einer Niederlage der königlichen Bar:
teien fich die Möglichkeit offen zu halten, unter Umftänden auch eine felbftändige
Rolle zu fpielen. Die Art und Weife, wie er von feinen Freunden in den Bor:
dergrund gefchoben wurde, und wie er felbft die Augen der Menge auf fich zu
lenken fuchte, mußte für dag Selbftgefühl ded Grafen von Paris in hohem Grade
verlegend fein. War der Graf von Paris wirklich den Verlofungen des Ehr—
geizes unzugänglich, oder war feine vornehme fteife Zurüdhaltung, die viel:
fach den Eindrud der Stumpfheit und Unbehülflichkeitt machte, nur eine
Maske, unter der er herrſchſüchtige Pläne barg, geduldig des Augenblidd
barrend, der ihm geftatten würde, mit feiner Perſon für feine Anſprüche einzu-
treten? Man mußte ed nicht. Man beacdhtete ihn kaum, während jeder Schritt
des Herzogd von YAumale von den Parteien mit Sorgfalt überwacht wurde. —
Daß Aumale nicht ala Thronbewerber auftrat, dag feine Anhänger fih
vielmehr damit begnügten, Mittel und Wege ausfindig zu machen, um ihn
zum eriten Würdenträger der Nepublif zu erheben, war ein Zugeftändnig an
die Rage der Dinge, denen man fich nicht entziehen Tonnte, wenn man nicht
ganz darauf verzichten wollte, ihn eine Rolle fpielen zu laflen. Die Zeit der
unmittelbaren Throncandidaturen war mit dem Briefe ded Grafen von Cham:
bord fürs erfte zum Abfchluß gebracht worden. Das Königthum ſchien nur
auf einem Ummege wiederhergeftellt werden zu Fönnen; die höchite Gewalt der
Nepublit mußte einem Prinzen in die Hände gefpielt werden. Damit hätte
die Republik ſich felbft banferott erklärt. Ein Prinz als Präfident konnte
der Natur der Dinge nad) nur der Vorläufer eines Königs fein. Ob Aumale
ala Vräfident zu feiner eigenen Herrſchaft oder zu der feines Neffen den Grund
zu legen haben würde, darüber gingen auch unter feinen nächſten Freunden
wahrſcheinlich die Unfichten noch auseinander. Zunächſt fam e3 darauf an,
dad Volk daran zu gewöhnen, ihn als den berufenen Nachfolger Mac Ma-
bon’s anzufehen. Dad Weitere mußte man der Entwidelung der Dinge
überlaffen. "
An Rührigkeit in der Verfolgung ihred Zieles liegen es Aumale’3 intri-
gante Freunde nicht fehlen. Zuerſt jollte der Vorſitz in dem widrigen
Bazaine’ihen Tendenzproceh die Augen der Nation auf ihn Ienfen und ihn
als militärifches Genie erften Ranges ausweiſen. Diefer Verfuh, Aumale
zum großen Manne zu ſtempeln, fcheiterte indeflen jo ſchmählich, wie er es
bei feiner Abgefchmacktheit verdiente. Der Proceß war eingeleitet worden, um
der nationalen Eitelkeit eine Art von trauriger Genugthuung zu verfchaffen.
Die Verurtheilung wurde von allen Parteien mit Ausnahme der Eaiferlichen
gefordert, und die Befriedigung war daher groß, ald das Urtheil gejprochen
war, welches die VBerfehuldung Aller auf ein Haupt lud; wenn man aber
gehofft Hatte, daß dem Vorſitzenden des Kriegsgerichts aus der Leitung des
Proceſſes und dem Urtheilöfpruch eine dauernde Ropularität erwachſen werde,
jo hatte man den Takt und das Anftandegefühl der Franzofen denn doch
allzu gering anſchlagen. Eine tiefere und dauernde Wirkung hatte der Proceß
überhaupt nicht hervorgebracht. Er hatte den Parteien Stoff zu gegenfeitigen
Anjhuldigungen geboten; er hatte den Haß der Bonapartiften gegen die
Männer des Septemberd von Neuem zu heller Flamme angefacht; er hatte
die ganze Kriegführung der Franzofen ind jchlechtefte Licht geftellt, die Mehr:
zahl ihrer höheren Befehlshaber uud nicht am wenigſten Mac Mahon jelbft,
compromittirt. Aber die Eindrücke hafteten nicht lange. Die Sorge und
Intrigue des Augenblicks nahmen die Parteien bald wieder in Anſpruch, und
bald war Bazatne ein vergefener Mann, bi8 er durch feine Flucht ſich den
Franzoſen wieder ind Gedächtniß zurückrief.
Nach dem Proceß begab der Herzog von Aumale ſich nach Befancon,
um, wie die orleaniftifchen Blätter täglich verfündeten, an feinem Armeecorps
fein außerordentliche3 militärifches Organifationdtalent zu bewähren und feine
Truppen zu einem Mufter- und Elitecorps audjubilden. In Beſançon
unterließ er es nicht, als Prinz mit fürftlicher Herablafjung und Liebens—
würdigfeit aufzutreten. Sodann ſprach man in geheimnißvollem Ton bald
von einem wichtigen Auftrage, mit dem er in Betreff der Befeftigungen von
Belfort betraut war, bald wurde das Gerücht in Umlauf gejegt, daß für
ihn eine ganz beſonders hervorragende Stellung, ein vom Kriegsminiſterium
faft ganz unabhängiges Generaliffimat, ind Auge gefaßt fei: eine Stellung,
in der er als militärifcher College vielmehr neben als unter Mac Mahon
fungiren follte. Die Einzelheiten diefer und ähnlicher Pläne murden mit
großer Ernfthaftigkeit erörtert, obwohl die Urheber diefer Fabeln ſelbſt jehr
wohl mußten, daß Mac Mahon viel zu eiferfüchtig an feiner en fefthielt,
Grenaboten IV. 1874,
330
um fih einen Beigeordneten und Auffeher gefallen zu laſſen und fein ftärfftes
Mactmittel, die Armee, einem ehrgeizigen Nebenbuhler zur Verfügung zu
ftellen, einem Mann, deffen unermübdliches Jagen nad) Popularität, auch einen
minder argmöhnijhen Machthaber, ald Mac Mahon e8 war, mit Mißtrauen
erfüllt haben würde. Dazu hatte fih Mac Mahon die fiebenjährige Präfident-
Ihaft nicht übertragen laffen, um nun fofort die Rolle des orleaniftifchen
Mad zu fpielen: war e8 doch im hohen Grade zweifelhaft, ob er überhaupt
nur Eympathien für die jüngere Linie empfand. Mac Mahon tft ein ziemlich
unbehülflicher, bequemer Staatsmann und daher leicht der Gefahr audgefekt,
ſchlau und verborgen angelegten Plänen eines Eugen und geſchäftskundigen
Rathgebers auch wider Willen zu dienen: aber dagegen empörte fich fein
Selbftgefühl, das in dem Maaße wuchs, ald die allgemeine Berrüttung und
Schwäche der Partei zunahm, denn doch ganz entfchieden, daß er fich ald
Bevollmächtigten und Werkzeug der Drleand gebrauchen lafjen follte Die
zudringlichen Bewerbungen der Prinzen mochten feiner Eitelkeit fchmeicheln;
er ließ fie fich gern gefallen, war aber meit entfernt, ſich der Familie ober
der Partei zu befonderem Danke verpflichtet zu fühlen.
Auh auf die Öffentliche Meinung machten die Bielgefchäftigkett des
Herzogs und die Neclamen feiner Anhänger einen nicht weniger ald günftigen
Eindruck. Wäre der Herzog in feinem Militärbezirk verblieben, hätte er ſich
ganz und ausſchließlich feinen militärifchen Pflichten bingegeben, fo würde
died ohne Zweifel achtungsvolle Anerkennung gefunden haben. Aber durch
fein offenfundige® Streben, feine militärifche Stellung und Thätigkeit nur als
Hebel für politiſche Zwecke zu benugen, verdarb er Allee Kaum hatte er
mit großem Geräufch fein Gommando übernommen, fo vernahm man, daß
er wieder in Paris erjchienen ſei, natürlich, wie die republicanifchen. und
bonapartiftiichen Blätter fpöttelten, um ſich den Pariſern zu zeigen, die fih
indefjen viel weniger um ihn kümmerten, al® feinen Freunden lieb war.
Selbſt der von den orleaniftifchen Blättern zur Schau getragene maaßlofe
Chauvinismus vermochte nicht, die Gleichgültigfeit der Franzoſen zu befiegen.
Im Volke war der Orleanismus todt. Die orleaniftifhe Tradition war in
den 25 Jahren, die feit Ludwig Philipp's Entthronung verflofen waren,
vollfommen verlöfht. Es gab eine mächtige orleaniftifhe Kammerfraftion,
aber Feine orleaniftifche Partei im Lande: ein widerſpruchsvolles Verhältniß,
wie es in gleiher Schroffheit in der Gefchichte vielleicht ohne Beifpiel ift.
So entwidelte ſich immer beftimmter eine doppelte, vielfach in einander
übergreifende Strömung in dem Barteifampfe. Den Republicanern, deren
Fractionen feit Thierd’ Sturz einen leidlihen Waffenftillftand unter einander
aufrecht erhielten, ftanden die Gonfervativen gegenüber; aber innerhalb diefer
PBarteigruppen, die auf den Namen einer einheitlichen Partei längſt feinen
331
Anfpruch mehr machen Fonnten, nahm der Gegenfaß zwiſchen Orleaniſten und
Bonapartiften eine immer drohendere Geftalt und einen immer bitterern
Charakter an. Es war das gemilfermaßen ein Kampf um die Hegemonie
innerhalb der confervativen Partei, auf melde die Orleaniften wegen ihrer
fummarlfchen Ueberlegenheit und ihrer ftarfen Vertretung in der Negierung
Anfprud erhoben, während die Bonapartiften mit kecker Zuverficht behaupteten,
daß fie allein im Stande wären, den Nepublicanern im Lande dad Gegen-
gewicht zu halten und daß namentlich bei den Wahlen die Confervativen nur
unter bonapartiftifcher Führung und unter Anwendung der bonapartiftifchen
Wahltaktif auf Erfolg rechnen könnten, Die fämmtlichen neuen Erfagmwahlen
haben bewiefen, daß dies Feine leere Prahlerei war: damals jedoch fträubten
die übrigen Parteien fi) no, die Richtigkeit der bonapartiftifhen Behaup-
tung anzuerkennen. Die Ahnung, daß in den Bonapartiften die Republik
ihre einzigen gefährlihen Gegner zu fehen habe, regte fich allerdings überall;
aber einen Klaren Einbli in die ganze Größe der drohenden Gefahr gewann
man exft einige Monate ſpäter. Es mußte indeffen auf diefen Punkt hier
ſchon nahdrüdlich Hingewiefen werden, mell in der That das Ringen der
Bonapartiften um die Hegemonie in der confervativen Barteigruppe, befonderd
im Gegenfat zu den Orleaniften, den eigentlichen Inhalt der Gefhichte des
Septennat3 ausmacht.
Diefe widerftrebenden Elemente zu einer Septennatöpartei zu vereinigen
und zufammenzuhalten, das war eine Aufgabe, an der auh Mac Mahon’d
zähes Phlegma und Broglie's Gewandtheit foheitern mußte. Broglie wurde
von den Drleaniften als einer der Ihrigen angefehen und deshalb von den
Regitimiften und Bonapartiften mit großem Mißtrauen beobachtet. Ob das
Vertrauen der Einen und der Argmohn der Andern ganz gerechtfertigt war,
ift aber doch zweifelhaft. Broglie hatte feinen Vortheil dabei gefehen, ſich
Mac Mahon zur Verfügung zu ftellen und war ſchwerlich geneigt, Intriguen
zu begünftigen, die, wenn fie zum Ziele geführt hätten, doch ſchließlich auch
feine Stellung in Frage geftellt haben würden. Bon Haufe aus mar er
allerdings eifriger, dabei ziemlich ſtark klerikal gefärbter Orleaniſt. Aber er
war auch wetterfundig genug, um zu jehen, daß gegenwärtig die orleaniitijche
Sache troß der ftarken parlamentarifchen Stellung der Partei nicht befonderd
günftig ftand, und daß es für ihn ein Gebot der Klugheit fet, fich nicht zu
eng mit ihr zu verbünden. Für einen Staatdmann, der fich für alle Fälle
möglich erhalten wollte, war es offenbar das Sicherfte, fich Feiner Partei
ganz hinzugeben, und gegen jede Zumuthung mit dem Schild des Septennats
fih zu deden. Broglie war vor allen andern Staatämännern geeignet, die
Drleaniften beim Septenntum feftzubalten , aber da8 Septennium zum Werk—
jeug der Orleans zu machen, war damals ſchwerlich noch feine Abficht.
332
Mochte nah Ablauf der fieben Jahre ein Orleans den Thron befteigen, darin
ſah auch er wohl die günftigfte definitive Löſung der großen Kriſis, in der
Frankreich fih befand; aber an den fieben Jahren wollte er fo wenig rütteln
laffen wie Mac Mahon felbft.
Unter ſolchen Umjtänden Fonnte e8 ihm natürlich nicht erwünſcht
fein, daß die Orleaniften fih ihm ald einzige, menigftens jcheinbar unbe
dingte Anhänger des Septennats boten. Aber feine Bemühungen, die übrigen
Gruppen der Rechten an fich zu ziehen, erwiefen ſich als fruchtlos. Das ein:
zige Band, welches fie in Eritifchen Augenbliden zufammenphielt, war die Furt
vor den Nepublicanern, befonders vor denen des linken Centrums, die in ihrer
harakteriftiichen Weife fih an den Marſchall drängten, um fich ihm als ficherfte
Stüße feiner Macht zu empfehlen. Daß Mac Mahon feine Neigung empfand,
fi) mit diefer ganz unzuverläffigen Partei einzulaffen, machte feinem politifhen
Takte durchaus Feine Schande. Er mußte recht wohl, daß ein Minifterium
Cafimir Perrier unvermeidlich, felbft wider Willen, Thiers den Weg zur
Präſidentſchaft bahnen mußte und der Selbfterhaltungstrieb ftählte ihn daher
gegen alle Berfuhungen. Nichtödeftomeniger mußten die Confervativen in den
unermiürdlichen Umtrieben der gemäßigten Republifaner eine beftändige Drohung
und eine Mahnung fehen, wenigftens in der Abwehr zufammenzuhalten.
Das hieß aber der Nefignation der Parteien allzuviel zumutben. Dad
Mairesgeſetz, auf welches die Regierung einen fo außerordentlich großen Werth
legte, brachte die Nebellion im confervativen Lager zum Ausbruch, ftellte
aber auch zugleich die Schwäche der Frondeurs in ein fo helles Kicht, daß
Broglie neu geftärkt aus der Krife hervorging, die ihn hatte ftürzen follen.
Am 8. Januar 1874 ftand das Maireögefes auf der Tagedordnung der
Nationalverfammlung. Man wußte, daß die Regierung die fehleunige Votirung
ded Gefeged verlange. Nichtödeftoweniger wurde mit 268 gegen 228 Stimmen
beichloffen, dasſelbe bi8 nach der Diecuffion über dad Gemeindegefeg zu ver
tagen. Darüber herrſchte natürlich großer Jubel im republicanifchen Lager,
aber um fo größerer Schreefen unter den Gonjervativen. Selbit diejenigen,
welche aus übler Laune gegen Broglie geftimmt hatten, wurden von Sorge
über die Folgen ihrer Abjtimmung ergriffen. Kaum hatte man vernommen,
dag Broglie entfchloffen fei, zurücdzutreten, jo faßten die Confervativen den
Beihluß, ihre Unbotmäßigkeit und Nachläjfigfeit — denn der ungünftige
Ausfall der Abſtimmung war zum Theil durch die Abwefenheit einer großen
Unzahl conjervativer Ubgeordneter verfchuldet worden — durch ein Vertrauen?
votum und die Zurüdnahme des Votums vom 8. wieder gut zu machen.
Diefem Beweife von Reue und Hingebung konnte Herr von Broglie natür-
lich nicht miderftehen. Alle Abwefenden wurden dur den Telegraphen zur
Nückehr aufgefordert. Am 12. Januar wurde mit 379 gegen 321 Stimmen
u
Broglie das verabredete Vertrauensvotum ertheilt, der Beſchluß am 8. zurüd-
genommen und am 20. erfolgte die Annahme des Mairesgeſetzes.
Dad mar ein glänzender Erfolg für Broglie und dad Septennat, aber
eine furdhtbare Niederlage für die Nationalverfammlung. Eine wirkliche Stütze
konnte die Regierung nicht länger in ihr fuchen, aber fie gewann zugleich die
Ueberzeugung, daß fie diefelbe nicht zu fürchten brauche. Von diefem Augen»
blide Fonnte Mac Mahon einem Konflikt mit einer gewiſſen Zuverficht ent-
gegenfehn: er hatte den thatfächlichen Beweis geltefert, daß er ſtärker fei, ald
die Nationalverfammlung : das Votum vom 12. Januar wurde allgemein als
eine Etappe auf dem Wege zur Militärdietatur angefehn.
Georg Zelle.
Im Hilberland Nevada.
Nah Markt Twain.*)
Mark Twain's Reife von St. Louis nah dem Silberland Nevada fällt
ungefähr in da® Jahr 1857 oder 1858. Es gab damald noch Feine Eifen-
bahn nah dem Stillen Meere. Der Weg von St. Louis nah St. Joſeph
mußte an Bord eined Raddampfers den Miffourifluß aufwärtd gemacht
werden und erforderte fech® Tage. Bon St. Zofeph bi8 Carſon City ging's
mit der Weberlanppoft fahrplanmäpig in neunzehn bi® zwanzig Tagen; doc)
wurde die Reife auch häufig in fünfzehn bie fechäzehn gemadt. Marf Twain
begleitete auf diefer Reife feinen älteren Bruder ald Brivatfecretait. Der
Bruder war zum Gecretair der Vereinigten Staaten im Territorium Nevada
ernannt worden. Mark Twain war damald — mie aud Andeutungen in
Ipäteren Kapiteln zu ſchließen iſt — noch fehr jugendlih, kaum conftrmirt,
wie wir bei und fagen würden. Um fo erftaunlicher ift die wunderbar fcharfe
und richtige Beobachtungsgabe, die außerordentliche Anlage für die Wahr:
nebmung der heitern Seite der Dinge und Ereigniffe, welche ihm damals
Ihon eigen war. Denn wenn auch die Niederfchrift und Ausarbeitung diefer
Neifeerlebniffe nach feinen eigenen Angaben erft zehn bis zmölf Jahre fpäter
erfolgte, fo konnte Twain überall da, wo er nicht eingeftandener Maßen
phantafirt und übertreibt — und das ift die feltene Ausnahme —, fondern
wo er wirkliche Dinge fchildert, diefe früher in feiner Seele aufgenommenen
*) Vergl. Grenzboten IV. 1874. ©. 306, Amerifanifche Humoriften, 2. Band, F. W.
Grunow 1874,
er
334
Borftellungsreihen, nad einem befannten pfychologifchen Geſetze, dem ſich
Niemand entziehen kann, günftigften Falled nur in derfelben Deutlichkeit und
Friſche reproduziren," wie zehn oder zwölf Jahre früher die Wirklichkeit fie
auf der Bildfläche feiner Seele wiederfpiegelte. Und da diefe hier vorliegenden
Neproductionen feiner Nelfenbenteuer und feiner Erlebniffe und Beobachtungen
im Silberland Nevada mit feltener Klarheit und Treue, fprudelndem Humor
und häufig mit ergreifender Poefie erfüllt find, fo find mir vollfommen be,
rechtigt zu fagen, daß Marf Twain die beiten Borzüge feines Talentes bereits
in fehr jungen Jahren beſeſſen hat.
Unternommen wurde diefe Reife von Mark Twain nah einer Bor
bereitung von höchiten® zwei Stunden. Biel Einpaden war nicht nöthig, da
die Paffagiere der Meberlandpoft von der Grenze Miffourid bi8 Nevada nur
25 Pfund Gepäd pro Mann mitnehmen durften. Auch nur drei Monate
wollte der junge Abenteurer im Silberlande abmefend fein — „es fiel mir
nicht im Traume ein, länger zu bleiben als diefe Zeit. Ach gedachte, Alles
zu fehen was neu und feltfam war, und dann raſch nach Haufe zu eilen
und wieder and Gefchäft zu gehen. Ich dachte wenig daran, daß ich das
Ende diefer dreimonatlichen Vergnügungdtour erft nach Ablauf von fieben
ungewöhnlich langen Jahren zu fehen befommen würde!“
In St. Joſeph fehon mußte Abfchied genommen werden von den Fracks
und Glacéhandſchuhen. Dagegen bewaffnete man fih bis an die Zähne.
So wurde Kanſas durchfahren; wellenförmig bob und fenkte fih das Erd»
reich. Maisfelder und Mettland mwechfelten mit einander. Aber bald follte
diefe See auf trodnem Boden ihren mwellenfürmigen Charafter verlieren und
fi fiebenhundert Meilen fo eben mie eine Stubendiele hinftreden. — „Unfre
Kutſche war ein großer, unaufbörlich fchaufelnder und ſchwankender Kaften
von der mächtigften Art — eine gewaltige Wiege auf Rädern. Sie wurde
von ſechs hübjchen Pferden gezogen und an der Seite des Poſtillons faß der
„Sondueteur“ , der gefegmäßige Oberfte der Gefellfhaft,; denn es mar feine
Aufgabe, für die Briefpoft, das Gepäd, das Eilgut und die Paſſagiere Sorge
zu tragen. Wir drei waren auf diefer Tour die einzigen Paſſagiere. Wir
faßen auf dem Rückſitz inwendig. So ziemlich Alles, was von der Kutjde
no übrig war, war voll von Poſtſäcken; denn wir hatten die zurüctgebliebnen
Poſten von drei Tagen bei und. So nahe unfern Knien, daß fie diefelben
faft berührte, erhob ſich bis zur Ueberdachung eine ſenkrechte Wand von
Roftfachen. Ein großer Haufen davon war mit Riemen auf dem Dadhe felt-
geihnallt, und fowohl die vordere ala die hintere Schooßfelle war voll von
ihnen. Wir hatten fiebenhundertzwanzig Pfund davon bei und, mie ber
Poſtillon ſagte — „ein Bischen für Brigham und Carfon und Frieco*),
*) Volksthümlich für San Francisco.
335
aber da8 Meifte für die Indianer, die hölltih unbequem werden, menn fie
nit immer 'was zu leſen Eriegen.“ „Das munderte und, da er aber gleich
darauf das Geſicht wie in einem fürchterlichen Krampfe verzog und audfah,
ald ob ein erdbebenhaftes Kachen bei ihm im Anzuge wäre, merften wir,
dag feine Meußerung ein Spaß hatte fein follen und die Bedeutung gehabt
hatte, daß wir den größten Theil unfrer Boftfachen irgendwo auf den Ebnen
abladen und den Indianern oder ſonſtwem, der Verlangen darnach trüge,
überlafjen würden. — Wir mwechfelten alle zehn Meilen die Pferde und flogen
Iuftig über die harte, ebne Straße dahin. Jedesmal, wenn die Kutfche Halt
machte, fprangen wir heraus und ftredten unfere Beine, und fo fand und
die Nacht noch Iebendig und unermüdet.“
In der folgenden Nacht zeigte ſich's dann deutlih, was der Konducteur
gemeint hatte, ald er von der für die Indianer bejtimmten Lectüre fprad.
löslich follte ein fabelhafted Ding entzmei fein, nämlih der „Schwung:
riemen“ der Kutſche und zwar nur von dem übernatürlichen Gewicht der
Brieffäce, die man nun fohon drei Tagereifen meit gefchleppt hatte. „Grade
an diefer Stelle“ fagte der Conducteur, „ift der Ort, wohin die Zeitungsſäcke
adrejfirt find, die für die Indianer ausgeladen werden follten, um fie ruhig
zu erhalten. Es ift ein wahres Glüf,; denn wir haben es fo verdammt
dunkel, daß ich unverfehend dran vorbeigefahren fein würde, wenn der
Shmwungriemen nicht gerifjen wäre.“ Alle traten hinzu und halfen die Poſt—
füde herausholen. Als Alles heraus war bildete es eine große Pyramide
neben der Straße. Nun wurde ed im Innern ded Wagens bequem. Auf
Anordnung ded Conducteurd wurden die Boftpadete bis zur halben Höhe
des Wageninnern aufgeftapelt, die Site heruntergeflappt und fo ein prächtiges
ebened Bett gewonnen. „E38 war jest die Morgendämmerung eingetreten
und als wir unfre eingefchlafenen Beine ihrer vollen Länge nach auf den
Poſtſäcken audftredten und durch die Fenfter über die weite grüne Raſen—
einöde, die in Fühlen, pulverraudartigen Nebel gekleidet war, hinfchauten, wo
am öftlichen Horizont die Sonne erwartet wurde, nahm unfer vollfommenes
Wohlbehagen die Form einer ruhigen und befriedigten Ekitafe an. Die Poſt
wirbelte weiter in rafhem Gange, der Ruftzug ließ die Vorhänge flattern
und hob und in erheiterndfter Weiſe die Rockſchöße auf, die Wiege ſchwankte
und fchaufelte prächtig, da8 Trappeln der Pferdehufe, das Knallen der Peitſche
des Poſtillons und fein „Hü, Huſſa!“ waren Mufif, der vorüberfegende Erd-
boden und die walzenden Bäume fchienen und beim Vorbeifaufen ein ſtummes
Hurrah zugurufen und dann zu erfchlaffen und und mit ntereffe oder Neid
oder fonft etwas nachzubliden, und als wir fo dalagen und die Pfeife des
Friedens rauchten und al’ diefe Pracht mit den Jahren mühfellgen Stadt-
leben® , die ihr worausgegangen waren, verglichen, fühlten wir, daß ed nur
ein vollftändige® und ganz befriedigende? Wohlbefinden in der Welt gab,
und daß wir dies gefunden hatten.“
So erreichten fie die Grenzen von Nebraska, 180 Meilen von St. Joſeph.
Die Gegend ift eine Einöde, das einzige Thier, dad man trifft, das „Eſele—
Kaninchen“, die einzige Pflanze der „Salbei-Bufh*, der mie ein verzmergter
Eihbaum überall in der meiten Sandwüfte feine Wurzeln treibt, und dem
hierher verfchlagenen Wanderer Alles in Allem ift: ihm als Wegweiſer dient,
Teuerung und Holz zu warmen Mahlzeiten bietet, nur nicht die Mahlzeit ſelbſt.
Denn nur Efel und Kameele vermögen auch Salbei zu verzehren wie Alles
andere, Diefe Behauptung giebt Mark Twain Anlaß zu einer köſtlichen
Abſchweifung. „In Syrien“, fagt er, „an den Quellen ded Jordan nahm
einft ein Kameel meinen Ueberrod, während die Zelte aufgefchlagen murden,
und unterfuchte ihn über und über mit Eritifchem Auge und mit fovtel In
terefje, ald ob ihm die dee vorſchwebte, ſich eben fo einen machen zu laflen,
und dann, nachdem es fertig damit war, fih ihn als Kleidungdftüd einzu:
prägen, begann e8, ihn als ein Stüd Nahrung zu betrachten. Es ftellte
feinen Fuß auf ihn und pflüdte mit feinen Zähnen den einen Aermel ab,
faute und Faute an ihm herum und nahm ihn allmählich zu fih, und bie
ganze Zeit über öffnete und fchloß es feine Augen in einer Urt religiöfer
Verzückung, als ob es niemals in feinem Leben etwas fo Gutes gejchmedt
hätte ald einen Ueberrock. Dann ſchmatzte e8 ein paar Mal mit den Rippen
und reichte nach dem andern Wermel. Hierauf verfuchte es zunächſt den
Sammetfragen und lächelte dazu ein fo zufriedenes Lächeln, daß Elar zu fehen
war, es betrachtete den als den zarteften Theil am eimem Ueberrod. Darnach
verſchwanden in feinem Maule die Schöße in Geſellſchaft einiger Zünd—
hütchen, etlicher Stüde Huftenzudfer und eines Klumpen Feigen-Pafta aus
Konftantinopel. Und dann fiel meine Zeitungseorrefpondenz heraus und &
verfuchte ed auch damit — Briefe im Manufertpt, die ich für die Blätter in
der Heimath gefchrieben hatte. Aber jest war ed auf gefährlichem Boden.
Es ftieß in diefen Documenten auf ſolides Wiffen, welches ihm ziemlih
ſchwer im Magen lag, und gelegentlich verfpeiite eö einen Wis, über den «8
fich vor Lachen fchüttelte, bi ihm die Zähne wadlig wurden. Die Sade
fing an, gefährlich für mein Kameel zu werden, aber es hielt mit gutem
Muth und hoffnungsvoll feft, was es ergriffen hatte, bis es zuleßt über
Behauptungen zu ftolpern begann, die felbft ein Kameel nicht ungeftraft
verfchluden fann. Es begann zu würgen und nad Luft zu fchnappen, die
Augen traten ihm aus dem Kopfe, feine Vorderbeine fpreisten fih, und in
etwa einer Biertelminute fiel es um, fo fteif wie die Schnitbanf eines
BZimmermannd, und farb nach einem unbefchreiblich ſchweren Todeskampfe.
Ih ging hin und zog ihm das Manufeript aus dem Maule und fand, daß
337
dad empfindfame Thier an einer der fanfteften und mildeften thatfächlichen
Behauptungen erſtickt war, die ich je einem vertrauensvollen Publikum vor-
gelegt habe.“
Zu einer der brillanteften Schilderungen giebt aber Mark Twain die erfte —
und ſpäter fortgefeßte Befanntfchaft mit dem Prairiewolf, Cayote, Veranlaſſung.
„Der Cayote“ fagt er „ift ein langes, ſchmächtiges, Frank und trübfelig aus»
ſehendes Gerippe, über das eine graue Wolfshaut. gefpannt ift, ein leidlich
buſchiger Schwanz, der allezeit mit einem verzweifelten Ausdrud von Noth
und Elend niederhängt, ein ängftliches, tüdifche® Auge und ein langes ſcharf—
geſchnittenes Gefiht mit ein wenig audeinanderftehenden Lippen, welche die
Zähne fehen Iafjen. Ueber das ganze Thier geht ein Ausdrud wie Schleichen
und fih Duden. Der Cayote ift eine Iebende, athmende Allegorie der Noth.
Er ift ftet? hungrig. Er iſt ſtets arm, hat nie Glück und nirgends Freunde.
Die niedrigften Gefchöpfe verachten ihn, und felbft die Flöhe würden ihn ver-
laffen, wenn ein Belocipede käme, auf das fie fich fegen könnten. Er ift fo
muthlos und feig, daß jogar, während feine hervortretenden Zähne eine Drohung
fein wollen, das übrige Gefiht dafür um Verzeihung bittet. Und wie garftig
er audfieht, woie.räudig, rippendürr und -grobhaarig, wie verwimmert! Wenn
er und fieht, fo hebt er ein wenig die Lippe und läßt feine Zähne biiten,
dann dreht er fi ein wenig aus der Richtung, die er verfolgt hat, ſenkt den
Kopf ein biächen und fchlägt mit leifem Fuß einen langgeſtreckten Trab durch die
Salbei-Büfche ein, wobet er von Zeit zu Zeit einen Blick nach und über die
Schulter wirft, bis er ungefähr fo weit entfernt ift, daß man ihn nicht leicht
mit dem Piſtol erreichen kann. Dann hält er inne, betrachtet und und über-
legt fih die Sache. Darauf trabt er wieder fünfzig Schritt weiter — dann
nochmals fünfzig Schritt, worauf er wieder ſtill fteht. Zuletzt miſcht ſich die
graue Farbe feines dahingleitenden Körperd mit dem Grau der Salbet-Büfche
und er verjchwindet. — Dies Alles gefchteht, wenn mir feine Demonftration
gegen ihn machen. Aber wenn wir das thun, fo entmwidelt er ein lebhafteres
Intereffe an feiner Abreife, elektrifirt augenblidlich feine Werfen und bringt
ein ſolches Stüf Grund und Boden zwifchen fi und und unfere Waffe,
dag wir, während mir den Hahn geſpannt haben, ſchon fehen, daß wir eine
Miniebühfe brauchen, daß wir, während wir ihn In der Schußlinie Haben,
eine gezogene Kanone bedürfen, und daß wir, während wir ihn auf dem
Korne haben, und fagen müſſen, daß nichts ald ein ungewöhnlich Tanggezadter
Blisftrahl ihm da, wo er jest iſt, etwas anhaben könnte. Aber wenn man
einen fohnellfüßigen Hund auf ihn losläßt, fo wird man ebenfo viel Vergnügen
davon haben, vorzüglih, wenn e8 ein Hund ift, der eine gute Meinung von
fi hat und fo erzogen fit, daß er denkt, er weiß einigermaßen, was Geſchwin⸗
digkeit ift. Der Cayote geht dann mit fanftem Schwung in u. feinen
Grenzboten IV. 1874,
Sn —
338
täuſchenden Trab über und ſendet immer nach einem Weilchen ein trugvolles
Lächeln über feine Schulter, welches diefen Hund mit Zuverficht und meltlichem
Ehrgeiz erfüllt und bewirkt, daß er feinen Kopf noch tiefer nach dem Boden
fenft und feinen Hald noch mehr nad vorn ſtreckt und noch grimmiger Feucht
und feinen Schwanz noch gerader hinausftehen läßt und feine wüthenden Beine
mit noch wilderer Naferei bewegt und eine immer breitere, höhere und didere
Molke von Müftenfand aufmwühlt, die hinter ihm raucht und feine lange Spur
quer über die ebne Fläche bezeichnet. Und in diefer ganzen Zeit ift der Hund
nur kurze zwanzig Schritt hinter dem Cayote, und wenn es das Heil feiner
Seele gälte, er begreift nicht, mad es it, daß er ihm nicht merklich näher
fommen fann, und er fängt an, ärgerlich zu werden, und ed macht ihn toller
und immer toller, fehen zu müſſen, mie der Cayote fanft hingleitet und nie
mals Feucht oder ſchwitzt oder zu lächeln aufhört. Immer hitiger und bisiger
wird er, wenn er fiebt, wie fchmachvoll er von einem volllommen Fremden
hinters Licht geführt worden und was für ein unedler Schwindel diejer lang-
geſtreckte, rubige, leifetretende Trab if. Und nun merkt er zunächft, daß er
erfchöpft zu werden anfängt, und daß der Cayote feine Geſchwindigkeit zu ver-
mindern hat, wenn er ihn nicht davon laufen foll, und jet wird diefer Stadt-
hund ernftlich toll, und er fängt an, ſich aufs Weußerfte anzuftrengen, zu
weinen uhd zu fluchen, den Sand mit feinen Pfoten noch höher empor zu
werfen und dem Cayote mit concentrirter und verzmeifelter Energie nachzu—
jagen. Diefe Anftrengung bringt ihn ſechs Fuß hinter den dahingleitenden
Feind und zwei Meilen von feinen Freunden weg. Und nun, in dem Augen:
blide, wo eine milde neue Hoffnung fein Seficht erhellt, dreht fich der Cayote
um und lächelt ihm noch einmal freundlich zu, wobei ein Etwas in feiner
Miene Liegt, das zu fagen foheint: „Na, ich werde mich wohl von Dir lo
reißen müſſen, mein Junge — Geſchäft ift Gefchäft, und es geht nicht, daß
ih den ganzen Tag auf diefe Art mit Narrenspoffen vertrödle* — und ſo—
fort hört man ein Saufen und das plötzliche Hindurchfahren eined Tangen
Krachs durch die Atmoiphäre, und fiehe da, jener Hund ift einfam und allein
mitten in einer unermeßlichen Einöde. Es ſchwimmt ihm vor den Augen.
Er bleibt ftehen und fieht fi um, Hettert auf den nächſten Sandhügel und
haut in die Ferne, fchüttelt nachdenklih den Kopf und kehrt dann, ohne
ein Wort zu fagen, um und jagt nad) feiner Gefelfchaft zurüd, wo er eine
demüthige Stellung unter dem hinterften Wagen einnimmt, ſich unausfpredlid
gemein vorkommt, beſchämt ausſieht und feinen Schwanz eine halbe Woche
auf halbem Mafte trägt. Und wenn ein Jahr nachher etwa wieder ein großed
Gelärm und Gefchrei nad) einem Cayote lo8bricht, wirft diefer Hund nur einen
gelafinen Bli nach diefer Richrung und bemerkt offenbar zu ſich: „Sch glaube,
ih mag nichts wieder von der Paſtete.“
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Mir haben, um diefe Naturfchilderungen im Zufammenhang vorzutragen,
den Gang der Reiferoute für einen Augenblick verlaffen. Schon bei der erften
Frühſtücksſtation der Wildnig hatten unfere Reifenden reichlich Gelegenheit
wahrzunehmen, daß fie „die Staaten“ längſt hinter fih Hatten, und in die An—
fünge oder Außerften Ausläufer menfchlicher Kultur fi) vorgewagt hatten.
„Die Stationdgebäude waren lange niedrige Hütten von ſchmutzfarbenen, an
der Sonne gedörrten Ziegeln, die ohne Mörtel aufeinander gelegt waren.
Scheunen, Ställe für 12 bis 15 Pferde und ein Speifezimmer für Paffagiere
in einer Hütte machten das innere aud. Um dur die Thür zu kommen,
mußte man ſich büden. An der Stelle des Fenfterd war ein vieredfiged Koch
in die Wand gefchnitten, aber fein Glas darin. E3 gab feinen Ofen, aber
die Feuerftelle diente für alle nothwendigen Zwecke. Es gab feine Simfe,
Tellerbretter oder Cloſets. An der Thür der Höhle des Stationswirthes
fand außen ein blechernes Waſchbecken auf dem Boden. Daneben befand
fih ein Eimer mit Waffer und ein Stüd gelbe Riegelfeife, und von der Dach—
traufe hing ein rauhes blaumollne® Hemd und deutete an, daß man fich bier
abtrodnen konnte — aber es war des Stationdwirthed Privathandtuh, und
nur zwei Perfonen von der ganzen Gefellihaft durften wagen, fich feiner zu
bedienen: der Poftilon und der Conducteur. Der Iettere wollte das nicht
aus Schieklichfeitägefühl, der erftere wollte e8 nicht, weil e8 ihm nicht beliebte,
die Anerbietungen eines Stuttonswirthed zu ermuthigen. Bon dem Spiegel-
rahmen hing an einem Bindfaden die Hälfte eine? Kammes herab — aber
wenn ich die Wahl hätte, diefen Patriarchen zu ſchildern oder zu fterben, fo
glaube ich, ich mürde mir gleich ein paar Särge beftellen.“ Diefen Berhält-
niffen entfprach natürlich auch das Frühſtück, welches der Wüſtenwirth auf-
tifchte, „Er fäbelte für jeden Mann ein Stück Sped ab, aber nur erfahrene
alte Kunden machten fih daran, es zu eſſen; denn es war condemnirter
Armee-Speck, mit dem die Vereinigten Staaten nicht einmal ihre Soldaten
In den Grenzfort® füttern wollten, und die Voftgefelihaft billig gekauft
hatte, um ihre Paſſagiere und Dienftleute damit zu nähren. Es ift möglich,
dag wir diefen condemnirten Soldaten «Sped weiter draußen auf den Ebnen
ald in der Station, in die ich ihn verlege, angetroffen haben, aber ange
troffen Haben wir ihn, dem läßt fich nicht widerftreiten. Dann ſchenkte er
und ein Getränf ein, welches er „Stumgullion“ nannte, und es tft fchmer,
fih vorzuftellen, daß er nicht Infpirirt war, als er e8 benannte Er gab
allerdings vor, Thee zu fein, aber es war zu viel Schüffelfpüliht, Sand
und alte Speckſchwarte drin, ala daß der intelligente Neifende ſich hätte
täufchen laſſen. Er hatte feinen Zuder, feine Mil, ja nicht einmal einen
Löffel, um jene Ingredientien damit umgurühren. Wir fonnten weder das
Brot noch den Speck effen, noch den „Slumgullion“ trinken.“ Er koftete aber
340
auch ungenofien einen Dollar pro Mann. Diefe Scene giebt Twain natürlich
Gelegenheit, die damalige Mühfal feiner Reife in Vergleich zu ſetzen zu einer
heutigen Eifenbahnfahrt „quer über den Continent“.
Alles deutet darauf Hin, daß unfere Geſellſchaft fi dem Ziel der Tangen
Reife nähert. Längſt find die fech3 flinfen Pferde des Poſtwagens mit eben-
foviel noch rafcheren Maulthieren vertaufht. Bon Julesburg an drehten fid
zwei Drittel der Unterhaltung zwifchen PBoftillonen und Gonducteuren um
einen Menſchen Namens Slade, der ald Typus für jene wenigen Ausermähl:
ten gelten kann, die unter einer Bevölferung von „Desperados“ die Herculed
arbeit verrichten, einen Schimmer von Rechtéordnung zu erhalten, und der deß—
halb ringsum wie ein Halbgott verehrt und mit peinlichem Grauen angebetet
wird; denn nur dur Menfchenopfer Fonnte er hier den Anfang friedlicher
Zuftände begründen; nur durch Menfchenopfer feine Autorität erhalten. Sehe
undzwanzig Nebenälichter hat er ausgeblaſen, ehe er zu diefer Stufe des all.
gemeinen Vertrauens ſich auffhmwang, auf welcher Twain ihm begegnet. Und
er verläßt Slade glücklichermeife auch in einem Zuftande, in dem er blos für
fehdundzwanzig ausgeputzte Lebenslichter Nechenfchaft zu geben hatte. ber
freilich dabet bemendete es nicht und Stade war meit davon entfernt, fid
gegen dad Ende feiner Raufbahn zu einer Aufnahme unter die Olympier vor:
zubereiten. Er zog vor, ſich den Trunk anzugewöhnen, und in diefem Zu-
ftande fo gräulich zu toben und gemeingefährlichen Landzwang zu üben, daß
dem geheimen Bigilanz-Comite fhlieglich nicht übrig blieb, als den Wetter
der Gefelihaft a. D. an einem Balken aufzuhängen. Indeſſen gerade der
Realismus und die Naturwahrheit, mit der Slade gezeichnet it, macht ihn
zu einem der bedeutfamften Charaktere, denen wir auf diefer Reife begegnen.
Er erinnert ung lebhaft an Bret Harte's werthvolle Strolche.
Twain nähert fi dem Herzen der Felfengebirge, dem Südpaß, der Un-
geficht® des ewigen Schneed der nordamerikaniſchen Alpen überfhritten wird.
Der volle Ernft, den die Ahnung der Emigfeit, der Begriff unermeßlicher
Fernen erzeugt, tritt ihm bier auf die Rippen. „Und jest endlich waren wir
richtig in dem berühmten Südpaffe und rollten luſtig über der gemeinen
Melt hin. Wir befanden uns auf der höchften Stelle der großen Kette der
Telfengebirge, nad der wir Tag und Nacht emporgeflettert, geduldig, unab-
läffig emporgeflettert waren, und um und waren Bergfönige verfammelt, die
zehn, zwölf, felbft dreizehntaufend Fuß Hoch waren — ftolze alte Burſche,
die fi) büden müßten, wenn fie den Mount Washington im Zwielicht ſehen
wollten. Wir waren in einer folchen Iuftigen Höhe über den dahinfriechenden
Bevölferungen der Erde, daß es, wenn die und die Ausficht fperrenden Weld
hörner zur Seite wichen, dann und wann ſchien, als Fönnten wir ringsum
weit in die Ferne fehen und den ganzen großen Erdball betradhten, mie er
341
fih mit feinen Nebelbildern von Bergen, Seen und Kontinenten durch dag
Geheimnig de fommerlichen Dunftes Hinftredte. An einer Stelle konnte
man unter fih auf eine Welt immer Fleiner werdender Felshörner und
Schluchten bliden, die hinab und nad einer verfchmimmenden Ebne mit einem .
Faden darin, der eine Straße war, und Federbüfcheln, die Bäume waren,
binführten, — ein hübſches Bild, mie es fo im Sonnenschein fihltef; aber
ein dunkles Etwas fchlich ſich darüber und verbüfterte feine Züge tiefer und
Immer tiefer mit dem finftern Blick eines heranziehenden Gewitter, und jetzt,
während fein Nebel oder Schatten die Mittagshelle unfered® hohen Stand:
orted unterbrach, fonnte man beobachten, wie da unten der Sturm losbrach,
und ſehen, wie die Blite von Gipfel zu Gipfel hüpften und der Strichregen
an den Wänden der Bergfchluchten hinzog, und den Donner rollen, krachen
und brüllen hören. Wir rollten Iuftig weiter, und alsbald kamen wir auf
dem eigentlichen Gipfel an eine Quelle, deren Wafjer durch zwei Mündungen
abfloß und nach zmei verfchiedenen Richtungen weiter ftrömte. Der Conducteur
fagte, daß einer der Bäche, auf die wir binfahen, juft eine Neife weſtwärts
nah dem Buſen von Californien nnd dem Stillen Meere anträte, die durch
Hunderte, ja Taufende von Meilen wüſter Einöden führte. Er fagte, daß
der andere feine Heimath unter den Schneegipfeln verließe, um eine ähnliche
Reife, aber nad Dften, zu maden, und wir wußten, daß lange, nachdem wir
das fimple Bächlein vergeffen, e8 immer noch feinen mühfeligen Weg an den
Gebirgsflanfen hinunter und auf dem Grunde von Schluhten und zmifchen
den Ufern des Mellowftone fuchen werde, daß es ſich allmählich mit dem breiten
Mifouri verbinden und durch unbekannte Ehnen und Wüſten und durdh nie
beſuchte Wildniſſe fließen, dann eine lange und unrubige Pilgerfahrt zwiſchen
verfunfenen Baumftämmen, Wradd und Sandbänfen machen, in den Miffiifippi
einmünden, die Werften von Saint Louis befpülen und immer weiter jtrömen
würde, über Untiefen und durch felfige Canäle, dann durch endlofe Ketten
grundlofer und weiter Einbuchtungen, die mit ununterbrocdhenen Wäldern
eingefaßt find, dann durch geheimnißvolle Seitenwege und verborgene Durch—
ginge zwifchen waldigen Inſeln, dann wieder durch Reihenfolgen von Ein-
buchtungen, die aber jest ftatt der düftern Wälder Einfaffungen von glän-
jendem Zuderrohr haben, dann an Neuorleand vorüber und noch anderen
Ketten von Einbuhtungen — und zulegt nad zwei langen Monaten voll
täglicher und nächtlicher Erfchöpfung und Aufregung, voll Vergnügen, Aben-
teuern und furdhtbarer Gefahr, von vertrocdneten Kehlen audgetrunfen, von
Pumpen entleert, von Verdunſtung betroffen zu werden, in den Golf fließen
und zu feiner Ruhe eingehen werde am Bufen der tropifchen See, um niemals
die heimifchen Schneegipfel wieder zu ſehen oder zu bedauern, daß es fie ver-
laſſen. Ich befrachtete ein Blatt mit einer nur gedachten Botſchaft an die
312
Freunde daheim und ließ e8 in den Bach fallen. Ich klebte feine Poſtmarke
darauf, und fo blieb es, ald nicht frei gemacht, irgendwo unbefördert.“
Bet den eingehenden Mittheilungen über den Staat, die Propheten und
den Glauben der Mormonen, welche die Grenzboten (1872, IV. Quartal)
gebracht haben, Könnte ed überflüffig erfcheinen, mit Mark Twain in ver
Salzftadt zu verweilen, dem erften Orte, an dem er feit St. Joſeph mehr
tägigen Aufenthalt nahm. Allein jene Abhandlungen in diefen Blättern
waren ernft und gravitätifch — ſoweit das bei dem Stoffe überhaupt mög.
lih war. Mark Twain dagegen ift Faum irgendwo fo luſtig aufgelegt auf
feiner weiten Reife, als in der Heimath „der Heiligen vom jüngſten Tage,
der Burg der Propheten, der Hauptftadt des einzigen abfoluten Alleinherr:
ſchers in Amerifa — der Großen Salzfee-Stadt.* „Died war für und nad
allen Richtungen und Beziehungen ein Märchenland, ein Land voll Zauber,
voll Kobolde und fchauerlichen Geheimniffen. Wir empfanden eine Neugier, die
jede® Kind hätte fragen mögen, wie viel Mütter e8 habe, und ob es fie alle
einzeln aufzählen könne, und es ging und immer durch und durd), wenn fid
an einem Wohnhauſe, während wir vorübergingen, die Thür öffnete oder ſchloß
"und ung einen Bli auf menſchliche Köpfe, Rüden und Schultern thun ließ;
denn wir fehnten und fehr nach einer ordentlichen und genügenden Betrachtung
einer Mormonenfamilie in ihrer ganzen umfaffenden Reichlichfeit, und geordnet
nad) den concentrifhen Ringen ihres häuslichen Kreiſes. Die Stadt liegt am
Rande einer ebnen Fläche von der Ausdehnung des Staated Connecticut und
duckt fi) an den Boden unter einer fi Frümmenden Wand mächtiger Berge,
deren Häupter fi unter den Wolfen verbergen, und deren Schultern den
ganzen Sommer hindurch Nefte des Winterfchnees tragen. Bon einer diefer
ſchwindelerregenden Höhen zmölf oder fünfzehn Meilen davon gefehen, wird
die große Salzfee- Stadt matter und immer Eleiner, bis fie an ein Kinder
ſpielzeug Dörfchen erinnert, da8 unter dem majeftätifchen Schutze der hinef-
fhen Mauer ruht. Auf einigen diefer Berge im Südmeften hatte es zwei:
Wochen lang jeden Tag geregnet, aber in der Stadt war Fein Tropfen ge
fallen. Und an heißen Tagen gegen Ende ded Frühlingd und in den erften
Wochen des Herbites Fonnten die Bürger aufhören, fih Kühlung zuzufächeln
und zu murren, und ausgehen und fich dur Hinfchauen auf einen glorreichen
Schneefturm abkühlen, der in den Bergen rumorte. Ste konnten es in diejen
Sahreszeiten jeden Tag aus der Werne genießen, obſchon in ihren Straßen
oder fonftwo in ihrer Nähe fein Schnee fiel. Die Salzfee-Stadt war gejund
— eine über die Maßen gefunde Stadt. Sie erklärten, es gäbe nur einen
einzigen Arzt am Orte und er würde regelmäßig jede Woche zur Verantwor-
tung gezogen, meil er „Eeine erkennbaren Subfiftenzmittel habe’. Sie geben
einem am Salzfee immer gute, folide Wahrheit zu genießen und gutes Maß
343
und guted Gewicht gleichermaßen. Sehr oft, wenn man eine von ihren leid).
teften,, Iuftigiten Alltagsbehauptungen zu wägen wünſchte, würde man eine
Heumage nöthig haben.“
Der Mittelpunkt unfred Intereſſes bietet natürlich der Beſuch bei dem
Mormonenfönig Brigham Joung. Sie gingen dorthin zur Staatövifite, nach.
dem fie weiße Hemden angezogen. „Er fchien ein ruhiger, freundlicher, behä-
biger, würdiger, fich felbit in der Gewalt habender alter Herr von fünfund-
fünfzig oder fechzig Jahren zu fein und hatte in feinem Auge eine janfte
pPfiffigkeit, die wahrfcheinlih dorthin gehörte. Er war fehr einfach gekleidet
und nahm, als wir eintraten, gerade feinen Strohhut ab. Er plauderte mit
unferm Secretär und gemwiflen Regierungsbeamten, die mit und gefommen
waren, über Utah und die Indianer und Nevada und über allgemeine ameri-
fanifhe Angelegenheiten und Fragen. Uber niemald zollte er mir irgend
welche Aufmerkjamkeit, trogdem ich verfchiedene Verſuche machte, „ihn über
die Politik der Bundesregierung und feine hohmüthige Stellung ihr gegen:
über auszuholen.“ Ich dachte, einige von den Sachen, die ich vorbracdhte,
wären ziemlich ſchön. Er aber blickte fih nur in weit auseinander liegenden
Zwiſchenpauſen nach mir um, etwa fo, wie ich eine wohlmollende alte Kae
fh umbliden gefehen habe, um zu erfahren, welches Kästchen fih mit ihrem
Schwanze zu ſchaffen gemacht habe. Bald verfank ich in entrüftetes Schweigen
und blieb jo bis zu Ende fiten, heiß und roth und verwünfchte ihn in meinem
Herzen als einen unmifienden Wilden. Über er war ruhig. Seine Unterhal-
tung mit jenen Herren floß fo fanft und friedlih und mufifalifch Hin wie ein
Sommerbächlein. Als die Audienz beendigt war und wir und aus feiner Ge:
genwart zurüdzogen, legte er mir die Hand auf den Kopf, ftrahlte auf mich
hernieder, ald ob er mich bewunderte, und fagte zu meinem Bruder: „Ab
— vermuthlih Ihr Kind! Knabe oder Mädchen ?" — Es folgen dann einige
Beifpiele von der unumſchränkten Macht diefes Königs.
Mark Twain’3 Aufenthalt in der Ealzfeeftadt betrug nur zwei Tage,
„und fo hatten wir feine Zeit, um die gebräuchliche Unterfuchung bet reffö der
Wirkungen der VBielmeiberei anzuftellen und die üblichen ftatiftifchen Notizen
und Schlüffe zufammen zu friegen, die man beifammen haben muß, wenn
man die Aufmerkfamfeit der Nation nochmals auf diefe Angelegenheit lenken
will. Ich Hatte den Willen, es zu thun. Mit der fprudelnden Selbft-
genügfamkeit der Jugend war ich begierig, mich kopfüber hineinzuftürzen und
bier eine große Reform ins Leben zu rufen — bis ich die mormonijchen
Weiber ſah. Dann fühlte ich mich gerührt. Mein Herz war klüger ald mein
Kopf. Es erwärmte ſich für diefe armen, linfifhen, ungewöhnlich häßlichen
Geihöpfe, und als ich mich abmwendete, um die großherzige Thräne, die mir
ind Auge getreten war, zu verbergen, fagte ih: „Nein, der Mann, welcher
'
= 4 7 7
8* *
7
344
eine von ihnen heirathet, hat eine That chriſtlicher Barmherzigkeit vollbracht,
die ihm ein Anrecht auf den freundlichen Belfal der Menjchheit, nicht auf
ihren harten Tadel verleiht — und der Mann, der fechzig von ihnen heirathet,
bat eine That freigebigfter Großherzigkeit verrichtet, fo erhaben, daß die
Völker in feiner Gegenwart unbededten Hauptes daftehen und ihn fehmeigend
verehren follten. Das Nächftinterefjante iit, fich zu den Heiden zu feben und
ihnen zuzubören, wenn fie über Vielweiberei fprechen, und wie irgend ein
diebäuchtger alter Frofh von einem Welteften oder Bifchof ein Mädchen
heirathet — fie gern hat und ihre Schweiter heirathet — die gern hat und
eine zweite Schwefter heirathet — die gern hat und eine Andere zur Frau
nimmt — die gern hat und ihre Mutter heiratet — die gern hat und ihren
Bater, ihren Großvater, ihren Urgroßvater heirathet und dann hungrig
zurüdfommt und um mehr bittet. Und mie dann da® fohnippifche junge
Ding von elf Jahren vielleicht fein Lieblingsweib wird und ihre eigne ehr
würdige alte Großmutter in ihres gemeinjchaftlichen Eheherrn Werthſchätzung
eine Stufe tiefer nah D 4 binftehen und in der Küche zu fchlafen haben
wird. Und wie diefed fürdhterliche Leben, dieſes Zufammenfteden von Mutter
und Töchtern in ein einziged faules Neft und SHöherftellung einer jungen
Tochter ihrer eignen Mutter gegenüber Dinge find, denen fich die Mormonen:
weiber unterwerfen, weil ihre Religion ihnen lehrt, daß je mehr Frauen ein
Mann auf Erden hat, und je mehr Kinder er aufzieht, defto höher die Stelle
fein wird, die fie alle mit einander in der zufünftigen Welt einnehmen merden
— deſto höher und vielleicht deito wärmer, obwohl fie darüber nicht® zu fagen
ſcheinen. Nach diefen unfern hetdnifchen Freunden enthält Brigham Young’
Harem zwanzig oder dreißig Frauen. Sie fagten, daß einige davon alt ge
worden und aus dem activen Dienfte getreten, aber gut einlogirt und verforgt
feien im — „Hühnerhaufe“, wie fie fih ausdrüdten, im Römwenhaufe, mie die
Mormonen es feltfamer Weiſe nannten. Bei jeder Frau befanden ſich ihre
Kinder, fünfzig alle zufammen. Das Haus war volllommen ruhig und
ordentlih, wenn die Kinder ftill waren. Sie alle nahmen ihre Mahlzeiten
in einem einzigen Zimmer ein, und man fagte, das wäre ein recht glückliches
und gemüthliches Bild. Niemand von und fand Gelegenheit, mit Herrn
Moung zu fpeifen, aber ein Heide Namens Johnſon behauptete, im Löwen—
hauſe gefrühftüdt zu haben. Er gab und eine verrüdte Schilderung vom
„Berlefen der Präfenzlifte” nebjt andern Präliminarien, und von dem Ge
meßel, welches erfolgte, ald die Buchweizenkuchen hereinfamen. Aber er ver:
ſchönerte ein biächen zu viel. Er fagte, daß Herr Young ihm verjchiedene
geicheidte Aeußerungen von feinem „Zweijährigen“ mitgetheilt und dabei mit
einigem Stolze bemerkt habe, daß derfelbe einer der fleifigften Mitarbeiter in
diefem Face für eine der öftlichen Wochenſchriften geweſen, und dann habe
345
er ihm ein® von den Zuderpüppchen zeigen wollen, dad die letzte hübſche
Aeußerung gethan, es aber nicht herausfinden können. Er fuchte unter
den Gefihtern der Kinder herum, Fonnte aber nicht entſcheiden, welched das
rechte war. Endlich gab er es mit einem Seufzer auf und fagte: „Sch
dachte, ich würde das Eleine Ferkel wieder erkennen, aber fiehe da, ih kann
nicht.“ Herr Johnſon fagte ferner, Herr Young habe bemerkt, das Leben ſei
doch ein trauriges, ein recht trauriged Ding, „weil die Freude über eine neue
Hetrath, die man einginge, fo leicht dur) das ungelegen kommende Begräbnip
einer weniger neuen Braut verdorben würde!“
Auch die Statiftif der Ausgaben de3 Young'ſchen Haushaltes ift bier
zum Gegenjtand einiger Abhandlungen gemacht worden. Wir erfahren —
Iheinbar aus des großen Propheten eignem Munde — daß die Ausftattung
der Frauen Young's mit je einer Bufennadel fofort auf 2500 Dollars zu
ſtehen komme und die Beichenfung der hundert und zehn Kinder Young's
beiläufig mit je einer Blechpfeife fofort einen unerträglichen Lärm erzeugt.
„Und denken Sie nur an die Wäfcherrehnung — verzeihen Sie diefe Thränen
— neunhundertvierundachtzig Stüde die Woche! Nein, mein Herr, fo was
wie Sparen giebt es in einer Familie, wie meine ift, nit. Sehen Sie, nur
der einzige Artikel Wiegen — denken Sie 'mal daran. Und Wurmkuchen!
Und Syrup zum Befänftigen! Und Ringe beim Zahnen! Und Bapa-Uhren
zum Spielen für die Kleinen! Und Dinge, um an den Möbeln damit
herumzukratzen! Und Streihhölzchen, die fie eſſen können und Stüde Glas,
mit denen fie fich fohneiden können! Das Kapitel Glas allein fchon würde,
wie ich zu fagen wage, hinreihen, um Ihre Familie zu erhalten“ — Die
Breife in Utah find allgemein ſehr hoch. Unter einem Bierteldollar ift
eigentlich nicht? zu haben, um diefen Preis Fonnte man gerade eine Thon-
pieife befommen, oder eine Cigarre, oder eine Pfirfiche, oder ein Talglicht, oder
eine Zeitung, oder den Barbier oder einen Heinen heidnifchen Schnaps, um ſich
die Hühneraugen damit einzureiben oder Unverdaulichkeit zu hemmen. Ein
junger Mifchling mit einer Gefichtöfarbe wie eine gelbe Nübe, fragte mid,
ob er mir die Stiefel pugen ſollte. Es war am SalzfeerHaufe den Morgen
nah unfrer Ankunft. Ich fagte ja, und er pubte ſie. Dann händigte ich
ihm mit der wohlmwollenden Miene einer Berfon, die Reichthum und Glüd:
jeligkeit auf Armuth und Leiden folgen läßt, ein filberned Fünfcent-Stüd ein.
Die gelbe Rübe nahm es, wie mir vorfam, mit unterdrüdter Rührung und
legte es ehrerbietig In die Mitte ihrer breiten Hand. Dann begann fie ed
zu betrachten, ungefähr wie ein Naturforfcher ein Müdenohr auf dem meiten
Felde ſeines Mikroskops betrachtet. Mehrere Leute vom Gebirge, Fuhrleute,
Voftillone und dergleichen traten heran, bildeten mit und eine Gruppe und
machten ſich an die Unterfuchung des Geldſtücks mit jener —— Gleich—
Grenzboten IV. 1874.
346
gültigfeit gegen alle Förmlichkeiten, welche den Bahnbrecher der Gultur im
Weiten harakterifirt. Bald darauf händigte mir die gelbe Rübe das Fünf.
cent-Stüd wieder ein und fagte mir, ich follte doch mein Geld Tieber in
meinem Portemonnaie als in meiner Seele mit mir herumtragen, dann würde
es nicht fo zufammenfchrumpfen.“
(Schluß folgt.)
Die ſächſtſche Yolitik,
Dresden, 22. November.
Der Artikel: „Ein Beitrag zur Geſchichte der jähfifhen Po—
litik“, den die Preußifchen Jahrbücher von Treitfhfe in ihrem November
heft bringen, wird nicht verfehlen, diesſeits und jenfeit® der grünmeißen Grenz
pfähle ein gewiſſes Auffehen zu erregen. Hier, in der ſächſiſchen Hauptitadt,
bat er natürlich die Kreife, auf welde er feine grellen Schlaglichter wirft,
fehr empfindlich berührt. Die nächte Frage war nad dem Berfafler. Des
beißenden Inhalts wegen, könnte man auf den Heraudgeber der Jahrbücher
ſelbſt, Heinrich von Treitſchke, vathen, diefen „entarteten Sohn“ Sachſens,
der den biefigen maßgebenten Perfönlichkeiten ſchon fo viel Schmerz umd
Aerger bereitet hat; allein es ift nicht Treitſchke's Stil, und der Auffag ent-
hält Manches, was Treitſchke richtiger Hiftorifch feitgeftellt haben würde,
Manded, was ihm, dem fo lange fchon fo gut wie aus Sachſen Erilitten,
faum fo vertraut fein Fann, wie es dem Verfaffer zu fein feheint. Die Wiener
Deutfhe Zeitung, welche den Artifel aldbald eingehend beiprach, glaubt zu
wiſſen, er rühre von einem den ſächſiſchen Regierungskreiſen naheftehenden,
wenn nicht zugehörigen, zugleich im die Geheimniffe des Hofes eingemeihten
Manne ber, einem Bürgerlichen, einem Reichstreuen und in diefer doppelten
Beziehung durch den Gang ver ſächſiſchen Politik tief Verbitterten.
Das Rebtere merkt man allerdings aus jeder Zelle des Artikels. Auch
das läßt fich herausfühlen, dag der Verfaffer fich viel in jenen obern Schich—
ten bewegt, wohl auch manchen Blic hinter die Couliffen gethan hat, wogegen
es wieder frappirt, wie er in der Auffaſſung mander thatfächlichen Vorgänge
des öffentlichen LXeben® in Sachſen weniger fiher, zum Theil fogar übel be
richtet erfcheint. Aber auch feine Kenntnig von der geheimen Gejchichte des
Hofs, des Beamtenthums ift nicht immer ganz zuverläffig, ftüst fi bie
weilen wohl mehr auf unfichere on dit’s ale, wie es fcheint, auf eignes Hören
347
und Sehen. Durch Alles diefed wird jede Vermuthung wegen der Autorſchaft
des Artikels außerordentlich erſchwert, abgeſehen davon, daß es überhaupt in
Sachſen unter den den Hof- und Regierungskreiſen Naheftehenden nur wenig
Vürgerliche giebt, noch weniger Solche, die auf einem fo ausgeprägt anti-
particulariftifchen Standpunkte, wie der Verfaſſer dieſes Artikels, ftehen möch—
ten. Und unter diefen wenigen, wer wäre da, der Neigung, Talent und —
Muth hätte, einen folchen Artikel in ein hierort3 fo verrufenes Blatt mie
Treitſchke's Jahrbücher zu fchreiben !
Doch laſſen mir diefes Näthfel der Verfafferfchaft und wenden wir und
zu dem Inhalte des Artikel! Der Verfaffer meint: die Politik der fächfifchen
Regierung müffe dem räthfelhaft vorfommen, der das Uebergewicht der Ariftos
kratie im ſächſiſchen Staatöleben nicht Fenne Mir fcheint, er legt hierauf zu
jehr den Accent: der Adel ift in allen deutichen Rändern herrfchfüchtig und
er ift überall da übermächtig, wo die Negierungen aus einem oder anderm
Grunde es verfchmähen, ſich auf die liberalen Elemente im Volke, welche
durchſchnittlich im Bürgertum vorwiegen, zu ftügen. Das Beſteeben, die
Stellung der fähfifchen Ariftofratie als eine erceptionelle darzuftellen, verleitet
den Berfafjer zu mancher Einfeitigkeit. So wenn er den Religionswechſel eines
Schönburger Grafen gemwillermaßen als eine Deferenz gegen das Fatholijche
Herrſcherhaus darftellt. Die Schönburger find fo wenig eine® der „der Dis
naftie naheftehenden Adelshäuſer“, dag vielmehr, wegen der Brätenfion der
Chönburger auf eine Urt von Halbjouveränität, zwifchen ihnen und der
Krone Sachſen eine Spannung befteht, die»eben jetzt nahezu in offenen
Kampf ausgebrochen it.
Wichtiger und größtentheild auch zutreffender ift, was der Verfaffer über
die einzelnen Perfönlichkeiten jagt, die in der fächfifchen Politik in den letzten
Jahrzehnten eine Rolle gefptelt haben, beztehentlich noch fpielen. Bor Allem
der Freiherr von Beuſt ift trefflich gezeichnet. Zu feiner für Sachfen fo ver-
bängnigvollen Wirkſamkeit möchte ich zwei Züge nachtragen, die beim Ber
faffer fehlen. Der letztere erklärt die lange Verzögerung des Separatfriedeng
zwiſchen Preußen und Sachen im Jahre 1866 aus angeblichen Bemühungen
der preußifchen Diplomatie, die ſächſiſche Dynaftte zu einer Aufgabe ihrer
Rechte auf das Land, fei es gegen Geldentſchädigung, fei e8 durch einen Terri-
tortaltaufh , zu vermögen. Ich glaube beffer unterrichtet zu fein, wenn ich
fage: jene Verzögerung war weſentlich die Schuld des Herren von Beuft, der
bis aufd Aeußerfte dem König Johann anlag, Feine oder fo wenig ald möglich
Gonceffionen in Bezug auf die Einfügung Sachſens in den Norddeutfchen Bund
zu maden. Daher die entjchiedene Meigerung des preußifchen Kabinets mit
diefem Minifter länger zu unterhandeln, — der zwingende Grund zu Beuft’s
Rücktritt — für welchen der VBerfaffer feinerfeitö Feine Erklärung giebt. Eine
318
andere Einwirkung Beuſt's auf die fächfifchen Verhältniffe, die ich allerdings
nicht ganz fo pofitiv conftatiren fann, wie jene, aber aus Gründen hödhfter
MWahrfcheinlichkeit anzunehmen mich für befugt halte, datirt aus neueſter Zeit.
Ganz kurz vor dem Schluffe des Landtags im Frühjahr d. 3. war Herr von
Beuft in Dresden, präfentirte fih auch auf der diplomatifchen Tribüne jeder
der beiden Kammern. Gerade damald brachten unfre beiden offiziöfen Blätter,
dad Dresdner Journal und die Leipziger Zettung Artikel, welche darauf be—
rechnet waren, in die neugefchloffene Allianz der drei Nordmächte einen Keil
hineinzutreiben, befonderd aber Mißtrauen zwiſchen dem deutfchen Reich einer»
ſeits, Defterreih und Rußland andrerfeit3 zu ſäen. Ich möchte meinen Kopf
vermwetten, daß diefe Artikel dem perfönlichen Einfluß Beuſt's auf die beiden
Nedactionen zu verdanfen, weil beiden nod) immer Günftlinge Beuſt's vor-
ftehen. Ebendamals erfchien auch, wie man fich erinnert, jener auffehenerregende
Artikel in der Augkburger Allgemeinen Zeitung, melcher Defterreih gegen
Rußland und Deutfchland argmöhnifch machen follte, ein Artikel, den man
allgemein, wenn auch natürlich nur indirect, auf Herrn v. Beuft zurüdführte. Der
Artikel in der Leipziger Zeitung verrieth außerdem feinen Urfprung dadurch,
daß er die Vorficht der ci-devant Beuft’jchen Regierung über Defterreih in
Bezug auf deffen Stellung zu Deutfchland und Rußland rühmte, dagegen auf die
Undraffy’iche Aera einen tiefen Schatten fallen ließ. Beide Urtifel wurden bald
darauf in denfelben Blättern in möglichit unauffälliger Weife durch andere
in entgegengefestem Sinne ftillfchweigend zurüdgenommen oder desavouirt.
Man hat fi) — das iſt bezeichnend für unfer officielles Preßregime — von
dem abgefesten ehemaligen Minifter ‚oder feinen Gefchöpfen ein Kukuksei ins
Neſt Iegen laſſen, welches man jetzt fich beeilte hinaudzumerfen, bevor die gefähr-
lihe Brut ausfröche, die Faun zu vermeidende Rüge aus Berlin wegen einer
fo groben Kreuzung der Politit der Reichsregierung.
Die Porträtd der dermaligen Mintiter find im Ganzen gut gezeichnet,
ebenfo die der beiden Führer unferer hocdheonfervativen und hochkirchlichen
Partei, der Herren v. Zehmen und v. Erdmannddorf. Dagegen halte ich
das Urtheil, welches der Verfaſſer über die beftimmenden Momente der ſäch-
fifchen Politif im Allgemeinen, der aufs Reich bezüglichen im Befonderen
fällt, für mancher Berichtigung bedürftig. Hier iſt allernächft ein Moment
außer Acht gelaffen, welches gleichwohl m. E. einen fehr mwefentlihen Antheil
an dem Ganzen der ſächſiſchen Politik hat. Ich meine die traditionelle
Anſchauung der maßgebenden Kreife in Sachſen von der gänzlichen Unwirf-
ſamkeit ftändifcher Abftimmungen für den Beitand des Minifteriumd. Diefe
Anſchauung ift fo feitgemurzelt, fie wird fo zweifellos vom ganzen Beamten-
thum in allen feinen Verzweigungen getheilt, au vom Bürgerthum ſtill—
ſchweigend anerfannt und geduldet, daß, mer etwa bei einer brennenden
Zn en 2 —
349
Frage in den Kammern von einem möglichen Rüdtritt des Minifteriums oder
eined einzelnen Minifterd reden wollte, nahezu für nicht recht bei Sinnen,
allermindeftend aber für einen fehr fonderbaren Schwärmer angefehen werden
würde. Nur die Ariftofratie hat bisweilen verfucht, einen Minifter zu ftürzen,
Indeg wentger durch ein Kammervotum, ald durch eine beiher gehende Agita-
tion gegen den von ihr Verfehmten im focialen Verkehr mit den hödhft-
geftellten Perfonen am Hofe. Mit Rindenau, dem allzu liberal und bürgerlich
gefinnten Minifter, gelang ihr dies im Jahre 1844 wirklich. Beim Landtage
1871/73 machte fie einen folhen Sturmlauf gegen den Minifter des Innern
von Noſtiz-Wallwitz, — nicht wie der Verfaſſer erzählt, bei Anlaß ber
„Berfaffungsrevifion“, vielmehr bei den Organifationdgefegen. Diedmal mif-
glüdte e8, weil die liberale Mehrheit der II. Kammer zu dem von der Ariſto—
fratie angefochtenen Minifter hielt und felbft mit einigen Opfern an ihren
liberalen Wünfchen auf ein AZuftandefommen des Organiſationswerkes hin-
drängte, fo daß die adlichen Frondeurs, wollten fie nicht ihre Hintergedanken
gänzlich verrathen, wohl oder übel auf ein Compromiß eingehen mußten.
Aber wie gefagt, die Ariftofratie würde es nicht unnatürlih finden, wenn
einmal der oder jener aus den Reihen der Ihrigen gleich dem Cincinnatus
vom Pfluge mweggeholt und auf einen Minifterftuhl gefegt würde, und wäre
es auch ein vormaliger Cavalerielieutenant ohne gelehrte Bildung. Auch die
Büreaufratie würde fih, wenn ſchon murrend, darein finden. Dagegen an
ein jog. parlamentarijcheg Miniſterium aus der Mitte des Bürgerthume, dem
die liberale Partei ausschließlich entjtammt “(einen liberalen Adel giebt es
in Sachſen leider nicht), auch nur zu denken, erfcheint ſowohl der Ariftokratie
vie der Büreaufratie ald unerhört, als einfach lächerlich. Die kurze Zeit,
wo das Prinecip der parlamentarifchen Regierung auch in Sachſen factifch
galt (vom 16. Mär; 1848 bis 30. April 1849), war zu kurz, um jene
Tradition zu erfchüttern; auch muß man geftehen, daß das Märzminifterium
die Probe einer auf politifchen Parteigrundſätzen, nicht auf büreaufratifcher
Schulung fußenden Regierung nicht allemege glänzend beftand.
Die ſächſiſche Regierung rechnet fi) daher auch zu Feiner Partei und
nimmt es fehr übel, wenn man ihr eine beftimmte Barteiftellung anmeift;
fie fteht „über den Parteien‘. Das hindert nit, daß fie die eine Partet
(die confervative) mit allen ihren büreaufratifhen Mitteln bei den Wahlen
unterftüst oder doch unterftügen läßt, die andere (die liberale oder die national—
Iiberale) mit allem Eifer, unter Umftänden „bi8 aufs Meſſer“ befämpft —
nichtsdeſtoweniger ift und bleibt fie parteilo®, gleichfam politifch geſchlechtslos,
fie ift nicht8 ala eben „Regierung“. Und daher macht es Ihr nichts aus,
wenn au die grundfäglich zu ihr haltende Partei, oder wenn fie felbit ge-
Ihlagen wird — fie läßt die feindlichen Mächte tief unter ſich grollend
350
einander befämpfen ; fie felbft fteht hoch über diefem Kampfe und regiert fort,
als märe nicht? geichehen. Das iſt eine der fonderbarften „berechtigten
Eigenthümlichkeiten“ Sachſens, an der man feithält, obfchon faft in allen
conftitutionellen deutjchen Staaten, neuerdings fogar in Preußen, das Princip
parlamentarifcher Regierung immer mehr zum Durchbruch gelangt tft.
Um fo mehr tritt natürlih in Sachſen die Perſon und der perfönlice
Mille des Monarchen in den Vordergrund. Und doch auch wieder nidt.
Denn eine zmeite ſächſiſche Tradition ift die, daß der König möglichit menig
die politifchen Handlungen und Entfchliegungen feiner Regierung zu beein
fluffen fcheine. Won den Monarchen Baiernd, MWürtembergd, auch von dem
greifen König Wilhelm hört man öfters, ziemlich präci® und verbürgt, melde
Stellung fie zu der oder jener Frage der inneren Politik einnehmen: in
Sachſen giebt und gab es faſt allezeit darüber bloße Vermuthungen. Der
Berfaffer glaubt nun die politifche Gefinnung und Haltung des gegenwärtigen
Monarchen Sachſens, König, Albert, indbefondere in nationalen Fragen fehr
genau zu wiſſen und präcifiren zu können. Wllein gerade in dieſem Punkte
gehen mir gegen feine Aufitelungen mancherlei Bedenken bei. Zuerſt fehlen
einige Züge zu dem Bilde, die gerade fehr wichtig find, und die der Verfafler,
der fi fo großer Intimität mit allem am Hofe Vorgehenden rühmt, nicht
hätte weglaffen follen. Der Verfaſſer erwähnt die Hinneigung des jüngeren
Zweiges der königlichen Familie zu einem ftrengen Katboliciamus, die Bathen-
Schaft de Papſtes bei dem jüngften Prinzen u. f. w. Allein über die Gegen:
ftelung de3 Königs zu diefen Tendenzen geht er zu raſch hinweg. Er vergißt
anzuführen, daß König Albert feiner Zeit fih über jene Pathenſchaft ala
wenig opportun, nicht eben zuftimmend geäußert hat; daß er mit einem der
wenigen fretfinnigeren Fatholifchen Hoftheologen gern verkehrt; daß er perfönlich,
wie man fagt, in fehr entfchiedener Weife, den Rücktritt eined anderen Hof-
prediger®, der das „Fatholifche Kirchenblatt für Sachſen“ redigirte, von diefer
Stellung betrieb, ald genanntes Blatt fih zum Kämpen der Unbotmäßigfeit
der römtfchen Kirche gegen den Staat machte, daß endlih nur König Albert’8
perfönlidiem Einfluß es zuzufchreiben war, wenn am Sedantage d. %. der
apoftolifche Vicar in Sachſen, Biſchof Forwerk, troß der fanatifhen Ab-
mahnungen des mächtigen Kirchenfürften Ketteler, in der Fatholifchen Hofkirche
hier das Nationalfeſt feierlich mit beging. *)
Ebenfo hat der Verfaſſer unterlaffen, de3 damaligen Kronprinzen Albert
Berhalten bei dem Kampfe um die Drganifationdgefege (die er überhaupt
zum Theil unrichtig darftellt) zu erwähnen. Und doch mar diefes Verhalten
nicht weniger ald den Plänen der Ariftofratie günftig, im Gegentheil
geradezu demonftrativ gegen letztere, und es hat, wie damals wenigſtens hier
) Das hatten auch die „Pr. Jahrb. hervorgehoben, D. Red,
>
351
die allgemeine Anſicht war, weſentlich dazu beigetragen, diefe Pläne zu ver:
eiteln und die ſchon ihres Triumphes fcheinbar ficheren Führer der hoch—
confervativen Partei zum Nüdzug zu nöthigen. Eben diejed thatjächliche
Verhalten des Prinzen bei der erwähnten Gelegenheit fcheint mir aber auch
jened on dit zu widerlegen, welches der Verfaſſer anführt und welches aller:
dings feiner Zeit hier cireulirte: König Albert — damald noch Kronprinz —
habe im Minifterrathe darauf gedrungen, daß die Regierung mit Hülfe von
$ 92 der Berfafjung betreffd des Schulgefeges die Volkskammer majorifire und
fi feft auf die L Kammer flüge, weil, wie er gefagt babe, fonft die in der
U. Rammer vorherrſchende liberale Partei nicht? iligered® zu thun haben
werde, als Sachen in Preußen aufgehen zu laflen.“ — Über wenn der
Prinz diefe Beſorgniß wirklich gehegt hätte, jo hätte er nicht dazu beitragen
dürfen, bei den fo wichtigen Organifationdgefegen den MWiderftand der I.
Kammer zu brechen, der liberalen Partei und dem in diefer Sache mit ihr
gehenden Minifter v. Noftiz den Sieg zu verfchaffen.
Der Berfaffer des Artikels geht fo meit, zu fagen: von jener rücfläufigen
Mendung der fächfifchen Regierungspolitik im Frühjahr 1873 datite eigentlich
die Regierung König Albert's, obſchon er formell diefelbe erft im November
ded Jahres, nach feines Vaters Tode, angetreten. Das heißt: jene rücdläufige
Politik mit allen ihren Confequenzen fet dad Werk des damaligen Kron—
prinzen, jebigen Königs; er fei das eigentliche Agens diefer Politik; die
Minifter hätten fih nur feinem Einfluffe und feinem Andringen gefügt, in-
dem fie von der eine Zeit lang betretenen liberäleren Bahn plößlic in die
gerade entgegengeſetzte einlenkten.
Das ift eine gewagte Behauptung, die nicht ohne die triftigften, thatfäch-
lichen Beweiſe ausgeſprochen werden folltee Conſervativ oder liberal, — ein
König kann Beides fein. Beides hat feine Berechtigung ald grundfägliche
Veberzeugung eines Einzelnen oder einer Partei. Allein wenn in einem Sande
die liberale Strömung vorherrſcht, — und das ift in Sachſen ohne Zweifel
der Fall, — wenn außerdem in einer Zeitperiode die liberale Strömung vor-
herrſcht, — und das Ift in der Gegenwart ebenfo zmeifello8 der Fall, — dann
wäre eine grundfägliche Gegenftellung wider diefe Strömung auf Seiten ded
Monarchen, alfo des oberften entfcheidenden Willens im Lande eine verhäng-
nigvolle Thatjache, ein Confliet, au8 dem es nicht, wie bei der bloßen Gegen-
ftellung eine® Minifteriums, einen Ausweg gäbe.
Ich weiß, daß in manchen politifhen Kreifen Berlins die Anficht getheilt
wird: die fächfiichen Minifter müßten fo fprechen und handeln, wie fie thun,
„um fich zu halten.” Immerhin eine ſchlechte Entſchuldigung für conftitutio-
nelle Minifter, denen die eigene verantwortliche Meberzeugung allein oberjte
Norm ihres Handels fein müßte.
352
Über ich frage wieder, womit beglaubigt man diefe peffimiftifche Anſicht
von den fächhfifchen Dingen? Denn peffimiftifh muß ich fie nennen, weil
fie eben feinen Ausweg aus einer für jeden Staat überaus mißlichen und be
denklihen Lage, einem Zwieſpalt zwifchen Regierenden und Regierten zeigt.
Der Berfaffer Fann für feine Behauptung oder Vermuthung nur feine
angebliche Kenntniß von dem Charakter ded Königs Albert anführen, allen:
falls nad) defjen focialen Berührungen mit Berfonen, die freilich nicht zu den
Freunden liberaler Ideen gehören mögen. Deffentliche, notoriſche Kundgebun—
gen oder Handlungen ded Königs in diefer Richtung nennt er nit. Be
ftimmende Einwirkungen ded König? auf Aete der Gefehgebung oder Ber-
waltung im entgegengefeßten, d. h. liberalen Sinne find mir auch nicht be
fannt. — Das liegt im Gange des conftitutionellen Regierungdapparates;
Kundgebungen aber allerdings einige, und fehr marfante, So jenes fchmeidel-
hafte Rob, welches König Albert aldbald nach feiner Thronbefteigung der
Reipziger Glückwunſchdeputation in Bezug auf die rührige und gedeihliche
Selbftverwaltung ihrer Stadt fpendete und welche damals Hier in der Reſi—
denz fo üßel vermerkt wurde; ferner die fichtlich behagliche Weife, womit der
König, allen Berichten zu Folge, bei feiner bald darauf ftattgefundenen län:
gern Anweſenheit in Leipzig fi dafelbit gegeben und geäußert hat. Leipzig
aber ift für Sachſen wohl eigentlich der Brennpunkt der liberalen und außer
dem der nationalen Bewegung. Auch das tft nicht unbemerkt geblieben und
hat in gewiſſen Hof- und Beamtenkreifen manches Kopfihütteln erregt, daß
der König — troß der bi8 zum „Kampf auf Meſſer“ gefpannten Situation
zwifchen feinem Minifterium und den National-Riberalen — felbft mit nam-
haften Wortführern diejer leteren auf dem Parquet ſeines Hofed nach mie vor
in freundlicher und ungezwungener Welfe verkehrt hat. Bei dem offenen jeder
Berftellung entfchieden fremden Wefen König Ulbert’3, welches auch der Ber-
faffer jenes Artikels hervorhebt, wäre aber dies kaum vereinbar mit einer prin-
zipiell antipodifchen Stellung des Königs zu den liberalen Zeitideen und deren
Trägern. j
Noch bedenklicher Elingt, was im jenem Wrtifel von des neuen Königs
Stellung zum Reihe gefagt it. Wäre dies begründet, dann allerdings er
hielt ein Wort, da8 Miniſter von Noftiz in Teidenfchaftlicher Hite in der
Kammer ſprach, eine verhängnißgvolle Wahrheit. Aber nein und aber nein!
Daß es eine Partei, oder, ſage ich lieber, eine Coterie in Sachfen geben mag,
die fo denkt, will ich nicht bezweifeln; auch nicht, daß diefe Coterie ihren
feinen Groll gern mit der Autorität jenes höchſten Namens bewaffnen möchte.
Zu beklagen hat man vielleicht, daß folche Verfuche nicht energifcher, often-
fibler zurückgeſtoßen und dahin, wohin fie gehören, verwiefen werden. Aber
das ift auch Alles.
353
Klärung der Situation — das iſt's, was und noth thut. Nach innen
und mehr noch gegenüber dem Reiche. Wielleiht hat der Verfaffer jenes Ar-
tifel3 dies bezweckt und dazu freilich fehr draftiiche Mittel angewendet. Wenn
der Urtifel die Folge hat, daß man rechten Ortes einfieht, wie hohe Zeit es
ift, eine ſolche Klärung herbeizuführen, dann können felbft die Mebertreibungen
deöfelben fih für Sachſen heilfam ermeifen.
K. F.
Vom deutſchen Reichskag.
Berlin, den 15. November 1874.
In ſeiner elften Sitzung, der erſten der abgelaufenen Woche iſt der
Reichstag in die Berathung des Bankgeſetz -Entwurfes eingetreten und hat
die erſte Leſung desſelben in drei denkwürdigen Sitzungen zu Ende gebracht.
Denkwürdig dürfen dieſe Sitzungen heißen, denn ihre Verhandlungen gehören
zu den beſten Leiſtungen, welche deutſche Parlamente in ihren glücklichſten
Tagen bisher aufzuweiſen haben. Die vorparlamentariſche Geſchichte des
Bankgeſetz-Entwurfes wollen wir nur in größter Kürze andeuten. Man weiß,
wie in Folge der ftaatlichen Zerfplitterung unter der Bundesverfaffung von
1815 Deutfhland mit privilegirten Banken überſchwemmt worden ift. Diefes
Unmwefen, früher wenig bemerkbar, fteigerte fih unter dem Einfluß des merk:
würdigen Verkehrsaufſchwungs der fünfziger Zahre. Das Wort „Gründer“
hat zwar erft feit dem Jahre 1872 einen üblen Klang befommen. Die erften
Gründer waren aber die Regterungen der deutjchen Kleinftaaten in den fünf-
jiger Jahren, Ihren Bankmonopolen — die allerdings nur auf das Gebtet
der privilegirenden Regierung lauteten, die aber das große deutfche Wirth.
ſchaftsgebiet den privilegirten Bank-nftituten als Jagdrevier erfchloffen, weil
die bereit3 in taufend Adern ftrömende Einheit diefed Gebieted nicht mwillfür-
ih an einer einzelnen Stelle zu unterbinden war — jenen Bankmonopolen
alfo verdanken wir die Entwerthung des Geldes, oder, was dasfelbe ift, die
Steigerung der Waarenpreife, und zahllofe andere Uebelftände. Man hat
von Seiten der Vertheidiger des ausgearteten Bankweſens in Abrede ftellen
wollen, daß jene Mebelftände von dem Zuftand unfered Bankweſens überhaupt,
gefhmweige denn zum größten Theile herrühren. Gerade fo hat man den Moor-
rauch lange Zeit nicht vom Moorbrennen, fondern von zerſetzten Gemittern
und wer weiß noch welchen fabelhaften Dingen herleiten wollen. Weber die
Einwirkung des Bankweſens auf die Cireulationdmittel find nun aber jeht
Grenzboten IV. 1874, 45
354
durch die Bertreter der Reichsregierung beglaubigte Thatfachen, Zahlen von
unanfehtbarer Beweiskraft vorgelegt worden, welche hoffentlich allen myſtiſchen
Schwindel über die Haupturfache unferer wirthichaftlichen Krankheit befeitigen.
Diefer Gewinn der erften Leſung des Banfgefeges dünft uns allein ſchon ein
unfhäsbarer. Kehren mir aber zur Vorgefchichte des Entwurfes zurüd.
Dem Uebel der großen Bank Inftitute, von Heinen Staaten privile⸗
girt, ſuchten Preußen und nach ihm andere Bundesſtaaten durch Verbote der
Banknoten des deutſchen Auslandes zu ſteuern: Verbote, die aus dem oben
berührten Grunde über kurz oder lang immer wieder unwirkſam werden mußten.
Eine der letzten geſetzgeberiſchen Thaten des norddeutſchen Bundes war das
Verbot der Ertheilung neuer Bankprivilegien bis zum Ende des Jahres 1874,
ein Verbot, welches das deutfche Neid vom norddeutihen Bund übernahm
und auf fein ermeitertes Gebiet erftredtte. In den politifch ebenfo troftlofen,
als an wirthſchaftlichem Aufſchwung reichen fünfziger Jahren empfahl die
deutſche Mancheſterſchule — ein Name, den wir als Ehrennamen betrachten,
wenn auch dieſe Schule, ſo wenig als irgend eine andere, das Verſtändniß
ihres Faches erſchöpft hat — als Heilmittel gegen das damals ſchon als
höchſt gefährlich erkannte Uebel des gleichzeitig monopolifirten und doch höchſt
irrationell zerfplitterten Bankweſens die allgemeine Bankfreiheit. Bis auf
wenige unerfchütterliche Adepten, deren nambaftefter wohl Herr Eugen Richter
jein möchte, ift man von dem Glauben an die Univerfalmedizin der individu-
ellen Bewegungäfreiheit gerade für dag Bankweſen am meiften zurüdgefommen.
Die Gründe dürfen wir heute nit erwähnen, um nicht diesmal zu lang zu
werden. Abgefehen von der Frage nach der nothwendigen Einwirkung deö
Staated auf das Bankweſen bat ſich in Deutſchland eine Anfiht mehr und
mehr Bahn gebrodhen, al® deren erfter Vorfechter Profeſſor Tellkampf zu
Breslau lange Zeit allein ſtand, welche das Weſen der Zettelbank im Grunde
beſeitigen will. Danach ſoll es nur noch Banknoten mit voller Deckung durch
das Edelmetall der landesgeſetzlichen Währung geben. Solche Noten find,
wie man richtig hervorgehoben bat, feine Banknoten, fondern Depofitenfcheine.
Diefer Anficht fteht jedoch die entgegengefeßte ältere, zwar nicht mehr in Allein-
herrſchaft, aber nod in eifrig verfochtener Geltung gegenüber, welche in den
Banknoten das mohlthätige Mittel fieht, dem Verkehr wohlfeiles Geld und
durch) dasſelbe beftändig wachfende Flügel zu geben.
Mitten in diefen Kampf der Theorie, der zugleich ein Kampf materieller
Intereſſen von vielfacher Geſtalt und allerbeträchtlichftem Umfang ift, fällt
nun die Aufgabe des deutfchen Reiches, das Syſtem einer einheitlichen Bank.
politif zum erftenmal zu ergreifen und durchzuführen, nicht etwa auf einer
tabula rasa, fondern auf dem Boden eines im üppigften und zuglei
irrationellſten Wachsthum ftehenden Bankweſens. Dazu kommt aber noch,
355
daß das Syſtem einer neuen Bankpolitif begründet werden muß im Augen-
blick eines Währungswechſels, der allezeit für eine der ſchwierigſten Maß—
tegelm gegolten hat. Die Gefichtöpunfte der deutjchen Bankpolitit müffen
in Folge davon beeinflußt fein durch eine doppelte unabmweisbare Aufgabe:
erſtens durch die Aufgabe, den Vollzug des Währungsmechfeld zu unterftüsen,
und zmeitend durch die eng damit zufammenhängende, aber doc) jelbitändige
und in eine weite Zukunft fich erſtreckende Aufgabe, die in Deutichland an-
genommene Goldwährung bei der eigenthümlichen Lage des deutfchen Reiches
in einer Uebergangsperiode des europäifchen Verfehrd, und namentlich der
Münz und Währungs: Verhältniffe zu ſchützen.
Die Löſung einer fo vielgeftaltigen und dabei jo folgenreichen und ver-
antwortlihen Aufgabe wurde mit ebenfo allgemeiner Spannung erwartet,
ald fie allgemein für unauffchiebbar erfannt wurde. Die Hauptfragen, auf
welche fih die Spannung richtete, waren: 1) Wie ift um die Monopole der
Territorialbanfen herum zu fommen? 2) Wie fol e8 mit der Ausgabe uns
gededter Noten gehalten werden? 3) Sit, abgefehen von der Rechtäfrage
der territorialen Monopole, eine Gentralifation des Bankweſens wünſchens—
werth?
Als nun in dieſem Sommer, wie man ſagt, etwas vorzeitig, der Geſetz—
entwurf veröffentlicht wurde, welchen das Reichskanzleramt dem Bundesrath
zu unterbreiten gedachte, da war das erſte aber äußerſt raſch vorübergehende
Gefühl das einer gewiſſen Enttäuſchung. Jemehr man aber den Entwurf
ſtudirte, trat an die Stelle des erſten weniger, als man erwartet hatte, groß—
artigen Eindrude, ein Gefühl der Bewunderung für ein Werk wahrhaft
ingentöfen Scharffinned. Denn die fo umfaffende Aufgabe eined deutfchen
Bankgeſetzes ſchien hier gelöft, die Hinderniffe unfhädlich gemacht und doc
nit zermalmt, was eine unverhältnigmäßige Anftrengung erfordert und
vieleicht eine verhängnigvoll nachblutende Wunde zurüdgelaffen haben würde.
Die unbefchränkte Ausdehnung der Notenaudgabe war in Schranken gehalten
duch Auflegung einer fünfprocentigen Steuer auf jede ungededte Note über
einen gemiffen Gefammtbetrag diefer Noten hinaus, Dabei war das Privt-
legium unbefhränfter Notenausgabe, wie es gemwilfen Banken zugefichert,
nicht angetaftet. Anftatt des territorialen Bankprivilegium®, bei welchem die
Dperationen der einzelnen Bank nur mißbräudlic die territorialen Grenzen
überfohreiten konnten, erhielt jede Bank den gefeglichen Umlauf ihrer Noten
im ganzen Neich zugefichert, wenn fie ſich zur Unterwerfung unter gewiſſe
Normativbedingungen verftand, mworunter die Ginlöfung ihrer Noten an den
Hauptplägen des deutfchen Verkehrs und der Austaufch derjelben Noten gegen
die der andern, den reichägefeglichen Normen ſich unterwerfenden Banfen fi
befand. Auf diefe Weife war ohne Gentralifation der Bankinſtitute die ein-
356
heitliche deutfche Banknote nahezu hergeſtellt. Denjenigen Banfen, melde
die reichägefeglichen Normen nicht annehmen wollten, wurde die ernfthafte
Beihränfung auf das Gebiet ihres Privilegtumd auferlegt, und diefe Drohung
fhien fo gemwichtig, daß man als ihre Wirkung die allgemeine Unterwerfung
der Banken unter die Reichsnormen erwarten durfte, auch unter die ein.
greifendfte derfelben, wodurd die Bank einwilligen mußte, daß ihre Befugnif
zur Ausgabe von Banknoten am 1. Januar 1886 durch Beſchluß der Landes
regterung oder des Bundesraths mit einjähriger Kündigungäfrift ohne irgend
welche Entihädigung aufgehoben werden könne. Durch) diefe letztere Beftim-
mung war ohne irgend eine Gewalt nach Ablauf einer zehnjährigen Periode
der Boden für jede angemefjene Neugeftaltung des ee feitend des
Reiches völlig frei.
Die Einwände, melde fich gegen diefen Entwurf doch erhoben, nachdem
derfelbe eine Zeitläng ald der denkbar beite Ausweg aus den gegebenen
Schwierigkeiten angefehen worden, betrafen bauptjächlich zwei Punkte Die
Anhänger der alten Banktheorte, wonach die Banfen das Mittel zur Speifung
des Verkehrs mit mohlfeilem Gelde find, tadelten die zu große Beſchränkung
der Ausgabe ungededter Noten, welche in der fünfprocentigen Befteuerung der
jenigen Noten liege, welche über den contingentirten Betrag audgegeben werden
würden. Man ging jo weit, ald Wolge der plöslichen Beſchränkung der
wohlfeilen Cirkulationdmittel eine allgemeine Handelskriſis zu prophezeien:
Andere Einwände beftritten die Möglichkeit der Beſchränkung derjenigen
Banken auf das Gebiet ihres Privilegiums, welche die Annahme der Reichs—
normen verweigern würden. Diefe Einredner vergaßen aber, daß das Reich
denn doch andere Mittel hat, das Verbot gewiſſer Banknoten durchzuführen,
als früher die Einzelftaaten, und namentlich vergaßen die Einredner, daß dad
Reich bei genügender Fürforge für die Speifung des Verkehrs mit mohl
acereditirten Banknoten das Publikum zur Einfhließung der wilden Bank—
noten zum wirkfamen Bundesgenofjen gewonnen haben würde. Die Wirkungs—
lofigfeit der früheren Banfnotenverbote lag in der Unzugänglichkeit des
Publikums für jene Verbote, und diefe Unzugänglichkeit lag wiederum in
der Berlegenheit um geeignete Zahlungsmittel. Das würde jest ganz
anders fein.
Nah der Aufnahme, welche der Bankgefegentwurf des Reichskanzleramts
in der Preſſe, in der gutachtlichen Yeußerung von Gorporationen und com
petenten Privatperfonen gefunden, nad der Zuftimmung in allen wefentlichen
Thellen, die er im Bundesrath erhalten, durfte man erwarten, daß die Kritik
ded Entwurf im Reichstag ſich weſentlich um den Gegenfag der älteren und
neueren Bankanſicht bewegen, fchließlich aber die im Entwurf vertretene,
357
wenn auch nicht zu allen Confequenzen gelangte neuere Anſicht den Sieg
behalten werde.
Das ift nun ganz anders gefommen. Eine der erften Stimmen nämlich,
die fih ausführlicher über den Entwurf vernehmen ließ, die ded Abgeordneten
Sonnemann, hatte dem Entwurf vor allem die Nichtfehaffung einer Reichs—
bank zum Vorwurf gemacht. Anfangs fand diefer Vorwurf wenig Zuſtim—
mung, denn man fagte fich: eine Reichsbank fett die Befettigung der beitehenden
Bankprivilegien voraus, welche ohne einen halben Gewaltftreih nicht möglich
ift, und doch noch ſchwere Entfhädigungsfummen verfchlingen würde. Herr
Sonnemann behauptete aber, eine ſolche Befeitigung fei gar nicht nöthig. die
Reichsbank könne durch die Wucht ihrer Stellung und ihrer Mittel die Ein-
Ihränfung der Lokalbanken auf das mohlthätige Maß herbeiführen, troß aller
Privilegien der letzteren. Diefe Anficht, die ficherlih großen Bedenken unter-
liegt und welche jedenfalld den Weg der richtigen Normirung des lofalen
Bankweſens als einen erft zu findenden noch nicht zeigt, hat gleichwohl den
Beifall der maßgebenden Fraktionen im Reichstag gefunden, hat die drei
tägigen Verhandlungen der erften Leſung beherrſcht und die größte Ausficht
gewonnen, jchließlich die Majorität zu erhalten. Zwei Motive fcheinen diefe
Stimmung hauptfächlich hervorgebracht zu haben. Das eine, hochpatriotifcher
und erfreulicyer Natur: daß man um jeden Preid auf dem fo vitalen Gebiet
des Bankweſens eine Reichöinftitution haben will; das andere, etwas weniger
Ideal, mehr menfchlich, wenn man bei diefem Wort, wie man zu thun pflegt,
vorzugsweiſe an die menfchlihe Schwäche denkt: der Argwohn, die preußifche
Regierung wolle den Nusen ihres großen und bewährten Banfinftituteg,
eined Inſtitutes, welchem bet der neuen Negelung des Bankweſens der
Lömwenantheil zufallen werde, für fi behalten. Man erkennt fogleih, daß
wir bier dad Gebiet der eigenthümlichen Zumuthungen betreten, welche das
Reich und feine Freunde an Preußen zu ftellen gewohnt find. Preußen wird
durchaus nicht behandelt wie jeder andere Bundeäftaat; wo ed auf Opfer
für das Reich ankommt, foll e8 das Zehnfache leiften. Man fagt wohl, das
Reich ſei nur ein anderer Name für Preußen, was Preußen dem Reich opfere,
opfere es fich felbft in vervollflommneter Metamorphoje. ntipricht dieſe
Meinung aber dem thatfächlichen Lauf, mie ihn die Dinge genommen haben
und nehmen werden? Weil e3 fo fein Eönnte, darum ift es nod
nicht fo.
Halten wir ung an die vorliegende Frage Was verlangt man? Die
Aufhebung der deutſchen Territortalbanfen hielte man für wünfchenswerth,
man ſcheut fich aber vor dem Stück Terroridmud, das dazu gehören würde.
Alſo die Territorialbanten follen beftehen bleiben. Auch die preußifhe? O
bewahre, die preußifche Bank würde eine Reichsbank unmöglich machen, die
358
preußifche Bank, und nur fie allein, muß der Reichsbank nicht nur Plas
machen, fondern zum Opfer fallen. Was feinem Territorialftaat angemuthet
wird, findet man dem preußifchen Staat gegenüber ganz in der Ordnung. —
Auch uns find Reihäfreundihaft und Preußenthum niemald entgegengefest,
wenn beide den rechten Weg wandeln. Wir haben und deshalb über die
Erklärung des preußifhen Finanzminiſters im Reichstag lebhaft gefreut, daß
Preußen das Opfer feiner Bank dem Reiche gegen billige Entſchädigung zu
bringen bereit fei, Preußen allein von fümmtlichen Bundesstaaten. Der preufifche
Finangminifter gab diefe Erklärung wiederholt und beitimmt, jedoch ohne zu
vor der Kritik des Bankgefegentwurfes entgegengetreten zu fein. Er jagte u. a.
anz richtig: „Die Reichsbank, wie fie allein möglich iſt, wenigstens für den
lugenblid, nämlich nicht eine Gentralbant mit ausfchließendem Monopol, fon
dern eine größte Banf unter Fleineren, eine erfte unter ihresgleichen, ift in
der preußifchen Bank im mefentlichen bereit8 vorhanden. Die Yorderung der
Reichsbank läuft auf einen Namen, auf eine Umtaufe hinaus.“ — Der ein
zige Unterfchied der neuen Reichsbank, welcher dem Finanzminiſter bemerklich
gemacht werden Fonnte, bejteht in der unmittelbaren Ausdehnung der Ge
fchäfte derfelben über da® ganze Reich. Unter melden Bedingungen nun die
Ummandlung der preußiſchen Banf in eine Reichsbank ftattfinden, unter
welchen Bedingungen die Territorialbanfen neben der Reichsbank beiteben,
in welche Grenzen die Ausgabe der ungededten Noten bei der Reichsbank
und bei den ZTerritorialbanfen eingefchlofjen werden ſoll, dag Alles find noch
offene Fragen, zu deren förderlicher Vorbereitung allfeitig die Ernennung
einer Commiffion als zwedmäßig erfannt wurde.
Nun aber geftaltete ſich der Schluß der auf einer des Reichstages fo
würdigen Höhe geführten Verhandlung leider zu einem Faſtnachtsſpiel, dad
glüclicherweife den Eindruck der Hauptverhandlung nicht beeinträchtigen fann.
Der Abgeordnete Lasker hatte nämlich in Verbindung mit einigen Mitglie
dern der nationalliberalen und confervativen Fraktionen eine an fich aller
dings nicht nothwendige Motivirung für den Beſchluß einer Commiſſions—
wahl in Form eincd Antrags eingebracht. Danach jollte die Commiſſions—
wahl ftattfinden in Erwägung, daß der vorliegende Geſetzentwurf (eventuell)
durh Aufnahme einer Reichsbank zu ergänzen fei und daß die us
Beitimmungen am beiten durch Vorberathung in einer Commiſſion zu finden,
Der Antrag war in formaler Hinficht überflüffig, weil ein Beſchluß die au
drücliche Feſtſtellung der Motive in der Kegel nicht bedarf. Aber der Ans
trag war andererjeit? vom Gtandpunft der Geſchäftsordnung vollfommen
zuläſſig. Wem das angegebene Motiv nicht behagte, der mochte dagegen
ftimmen und nachher immer noch für eine Commiſſionswahl ohne Bezeichnung
der Motive votiren. Da kam nun Herr Windthorſt, der alle Zeit gewandte,
mit einem artigen Sophisma, deffen Ungrund fo leicht zu erfennen, daß man
dem Urheber nicht zürnen Eonnte. Herrn Windthorit und feinen Freunden
behagt, wie männiglicy befannt, das Reich nicht, und jede neue Reichsinſtitu—
tion verurfacht ihm Befchwerden, die er mit befanntem Humor erträgt, aber
nah Art launiger Patienten befrittelt und bejtichelt. So berief fi denn
Herr Windthorft gegen den Antrag von Lasker und Genofjen auf die Ge-
ſchäftsordnung, welche die Einbringung von Abänderungsvorſchlägen bei der
eriten Leſung eines Gefeges verbietet. Wo waren denn aber Abänderung
vorfchläge® Iſt es nicht die unbedingte Pflicht jeder Commiffion, den Um—
fang der ganzen, in das zu berathende Geſetz einjchlagenden Frage zu erörtern
und zu prüfen? Konnte ed etwas Unverfänglicheres geben, als den Ausfprud:
in dieſes Geſetz fchlägt die Reichsbankfrage ein, und weil die Vorprüfung dier
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fer Frage am beiten in einer Commiſſion zu bewirken it, wählen wir eine
Commiffion! Die Commiffion war unter allen Umftänden verpflichtet, die
Reihäbankfrage zu prüfen, mit oder ohne ausdrüdlichen Auftrag ded Reichstags.
Hielt es der Reichstag für gut, dad Motiv der Commiſſionswahl in diefem Fall
feftzuftellen, fo war dies die unverfänglichite Sache von der Welt. Die Commiifion
mußte die Reichsbankfrage prüfen, aber fie war und blieb völlig frei in der Be—
bandlung derjelben bei dem von ihr vorzuberathenden Gefegentwurf. So war
die ſonnenklare Lage des Antrags, und wenn ein Meijter der Geichäfte wie
Forckenbeck kein Bedenken bei dem Antrag gefunden, fo hätte auch ein blödes
Auge das Licht vorausſetzen können, das ihm noch nicht leuchtete. Der Neich-
H, hätte Herrn Windthorſt und feine Freunde bet ihrem Humoriftifchen
andver mit lächelnder Miene überftimmen follen. Aber in den Reihen ver
Fraktionen, aus melden der Lasker'ſche Antrag hervorgegangen, erhielt Herr
MWindthorft Ueberläufer, die ihn auf einen Augenblick zum Führer der Ma—
jorität de3 Reichsſtags machten. Was waren das für Leberläufer, etwa Defer-
teure der Neichäfahne? D nein, fondern echte deutfche Pedanten, ſchwer—
fällige Denker vom Abgrund tiefer Confufion, Wer kennt nicht Herrn Georg
Befeler von der Paulskirche und von der erften Zeit der preußiichen Kammern
ber? Ein Name von mannichfachem Verdienit, am berühmteften aber dadurd),
daß er jededmal zur ungelegenften Zeit über feine eignen Füße ftolpernd, die
eigne Partei in Verwirrung gebradt. Kaum ift Herr Befeler wieder im
Reichstag, fo fchlägt er nach alter Gemohnheit wieder fein unförmliches Rad
zum allgemeinen Entſetzen und Gelächter. Der Dann war wirflid von der
Verlegung der Geichäftsordnung überzeugt, er ſprach von einer Handlungs—
weife in fraudem ‚legis und beinah von einer Sünde wider den heiligen Geift.
— Ein hübſcher Wis der altgriechiichen Sophiſtik ift fehr erheiternd ing
Plattdeutjche überfegt worden. Ein fchlauer und biederer Landmann mird
von einem Vorübergehenden gefragt: ift der Hund fin Vater? Nach den
mannichfaltigiten Anftrengungen des Geifted antwortet der Pfiffikus gereizt:
ne, id bin dem Hund fin Bater! In diefen Gemütbhäzuftand muß man fi
verfegen, um die Rede des Herren Befeler zu begreifen, der die Fehler der
Zugenden feines niederfächfiihen Stammes hat. Aber wie die Verwirrung
jene Randmannd etwas Anſteckendes hat, fo die Verwirrung des Herrn Befeler.
Er führte Herrn Windthorft durd einige Mitbefangene eine kleine Majorität
u. Der Präfident v. Forckenbeck fand es jedoch außer dem Spaß, in einem
fonnenflaren Falle durch die Majorität der Unfenntnif der Geſchäftsordnung
überführt zu werden, und legte fein Amt nieder. Die Art, nie Herr Windthorit
ih zum Fürfprecher der durch einftimmige Akklamation zu bewirfenden Wieder:
wahl des verehrten Mannes machte, zeigte ihn als galant homme, der wohl
zu unterfcheiden weiß, wo der Scherz aufhören muß, und der erite ijt, die
Folgen eines Scherzes, fobald fie unbequem werden wollen, mit gefälliger und
fiherer Gewandtheit abzuwenden. Herr Befeler aber hat fo tragifch geendet
wie begonnen, und die nationalliberale Fraktion verlaffen, nachdem er in
derfelben einige Vorwürfe hören müffen.
Damit wollen wir für heute unfern Bericht fchließen und die Sikung
vom 21. November, die ihre intereflanten Zwifchenfälle hatte, dem nächiten
Briefe aufiparen, damit der diegmalige nicht zu lang werde. q
—T.
360
Behnahtsbüherfhan.
Die Rundſchau dieſes Jahres über die Bücher, welche fih dazu drama,
den Kleinen zur Weihnacht geſchenkt zu werden, dürfen wir wohl mit’yugr
und Recht beginnen mit der Monatäfhrift „Deutfhe Jugend“ (Berlag
von Alphons Dürr in Leipzig) herausgegeben von Julius Lohmeye
unter künſtleriſcher Leitung von Oscar Pletſch. Vier Bände dieſer Jugend
ſchrift — die unſtreitig unter allen periodiſchen Schriften für die Kinderwelt
weitaus den erften Rang einnimmt — liegen nun abgejchloffen vor und. Bon
fünften Bande find zwei Hefte erjchienen. Wenn man den inhalt der „Deut
ſchen Jugend” von Unfang bis zu Ende durchmuftert, fo darf man freubig |
fagen: fie ift fih immer treu geblieben; derfelbe Ernſt, derfelbe Gefhmad, Die
felbe Vollendung vom erften Heft bis zum letten x. Es gewährt die reinfle
Freude, wenn man fieht, wie bier bedeutende Schriftfteller und hervorragende $
Künftler, unter der Anregung und Leitung des feinfühligen Heraudgeberd,
wetteifern, um in Wort und Bild die fchönfte Sugendzeitfchrift, die wir bee
figen, immer auf derjelben Höhe des Strebens und Vollbringens zu halten“
Und ebenso erfreulich ift die Wahrnehmung, daß ein Verleger fich findet, bee
für das ideale Biel diefed Unternehmen? das rühmlichſte Verſtändniß zeigt,
und dasfelbe aufs freigebigfte unterftügt. Wir find überzeugt: bei allem Bel
fall der Mrefje und der Fachmänner, den dieß Unternehmen von Anfang am!
gefunden hat, tft doch, vom gefcäftlichen Standpunkt geiprochen, lange Zeit ı
mit Schaden gearbeitet worden. Neuerdings bat diefe Uneigennügigfeit im I
Intereſſe der großen Aufgabe, welche die „Deutfche Jugend“ ſich ftellt: „auf |
Geſchmack und Gemüth der Tugend veredelnd zu wirken, ihren vaterländiſchen
Sinn zu beleben und ein finniges Anſchauen der heimifchen Natur anzuregen“
eine bedeutfame Ermunterung erfahren. Das Preußiſche Kultusminifteriume!
hat die Anjchaffung diefea Werkes, dad Abonnement auf dasfelbe, allen Jugend⸗
bibliothefen 2c. warm empfohlen. Wir an unferm Theil, thun unfere Pflicht, -
Indem wir dem deutjchen Bürgerthbum diefe Jugendſchrift abermald dringend
empfehlen. Glücklicherweiſe hält jest faft jede Familie des deutſchen Mittels
ftande® zu ihrer Unterhaltung und Belehrung wenigſtens eine Zeitſchrift
Aber leider ift ed ebenfo wahr, daß dabei — und zwar aub dann, wenn
über die Wahl des zweiten oder dritten Blatte8 berathen wird, da® man
fortan halten fol, — faft ausſchließlich das Unterhaltungd- und Lerninter eſſe
der Erwachſenen in Frage kommt, der Leſe- und Anfchauungstrieb des Kindes
dagegen mit einem gelegentlich geſchenkten Bilder- oder Leſebuch abgefundem -
wird, das die „Herren Eltern“ obendrein felten angejehen haben, ehe es dem
Kinde in die Hand gegeben wird, deſſen Werth fie aljo metften® nad dem
Urtheile Anderer kennen. Jede Familie unferer Mittelftände, die Kinder beſitzt,
und vier Thaler jährlich für Leſe- oder Bilderbücher auszugeben hat, folte
fih Elar machen, daß diefe Ausgabe nicht in die Rubrik der einmaligen außer
ordentlichen Ausgaben des Budgets, fondern in diejenige der fortdauernden
ordentlihen Ausgaben einzuftellen, d. h. dad Abonnement auf eine folide '
Augendzeitfchrift dem Kinde und den Eltern bei weitem förderlicher ift, ala die:
Unterwerfung unter den Zufall, der in Wahrheit bisher die Bibliothef der
Kinder zufammenftellte. Die „deutfche Jugend“ namentlich bietet durch die
Perſon ihres Leiters wie ihrer Mitarbeiter die volle Gewähr dafür, dag In—
halt, Form und Ausführung der Stoffe, die fie bietet, mit vollendetem Ger
ſchmack, und nad einem feiten heilfamen Plane gewählt wird.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Gans Blum in Leipzig.
Berlag von F. 2. Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Legler in Leipzig.
— —
—
— ñttez
2XXXIL. Jahrgang.
1 Die
Grenzboten.
Zeitſchrift
| für
| Solitik, Siteratur und Kunfl.
| N: 49,
| Ausgegeben am 4. December 1874.
| —
| j Inhalt:
N N 361
| Im Silberland Nevada, re Twain (Schluß) . . 367
m.
| PBlaubdereien aus London. Alfred Blum. . . ..... 376
{ Briefe aus ber Kaiferftadt. . . oo oo on 383
Dom beutfden Keichstag. Cr... oo... 0... 389
Weihbnahtöbühefhan. . ... 2... no 2... 395
| Srenzbotenumfälag: Piterarifche Anzeigen.
Hierzu zwei literarifche Beilagen.
RB OR nn.
Leipzig, 1874.
Friedrich Ludwig Herbig.
Man abonnirt bei allen Buhhandlungen und Pofäntern Ded Ins —
Die soeben erschienene No, 48 der Jenaer
Literaturzeitung, im Auftrage der Universität
Jena herausgegeben von Anton Klette, Jena‘,
Mauke's Verlag (Hermann Dufft)
enthält Besprechungen von:
A. Ritschl, die christliche Lehre von der Recht-
fertigung und Versöhnung: von W. Bender. F.
Brandes, der Kanzler Krell: 6. Graue. W. Ende-
mann, Studien in der romanisch-kanonistischen
Wirthschafts- und Rechtslehre: von R. v.Stin-
tzing. A. Wolf, Lucas Geizkofler: von Th. Muther.
Rudolf Vircher, die Fortschritte der Kriegsheil-
kunde: von W. Leube. W. Roth und R. Lex,
Handbuch der Militair-Gesundheitspflege: von
0. Lotzbeck. Reinigung und Entwässerung Ber-
lins: von E. Reichardt. M. Willkomm et J. Lange,
prodomus florae Hispanicae: von A. Engler.
A. Schaubach, die deutschen Alpen: von B.
Schmid. W. Baklisch, Rousseau’s Pädagogik: von
0. Peter. M. F. Essellen, d. Varian. Schlacht-
feld: von J. Schnelder. B. Simson, Jahrbücher,
des fränkischen Reichs unter Ludwig dem From-
men: von (. Meyer v. Knonau. Alfred d’Arneth
et A. Geflroy, Marie-Antoinette: von M. Phi-
Iippson. L. Adam, de l’'harmonie des voylles
dans les langues ouralo-altaiques: von 0. Bötb-
lingk. H. Rönsch, Itala und Vulgata: von
V. Schmits.
Bei Otto Meissner in Hamburg ist soeben er-
schienen:
Der internationale
archäologische und anthropologische
Congress in Stockholm.
Von J. Mestorf.
Preis 10 Sgr.
Im Berlage von Georg Reimer in Berlin
ift foeben erfhienen und durch jede Buchhandlung
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Deutfher Kampfe
1865 —1874.
Schriften zur Zagespolitif
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Heinrih von Treitjchke.
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Peter von Cornelius.
Fin Gedenkbuch
aus feinem Leben und Wirken
mit Benugung feines fünftlerifchen, wie handſchrift⸗
lichen Nachlaſſes, nach mündlichen und ſchriftlichen
Mittheilungen ſeiner Freunde und eigenen Erinne—
rungen und Aufzeichnungen
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Zweiter Theil. Preis: 2 Thlr. 10 Sgr.
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(Karmwig und Gofmann) in Berlim erfceint:
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een Dale Vie geieiecthen wre er deutfcher Zunft ©
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in Ferd. Dümmler’s Verlagsb
Magazin für die Literatur de Auslandes.
Begründet vor Joſeph Lehmann. 43. Jahır
gang. Wöcentlih 1%, bis 2 Bogen Quad)
Preis vierteljährlih 1 Thlt. 10 Sgr.
Das „Magazin“ ift durch jede Poftanftalt und
Buchhandlung, auch von der Verlagsbuchhandlu
u beziehen. Gine Probenummer liefert jede Bud
andlung unentgeltlich.
No. 48 ded „Magazin” enthält folg
Artikel:
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gründung der Ehtif. 697. — Charlotte von Etei
698. — Defterreih. Aus dem vieljungiam
Defterreih. 699. — Spanien. Zur fpantjihe
Romanzenpoefie. Bon Adolf Zaun. II. 700.
England. Gobden. 703. — Ytalien. Die 2
bliothefen von Pavia und Gremona. 70.
Nußland. Die ruffiihe Revue. 705. —
reih. Zwei Bluetten. 708. — Kleine liter
riſche Renue. Tagebücher von Friedrich me
Gent. I. von Ludmilla Wffing. 708,
„Frauenliebe“, Roman von Karl Bertom.
— Rom amerifanifhen Bücdhermarfte. 709, —
Das Reale und Sdeale ald weltbewegende Kıü
709. — Spredfaal. Sibungäberichte ber &
ſellſchaft für Gefhichte und Alterthumskunde
Oſtſeeprovinzen Rußlands aus dem Jahre 18
710. — Der Berein für deutſche Kiteratur,w
Oſenbrüggens Schweizerbuch. 710.
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6 Hefte bilden einen Band. -..
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Verlag von Alphons Dürr in
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er il
nen Weihnadt — F
Wilhelm Roſcher's Geſchichte der Mafional-Dekonomik
in Deutfhland.
Im Staatöreht und in der Gejehgebung tft überall jene Streitfrage
längft entfchieden, die beim Uebergang aus der abfoluten Monardie in die
conftitutionelle Staatsordnung die Gemüther zu bewegen pflegt: wer über
die höchſten Beamten ded Staated Controle üben, wer über die höchiten
Richter urtheilen fol, In der Willenfhaft wird fie niemals ganz zu löſen
fein — am wenigften durch ftarre unbeugfame Formeln, wie deren das öffent.
lihe Recht bedarf, um allen Staatöbürgern gegenüber mit gleicher Macht und
in gleihem Sinne fih zu behaupten. In allen Wiſſenſchaften tft im Gegen-
theil die Formel der Controle und des Urtheild, mit welcher die vornehmiten
Vertreter des ftolzen Reiches der Geifter zu meſſen find, fo mwandelbar wie
die Entmwidelung und Geſchichte der Menfhen und wie die individuelle
Leiſtungsfähigkeit insbeſondere. Ja, in jeder Wiſſenſchaft und Kunft hat es
einige wenige bevorzugte Geifter gegeben, für die e8 unter den Zeitgenoſſen
feinen Richter, feinen Oberen gab; leitende, führende Geifter, welche erft durch
die vereinte Arbeit der Beiten, die Fommende Sahrhunderte hervorbrachten,
völlig verftanden, richtig beurtheilt, bisweilen erreicht, mandhmal wohl au
überholt worden find. Aber unter den Zeitgenoffen, wie gefagt, iſt jenen
höchſten Würdenträgern der Wiffenfhaft und Kunſt felten ein ebenbürtiger
Kritiker , ein competenter Richter erwachfen. Daß ihren Werfen auch von
Zeitgenoffen Rob gejpendet, Tadel zu Theil geworden ift, fol nicht in Ab—
rede geftellt werden — Tadel insbeſondere ift felten einem Sterblichen erfpart
worden. Denn weit mehr ift unfere Natur dazu geeignet, die Schwächen
der Mitftrebenden zu erfennen, ald ihre Vorzüge. Und jene großen Geifter
haben vielleicht mirklih au8 den lobenden und tadelnden Stimmen der Beit-
genofjen mefentliche Förderung empfangen für ihr hohes Streben. Aber
fiherlich bei weitem mehr durch die Kebendigkeit des eignen Pflichtgefühlg,
durch die Hoheit der Auffaffung ihres Lebensberufes, ald dur den Maßſtab
der Kritik, die an ihnen geübt wurde. —
In mannichfacher Hinficht ruft das neuefte Wer!) Wilhelm Roſcher's
*) ‚Geſchichte der National - Defonomif in Deutfchland" von Wilhelm Roſcher.
München 1874. R. Oldenbourg.
Grenzboten IV. 1874. 46
“ — —
ze
dieſe Betrachtungen wach. Der Lehrer der Nationalökonomie an der größten
Hochſchule Deutſchlands, an der er bald feit einem Menfchenalter gewirkt und
den größten Theil der jüngeren Gelehrten unferer Tage herangezogen hat,
er, der hervorragendite Vertreter jener volkswirthſchaftlichen Schule, melde in
engfter Verbindung mit der hiſtoriſchen Wiſſenſchaft die Wirthſchaft, die
Wirthſchaftslehre und Mirthichaftäpolitif in praftifcher wie theoretifcher
Hinfiht unter den deutſchen Fachgelehrten vertritt: er ift ficherlich der com
petentefte Beurtheiler der Gefchichte und Literatur der Nationalökonomik, die
für und moderne Menſchen hauptſächlich in Betracht fommt, d. h. der wirt:
ihaftlihen Entmwidelung und Kiteratur feit dem Ausgang ded Mittelalters,
jeit Beginn der Neformationgzeit. Er ift e8 in demjelben Maße auch für
die wirthichaftliche Entwidelung und Literatur der antiken Welt, des Mittel:
alters; aber über jene entfernteren Epochen der menſchlichen Gefelfchaft hat
er bei anderen Gelegenheiten Licht verbreitet. Das vorliegende Werk ift der
neueren Zeit gewidmet; es bildet den vierzehnten Band der „Sefchichte der
Wiſſenſchaften in Deutfchland“, welche die biftoriihe Kommiffion bei der
Königl. Akademie der Wiſſenſchaften in München herausgiebt, durch Unter-
ftüsung derjenigen Mittel, welche der edle Vater ded Königs von Bayern,
Mar IL, zur Verfügung ftellte. Es mag daher geftattet fein, auch bier
lediglich zu unterfuchen, in wie hohem Grade Wilhelm Nofcher befähigt er
Icheint, die Gefchichte der modernen National» Defonomik zu fehreiben.
In feinem vorlegten bedeutenden Effay, „der Socialismus und feine
Gönner“, hat Heinrih von Treitſchke Gelegenheit gehabt, die fcheinbar
ftupende Gelehrfamkeit von Karl Marx, die in dem Evangelium feiner Nach—
beter auf dem Kontinent, in jeinem dickbäuchigen Werke „das Kapital“
niedergelegt ift, zu vergleichen mit der Gelehrſamkeit Wilhelm Roſcher's.
ALS jener Eſſay gefchrieben wurde, wußte der Verfaffer ficherlih nicht, daR
Rofcher in Begriff ſtehe, feit vielen Jahren wieder einmal mit einem großen
Buche aus feiner Feder die Welt zu befchenken, mit einem Buche, auf deijen
Erfcheinen folange ſchon gehofft war, deſſen Drudlegung aber die unabläffige
gelehrte Arbeit, die nimmermüde Pflichtitrenge des Verfaſſers immer verzögert
hatte. Dem Eſſay de3 geiftwollen Hiftoriferd und Publieiſten tft diejed Bud
faft auf dem Fuße gefolgt, und ed entſpricht fo vollftändig den Worten
Treitſchke's, daß man fein Urtheil über Nofcher ohne Weiteres als Motto
auf das Buch fegen könnte. „Man mag an Karl Mare’ Buche über das
Kapital die große Belefenheit bewundern und den Talmudifteniharffinn im
Zerfpalten und Berfafern der Begriffe — das Cine, was den Gelehrten
macht, fehlt ihm doch gänzlich: das wiljenfchaftliche Gewiſſen. Hier ift Feine
Spur von der Befcheidenheit des Forſchers, der im Bemwußtfein des Nicht:
willen? an feinen Stoff berantritt, um unbefangen zu lernen; was bemiefen
363
werden fol, fteht für Mare von Haus aus fe. Man vergleiche Wilhelm
Roſcher's unendlich reichere Gelehrfamfeit und die behutfame forgfältige An-
wendung dieſes Wiſſens mit dem brutalen Fanatismus, der in Marr’
Buche einen ungeheueren Stoff zufammenträgt, um einen einzigen falfchen
Grundgedanken zu erhärten — und der ganze Abftand zwiſchen dem Ge:
iehrten und dem Nabulijten tritt und vor Augen.“ Roſcher ſelbſt drüdt die
Aufgabe ſeines Werkes befcheiden aus mit den Morten des Sfofrates:
„ra srakcıa zawos dıskeldelv, val regt ToV vewor yeysrnusvav apyalos
elneiv.“ Cr begrenzt feine Arbeit auf Darlegung der Gefchichte der deutjchen
Volkswirthſchaftslehre von den Tagen der Humaniften bi auf die Gegen-
wart, und dennody hat Rofcher über diefen fcheinbar engen Stoff ſechsund—
ſechszig Drucdbogen gefchrieben, von denen weit über die Hälfte in Petitſatz
vorliegt! Allerdings iſt nicht jede Rückficht auf die volkswirthſchaftliche
Praxis dabei audgefchloffen, und kann es nicht fein; denn die Theorien der
Nationalölonomie, ihre Dogmen und die Gefchichte ihrer Dogmen verfteht
nur Derjenige, welcher die Wirklichkeit Fennt, der diefe Theorien und Dogmen
entnommen find. Indeſſen in dem Sinne hat doch NRofcher fih auf die Ge
Ihichte der Volkswirthſchaftslehre befchränft, daß er felbft da, wo er auf die
volkswirthſchaftlichen Theorien rein praftiicher Staatsmwirthe, wie etwa Luther's
— fomeit er in die praftifch-wirtbfchaftliche Bewegung feiner Tage mit Rede
und Schrift eintrat — oder ded großen Kurfürften, Friedrich's des Großen
und ſeines Vaters, Joſephs IL. u. f. m., eingeht, vorzugsweiſe fi) mit den
Anfihten und Grundfägen diefer Theorien — mit ihrer Anknüpfung an
frühere, gleichzeitige, nachfolgende Theoretifer oder mit ihrer Entwidelung im
Leben ihrer Träger ſelbſt befchäftigt, dagegen die Frage nur ftreift, ob und
wie diefe Theorien verwirklicht wurden, welche Erfolge fie erzielten, welche
Thaten ihres Urhebers fie im Gefolge hatten, welche Scidfale fie ihm zu—
zogen. Indeſſen auch fo begrenzt, ift die Aufgabe die Nofcher fich ftellte und
die er nach jahrelangen Studien in diefem Werfe in muftergültiger Weiſe
gelöft Hat, eine der größten, an die eine einzelne Menfchenkraft fit) wagen
kann. Welche Fülle vieljeitigfter Kenntniffe und Gaben feste das Unter-
nehmen voraus: dem Leſer in Hiftorifcher Entwidelung darzuftellen, mas
jederzeit die geiftigen Führer deutfcher Volkswirthſchaft in wiffenfchaftlicher
Weife über den Gegenftand ihres Berufes gedacht haben. Es bedarf nicht
der Ausführung, daß diefer Verfuch nicht gewagt und noch viel weniger gelöft
werden Fonnte ohne die genaue Kenntniß aller der Hunderte von Schriften,
welhe hier in ihren Hauptzügen wiedergegeben find, ohne die intime Ver—
trautheit mit dem Nebendgang, der Rebensftellung, den Strebungen und Er-
folgen der Verfaſſer. Und was mehr ald das Alles tft: der Verſuch konnte
nicht gewagt und ausgeführt werden ohne die Elare Ueberſicht über die ge-
364
heimnißvollen Fäden, welche eine der hier entwicelten nationalöfonomijchen
Theorien und Ideen an die andere Enüpfen, eine Wirthſchaftsepoche an die
andere, Daß heißt mit anderen Worten: der Verfaſſer mußte die gefammte
Gntwidelung des öfonomijchen Wiffend und Strebend vom Ausgange des
Mittelalterd bis auf unfere Tage, in ihren größten und kleinſten Vertretern
mit beherrfhendem Blicke umfaffen, ehe er an diefe Aufgabe ging, und das
vorliegende Werk zeigt, daß er diefe ungewöhnlichen Bedingungen in ſich
vereinigte. Darum iſt diefed Buch auch im Grunde ein weit größerer Schaf
für unfere Nationalliteratur, als der befcheidene Titel und der bejcheidene
Berfafler verrathen mögen. Jeder, der die Wichtigkeit der Volkswirthſchaft
für das nationale Volksleben überhaupt erfennt, jeder der weiß, wie in
Mirklichkeit Feine andere Function des Völkerlebens fo fehr international
angelegt ift, fo fehr Einwirkungen von außerhalb der Landesgrenzen unter
worfen und zu foldhen über die Volksgrenzen hinaus fähig ift, als die Theorie
und praftifche Entmwidelung der Staatswirthſchaft — der wird auch erkennen,
daß in diefem Werke nicht blos für unfer Volk, fondern für alle Völker, die
mit uns feit Ausgang des Mittelalterd geiftig und wirthichaftlich im Verkehr
geftanden — das will fagen fo gut wie für die ganze Menfchheit — ſowohl
in biftorifcher als in nationalöfonomifher Hinfiht ein ungewöhnlich bedeut-
famer Erfolg errungen tft.
In unferer gelehrten Kiteratur läßt fich das neuefte Werf Roſcher's wohl
nur einem andern ganz vergleichen an ebenbürtigem Werthe: Robert von
Mohl's Geſchichte und Kiteratur der Staatswiſſenſchaften. Weiter ift in diefem
der biftorifche Rahmen gefpannt, als bei Roſcher. Ins unendliche ſcheint der
Blick Mohl's zu fchmweifen unter den Völkern der Erde. Und dennoch, wer
in Kürze Rechenſchaft geben follte von dem Anhalt des Föftlichen Buches, der
würde wohl nicht fehl gehen, wenn er fagte: er habe daraus Fingerzeige er:
halten für die wunderbaren Accorde, welche zu harmoniſcher Stimmung die
Kulturftaaten Europas bewegten feit Luther's und Machiavelli's Tagen bie
In unfere Zeit. Auch bei Mohl bietet den höchſten Werth die durch feine um:
faffende Forſchung vermittelte Erfenntniß, wie die vornehmften politifchen
Denker Europas befruchtend auf einander wirkten, wie fie immer reiner und
untadeliger die Rechte und Pflichten des modernen Staates conftruiren und
wie bedeutfam vor allen Dingen das deutfche Staats: und Pflichtbewußtſein
von dem Beifpiel und der Lehre der englifchen Staatdmänner und Staatk
rehtälchrer gehoben wird. Und der nämliche Brundgedanfe verleiht auf
Roſcher's Merk den höchſten Werth.
Bon den vornehmften literarifchen Vertretern unfred Volkes wird unfer
Zeitalter fo oft, und wir meinen im Ganzen nicht mit Unrecht, als die Epoche
ded lebten Entſcheidungskampfes zwifchen den romanischen und germanifchen
365
Anfprühen auf die Weltherrfchaft bezeichnet — fo 5. B. noch von Herman
Grimm in feinem berühmten Efjay über Franfreih und Voltaire. Und in
der That, felten ift der nationale Gegenfat und Haß zwiſchen den Angehös
rigen der beiden Racen fo tief, nachhaltig und unverföhnlich zu Tage getreten,
als in der Zeit, in der wir leben. Und doch ift der wirthichaftliche Verkehr,
die gegenfeitige materielle und geiftige Einwirkung in Fragen der internatio»
nalen Wirthſchaft zmijchen Germanen und Romanen faum jemals reger ge:
weien, als in diefen Tagen, in denen über die Weltherrfchaft der einen oder
andern Bölferfamilie, zu glorreicher Erhebung der einen, zu unerträglicher
Demüthigung der andern, der unerbittlihe Würfel fallen fol! Das fcheint
fat unglaublich; Manchem vielleicht als neuer untrüglicdher Beweis für die
materialiſtiſche Verkommenheit des Beitalterd: daß man handelt und feilfcht
und? am Andern zu gewinnen ftrebt, während man indgeheim die feharfe
Waffe zückt und ihm unrühmlichen Verderb finnt. Aber wir mögen und
tröften: unfere Zeit ift in diefer Hinficht nicht fehlechter und nicht beffer ge
worden, ald die Menfchheit von jeher gemwefen. Ja, es ift fogar ein Anzeichen
aufftrebender Eräftiger Kultur, wenn die politifche Entzweiung der Bölfer
immer weniger Störungen im internationalen Verkehr hervorruft, und das
conjervative Intereſſe an der Erhaltung der guten Mirthichaft&beziehungen
der Völker darf fo lange als ein durchaus achtbared und erfreuliches gelten,
ald die höheren nationalen Intereſſen, welche die Staaten in Feindſchaft
fegen, nicht unter jenem leiden, die Staatöpolitif nicht der Wirthſchafts- oder
Handelspolitif untergeordnet wird. Diefed Verhältnig hat namentlih auch
in den leten fünf Jahrhunderten beitanden. Kaum zu zählen find die frie—
densbrecherifchen Anfälle, die Deutfchland in diefer Zeit von Franfreich er-
fahren‘, noch viel zahlreicher die Schlachten und Kriege, in denen deutfche
Waffen gegen fpanifche, franzöfifche, italienifche und felbft englifche kämpften.
Und dennoch hat in diefer friedlofen Zeit der wirthichaftliche Verkehr der
freitenden Nationen, namentlich aber der internationale geiftige Einfluß der
volkswirthſchaftlichen Denker felten ganz aufgehört, und ift zu Zeiten fogar ein
ganz außerordentlicher und beftimmender geweſen, auch dann, wenn nach langen
Kriegen noch tiefe Feindfchaft unter den Völkern fi erhalten hatte. So zwiſchen
Frankreich und Deutfchland zur Zeit Colbert's, deſſen Theorien damals ja als
abfolute Heildwahrheit der Staatsmwirthfchaft galten. So zwifchen England,
Sranfreih und Deutfchland in den Tagen Adam Smith's, deſſen großartige
moderne Ideen fich den ganzen Gontinent eroberten, als das Feltland unter
tapoleon’8 eiferner Fauft feufzte und England zum Feind Aller erklärt und
mit der Continentalfperre betroffen war.
Es bedarf kaum der Verfiherung, daß diefed internationale Wirken der
Seifter und Ideen bei Wilhelm Rofcher die eingehendfte, Elarfte und verftänd-
366
nißreichite Darlegung gefunden hat. „Die germanifchen und romanijchen
Völker hängen fo taufendfach miteinander zufammen“, jagt er, daß ihre meiften
(ntwidelungen gemeinfame find, welche nur bei dem einen Wolfe früher,
ſtärker, glücklicher durchgeführt werden, als bei dem andern. Go liegt denn
auch der Schwerpunkt der volkswirthſchaftlichen Doctrin während der beinahe
fünf Sahrhunderte, die wir zu durchwandern haben, nur in wenigen kurzen
Menfchenaltern innerhalb Deutfchlands ſelbſt. Wir müſſen deßhalb, um
unfern Gegenstand wirklich zu verftehen, immer auch die Literatur desjenigen
fremden Volkes berüdjichtigen, in welchem jemweilig der Schwerpunft Tiegt:
alfo bald die italienifche, ganz befonder® aber die engliſche.“ So wird fein
Buh in demfelben Sinne, wie die Gefchichte und Literatur. der Staatäswiſſen—
haften Mohl's auch zu einem gemeinfamen Schaf aller der Völker werden, deren
wirthichaftliche Theorien darin dargelegt find. Denn Fein und befanntes Bud
enthält fie im wirklich hiftorifchen Sinne vollftändiger und klarer als dieſes.
Selbftverftändfih wäre der Umfang des Buches unendlich geworden und hätte
deffen ganzer Plan feine concinne Deutlichkeit verloren, wenn der Verfafler,
der die Gefchichte der deutfchen Nationalöfonomik fchreiben wollte, ſich etwa
veranlaßt gefehen hätte, bei jedem fremden Autor, den er erwähnen muß, nun
auch die wirthichaftlichen Doctrinen der Nation auf» und abwärts zu ver
folgen; oder diejenigen, die über die Männer wie Colbert, Hume, Steuart,
Ad. Smith noch gar nicht? wiſſen, von Grund aus über diefelben zu befehren.
Daß died Roſcher's Abſicht nicht gemefen ift, auch nicht fein Fonnte, erklärt
er felbft beitimmt in feiner Borrede. Aber um fo fürderlicher nur ift die
fnappe, Elare und — wir wiederholen mit Abficht das Wort, die echt hiſto—
ifche Darlegung der Theorien diejer großen Denker, die nur den Zweck ver:
folgt, im Studium der deutfchen Nationalöfonomif mit gef&hichtlicher Präcifion
den Leſer zu orientiren. Daß Roſcher die Hiftorifhe Würdigung der außer
deutfhen Nationalöfonomit mit der größten Gerechtigkeit übt, geht daraus
hervor, daß er bei unbefangener gefchichtlicher Vergleichung aller volkswirthſchaft⸗
lihen Hauptliteraturen zu dem — feinen Hörern und Schülern freilich längft
befannten — Ergebniß auch bier gelangt, „daß zwar die englifche auf
unferm Gebiete ähnlich hervorragt, wie etwa auf dem Gebiete der neueren
Kunftgefhichte die Malerei der Staltener; daß aber die Nationalöfonomik der
Deutfchen im Ganzen Hinter der franzöfifchen und italienischen durchaus nicht
zurückſteht.“
Es kann unmöglich Zweck — Zeilen ſein, im Einzelnen zu verfolgen,
in welch großem Sinne Roſcher dieſe Aufgabe gelöſt hat. Eine Arbeit, die
dieſes Ziel ſich ſteckte, müßte nahezu ſo umfangreich ausfallen, wie das Buch
ſelbſt — und — was die Hauptſache iſt — es giebt wenig Leute in Deutſch—
land, und der Verfaſſer rechnet ſich keineswegs zu ihnen, die der Aufgabe
367
gewachfen wären, Roſcher auf diefem Gebiete zu Fritifiren. Dagegen wird fi
bald die Gelegenheit bieten, an einem einzelnen wirthfchaftlichen Gedanfenkreig,
fagen wir 5. B. der foctaldemofratifchen Doctrin, in der Zeitperiode, die Roſcher's
Merk umfaßt, auch einem weiteren Xeferfreiß zu zeigen, welche Fülle von
Anregung, Belehrung und Earer Drientirung Jeder aus diefem bedeutenden
Buche ſchöpfen kann.
H. B.
Im Hilberland Nevada.
Nach Mark Twain.
(Schluß.)
„Wir näherten und“ erzählt Mark Twain, „den Ende unſerer langen
Reife. Es war der Morgen des zwanzigiten Tages. Um Mittag follten
wir Garfon City, die Hauptftadt des Territoriums Nevada, erreihen. Wir
waren nicht froh, fondern betrübt. Es war eine ſchöne Vergnügungäreife
gewefen, wir Hatten ung jeden Tag reichlih mit Wundern genährt, wir
waren jest an das Leben in der Poſt gut gewöhnt und liebten es fehr, und
jo war der Gedanke, daß es damit nun aufhören und man fich niederlaffen
jolte, um ein langmellige® Leben in einem Landſtädtchen zu beginnen, nicht
angenehm, fondern im Gegentheil niederfchlagend. Aeußerlich war unfre neue
Heimath eine Wüfte, eingefchloffen von öden, mit Schnee befleiveten Bergen.
Es gab Feinen Pflanzenwuchs, ausgenommen die endlofen Salbei »Büfche
und Fettholzſträucher. Die ganze Natur war grau davon. Wir gingen wie
ein Pflug tief durch den Alkaliftaub, der fich in dichten Wolken erhob und
wie Rauch von einem brennenden Haufe fi über die Ebne hinwälzte. Wir
famen an und ftiegen aus, und die Poſt ging weiter. Carfon City war eine
Holzitadt, die Zahl ihrer Einwohner betrug zweitaufend. Die Hauptftraße
beitand aus vier oder fünf Neihen von Eleinen weißen Bretterhäufern, die zu
hoch waren, um fich darauf zu fesen, aber nicht zu hoch für verjchiedene an—
dere Abfichten; in der That, Faum hoch genug. Sie waren Seite an Seite
dicht an einander gebaut, wie wenn es in der mächtigen Ebene an Raum
mangelte. Das Trottoir bildeten Bretter, die mehr oder minder locder waren
und Luſt zum Klappern zeigten, wenn man darauf ging. In der Mitte der
Stadt, den Läden gegenüber, war die allen Städten jenſeits der Felfengebirge
angeborne „Plaza“, ein großer, nicht umfriedeter ebener Raum, der in ber
368
Mitte einen Freiheitsbaum hatte und ſehr nüslich zu Auctionen, Pferde
verfäufen und Bolfdverfammlungen, ſowie für Fuhrleute zum Rageraufichlagen
war. Mir wurden in der Boftftation und auf dem Wege vom Hotel zum
Gouverneur verfohiedenen Bürgern vorgejtelt — unter andern einem Herr
Harrid, der zu Pferde war. Er begann etwas zu fagen, unterbrach fich aber
mit der Bemerfung: „Ih muß Sie für eine Minute um Entfchuldigung
bitten. Dort ift der Zeuge, welcher beſchworen hat, daß ich die von Gali-
fornien fommende Poſt berauben geholfen — eine unverfhämte Einmiſchung,
mein Herr, denn ih bin mit dem Menfchen gar nicht befannt.* Darauf
ritt er hinüber und machte ihm Vorwürfe mit einem fechäläufigen Revolver,
und der Fremde entjehuldigte fi mit einem zweiten. Als die Biftolen geleert
waren, nahm der Fremde feine Arbeit (er flicte fich feine Peitſchenſchnur)
wieder zur Hand, und Herr Harris ritt mit einem höflichen Kopfniden, das
Gefiht heimwärts gerichtet, vorüber. Er hatte eine Kugel durch einen feiner
Qungenflügel und verfchiedene in feine Hüften befommen, und aus diefen
Wunden ftrömten kleine Blutbächlein, die über die Seiten des Pferdes riefelten
und das Thier ganz malerifch ausfehen ließen. Niemals fah ich fpäter Harris
nad jemand ſchießen, wo ed mir nicht jenen erften Tag in Carſon Eity ins
Gedächtniß rief. Died war alle, was wir diefen Tag fahen; denn es war
jest zwei Uhr, und nad Landesſitte begann nun der tägliche „Wasbhoe—
Zephyr“ (Washoe ift ein beliebter Spisname für Nevada) zu mehen. Eine
hochſchwebende Staubwehe von der Größe der Vereinigten Staaten Fam mit
ihm, und die Hauptjtadt von Nevada verſchwand vor unfern Blicken. Indeß
gab es doch mancherlei zu fehen, was nicht ganz ohne ntereffe für Neu-
eingetroffne war. Denn die riefige Staubwolfe war dicht betüpfelt mit
Dingen, die der obern Luft fremd find, mit lebendigen und todten Dingen,
die zwifchen den fid) dahinwälzenden Staubmwolfen hierhin und dorthin
flatterten, gingen und famen, erſchienen und verfhmwanden — mit Hüten,
Hühnern und Sonnenfhirmen, die hoch oben am Himmel hinfegelten, mit
Deden, Blehfchildern, Salbei-Geftrüpp und Schindeln, die ein wenig tiefer
binflogen, mit Abſtreich bretern und Büffelröcken noch tiefer, mit Schaufeln
und Kohlenkaften in der nächſten Luftſchicht, Glasthüren, Katzen und Eleinen
Kindern in der folgenden, zerriffnen Holzhöfen, leichten Buggy-Wagen und
Schubfarren in der dann nad unten folgenden, und zuleßt, nur dreißig oder
vierzig Yuß über dem Erdboden, ging ein wirbelnder Sturm audwandernder
Dächer und leerer Bauftellen hin. Es war wirklich etwas dabei zu fehen.
Ich hätte aber mehr fehen können, wenn ich den Staub hätte hindern Fönnen,
mir in die Augen zu fliegen.“
Die Wohnung Mark Twain's In Carfon Eity verrieth natürlich deutlich,
daß er fih auf einem weit vorgefchobenen Poſten der Kultur befand. Die
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Zwiſchenwände der einzelnen Zimmer z. B. bejtanden lediglich aus einer Art
groben Baummollenzeuged® aus alten Mehlfäden u. dergl. gefertigt. „Ge—
legentlich verfchönerte die befjere Klaffe ihre Leinwand auch dadurch, daß fie
Holzfhnitte aus Harper’ Wochenſchrift darauf Elebte. In vielen Fällen
ſchwangen ſich die Reichen und Gebildeten zu Spudnäpfen und andern Be:
meifen eined Gefallen? an Pracht und Luxus empor Wir hatten einen
Teppih und ein Mafchbeden von echtem Steingut. Wolgli wurden wir
von den andern Inſaſſen des Ranchs rückſichtslos gehaßt. Als wir gar noch
einen bemalten Fenſtervorhang von Wachsleinwand Hinzufügten, riskirten wir
einfach unfer Reben. Um Blutvergießen zu verhüten, zog ich hinauf und
ſchlug mein Quartier bei den titellofen Plebejern in einer der vierzehn ſchmalen
Bettitellen aus Fichtenholz auf, die in zwei langen Reihen in dem einzigen
Zimmer ftanden, welche das zweite Stodwerf enthielt. Die Vierzehn waren
eine Iuftige Gefellfehaft. Sie hießen im Volksmunde die „Iriſche Brigade”,
obwohl fih unter der ganzen Umgebung des Gouverneurd nur vier oder
fünf Srländer befanden. Die gutmüthige Ercellenz war fehr verdrießlich über
das Gerede, das feine Keibgarde hervorrief, vorzüglih, als ſich das Gerücht
verbreitete, fie wären bezahlte Meuchelmörder, die er fich mitgebradht, um,
wenn ed nothmwendig wäre, die Zahl der demofratifh Stimmenden in der
Stille zu vermindern.” Der Gouverneur fuchte diefe „Brigade“, die bei ihm
in Koft und Logis lebte, fo nüslich wie möglich zu verwenden, und ſchlug
ihnen beifpieläweife vor., eine Eiſenbahn über die Sierra Nevada zu bauen,
ein Gedanke, der mit heroifcher Begeifterung von den Vierzehn aufgegriffen
wird, ohne indefjen vorläufig etwas anderes einzubringen, ald erhöhten
Appetit, Staub, Müdigkeit, Fußkrankheit und eine fehr anfehnlihe Sammlung
von Taranteln, welche im Schlafzimmer in‘ bevedten Weingläfern verwahrt
wurden. „Wir hatten von ihnen eine wahre Menagerie, die auf den Simfen
in der Stube hin aufgeftellt war. Einige diefer Spinnen Fonnten mit ihren
haarigen, mudfulöfen Beinen über eine gewöhnliche Untertaffe hinwegſpannen,
und wenn ihr Gefühl verlegt oder ihre Würde beleidigt wurde, ſahen fie aus
wie die ruchlofeften Hallunfen, welche die Thierwelt hervorzubringen vermag.
Wenn ihre gläfernen Gefängniffe auch noch fo leife berührt wurden, waren
fie im Augenbli auf den Beinen und Fampfbereit. Steif und ſtolz? In
der That, fie pflegten dann einen Strohhalm aufzuheben und fich damit die
Zähne zu ftochern wie ein Congreßmitglied. Nun wehte wie gewöhnlich auch
in der erften Nacht nach der Rückkehr der Brigade ein müthender Zephyr,
und um Mitternacht wurde dad Dach eined benachbarten Stalled fortgeweht
und eine Ede deffelben fuhr krachend durch die Seite unfered Rande. 8
folgte ein gleichzeitige Erwachen, eine geräufchvolle Mufterung der Brigade
im Dunkeln und ein allgemeines Stolpern und UebereinanderBurzeln in dem
Grenzboten IV. 1874, 47
u.
370
ſchmalen Gange zwifchen den Bettreifen. Mitten in dem Getümmel fprang
Bob H. aus einem gefunden Schlafe auf und ftieß mit feinem Kopfe einen
Sims herunter. Augenblicklich fehrie er: „Reißt aus, Jungen, die Taranteln
find los!“ Glüdlicherweife waren die Taranteln aber ebenſo erpicht auf ihr
Mohlergehen, mie die aufgefchredten Schläfer und zogen es daher vor, jo raſch
wie möglich die Tangentbehrte Freiheit aufzufuchen.
Inzwiſchen ift Mark Twain „Beamter der Regierung, WPrivatjecretair
Sr. Majeftät ded Secretaird geworden, aber ed gab noch nicht Schreiberei
genug für und Beide“ und fo ließ fih das Bummeln erjt recht verantworten.
Diefer beneidendwerthen Beichäftigungslofigkeit verdanfen wir eine der erha-
benften Schilderungen ded Buches. Twain und fein Freund Johnny haben
viel von der wunderbaren Schönheit des Sees Tahoe gehört, eines wilden
Bergfeed, hoch oben in der Wildniß himmelanftrebender, fchneegefrönter Berge,
von unvergleichlich klarem Waſſer, weitab von allen menſchlichen Kulturftätten.
Drei oder vier Mitglieder der Brigade waren dagemwefen, hatten etwas Wald:
land an den Ufern für ſich abgegrenzt und in ihrem Lager eine Quantität
Lebensmittel aufgehäuft. Sie erreichen den See nach der mühfehligiten Wan-
derung und überfahren ihn mit Anftrengung in einem Heinen Kahn, welcher
der Brigade gehörte. „EI war ein Föftliches Abendbrot, warmes Brot, ge
bratener Speck und ſchwarzer Kaffee. Es mar aud) eine köſtliche Ginfamkeit,
in der wir waren. Drei Meilen entfernt lag eine Sägemühle mit einigen
Arbeitern, aber über den ganzen Umkreis ded Sees waren feine fünfzehn
andere menſchliche Weſen zerftreut. Als die Dunkelheit herabſank, und die
Sterne hervortraten und den großen Waflerfpiegel mit Juwelen bejetsten,
ſchmauchten wir beſchaulich unjere Pfeifen in der feierlichen Stille und ver:
gaßen unfere Sorgen und Schmerzen. Zu rechter Zeit breiteten wir unfere
Deden über den warmen Sand zwifchen zwei Felsſtücken und verfielen bald
in Schlaf. Wenn e8 irgend ein Leben giebt, welches glüdlicyer ift, als das
Leben, welches wir die nächften zwei oder drei Wochen in unferm Waldrand
führten, fo muß es eine Sorte Leben fein, von der ich nichts in Büchern ge
lefen und nicht in Perſon erfahren habe. Wir fahen während der Zeit außer
ung felbit fein lebendes Weſen und hörten Feine anderen Töne, als diejenigen,
welche der Wind und die Wellen hören liegen, das Seufzen der Fichten und
dann und wann den fernen Donner einer Zamwine Der Wald um und war
dicht und Fühl, der molfenlofe Himmel über uns ftrahlte vom Sonnenfcein,
der breite See vor und war je nad) der Stimmung der Natur Elar wie Glas,
oder vom Lufthauch Ieicht gefräufelt, oder ſchwarz und vom Sturme aufge
jagt, und die ihn im Kreife überragenden Bergkuppeln, mit Wäldern beflei-
det, durch Bergrutſche benarbt, durch Schluchten und Thäler gefpalten und
mit Hauben funfelnden Schnee bedeckt, umrahmten paſſend das edle Bild
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am
371
und vollendeten dasſelbe. Der Augenblik war ſtets bezaubernd, entzüdend,
verzücdend. Dad Auge wurde Tag und Naht, in ruhiger Zeit oder Sturm
nie müde, zu fohauen. Es litt nur an einem Kummer, und der war, daß
es nicht immer fchauen Fonnte, fondern fich bisweilen zum Schlafe ſchließen
mußte. * Bei diefem feligen Leben gehen indeffen bald die Lebensmittel zu
Ende, neue werden aus dem Lager geholt, Hungrig und müde wird die neue
Heimath erreicht und fofort ein Kochfeuer im Freien gemadht. Mark Twain
eilt nach dem Boote, die Bratpfanne zu holen. Während ich dabet mar,
hörte ich einen Schrei von Johnny, und ala ich aufblicte, fah ich, dag mein
Feuer über die Gegend hingaloppirte. Johnny befand fich jenſeits desfelben
und mußte durch die Flammen laufen, um das Seeufer zu gewinnen, und
dann ftanden wir hülflos da und beobachteten die Verwüftung. Der Boden
war mit einem dicken Teppich trodner Fichtennadeln belegt, und das Feuer
ließ fie auf die erfte Berührung aufflammen, ald wenn fie Schießpulver
wären. Es war wunderbar zu fehen, mit welcher grimmen Haft die hohe
Flammenfäule ſich fortbewegte. Mein KHaffeetopf mar verloren und alles
Andere mit ihm. In anderthalb Minuten ergriff e8 einen dicht gewachfenen
Buſch trodnen Manzanita-Geſträuchs von ſechs bis acht Fuß Höhe, und jest
wurde dad Brüllen, Ruffen und Praffeln geradezu fürchterlich. Wir wurden
dur die durchdringende Hite nach dem Boote getrieben, und dort blieben
wir wie durch Zauber feitgehalten. Innerhalb einer halben Stunde war Alles
vor ung ein rafender, Mlendender Flammenſtrom. Es brannte an den benach—
barten Hügelfämmen empor, überftieg fie und verſchwand in den jenfeitigen
Schluchten, Fam plößlih aus ferneren und höheren Bergrüden wieder zum
Vorſchein, verbreitete eine großartigere Erleuchtung und tauchte wieder unter.
Dann flammte es wieder auf, höher und immer höher am Gebirgdhang,
jandte Feuerftröme wie Plänflerfetten hierhin und dorthin aus, die fih dann
mit ihren Farmoifinrothen Spiralen zmifchen fernen Wällen, Rippen und
Schlünden hinfchlängelten, bis, fo weit dad Auge reichte, die hochragenden
Gebirgsfronten gleichfam mit einem verfchlungenen Netzwerk von rothen Rava-
bächen überzogen waren. Weithin über dem Waſſer waren die Feldhörner
und Bergkuppeln mit grellem rothem Glanz beleuchtet, und dad Firmament
droben war der Widerfchein einer Hölle. Feder Zug diefes Schaufpield wieder:
holte fi in dem glühenden Spiegel des Sees. Beide Bilder waren erhaben,
beite fchön, aber das im Eee hatte eine verwirrende tiefe Farbenpracht, welche
das Auge bezauberte und es ftärfer feffelte. Vier lange Stunden ſaßen wir
in und verfunfen und regungslos da. Wir dachten an Fein Abendeffen und
empfanden Feine Grmüdung. Aber um elf Uhr hatte der Brand fich über die
Stellen hinaus verbreitet, bis zu denen unfre Augen reichten, und jetzt legte
ſich allmählich das Dunkel über die Landſchaft.“
Ye
372
Damit war dem Leben am See Tahoe ein Ende gefegt. Twain Eehrte
nad Garfon City zurück und erhandelte dort glücklich in einer Auction „den
echten merikfanifchen Stöpfel“, ein Pferd, das beffer boden konnte wie irgend
ein andere in den Vereinigten Staaten. Twain konnte feinen Jubel über
den Kauf Faum zurüdbalten und bradte dad Geſchöpf, nachdem es fein
Diner eingenommen, auf die Plaza. „Gewiſſe Bürger hielten e8 am Kopfe
und andere am Schwanze, während ich aufitieg. Sobald ich aufitieg, ftellte
der Stöpfel alle feine Füfe auf eine Stelle zufammen, fenkte feinen Rüden,
mwölbte ihn dann plößlich und fchleuderte mich drei bis vier Fuß gradaus in
die Luft. Sch Fam ebenfo gerade wieder herunter in den Sattel, flog augen:
brieklich wieder empor, kam beinahe auf den Sattelfnopf herunter, ſchoß aber:
mald empor und fam auf den Hals ded Gaules zu fien — alles das im
Berlaufe von drei oder vier Secunden. Dann ftieg er auf und ftand faft
Ferzengerade auf den Hinterbeinen, und ich rutjchte, indem ich mich verzweifelt
an feinen magern Hals anflammerte, in den Sattel zurüd und blieb fiten.
Gr fam wieder auf alle Viere zu ftehen, aber fofort hob er die Hinterbeine,
fhlug boshaft nah dem Himmel aud und ftand auf feinen WVorderbeinen.
Und jest fam er wieder nieder und begann das urfprüngliche Erereitium, mid
empor fliegen zu laffen, von Neuem. Als ich das dritte Mal emporfhof,
hörte ich einen Fremden fagen: „DO, Fann der boden!” Selbſtverſtändlich iſt
das Gefühl, diefen Gaul zu befiten, fehr bald Fein angenehmes mehr. „Ich
gab Fein Lebenszeichen, aber ih nahm mir vor, wenn das Reichenbegängnik
des Bruderd des Auctionatord während meine? Aufenthalt® im Xerritorium
ftattfinden follte, alle andern Erholungen zu verfhieben und ihm beizumohnen.“
Das Pferd war nicht einmal zu verleihen, geſchweige denn zu vermiethen oder
zu verfaufen, dagegen fraß daß Thier eine Tonne Heu für 225 Dollars in
ſechs Wochen und würde hundert Tonnen gefreffen haben, wenn man’d ihm
zugelafien hätte „Diefen felben Tag noch gab ich den echten mertkanifchen
Stöpfel einem vorüberziehenden Auswanderer aus Arkanſas, den das Glüd
mir in die Hände fpielte. Wenn die8 jemals feinen Augen begegnet, fo mird
er fich zmeifeldohne der Schenkung erinnern.“
Die nun folgende Schilderung der Einwirkung der Regierung der Ver-
einigten Staaten auf das entlegene Silberland Nevada ift wirklich klaſſiſch
zu nennen. Wir entnehmen ihr das Folgende: „Die Leute waren froh,
eine gejetlich geordnete Regierung zu haben, freuten ſich aber nicht befonders,
daß man Fremden von entlegenen Staaten Gewalt über fie verliehen, ein Ge
fühl, welches natürlich genug war. Sie dachten, die Beamten hätten aus
ihrer eignen Mitte gewählt werden follen, unter hervorragenden Bürgern,
die fih ein Recht aaf ſolche Beförderung erworben hätten, und mit der Be-
völferung gleich fühlten und ebenfo gründlich befannt wären mit dem, was
373 ,
dad Territorium bedürfe. Ste hatten ohne Zweifel Necht, die Sache fo anzu:
jehen. Die neuen Beamten waren „Auswanderer“, und das verlieh fein
Anrecht auf irgend jemandes Liebe oder Bewunderung. Die neue Regierung
wurde mit beträchtlicher Kälte aufgenommen. Sie drängte fih nicht nur von
fremd ber auf, fondern war arm. Sie war nicht einmal werth, daß man
fie rupfte, nur die geringfte Sorte der Streber nach Aemtchen fand das.
Jedermann mußte, daß der Congreß nur zmwanzigtaufend Dollars in Staats—
noten jährlich zu ihrem Unterhalt ausgefegt hatte — ungefähr fo viel Geld,
um ein Quarz» Bochwerf einen Monat in Betrieb zu erhalten. Und jeder:
mann mußte ferner, daß das Geld für das erfte Jahr noch in Washington
war, und daß die Herfchaffung desfelben ein langmwieriger und ſchwieriger
Proceß fein würde. Carſon City war zu feindfelig und zu Flug, um dem
importirten Wickelkinde mit irgendwelcher unfcidlicher Haft ein Conto zu
eröffnen. Es liegt etwad Halb Ernftes halb Spadhaftes In den Kämpfen,
mit denen eine neugeborne Territorial-Regierung fich in diefer Welt geltend
zu machen ſucht. Die unfrige hatte dabei eine fchmere Zeit durchzumachen.
Die Organifche Acte und die „Inftructionen" vom Staatd- Departement be-
fahlen, daß eine Gefebgebung in der und der Zeit gemählt und daß ihre
Situngen an dem und dem Tage eröffnet merden follten. Es war leicht,
Öefeggeber zu befommen, felbft für drei Dollar den Tag, obwohl Koft und
Wohnung fünfthalb Dollars Eofteten ; denn Auszeichnung hat ihren Reiz in
Nevada ganz fo wie anderdmo, und es gab eine Menge patriotifcher Seelen
ohne Beſchäftigung. Aber eine Halle für die Geſetzgebung zu befchaffen, war
eine ganz und gar andere Sache. Carſon Eity Iehnte höflich ab, einen Saal
miethfret Herzugeben oder der Megierung einen auf Gredit zu überlafjen.
Aber ald Curry von der Schwierigkeit hörte, trat er einfam und allein vor,
nahm das Staatäfchiff auf die Schultern, hob es über die Barre und machte
8 wieder flott. ch meine den „Alten Curry“, den „Alten Abe Curry.“
Wäre er nicht gemefen, fo hätte die Gefeggebung ihre Situngen in der Wüſte
abhalten müffen. Er bot fein großes fteinerne® Gebäude dicht neben der
Stadtgrenze miethfrei an, und es wurde gern genommen. Dann baute er
eine Pferdebahn von der Stadt nad) dem Kapitol und beförderte die Gefet-
geber gratid. Gr lieferte ferner fichtene Bänke und Stühle für diefelbe und
bededlte die Dielen mit reinen Eägefpähnen, die Teppih und Spudnapf zu:
gleih vertraten. Ohne Curry wäre die Regierung in den Windeln gejtorben-
Der Secretär beichaffte eine Zmifchenwand von Sadleinwand, um den Senat
vom Abgeordnetenhaufe zu trennen, aber obwohl diefelbe nur drei Dollars
und vierzig Cents Eoftete, mweigerten die Vereinigten Staaten fi, dafür
Zahlung zu leiften. Als man fie daran erinnerte, daß die „Snftructionen “
die Zahlung einer reichlihen Miethe für eine Geſetzgebungshalle geftatteten,
374
0
und daß dieſes Geld dem Vaterlande durch die Großmuth des Herrn Curry
erſpart worden ſei, ſagten die Vereinigten Staaten, daß dies die Sache nicht
ändere, und daß die drei Dollars vierzig Gent? von den achtzehnhundert
Dollars Gehalt, die dem Secretär audgeworfen worden, in Abzug gebradt
werden würden — was denn auch geſchah!“ Derfelben meifen Sparſamkeit
begegnete der Seeretär in Betreff der von ihm eingefandten Drudrehnung
für den der „Snftruction* gemäß ausgeführten Drud der Sitzungsberichte
de8 Abgeordnetenhaufe® von Nevada. Die Papierdollar® der Regierung
ftanden in Nevada damald genau auf vierzig Cents, ftatt auf Hundert.
Um den Preid, den die Regierung vorjchrieb, war Drud und Papier ſchlechter—
dings nur dann zu haben, wenn man Golddollars zahlte. Die „Inſtrue—
tionen“ befahlen dem Gecretär, einen von der Regierung ausgegebenen Papier:
dollar ald einem jeden andern von der Regierung audgegebenen Dollar glei
zu betrachten. infolge deilen wurde der Drucd der Berichte nicht fortgefett.
Darauf ertheilten die Vereinigten Etaaten dem Secretär eine große Rüge
wegen Nichtbeachtung der „Snftructionen” und verwarnten ihn für den Fall,
daß er Feine beiferen Wege wandelte. Deshalb ließ er Einiges druden,
fandte die Rechnung mit einer volftändigen Auseinanderſetzung der hoben
PBreife im Territorium nah Washington und lenkte die Aufmerkſamkeit auf
einen gedrudten Marktberiht, worin man bemerken werde, daß fogar Heu
mit zmweihundertundfünfztg Dollars die Tonne bezahlt werde. Die Vereinigten
Staaten antworteten damit, daß fie den Betrag diefer Drudfachen von dem
Gehalte des unglüdlichen Secretärd abzogen, und bemerften außerdem mit
würdevollem Ernft, daß er in feinen „Snftructionen“ nichts finden würde,
was von ihm verlangte, er folle Heu kaufen. Nichts in der Welt ift mit fo
undurdhdringlicher Dunkelheit umbüllt ala der Verftand eines Controlleurs
im Schatamt der Bereinigten Staaten. Selbit die Feuerflammen des Jenſeits
fönnten da hinein nur ein mattfladerndes® Aufglimmen werfen. In den
Tagen, von denen ich fpreche, Fonnte man ihm nie begreiflich machen, wie
es fam, daß zmwanzigtaufend Dollard in Nevada, mo alle Bedürfniffe in
enormem Preife ftanden, nicht fo weit reichten wie in den anderen Territorien,
wo außerordentlihe MWohlfeilheit die Negel war. Er war ein Beamter, der
immer nur auf die Heinen Ausgaben fein Augenmerk richtete. Wie ich vorher
bemerkte, benußte der Secretär fein Schlafzimmer ald Bureau, und er bered-
mete den Bereinigten Staaten feine Miethe, obſchon feine „Sinftructionen”
diefelbe vorgefehen hatten und er ſich das mit Recht hätte zu Nutze machen
fönnen (was ich mit mehr als blisfchneller Fertigkeit gethan Haben würde,
wenn ich felbft Secretär geweſen wäre). Aber die Vereinigten Staaten zollten
diefer Hingebung an ihr Intereſſe niemals Beifall. In der That, ich denke,
mein Vaterland ſchämte fi, einen jo unvorforglichen Menſchen in feinem
375
Dienfte zu haben. Jene „Inftructionen® (wir pflegten ala geiftige Turn-
übung jeden Morgen ein Kapitel und jeden Sabbath in der Sonntagsſchule
ein paar Kapitel daraus zu leſen; denn fie behandelten alle möglichen Dinge
unter der Sonne und enthielten neben anderm ftatiftifchen Material au
viele ſchätzbare Sachen religtöfer Natur), jene „Snftructionen® alfo befahlen,
daß den Mitgliedern der Gefeßgebung Federmeſſer, Briefcouvertd, Federn und
Schreibpapter geliefert werde. So Faufte der Secretär diefe Sachen und ver
theilte fie, die Meſſer Fofteten dad Stüd drei Dollard. Es war eins zu viel,
und der Seeretär gab es dem Schreiber des Abgeordnetenhaufes. Die Ver:
einigten Staaten fagten, der Schreiber des Haufes fei fein „Mitglied“, und
jogen wie gewöhnlich jene drei Dollard vom Gehalte des Secretärd ab. —
Weiße Leute verlangten für das Kleinmachen einer Ladung Brennholz drei
oder vier Dollard. Der Secretär war jharfblidend genug, um einzufehen,
dag die Vereinigten Staaten niemals einen folchen Preis zahlen würden, und
jo ließ er fih von einem Indianer eine Ladung Bureauholz für anderthalb
Dollars Eleinfägen. Er machte die üblihe Empfangsbefcheinigung zuredt,
aber unterzeichnete fie mit feinem Namen, fondern fügte einfach eine Notiz
hinzu, welche erklärte, dab ein Indianer die Urbeit verrichtet und zwar in
jehr geſchickter und zufriedenftellender Weiſe verrichtet habe, aber die Empfang?»
beicheinigung aus Mangel an Kenntnig in der erforderlihen Richtung nicht
unterzeichnen könne. Der Seeretär hatte diefe anderthalb Dollard aus feiner
Tafche zu bezahlen. Er dachte, die Vereinigten Staaten würden ſowohl feine
Sparfamkeit als feine Ehrlichkeit bewundern, daß er die Arbeit für den
halben Preis befommen, und daß er Feines angeblichen Indianer Unterfchrift
unter die Empfangsbefcheinigung gefegt habe, allein die Bereinigten Staaten
ſahen e8 nicht in dem Lichte an. Die Vereinigten Staaten waren zu fehr
gewöhnt, AnderthalbDollar-Diebe in allerhand Hffentlichen Aemtern zu be-
ſchäftigen, um feine Erklärung der Empfangsbeſcheinigung für irgendiie
thatfächlich begründet zu erachten. Aber das nächſte Mal, wo der Indianer
Holz für und fägte, lehrte ich ihm, am Ende der Empfangsbefcheinigung ein
Kreuz machen — es fah wie ein Kreuz aus, das ein ganzed Jahr lang be:
trunfen gemwefen war — und dann „bezeugte* ich ed, und e8 wurde ganz in
der Drdnung befunden. Die Vereinigten Staaten fagten nie ein Wort. Ich
bedauerte, die Empfangsbefcheinigung nicht über taufend Ladungen Holz aus—
geftellt zu haben, ftatt über nur eine. Die Regierung meined Baterlandes
fKilt die ehrliche Einfalt aus und ftreichelt die geriebne Schurfenhaftigkeit,
und ich denfe, ich würde mich zu einem recht geſchickten Spisbuben entwidelt
‚haben. wenn ich ein oder zwei Jahre im Staatödienfte verblieben wäre.“
E3 mag genug fein an diefen Auszügen aus der bedeutendften Er-
zählung Mark Twain's In der Grunom’fhen Ausgabe „Amerikaniſcher
376 —
Humoriſten“. Hoffentlich, reizen dieſe gedrängten Bilder den Leſer, den
übrigen, mindeſtens ebenſo intereſſanten Theil, welcher die Abenteuer des
Verfaſſers als Silbergräber und Redaeteur darſtellt, im Werke ſelbſt zu ver—
folgen. Daß die Kunſt des Ueberſetzers das engliſche Original völlig ver—
geſſen läßt, uns das liebenswürdige Buch wirklich heimiſch macht, dafür
ſprechen die vorſtehenden Auszüge zu ſehr für ſich ſelbſt, als daß noch ein
Wort nöthig wäre. Zum Schluſſe nur ein Wort noch an die Leſer —
unter den Habitue® der Grenzboten find ed nicht viele — die nah Mark
Twain vielleicht im Converfationslericon fuchen, und dort nur das übliche
Bacat finden, welches der Elaffifch gebildete Deutfche da zwifchen den Zeilen
lieft, wo er vieles fieht, da8 nicht da if. Mark Twain ift ein Pſeudonym,
„Markt Twain“ ift ein Kootjenruf bei Lothauswerfen auf dem Miffifippt.
Der Berfaffer diefer köſtlichen Humoresfen trägt den bürgerlichen Namen
Samuel Clemens und lebt in Hartford (Connecticut), Er iſt wirklich und
leibhaftig fieben Jahre im Silberland Nevada herumgeftrihen ala Mineur
und Redacteur und hat jchlieglich mit feiner Feder bei meitem mehr Gold
gefchaufelt ald mit dem Grabſcheit. Vor wenigen Jahren noch hat er, troß
der ungewöhnlichen Beliebtheit feiner Werke, öffentlihe Borlefungen aus
feinen Sachen gehalten. est thut er diefed nicht mehr. Er mag jet mit
dem biedern Kutjcher in Benedix' „Dienftboten“ fagen: „jegt iſt es genug,
Chriſtiane.“ Und wir gönnen ed ihm von Herzen.
LVlandereien aus London.
Wohl felten hat fih die englifhe Metropole eined fo ausgezeichneten
Herbfted zu erfreuen gehabt, mie diefes Jahr, denn troß ded Novembers, von
dem es ſchon in fo manden englifchen Leſebüchern heißt: „there are fogs at
London“ ſcheint die Sonne wenn auch nicht allzu warm, fo doch freundlid
auf die unermepliche Stadt mit ihren herrlichen grünen Parks, ihrer jo reich
belebten Themfe, ihrem Labyrinth von Straßen und über- und unterirdifchen
Eifenbahnen, daß e8 den Fremden um fo angenehmer berührt, ala er es jetzt
am wenigſten erwartet und gehofft hatte. Nur die City iſt in eine artig graue
Molke gehüllt, die nur auf Stunden zuweilen etwas fich zertheilt, aber nie
ganz verfchmwindet, aus der aber die Paulskirche mit ihrer ſchönen Kuppel um
jo majeftätifcher herausragt. In London ift e8 noch nit Winter, kaum
Spätherbft und da iſt e8 denn auch fein Wunder, daß die fehönen Straßen
des MWeftend und die daranftoßenden Parks von einheimifchen und fremden
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Spaziergängern ftarg belebt find, die ihre Augen an den fo mannichfaltigen
Erzeugniffen von Kunft und Induſtrie, die in den glänzenden Schaufenftern
ausgeftellt find, oder an dem fohönen ewigen Grün der englifchen Raſen und
Parks meiden.
Beſonders der 9. November hatte Alt und Jung aus den Häufern auf
die Straßen gelodt. Diefer Tag ift befanntlich der Anfang der jeweilig
einjährigen Amtsdauer des Lordmayor, und nad althergebraditer Sitte zieht
der neuerwählte Bürgermeifter in feierlichem Aufzuge dur die Hauptitraßen
der City und von Weſtend. Obgleih nun der Zug felbit durchaus nicht
ala ſehr ſehenswerth bezeichnet werden kann, — denn er befteht mit Aus
nahme einiger weniger, allerdings prächtiger und des reichen Londons wür—
diger Staatswagen, aus ganz gewöhnlichen Equtpagen, einigen Milttair-
mufifhören, einer Unmaffe von Fahnen der Londoner Corporationen und
den ganzen Zug einfaffenden Hufaren; — fo läßt ſich doch fein Londoner
nehmen , feinen neuen geftrengen Herrn ſchon am erften Tage feiner Amts—
dauer von Angefiht zu Angeficht Fennen zu lernen, mobei er dann auch, wenn
nöthig, die erforderlichen Ausftellungen in Form von harmlofen Witen gleich
an die richtigfte Adreffe befördert. Der einmal auf diefe Weife in der löb—
lichſten Abfiht unterbrochene Arbeitdtag wird dann im meiteren Verlaufe
gleich zum richtigen Volksfeſt und befonder8 Abends ergeht ſich das Volk in
den feitlich illuminirten Straßen bis fpät in die Nacht hinein mit harmlofen
aber darum um fo ergößlicheren Scherzen. Man möchte denken, es wäre
plögiih Faſching geworden, die zahlreichen Schaaren, die Kasperletheater,
fonftige improvifirte Schauftellungen und ohrenzerreißende Concerte, natürlich
alles auf offener Straße — vereinigen fih um die Illuſion möglichſt vollſtän—
dig zu machen.
Und das Alles in Rondon, in der Hauptftabt dedjenigen Volkes, das
fonft als kalt und egoiftifch berechnend verſchrien ift, in der Hauptitadt des
„Krämer: Bolked*? MWahrlih, wer Gelegenheit hatte, Engländer auf ihren
Sommervergnügungdreifen auf dem Gontinent zu beobachten, wo fie ja be
fannter Maßen nicht® weniger ald Frohfinn und harmloſe Heiterkeit, ge—
Ihmweige denn etwa Liebenswürdigkeit zur Schau tragen, und fie dann wieder
in England felbft, außerhalb der Gefchäfte, bei ihren Vergnügungen, oder
gar bei Volkäfeften fieht, der kann ſich ob des Unterſchiedes nicht genug
wundern. Aber wie England überhaupt das Rand der Contrafte ift, jo zeigt
fi die auch hier wieder. Im Gefchäft, befonderd dem Fremden gegenüber,
und in der Fremde iſt der Engländer egoiftifh und kalt, aber ebenjo wie er
in feinen vier Wänden voll Gemüth ift, wie da das eigene Heim feine tiefe
Seele zum Durchbruch kommen läßt, fo kann aud nur in der Heimath die
Volksſeele ſich zeigen.
Grenzboten IV. 1874. 48
378 |
Der Engländer in der Fremde und der in der Heimath find zmei ganz
verfähtedene Perfonen. Dazu kommt noch, daß befonderd unter den Ber:
gnügungdreifenden auf dem Gontinent fich fehr viel — Ausſchuß befindet;
e8 ift diefe Bemerkung ſchon fehr oft in Deutſchland gemacht worden und
e8 fcheint faft, als, ob bier Geift und Körper Hand in Hand gingen, denn
auch von den viel gerühmten englifchen Schönheiten ift auf dem Continent
wenig zu fehen, während hier zu Lande defto mehr und zwar ohne die ewige
blaffe Geſichtsfarbe.
Wenn London fchon zu gewöhnlichen Zeiten mit feinen fo überaus be
lebten Straßen und Brüden auf den Fremden und befonder® auf denjenigen,
der niemald früher in wirklich großen Städten gelebt hat, einen übermwäl-
tigenden Eindrud macht, wenn er fi kaum in den anfcheinend regellofen
Tumult wagt, aus Furt, er möchte buchftäblich darin umkommen, fo ift |
natürlih zu Zeiten, mo Alles fih auf den Straßen nah Schaugeprängen
drängt und zudem nod der an fidh ſchon lebhafte Wagenverfehr aus den
großen Hauptftraßen in die Eleinen Seiten« und Nebenftraßen verdrängt ift
und fih da mühfam durchwindet, der erfte Eindrucd ein noch betäubenderer.
Man wird beflommen, man fürdhtet irgend welches Unglüd vor feinen Augen
fih ereignen zu fehen.
Aber nichts von alledem, es hat nur den Schein, ald ob irgend ein
tückiſches Geſchick den Menfchen zu ereilen Taure, die Verwirrung, der Tumult,
Alles löſt und Härt fi in wenig Minuten, es wickelt fi Alles mit einer
eigenartigen Ruhe und doch verhältnigmäßiger Geſchwindigkeit ab. Es ilt
harakteriftifch für London, daß die niedern Stände zu ſolchen Straßenauf:
zügen oft mit Kind und Kegel ziehen, daß man im dichteften Gedränge Kleine
Kinder, die noch auf den Armen getragen werden, und zwar nicht nur ver-
einzelt fieht, und daß alle diefe Eleinen Weltbürger, wenn auch häufig fchrei-
end, doch fiher und ohne Schaden wieder nad) Haufe fommen.
Was ift dad Geheimniß diefer fo eigenthümlichen, fo beruhigenden Er-
ſcheinung? Halten etwa einzig und allein die Taufende von Policemen, die
in den Straßen aufgeftellt find, die Ordnung aufreht? Gewiß tragen fie
fehr viel dazu bei, aber fie allein find e8 nicht, fondern die Gefammtheit des
Volkes ift ed, welches eine Ehre darein ſetzt, womöglich ohne irgend melde
Bolizeihülfe die ſchwierigſten Verhältnifje zu Elären. Wenn wirklich einmal
ein Ruhe⸗- und Drdnungäftörer fich bemerflich machen will und ein Pollceman
einfchreitet, fo unterftüst das Publitum, wenn irgend nothmendig, denfelben
bereitwilltgft, aber es tft förmlich unangenehm überrafcht darüber, daß ed
überhaupt hat fo weit fommen können.
Gelbft an Pläten, wo fünf, ſechs ja fieben Straßen fich treffen, Eommen
Stodungen und Sperrungen fehr felten vor, man hört feine fohreienden und
Pe
379
fi zanfenden Yubrleute, die fih um den Vorrang ftreiten und damit mehr
Zeit und Lunge vergeuden, ald die ganze Sache werth if. Jeder Wagen
wartet bis die Reihe an ihm iſt; ein einfacher Wink des Schutzmanns genügt,
um den Verkehr zu regeln, und indem fi ein Jeder bemüht, die Ordnung
nach Möglichkeit aufrecht zu erhalten und dabei etwaigen Bolizeianordnungen
unbedingt Folge leiftet, gelangt auch ein Feder am fehnelliten und ficheriten
zu feinem Biel,
Welch wohlthuenden Contraſt bilden foldhe Zuftände gegen die unferer
lieben deutſchen Hauptſtadt Berlin.
Mer jemald Gelegenheit hatte fih in Berlin ſowohl zu gewöhnlichen
Zeiten, als befonders zur Zeit von Feſtlichkeiten aufzuhalten, der wird be-
merft haben, daß an befonder® lebhaften Punkten der Stadt die zahlreich
zu Roß und zu Fuß aufgeftellte Polizei faum im Stande ift, den Verkehr
in Ordnung zu erhalten. Die Wagen fahren häufig durch einander, fo daß
fie fich verwirren, die Kutfcher fuchen ihr Recht ihres Gleichen gegenüber,
häufig von der Peitſche in der Hand Gebrauch machend, zu bemeifen, und
wenn bei feierlihen Aufzügen die Polizei für diefelben Pla machen will und
etwaige vorlaute Straßenjungens zurecht weiſt, fo wird fie bei der Ausübung
diefe® ihres nothmwendigen Amted von dem anmefenden Bublitum aufs Gröbſte
durch widerwärtiges Gefchrei verhöhnt. Wo überhaupt irgendwo in Berlin
die Polizei auf öffentlicher Straße einfcreitet und dafür, daß das häufig ge
nug vorfommt, forgt ſchon das fi auf den Straßen bewegende Publikum,
giebt es eine fehr große Anzahl von Perfonen, die gegen die Polizei Partei
ergreifen, mag diefelbe noch fo fehr in ihrem Rechte fein. Man mag mir
vielleicht entgegenhalten, daß das Alles nur vom Pöbel gethan werde und
ich will das bereitwilligft zugeben, aber dann muß ich einen erftaunlich großen
Theil der Einwohnerzahl zum Pöbel rechnen, Kreiſe, die man fonft nicht
dazu zu zählen pflegt. Man wird mir vielleicht erwidern, daß die Polizei
felbft eine fehr große Schuld an diefen Zuftänden trage, weil ihre niedern
Drgane vielfach) aus rohen, ungebildeten Leuten beftänden, die da8 Publikum
nicht richtig zu behandeln wüßten. Auch daran mag viel Wahres fein, aber
jedenfalls ift diefe confequente Widerfeglichkeit gegen alle Anordnungen der
Polizei, die duch fo viel Schichten der Berliner Bevölkerung geht, am aller-
mwenigften dazu angethan, die Polizei und ihre untern Organe zu befjern.
Es wäre wohl eine würdige Aufgabe derjenigen Berliner Preſſe, die vor:
zugsweiſe von den niederen Ständen gelefen wird, dad Volk dahin zu erziehen,
daß die oben angebeuteten, der deutfchen Hauptftadt fo unwürdigen Zuftände,
fich beffern und mildern. Ye mehr das Publitum feinen Widerftand abftreift,
um fo mehr wird fich auch die Polizei bemühen, höflich zu fein; wenn aber
ein großer Theil der ebengenannten Preffe mit Vorliebe nur die etwaigen
380
’
Mifgriffe der Polizei erzählt, ohne gleichzeitig etwaige Parteinahme gegen
polizeiliche® Einfchreiten, das fi auf offener Straße nothwendig machte, mit
derfelben Strenge und Schärfe zu rügen, felbft auf die Gefahr Hin, dadurch
einige Abonnenten zu verlieren, fo ift das nicht geeignet, auf die Polizei
beſſernd und fördernd einzumirfen.
Ich mollte von London berichten und bin dabei nach Berlin gekommen,
es ift aber auch zu naheliegend, die hiefigen Zuftände mit denen unferer
Hauptitadt zu vergleihen, um daraus nah Möglichkeit für und Nutzen zu
ziehen. In jedem Deutfchen, der feine Hauptftadt lieb hat, muß der Wunſch
rege werden, wenn er die hiefigen Berhältnifie kennen lernt, von bdenfelben
möglichft viel für Deutfhland nusbar zu machen und da find es vor allen
Dingen die Verfehräverhältniffe, die bier mwohlthuend in die Augen fallen.
Trogdem der Berliner Straßenverkehr bet weitem nicht fo bedeutend ift,
wie der biefige, troßdem die Berliner Straßen größtentheil® breiter find wie
die hiefigen, macht fich der betäubende Straßenverkehr in Berlin an vielen
Punkten in viel unangenehmerer Weife bemerkbar ald bier, und es ift das
ganz gewiß dem oben gerügten Verhalten der Berliner felbft zuzufchreiben.
Alle die Vorfhriften, die zur Regelung eines fo immenfen Verkehrs nothwen—
dig find, werden hier überall ftreng befolgt, auch da mo Feine Schugleute
aufgeftellt find ; in Berlin dagegen felbft da Faum und überall da, wo feine
Bolizei ift, mit Vorliebe übertreten. Hier ift jeder von dem Gefühl durchdrun—
gen, daß er allen gefeglihen und polizeilichen Anordnungen unbedingte Folge
leiften muß, er weiß, daß er dabei am Beften fährt und fo ſucht auch auf der
andern Seite die Polizei mit rühmlihem Eifer darnad ihre Maafregeln und
Anordnungen immer forgfältiger, richtiger und praftifcher zu treffen. Man ift
ſich gegenfeitig bemußt, dag man nicht nur Rechte fondern au Pflichten hat,
und in diefer Beziehung können wir Deutfchen noch fehr viel von den Eng—
ländern lernen. Die englifehen Zuftände find in diefer Hinficht beinahe ideale
zu nennen, wenigftend werden wir fie, beſonders in Berlin nie erreichen, weil
die Bevölkerung eine zu verfchiedene if, der Berliner wird nie von feinem
Iharfen beißenden Spott laſſen Fönnen, der fo leicht zu gegenfeitiger Berbiffen-
heit führt und fehr begreiflicher Weife nur die Mißgriffe der Behörden fieht.
Man könnte übrigend nad) dem oben Gefagten vielleiht glauben, daß in
London die Polizei niemals gegeißelt, niemald ins Bereich des KNächerlichen
gezogen würde und da diefe Anficht eine falfche wäre, fo will ich bier aus—
drücklich erwähnen, daß beinahe in jeder Poſſe ein Policemen ala Eomifche
Figur erfeheint. Der Spott ift aber fehr harmlofer Natur und befteht in der
Regel darin, daß die Polizeigewalt von Leuten, die die Londoner Verhältniffe
nicht Eennen, zur Schlihtung von Streit und Unordnung angerufen wird, bei
ihrem Erſcheinen aber alles fchon wieder in ſchönſter Ordnung findet. Die Ge
381
ſellſchaft Hat fich felbft geholfen, fo daß zu allgemeiner Heiterkeit die Polizei
als überflüffig wieder abziehen muß. Es ift das echt charafteriftifch für die
hiefigen Anfhauungen. Wenn auch keineswegs die Schlußfolgerung, daß die
Polizei überflüffig ſei, richtig ift und auch ernftlich nicht geglaubt wird, fo ha—
ben in Bofjen derartige Mebertreibungen doc gewiß ihre volle Berechtigung,
und der Kern der Sache ift der, daß die Gefelichaft, mie ſchon Eingangs
bemerkt, eine Ehre darein fest, ernftlihe Unordnungen überhaupt nicht auf-
fommen zu laffen.
Daß eine derartige Selbftverherrlihung auf der Bühne nichts meniger
ala Schön und nachahmenswerth ift, verfteht ſich von felbit, ich führe fie auch
durhaus nicht etwa als empfehlenäwerth an, fondern eben nur als Beleg
für das allerdings fehr nachahmenäwerthe Beftreben aller Rondoner Bevöl-
ferungäf&ichten, etwaige Ruheftörer von vorn herein in ihre Schranken zurüd-
zuweiſen.
Es iſt auch nicht dieſes Beſtreben allein, das die ſo wunderbare Rege—
lung des immenſen Straßenverkehrs bewirkt, ſondern ed kommt noch eine
Reihe von anſcheinend unbedeutenden Kleinigkeiten dazu, die, alle vereint,
mächtig dazu beitragen, und von denen ich hier einige anführen mil. Man
findet bier fehr häufig, gerade an den belebteften Punkten, fo z. B. bet der
Kreuzung von Fleet-Street, Lodgate Hill und Farringdon Street in der City,
daß in Mitten der Straßen große Badcandelaber, Pyramiden oder dergleichen
mehr errichtet find, die alles Fuhrwerk viel wirkſamer zwingen die vorgefchrie-
benen Wege zu machen, ald die etwa in Berlin zu demfelben Zmed in Mit—
ten der Straßen aufgeftellten berittenen Schugleute, die wirklich um dieſen
ihren Poſten nicht zu beneiden find. Es wäre ſchon aus humanen Rück
fihten diefe Einrichtung fehr empfehlendwerth und menn vielleicht auch die
erfte Anlage theuer, fo wäre doc) die Unterhaltung gewiß billiger. An manchen
andern Orten hat man denfelben Zweck dadurch erreicht, daß man die Droſch—
fenhaltepläße nicht an die Seiten, fondern in die Mitte der Straße gelegt
bat. Derartige fefte Gegenftände laffen fi nicht fo leicht umgehen wie
Menfhen, felbft wenn vdiefelben beritten find. Es führt das dann
naturgemäß zu einer andern Einrichtung, die nicht minder empfehlenämerth
ift, nämlich zu der, daß nicht nur das Pflafter an den Seiten der Straßen
von derfelben Güte ift, wie in der Mitte, fondern fogar fehr oft beffer, ja
daß ſich dafelbft oft Bahnen für fehr ſchweres Fuhrwerk befinden, wie 3. B.
auf der Kondon Bridge. Es wird dadurch naturgemäß die Breite der Straße
in viel umfafjenderer Weiſe ausgenutzt, als 3. B. in Berlin, wo troß der brei-
teften Straßen fehr häufig nur ein fohmaler Streifen in der Mitte fih in
fahrbarem Zuftand befindet, während der Reſt der Straße für Fußgänger und
Wagen gleih unpaffirbar ift. Hoffentlich wird in Berlin durch die jest im
382
Bau begriffene Ganalijation aud hierin eine Wendung zum Beffern eintreten,
Indem bei Bejeitigung der Rinnfteine die Straße wirklich im ihrer ganzen
Breite als folche hergeftellt wird.
Freilich Eoften derartige Anlagen, wie überhaupt Straßenpflafter, weldes
nach Londoner Begriffen gut fein fol, fehr viel Geld und wir können uns
leider in diefer Hinficht mit London noch lange nicht meffen. Aber immerhin
könnte in diefer Hinfiht in Berlin, forte andern deutfchen Städten bedeuten?
mehr gefchehen, als es der Fall ift, denn die Städte haben doch von der fo
außerordentlihen Zunahme von Handel, Snduftrie und Einwohnerzahl, wenn
diefelben auch manche Unannehmlichkeit im Gefolge haben mögen, ihre
immenfen Vortheile und es ift daher nur recht und billig, wenn der Verkehr
von ihnen Gegenleiftungen verlangt.
Ebenfo traurig, wie mit den Straßen tft e8 in unfern deutfchen Grof-
ftädten auch mit den fih auf denfelben bewegenden öffentlichen Fuhrwerken
beftellt, wenn man fie mit den hiefigen Caps, Handſomes und mie hier die
Droſchken fonft noch heißen mögen, vergleicht. Man findet Hier durchweg
gute Wagen, gute Pferde und freundliche Kutfcher und diefe 3 vorzüglichen
Dinge find allen deutfchen Städten aufd dringendfte zur Nahahmung zu
empfehlen. Wenn die Drofchfenbefizer für die Preife, die jett in Deutfchland
üblih find, nicht? Beſſeres liefern können, fo mögen fie mehr fordern, jeden-
falls aber müßten im Intereſſe des Publitumd größere Schnelligkeit und
bequemere Wagen gefordert werden. Wer billig fahren will, kann fich dei
Dmnibus bedienen, wer fchnell fahren will, Fann dafür bezahlen, muß aber
dann auch die Garantie haben, daß er wirklich gut bedient wird und dieſe
Garantie hat man in Deutichland beinahe in feiner größeren Stadt. Wer
dazu verdammt ift, von einer Berliner Droſchke II. Claſſe, oder 3. B. auf
einer Leipziger Drofchke auf ſchlechtem Pflafter Gebrauch machen zu müffen
und, wenn er nicht fehr frühzeitig aufbricht, dazu noch zu fpät auf den
Bahnhof Fommt, auf der andern Seite aber mieder Gelegenheit hat, Rondoner
Droſchken zu benugen, der wird den ganzen mwohlthätigen Gegenfas tief
empfinden. Es tft eigenthümlih, daß in Dentfhland, mo z. B. für bie
Bequemlichkeit ded Publikums auf den Eifenbahnen fo bedeutend mehr ge
hieht wie in England und das Publikum über engliihe Waggons ein ent-
fetsliche8 Gefchret erheben würde, der Sinn für fehnelle und /bequeme Fahrt
von der Wohnung nah dem Bahnhofe beinahe gänzlich fehlt. In London
ſucht ein Seder, der zur Bahn muß, den Weg dahin in möglichft Eurzer Zeit
zurüdzulegen; es kommt im Bergleih zum Billetpreis der Preid der Droſchke
auch kaum in Betracht, befonderd nicht in Deutfchland bei unfern meiten
Entfernungen, und troßdem haben wir gerade in Deutſchland fo über alle
Maaßen ſchlechte Straßenfuhrwerke, daß man wirklich nicht weiß, mas bei
383
unangenehmere Theil einer längeren Reife tft, das mehrftündige Eifenbahn-
fahren, oder das doch nur Furze Drofchfenfahren. Bei kurzen Reifen von
nur 3—4 ftündiger Dauer tft ficherlich das letztere der Fall. So bin ih auf
die Eifenbahn und ihre Verbindungen mit den Straßen gefommen und über
diefen Theil des Londoner Verkehrs gedenfe ich ein ander Mal zu berichten.
Alfred Blum.
Briefe aus der Kaiferfladt.
Berlin, 29. November.
Diesmal aljo den Lindau'ſchen „Erfolg“! Wie gefagt, das Etüd hat
in der Preſſe großen Lärm gemacht, vorher viel Reclame, nachher viel Ent-
rüftung — Beides unverdienterweife. Es ift, rein objectiv beurtheilt, eins
der harmloſeſten Ruftipiele von der Welt. Gegenüber der mehr ala zmeifel-
haften Atmofphäre, die in deöfelben Verfaſſers „Diana“ herrſcht, oder viel»
mehr herrſchte — denn fie gehört längft zu den Todten —, iſt hier eine
erfreuliche Wendung zum Beflern zu conitatiren. An vielen Stellen wird man
lebhaft an Benedir erinnert. Freilich ift auch der „Erfolg“ noch weit davon
entfernt, Dasjenige zu fein, ald was ihn der Dichter felbft bezeichnet: ein
Stüf wahren Lebens. Die meiften der bier angeführten Situationen find
in der Gejellfchaftsfphäre, in welche fie Lindau verlegt, mehr oder weniger
unmöglid. Immerhin ift die Unmwahrfcheinlichkeit nicht fo auffallend, um
den Eindrud ded Ganzen zu ftören und fo kann es bei den höchſt befcheidenen
Anforderungen, welche das Publifum an die heutige Luſtſpieldichtung ftellt,
nicht Wunder nehmen, wenn der Erfolg wirklich „Erfolg“ gehabt hat.
Einer ftrengen Prüfung freilich Hält das Stüd feinen Augenblid Stand.
Die Fabel iſt fehr dürftig, die Handlung im Ganzen ziemlich eintönig. Ein
Journalift, Fritz Marlow, hat ein Luſtſpiel, betitelt „Ein Erfolg“, gefchrieben ;
es fol demnähft zur Aufführung gelangen. Zu gleicher Zeit wird Marlow
von feinem Freunde Klaus zum Heirathen gedrängt. ‘Der legtere hat feine
Goufine Eva für ihn in petto. Klaus „befieht“ fich diefelbe; fie macht Eindrud
aufihn. Er verräth feinen Freunden, daß er ein Mittel habe, dem fein junges
Mädchen mwiderftehen könne: erft fage er der zu Gemwinnenden: „Sie find ein
ganz eigenthümliches Fleines Mädchen” ; dann ſchenke er ihr eine Roſe; fchließ-
li declamire er das Eichendorf'ſche Gedicht: „Die Welt ruht fill im Hafen.“
Ein Intrigant, Baron Fabro, hinterbringt diefe Frivolität der Kleinen Eva;
=
384
fie geräth außer ſich über ſolch bodenlofe Schlechtigkeit des Mannes, für den
fie „fo ſehr geihwärmt“. Da eben fommt Marlow. Er beginnt die An-
wendung feines unfehlbaren Mitteld und nun kennt Eva's Zorn Feine Grenzen
mehr. Gr zieht befhämt von dannen und fie zerfließt in Thränen. Am andern
Tag Aufführung des Stücks. ine bezahlte Oppofitton Hat die beiden erſten
Acte nahezu zu Falle gebracht. Eben hat der dritte Act begonnen. Eva,
die mit ihrer Mutter im Theater ift, kann das traurige Schidjal Marlow's
nicht mehr mit anfehen, er „thut ihr gar zu leid“; fie bleibt allein im
Foyer zurück. Da flürzt der Dichter heraus, ganz in Verzweiflung. Nun
eine lange Bemitleidungd- und Ermuthigungdfeene, die mit der unvermeid-
lihen Liebeserklärung abjchliegt, während drinnen im Theater der dritte Act
felbftverftändlich den entſchiedenſten Erfolg davonträgt. Damit endet auch der
dritte Act des Lindau'ſchen Stücks. Der vierte ift nur noch dazu da, dad
Hochgefühl des gefeierten Dichterd zu veranfchaulichen und der heimlichen
Verlobung aus dem Foyer die conventionelle Sanction zu geben. Das ift
der Kern der Fabel; eine Reihe von Anfäben, die fih um ihn gruppiren,
ift ohne organifhen Zufammenhang mit ihm.
Der Schwerpunkt ded Ganzen fällt in die Scenen zwifchen Marlow und
Eva. Sie find au die natürlichiten und anfprechendften des ganzen Stüdee.
Wie die Badfifchnaturen ſtets Lindau's Force geweſen find, fo tft ihm
auch bier wieder der Charakter der Eva am beften gelungen. Biel zu ber
gewinnenden Wirkung deöfelben trägt freilich das unübertreffliche Spiel der
Fräu Hedwig Niemann-NRaabe bei, welche mit diefer Rolle ein hoffentlich recht
langes Gaftfpiel an der Eönigl. Bühne begonnen hat. Neben der Eva ift
deren Mutter, ein dichtender Blauftrumpf, doch eine gutherzige Frau, am
meiften mit individuellem Leben ausgeftattet. Was der Dichter an der Figur
etwa noch verfäumt hat, weiß die geniale Kunſt der Yrieb-Blumauer hinzu
zufügen. Der Held des Stückes dagegen, Fri Marlow, ftreift bereit?
ftarf and Schablonenhafte Die übrigen Perſonen find entweder nur
ſtizzenhaft angedeutet, oder man weiß fchlechterding® nicht, mad man
in diefem Rahmen mit ihnen anfangen fol. So die Figur ded Baron Fabre,
Wer er tft, woher er fommt und wohin er geht, warum er von einen tödt-
tihen Haß gegen Marlom befeelt tft — darüber, kurz über Alles, was ihn
eigentlich als nothwendigen Beftandtheil des Ganzen Fennzeichnen fönnte,
bleiben wir vollftändig im Dunkeln. Er fol das böfe Prinzip darftellen,
„einen Theil von jener Kraft, die ftet? das Böſe will und ſtets das Gute
ſchafft.“ Die Aufgabe erfüllt er; warum er fie aber grade in diefer beftimm-
ten conereten Geftalt erfüllt, darüber bleibt er und jede Rechenſchaft fhuldig.
Der Dialog tft lebendig, die Sprache theilmeife edel und fchmwungvoll,
theilmeife aber auch entfeglich falopp. Wo Lindau den Ton der ungezwungenen
385
Umgangsſprache anfchlägt , ift er ftetö in Gefahr, platt zu merben. Das
gleiche Schickſal hat fein Wit; derfelbe ift fortwährend hart an der Grenze
des Kalauerd, wenn er diefelbe, was aud vorkommt, nicht vollend® über-
ſchreitet.
Alles in Allem iſt das Stück, wie geſagt, harmlos und menig bedeutend.
Die Abſicht des Dichters iſt allerdings eine nichts weniger als harmloſe
geweſen; den Erfolg des „Erfolges“ aber hat er lediglich dem Umſtande zu
verdanken, daß das große Publikum von dieſer Abſicht nichts merkt. Die
Abhandlung, welche eine Freundin Marlow's im Theaterfoyer über den Un—
verſtand und die Haßſeligkeit der Kritik, und die larmoyanten Stoßſeufzer
welche Marlow ſelbſt in gleicher Richtung zum Beſten giebt, werden von der
Majorität des Auditoriums geduldig mit in den Kauf genommen, ohne daß
man ſich etwas Beſonderes dabei denkt. Die Berliner Kritik indeß ift nicht
ſo gutmüthig geweſen. Sie hat überall perſönliche Anſpielungen gewittert
und darüber gewaltigen Lärm geſchlagen. Herr Lindau verſichert nun freilich,
daß er an perſönliche Anſpielungen gar nicht gedacht habe. Dann bleibt aber
zum mindeſten auffallend, daß ſeine guten Freunde Wochen lang vor der
erſten Aufführung die detaillirteſten Andeutungen über die in dem Stück per—
fiflirten Perſönlichkeiten gemacht haben und daß der Autor in der That einer
diefer Perfönlichkeiten den Wortlaut verfchiedener Sätze aus der Kritik eines
biefigen Schriftfteller8 über feine „Diana” in den Mund gelegt hat. Für den
nur halbwegs Kundigen Tann fein Zmeifel fein, daß Lindau fi mit dem '
‚Erfolg* an feinen Tadlern rächen mollte. Daß die Eönigliche Bühne fich
auf diefe MWeife zum Mittel für des Dichterd Privatzwecke bergab, ift immer:
hin ein ſtarkes Stück. Bielleiht mag die Bühnenleitung von vornherein der
Meberzeugung geweſen fein, daß das Publikum diefe Seite des Stücks mehr
oder weniger überfehen werde. Uber es ift dem königlichen Schaufpielhaufe
nicht erfpart geblieben, am Abend der erften Aufführung der Tummelplag
eined größeren Skandals gemefen zu fein. Hoffentlich ift man in Zukunft
etwas forgfältiger darauf bedacht, den der wahren Kunſt gewidmeten Tempel
vor folder Entweihung zu bewahren.
Unter den Eleineren Bühnen fei heute in erfter Linie des Reſidenztheaters
gedacht. Dasſelbe Hat im Laufe des Sommers eine höchſt vortheilhafte Ver—
jüngung feiner Räume vorgenommen und zählt jest, was gefchmadvolle
Eleganz der Ausſtattung anlangt, zu den erften Etablifjement3 der Haupt-
ſtadt. Was die fehaufpielerifchen Reiftungen betrifft, fo gehören diefelben
au in der gegenwärtigen Satfon mit zu dem Beften, was und außerhalb
der Föniglichen Bühne geboten wird. Es kann freilich bedauert werden, daß
biefe Reiftungsfähigkeit faft ausſchließlich an das franzöfifche Senfationgdrama
verſchwendet wird, aus welchem das Mefivenztheater fich ſeit Jahren eine
Grenzboten IV. 1874. 49
386
Specialität gebildet hat. Zwar hat ed wiederholt den Anlauf genommen, in
andere Bahnen einzulenken, fo auch jett wieder bei feiner Neueröffnung, aber
ftet8 ohne Glück. Unter diefen Umftänden wird man denn freilich nichts
dagegen einwenden fönnen, wenn diefe Bühne auch jebt wieder ihre Haupt:
aufgabe in der Pflege des genannten Pariſer Genred erblickt. In dieſer
Richtung hat fie und foeben mit ded jüngeren Dumas „Monfieur Alphonſe“
befannt gemacht. Das Stüd gehört zu der Gattung der Ehebruchsdramen,
aber es tjt eine ganz befondere Spielart derfelben. Ein biederer Schiffe:
capitän in bereits vorgerüdten Jahren, Herr Montaiglin, befitt eine reizend:,
noch ziemlich junge Frau, Raymonde, und einen noch dito Freund, Detave.
Der Letztere befleigigt fich eined wenig erfreulichen Lebenswandels, tft aufer
dem im Begriff, fich mit einer gefellfchaftlich und geiitig tief unter ihm ſtehenden
Frau, einer Reftaurateuröwittme und ehemaligen Köhin von nicht ganz
zmweifellofer Vergangenheit aber fehr anfehnlichem Vermögen, Madame Guichard,
zu verheirathen. Alle Gegenvorftellungen Montaiglin's jind vergebene. Um
feinen Plan auszuführen, muß Oetave aber noch einen Gegenftand aus dem
Wege fchaffen. Er hat eine Tochter. Angeblich um fie vor der Guidard
ficherzuftellen, bittet er den Finderlofen Montaiglin, fie in feinem Haufe auf
zunehmen. Das elfjährige Kind wird gebracht. E83 ift, wie fich bald genug
beraugftellt, die Tochter von Montaiglin’d Frau. Die migtrauifche Guichard
hat Witterung von dem Kinde befommen, fie rückt friſchweg in das Haus
des Gapitäng, zwingt Oetave in der demüthigenften Weife zum Geftändnik
und verlangt dann, daß man das Kind ihr gebe. Detave fagt zu, nad
Ablauf einiger Stunden foll die Kleine geholt werden. Begreiflih der
Schreden der wahren Mutter, als ihr diefe Kunde fommt. Sie vergißt ſich
in ihrem Schmerze und — ihr Mann hat Alles errathen. Folgt nun bie
befannte Scene der verzweifelten Selbitanflage und, da die Unglüdlice
natürlich nur das „Opfer eines ſchmählichen Verraths“ geweſen, der groß
müthigen Berzeifung. Bon nun an vereinigted Vorgehen des Chepaaret
Montaiglin. Der Notar wird gerufen, Montaiglin erkennt die Eleine Adrienne
als feine Tochter an und der elende Detave wird gezwungen, als Zeuge zu
unterfchreiben.. Nun erfcheint Madame Guichard, die ſich inzwiſchen ald
Adriennens Mutter in das Givilftandsregifter hat eintragen laſſen. Man
begreift ihre VBerwunderung über das vorliegende fait accompli. ber fie
will nicht glauben, daß Detave ſich nur einen Scherz gemacht, ala er ihr
zugeftand, Adriennens Vater zu fein. Und richtig, durch eine Lift kommt
fie hinter den vollen wahren Sachverhalt. Nun ein gemaltiged Donnermetter
über den fauberen Herrn Dctave, oder, wie er fi in dem Haufe, wo fein
Kind erzogen wurde, nennen ließ, Monſieur Alphonfe, der ſchließlich ala der:
felbe impertinente Lump abzieht, ala welcher er fich das ganze Stüd über
387
gezeigt; darauf unter den Zurücbleibenden gegenfeitige Schmeichelei über
braven Charakter und endlich Auflöfung in allgemeinem Wohlgefallen. Das
mwenigftend wird der Dichter wohl beabfihtigt haben, dem deutfchen Gefchmad
aber kann er Wohlgefallen und Befriedigung unmöglich einflößen. Das Stüd
ift für unfer Empfinden von Anfang bi zu Ende aus den peinlichiten
Situationen zufammengefegt. Gradezu mwiderlich wirft e8, daß und die Kleine
Adrienne ald Metiterin in der Verftellung vorgeführt wird. Ste kennt ihre
Mama und liebt fie aufs innigfte, verräth dies Geheimniß In Gegenwart
Anderer aber mit feiner Silbe und feiner Miene. Ueber den fittlichen Werth
des Stüdd noch ein Wort zu fagen, ift überflüffig. Die technifche Mache
entfpriht dem, was man von einem gemandten Bühnenfchriftfteller von
Dumad’ Schlage erwartet. Der larmoyante Ton, welcher hie und da einzu:
reißen droht, wird durch das burledfe Eingreifen der Guichard immer noch
rechtzeitig verdrängt. Gefpielt wird das Stüd im Refidenztheater recht brav
und mit großer Sorgfalt. Für die Rolle der Adrienne hat man fih fogar
eigend ein recht talentvolled Mädchen vom Wiener Karltheater verichrieben.
Ein anderes franzöfifches Stück bat und neuerdings das MWallnertheater
vorgeführt, eine Poſſe von Gundinet, betitelt „Die Bureaufraten von Paris.“
Das Stück ift nad) zwei oder drei Miederholungen vom Repertoir verfchmwunden,
bat alfo einen eclatanten Mißerfolg gehabt, troß der vortrefflihen Charakter
figur, welche der Director der Bühne, Herr Lebrun, aus der Nolle des
Picaud de la Picaudidre gefhaffen hatte Der Grund der ablehnenden
Haltung unferes Publikums Tiegt nicht allein in der Breite der Handlung,
fondern mehr vielleicht noch in der gründlichen Verfchtedenheit der Anfchauungen
und Gewohnheiten. Iſt doch an der gleichen Klippe ſchon fo manche Wiener
Poſſe bei und gefcheitert!
Uebrigens Hat fih das Mallnertheater raſch von der Schlappe erholt.
In der vorlegten Woche ift es mit zwei Novitäten vorgegangen, die beide den
Beifall verdienen, welchen fie gleich Anfangs geerntet haben. Die erfte,
„Die Berfuherin“ von G. v. Mofer, tft eine einactige gefällige Kleinigkeit.
Weniger harmlos ift die andere, ein dreiactiges „Originalluſtſpiel“ von
J. 8. v. Schweißer, betitelt „Die Darminianer.” Im Grunde hat der
Darwinismus mit dem Stücke weiter nicht? zu fchaffen, als daß er von einer
Berfon, einem Profeffor, wirklich befannt, von einer anderen, einem Allerwelts-
entrepreneur, ald geeignetes Object zu fehwindelhafter Ausbeutung betrachtet,
von allen übrigen aber gehaft wird. Das Gro8 der Handlung befteht in
der Schilderung, wie ein um eine vornehme Dame fich bewerbender Baron
dur die Erinnerung an feine galanten Abenteuer in allerlei verzweifelte
Situationen verfeßt wird, in welche er auch feinen zufünftigen Schwager, den
Profeſſor, verwickelt. Es mag dem ehemaligen Soctaliftenführer Schweiger
wg
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ein verdienftliches Werk fcheinen, den „demoralifirenden Einfluß der höheren
Stände” zu geißeln. Schade nur, daß er fihhtlic mit immer größerem Be
hagen fchildert, je bedenklicher die Yage wird. Im Mebrigen ift Schweiger
Meifter in der Situationskomik, und fo find auch feine „Darwinianer“ recht
amüfant. Nur dürfen fie nicht „Quftfpiel* genannt werden, denn fie find
eine Boffe.
Biel Anziehungäfraft hat in legter Zeit das Stadttheater bewährt. In
Laube's „Böfe Zungen” begeifterte Frl. Veneta, in Benedix' „Afchenbrödel”
Frl. Both dad Auditorium. Hauptmagnet aber war und ift noch das Gaft-
fpiel des Herrn Emmerich Robert. In diefem Schaufpieler haben wir einen
durch und durch genialen Künftler vor und. Alle Achtung vor ſolch einem
Hamlet! Wie viele verfchiedene Hamlettypen find bereits über die Bühne
gegangen! Die Einen haben aus der Rolle einen fyftematifchen Peffimiften,
die Andern einen haarjpaltenden Dialektifer gemadt. Emmerich Robert ift
frei von jeder Schablone, mit erftaunlich feinem pſychologiſchen Verſtändniß
modelirt er den ſchwankenden, zerrütteten Charakter des Dänenprinzen nad
den wechfelnden Eindrüden und giebt fo eine zwar realiftifche, aber durchweg,
auch in den Momenten höchſten Affeet®, von ſchönem Ebenmaß getragene
Kunftleiftung von erfchütternder Wahrheit. Nicht minder bedeutend iſt fein
Humbert in Ponſard's „Der verliebte Löwe.“ Da iſt Alles aufs Keinite
ausgearbeitet, ohne jedoch einen Augenblid den Eindrud des Gefünftelten zu
machen. Möglich, daß diefe Ausarbeitung hie und da der frifchen Unmittelbar
feit einigen Eintrag thut. Als Humbert in dem ebengenannten Stücke, wie
als Uriel Acofta, hat Robert Momente, wo fi) und died Gefühl aufdrängt.
Aber wir nehmen diefen Eeinen Mangel gern in den Kauf, mwenn er die
Bedingung ift für die plaftifch-vollendete Ausgeſtaltung der Charaktere. Als
Held in dem Gutzkow'ſchen Trauerſpiel zeigte der Künftler in der Scene mit
der alten Efther, die durch Frl. Veneta vortrefflich gegeben wurde, eine Tragik
von unmiderftehlicher Gewalt. Es ift bedauerlich, ja faft unbegreiflih, daß
unfere Hofbühne, der Herr Robert vor einigen Jahren angehörte, eine folde
Kraft nicht zu halten wußte. Möge fie jett menigften® beftrebt fein, fie
wiederzugemwinnen | X. X-
389
Vom deulſchen Reichskag.
Berlin, den 29. November 1874.
Die fünfzehnte Sitzung des Reichsſtags am 21. November war unge—
wöhnlich reich an intereſſanten Zwiſchenfällen. Die bedeutungsvollen Aeuße—
rungen nämlich, welche aus mehr als Einem gewichtigen Munde, auch aus
dem gewichtigſten, der im Reichstag ſpricht, mad ganz verſchiedenen Rich—
tungen fielen, kamen mehr oder weniger gelegentlich zum Vorſchein und nicht
durch den gebotenen Zuſammenhang der Debatte. Inſofern waren es
Zwiſchenfälle.
Nach einer unbedeutenden Interpellation eines Mitgliedes aus den neuen
Reichslanden über die Behandlung zweier Franzoſen, verfocht der Abgeord—
nete Haſſelmann den Sonnemann'ſchen Antrag — der Antragſteller ſchien
abweſend zu ſein — auf Unterbrechung des gegen zwei ſocial-demokratiſche
Mitglieder eingeleiteten Strafverfahrens während der Seſſionsdauer. Der
Reichstag erhob einer conſtanten Gewohnheit gemäß den Antrag zum Beſchluß.
Nun folgte ein Ahnlicher und doch fehr verfchtedener Antrag des Abge—
ordneten Liebknecht. Der Antragfteller verlangte die Unterbrehung der Straf:
haft für drei verurtheilte Reichstagsmitglieder aus der focial» demofratifchen
Partei. Die Reichäverfaffung fehreibt bekanntlich im dritten Abſatz des Ar-
titel 31 vor, daß jedes Strafverfahren gegen ein Reichstagsmitglied, jede
Unterfuhung®» und jede Eivilhaft gegen ein ſolches für die Dauer der Sef-
fon auf Wunſch des Reichstags aufgehoben werden muß. Ausgeſchloſſen
aber it, mie man flieht, die Strafhaft von denjenigen gerichtlichen Freiheité—
Beſchränkungen, welche der Reichstag für die Dauer feiner eignen Arbeiten
von feinen Mitgliedern nehmen kann. Der Liebfnecht’fche Antrag konnte und
follte alfo nur darauf gerichtet fein, daß der Reichstag den Reichskanzler er-
juhen möge, auf die Beurlaubung der verurtheilten Abgeordneten hinzumirfen.
Unſeres Erachtens ift die NeichBregierung gar nicht competent, einen Verur—
theilten, der eine Strafhaft verbüßt, ihrerfeitd aus dem Gefängniß zu beur-
lauben. Hierzu Fann, wenn überhaupt Jemand, höchſtens das Gericht com-
petent fein. Was aber nicht innerhalb der Competenz der Reichsregierung liegt,
dazu kann auch niemand competent fein, diefelbe aufzufordern. Unſeres Erach—
ten® hätte die Vorfrage geftellt werden müffen, ob der Liebfnecht’fche Antrag
verbandlungäfähig fei. Wir Können e8 fonft erleben, daß der Herr Abgeordnete
beantragt, der Neichdtag möge die Nevolution decrefiren, oder einen ähnlichen
Cynismus. Denn auf anderes ift hierbei nicht abgefehen, als durch eyniſche
Beleidigungen in Nachahmung der Rolle Marat's den Reichstag aufzuhalten, in
feinen Arbeiten zu ftören und herabzumürdigen. Daß er Marat mit Erfolg nad):
390
eifert, bewies der Antragfteller unter anderm, als er erklärte, er fei der Leite,
auf die Wahrheit des Satzes zu verzichten, man dürfe einen politifchen Gegner
‚unfhädlih machen, todtfchießen u. f. w., mit andern Worten, daß der Meudel-
mord, gut ausgeführt, ein angemeffened und bequemes Mittel fei. Das
plumpe Sophisma, durch welches die Socialdemofraten ihren Läftereien einen
Schein von Begründung zu geben ſuchen, ift immer dasſelbe. Sie ftellen
ohne weiteres die beftehende Staatdordnung und die Vertheidigung derfelben
ald den Gewaltterrorismus einer vom Glück begünftigten Claſſe dar. Weil
es ihnen um eine Nevolution zu thun ift und nur um die Revolution, ohne
feften Glauben an das, mad aus der Revolution hervorgehen fol, darum
behaupten fie lügenhafter Weife, daß ihnen die Reform auf dem Wege all
mählicher Umbildung der praftifchen Verhältniffe und theoretifcher Bekehrung
der maßgebenden Gemwalten verfchloffen fei.
Wie zu erwarten war, konnte Herr MWindthorft, der mit Liebknecht den
Haß gegen dad Reih, wenn auch nicht den foctaldemofratifhen Haß gegen
die beftehende Geſellſchaft, theilt, fich nicht verfagen, das Waſſer, das ihm
der Socialdemofrat auf die Mühle getragen, zum Schwung feined Rades zu
benugen. Nachdem er gegen die Berftörung der Geſellſchaft die unerläßlichen
Berwahrungen eingelegt, nachdem er ala erfahrener Juriſt auch die formelle
Unzuläffigfeit des Liebknecht'ſchen Antrages anzuerfennen nicht umhin gekonnt,
ließ er feinerfeit3 die Sophismen tanzen, die feinem dafür gefhulten Kopf fo
leicht entfpringen. Da hieß es, es fet unflug, die Soctaldemofraten im
Reichstag nicht zu Worte fommen zu laffen. Nun erbitten wir die Antwort
jeded Verftändigen, was die Soctaldemofraten bindert im Reichstag zu Worte
zu fommen. Sol man fie ungeftraft Verbrechen begeben laffen, damit dem
Reichstag Fein Tropfen diefer Weisheit entgehe? Hatte Herr Windtborft an
der ftundenlangen Rede ded Abgeordneten Liebknecht nicht genug? Berlangt
ihn wirklih fo fehr nad den DOffenbarungen der Herren Hafenclever, Bebel
und Moſt? „S' ift nur mein Spaß gemefen“, glaubt der Zuhörer zu ver
nehmen, wenn er hört, mie Herr Windthorft die Anerfennung, daß der
Neihdtag eine Strafhaft nicht aufheben Fönne, zu dem Uebergang benußt,
wie wünſchenswerth eine ſolche Befugniß fet, meil die Strafhaft in unfern
Tagen fo häufig geworden. Herr Windthorſt zielt auf die zur Strafhaft
gebrachten Bischöfe, er zielt auf den der Sache der Bifchöfe freundlichen Bot-
ſchafter, über dem eine befannte Griminalunterfuhung ſchwebt. Den Haupt-
zweck hatte der welftfch »Elerifale Abgeordnete mit diefen burleäfen Inveetiven
erreicht, den Reichskanzler zur Ergreifung des Wortes aufzuregen. Die Ul-
tramontanen, wenigſtens ein Theil von ihnen, halten diefe Kampfweiſe für
ein diätetifches Mittel, „einen Gegner unfhädli zu machen“, was ber Abge—
ordnete Liebknecht für ein Grundrecht erklärt, Seitdem der verftorbene von
391
Mallinfrodt fich diefer Arbeit nicht mehr unterziehen kann, dispenſirt Herr
Windthorſt den diätetifchen — beinah hätten wir einen zwar parlamentarifchen,
aber doch allzu deutlihen Ausdruck angewendet; wir fagen alfo die diätetifche
Behandlung.
Der Reichäfanzler zeigte auf? neue, daß er veriteht, einem erboften
Gegner die Waffe in der Hand umzufehren. Er that e8 mit dem einfachen
Hinweis, daß die häufige VBerhängung der Strafhaft nicht an der Strenge
des Geſetzes, fondern an der häufigen Uebertretung desſelben liegt; daß für
die häufige Uebertretung des Geſetzes die hochſtehenden Beifpiele derer ver:
antwortlich zu machen find, die vorzugsweiſe auf die Achtung vor dem Geſetz
halten follten, außerdem aber die Befchaffenheit des Jugendunterrichtes bei
der Art, wie die Staatdauffiht über denfelben in den letzten 25 Jahren ge
ordnet war. Der Reichskanzler ſchloß mit der ftarf ironiſchen Wendung, daß
er thun merde, was er Fönne, um den inhaftirten Abgeordneten die Freiheit
zu verjchaffen, denn Reden wie die der Herren Haffelmann und Liebknecht
feien außerordentlich lehrreih und hätten lange gefehlt.
Es trat nunmehr Lasker der Unermüdliche, auf, um an die Liebfnecht-
ſchen und Windthorftihen Reden allerlei Bemerkungen über den Strafprozeh
zu fnüpfen, wie er gegenwärtig gehandhabt wird. Es waren diefe Be-
merfungen Vorwegnahmen der Debatte über den Entwurf der Strafprozeß-
ordnung, welche deghalb erjt bei diefer Debatte zu berüdjichtigen find. Der
Liebfnechtiche Antrag rief aber noch Herren Auguft Reichenfperger auf den
Rednerftand. Der Medner berief fich gegen die Ausführung des Reichskanzlers,
daß aus der häufigen Uebertretung des Geſetzes die häufige Verhängung der
Strafhaft folge, wieder einmal auf das Fatholifche Gewiffen. Der Reichs—
fanzler entgegnete fofort, daß wenn die Befolgung der Gefege vom Gewiſſen
abhängen folle, dad Gewiſſen jeded Deutfchen die gleiche Berechtigung haben
müſſe; ein ſocial-demokratiſches Gewiſſen diefelbe Berechtigung wie ein Eleri-
faled. Herr Auguft Reichenfperger nahm diefen fcharfen Hieb fehr empfindlich
auf. Er wollte feine Partei durchaus nit auf gleiche Linie mit den Social-
demofraten ftellen laffen, ohne jedoch eine fchlagende Abwehr zu finden. Die
reichsfeindliche Preſſe hat fich aber der Aeußerung des Fürften Bismarck fofort
wieder bemächtigt zu neuen Diatriben und UAnfchuldigungen, daß der Staat,
wie ihn Fürft Bismarck verfteht, auch das Gewiffen reguliren wolle Die
Wahrheit it, dag ein Conflict zwifchen Staat und Gewifjen nur eintreten
fann, wenn entweder der Staat oder dad Gemiffen in die Sphäre ded an—
deren übergreifen. Welche Erfcheinungen folgen, wenn die äußere Gewalt die
Sklaverei des Gewiſſens erzwingen will, davon hat die römische Kirche die
klaſſiſchen und abfchredendften Beifpiele der ſchaudernden Grinnerung aller
Zeiten binterlaffen. Welche Erſcheinungen folgen, wenn da® Gewiſſen von
392
fi aus die äußere Sphäre der Staatögewalt Ienfen und zum unmittelbaren
Drgan feiner Anforderungen maden will, davon mag die Schreckenszeit der
franzöfifhen Revolution ala Eaffifches Beiſpiel gelten. Das individuelle
Gewiffen hat dem Staat gegenüber nur das Recht, die Abfaffung der Geſetze,
fo viel e8 vermag, zu beeinfluffen, dann aber diefelben zu befolgen und, wenn
e8 died nicht zu dürfen glaubt, den Staat zu verlaffen, nicht aber das Bei-
fpiel der Auflehnung zu geben. Die Staatspfliht der Schonung des Ge:
wiffend aber ift eine unbedingte nur infoweit, als der Staat unter feinen
Umftänden Meinungen, fondern nur Handlungen gebieten und erzwingen darf.
Es folgten Kleinere Anträge und Borlagen, welche an die Gefchäfte-
orduungs-Commiſſion und an die Budgetcommiffion vermwiefen wurden. Den
Schluß der Sisung bildete die erfte Leſung einer Regierungsvorlage, ber
treffend die Steuerfreiheit de Neichdeinfommend. Diefe Vorlage, ſowie an-
dere ähnliche Beftimmungen über die Steuerfreiheit der Reichsbeamten in den
Gemeinden u. f. w. würden gar nicht nöthig fein, wenn wir zu einer ratio-
nellen Bertheilung der Steuerquellen zwifchen Gemeinde, Drtd-, Kreid- und
Provinzial«Gemeinde-Einzelitaat und Reich bereit3 gelangt wären.
Die natürlihe Cinnahmequelle der Gemeinden ift die Grund- und
Gebäudefteuer und von diefer follten unfere® Erachtens auch die öffentlichen
Gebäude der Einzelftaaten und des Reihe nicht ausgenommen fein, ſchon
darum nicht, damit Einzelftaat und Reich In den wichtigiten Gemeinden eine
unmittelbare Mitwirfung nicht entbehren, wie fie die Folge der Steuer
entrihtung fein muß. Da wir in Deutſchland den Gemeinden die richtige
Steuerquelle noch nicht übermiefen haben, fo verfuchen diefe ihre fteuerfordernde
Hand auf Alles zu legen, worauf fie Fein Recht haben, fogar auf Poſt und
Telegraphie. Diefer Zuftand macht Vorlagen wie die erwähnte unvermeidlich.
Statt der Palliativmittel jollte man aber ernftlih an die einzige durch—
greifende und gefunde Abhülfe denken. —
Sin feiner 16. Sisung am 24. November trat der Reichstag in die erfte
Berathung der drei großen Juſtizgeſetze über die Gerichtäverfaffung, die
Strafprozegordnung und die Civilprozeßordnung. Die Gefeßentwürfe follten
in der eben aufgeführten Ordnung zur Leſung fommen, und fo ift es aud
gefhehen. Der Reihdtag war jedoch übereingefommen, daß bei der erften
Leſung des Gefeged über die Gerichtöverfaffung die Redner fich gleichzeitig
über alle drei Gefegentwürfe verbreiten dürften. Daher geftaltete fich diefe
erite Refung zu einer Generaldiscuffion über die deutfche Juſtizreform Im
Ganzen, foweit fie bis jet dem Reichstag vorliegt. Diefe Generaldiecuffion
nahm zwei Sigungen in Anſpruch, die erfte Leſung der beiden anderen Gefete
je eine.
Die Generaldiscuffion bei Gelegenheit des erften Geſetzes, obwohl bie
393
drei Gefegentwürfe umfaffend, führte indeß nicht gerade zur Hervorkehrung
eined einheitlichen Gedanken? der ganzen Reform. Die Nedner wandten fi
bald dem einen bald dem andern Geſetz mit ihren Bemerkungen zu. Wir
thun dephalb am Belten, den Diecuffiondftoff nicht nach den Sitzungen,
fondern nad den drei Geſetzen einzutheilen, um welche er fih fammelte.
Trob des etwas fporadifchen Charakters ift auch die viertägige Ver—
handlung über die Yuftizreform des deutjchen Neichdtages durchaus würdig
gewefen, würdig eined großen Volkes, dem das feltene Glück zu Theil wird,
ein tiefe® langentbehrte® Bedürfnig feined nationalen Lebens in gereifter
Stunde mit gereifter Kraft löfen zu dürfen.
Das formelle Ergebniß der drei erften Lefungen war die Wahl einer
Commiffion von 28 Mitgliedern zur gemeinfchaftlichen Worberathbung der
drei Entwürfe. Am Schluß der erjten Refung des dritten Geſetzes wurde ein
Antrag des Abgeordneten Lasker zum Beſchluß erhoben, die Bereitwilligfeit
des Reichstags audzufprechen, einem Geſetz zuzuftimmen, welches die zur Vor—
berathung der drei uftizgefege ernannte Commiffion ermächtigen würde, ihre
Berathungen über die Dauer der gegenwärtigen Seffion zu erftreden, und
welches den Reichstag ermächtigen würde, dad Refultat feiner jest gewählten
Commiſſion während einer folgenden Seffion der gegenwärtigen Legislatur—
periode in Berathung zu ziehen. Vom Tiſch des Bundesrathes erfolgte jo-
gleih die Zufage der Vorlegung eines ſolchen Geſetzes, und der Antrag
Lasker ward einftimmig angenommen.
Wir wenden und nun zu der Würdigung, welche jeded der drei Juſtiz—
gefege bei der erften Leſung im Reichstag erfuhr. Zuerſt dad Gerichts.
verfaſſungsgeſetz. Bekanntlich enthält die in Betracht Fommende Vorlage
nicht eine vollftändige Gerichtöverfaflung, fondern nur Normen für die Or
gane der ftreitigen Gerichtäbarfeit, und auch diefe Normen nicht vollitändig.
Man Fann ed nicht tadeln, daß die Neichdgefeggebung vermeidet, in die ver,
waltende Thätigfeit der Juſtiz z. B. in Vormundfchaftd-, Grundbuchmefen ıc.
einzugreifen. Ebenſo mag die Regelung der freiwilligen Gerichtäbarfeit den
Ginzelftaaten überlafjen bleiben. Die einheitliche Regelung der Organe der
ftreitigen Gerichtsbarkeit ſollte aber durchgreifend erfolgen, und daß dies nicht
gefhehen, ward mit Recht in dem vorgelegten Entwurf ald ein ſchwerer
Mangel hervorgehoben. Der preußifche Zuftizminifter, welcher diefen Geſetz—
entwurf mit einem Einleltungsvortrag befürmwortete, berief fih, um die Un.
vollſtändigkeit des Entwurfs, deren Tadel er vorausſah, zu entfchuldigen, auf
den Wortlaut der Reichsverfaſſung. Man erinnert fih, daß im Mai 1872
die Abgeordneten Lasker und Miquel im Reichstag einen Antrag einbrachten
und durcbfesten, auf Erweiterung der No. 13 ded Artikel 4 der Reich?
verfaffung. In diefer No. 13 war urfprünglih auf dem Rechtögebiet al?
Grenzboten IV. 1874, "50
394
Gegenftand der Neichägefeßgebung bezeichnet: das Obligationenreht, Straf
recht, Handeld- und Wechſelrecht und das gerichtliche Verfahren. Die beiden
Antragfteller verlangten die Ausdehnung der Meichdgefeggebung auf das ge
fammte bürgerlihe Recht einfchließlih der Gerichtäverfaffung Die Worte
„einfchließlich der Gerichtsverfaſſung“ ließen fie jedoch im Kaufe der Berathung
unglüclicher Weife fallen, weil fie nach ihrer Erklärung nicht der Fuftizhopeit
der Einzelftaaten zu nahe treten wollten und weil — der zweite Grund ver-
trägt fich fchlecht mit dem erften — aus der Einheit des Gerichtöverfahrene
die Einheit der Gerichtäverfaffung, ſoweit ald nöthig, folge. Die Wahrheit
ift, daß aus der Einheit des Gerichtäverfahrend die Einheit der Berfaffung
wenigſtens für die ganze ftreitige Gerichtöbarkfeit folgt. Der Bundesrath hat
aber diefe nothmwendige Folgerung nicht gezogen, weil die particulariftifche
Strömung in ihm zu ftarf war. Der Reichstag aber macht die unerwünſchte
Erfahrung, wie peinlich die Folgen unzeitiger Schwäche find. Dem Ubgeord-
neten Radfer wurde in diefen Briefen bei der damaligen Cinbringung des
Antrages ein festina lente zugerufen, dem ſich die Nedaction der Grenzboten
nicht anſchloß. Wir wünſchten in der That, der damalige Sieg wäre nicht
mit dem Dpfer der Preidgebung ded halben Objected erfauft worden. Der
Particularismus im Bundesrath ftände heute vieleicht fchmärher da, menn
die Ermweiterung der No. 13 noch gar nicht unternommen wäre, al® jetzt, wo
fie in einem weſentlichen Punkte mißglüdt ift. Wie dem fet, es giebt Feine
ernftere Pflicht der patriotifchen Prefe, ald den Abgeordneten Lasker und die
Gleichdenkenden im Reichstag darin zu unterftügen, daß die einheitliche Dr-
ganifatton der ftreitigen Gerichtöbarfeit Feine halbe Maßregel bleibe. ine
folhe halbe Mafregel würde für die deutſche Nation um juriftifch zu reden
nicht nur ein große® lucrum cessans, fondern auch ein große® damnum
emergens bedeuten. Die neue DOrganifation will jeden Deutfchen zmingen,
bei jedem deutſchen Richter Recht zu nehmen, und doch foll der deutfche
Nichter in ſoviel verfchiedene Specie® zerfallen, in 25—26, al es deutſche
Bundedftaaten giebt, denn die Bedingungen der richterlichen Raufbahn follen
nad mie vor von den Einzelftaaten geregelt werden. Das iſt wider die
Natur der Dinge und wider dad Nechtögefühl. Soll die deutſche Nation
da8 lange Zeit unerreihbar geglaubte Glück einer einheitlichen nationalen
Rechtsbildung erleben, fo gehört ald Träger und Schüßer diefer Rechtsbildung
zu derjelben die große, einheitliche Körperfchaft eines gleichartig organifirten
Richterſtandes. Wie fein Recht, ſchwebt das deutfche Reich in der Yuft, wenn
es nicht auf einheitlichen Berufäftänden ruht, deren es bis jest nur Einen,
noch nicht. einmal durchgreifend einheitlich organtfirten, befitt, nämlid das
Heer. Das Clvilreichsbeamtenthum ift bis jetzt noch ein viel zu ſchwacher
Körper. Wie ſegensreich aber in jeder Nation ein anſehnlicher Richterſtand
395
ald moralifh mächtige, unzerfplitterte Körperfchaft für die Feſtigkeit und die
fittlihe Beſchränkung aller Lebenszuſtände wirkt, das beftätigt die Gefchichte,
wie es aus der Natur der Sache fih ergiebt. Wir dürfen die Gelegenheit
nicht verfäumen, von der wir nicht wiſſen, wenn fie wiederfehrt, diefed Gut
in feinen Grundlagen jegt zu erringen. Zunächſt wird für dieſes Ziel die
Reichstagsecommiſſion das Ihrige zu thun haben. Die öffentlihe Meinung
wird ihrer Zeit da8 hoffentlich für die Einheit der Gerichtsverfaſſung günftige
Werk der Commijfion zu unterftügen und den Neichdtag zu feiner Annahme
zu ermuthigen haben, damit die particulariftifche Strömung im Bundesrath
in diefer Angelegenheit von höchſter Bedeutung zum Weichen gebracht
wird. —
Die Charakteriftit der Verhandlungen über die beiden Ordnungen de?
Strafprozefjed® und des Givilprozefied bei der eriten Leſung müſſen dem
nächften Briefe aufgefpart bleiben, welchen die Sitzungen der nächſten Woche,
da es nicht immer fo fortgehen Fann mit den Verhandlungen von Gegen:
fänden erften Ranges, den nöthigen Raum zur Nahholung laffen merden.
C—r.
Weihnachlsbücherſchau.
Sm Verlage von Alphons Dürrin Reipzig erfcheint auch dieſes Jahr
eine jener wohlbefannten liebenswürdigen Weihnachtögaben von Däcar Pletſch
(mit Reimen von Franz Bonn), die von Alt und Jung mit gleihem Be-
bagen gefchaut und gelefen werden. „Neſthäkchen“ heißt Oëcar Pletſch's
neuefter Bildercyelus von 16 Blättern. Der Titel Eönnte melandolifh an-
gelegte Naturen mit ähnlichen düftern Ahnungen erfüllen, wie fie zuläffig
erfcheinen, wenn Jemand feine „Sefammelten Werke“ herausgiebt: dann darf
man wohl annehmen, der Mann fchafft nicht? mehr Hinzu. Und fo fünnte
man denfen, wenn Pletſch ſchon bis zum „Nefthäfchen“ gefommen tft, fo
wird fein Griffel nichts mehr zu thun finden, wenn das Kleinjte flügge ge
worden und der Kinderftube den Rüden gekehrt hat. Unbegründete Furt!
Keines diefer ſechszehn Blätter fieht nach Uebermüdung oder Greifenhaftigfeit
aus. Keines tft bier etwa untergebracht, wie ungelefene Broducte von Schrift:
ftellern in gefammelte Werke untergebracht werden, um damit zu räumen,
Vielmehr bekundet jedes diefer Blätter die alte Frifche und Freude des Schaffeng,
die Oscar Pletſch's erfte Zeichnungen zu Reichenau's unvergänglichem
Idyll deutfhen Familienleben? „Aus unfern vier Wänden“ (Reipzig
F. W. Grunow) berühmt machten.
Aus Reihenau’d Weder bietet allerdings der Grunow'ſche Berlag
diefed Jahr Feine Novität. Es ift früher ſchon einmal darauf hingedeutet
worden, wie ſchwer und langfam diefer Dichter fchafft, wie felten ihn die
Mufe mit jener mwolfenlofen Heiterkeit grüßt, die in allen feinen Sachen ſich
offenbart. Und wozu auch wiederum etwas Neue? aus feiner Feder, da bie
alten Geſchichten „Aus unfern vier Wänden“, „Liebesgeſchichten“, „Am
eigenen Herd“ und fo lebendig und innig anmuthen, als feien fie heut erft
der deutjchen Heimftätte abgelaufht. Wozu etwas Neued, da diefe vor
längerer und kürzerer Zeit gefchriebenen Idyllen alle die gleiche Zugkraft bis
heute bewahrt haben und ftet3 bewahren werden, fo lange deutfche Kinder auf-
wachſen, deutfche Liebe fih offenbart und Häuſer gründet.
Dagegen bringt der Verleger Reichenau’s, F. W. Grunow in Reipzig,
auf den diefjährigen Meihnachtsbüchermarft eine Novität, welche in jeder
Hinfiht das beite Lob und die meitefte Aufmerkfamfeit verdient, nämlich
Goethe's Erzählungen für erwachſene Mädchen, gefammelt von
F. Siegfried, mit ſechs Tondrudkbildern nad Zeichnungen von K. Kögler
und H. Merte. Kaum ein pädagogifches Problem ift fo ſchwer zu löfen, als
die Frage, welche Lectüre erwachfenen Mädchen vorzugsweiſe zu empfehlen
jet. Hierzu Goethe's Erzählungen auszuerwählen, iſt fiherlich ein Unterneh:
men, welches der freudigften Zuftimmung werth ift und den jungen Damen
bet ihrem Eintritt in die Reihen der Erwachſenen den reichiten Segen bringen
mird. Mit feinem Sinn und kluger Berechnung iſt aus des Altmeifterd
Werfen der erzählende Stoff ausgewählt worden, der diefer Stufe der meib-
lihen Jugend am meiften entſpricht. So wird bei Zeiten den jungen Mäd—
hen Sinn für unvergleichliche Reinheit und Hoheit Goethe’iher Sprache ge
weckt merden.
MWenn wir die Schriften leſen, die, zur Zeit der Goethe'ſchen Alleinherr-
ſchaft im Weiche der Geifter, Sr. Maj. allertreuefte Oppofition verfaßte,
3. B. des liebengwürdigen ungelenfen Schwaben Wilhelm Hauff's „Memoiren
des Satan“, „aus der Leihbibliothek“ u. f. w., fo ftoßen wir auf zahlreiche
Zeugniffe für die merkwürdige Erfcheinung, dag Walter Scott lange Jahre
hindurch das „gebildete“ deutiche Publikum bei meitem mehr intereffirte, als
ſelbſt der deutfche Dichterfürft. Gerade diejenigen, welche am meiften Ironie
vorräthig hatten für den ſchottiſchen Dichter, wie Wilhelm Hauff, vermochten
fih am wenigſten dem Einfluß desfelben zu entziehen. Die fhönfte Dichtung
Hauff's, „Richtenftein“, tit durchaus vom Geifte Walter Scott’8 durchdrungen.
Seine fonft fo freundliche Novelle „das Bild des Kaiſers“ geht für die rege
nationale Empfindung unfrer Tage weit hinaus über die bedenklichfte Seite
der Walter Scott’ihen Stoffe: Hauff feiert im „Bild des Kaiſers“ die heroi-
Ihe Geftalt des Schirmheren ded Rheinbundes fo unverfroren, daß und
397
Deutihen von heute ganz feltfam zu Muthe wird. Auch Walter Scott's
Romane ftellten zum großen Theile das particulare Selbftgefühl der ſchottiſchen
Hohlande in bewußten, vortheilhaften, dem britifchen Stolze empfindlichen
Gegenfag zum nivellirenden Unitarismus des dreieinigen Königreiches. Und
felbft wenn fo ausfchlieglich nationale Helden gefetert werden, wie Richard
Löwenherz im „Ivanhoe“, läßt der Dichter die wärmſten Gefühle feines
Herzend in das Dunfel leuchten, in dem die vergangene Herrlichfeit der Angel«
fahfen fih vor dem herrfchenden Gefchlechte der Normannen bergen muß.
Aber das alles find berechtigte Stufen der Entwicelung einer Volks- und
Staatdgemeinfhaft. Den LRandesverrath der Kleinen Kronen gegen dad
nationale Staatöbemwuhtfein, den Bund mit dem Erbfeind aus dynafti-
ſchem Intereſſe, Hat Walter Scott nie gefeiert. Seine Schriften tragen
im Gegentheil, trog aller Vorliebe für die fchottifchen Eigenthümlichfeiten
der Volföfeele, einen ausgeprägt national» englifhen Charakter, und es ift
fein Zufall, daß der vornehmfte Dichter der Marf Brandenburg und der
Geſchichte des Werdens und Ringens des märfifchen Volkes und Fürften-
hauſes, daß Willibald Alexis, ſeinen erſten Roman, im Geiſt und Geſchmack
der Waverley-⸗Romane zu ſchreiben verſuchte. Wir Modernen aber ſchätzen
Walter Scott's Schriften, beſonders ſeitdem und durch deutſche Forſchung
ſein perſönliches Lebensbild in den jüngſten Jahren ſo menſchlich nahe gerückt
worden iſt, um ſo höher, je mehr wir erkennen, wie fern er ſich hielt von
den Verirrungen feiner Zeitrichtung, wie er die Phantaſiefülle und den Farben⸗
reihthum der Romantik vereinigt mit proteftantifher Zucht und hiſtoriſcher
Pflihtftrenge, und wie die reine Feufche Seele des Dichter in allen jeinen
Geftalten und Erzählungen treu fich fpiegelt. Diefer Hohe Werth der Walter
Scott’fhen Romane gerade für das Jünglings- und Sungfrauenalter hat
den befannten Leiter de „Daheim“ Robert Koenig und die Verleger des
„Daheim“, Velhagen u. Klafing (Bielefeld und Leipzig), veranlaßt,
Walter Scott’3 [hönfte Romane heraugzugeben, in neuer Heberfegung
von Robert Koenig. Bis jest ift „Der Talisman“, „Quentin Durward“
und „Ivanhoe“ in diefer fehr ftattlichen Ausgabe erfchtenen. Die Ueberjegung
ift treu und fehr lesbar und zeichnet fich vortheilhaft aus vor der großen
Mehrzahl der deutſchen Walter-Scott-Ausgaben. Die gefhmadvollen Bilder
von Grotjohann, von denen acht jedem Bande beigegeben find, gereichen diefer
Iplendiden Ausgabe zu befonderer Zierde. Weberhaupt verdienen die Bücher,
mit denen die Berlagsbuhhandlung Velhagen und Klafing den
Weihnachtsmarkt betritt, da8 wärmfte Rob: in der Tendenz, die ihnen allen
inne wohnt, wie in der reinen und oft fünftlerifchen Form, in der fie und
vor Augen treten. Kaum eine andere deutſche Verlagshandlung bringt eine
folhe Fülle guter und ſchöner Bücher allen Altersftufen der Jugend zum
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Chriftfeit entgegen, wie die Verleger ded Daheim. Für junge erwachſene
Mädchen bieten die drei Büchlein von Clementine Helm: Princeßchen
Eva, dad Kränzchen, Frau Theodore, feinfinnige feffelnde Lectüre.
Die Reihenfolge, in der hier die drei Bücher genannt find, deutet zugleid
die Stufenfolge der Jahre an, für melde diefe Schriften beftimmt find.
Princeßchen Eva wird für jüngere Mädchen, etwa bie zu vierzehn Jahren,
befonder8 geeignet fein. Das Kränzchen, das in der jebt vorliegenden zweiten
Ausgabe namentlih durch die hübſchen SMuftrationen von Eugen Klünſch
eine mefentliche Bereicherung erfahren hat, ift dem „Badfifhalter" aus der
Seele gefchrieben. Und „Frau Theodore* werden aud junge Frauen noch
gern und mit Nugen leſen. Jünglinge und Snaben dagegen finden in
diefem Verlag einen reichen Schatz von Unterhaltung und Belehrung an
gejammelt. Dem ſchönen Streben der Verlagdhandlung, durch ihren Jugend
ſchriften-Verlag in unferer männlichen Jugend patriotiſchen Sinn, pietätvolle
Würdigung der Helden unfere® Volkes und feiner Großthaten zu erziehen,
find drei neue gute Bücher für das reifere Knabenalter entfprungen: Kaiſer
Wilhelm der Siegreihe von Wilhelm Petſch (mit 12 XTonbildern
von Lüders u. A.) Helmuth Graf Moltfe von Wilhelm Petſch (mit
8 Tonbildern von Fris Schulz) und Generalvon Werder von D. Höder.
Diefe drei Novitäten fchließen fih in würdigfter Weiſe den patriotifchen
ASugendichriften früherer Jahre von Wilhelm Petih an: „Der eiferne Prinz
(Friedrich Karl), „Unfer Fritz', „des deutfchen Knaben Friedrih Wilhelm
Schulze Fahrten und Abenteuer im Kriege gegen Frankreich” und der jchönen
vaterländifchen Erzählung Robert Koenig’d „der alte Nettenbeck“, die wir
bereit® früher in d. BI. rühmend erwähnt haben. „Nobert des Schiff
jungen Fahrten und Abenteuer auf der deutſchen Handels und
Kriegäflotte* von Mar Biſchoff mit acht Zonbildern von C. Dffterdinger
bildet einen pafjenden Vebergang von den patriotifchen Jugendwerken des
Klafing’fhen Verlagd zu jener ebenfo gediegenen Sammlung von Jugend
ſchriften desfelben Verlags, welche den Zweck verfolgen, die Jugend über ferne
Ränder und Völker in der Gefchichte der Entdeckungen zu belehren. Diefe Samm-
lung ſteht weit über ähnlichen Unternehmungen anderer Bücherhandlungen.
Namen wie Richard Andree, Theodor Vogel, Reinhard Zöllner u. U
haben die Bearbeitung diefer geographifch-ethnographifhen Sammlung über
nommen. Die Tonbilder und Karten find nicht etwa, mie dieß in einer
großen Bücherfabrik Deutſchlands üblich ift, alten Glied entnommen, die
feit Sahren und theilmeife Jahrzehnten, durch alle möglichen iluftrirten
Bücher gelaufen find, fondern die Bilder find von H. Merte nach den beften
wiffenfhaftlihen Aufnahmen Fünftlerifch gezeichnet, die Karten- in ber
geogr. lithogr. Anftalt von Velhagen und Klaſing mit wifjenfchaftlicher
Strenge gefertigt. So find Werke zu Stande gefommen, welche der freudigſten
Empfehlung, auch für die reiffte Alteröflaffe unferer Jugend würdig find.
Rihard Andree z. B. hat in dem Buche „Die deutfhen Nordpol-
fahrer“ einen authentifchen Auszug aus den compendiöfen Fachwerken der
deutſchen Nordpolerpeditionen von 1868— 72 geliefert, der auch genauen
Kennern der lesteren die Originale, bis auf die ftreng miljenfchaftlichen Ab—
bandlungen diefer Werke, erfegen kann. Und die Sluftrationen und Karten
befleigigen fich (bi8 auf unbedeutende Unrichtigkeiten) genau der Anlehnung
an die ſchönen Vorbilder der offiziellen Ausgaben. Mit Hiftorifcher Treue
und dennoh mit lebhafter und feflelnder Darftellungsgabe führt und
Theodor Bogelin dad Zeitalter der Entdedungen (v. 1440—1540),
In die Gefchichte der großen Seefahrten und Entdedungen der Spanter und
Portugieſen und die Schidfale ihrer vornehmften Führer, während zwölf Ton-
bilder und eine Karte dem Anfchauungdunterricht dienen. Der ſchwarze
Erdtheil endlih und feine Erforfcher erfreuen ſich einer durchaus ſach—
verftändigen, auch Erwachſene jehr befriedigenden Charakterifirung und Wür-
digung durh Reinhard Zöllner. Die großen Entdelungdfahrten von
Speke, Grant, Baker, Livingſtone, Vogel, Nachtigall, Rohlfs, Barth, Overweg,
Heuglin, Steudner, Künzelbach, Munzinger, von Beurmann, Anderſſon, Krapff,
der Tinne u. U. find hier in gerechter und quellenmäßiger Weiſe mitgetheilt.
Die Illuſtrationen find gleichfalls ſämmtlich offiziellen Reiſewerken von
Innerafrifa entnommen ; die beigegebene Karte ift, neben der in Flemming’s
Verlag in Glogau erfchienenen, die befte, die eriftirt, und bis auf die aller-
neuefte Zeit fortgeführt.
Mährend fo der Berlag von Belhagen & Klafing für die Bedürfniffe
der reifen Jugend in bedeutfamer Weiſe geforgt hat, ift dad Kindesalter
feinegmeg® leer ausgegangen. Im Gegentheil wird jedes Eleine Herz; höher
ſchlagen, wenn es der Herrlichkeiten anfichtig wird, die Gottlob Ditt-
mar's Kinderluft (in zweiter fehr vermehrter Auflage) und vor Allem
Robert Reinick's Märchen-, Nieder, und Geſchichten buch (gleich-
falls in zweiter vermehrter Auflage) ihm bieten. Ueber das letztere Buch
haben wir bereit vor zwei Jahren und mit warmer Anerkennung ausge—
proben. Xert und Bild metteifern miteinander, dem Kinderherzen das
Shönfte und Beſte entgegenzutragen. Cine ferngefunde Lebensfreude durch—
dringt jede Zeile ded Dichters, jede Linie des Bildners; mer mit Kindern
diefed Buch gelefen, gefchaut und genofien hat, wird von den Kleinen immer
‚no einmal Reinick“ Hören, und durch die eigne Empfindung dazu geftimmt
werden, in Eindlicher Freude fi) mit zu freuen. —
Faſt ausfhlieglih für das Eindliche Alter find die Novitäten beftimmt,
mit denen diefed Jahr Carl Flemming's Berlag in Glogau den Weih—
400
nachtsbüchermarkt betritt. Für die reifere Jugend find allerdings auch einige‘;
der fchönen Gaben da, die wir alljährlich aus diefem Verlage zu erhalten -
gewohnt find: der reich illuftrirte und gehaltvolle zwanzigfte Band des
Töhter-Albumd von Thefla von Gumpert, „Bunte Farben,‘
Erzählungen für die reifere Jugend“ von R. Koch, mit ſechs Bildern von;
Reopold Venus, „Zehn Thüren“ von Julie Ruhfopf, mit vier Bil.
dern von Venus, u. a. Bücher. Aber vornehmlich die jüngere Kinderwelt iſt
bier reich bedacht. In erfter Linie erinnern wir an dad im vorigen Jahre
eingehender befprodhene Märchenbuch von Godin, welches die geſammte
Preſſe, auch die pädagogiiche, als eines der unftreitig beiten, ſorgfältigſt aus—
gewählten und am geſchmackvollſten ausgeſtatteten Märchenbücher allgemein
anerkannt hat. Es darf jedes Jahr als neue Erſcheinung begrüßt werden,
denn es veraltet nicht. Dann folgen Gulliver's Reifen in zweiter Aufe-
lage, unter dem Titel: „Seltfame Abenteuer unter Zwergen und Riefen* von
Ferdinand Schmidt bearbeitet, mit vier Illuſtrationen von H. Steljner,
dann „Daheim“, Erzählungen für die Jugend von Emma Bunjen,
mit ſechs Bildern von R. Reineweber, „Unter dem Chriftbaum“,
Barabeln, Erzählungen und Märchen von Lena Fäſi, mit vier Bildern von
B. Mühlig, alles ſehr empfehlenswerthe Schriften für das Eleinere Volk,
Diefen reihen fih an: Kinderfherz für's Kinderherz, Xieder und
Reime von Rouife Thalheim in zweiter Auflage — ein herziged Bilder
und Merkbüclein für die erften Semefter, in denen die Kleinen Memorie«-‘
übungen anftellen; und der neunzehnte Band von Herzblätthens Zeit—
vertreib von Thefla von Gumbert mit ebenfo reihem und gediegenem
Inhalt in Wort und Bild, wie feine achtzehn Vorgänger. Die Bilder find vom.
H. Bürfner, U. Diethe, K. Fröhlich, B. Mühlig, 2. Venus u. A.; die Fan
bendrude namentlich — in denen der Flemming'ſche Verlag überhaupt Borzügr
liches leiſtet — meift von Fünftlerifher Vollendung. — Unter all diefen Schriften”
für das jüngere Kindesalter ftellen wir aber am höchften das foeben in zweiter
Auflage erjhienene „Roggenkörnlein, ein Büchlein für Heine Kinder vom)
F. und 9. Jähde, mit (farbigen) Biltern von Reopold Venus Die
eroige Poeſie, das unerforjhliche Geheimniß, die in der Entwidelung bed r
Samenkornes zur Frucht, zur Reife, zum Abfterben, zur Erneuerung desſelben 3
Kreilaufes, liegen, find von finnigen Menfchen mit befonderer Aufmerkſam—
feit beobachtet und erfaßt worden, folange e8 Menfchengeihichte giebt. DIE”
wunderbare Entwidelung und Verwandlung des Roggenkorns zum Brode if
bier in vorzüglichiter Weife: in jedem Kinde faßlichen Verfen, und in wirklich
vortrefilihen Bildern dem kindlichen Verftändnig nahe gebracht. Und,k ie
äußere Ausftattung entjpricht durhaus dem werthvollen Kern des Dudyeks r
-— —
pr
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Hans Blum in Reipzig.
Derlag von F. 2, Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Legler in Beil
TEEN (ey
Mer XXX Jahrgang.
— RE — —
u
—
un 7
Die
Grenzboten.
Zeitſchrift
für
»Folitik, Literatur und Kunſt.
No 50.
Ausgegeben am 11. December 1874.
3us 211:
Seite
Zur Gefhichte des Eeptennats. III. Grfolglofe Arbeiten der
Dreifiger-Gommiffion. Schluß der Winterfeffion. ©. Zelle 401
Plaudereien aus Sondon. 2. Alfred Blum . . .... 414
. „Un Die Grde* von Eduard Hildebrandt und „Malerifche Reife:
ziele“ von Eugen Krüger. . . Emma 421
Dom deuten Reihstag. CT. 2 2 2 2220000002426
. Weihnachtsbücherſchau. Er Eee
Grenzbotenumfhlag: Literariſche Anzeigen.
Hierzu drei literarifche Beilagen.
2
Leipzig, 1874.
Friedrich Ludwig Herbig.
(Fr. Wild. Grunow.)
2 irt bei allen Buhhandlungen und Poftämtern des In: und Auslandes.
1
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erschienen:
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Weltgesetze inder Erdgeschichte.
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C. RADENHAUSEN.
Verfasser der „ISIS*
Erster Band, erste Hälfte.
23 Bogen gr. S", 1 Thir. 15 Sgr.
Das Werk enthält den Versuch einer aus-
führlichen Kosmogenie auf Grund der Wissen-
schaft der Gegenwart. Es soll seinen besondren
Werth haben im Darstellen und Begründen der
durchgehenden Bezüge, welche die kleinsten und
niedersten Stufen der Welt durch Zwischenrei-
hen mit der höchsten erkennbaren verbinden.
Verlag von Otto Meissner in Hamburg.
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berichte.
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SEITE ER EEE
Ein in ————— —
In Ferd. Dümmler's Verlagsbuchhandlung (Harrwitz und Goßmann) in Berlin iſt ſoeben
Fuiſe, Königin von Preußen.
Von Friedrich Adami.
erſchienen:
Siebente vermehrte Auflage.
Unterſchrift.
Mit dem Bildniß der Königin und einem Facſimile
8. eleg. geb. 1 Thlr. 15 Sgr.,
der —
in engl. Einband 2 Thlt.
Die erite Ausgabe fam aus der Feder der frau v. Berg, der Freundin und Ge
der Monarcbin.
Dem Perf. war es vergönnt, neue Briefe der Königin , uxhermiiieie
blätter aus dem Lebensbuche der föniglihen Dulderin“
mitzutheilen.
Diefe neue Auflage ift wiederum jorgfaltiq durchgearbeitet, durch mannichfaltige gui
ſentlich bereichert und ihrer eleganten Aus ſtattung wegen, welche durch ein dem Buche vo
ſchönes Bildniß der
Königin aus deren jüngeren Jahren, das die Anmuth ihrer
ſonders alüdlich zum Ausdrud bringt, noch erböbt wird, namentlich zu Feſtgeſchenken we
\t
Zur Geſchichte des Heptennats.
II.
Erfolglofe Arbeiten der Dreißiger-Commiffton. Schluß der.
Winterfeffion.
Nachdem durch die Annahme de3 Mairesgeſetzes der dringendften An-
forderung des Herzogs von Broglie Genüge geleiftet war, mandte fidh die
Aufmerkfamkeit der Regierung wie der Parteien wieder den Arbeiten des
Dreißigeraugsfchuffes zu, dem eine Aufgabe geftellt war, die derfelbe beim
beften Willen nicht zu löfen vermochte. Er follte den Entwurf einer Ber:
faffung liefern, und mußte doch nicht, auf welche Grundlage er diefe Ver—
faſſung ftellen follte. Der gegenwärtige Zuftand war vollkommen unregels-
mäßig, halb Anarchie, Halb Gewaltherrſchaft. Die Souveränität war von
Recht? wegen und dem Namen nah in den Händen einer Berfammlung
concentrirt, die ſich Tängft nicht mehr als Vertreterin der öffentlichen Meinung
anfehen fonnten. Und da die Nationalverfammlung ihre Souveränität doc
nur im QAuftrage des Volks, des alleinigen höchſten Souveräns, feit dem
Sturze de Faiferlihen Regimes, ausübte, fo mußte die Stellung der Ber»
fammlung von dem Augenblik an gefährdet fein, wo fih ein Gegenſatz
zwifchen ihren und den im Volke herrſchenden Anfchauungen unzweideutig
herausſtellte. Daß diefer Gegenfas vorhanden ſei, war die beftändig wieder⸗
holte Behauptung der NRepublifaner und auch der Bonapartiften und alle
Erfagmwahlen, auf die wir noch an einer anderen Stelle zurüdfommen werden,
bewiefen ja in der That, daß dad Königthum, deffen Wiederherftellung doc
noch immer das höchſte Ziel der parlamentarifhen Mehrheit war, im Volke
allen Boden verloren hatte. Die entjchiedenen Republifaner hatten denn
daher auch von Anfang diefer Verſammlung jede conftitutrende Befugniß ab-
gefprochen, ihre ungefäumte Auflöfung und die Wahl einer conftituirenden
Berfammlung gefordert. Die gemäßigten, fogenannten confervativen Republi-
faner waren im PBrincip im Grunde mit jenen ganz einverftanden, fcheuten
fi aber doch, die Confequenzen des Princips zu ziehen, weil fie fürchteten,
dag aus Neuwahlen eine radicale Berfammlung bervorgehe nn der Ber-
©renzboten IV. 1874,
402
faffung ein ultrademofratiiche8 Gepräge aufdrüden mürde, während das Ideal
der confervativen Republikaner, die fih um Thiers geichaart hatten und ihn
ald Führer verehrten, eine parlamentarifche Republif war, welche genügende
Bürgfchaften gegen die von den NRadicalen angeftrebte Alleinherrfchaft der
Demokratie böte. Denn mochte aud in Frankreich jede Partei es für noth-
wendig halten, mit Worten fi zum demofratifchen Princip zu befennen: in
der That beftand doch zmwifchen den verfchiedenen Claſſen der Gefellihaft ein
eben fo ſchroffer Gegenſatz, mie zur Zeit des Julikönigthums; ja, die noch
frifche Erinnerung an den mit Mühe unterdrüdten Communeaufftand trug
nur dazu bei, den Claſſenhaß zu immer höherer Erbitterung zu fteigern;
und wie fehr man fi auch bemühte, die focialen Reidenfchaften zu verhüllen:
daß unter der trügerifchen Aſche die Gluthen des Hafjes fortglimmten, ohne
dag es Fünftlicher Mittel bedurfte, um fie zu fohüren, dad mußte man auf
der einen, wie auf der anderen Seite. War doch der Schreden, mit dem
einige Wahlerfolge der Madicalen die befigenden Claſſen erfüllt Hatten, eine
der treibenden Urfahhen zu Thierd’ Sturz geworden. Dur diefe Erfahrung
belehrt, waren die Radicalen vorfichtiger geworden, und ihre Zurüdhaltung
ſchien die befigenden Glaffen einigermaßen berubigt zu haben; fobald fie aber
bei irgend einer Gelegenheit von den Gemäßigten fih trennten und ihre
Farbe zeigten, wurde es offenbar, daß die Beruhigung nur fehr oberflächlich
gewefen war; e8 bedurfte nur eines handgreiflichen Hinmweijed auf das Dafein
der Radicalen, um von Neuem Schreden und Sorge in den der Ruhe be-
dürftigen Kreifen der Bevölkerung zu erweden. Hinter den ſtaatsrechtlichen
und Berfafjungsfragen, welche im Grunde nur die Politiker erhigten, Tauerte
drohend die fociale Frage, um welche die Bevölkerung fi gruppirt. Zus
weilen trat, trotz aller Vorficht, felbft in der Nationalverfammlung, der
Claſſengegenſatz ſchroff zu Tage, fo gelegentlich der Steuerdebatte, die mit
großer Keidenfchaftlichkeit geführt wurde. Die Yinanznotb war groß; vor
Allem die Militärverwaltung nahm ungeheuere Summen in Anfpruh und
fonnte dabei doch dem Friegerifchen Eifer der Verfammlung Faum genug
thun; ja es fam vor, daß die Regierung Mehraudgaben, weldhe von befon-
ders eifrigen Mitgliedern, wie Gambetta, gefordert wurden, aus finanziellen
Nüdfihten ausdrüdlich zurückweifen mußte. Leon Say wünſchte eine augen»
blickliche Erfparnig durch Herabminderung der Schuldenamortijationdquote
um 50 Millionen zu erzielen; aber fein hierauf bezüglicher Antrag wurde
den Wünſchen ded Finanzminifterd entfprechend abgelehnt. Als einziges
Mittel zur Befriedigung der an den Staat geftellten Anſprüche bot fi alfe
nur die Einführung neuer und die Erhöhung älterer, und zwar weit über-
wiegend indirefter Steuern dar, da, wie wir ſchon an einer anderen Stelle
ausgeführt haben, eine einigermaßen erhebliche Einfommenfteuer in Frankreich
403
als entfchieden foctaliftifche oder mwenigften® dem Socialismus in die Hände
arbeitende Einrichtung gilt. Die Aufgabe Magne's war unter diefen Um—
ftänden fehr ſchwierig: um nicht eine Claſſe ausfchlieglih zu belaften, mußte
er ein höchſt verwickeltes, die verfchiedenartigften Gegenftände des Verbrauchs
und des Erwerbs treffendes Syftem von Steuern vorfhlagen. Die Folge
davon war aber, daß von allen Seiten Lärm gefchlagen wurde, daß bald
der Aderbau, bald Handel und Induſtrie über übermäßige Belaftung Klage
erhoben: Hatte doch auch Thierd ſchon ähnliche Erfahrungen machen müſſen.
Die einzige finanzielle Macht, die auf Magne's Seite ftand und ihm aller
dings eine überaus ftarfe Stüße gewährte, war die Börfe, melde vor Allem
eine glüdlihe Erfüllung der eingegangenen BVerbindlichfeiten von dem Staate
forderte und in diefer Beziehung zu Magne's Energie und gutem Willen ein
faft unbegrenztes Vertrauen hatte. Bei Gelegenheit der Steuertabelle nun
fam es vor, daß Magne fich über den engherzigen Eigenmuth der Snduftriellen
und Kaufleute beſchwerte, die nur darauf bedacht wären, alle Raften von
ihren Schultern abzumälzen. Dies Wort wirkte wie ein Feuer, das in eine
Bulvertonne geworfen wird, das Signal zu einem Claſſenkampfe war gegeben.
Lockroy von der äußerſten Linken benutzte die Gelegenheit, um einen heftigen
Angriff gegen die Gapitaliften, Rentiers und Grundbefiger zu richten, dem
Dufaure, als Vertreter des Bürgerthums, mit einem eben fo heftigen Ausfall
gegen die Dummen, Faulen und Neidifhen und einer Kobrede auf den
Patriotismus und die einfichtövolle Uneigennüsigfeit der Neichen erwiderte.
Die Organe der Linken felbft bemühten fih, durh Desavouirung Lockroy's
den peinlihen Eindruck, den feine Worte auf die wohlhabenden Claffen ge=
macht hatten, abzufchwächen. Aber dad Wort war einmal geſprochen, und
feine Mißbilligung desfelben Eonnte hindern, daß e8 als unmillfürlicher Aus:
bruch eines glühenden Haſſes, der für die Zukunft die furchtbarften Stürme
in Ausficht ftellte, aufgefaßt wurde. Was hatte man zu erwarten, wenn die
Partei, ala deren MWortführer Lockroy aufgetreten war, einſt and Ruder
füme? Ihr Generalftab und ein großer Theil ihrer bewaffneten Macht be-
fand fih auf den Bagnod und in Neucaledonien: würde aber ein Negiment
der gemäßigten Linken dem Verlangen nad Umneftie und BZurüdberufung
der Verbannten auf die Dauer MWiderftand leiten können ?
Das unter folchen Berhältnifien die gemäßigten Republikaner einen Sieg -
ihrer radicalen Bundesgenoffen fait eben jo fürdhteten, wie die Pläne ihrer
monarhifchen Gegner ift erklärlich genug: und daher wünſchten fie Nichts
fehnliher,, ald daß es der gegenwärtigen Verfammlung gelingen möge, die
Republik mit folhen Inftitutionen audzuftatten, die eine ſichere Schugwehr
gegen das Andringen der revolutionären Elemente böten. Die Frage, ob die
radicale Partei in verfaffungsmäsigen Beftimmungen ein Hinderniß für die
404
Berfolgung ihrer Pläne fehen würde, Ite man dabei ganz außer Acht. Man
möge nur die Republik conftituiren, die Regierung mit parlamentarifchen
Einrihtungen umgeben, dann werde Vertrauen und innerer Frieden zurüd-
fehren. Es war das eine thörichte Hoffnung, aber begreiflich ift es immerhin,
dag man fie hegen fonnte, daß man troß aller traurigen Erfahrungen an
dem Vertrauen auf die Kraft der Inſtitutionen fefthielt. Denn mer diefe
Hoffnung aufgab, dem blieb ja nur die Zuflucht zu der ftarfen perfönlichen
Negierung des Kaiſerthums übrig: des Kaiſerthums, dem man fchmeigend
gegrollt hatte, fo lange e8 beftand, und das man für Frankreichs Unglüd
verantwortlich machte, nachdem es gefallen war.
Ueber die verfafjungsmäßigen Bürgfchaften würde fich zwiſchen den con
ftitutionellen Republifanern und den gemäßigten Monardiften, die ja derfelben
politiihen Schule angehörten, wohl eine Berftändigung haben erzielen Laffen,
mwenn die Oberhauptäfrage fie nicht getrennt hätte. Hier lag doch die un.
überwindlihe Schwierigkeit, an deren Ueberwindung die Dreifigercommiffion
fi) vergebens zerarbeitete, da8 Problem, das fih um fo unlösbarer erwies,
je eifriger man nad) einer Löſung ſuchte. Man Iebte in einem jeder Organi-
fation entbehrenden Zuftande, den man Republif nannte und nennen mußte,
eben meil es nicht die Monarchie war. Jetzt follte man diefen Zuftand or
ganifiren. Dazu maren die Republikaner, wenigften® die gemäßigten, bereit,
und die radicalen würden fich fehr gern gefügt haben. Man war bereit, die
Herrihaft Mac Mahon's auf fieben Jahre anzuerkennen, aber ausdrüdlid
ala eine republifantihe Gewalt. Die Republikaner hatten beit der Gründung
ded Septennats deshalb ihre Zuftimmung von der Bedingung abhängig ge
macht, daß die Gonftituirung der Republif der Vollmachtenverlängerung
vorangehen müſſe. Mit diefen Vorlagen waren fie nicht durchgedrungen,
das Septennat war gegründet, war die einzige ſtaatsrechtlich feitftehende, von
der Frage nah den Verfafjungsgefegen ganz unabhängige Thatfache ge
worden: fie hatten diefe Thatfache anerkannt, forderten aber jetzt, daß bei der
Berathung und Beſchlußfaſſung über die Verfaſſungsgeſetze die Republik aus
drücklich als verfaffunggmäßige Staatdform mit einem auf fieben Jahre ge
wählten Präfidenten an der Spite anerkannt werde. Die Gegner der Republif
faßten dagegen das Septennat, fo weit fie e8 überhaupt als unantaftbar ans
- erfannt, als eine ganz befondere, keineswegs principtell republifanifche Inſti—
tution auf, als eine Inftitution, die nicht die Republik begründen, fondern
die Monarchie vorbereiten ſolle. Aber auch unter den Monardiften ſelbſt
errichten verfchiedene Anfichten. Abgeſehen von denjenigen, welche die bindende
Kraft des Beichluffed vom 20. November überhaupt in Frage ftellten, wollten
einige das Septennat ald ein rein perfönliches Regiment organifiren, andere
wollten ihm infofern einen unperfönlichen Charakter geben, als fie in bie
405
Verfaffungägefege eine Beſtimmung aufgenommen zu fehen mwünfchten, welche
die Uebertragung der Vollmachten Mac Mahon's für den Fall feine? Nüd-
tritts, ſeines Todes oder des Ablaufs feiner fiebenjährigen Präfidentfchaft
regelte. Diefen Standpunkt nahmen die Drleaniften ein, meil fie als mäch—
ttgfte parlamentarifche Partei überzeugt waren, daß es ihnen mit Hülfe eines
aus Mitgliedern ihrer Partei zufammengefegten Senates gelingen werde, den
Herzog von Aumale die Nachfolge zu fichern: während die Bonapartiften
darauf beitanden, dag Mac Mahon’d Nachfolger nur von dem Volke felbit
ernannt werden Fönnte.
Die Republikaner Hatten bei diefem chaotifhen Gewirr der verjchieden-
artigften Abfihten und Anfichten den Vortheil, daß fie mit einem bereit3 in
feinen Grundzügen auögearbeiteten Berfaffungsdentwurfe in die Schranken
treten Fonnten. Denn die Dufaure’fchen Entwürfe, die der Verfammlung vor
der verhängnigvollen Kataftrophe im Mat ded vorigen Jahres vorgelegt
waren, galten den confervativen Republifanern, von einigen durch die Ber-
bältnifje bedingten Abänderungen im Einzelnen abgefehen, als volllommenited
deal der Berfaffung einer Republik, wie fie diefelbe fich dachten. Nach diefem Ent-
wurf follte neben die aus 500 Mitgliedern beftehende Repräfentantenfammer
mit fünfjährigem Mandat ein Senat aus 250 Mitgliedern beftehend, treten,
gewählt durch das allgemeine Stimmrecht, aber aus beftimmten Kategorien;
eine weitere Beſchränkung war, daß die Mitglieder das dreißigfte Lebensjahr
überfchritten haben follten, während für die Wählbarfeit zur Abgeordneten:
fammer nur ein Alter von 25 Jahren erfordert wurde. Das Mandat der
Senatoren follte zehnjährig fein, alle zwei Jahre follte ein Fünftel aus-
[heiden. Der Präfident follte auf 5 Jahre durch ein aus dem Senat, der
Repräfentantenfammer und je drei Delegaten der Generalräthe erwählt werden
und dad Recht zur Auflöfung der Repräfentantenfammer unter Zuftimmung
des Senated haben. Diefen Dufaure’fhen Entwurf faßten in feinen mefent-
lichen Beftimmungen die NRepublifaner auch jett noch ind Auge, wenn es fi
um die Conftituirung der Republik handelte, während ihn alle Fraktionen
der confervativen Wartet einftimmig für völlig unannehmbar erflärten. Schon
der eine Umftand, daß in dem Entwurfe die Präfidentenwürde als eine
bleibende, regelmäßige Inſtitution organifirt wurde, genügte zur VBerurtheilung
der ganzen Vorlage. Auch ein aus dem allgemeinen Wahlrecht hervor»
gegangener Senat entſprach weder den Wünfchen der Mehrheit, noch denen
der Regierung, die für fich felbft einen hervorragenden Antheil an der
Bildung der höchften politifhen Körperfchaft forderte. in dritter Mangel
ded Entwurf war vom Standpunkt der Confervativen mit Ausnahme der
Bonapartiften die unbefchränkte Anerkennung des allgemeinen Stimmredhts,
406
an defien Modification oder „Moralifirung” man nun fehon feit einigen
Jahren, jedoch ohne den geringiten Erfolg, arbeitete.
Man hat die Mehrzahl häufig beichuldigt, daß es ihr an dem guten
Willen fehlte, dem beftehenden Zustande durch Herftelung einiger organiſcher
Einrichtungen eine fefte Form und die Bürgfehaft einer gewiſſen Dauer zu
geben. Diefer Vorwurf war indeffen niht ganz gerecht. in der Zeit freilich,
wo die monarchiſchen Parteien fi der Hoffnung auf eine unmittelbar bevor
ftehende MWiederheritellung des Königthums hingaben, dachten fie nicht daran,
einen Zuftand zu organifiren, dem man ja gerade ein raſches Ende bereiten
wollte. Auch unterliegt es feinem Zweifel, daß zu der Erbitterung der Con-
fervativen gegen Thiers, welche die Kataftrophe- vom 24. Mat herbetführte,
das Berlangen, einer Berathung der conftitutionellen Gefege aus dem Wege
zu geben, mwefentlich mit beigetragen hatte. Aber damald war die Mehrheit
doch nicht fomohl über die Zumuthung überhaupt, dem Proviſorium eine
gewiſſe Feſtigkeit zu geben, erbittert gewefen, als vielmehr über jene beftimmten
Geſetze, welche Thierd der Nationalverfammlung aufdrängen wollte. Hätten
fi die Dufaure’fchen Gefege ald proviforiich angekündigt, hätten fie in Feiner
Meife der Zukunft vorgegriffen, fo würde man fich diefelben mit einiger
Mopdification ohne Bedenken haben gefallen laffen. Aber ein Geſetz über die
Präfidentenwahl mußte von allen monardifchen Parteien zurückgewieſen
werden. Während der Fufiondbeftrebungen rubten natürlich alle auf Ber
fallungsfragen bezüglichen Arbeiten. Nach der Verlängerung der Vollmachten
Mac Mahon's lag es aber augenfcheinlich im Intereſſe der Gonfervativen
felbft , die Drganifationsarbeit ernftlih und nicht etwa bloß zum Schein in
die Hand zu nehmen. Man hatte Mac Mahon eine Stellung eingeräumt,
die ihn thatfächlih aus einem Beamten in einen Herrfcher mit ganz un
beftimmten und darum unbefchränften Vollmachten verwandelte. Begrenzen
fonnte man feine Macht nur durch organifche Geſetze. Mac Mahon forderte
diefelben in Folge ded natürlichen Triebes jeder Negierung, ſich mit Inſti—
tutionen zu umgeben, die, wenn fie ihr gewiffe Schranken ziehen, ihr doch
andererfeitd den Charakter der Negelmäßigfeit und damit eine moralifche
Sicherheit verleihen, deren auch die Eräftigfte Dietatur entbehrt. Indeſſen
Mac Mahon Eonnte der conftitutionellen Gefege im Nothfall immer ent:
behren. Die Majorität bedurfte ihrer aber um fo dringender, weil fie fid
vor einer Vergewaltigung durch die neben ihr emporgefommene , ihr bereits
überlegene Macht und durch eine, wenn auch nur auf die Dauer von 7 Jahren
berechnete Organifation der Staatdgewalten, durch eine feite Regelung ihrer
Beziehungen zu einander ſchützen konnten. Wenn die Legitimiften und z. Th.
auch die Bonapartiften einer Organifation des Septennats abgeneigt waren,
jo hatte das einfach in Ihrer theils entſchieden feindlichen, theild zmeideutigen
407
und abmartenden Haltung dem Septennat gegenüber feinen Grund; ein
Theil der Bonapartiiten wünfchte auch wohl, in der Hoffnung, Mac Mahon
völlig für die Faiferlihe Sache gewinnen zu können, thn in einer möglichft
unabhängigen, von allen conftitutionellen Schranken freien Stellung zu fehen.
Die große Mehrzahl der Gonfervativen aber hatte alle Urfache, den Wünfchen
Mac Mahon’8 nah Organifirung des Proviſoriums bereitwillig entgegen-
zulommen, und zwar möglichft rafch, denn wer Eonnte wiffen, ob Mac Mahon
nit mit der Beit zu der Einfiht gelangen merde, daß gerade die Negellofig-
feit der öffentlichen AZuftände ihn zum Schiedörichter über die Zukunft des
Landes machen müſſe? Einen befonderen Grund zur Befchleunigung der
Drganifationdarbeiten, der ſich allerdings nicht ganz unummunden ausfprechen
ließ, hatten die Orleaniſten: fie waren die einzige Partei, die auf parlamen-
tariſchem Wege an das Ziel ihrer Wünfche zu gelangen hofften, fie bedurften
daher der conftituttonellen Geſetze ald Mittel, um die geplante orleaniftifche
Reftauration vorzubereiten und einzuleiten.
An dem guten Willen, das Septennat zu organifiren, wie der ftehende
Ausdrud war, gebrach es alfo der überwiegenden Mehrheit der Gonfervativen
nicht, fondern nur an der Fähigkeit. Auch die Regitimiften und Bonapartiften
würden fich fhließlich zur Mitarbeit an den Verfaſſungsgeſetzen haben bereit
finden lafjen, wenn alle Gruppen der Mehrheit fi) auf neutralem Boden
zufammengefunden hätten. Die Regierung fagte zwar: das Septennat ift
der neutrale Boden, in der That aber war und blieb das Septennat der
Ausgangspunkt für alle möglichen Sonderbeftrebungen. Es war eben un—
möglich, eine Verfaſſung zu erfinnen, die in Feiner Weiſe der Zukunft vor:
gegriffen hätte. Bei der Zufammenfesung des Senats, bet den Beftimmungen
über die Uebertragung der Gemalten handelte es fih, von den Republikanern,
um die man fi) damald wenig fümmerte, abgejehen, doch vorzugsweiſe um
die dynaftifche Frag. Man mochte bei irgend einem diefe Punkte be-
treffenden Vorſchlag die Tendenz auf? Sorgfältigfte verhüllen, in diejen
Dingen befaßen die rivalifirenden Parteien einen durch ein fehr gerechtfertigtes
Miptrauen zur höchſten Volltommenheit ausgebildeten Scharfblid, der alle
Hüllen, hinter denen der Gegner feine Gedanken und Abfichten zu verfteden
ſuchte, durchdrang. Der Waffenftillftand, auf dem die Eriftenz der Majorität
berußte, war zu loder und zu wenig aufrihtig, um auf die Probe einer
Verfaſſungsdebatte geftellt werden zu können.
Unter diefen Umftänden war es nicht zu verwundern, wenn der Aus—
ſchuß, troß allen Fleißes und guten Willend nicht von der Stelle Fam. Um
die Arbeiten zu theilen und zu befchleunigen, hatte man einen Nebenausſchuß
von 9 Mitgliedern ernannt, und demjelben den Auftrag ertheilt, die Organi—
fatton der öffentlichen Gewalten in Erwägung zu ziehen, während ber
Dreißigerausfhuß felbit fih an dem Wahlgeſetze abarbeitete. Aber ftatt
Rath zu ertheilen, brachte e8 die Neunercommiffton nur dazu, Fragen aufzu—
werfen, über melde die Gefammtcommiffion zu entfcheiden hätte. Dad
„Auäftionnär“ der Neuner deutete eine Löſung und Entfcheidung nicht einmal
an, ed gab nur ein abjchredendes Bild der Schwierigfeiten, mit welchen man
zu kämpfen hatte. Melchen Titel fol der Staatächef führen? fol ein Vic
präfident ernannt werden? Dann eine Anzahl Fragen nach der Zufammen
fegung und den Befugnifjen des Senats, dem Auflöſungsrecht des Präſt
denten u. f. w. u. f. w. Alles Fragen, die hundertmal erörtert waren, und
dur deren ſyſtematiſche Zufammenftellung die Berathungen der Commiffion,
die nicht nach Problemen, fondern nah Köfungen Verlangen trug, nicht im
geringften gefördert wurden.
Der parlamentarijhen Initiative darf auch unter den günftigften Um:
ftänden, wenn eine nicht nur im Verneinen und im Widerftande, fondern au
in ihren Bielen einige Mehrheit vorhanden ift, nicht zu viel zugemuthet wer:
den. Große Verfammlungen, gefeßgeberifhe Körperfchaften bedürfen der Lei:
tung, und diefe Leitung können nicht einige Parteiführer, fondern muß die
Regierung übernehmen. Berfäumt fie diefe Pflicht, fo verliert fie die Her
haft über ihre Anhänger, und diefe, im Gefühl der Nathlofigkeit und Hülf
lofigfeit, büßen den Zufammenhang unter einander und mit der Regierung
ein; die Mehrheit nutzt ſich ab, zerfällt, hört auf, eine Stütze der Regie
rung zu fein. In mie viel höherem Grade werden aber diefe Uebelftände
hervortreten müffen, wenn die fich felbft überlafjene Mehrheit nur eine ſchein—
bare, wenn als einziges einigended Band nur der Haß gegen einen gemein-
famen Feind vorhanden ift. In diefer Rage aber befand fich die Mehrheit
der franzöfifchen Nattonalverfammlung. Ste follte conftituiren und zerfiel in
Gruppen, deren jede ein anderes Ziel vor Augen hatte. Natürlich Fam der
Ausſchuß, in dem alle Gegenfäse der Verſammlung vertreten waren, nicht
von der Stelle; dabei drängte die Regierung, vielleiht mehr no, um ihren
Eifer zu zeigen, ald in dem aufrichtigen Wunfche, die Verfaſſungsarbeit
raſch zum Abſchluß zu bringen. Wenigſtens konnte fie fehr wohl wiſſen,
daß alle Drängen vergeblih fein mußte, fo lange fie den Ausſchuß ſich
felbft überließ, und daß das einzige Mittel feine Arbeiten zu befchleunigen,
fih in der fachlichen Keitung der Verfammlung bot. Mit einem Worte:
Wollte die Regierung rafcher zum Ziele fommen, fo mußte fie felbft die Ent-
würfe audarbeiten und der Verfammlung, refp. dem Ausſchuß zur Berathung
vorlegen. Der Erfolg einer ſolchen Maßregel wäre natürlich immerhin im
hoben Grabe zweifelhaft geweſen; ohne diefelbe mußten aber die Arbeiten ded
Ausſchuſſes unzweifelhaft erfolglo8 bleiben. Jede Initiative in der Ber-
409
faffungäfrage Iehnte die Negierung aber ab, unter dem Vorwand rückſichts—
vollfter Wahrung der Privilegien der fouveränen Verfammlung, der in der
eonititutionellen Frage das erſte Wort gebühre, in der That aber, weil fie
fi vor einer Maßregel ſcheute, die, wenn fie nicht den Beifall der Mehrheit
gefunden hätte, die Stellung des Miniſteriums in hohem Grade compromit-
tirt haben würde. jeder fuchte dem Andern mit der Initiative auch die Ver:
antwortung zuzufchteben, und gerade dieſer Mangel an Gelbftbemußtfein
und moralifhem Muth mar eind der ſchlimmſten Symptome der Erſchlaffung
des öffentlichen Geiftee.
Bon Zeit zu Zeit ſah fih Herr von Broglie allerding® gendthigt, im
der Dreißtgercommiffton zu erjcheinen, zur Eile zu mahnen und einzelne An»
deutungen über die Wünfche der Regierung zu geben, die aber viel zu unbe
fimmt waren, um den unglüdlihen Mitgliedern des Ausſchuſſes als Reitftern
zu dienen. Es war dem Ausfhuß wenig damit geholfen, wenn der Minifter
gelegentlich erklärte, ein Oberhaus nad dem Entwurfe des Herrn Dufaure
würde nod) radicaler ausfallen, ald die zweite Kammer ; wenn er ganz allge
mein andeutete, er werde es vorziehen, daß der Senat theils von der Regie
rung, theils von den Generalräthen, gelehrten Körperfchaften u. f. w., er-
nannt werde, wenn die Negierung über die gefährlichite aller Fragen, die
Vebertragung der Gewalten Hin und wieder ein dunkles Näthfelmort verneh—
men ließ. Beſonders dringlid waren Broglie's Mahnungen, die Berathung
des Wahlgeſetzes zu befchleunigen, und in der That hatte er alle Urfache,
über das bedächtige und bis zur Pedanterie gründliche Verfahren des Aus-
ſchuſſes ungehalten zu fein. Zwei und zwanzig Sigungen hatte man bereits
mit der Prüfung aller denkbaren Wahlſyſteme hingebracht, ohne daß irgend
eins Gnade vor den Augen der firengen Kritiker gefunden hätte. Neue An—
träge, 3. B. von Racombie, vermehrten nur die Verlegenheiten, unter dem
vielen Guten das Beſte zu wählen. Nun erjchien eine? Tages Broglie im
Ausſchuß, nicht nur eine beftimmte Anficht zu Außern, nicht nur ein sic volo,
sic jubeo zu ſprechen, fondern um alle biöher gemachten Vorſchläge zu Eriti»
firen und die Sache von allen Seiten zu beleuchten, was der Ausſchuß felbft
ſchon wochenlang gethan hatte. Außer den Radicalen waren fo ziemlich alle
Parteien von der Vermerflichfeit des Liſtenſerutinismus überzeugt, natürlich
auch Herr von Broglie. Nichtsdeftoweniger fiel e8 ihm durchaus nicht ein,
fh wentgftend über diefen Punkt Elar auszufprechen, vielmehr trieb er die
Dbjectivität und Unparteilichkeit fo weit, den Nachtheilen des Syſtems ge
wilfenhaft die Vorthetle gegenüber zu ftellen. Als er im Kaufe ded Februars
wieder einmal den Ausſchuß zur Eile trieb, forderte ihn Tallon endlich auf,
doc jelbft den Entwurf eines Wahlgeſetzes einzubringen, was Broglie indeſſen
unbedingt ablehnte.
Örenzboten IV. 1874, 52
410
Nach endlofen Debatten brachte man endlich einen Entwurf zu Stande,
der mancherlei Befchränfungen in Bezug auf Dauer des Mohnfites, Alter,
Incompatibilät enthielt, die grade wett genug gingen, um den Entwurf un
populär zu machen, aber nicht weit genug, um fi von demfelben einen gro,
Ben Einfluß auf die Wahlen verfprechen zu können. Aber unmittelbar nad
Einbringung der Vorlage wurde (24. März) ein Antrag angenommen, die
Situngen der Berfammlung vom 28. März bis 12. Mat zu vertagen, wo
mit alfo auch die Beſchlußfaſſung über das einzige Geſetz, welches die Com—
miſſion zu Stande gebracht, bis ind Unabfehbare verfchoben wurde. Zugleich
gelangte ein Antrag der Regierung zur Annahme, nad welchem die Wahlen
der Municipalräthe, die gefeglich vor dem 30. April ftattfinden mußten, bis
nad dem Zuftandefommen des Wahlgeſetzes vertagt wurden.
Dad alſo war das Ergebnif der Seffion in Betreff der Verfaſſungs—
frage: ein mühfam zu Stande gebrachter Gefegentwurf, deſſen Schickſal noch
im hoben Grade zweifelhaft war, der Röfung der eigentlich conftitutionelen
Fragen war man aber noch nicht um einen Schritt näher gekommen, ja man
begab ſich mit der feften Ueberzeugung in die Ferien, daß man am Schlufe
der nächſten Seſſion noch auf derjelben Stelle ftehen werde, wie gegenmärtig.
Der Gedanke, im Laufe ded Sommers die Entfcheidung herbeizuführen, Eonnte
bereit3 am Schluß der Winterfeffion ald aufgegeben gelten.
Wenn die Regierung den conftitutionellen Fragen gegenüber fich ftetd
mit großer Zurüdhaltung geäußert hatte, fo war fie um fo mehr bemüht,
zu zeigen, daß fie die VBollmachtöverlängerung ald unmiderruflich anfehn und
jeden Verſuch, diefelbe in Frage zu ftellen, als ein Attentat gegen den Nas
tionalwillen zurückweiſen und ahnden werde. Gleich bei Veröffentlichung dee
Mairesgeſetzes im Januar hatte Broglie ein Rundſchreiben an die Präfekten
gerichtet, in welchem die verfaſſungsmäßige Reichsbeſtändigkeit ded Septennatd
nahdrüdlih betont und die Präfekten angemwiefen wurden, die Regierung
Mac Mahon's im Intereſſe der von ihr vertretenen moralifchen Ordnung aufs
Entfchiedenfte zu unterftügen und bei der Beitätigung, reſp. Entlaffung der
bisher im Amte befindlichen Maires — durch das neue Gefeg waren die
Vollmachten jämmtlicher Maired erlofchen — vorzüglich ihre Stellung dem
Septennat gegenüber ind Auge zu faflen. Die Republikaner waren mit diefem
Erlaß, wenngleich ihnen die in Ausficht geftellte Maßregelung aller repu-
blifanifchen Maires höchſt anftößig war, doch, da er den Nopaliften alle
Hoffnung abzufchneiden ſchien, nicht ganz unzufrieden, und beabfichtigten den
Herzog von Broglie durch eine Interpellation zu einer entfchiedenen Erklärung
in ähnlichem Sinne von der Tribüne zu veranlaflen. Die Interpellation wurde
indeſſen bi in den März hinein verfchoben, und dann von Broglie in einer
halb ausweichenden Weife beantwortet, die Niemand ganz befriedigte, aber
vr
411
auch nach Feiner Seite hin eine entfchiedene Blöße bot. Sehr entrüftet waren
über das NRundfchreiben dagegen die Regitimiften, denen Broglie in feiner
doppelgängigen Weife vor der Abſtimmung über das Gefeg nad ihrer, von
der andern Seite jedoch beftrittenen Behauptung erklärt haben follte, daß das
Septennat fein Dogma fei. Bollfommen befriedigt Sprachen fich, ihrer allge
meinen Haltung gegenüber dem Septennat entſprechend, nur die Orleaniften.
aus, die Broglie Alles verziehen, fo lange fie ihn als ihr Werkzeug glaubten
anfehben zu fönnen. Einen noch bedeutendern Eindrud machte e8, daß Mac
Mahon felbft in einer Unterredung mit dem Präfidenten des Handeldtribunale
In Paris feine Vermunderung darüber ausſprach, daß man in Betreff der
Stabilität der Regierung fich Befürchtungen Hingeben könne und dann hinzu:
fügte: die Nationalverfammlung hat mir die Erecutivgewalt auf 7 Jahre
anvertraut und als Chef der vollziehenden Gewalt werde ich während dieſes
Zeitraumd dafür Sorge tragen, daß diefer Beichluß der Nationalverfammlung
aufrecht erhalten wird.
Das war ein ftolzed Wort. Die Parteien fühlten, daß fie fich einen Ge-
bieter gegeben hatten, daß die Gewalt von dem rechtmäßigen Souverän auf
den Delegirten der Nationalverfammlung übergegangen war. Dad mar
eine Thatfache, mit der jede Wartet, die nicht wie die Regitimiften, ausſchließ—
lid den Eingebungen des Verdruſſes und der Retdenfchaft folgte, rechnen
mußten. Selbft die Bonapartiften, mie ſehr mit ihren Hoffnungen aud ihr
Hohmuth gewachſen war, fahen ein, daß ihr Vortheil es erheifchte, fih mit
dem Septennat auf möglichft guten Fuß zu ftellen, troß Broglie und den
Drleaniften, die jede Gelegenheit benusten, um mit ihrem Mac-Mahonigmud
- Staat zu machen. Ein bonapartiftifche® Provincialblatt, das fi unehrer-
bietig über da® gegenmärtige Syſtem audgefprochen hatte, erhielt von Rouher
eine Zufchrift, in welcher der Führer der Bonapartiften erklärte, man müſſe
das Septennat refpectiren, denn dasſelbe fet der Ausdruck des Willend der
Nation und laſſe doch die Zukunft offen. Zu bedauern fei nur, daß Mac
Mahon in feiner Unparteilichkeit nicht beffer gegen Eleinliche Intrigue ge
[hüst werde. Das Septennat fei ein Waffenftilftand und dürfe von der
Partei nicht ald eine Art von Schirm gemißbraucht werden, hinter den man
fi erft verſteckt, um ehrgeljige Pläne zu fehmieden, Eine directe Berufung
an den Willen der Nation ſei erforderlich, um alles durch den Aufitand vom
4. September 1870 herbeigeführte Unheil wieder gut zu machen. Wenn der
Tag diefer Berufung gefommen ſei, werde fich zeigen, daß e8 nur zwei Formen
für die Regierung Frankreichs gebe: die Republik oder das Katferthum.
Diefe Erklärung für das Septennat war allerdings außerordentlich ver-
claufulirt, aber fie enthielt doch immer eine Anerkennung, die für Mac
Mahon fehr werthvoll war, namentlich auch deshalb, weil felbft ein bedingter
412
Anſchluß der Bonapartiften ihm eine freiere Stellung den Täftigen und com-
promittirenden Zudringlichkeiten der Drleaniften gegenüber gab. Innerlich
ftand er den Drleaniften doc zu fern, um nicht die Rolle, die fie ihm auf:
nöthigen wollten, als eine Demüthigung zu empfinden und ed mußte ihm
daher fehr willkommen fein, wenn orleaniftifcher Einfluß dem bonapartifttichen
dad Gegengewicht hielt. Und vor Allem: Mac Mahon bedurfte außer der
parlamentarifchen Unterftügung, welche ihm die Drleaniften boten, auch eine
Stütze im Volke felbft, und diefe fand er, wenn er ſich nicht den Republi-
fanern in die Arme werfen wollte, nur in den Bonapartiften, deren Behaup-
tung, daß fie allein von allen confervativen Parteien im Stande feien, in
den Volkskreiſen felbft dem Radicalismus MWiderftand zu leiften, noch im Laufe
der Seffion dur einen MWahlerfolg, dem erften feit langer Zeit, dem fich in-
deſſen bald weitere Triumphe anreiben follten, eine Beftätigung fand.
Seit dem 2. Juli 1871 bis zum Ende des Jahres 1873 hatten im
Ganzen 138 Wahlen zur Nationalverfammlung ftattgefunden, von denen
nur 20 zu Gunften der monardhifchen Partei, 118 zu Gunften der Republi-
kaner auögefallen waren. Befondere bonapartiftifche Kandidaturen waren nur
ganz vereinzelt und fchüchtern aufgetaucht; die Bonapartiften fahen fehr wohl
ein, daß ihre Zeit noch nicht gefommen war, und waren zu Hug, um fid
dur Niederlagen zu compromittiren. Sie agitirten im Stillen mit glänzen
dem Erfolge in den Maflen und warteten geduldig die Zeit ab, wo fie es
auf eine Kraftprobe ankommen Iaffen Eonnten. Beſonders troftlod war an
diefen Wahlergebniffen für die Monarchiften der Umftand, daß fich in ihnen
ein ſtetiges Machfen der republifanifchen Strömung ausſprach. Bei den
Wahlen vom 2. Juli 1872 hatten fie von 42 Abgeordneten noch 10 ihrer
Candidaten durchgefest, am 7. Sanuar von 17 noch 5, von da bi zum
11. Mat 1873 bei allen Erfagmwahlen überhaupt nur nod 5. Aus den Wah-
fen vom 12. October, 16. November und 14. December 1873 waren 10 Re
publifaner und nicht ein einziger Monarchiſt hervorgegangen. Einen um fo
größeren Eindruf machte es, als bei den Erfagmwahlen vom 8. ebruar,
während im Departement Haute Saone der monardiitifhe Candidat dem
Nadicalen Heriffon unterlag, im Departement Pas de Calaid der Bonapartift
Send mit 70,997 gegen 67,474 Stimmen über feinen republifanifchen Gegner
den Sieg davon trug. Für die Bedeutung diefed unerwarteten Erfolges ſprach
der Aerger und die Niedergefchlagenheit der Drleaniften und Republifaner
noch mehr, als der Jubel der Sieger. Bet den nächſten Wahlen (am 1. März)
unterlag zwar ihr Gandidat dem Republikaner Lepelit in Vienne, aber mit
verhältnigmäßig geringer Minorität. Als einen großen Erfolg Fonnten fie
ed aber betradhten, daß die Regitimiften und die Megierung ſelbſt ſich ge
nötbigt gefehen hatten, eine offen bonapartiftifhe Candidatur zu unterflügen,
413
zum großen Verdruß der Orleaniften, die immer mehr den Muth verloren,
bei den Wahlen ihre Farben zu befennen. An demfelben Tage wurde in
Vauclufe Ledru-Rollin gewählt, ein Ereignif, welches von den Confervativen
und vor Allem von den Bonapartiften ganz in der Art ausgebeutet wurde,
wie im Mai des vorigen Jahres die Wahl Baradot’2.
Zu einer großartigen imperialiftifhen Demonftration geftaltete fich die
Volljährigkeitäfeier ded jungen Prinzen in Chiflehurfl. Dem Eindrud der-
jelben thaten die Maßregeln, melche die Negierung ergriff, um alle Beamte
von der Huldigungsreiſe zurüdzuhbalten, durchaus feinen Abbruch, eben fo
wenig, wie der offene Bruch ded Prinzen Napoleon mit dem Chiffehurfter
Hofe: der Prinz war bei allen Parteien zu fehr in Mißeredit gerathen, als
daß der Fatjerlihen Partei aus feinem Abfall irgend ein Nachtheil hätte er-
wachſen Fönnen.
Mit ungetheilter Befriedigung konnte Mac Mahon am Schluß der
Seffion auf den erften Abfchnitt feined Septennats keineswegs zurüdbliden.
Seine Beziehungen zu den Legitimiften waren entfchieden feindfelig. Mit dem
Clerus ftand die Regierung auf fehr gefpanntem Fuße, ſeit fie fih, um Recla-
mationen von Seiten der auswärtigen Diplomatie vorzubeugen, genöthigt ge-
jehen hatte, einigen Bifchöfen, welche fih in ihren Hirtenbriefen die unfin-
nigſten Ausfälle gegen Deutfchland und Italien erlaubt und dadurch der zu—
rücdhaltenden und vorfichtigen Politik des Herzogs von Decazed die größten
Hinderniffe in den Weg gelegt hatten, zu einer befonnenen Haltung zu mahnen,
und das Hauptorgan der Ultramontanen, den „Univerd“, auf zmei Monate
zu fuspendiren. Die Drleaniften waren eigennüßige, und, ſoweit e8 fi) darum
handelte, dem Septennat im Rande Anhänger zu werben, viel mehr fchädliche
als nüsliche Bundesgenoffen. Die Republikaner waren wohl bereit, fih Mac
Mahon anzufcließen, aber um einen Preis den diefer zu zahlen weder Willens
noch im Stande war. Auch die Bonapartiften ftellten Bedingungen, die Mac
Mahon menigften® nicht ausdrüdlich annehmen fonnte. Der erfte Verſuch,
die gefammte Majorität zu einer Septennatöpartei zu verfchmelzen, war als
völlig mißlungen zu betrachten. Allerdingd war die Regierung entjchloffen,
fi dadurch von meitern Verſuchen nicht abjchreden zu laffen; aber die Aus:
fihten auf Erfolg waren äußerft gering.
Die eine Thatfache ftand jedoch feit, daß, wie unſicher auch Mac Mahon’d
parlamentarifche Stellung war, er doch die wirkliche Macht in Händen hatte,
und daß in demfelben Maße, wie dies Allen offenbar wurde, die Macht der
Nationalverfammlung abnahm. Hier liegen offenbar die Keime eines Fünftigen
Confliktes. Mit Sorge ſah man daher von allen Seiten der nächſten Seffion
entgegen. Bofitive Ergebnifje erwartete Niemand von derfelben: man war
414
zufrieden, daß man nur hoffen durfte, daß ein Zufammenftoß werde vermie
den werden; die Nationalverfammlung war fat fomeit gekommen, daß fie,
feit fie am 12. Januar bei Gelegenheit der Debatte über das Mairesgeſetz
die Waffen geftredt Hatte, in ihrer Schwäche und Unfähigkeit die einzige
Bürgſchaft für ihre Eriftenz fah.
Georg Zelle.
Slandereien aus London.
2.
Während fi der Engländer mit Stolz rühmt, der Individualität und
Driginalität ded Einzelnen freien Spielraum zu laffen und nichts fo fehr
verabfcheut, ald äußeren Zwang, felbft wenn derfelbe aus den beften Abfichten
entfpringt, fo folgt er andererfeit3 doch beinahe ſklaviſch den jemetligen Rich—
tungen der Mode und hält mit einer Zähigkeit, die wirklich oft einer befferen
Sache werth wäre, an alten Einrichtungen und Gebräuchen feit, die zwar
im Allgemeinen manches Gute haben mögen, aber gerade den Einzelnen mit
dem allerfchlimmiten Zwang belegen.
Mer erinnert fih nicht noch der Meetings, die allerwärtd® in England
vor wenigen Monaten gehalten wurden, um der beutfchen Regierung und
dem deutfchen Volke Sympathiebezeugungen zu dem Kampfe mit Rom zu
überfenden? Und nun, da die Gonfequenzen dieſes Kampfes immer mehr
und fehärfer hervortreten, da die Negierung gezwungen ift, gegen Rebellen,
theilmeife unter Anwendung von äußerer Gewalt, einzufchreiten, nun nehmen
hervorragende Organe der Preffe mehr oder minder offen für diefe Rebellen
Partei und beinahe dte ganze englifche Preſſe zieht in einer oft geradezu
gehäffigen Weife gegen die deutjche Regierung und die nationalgefinnte Preſſe
los, wo es fih um den Fall Arnim handelt.
Damald war e8 Mode, Deutfchland zu huldigen, jest ift das Gegentheil
der Fall, damald war Gladſtone's antiultramontane Richtung am Ruder und
jetzt haben fi die Engländer durch die patriotifchen Briefe einiger hervor—
ragenden Katholifen Sand in die Augen ftreuen laffen und können nidt
begreifen, warum wir Deutfchen nicht desgleichen thun. Die englijche Prefie,
die fih foviel auf ihre Unabhängigkeit zu Gute thut, iſt jedenfalla fehr ab»
hängig von der öffentlichen Meinung und es ift wohl außer Frage, daß es
befier ift, einer einmal al® gut erkannten Regierung treu, eventuell auch gegen
die Öffentlihe Meinung, zu folgen, als ſtets den Mantel nad dem Winde
415
ber ſchon in der Bibel, auf die der Engländer doch fonft fo viel gibt, fo
treffend harakterifirten Volksſtimme zu drehen.
Doch der Leſer verzeihe diefe politifchen Betrachtungen, die fi mir im
Anflug an den Eingang des Briefed unmwillfürlih aufdrängten, ohne beab-
fihtigt zu fein. Ich wollte weit harmlofere Dinge berühren und zwar zu—
nächft einige über die befannte, um nicht zu fagen berüchtigte, engliſche
Sonntagäfeier bemerken.
Ueberall auf dem Continent ift der Sonntag nicht allein ein Tag der
Ruhe und Erholung, fondern vor allen Dingen ein Tag der Quft und des
Vergnügen, dem fich befonders die mittleren und niederen Stände voll hin—
geben. Daß dabet dann fehr häufig von Erholung nicht viel die Rede ift
und Ausſchreitungen mancherlei Art vorkommen, liegt in der Natur der
Sade. Außerdem aber ift der Sonntag auf dem Feitland für eine große
Maſſe von Kaufleuten und Beamten nit nur Fein Ruhetag, fondern die-
jelben müflen gerade mit verboppelter Anftrengung ihre Gefhäfte und Ob—
liegenheiten beforgen und es liegt meiner Anficht nad) ein bedeutender, aber
auch der einzige Vorzug der englifchen vor der Feitländifchen Sonntagäfeier
darin, daß died bier nicht der Fall ift, fondern Sedermann wirklich feinen
vollen Ruhetag hat. Es ift gewiß viel werth, wenn der Familienvater mit
Beftimmtheit darauf rechnen fann, am Sonntag fih ganz feiner Familie
hingeben zu können, wenn der Kaufmann unbeforgt darauf, etwa feine
Kundſchaft an einen feiner Goncurrenten zu verlieren, feine volle Sonntags-
ruhe genießen kann, weil er weiß, daß alle feine Concurrenten deßgleichen
tbun, wenn der vielgeplagte Schaffner durch das Ausfallen der Güterzüge
feinen freien Sonntag hat. In dieſer Hinfiht ift die englifhe Einrichtung
nachahmenswerth, aber gewiß in feiner andern, denn alle fonft damit in
Verbindung ftehenden Gebräuche find fo unerträglich Täftig, daß eben ein auf
feine althergebrachten Einrichtungen ftolzer Engländer dazu gehört, um ſich
den Schein zu geben, ihrer froh zu werden, denn daß er fie felbit im Ernſte
lobenswerth finde, möchte ich ſtark bezmeifeln. An fchönen Tagen ift es
noch einigermaßen erträglih, indem menigften® die reizenden Umgebungen
Londons für manche fonftige Entbehrung entjhädigen können. Da fieht
man denn auch Alt und Jung per Omnibus, Dampfihiff oder Eifenbahn
binausftrömen, fehr häufig das Gebetbud in der Hand und, mie der Eng-
länder an Werktagen während der Fahrt feine Zeitung lieft, fo lieft er am
Sonntag im Coupé feinen Pfalm oder fein heiliged Lied, was denn oft zu
ergöglichen Bildern führt. Es Hat wirklich den Anfchein, ald ob ein be—
ſtimmtes Quantum getftlichen Stoffe verarbeitet werden müßte und es tft
nur gut, daß der Rofomotivführer und das fonftige Zugperfonal davon ent»
416
bunden zu fein feheinen, fonft könnten fi) fehr leicht die Fomifchen Scenen
in tragifche verwandeln.
Man denke ſich aber eine Stadt von nahezu 4 Millionen Einwohnern
an einem trüben Regentage in die fonntägliche Langeweile gehüllt. Alle Läden,
ja felbft die Reftaurationen, mit Ausnahme der Conditoreien und einer höhern
Sorte von Branntweinläden find gefchloffen. Die unzähligen Maſſen aller
derer, die weder Familie noch einen fonftigen gefelligen Kreis haben, in dem
fie verfehren Eönnen, deren Heim ſich auf eine düftere Schlafitelle befchränft,
find auf die Straße, und was fi in und an derſelben darbietet angemiefen.
Ste ziehen, Männer und Weiber, von früh bis Abends von einer Branntwein-
fneipe in die Undere, gehen zwiſchen durch einmal aus purer Langeweile In
die Kirche und find fehließlich froh, wenn der Tag zu Ende ift. Keine Kunft-
fammlung ift geöffnet, die ihnen Belehrung böte, Fein Concert, Fein Theater
gewährt ihnen Zerftreuung, ein derartiger Tag ift troftlod öde. Wie anders
ift ein Eonntag in Deutfchland mit feinen frohen Feften und den fröhlichen
Gefihtern, mit unferen Mujeen, unferen Kunftfchulen und zoologifchen und
botaniſchen Gärten, die nicht nur geöffnet, fondern auch befucht, und zwar
vorzugsweiſe von den niedern Ständen befucht find und in denen fi) oft ein
heiteres vergnügted Treiben entfaltet. Wahrlich ein deutfcher Sonntag iſt
einem englifchen unendlich vorzuziehen, felbft mit allen feinen Ausſchreitungen
und zwar dadurch, daß er dem Volk Gelegenheit giebt, fich edlen Bergnügungen
hinzugeben, wird er, troß des ſchwächern Kirchenbeſuchs, auch auf eine würdi«
gere Meife gefeiert ala in England. |
Kurz vor 6 Uhr Abends, bevor die Speifehäufer geöffnet werden um die
Hungernden aufzunehmen und zu fättigen, fammeln fih vor deren Thüren
Gruppen von Herren und Damen, Fremden und Einheimifchen an, die fehn
ſüchtig auf das Deffnen harren, wie e8 fonft wohl häufig vor den Caſſen der
Theater zu fehen iſt. Da kann man alle Sprachen der Erde hören, mander
traute heimatliche Laut ſchlägt an das Ohr, und während allerdings die Meiften
die Verwünfchungen über die englifche Sonntagäfeier hübſch bet fich behalten,
macht ſich manchmal diefer oder jener Luft und nicht am feltenften find «8
deutfhe Zungen, die ſich da vernehmen lafjen.
Da mir gerade vor einem Speifehaus ftehen, fei es geftattet, auch einen
Blick hinein zu merfen. In allen Londoner Reftaurationen, au in den
weniger feinen, herrſcht eine fehr wohlthuende Reinlichkeit, die verbunden mit
andern vortheilhaften Einrichtungen fehr mwefentlich dazu beiträgt, daß man
ftet3 mit Appetit ift und trinft. Man mag über die englifche Küche denken,
wie man will, — und über den Gefhmad läßt fich ja bekanntlich nicht ſtreiten
— fo wird man doch zugeben müffen, daß man nicht nur überall ausgezeichnete?
Fleiſch findet, fondern daß vor allen Dingen auch die Art und Weiſe der
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Zutheilung der Speifen an den Gaft fehr nachahmenswerth iſt. Vor den
Augen eines jeden Gaſtes wird von dem großen fchönen Braten, die auf
Heinen Rolltiſchchen dur die Spetfefäle gefahren und in Metallgefäßen
wohl zugedeckt warm gehalten werden, durch die Zufchneider, ganz nad) den
Wünſchen der Speijenden der Teller mit faftigen Stüden belegt. Ebenſo ge-
f&hieht e8 mit den Gemüfen, die ftetd zum Braten gegelfen werden, und der
Suppe, und wenn die beiden letgenannten Gerichte auch zu den ſchwächſten
Seiten der Engländer gehören, fo ändert das nicht? an der Thatjache, daß
man überall in London fehr preißwürdig fpeift. Die anfcheinend hohen
Wirthſchafts-Preiſe reduciren fich fofort, wenn man die Höhe fämmtlicher
Rebendmittelmarktpreife bedenkt. So Eoftet 3. B. ein Pfund Rindfleifh 12—14
Sgr.; die Kartoffeln, en gros auf dem Bahnhof der Great Nothern Bahn,
dem Haupt-Kartoffelmarfte Londons, pro Tonne (20 Gentner) 30 Thlr. und
mehr und da alle andern Preiſe, höchftens die für Fifh ausgenommen, in
demfelben Verhältniſſe höher find als die deutſchen, fo erfcheinen fchlieglich die
Preife der fertigen Speifen, die nicht mefentlich höher find als z. B. die Ber-
liner, befonder8 auch in Anbetracht der ausgezeichneten Qualität, eher niedrig
ala hoch. Es zeigt fich auch hier wieder der echt germanifche Zug, der über:
al in England ſcharf ausgeprägt ift, während er leider in Deutfchland viel-
fach durch den Teidigen franzöfifchen Einfluß verdrängt wurde, daß der Kern
dad mefentliche jeder Sache ift und Reellität in jeder Hinficht auch eines hohen
Preiſes werth ift.
Wohl in keinem Falle tritt der eben ausgeſprochene Satz ſo offen zu Tage
als bei Betrachtung des nebſt der Nahrung wichtigſten menſchlichen Lebens—
bedürfniſſes, der Wohnung.
Man findet nirgends einen größern Contraſt zwiſchen dem äußern und
innern Anſehen als bei engliſchen Wohnhäuſern und zwar iſt derſelbe durch
folgende Umſtände bedingt. Während auf dem Continent in den großen
Städten und vor allen in Berlin nicht nur ein Nebeneinander-, ſonder vor
allen Dingen auch ein Uebereinanderwohnen ſtattfindet, welches leider ſchon
mit dem Kellergeſchoß beginnt und erſt im Dachgeſchoß ſein Ende erreicht,
gehört es in London und andern engliſchen Städten zu den größten Selten—
heiten, daß in einem Haufe überhaupt mehr ala eine Familie wohnt. Der
Engländer ftrebt danach, in feiner Wohnung möglichft nah Außen Hin ganz
abgefchlofien und allein zu fein und aus diefem Streben entjpringt nicht nur
die Einrichtung der Häufer felbft, fondern auch die Geftaltung ganzer Stadt-
theile, ja fogar ganzer Städte. Ueberall da, mo der Verkehr den Werth
der Läden und Gefhäftslofale und dadurch auch den Werth des Grund uud
Bodens, der Häufer, in die Höhe treibt, nimmt die Zahl der Wohnungen
' und ber Bewohner in unverhältnigmäßiger Weife ab. Sobald e Haus In
Grenzboten IV, 1874,
—
418 e
feinen untern Theilen zu Geſchäftszwecken benutzt wird, fühlt ſich der Eng—
länder in demſelben beunruhigt, er ſtrebt danach, ein ruhigeres Heim zu
ſuchen und ſo macht es ſich ſehr ſchnell, daß ganze Straßen vollſtändig zu
Geſchäftsſtraßen werden, die früher Wohnungszwecken dienten. Nicht nur in
der City, ſondern auch in den verkehrsreichen Theilen des Weſtend nimmt
die Bevölkerung ſtetig ab und in demſelben Verhältniß ſteigen die Büreaux
und Expeditionen in die höhern Stockwerke. So trennt ſich die Stadt, abge-
ſehen von der Eity, die nur Gefhäftäftadt ift, fireng in Wohnungsftragen
und «Bezirke und foldhe, die Gefhäftäzmweden dienen. In den lebtern und
vorzüglich in der City fieht man denn auch dem entfprechend ftattliche Ge-
bäude gediegenfter Ausführung, mit Marmor und polirtem Granit, von der
Macht und dem Reichthum der Handeläheren beredted Zeugniß ablegen.
Durch die Schaufenfter und Erpeditionen audgedehnter Großhandlungen bes
dingt, für die eine Trennung in verfchiedene Stockwerke im höchſten Grade
unbequem wäre, zeigt fih dort überall eine mehr und mehr um fich greifende
Ausdehnung in die Breite, fehr häufig werden mehrere Häufer niedergeriffen
um fie zu einem vereinigt wieder neu erftehen zu laffen.
Ganz anders verhält es ſich dagegen mit den eigentlichen Wohnhäufern.
Da, mie gejagt, jede Familie ihr eigened Haus haben will und doch diefes
Haus nur eine Wohnung, fehr oft von befcheidener Ausdehnung, bei theu-
rem Grund und Boden, enthalten fol, fo folgt naturgemäß, daß die Käufer
möglihft fchmale Fronten erhalten, während nah Möglichkeit die Höhe
zur Unterbringung der Wohnräume benugt wird. Weniger wie 2 Fenſter
Front pro Haus habe ich nicht gejehen, weniger läßt ſich auch nicht gut
berftellen, aber die Zahl diefer Häufer ift fehr groß und jedenfalld viel bedeu-
tender ala die Zahl der Häufer mit 4 Feniter Front, ja fogar wohl größer
als die Zahl derjenigen mit 3, doch will ich das nicht beftimmt behaupten. |
Diefe Einrihtung hat unftreitig ihre guten Seiten, denn fie verhindert
ein allzu intenfives Ausnutzen ded Bauplatzes mit nichtsnutzigen Miethäfafer-
nen, die der Erbauer, felbft wenn er fie errichten wollte, den hiefigen Sitten
gemäß, überhaupt nicht vermiethen Könnte. Die abfolute Unmöglichkeit, die
Häufer ſchmaler zu maden als ein Zimmer Breite hat, und die Größe der
Wohnung, fegen den Dimenfionen des Haufe ganz bejtimmte Grenzen; höher
ald 3 Stockwerke find fie fehr felten; und wenn man binzu rechnet, daß es,
Danf der ausgezeichneten Communifationdmittel Londons, ganz gleichgültig
tft, in welcher Gegend der Stadt oder deren Umgebung bi8 Sydenham und
Richmond hin man wohnt, fo findet man eine Erklärung für diefe billigen
MWohnungdmiethen. Unfere deutſchen Miethen, die befonders in Berlin oft
ein Drittel und mehr des ganzen Einfommens verfchlingen, find eine fo große.
419
Galamität geworden, daß das Studium der Londoner in diefer Hinficht ges
wiß viel gefündern Verhältniſſe, fehr zu empfehlen ift.
Während nun diefe Wohnungen im Innern mit allen möglichen Be
quemlichkeiten aufs reichlichite ausgeftattet find, und bei diefer Ausftattung
mit allem Zubehör in wirklichen Wohnungsgegenden bei 5—6 Zimmern für
300 — 400 Thaler zu haben find, fo bieten fie dafür im Aeußern einen ger
radezu ärmlichen Anblid dar. Man denke fih ganze Straßen derartiger
Ihmaler Häufer, die der größern Billigkeit wegen eins wie das andere voll,
ftändig gleich, förmlich fabrifmäßig hergeftellt worden find und in ihrem ein«
fahen glatten Ziegelrohbau ohne Verzierungen, ohne Hauptgefims, ja fogar
ohne Fenfterverfleidungen fi dem Beſchauer darbieten. Man vermuthet nicht
in denfelben allen Comfort der reichen MWeltftadt zu finden, die folideften
Möbel, bei denen freilih oft die Eleganz fehlt, die feinften Teppiche und
reichten Vorhänge. Man möchte unwillfürlih aus der Straße eilen, weil
man ihres ärmlichen Eindruds wegen glaubt, in ſchlechte Stadtviertel gerathen
zu fein, wenn nicht die vornehme Ruhe dafür zeugte, daß man fich do
in guter Gefelfchaft befinde und die unanfehnliche Hülle doc einen guten
und foliden Kern einfchließen müſſe.
In neuerer Zeit hat man vielfach derartige Häufergruppen zu ‚einem
Ganzen zufammenzufafien gefucht, wenigften® im Yeußern, indem man ſymme—
trifche Rifalite, gemeinfchaftliche Gtebel, durchgehende Gefimfe und dergl. mehr
anbrachte, aber alle derartigen Verfuche, den äußern Eindrud zu beffern, werden
fo lange mißlingen, al® das einzelne Haus nicht mehr Yrontbreite hat, und
da hierzu Feine Ausfiht vorhanden ift, fo müffen die Londoner wohl über-
haupt darauf verzichten ihre Wohnhäufer zu arhitectonifcher Wirkung kommen
zu laſſen.
Da es in Rondon althergebradhte Sitte ift, die Häufer auf 7, 14 oder
21 Jahre zu miethen und in letterem Halle, der jehr häufig ift, der Miether
die Verpflichtung übernimmt, alle Reparaturen auszuführen, auch den Anftrich
des Hauſes ale 7 Jahre erneuern zu laſſen, fo kann es bei einer der oben
erwähnten einheitlichen Fagaden fehr leicht vorfommen, daß der eine Theil
nach einer Reihe von Jahren in ganz anderer Farbe prangt, ala ein anderer,
felbft wenn die einzelnen Häufer nicht dur Veräußerung an andere Eigen-
thümer übergehen folten, was doc auch möglich ift. Derartige Fälle find
denn auch ſchon mehrfach zu beobachten und wenn nun gar die Grenze nur
einen Kleinen Theil eined Giebelfelde® abjchneidet, oder mitten durch eine
Nifche geht, fo ift der hervorgebrachte Anblid ein fo entjeglicher, ein fo ur-
fomifcher, daß man ala erniter Menſch nur wünfchen kann, daß die Häufer,
jedes für fi, in ihrer nadten Einfachheit verbleiben mögen, daß man in diefer
Beziehung nit in die Fußtapfen Wiens trete, wo derartige Häuferzufammen-
ers
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faffungen, der vollftändtg andern Verhältniffe wegen, gewiß ebenjo beredhtigt
find, als in London unberechtigt.
Die Trennung der Wohnung in 2, 3 und mehr Stodwerfe, die fich hier
überall zeigt, hat aber gewiß auch ihre großen Nachtheile und Unbequemlich—
keiten. Es ift wahr, man ift innerhalb feiner Wohnung ganz unbeachtet,
fommt mit Niemandem in Berührung, den man nicht fehen will und vor -
allen Dingen wird dem Geklatſche der Dienftboten auf die wirkſamſte Weife
vorgebeugt, dafür hat man aber immerwährend Trepp auf, Trepp ab zu
fteigen; und wenn man fi auch das Haus fo eintheilen Fann, daß man am
Tage möglihft nur in einem Stodwerfe bleibt, fo bin ich doch feit über
zeugt, daß unferen deutfchen Hausfrauen, die glücklicher Weiſe felbft überall
im Hauje nachjehen, diefe Zuftände nicht recht behagen würden.
Ich glaube auch, daß fich die Galamitäten, die ſich in unferen Groß
ftädten in dem Namen Wohnungsnoth zufammenfaflen, auch ohne Einführung
von Londoner Wohnhäufern, die von fo vielen Seiten angepriefen worden find,
befettigen lafjen, wenn wir die nächiten Umgebungen der Städte derart mit
den Berfehrömittelpunften in Verbindung bringen, daß der Geſchäftsmann
nicht gezwungen ift, in der Stadt zu wohnen.
Sebt muß der Gefchäftämann und der Handwerker, Dank der entjeglich
mangelhaften Gommunifationen innerhalb und außerhalb der Städte, im
Innern diefer felbft wohnen, wenn er nicht feine Foftbarfte Zeit verlieren
will. Jetzt muß der arme Tagelöhner in elenden Kellern oder Dachftuben
wohnen. So wie wir aber zwifchen dem Innern der Städte und den länd:
lihen Umgebungen Eifenbahnverbindungen haben werden, wie fie jebt für
Berlin und Hamburg geplant und theilmeife in Ausführung find, wird auf
die ganze Wohnungsnoth mit ihren Schreden verfehwunden fein, auch ohne
daß wir zu dem Wohnungshaus Englands unfere Zufluht nehmen,
welches ich für deutfche Verhältniffe für unbequem und unpraftifch halte
Menn wir dereinft auch fo reich find, daß fich jede Familie foviel Dienft-
boten halten Fann, daß die Hausfrau nur noch zu befehlen braucht, dann
könnten wir es vielleicht thun, aber ich glaube nicht, daß das engliſche
Syftem jemald in Deutfchland Eingang und Anklang finden wird. Wenn
fi unfere großen Städte mehr nach außen hin ausdehnen, dann werden auf
vielfach Stockwerke, die jekt in mehrere Wohnungen getheilt find, nur zu einer
benugt werden, die Wohnungen werden überhaupt geräumiger werden. Darin
liegt aber der Schwerpunkt der ganzen Frage, daß unfere Wohnungen, durch
die Wohnungsnoth auf ein ungebührlihes Maaß eingefchränkt worden find,
und daß es dringend geboten ift, fie menfchenwürdiger, geräumiger zu machen.
Ob eine Wohnung von 6 Zimmern in 3 Stodwerfen vertheilt, oder in einem
vereinigt Aft, ift gewiß für die Bequemlichkeit nicht gleichgültig, ich ziehe die
Ä
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[este Anordnung entfchteden vor, fobald die Wohnung ſich dur eine
Thüre vollftändig abjchliegen läßt, und das zu erreichen, ift überall nicht
ſchwer. Während jet die Außerlich fo unfsheinbaren, ja geradezu häßlichen
Londoner Häufer im Innern aufs vortrefflichfte eingerichtet find, zeigt ſich in
den deutjchen Großftädten leider oft da® gerade Gegentheil: auf das Aeußere
wird viel gegeben, während das Innere vernadläffigt wird. Sicher ift alfo
bis jeßt das englifche Verfahren beffer, weil folider und reeller; aber hoffentlich
haben die traurigen Zeiten unferer beſchränkten MWohnungsverhältniffe am
längiten gedauert und wenn wir unfere Häufer im Innern erft vollfommen
maden, dann find mir den Engländern überlegen, denn dad äußere Haus
welches ficherlich nicht vernachläffigt werden darf, fann bei unferm Wohnung?
ſyſtem, felbft beim einfachften Miethshaus architeetonifh und äſthetiſch aus—
gebildet werden, während das beim englijchen Haus mit 2 Fenftern Front eine
reine Unmöglichkeit tft. — Ferner hat das continentale Syftem, welches fich
übrigend aud in Schottland ftarf verbreitet findet — woraus hervorgeht, daß
fi) auch der Britte damit befreunden kann — außer den angeführten Vorzügen
auch noch das für fich, daß dabei eine viel beffere Ausnutzung ded Grund
und Bodens ermöglicht wird. Setzt geht diefelbe zu weit; ſowie aber auf
dem Gontinent diejenigen Verkehrserleichterungen gefchaffen fein werden, die
in englifchen Städten ſchon längere Zeit beftehen, fo wird ſich das ganz von
felbit reguliren, und man müßte annehmen, daß fchließlich vermöge der
beſſern Bodenaudnugung die continentalen Stockwerkswohnungen ſchließlich
billiger werden müßten als die englifchen Hausmwohnungen.
Hoffentlich erreichen wir diefen Zuftand recht bald; hoffentlich bieten alle
Behörden, vor allen Dingen die ftädtifchen Alles auf, um Zuſtänden ein
Ende zu bereiten, die beinahe troftlos fcheinen und einen mefentlichen Antheil
an allen den Erſcheinungen haben, die die befitenden Claſſen der großen
Städte jest fo oft mit Schrecken und mit ficherlich übertriebenen Beſorgniſſen
erfüllen. Alfred Blum.
„Um die srde“ von Sduard Hildebrandt und „Reiſe—
ziele“ von Fugen Krüger.
Der Berlag von R. Wagner in Berlin hat in den letten Jahren durd)
die Heraudgabe der Aquarelle von Eduard Hildebrandt, melde der
leider fo früh verftorbene Künftler auf feiner letzten Reife um die Erde auf-
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genommen, die berechtigte Aufmerkfamfeit aller Kunftkenner und Kunftfreunde
auf fich gezogen.
Diefed großartige Unternehmen liegt nun abgeſchloſſen vor und. Unter
den dreihundert Aquarellen Hildebrandt'8, die er als legte Ernte von der letzten
großen Reife feines Lebens heimgebracdht, hatte R. Wagner zur Vervielfältigung
von Anfang an, um die Sammlung nicht zu Eoftfpielig zu machen, nur vier:
unddreißig der vorzüglichften Blätter ausgewählt, die nun alle in treueftem,
herrlichſtem Chromo - Facfimile vollendet vorliegen. Die erften ſechs diefer
Bilder hat der Künftler felbft no geiehen. Gr gab kurz vor feinem
Hingang feine Freude darüber in den allbefannten Worten zu erfennen: „die
mir vorliegenden ſechs Chromo», Facfimiled meiner Aquarelle „die Reife um
die Erde* find mit wunderbarer Treue und einem bei technifchen Verviel⸗
fältigungen diefer Urt feltenen Fünftlerifchen Verftändniffe nach meinen Drigi-
nalen gefertigt.“ Und die letzten vier Blätter diefer Sammlung find erft in
diefen Tagen ausgegeben worden. Es hat alfo mehr als ein halbes Jahr—
zehnt gedauert, bi diefe verhältnigmäßig kleine Anzahl von Blättern den
Schöpfungen des Meifter8 nachgebildet war. Und daß hier das alte deutide
Sprüchwort fi) bewahrheitet hat: was lange währt, wird gut, das beweiſt
die ſtets wachſende Theilnahme der beiten Kreife des Publikums, die ftetd
ſtärker verlangte und immer erneute Auflage des koſtbaren Werkes. Wenn man
fo oft leider im Rechte iſt, davor zu warnen, daß die erhöhte Kaufluſt des
Publikums den Beweis liefere für die Vortrefflichkeit der Waare: fo erfennt
man mit doppelter Freude hier die Neinheit des Geſchmackes der Käufer an,
die Bortrefflichkeit der Leiftung, den Erfolg einer für den Heraudgeber und
feine . Mitarbeiter gleich rühmlichen Unternehmung.
Man geht nicht zu weit, zu fagen: fo neu und erhaben Hildebrandt's
Aquarelle.waren in der Zeit, da er zum erften Mal mit feiner Kunft die tropiſch
Farbengluth und Zonfülle in Wafferfarben miedergab, fo unerreicht er in den
höchſten Reiftungen feiner Kunft geblieben: fo neu und großartig und unver
gleihlich It das Meifterftück deutfcher Kunftinduftrie, das diefe Blätter dar-
ſtellen. Wenn die Griechen den höchſten Ruhm des bildenden Künftlerd in
der vollendeten Täufchung fanden, die das Werk des erften Mleifterd fogar
auf die Sinne des nächſtſtrebenden Genoffen hervorbrachte, fo haben diefe Er-
zeugniffe des deutjchen Farbendruds jogar die der alten Welt denkbar höchſte
Grenze der Fünftlerifchen Production überfhritten. Denn nicht nur einer der
erften Kunftfenner Berlins begehrte, die gedrucdten Kopien als Driginale
zu Kaufen; der Meifter felbft verwechfelte aus geringer Entfernung die Nach—
bildung mit dem Erzeugniffe ſeines Pinſels. Diefe vollendete Nachahmung
ift denn aber freifich auch ebenfo fehr da8 Product mirklicher Kunſt, ald einer
aufs äußerſte gefteigerten Technik und Mafchineninduftrie. Schon bei der
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bloßen Nachzeichnung der Originale mit Qupe und Mikroskop find wirkliche Künftfer
thätig gewefen. Jede Platte mußte in Form und Linie der Bilder aufs Haar
mit den Vorbildern übereinftimmen. Damit war aber erft der Umrif, der
wefenlofe Schatten des Driginald gewonnen. Die Hauptarbeit biteb erft noch
zu thun: Die Facfimilirung der meifterhaften Farbengebung Hildebrandt’fcher
Aquarelle, das Abftimmen der Töne, die Vereinigung der höchſten Weichheit
in den Nüancen mit der entfehiedenften Ausprägung des Charakteriftifchen in
Kinie, Ton und Empfindung, im ZTotaleindrud wie im geringfügigften De
tal. Um das zu erreichen, waren endlofe Grperimente nöthig, die von den
hochverdienten Keitern diefer Chromo-Facfimiled, den Herren Steinfopf und
2oeillot und den von ihnen beſchäftigten Künftlern und zugezogenen Sach—
verftändigen mit feiner Empfindung unternommen und mit größter Pflicht:
ftrenge zu einem gebeihlichen Ende geführt wurden. Selbſt die todte Mafchine
erhielt unter diefen verftändigen Händen Leben. Noch in dem Stadium der
Arbeit, in dem ihr feheinbar allein den Reſt zu thun oblag, wurde ihr. bald
ftärferer, bald geringerer Druck gegeben, um in der Copie felbft die Ausfchwen-
fung des Pinfeld, die weichen oder energifchen Spuren des Qupfpinfels, die
kräftige oder leifere Führung des Waſchſchwamms, die das Original verrieth,
nachzuahmen.
Noch in friſcher Erinnerung ſteht uns die Zeit, wo Hildebrandt's Aqua-
telle zum erften Male zur Kenntnig des Publikums gelangten, und alle
Kennerfreife der Hauptftadt in zwei feindliche Lager fpalteten, die für und
gegen die Malart des Künſtlers leidenfchaftlih Partei nahmen. Es liegt und
daher jehr fern, die Gegner der Hildebrandt’ihen Malmeife und Technik etwa
für ſchlechthin unverftändig oder die von der „Reife um die Erde“ heimge-
braten Aquarellen für abfolut tadellos, für das in der Waflerfarbenlandichaftd«
malerei in allen Beziehungen Unerreichte hinzuftellen. Im Gegentheil: es joll
bereitwillig zugeftanden werden, daß Hildebrandt auch Aufgaben bier zu löſen
ſuchte, an denen er gefcheitert ift, weil das Aquarell nie ihnen gewachſen
fein fann; daß nur wenige diefer Blätter ald ganz vollendete Staffeleibilder
gelten können, dagegen viele anderen feiner Aquarelle von der Reife um die
Erde, trog aller vom Künftler darauf gewandten Mühe und Arbeit den
Eindrud des Skizzenhaften und Flüchtigen machen, während z. B. die Eleine,
jest in Privatbefig befindlihe Sammlung feiner auf einer früheren Reiſe
aufgenommenenen Aquarelle von Madeira eine Durcdharbeitung und Bollen-
dung aufmeift, von der felbft Karl Werner's fleipigfte Detailmaleret in
Schatten geftellt wird.
Über troß diefer Schwächen — die übrigens nur dem edelften Schaffene-
drang entjprungen find, der einen großen Künftler befeelen kann — ftehen
die Aquarelle Hildebrandt's durchaus auf der höchſten Höhe, welche diefe Kunft
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in der Landſchaftsmalerei bisher erreicht bat. In den meiften dieſer Blätter
hat Hildebrandt in Waſſerfarben Probleme der Malerei gelöft, an die felbft
Meifter der Delfarbe fih felten vor ihm gewagt hatten. Und zugleich bat
er eine Kraft und Tiefe der Warbe, einen MWohllaut ded Vortrags und eine
Sicherheit in der Charakteriſtik der füdlichen Landſchaft errungen, die man in
ihrer vollen Bedeutung erft recht erfaßt und würdigt, wenn man Aquarell
anderer bedeutender Künftler daneben bält.
Es würde Bogen ftatt Seiten erfordern, wollten wir diefe hoben Vor
züge an all den einzelnen 34 Blättern verfolgen, die R. Wagner's Kunft-
verlag durch die nun abgefchloffene Sammlung von Chromo-Facfimiles zum
Gemeingut der Nation gemabt hat. Es mag genügen zu fagen, daß, menn
man die ganze Reihe noch einmal Revue paffiren läßt, e8 kaum möglich ift,
zu beftimmen, welches diefer Blätter weniger kunſtvoll reproduzirt fei, als die
übrigen. Namentlich ftehen auch die neueften vier Blätter, welche das Merl
abjchließen, in nicht3 Hinter den andern zurüd. Die „Straße in Alerandrien,“
die „Brüde bei Pecking,“ zählen vielmehr zu den interefjanteften Städte
bildern, „Colombo“ auf Geylon und der „Hafen von Foochoo⸗foo“ zu den
reizendften SLropenlandichaften der ganzen bedeutenden Sammlung. —
Wie nun der bei Rebzeiten Eduard Hildebrandt'3 ungenirt erhobene Tadel
über dem Raſen des Frühverftorbenen allmählich verftummt ift und neidlos
Alle Heute die hoben Vorzüge feiner Kunft anerfennen, fo ift er aud dem
jungen Gefchleht zum höchſten Vorbild der Nacheiferung geworden. Geit
Eduard Hildebrandt haben fich jehr bedeutende junge Talente ausfchlielich oder
doch vorzugsweiſe der Aquarell-Randfchaftämaleret gewidmet und darin theil-
weije vorzügliche8 bereits gefchaffen. Einer der vornehnften und am meiiten
verjprechenden Künftler auf diefem Gebiete iſt unftreitig Eugen Krüger.
Bereit? fein erfter größerer Aquarell-Cyelus, deutiche Wald- und Wildftudien,
beit Brüder in Hamburg erfchienen, Ienfte die allgemeine Aufmerkſamkeit
auf den jungen Künftler. Die Landfchafts- Aquarelle vom Kriegsſchauplatz
1870—71, die Krüger (in demjelben Verlage) dann folgen ließ, erweckten den
Nachhall jener Begeifterung, die unfer Volk während der glorreichften Tage
ded Jahrhunderts gehoben hatte. Aber auch heute, wo fo Viele, ja wohl
die Meiften nur zu fehr wieder in die Alltagsftimmung zurückgekehrt find,
und Jeder mit ruhigerem Blute jene Schlachtengefilde, im Frieden der Krüger
[hen Darftellung,, betrachtet, bleibt das volle Rob beftehen, das ihnen beim
erften Anblick geſchenkt ward.
Es war ein fehr glücklicher Gedanke der R. Wagner’ichen Kunſthandlung,
gerade diefem Künftler die fchöne Aufgabe zu übertragen, die maleriſchſten
Punkte in ganz Europa aufjzufuhen und diefe „Reiſeziele“ künſt—
lerifh zu firtren und einzubringen in treuen, feinen Aquarellen. Eugen Krüger
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führt in der That einen fehr feinen, einen ſehr anmuthigen und doch Fräftigen
Pinſel im Aquarell. Er ift der ftillen Harmonie der architeftonifchen Linien und
Maſſen ebenfo gewachſen, wie den fatten Tiefen einer Mondnacht am Meer:
firand oder dem weichen Blau der Hoclandberge. Dafür hat er fhon Be-
weife gegeben. Die bier, im erften Hefte der „Reifeziele* vorliegenden
beftätigen nur die erfreuliche Thatfache des fteten Wachfen® und DBormwärtd«
firebend in feiner Kunft und geben die Gewißheit, daß er die ganze Viel-
feitigfeit de8 Könnens und Erfaſſens befist, welche die Mannigfaltigfeit der
Landſchaftsbilder voraugfegt, die in dem vorliegenden Unternehmen dargeftellt
werden follen. Die fünf vollendeten Blätter des erjten Heftes ſchon find die
Früchte von Wanderungen in die verjchiedenften Gegenden und Ränder
Europad. Da liefert Norwegen die fchneegefrönten Höhen des Hardanger
Fjords im Abendgolde; mondbeglänzt ſtürzt die Meeredwelle der Fresh-Water—
Bat dem felfigen Geftade entgegen; in lieblicher Morgenbläue erheben fich
duftig die Bergketten des Chiemfeed; mie ein luftiges Traumbild vergangener
Tage fteigen die reichen Formen und Kuppeln von Venedigs Paläſten und
Thürmen aus dem Hintergrunde der blauen Adria, auf der die farbigen
Segel dahin gleiten ; mit fteifbefchnittnen Heden und Schnörfeln ragt Iſola
Bella aus dem herrlichen See, den in der Ferne die fchönen Baden des
Gebirgs ſäumen; endlich fpringt in der Tiefe auf weit vorgefchobener Rand»
zunge das Kabinetsbild eines wirklich malerifchen Kleinftaates, Monaco, hervor
aus der tiefen Bläue ded Mittelmeerd, das ganze Bild nicht ohne Ironie
umſchloſſen und überwölbt von den Zweigen eined einzigen gewaltigen
Baumed. —
Eine große Reihe gleich bedeutender Bilder fol diefe Sammlung noch zu
Tage fördern: Moscau und den finntihen Meerbufen, Dliva und einen
bolfteinifhen Buchwald, die Kieler Bucht, die Trolhätta-Fälle, Oftende oder
Scheveningen, ein Motiv aus Schottland, Irland und der Normandie,
Marfeille, aus der Sierra Nevada, Palermo, den MonteRofa, ein Motiv
aus dem Engadin, dem Schwarzwald, vom Rhein, aus Steyermarf, Athen,
Sonftantinopel mit dem Bofporus, Odeſſa, u. f. m.
Rufen wir dem fchönen Unternehmen ein? fröhliches Glüdauf! zu. Seine
Ausführung ift in den beften Händen. Denn der Künftler felbit überwacht
au die Reproduction, die Steinbod’s Offtzin ausführt.
— — — ——— — — ———
Grenzboten IV. 1874. 54
u; F 1
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Vom deuffhen Reichskag.
Berlin, den 6. Dezember 1874.
Wir gehen zunächſt auf die letzte Novemberwoche zurück, um die erſte
Leſung der beiden Prozeßordnungen nachzuholen.
| Kaum minder wichtig ald die Beſchaffenheit ihres Nichterftandes ift für
eine Nation die Geftaltung ihred Strafprozeffed. Die Bedeutung des Straf
prozefjes liegt Feinedwegs allein in der wirkſamen Repreffion der Verlegung
des Geſetzes. Die Art, wie das Strafrecht zur Anwendung gebracht wird,
ift eines der audjchlaggebenditen Momente für die Entwidlung der fittlichen
Darftellungen, für die Würdigung der Handlungen der Menfchen überhaupt.
— Die Probleme, deren neue, den Anforderungen der gejellichaftlichen Ent
widlung entfprechende Löſung die gegenwärtige Strafprozeßordnung fi zum
Ziel feßen mußte, waren vornehmlich folgende drei:
1) die fachgemäße Betheiligung des Laienelementes an der Strafrechtspflege;
2) die Regelung oder Befeitigung des Inſtanzenzuges in der Straf
rechtöpflege;
3) die Durchbildung oder Nichtdurchbildung der ftrafrechtlichen Verfolgung
zu einem Parteiprozeß.
Was den erften Punkt betrifft, fo war der erfte Strafprozeßentwurf, wie
er aus dem preußifchen Juſtizminiſterium an den Bundesrath gelangte, auf
die durchgehende Einführung der Schöffen, auf allen Stufen der Strafgeriäte
und für alle Grade des Verbrechens bafirt. Der Verfaſſer diefer Berichte ift
einer der überzeugteiten Anhänger des Schöffengericht? in der vollitändigen
Ausbildung, wie fie jener Entwurf, unter Befeitigung aller andern Formen
der Bethelligung des Laienelementes an der Strafrechtäpflege, erftrebte. Der
Berfaffer diefer Briefe weiß aber fehr wohl, daß er die Nedaction d. Bl.
in diefer Frage nicht auf feiner Seite hat.) Es handelt fi indeß hier
vorzugsmeife um hiftorifche WBerichterftattung. Die Schöffengerichte wurden
im vergangenen Frühjahre auf dem Altar der Popularität geopfert, als die
Trage ſchwebte, ob die Friedensitärke des Heeres auf dem Budgetwege oder auf
dem Wege des dauernden Geſetzes feitzuftellen ſei. Bekanntlich ift auch diele
Trage nicht zum reinen Audtrag gefommen, weil diefelbe ihrerjeitd der
höchſten Frage der Gegenwart, dem Kampfe zwifchen Kaifer und Papft unter
geordnet werden mußte Wir tadeln beide Unterordnungen nicht im min
*) Die Gegnerſchaft der Redaction diefed Blattes gegen die Schöffen ift nicht nur crimis
nal politifhen Gründen, fondern auch Gründen der praftifchen Erfahrung entnommen, die ber
Rebdacteur diefed Blattes im feiner Eigenſchaft als fächfifcher Rechtsanwalt zu fammeln in der
Rage war. D. Re,
427
deften. Es iſt ein Wort, ded Fürften Bismarck würdig, welches damals halb-
amtlich gefchrieben wurde: „wer einen großen Kampf auf ſich genommen hat,
darf fih während desſelben nicht in heterogene Händel einlaffen.“ Wenn eine
Gardinalfrage, wie die Sicherftellung des deutfchen Heeres, aufgefehoben werden
mußte, um die Organe de3 Reiches im Kampfe mit Rom nicht der Gefahr
einer Spaltung audzufeßen, fo durfte noch vielmehr die befte Eonftruction des
Gerichtd, fo wichtig der Zweck iſt, Aufichub erleiden. Wenn die deutfche
Staatdleitung riskirte, das Schwert nad Außen einjtweilen minder dauerhaft
zu ſchmieden, ald fie für nothmendig erfannte, fo durfte fie auch das Schwert
nad Sinnen — um dad Gericht einmal mit einem bei unfern überrheinifchen
Nachbarn beliebten Vergleih zu bezeichnen — zu demfelben Zweck minder
vollfommen jchmieden. Eine weiſe Staatäfunft hat fih unter anderem auch
zu zeigen in der Schonung der Vorurtheile ihres Volkes bei der rechten Ges
legenheit. Man erzählt, was vollkommen glaubwürdig ift, der Fürft Bismarck
babe einem befannten national gefinnten Abgeordneten aus Baiern ſchon im
vorigen Jahre die Verficherung gegeben: „obgleich er, der Kanzler, für die
Schöffengerichte fei, fo werde er doch aus diefer Einrihtung niemals eine
politifche Frage machen.“ Nach diefer Aeußerung Fonnte man erwarten, es
werde das Schöffengeriht in der Geftalt, die ihm dad preußifche Juftiz-
minifterium geben wollte, wenigitend zur Discuffion vor den Reichsſtag kommen.
Die Anhänger der Schöffengerichte durften, wenn nicht auf den Gewinn der
Majorität für ihre Meberzeugung, doc auf die erichöpfende Darlegung der-
jelben in Rede und Gegenrede der berufenften Sachverftändigen vor dem
deutichen Volfe rechnen. Es fcheint aber, daß die füddeutfchen Enthuftaften
des Schwurgerichts ihre geliebte Inſtitution nicht einmal dem euer einer
Öffentlichen Discuffion im Reichstag, die eine viel eingreifendere Bedeutung
hat als jede andere, unterworfen fehen wollten. Die Schöffen wurden bereitd
im Zuftizausfhuß des Bundesraths geopfert, d. 5. als confequente Geſtalt
des Naienelemented in der Strafrechtäpflege. Ganz audgefchloffen hat man
fie nicht. Der Entwurf der Strafprozefordnung und der Gerichtäverfafjung
in den hier einfchlagenden Beftimmungen, mie ihn der Bundesrath nunmehr
vorgelegt, hat aber durch die ungleichartige Geftalt des Natenelementes nicht?
weniger ald gewonnen. Es ift nicht bloß die äußere Symmetrie zu vermiffen,
wenn wir als Strafgericht unterfter Ordnung den Einzelrichter mit Schöffen,
als Strafgericht mittlerer Ordnung das reine Richtercollegium, und als Straf-
gericht höchſter Ordnung den Schwurgerichtshof vorgeſchlagen fehen. Die
drei Gerichtöformen find vielmehr ihrem Wefen nach fo ungleichartig, daß die
Seele der Nechtäpflege, die Einheit, melche fie belebt, dabei nicht beſtehen
kann. Man Fann fehr verfucht fein, die Gerichtöverfaffung Iieber auf dem
reinen gelehrten Richterthum aufzubauen und ben jchmerfälligen Apparat des
428
Schmwurgerihtd nur als Ausnahme darauf zu fehen, wie ed im Ganzen ja
bisher geweſen tft.
Die ungleidartige Geftalt der Gerichtäftufen bringt noch eine meitere,
ftarfe Inconvenienz mit fih. Die Abgrenzung der Thätigfeit der drei
Gerichtsſtufen nämlich war allerdings fchon im dem Entwurf ded preußifchen
Suftizminiftertum® auf die dreifache Eintheilung der ftrafbaren Handlungen
bafirt, wie fie das deutſche Strafgeſetzbuch aufftellt. Diefelbe Abgrenzung ift
in dem jest vorgelegten Entwurf beibehalten. Nun hat bei den Verhand—
lungen der erſten Lefung der Abgeordnete Lasker mit Recht hervorgehoben,
wie mechanifch diefe Abgrenzung ift. Auch darin hat der genannte Abgeord»
nete Recht, dag die Wichtigkeit eines ftrafrechtlichen Erkenntniſſes für die
gefammte Rechtspflege nicht zu ſchätzen iſt nach der Höhe des etwa in An-
wendung kommenden Strafmaßes; zumal bei dem meiten Spielraum, welchen
das deutjche Strafgeſetzbuch dem Richter In der Strafzumellung gewährt, die
Unterſcheidung der ftrafbaren Handlungen nah den Strafmaßen illuforifch
wird. Uber freilich, e8 wäre eine fehr meitführende Reform, wenn man eine
Abgrenzung der Thätigkeit der Gerichte etwa nach der Wichtigkeit des in Frage
fommenden Rechtsgebiets verfuchen wollte. Die Zeit mag kommen aud für
eine folde Reform, und dann wird wohl auch die Zeit gefommen fein, wo
der Richter bei der Auffuhung des Strafmaßes nicht mehr gebunden fein
wird an irgend eine Syftematif der ftrafbaren Handlungen eines Gefegbuches,
fondern an die individuelle Würdigung ded Verbrechens und des Verbrechers
in allen ihren concreten Beziehungen.
Dann wird wohl auch die Zeit gefommen fein, wo die Modalitäten der
Strafvollziehung dem Richterſpruch genau angepaßt find und wo in Folge
deffen Richter an der Spite der Gefängnißverwaltung ftehen und Gefängnif-
beamte als folhe Mitglieder der Gerichte find. Dad alles find Fortſchritte
der Zufunft heilfamfter Art, deren Vorausſicht das Herz der Humantität höher
ſchlagen machen Tann. Aber unmöglich kann unfere überlaftete Gegenwart
ſchon jest am diefe Aufgaben gehen, wie wünfchendwerth die Köfung derjelben
ſei. Wir rufen dem Abgeordneten Radfer wiederum ein festina lente zu.
Wir erkennen aber, daß mit der Gliederung der Strafgerichte des jetzigen
Entwurfs diefe Aufgaben nie angefaßt werden Fönnen. Mit der Nothwen⸗
digfeit einer organifchen Gliederung der Strafgerichte wird die Frage der
durdhgebildeten Schöffengerichte immer wieder auftreten. Das tft der Troft
für diejenigen, melche die Heberzeugung des Verfafferd diefer Briefe theilen.
Die zweite Aufgabe, welche die neue Strafprogekordnung ſich ftellen follte
und auch wirflih mit Ernſt geftellt Hat, war die Befeitigung ded Inſtanzen-
zuges im Strafgerichtäverfahren. Es bedarf nicht der Ausführung, wie bie
Berufung durch mehrere Inſtanzen das Weſen der Strafrechtäpflege aufhebt.
—
429
Es iſt eine der wenigen heilſamen Wirkungen, welche dem Schwurgericht
ernſtlich nachzurühmen find, daß es dazu beigetragen, die Gemüther innerhalb
und außerhalb der juriftifchen Welt von dem Glauben an die Unentbehrlid-
feit der Berufung zu entmöhnen. Aber freilich, wenn ein einziges Gerichts:
verfahren die Straffachen endgültig entfcheiden fol, fo muß die Beſchaffenheit
der Gerichte alle erreihbaren Bürgfchaften bieten. Das mar bet einer fo
ungleichartigen Geftalt und bet einer fo unorganifchen Gliederung der Straf:
gerichte, wie fie in dem Entwurf der Gerichtöverfaffung und des Strafprozefjed
auftreten, nicht zu leiſten. Es wäre aber fehr zu bedauern, wenn der Ent«
wurf der Strafprozegordnung im Sinne der Reichstagsredner abgeändert
mwürde, welche, aus Verzweiflung, die gute Gonftruction finden oder, wenn
gefunden, diefelbe heritellen zu Fönnen, zur Berufung zurück wollten. Man
bat viel davon gefprodhen, die ausreichenden Kräfte zur Beſetzung des Laien-
richteramted nicht finden zu können. Es iſt aber noch viel mißlicher, den
Stand der befoldeten Beruförichter zu einem Heer anwachfen zu laffen. Man
könnte in den Provinzen, wo die Kräfte für das Kaienrichteramt augenblid-
lich zu fehlen fcheinen, einftweilen mehr befoldete Berufsrichter anftellen, bet
Erledigung der übernormalmäßigen Richterftellen aber den Antrag der Pro-
vinzialvertretung auf Einführung der Raienrichter erwarten. Sedenfalld führt
die materielle Appellatton nur in anderer Weife, ald die Beſetzung der Richter:
eollegien mit lauter Berufdrichtern, eine Ueberfüllung des Nichterftandes, ein
richterliche8 Proletariat — wenn man nicht etwa einen Juſtizhaushalt von
ungemeflener Höhe haben will — und eine Verſchwendung der richterlichen
Arbeit herbei, abgejehen von dem ſchon angedeuteten nachtheiligen Einfluß
auf den Eindrud, die Sicherheit und das Selbitgefühl der Nechtepflege,
Mir fommen zu dem dritten Probleme, welches die neue Strafprozeß-
ordnung zu löfen hatte, vielleicht dem interefjanteften, das aber bei näherer
Betrachtung ſich ganz als Ausfluß der Frage nad) der Geſtaltung des Laien—
elemente darftellt. Diefed dritte Problem enthält die Frage, ob das Straf-
verfahren ala Barteiprozeß durchzubilden ift und, bei Berneinung diefer erſten
Frage, die zweite, wo der Einjchnitt zu machen tft zwifchen den verjchiedenen
Theilen des ftrafgerichtlichen Verfahrend. Denn die Herftelung der Einheit
des Strafverfahreng durch völlige Befeitigung des Anklageprozefjed befürwortet
heute Niemand mehr. Wir werden gleich fehen, wie dieſes dritte Problem
ganz und gar hervorgeht aus der Frage nad der Geftaltung der Raien-
elemente in der Strafrechtäpfleg.. Weit man nämlih das Schöffengericht
zurüd und will man mindeftens für die fogenannten ſchweren Straffälle bet
dem Gejchwornengericht jtehen bleiben, fo tit doch die Beibehaltung des fo-
genannten deutfch-franzöfifchen Schwurgerichts angefichtd der ungleichartigen
Ausbildung und Handhabung desfelben, melde nur gleichartig ift in der
430
Herbeiführung zahllofer praftifcher Mißſtände und unlösbarer Probleme der
theoretifchen Konftruction, eine Unmöglichkeit. Jenes Verfahren in feinen
mancherlet Typen, die e8 fehon allein auf dem deutichen Boden angenommen
hat, ift eine Mißbildung, beruhend auf der falſchen Einfiht der Geſetzgeber
der franzöfifhen Revolution in das engliihe Schwurgeriht und fodann auf
dem Meberbau der falfchen Einſicht der deutfchen Gefetgebung und Praxié
in die franzöfifche Gerichtäverfaffung. Alle competenten Stimmen der Theorie
und Praxis find nachgerade in Deutfchland mwenigitend darüber einig, daß die
Trennung der fogenannten Thatfrage von der Rechtöfrage aufgegeben werden
muß, infolge davon aber au da8 ganze Syftem der jegigen Frageſtellung
an die Gefehmorenen. Will man aber durch die Gefchworenen die Nedhtd
frage in ihrer Totalität und in ihrer unzertrennlihen Verbindung mit ber
Thatfrage entfcheiden laffen, fo fommt man nothwendig auf das englijce
Eyftem der Nechtöbelehrung und Lenfung der Gefchworenen durch den vor
fisenden Richter, welcher der einzige rechtägelehrte Nichter des Schmurgerichtd
hofes ift. Die wirkliche Folge diefed Syſtems ift, wie jeder Kenner der eng
lifhen Jury weiß, die alleinige Entſcheidung durch den Michter und bie
Entwickelung der Jury zu einer Staffage von Strohmännern. Das ift aber
bei weitem nicht das Schlimmfte, wir hätten beinah gefagt, es ift das Bette
an der englifhen Jury. Die entfcheidende Stellung des vorfigenden Richters
macht die Leitung des Verfahren® durch denfelben zur Unmöglichkeit. Die
Folge hiervon ift, daß der Prozeß ganz in die Hände der Parteien gelegt
werden muß, daß fogar die Vernehmung der Zeugen Sache der Parteien im
fogenannten Kreuzverhör wird. Cine weitere Folge ift die Deffentlichkeit der
Vorunterfuhung , die mwichtigfte Folge von allem aber ift die Gründung ded
ganzen Berfahren® auf den Indicienbeweis, der nun wieder dag Mittel für
den Vorfisenden wird, die Gefchworenen ganz feiner Rettung zu unterwerfen.
Somie man das Syitem der fpecialifirten Frageftellung verläßt, welches in
jeiner verfchiedenen Handhabung, auch wenn die Befchränfung der Gefchmworenen
auf die Thatfrage aufgegeben wird, doch immer no die Möglichkeit offen
läßt, einzelne bedeutende Momente der Nechtefrage dem Gericht&hof allein zu
referviren, fowie man alfo jened Syftem verläßt und doch dad Schwurgericht
nicht verlaffen will, bleibt in der That nichts ald dag englifche Syſtem der
Durhbildung des Strafverfahrend zum Parteiprozeß. Die fittliche Anſchauung
der deutfchen Bildung von Recht und NRechtöpflege hat ſich jedoch biäher
immer gegen diefe Confequenz gefträubt und nicht minder hat fich die ſpecifiſch
juriſtiſche Bildung Deutjhlandd gegen die Barbaret des Indieienbeweiſes
gefträubt. Neuerdings aber, ald bei dem Unternehmen der einheitlichen Ge—
ftaltung des deutfchen Strafprozefjed dur das Neich die Frage des Schöffen:
gerichts In nachhaltige Anregung gefommen, der Schritt zu diefer Reform
431
aber aus den oben erwähnten Außerlichen Gründen von Seiten der Reichs—
regierung nicht gewagt worden war, da unternahm es Rudolph Gneift in
feinen „Vier Fragen zur deutfchen Strafprozegordnung“ die völlige Adoption
des engliſchen Strafprozefjed in das deutfche Rechtsleben zu empfehlen. Der
Entwurf der Strafprozekordnung indeß, melden der Bundeörath jetzt dem
Reihätag vorgelegt, wagt auch diefen Schritt nicht, er begnügt fich vielmehr
im Anſchluß an die bisherige Praxis, um Gneiſt's Ausdrüde anzuwenden, mit
dem „halben Anklageprozeß, der halben Deffentlichkeit und der halben Münd«
lichkeit“. Mit andern Worten, der Anklageprozeß ift auf ein präparatorifches
Verfahren gebaut, welches wie biäher die Deffentlichkeit ausſchließt. Ebenſo
ift bei dem Hauptverfahren die Entjcheidung der ungetheilten Frage durch
die Geſchworenen nicht eingeführt und in Folge deffen auch hier nicht die
Leitung ded Verfahrens durch die Parteien oder die Durkbildung zum
Parteiprozeß angenommen.
Diefe inconfequente Geftaltung de3 Strafverfahrene hat nun dem Ent-
wurf im Reichstag lebhaften Tadel zugezogen, am meiften von Seiten des
Abgeordneten Lasker. Wir müfjen befennen, daß uns die geiftige Abhängig:
feit Lasker's von Gneift nie jo unangenehm geweſen, ald in diefem alle.
Es ift ehrenvoll, den rechten Spuren eines großen Denkers zu folgen, und
im höchſten Grade löblich, da® leugnen wir am menigiten. Lasker's großes
Berdienft ift fein uneigennüsiger Fleiß, fein unermüdliched Lernen, fein felbft-
loſes Suchen des Wahren und Beiten. Dadurch hat er diefe eminente
Stellung eine® maßgebenden Führer® im Reichstag, und ed giebt feine Eigen-
Ihaften, durch welche diefe Stellung beijer verdient merden könnte. Lasker
befist entfernt nicht die geniale Intuition Gneiſt's, noch defjen damit in
Wechſelwirkung ftehende Gelehrfamfeit, noch Gneiſt's architektoniſche Kraft.
Defto beiter it er in den nächiten praftifchen Beziehungen jeder heimathlichen
und gegenwärtigen Frage zu Haufe, oder arbeitet fi in diefelben hinein.
Das aber macht den eigentlichen Praktiker, ift wenigſtens jedem Praktiker
unentbehrlih. Wo Lasker noch nicht Zeit gehabt hat, fein emfige® Studium
der Anwendung eined Theorems auf gegebene Zuftände zu beginnen, da folgt
er den Traditionen ded abjtracten Kiberaliamus oder des Fortſchritts, oder
einer Autorität, die er erprobt gefunden, wie diejenige Gneiſt's bei der Kreis—
ordnung. Diesmal ift ihm aber diefe Autorität zum Srrlicht geworden.
Die „Vier Fragen zur deutfchen Strafprozeßordnung“ find eine der in—
terefjanteiten und für ihren Urheber am meiften charakteriftifchen Schriften von
allen, melde aus Gneiſt's Weder gefloffen. Dieſe Arbeit giebt gleichſam ein
Compendium aller Vorzüge und aller Fehler ihres audgezeichneten Verfaſſers.
Aber fo intereffant die Schrift individuell ift und fo anregend durch den
Widerſpruch, den fie herausfordert, der aber nur durch alljeitiged Eindringen
=
432 —
in die Sache ſiegreich zu begründen iſt, fo wenig kann fie an objectiver Ber
deutung bei der Irrigkeit ihred Gejammtrefultates neben andere Schriften
ihre® Verfaſſers geftellt werden. In feinen Arbeiten über das englifhe Staats.
reht hat Gneift fih unvergängliche Werdienfte um die Kultur unfered poli-
tifchen Denfend erworben. Er hat das ganz entitellte Bild von dem englifchen
Staatsweſen zerftört, welches den Continent fo lange beherrfht und zu fo
viel vergeblichen Experimenten verleitet hat. Der englifhe Staat ift nidt
der Ausdruck der fouveränen Gefelihaft, und das englifche Parlament ift
nicht der Vereinigungd- und Ausgleichungspunkt der geſellſchaftlichen In—
tereffen, fondern die engliſche Freiheit ift erwachfen auf dem Boden der durch—
geführten Zwangäleiftung im unentgeltlidyen Dienft der Gefellichaftsklaffen
für ten Staat. Das englifche Parlament ift oder war mwenigftend in feiner
großen Zeit nicht der Sammelpunft des Dilettantigmud, der Kritik und der
egoiftiihen Socialintereffen, fondern der Brennpunkt ded Staatödienfted, der
freiwilligen, Iofalen im Unterhaus, und des berufsmäßig centralen im Ober
haus. Die Verfhhiebung der Staat&fouveränität auf das Parlament ift dad
Erzeugniß einer durhaus anomalen Entwidelung und einer dynaftifchen Ent-
artung. Das Parlament hat die Laft der Eouveränität fo lange tragen
fönnen, als es die Zufammenfafjung des wirklichen Staatsdienfted mar. Seit,
dem das Syftem der perfönlichen Zwangsleiſtung für den Staat, weſentlich
in Folge des Uebergangs der factifchen Souveränität auf das Parlament,
nicht fortgebildet worden, feitdem die neu fich fortbildenden Kräfte diefem
Syſtem nicht mehr unterworfen, die neuen Staatöbedürfniffe nicht mehr durch
das alte großartige Mittel, fondern durch büreaufratifche Einrichtungen be
friedigt werden, ſeitdem zeigt das englifche Staatögebäude überall die Spuren
eined Berfalld, von dem wir nicht willen, ob und wann ihm Einhalt gethan
werden kann.
Indem Gneifl die ewige Grundlage der ftaatlihen Größe, Wohlfahrt
und Sittlichkeit, welche dasfelbe mit Freiheit ift, in der rigoriftiih durchge⸗
führten Staatspfliht, in der Unterwerfung der gejelichaftlichen Intereſſen
und in der unentgeltlihen Zwangsleiſtung der gefellihaftlichen Claſſen an
einem Staatwejen entdeckte, defjen Außenfeite dem Auge ded Aus. und nr
landes eine ganz andere Grundlage lange Zeit zu verrathen fchien, zeigte er
fih wahrhaftig nicht ala Anglomane, wie man ihm fälfchlich vorgemorfen.
Er hob aus dem englifchen Staatsweſen die wahre Grundlage aller Staaten
in der Epoche ihrer Gefundheit und Größe. Er empfahl und auch nicht den
fpecififch englifchen Aufbau diefer Grundlage, fondern nur das ewig gültige
Weſen derfelben zur Durhbildung in unferm Staat, im Anſchluß an unfere
biftortichen Vorausſetzungen, und unter Benugung unferer eigenthümlichen An⸗
lagen. Dagegen ift die Schrift über die vier Fragen der deutfchen Strafpro-
433
zjebordnung von dem Vorwurf der Anglomanie nicht freizufprechen. Der
englifche Strafprozeß ift eine in ſich durchaus confequente Rechtsbildung, ent-
ſpricht aber einer niedrigen Stufe des fittlichen Rebend. Ihn zur Nachahmung
empfehlen, ift gerade, ald wollte man uns dad Bildungsgeſetz der chinefifchen
Sprache empfehlen (? d. Red.), einer Sprache, welche mit wunderbarer Confequenz
und Sicherheit, bei dem elementarften Stande der Sprahform die Aus
drucksmittel für ein entwickeltes Vorſtellungsſyſtem hervorbringt. Es ift
fiherli Anglomante, wenn man ein einzelnes Formgebilde von dort zum
Mufter nimmt, anjtatt die große Triebfeder des ftaatlihen Bildungsweges
felbft zu erfennen und auf die höheren Bildungsbedingungen unfere® Boden?
zu übertragen. Der englifche Strafprozeß ift ein beredteö Beifpiel unter an-
deren, daß in England oftmals der ftaatdrechtliche Gedanke auf dem eigenften
Gebiet ded Staat? nicht, wie er follte, den privatrechtlichen Gedanken ge
Ihlagen hat.
Die tiefen Gedanken der Gneift’fhen Schrift, die aber, weil fie gleichwohl
nicht die erfchöpfenden Prämiffen ausmachen, in den Gonclufionen nur zu
glänzenden Irrthümern geführt, haben den Geift Lasker's gänzlich unterwor—
fen. Namentlih bat ihm die geforderte Deffentlichfeit der Vorunterfuhung
eingeleuchtet, und im Reichstag eremplificirte er fogar, um diefe Deffentlichkeit
zu empfehlen, auf den Prozeß Arnim, ohne den Namen zu nennen. Die
Deffentlichkeit der Vorunterſuchung ift aber ein leerer Name, fo lange man die
techniſche Geftaltung derfelben nicht in beftimmten Zügen vor Augen hat.
Wil man bloß, daß der Anflagebefhluß in einem öffentlichen, die einzelnen
Refultate der Unterfuhung zufammenfaffenden Verfahren feftgeftellt merde,
fo wird wenig dagegen zu fagen fein. Soll aber jeder einzelne Akt von dem
eriten Verdachtsmomente an ein öffentlicher fein, fo ift e8 fonderbar, auf den
Fall Arnim zu exemplificiren. Sollte etwa der Beichluß der Verhaftung und
Hausſuchung in öffentlicher Gerichtäfigung unter Verlefung der Denunziation
gefaßt werden! Mir möchten wiffen, in welchem Fall es dann gelingen follte,
die Spuren entmwendeter Urkunden oder beabfihtigten Mißbrauchs derjelben
aufzufinden. Gneift nimmt bei Empfehlung der öffentlichen Vorunterſuchung
feine Beifpiele Tediglich aus der Kategorie der gemeinen und ſchweren Ver-
brechen, wo die Unterfuhung das gefammte, nicht der WVerbrechermelt ange:
hörige Publitum zum natürlihen Bundesgenofjen hat oder haben follte.
Aber felbft der deutfche Reichstag, der für Lasker's Wort ſoviel Aufmerkſam—
keit bat, vernahm Ausrufe des Erftaunend und der Befremdung aus allen
Reiben, als der Redner die ungeheuerlihe Behauptung ausſprach: die eng»
liſche Criminaljuſtiz fei die promptefte bei den gebildeten Völkern. Wahr
heinlih hat der Nedner die märchenhaften Erzählungen von den Wunder:
thaten englifcher Detectived für pure Sahrheit gehalten, nn * produe⸗
Grenzboten EV, 1874,
434
tive Phantaſie der Reporter die Nubrif „Vermiſchtes“ in den Zeitungen
ſchmückt. — Die Deffentlichkeit der Worunterfuhung kann bis zu einem ge
wiffen Grade aud) in dem präparatorifchen Verfahren des Unterfuchungsrichters,
heiße er nun mie er wolle, ihre Stelle finden. Aber wie fie bier gefordert
wird, ift fie ein Auäfluß der Geftaltung ded Strafverfahrens zum Wartet
prozeß, welche der deutfchen Bildung und fittlihen Anſchauung wohl nimmer
wird annehmbar gemacht werden Eönnen.
Die Commiffion zur Vorberathung der drei Juſtizgeſetze fteht vor einem
großen und ſchweren Werk. Bei der Vernolllommnung des Vorſchlages zur
theilmeife einheitlichen Gerichtsverfaſſung, wie er aus dem Bundesrath her-
vorgegangen, fteht die Commiffion vorzugsweiſe politiſchen Schwierigkeiten
gegenüber, welche fie Hoffnung haben darf, durch die begeifterte Zuftimmung
ded Reichdtags zur Schaffung eined wahren, gleichartigen, deutfchen Richter:
ftandes zu überwinden. Bei der Strafprozefordnung fteht die Commiſſion
nicht dem particulariftifchen MWiderftreben gegenüber, an ihrer Seite den un
miderftehlichen Bundesgenofjen des Nationaldranges nah einem großen und
edlen Rechtsleben, fondern fie fteht vor einem Problem, über welches die
öffentlihe Meinung der Laien und Juriſten noch in zahlreichen ungelöften
MWiderfprücen befangen tft. Es wird fehr ſchwer fein, hier bereits etwas
Bolllommened zu fchaffen, in dem Sinne, wie menfchliche Werfe allerdings
vollfommen fein Fönnen und follen, fo nämlih, daß die Fünftige Werbefferung
eine organifche Fortentwickelung des urfprünglichen Werfes darftellt. Ca ſteht
fehr zu befürdhten, das eine inconfequente, widerſpruchsvolle Bildung zu Tage
tritt. Es wäre vielleiht am Beſten, man fchlöffe ſich fo eng al® möglich an
das mangelhafte Beftehende an, weil, wenn doch nur Mangelhaftes zu er
reichen ift, gewohnte Mängel beffer find als neue.
Bei der Givilprozekordnung dagegen fteht die Commtffion nach der faft
übereinftimmenden Meinung auch des Reichstages einem bereitö nahezu voll
endeten Werk gegenüber. Hier hat fie eine verhältnigmäßig leichte Aufgabe,
die ihr neben den beiden fehmeren Aufgaben zu gönnen und nöthig if. Der
Entwurf der Givilprozeßordnung ruht befanntlich auf dem Syftem der Münd-
lichkeit und auf der Durhbildung des Berfahrens zum Parteiprozeß, melde
bei dem Civilprozeß ebenfo naturgemäß, ald bei dem Strafprozeß dem Wefen
ded Strafrehtd miderfprechend iſt. Wir ftimmen demnach nicht mit dem
jenigen Abgeordneten überein, welcher die Frage aufmwarf, melcher von den
drei bisher in Deutfchland vorherrfchenden Prozeßgeftalten bei der Grund»
legung für eine deutfche Eivilprozekordnung den Vorzug verdient habe. Er
entjchied fich für die Hannoverfche Prozeßordnung, weil fie in der Durch—
führung der Mündlichkeit und des Parteiprozeſſes das moderne Princip der
Selbftthätigkeit der Bürger zur Geltung bringe.
— — — a
435
Wir wagen zum Schluß diefer Betrachtung über die erjte Leſung der
Suftizgefege die Frage aufzumerfen, deren Beantwortung wir im Reichstage
vermißten: welches der gemeinfame Grundzug diefer drei bedeutfamen Reform
gefege ift. Wir erblicten denfelben in Nicht? fo wenig, als in der Aus—
dehnung der privaten Selbftthätigfeit auf Koften ded Staats, was ung fein
moderner Gedanke, fondern eine moderne Ephemere ift. Wir erbliclen diefen
Grundzug vielmehr in der Annäherung an die Geftalt der edelften Eultur,
wo die Organe der öffentlichen Sittlichkeit oder ded Staatd ald Bürgihaft
objectiver Thätigfeit nicht mehr, oder immer weniger gebunden find an das
äußerlich niedergelegte Schema des Gefeges, fondern wo fie mit der fittlichen
und wifjenfchaftlihen Durchbildung des Geiftes in der Befugniß zur freieften
Anwendung des Geſetzes die fachbeherrjchende Objectivität zu bewahren wiſſen.
„Aörol yag elcı vouoı“, jagt Ariftoteled von den Negenten auf der voll.
fommenften Stufe der Stantdentwidelung.
Machtrag.) Während ich alle anderen Reichstagsvorgänge ſeit der
eriten Leſung der Juftizgefege auf den nächften Brief verfchiebe, glaube ich
den Leſern bdiefer Berichte heute mindeftend noch eine Befprehung der
Sigungen vom 4. und 5. Dezember ſchuldig zu fein. |
Die Sitzung am 4. Dezember eröffnete mit der Berlefung von vier
Schreiben ded Reichskanzlers. Das letzte davon benachrichtigte den Reichs—
tag, daß die bei den Ausgaben des auswärtigen Amtes geftellte Forderung
der Befoldung eines Reichsgeſandten beim päpftlicden Stuhl zurüdgezogen
werde. Die Mittheilung diefed Schreibens rief im Reichstag bereitd eine
große Bewegung hervor. Seitdem der Papft die Betrauung eine? Gardinald
mit dem Poſten eined Neichdgefandten beim päpftlichen Stuhl nicht zugelaffen,
iſt dieſer Poſten vakant. Die Aufnahme der Beſoldung deäfelben unter die
Reichsausgaben war alfo eine bloße Formalität, indem bei der Rechnungs
legung die Poſition als nicht verausgabt in Einnahme gefegt wurde,
Immerhin Hatte diefe Formalität die Bedeutung, daß die Reichsregierung
jeden Augenblid in der Lage war, einen ordentlichen Gefandten beim päpft-
lichen Stuhl zu beglaubigen, und daß das Fehlen eines Gefandten bei diefem
Stuhl ala eine Zufälligfeit erfchien. Um die Bedeutung der zurüdgezogenen
Befoldungsforderung zu ermeffen, muß man fi vergegenwärtigen, daß vor
Kurzem die „Neue freie Preſſe“ in Wien die Mittheilung brachte, das deutjche
Neich habe auf irgend melden Wegen im Batifan den Wunfh und die
Bereitwilligkeit zur Ausgleihung der obwaltenden Streitigkeiten Fund gethan.
Es hat keine geringe Wahrfcheinlichkett, daß das Erfcheinen diefer Nachricht
in diefem Blatt,“ das zwar nicht römifch ift, aber zu diplomatifchen Manövern
436
vielfach geeignet befunden wird, ein römtfcher Fühler war. Das Dementi,
welches die Reichsregierung fogleich entgegen ſetzen ließ, konnte man als bie
Abweiſung diefer Friedendofferte deuten. Nicht etwa, ald ob das deutjche
Reich um jeden Preis Eriegerifch gegen Rom aufzutreten gedächte, aber die
Staatäleitung desfelben weiß, dag Nom fehr ſchwer und auf feinen Fall ſchon
jest auf annehmbare Bedingungen zum Frieden bereit ift. Unter diefen Um—
ftänden war die Zurücziehung der Befoldung, mit andern Worten, die Auf
hebung der Stelle eines deutjchen Gefandten beim römijchen Stuhl, eine zweite
und noch weit nahhdrüdlichere Abmeifung ded von Rom in feltfamer Form,
aber immerhin mit Wahrfcheinlichfeit geäußerten Friedenswunſches. Sei e8
nun, daß von dem Schreiben ded Reichskanzlers bezüglich der römifhen Ge
fandtfhaft ſchon etwas verlautet hatte, fei ed, daß im Geiſte des befannten
Gentrumdmitglieded, ded Herrn Jörg, der Plan zu einem Angriff ſogleich bei
der Verleſung des Schreiben® entjprang, genug der genannte Abgeordnete
wandte fich gelegentlich der Ausgaben für den Bundedrath und feine Aus.
fhüfle, infonderheit der Ausgaben für den auswärtigen Ausſchuß, mit über
legter Perfidie gegen die auswärtige Politik des Reichskanzlers, um denfelben
dem Ausland ald Störer ded europäifchen Friedend zu denunciren, dem In—
land ala denjenigen, der Deutfchland in völlige Abhängigkeit von Rußland
gebracht Habe. Man konnte diefen Infinuationen fehr viel Aerger und
Böswilligkeit, aber daneben freilich auch die Berlegenheit anfehen, melde zu
den abgefhmadteiten Mitteln greift. Alle, die der Sitzung beimohnten,
fonnten dem Reichskanzler anmerfen, daß er antworten werde, und er that
es. Nachdem er mit bemwundernämerther Ruhe und fachlicher Herrfchaft den
Verfuch widerlegt, die Zurückweiſung franzöfifcher Beleidigungen in amtlichen
Dokumenten und die Bemühung, In Spanien einer Regierung die europäifche
Anerkennung zu verfchaffen, welche in den internationalen Verkehr wenigſtens
nicht den Mord einführt, zu Interventionen zu ftempeln, fprach er über das
Berhältnig des Mörderd Kullmann zur Gentrumspartei. Herrn Jörg gebührt
das Verdienft, diefen Mörder auf die Tribüne des Reichstags gezogen zu
haben. Was der Kanzler in Folge diefer unerhörten Herausforderung feiner
Perſon ausſprach, waren nur nadte Thatfahen. Man kann wohl das Opfer
eined Mordverfuches nicht ftärfer reizen, und nur aus der Abficht zu reizen
und die Perſon auf das Tieffte zu verlegen, ift es wohl zu erklären, wenn
Jemand das Verbrechen in Gegenwart des Opfers ald eine Kleinigkeit dar
ftelt. Der Fürft antwortete nur, indem er die Aeußerungen aus Kullmann’d
eigenem Mund anführte, wie derjelbe fein Verhältniß zur Centrumsfraktion
angefehen. Als der Fürſt geendet, entwickelte fi eine Scene, deren Be
ſchreibung die Leſer fchon vielfah vor Augen gehabt haben, wenn ihnen
diefer Bericht vor Augen kommt. Gerade bei dem, was man unbefchreiblid
437
nennt, iſt vielleicht die Wiederholung der Befchreibung erklärlich. Ich will
mih aber nur auf einige allgemeine Züge befchränfen. Man meiß, daß in
einer MWeife, wie es deutiche Parlamente wohl noch nicht erlebt haben, das
Gentrum und der übrige Theil des Reichstags minutenlang gegeneinander
tobten. War es das Toben des Centrums, welches die nationalen Reihen
mit Mrem Beifall erftiten wollten, oder wollte das Centrum mit feinen Mif-
lauten den Beifall erſticken?
Ich hatte den Eindruf, daß der Beifall eine gewaltige fpontane Ber
wegung war, hervorgerufen durch einen der feltenen Momente, wo die geiftige
Größe eined Mannes in unmittelbarer Gegenwart für die augenblickliche
Wahrnehmung erfcheint. Der Lärm der Ultramontanen entiprang weniger
dem Bedürfniß ihre Gegner zu übertäuben, ala dem impontrenden Einfluß
des gehaßteiten Feinde auf ihr eigenes Gefühl! Das blutige Epigramm,
welches nach dem bezeichnenden Ausdruck der „National-Ztg.*, der Kanzler
auf die Schultern eines der roheiten unter den Närmern heftete, wird unver:
geblich bleiben. In dem Augenblid, als es gefprohen wurde, hatte die er»
regte Empfänglichfeit den Höhepunkt ſchon verlaffen, Die Debatte lenkte
bereit8 in den Streit mit Argumenten ein, der einer deutfchen Verſammlung
fo natürli ift. Auch der Reichskanzler, ald er zum zmeiten Mal gegen
Windthorſt's dialektifche Künfte das Wort nahm, bewegte fi in dem Geleis
der Argumente, ald Lasker in dem unfered Erachtens fehr berechtigten Gefühl
der unerhörten Schmach, welche die Rede des Jörg der deutfchen Nation
angethan, die Aeußerungen desſelben ald Verbrechen bezeichnete. Der Präfi-
dent mußte Lasker zur Ordnung rufen. Uber die Mehrheit des Reichstags
gab dem Redner Recht, wie nur je. Vergebens fuchte Windthorft die Ver—
urtheilung Jörg's dur dad grobe Sophisma zu entfräften, das Abrathen
vom Kriege könne patriotifch fein, wie Thiers' Abrathen 1870 patriotifch
gewefen. In diefem Augenblick gefchärfter Wahrnehmung am menigiten
fonnte der Rabulift auch nur ein einziges Mitglied darüber täufchen, daß es
zweierlei ift, gegen den Krieg fprechen, wenn er In Frage ift, und das eigene
Rand des Krieges verdächtigen, das im vollen Ernft den Frieden ſucht.
Dies die großen Züge der denfwürdigen Sigung.
ALS Fürft Bigmard dem Centrum zurief; „der Verbrecher heftet fh an
Ihre Rockſchöße“; da leuchtete ed wie ein Blitz durch den Saal, der die Schrift
erhellt: das Verbrehen heftet fihb an Euer Thun. Wie maßlos
elend find die Waffen, mit denen diefe Fraktion kämpft, in der fo viele an
ich achtbare Männer ftreiten! Nehmen wir an, ed wäre wahr, daß ben
Katholiken Unrecht gefchähe von der deutjchen Neichäregierung, einer der
erfolgreichten Regierungen, die ed gegeben. Wäre da nicht die fittlihfte
Waffe die wirkfamfte, mit ftilem Ernſt binzumeifen auf den dunklen Fleden
438
auf dem glänzenden Schild ruhmreicher Thaten! Uber dieſes Begeifern,
Käftern, Verhetzen der Größe einer Nation, deren Geſchicke man zu” berathen
in Anfprud nimmt, das ift eine Waffe, die nur für eine ſchlechte Sache ger
führt werden fann. Der Weg der Ultramontanen führt zum Waterland
verrath in der fchwärzeiten Geftalt, und wenn fie zu diefem Ziel gelangt find,
von welchem fie den Sieg ihrer Sache erhoffen mögen, dann wird eö#mit
derjelben für immer in Deutfchland vorbei fein.
Die Beleuhtung, in welcher der Ultramontanismus am 4. Dezember
erichien, war fein vergängliches Licht. Die Mittheilungen ded Kanzlerd am
5. Dezember haben es ſogleich aufs neue firirt. Dennoch fteht es außer
Zweifel, wad fo lange gemuthmaßt, aber nie beftätigt worden, daß bei der
franzöfifchen Kriegserflärung von 1870 ultramontane Einflüffe den Ausſchlag
gegeben, daß man dad Goncil abfürzte, um es wieder zufammentreten zu laſſen
unter der Aegide des unmiderftehlichen Schtedsrichteramtes in Europa, welches
die Befiegung Deutſchlands dem franzöfifchen Kaifer verliehen. Nach dem
Borgang der „Germania“ wollte Herr Auguft Reichenfperger die ultramontane
Tendenz der napoleonifchen Politik in Zweifel ziehen. Es ift wahr, auf
diefer Katfer Eonnte dem Papſtthum ſich nicht bloß unterwerfen, aber er
wollte ed zum Stützpunkt feiner geficherten Herrfchaft machen, und mußte
ihm daher das Meifte, wenn ſchon nicht Alles, gewähren, was es von ihm
fordern wollte.
Die direkte Yeußerung aus dem Munde eines hochbetrauten Dienerd der
Curie, daß diefelbe nöthigenfall® durch die Revolution zum Ziel kommen
werde, hat bei ihrer beglaubigten Mittheilung ein gewaltiges Auffehen erregt.
Auch fie firiet das Licht, in welches der deutfche Ultramontanismus, der ja
nichts fein will ald Roms Werkzeug, fih am 4. Dezember geftellt hat.
Cr.
Weihnachtsbücherſchau.
Unter den Weihnachtsbüchern für „Große“ nennen wir heute an erſter
Stelle die Erzählungen von L. Budde, frei nach dem Däniſchen von
Walter Reinmar. (Leipzig, Ir. Wilh. Grunow, 1875.) — Es wird
uns verſichert, daß der Verfaſſer des Originals wie der Ueberſetzung, Beide,
dem ſtarken Geſchlecht angehören, ſonſt würden wir geneigt ſein, ſie zu dem
Geſchlecht der beſten Blauſtrümpfe zu zählen, die es je gegeben hat. Denn
der Verfaſſer beſitzt ein Talent für feine weiche Beobachtung der menſchlichen
und fog. todten Natur, wie wir es in Deutſchland nur bei den hervor
ragendften Schriftftelleri nnen gemwahren. Der Ueberfeger feinerfeits ift nad
439
derfelben Richtung Hin fprahlih und ftiltftiich ganz beſonders beanlagt.
Uber diefe Bemerkung fol keineswegs etwa den Werth des Driginald oder
diefer deutfhen Ausgabe dedfelben herabfegen. Der Deutfche, der in dänifcher
Literatur zu Haufe ift, wird es oft eigenthümlich empfunden haben, daß der
Däne eine MWeichheit und Bewegung ded Gefühld, der Naturfchilderung, der
Sharakteriftif für die Iandesüblichen Bedürfniffe vorräthig hält, die mir bei
unfern männlichen Schriftftellern höchit felten antreffen und im Allgemeinen
nicht für abfolut nothwendig anfehen, dagegen fehr anerfennendwerth finden,
wenn fie aus Frauenfedern entfloffen find. Es ift das ein Beitrag zu dem
merkwürdigen Problem, daß die Völker, die im raubeften Kampfe mit der
Natur ihre Dafein friften müffen, Gebirgäbewohner und Inſelſtämme u. f. w.,
den innigften, weichſten Regungen des Herzen, der feinften Beobachtung befon-
ders zugänglich find und ihr geiftiges Reben darin beſonders zu bethätigen lieben.
Für und Norddeutfche, die wir in dem Kampfe um unfere Exiſtenz auch
keineswegs auf Rofen von Schira® gebettet find, hat die dänische und ffan-
dinavifche Moefte, folange fie und erfchloffen ift, immer befondere Anziehung?
fraft geübt, und auch diefe Erzählungen von 8. Budde verdienen unfer vollites
Intereffe. Denn auch im Humor, in der freien germanifhen Würdigung der
Individualität, de Menfchen im Menſchen, gleichviel welchem Stande der
Einzelne angehört, in dem ſchönen Bemwußtfein der Pflicht, die Jeder an
feinem Theile gegen Andre und die große menfhlihe Geſellſchaft zu üben
bat, in der er lebt, find diefe Erzählungen, troß ihrer nördlicheren feeländifchen
Herfunft doch ein treued Spiegelbild unferer Volksſeele. Sa, in ihnen allen
ift die UAnerziehung oder der Durchbruch dieſes Bemwußtfeind der Kern der
„Moral“, der Entwidelung und Vermwidelung der Heinen Handlung, melde das
finnige Gemüth des Verfafferd und abipinnt. Wir find überzeugt, niemand wird
diefe freundlichen herzlichen Gefchichten ohne tiefen bleibenden Eindrud Iefen.
Für den Weihnahtsabend eignen fie ſich ganz befonders, da einige der beften
von ihnen die Weihnacht zur Peripetie ihrer Handlung auderforen haben.
Bon den Prachtwerken, melde diefed Jahr fih zur Beſcheerung
befonderd empfehlen, ſei in erfter inte der beiden fchönen Erzeugnifie des
Verlags von Alphons Dürr gedacht: „Die [hönften deutſchen Volke:
lieder, gefammelt und herauägegeben von Georg Scherer, mit trefflichen
Holzſchnitten nah Zeichnungen von Piloty, Namberg, Ludw. Richter,
M. v. Schwind, Thumann u. W., einer illuſtrirten Prachtausgabe, die jedem
deutfchen Haufe zur Zierde gereicht, Jung und Alt eine Quelle wahrer,
lauterer Freude werden wird; und dann jene edle Ausgabe von Cornelius
Koggienbildern, facfimilirt gejtochen nad) den eigenhändigen Entwürfen
ded Meifterd zu den bekannten Fresken in der Münchner Pinakothek. Hier
an diefer Stelle fol auf dad hochbedeutſame Werk nur verwiefen werden, um
440
auf dadfelbe fpäter eingehender zurüdzufommen. Bid zum Tode König
von Batern lagen die Zeichnungen des Meiſters, nach denen die hier.
den Stiche durchgepauit find, der Melt verichlofen, in königlichem Prib
Langjährigen Eunitfinnigen Bemühungen -ift diefe Ausgabe zu danfen, %
Münchner Ernft Föriter den erflärenden Tert, Prof. Große die fchön g
Zeichnung des Umfchlagd dankt, und in Verbindung 'mit den gen
Entwürfen von Cornelius felbjt eine der großartigiten Darftellung
Kunſtgeſchichte bietet, die denkbar find. —
Die Deutſche Kunſtgenoſſenſchaft in einer ihrer würdigiten Vertretu
in der Bereinigung des Düffeldorfer „Malkaſten“, buldigt auch ſchon
Sahren der löblihen Gewohnheit, ſich zum böchſten Jahresfeſte in 1
„Künjtler-Album“ um die Weihnachtägunft des Publikums zu bemei
Und mit Recht iſt dieſes Jahrbuch deutſchen Kunſtſtrebens und deuf
dorf, Verlag von Breidenbach & Comp. verdient dieß im voll
Maße zu fein. Herausgegeben iſt er von Ernft Scherenberg, dem U
tigen, tapfren Dichter, deſſen ———— Lieder ſoeben in ſtattlich
Ausgabe bei Ernſt Keil in Leipzig erſchienen find, und ebenſowohl di
die Reinheit und Tiefe ihrer Lyrik wie dur die Macht und Klarheit ih
vaterländiſchen Pathos weit über die Maflenproduction unfrer Tage her
ragen. Ernſt Scherenberg übt fein Amt als Herausgeber des KHünfk
Albums in diefem Bande durch pietätvolle Verje zum Gedächtniß an W
gang Müller von Königswinter, der befanntlih von 1851 —53 und X
1860— 67 dad deutſche KHünjtler- Album herausgegeben. Demjelben es
rheinifhen Dichter ift auch das erfte Blatt de deutſchen „Urabestenfönf
Casp. Scheuren geweiht. Und wie in den Gedichten die vornehmiten Si
des deutſchen Parnaſſes ſich vereinigen, fo auch in den Bildern! Jeder
ſtolz fein, diefes Werk fein eigen zu nennen.
Last not least erbitten wir die ganz befondere Aufmerkſamkeit unft
Refer für das im rer von E. Köhler in Darmitadt erfcienene Aqua
Prachtwerk von Ludwig Robod „dad Berner Dberland*, Text
Eduard Dfenbrüggen. Wer hat nicht, inmitten der in ihren Forr
und Maflen, in der Abwechslung von Gebirg, Stromfall, Thal und
einzigen Naturfchöne ded Berner Dberlanded den Schmerz empfunden, wie
ſcheiden zu müfjen aus diefer reichen Gebirgamelt? Wem iſt nicht, wenn:
von Thun oder von der Brünigftraße aus zuerjt diefer Wundermelt des Berk
Hoclanded entgegeneilte oder von diejen Stellen aus zum legten Male %
diefelbe zurücblicdte der ftile Wunfch aufgeitiegen: ach, könnte man doch m
eine einzige diefer Herrlichkeiten mit nah Haufe nehmen! Die „Souvenik
an das Oberland, die in Interlaken, Bern, Luzern 2c. in gefchnigten Rahm
in einer Art von Delfarbenanftrich oder bunten Lithographien zu faufen fi
beleidigen mehr unfer Auge und unfre heilige Erinnerung an die Reize t
Dberlandes, ald daß fie daheim ung erfreuen fönnten. Und ähnlich verh
es fi) wegen des Mangels aller Farbe, wegen der Unmöglichkeit, den
der Hochlandsferne wiederzugeben, mit den Photographien und Stereojfg
vom Berner Dberlande. In dem vorliegenden Prachtwerke aber bat fich ei
der bervorragendften Randfchafter verbunden mit dem zur Zeit wohl um
ftritten bedeutenditen Schilderer der Schweizer Volks- und Gebirgdnatur, Pi
Dienbrüggen, um und ein Werk zu jchaften, das eine der fchönften Gegen
der Erde in Bild und Wort in muftergültiger Weiſe und vorführt.
— — — — —
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Hand Blum in Leipzig.
Verlag von F. 2, Herbig in Leipzig. — Druck von Hüthel & Legler in Leipzig.
*
XXX. Jahrgang.
— — —
BeitTästft
für
Politik, Siteratur und Kunfl.
N 51.
Ausgegeben am 18. December 1874.
Inhalt:
Breußiſche Geihichten. Wilhelm Maurenbreder. . 441
Die General-Direction der Sächſ. Staatöeifenbahnen, das Reicher
—— und das Publikum. Mar Kren *
Eine neue Ausgabe von Jeremias Gotthelf. B. . 55 WM
Bom deutſchen Reihstag.e C—r. . » » 2 > 20. EA
ZEARRERTERETDEN: nn nee 476
Ein Brief Friedrich Fiſchbach's an die Redaction. . . . 480
Srenzbotenumſchlag: Literariſche —
Hierzu zwei literariſche Beilagen. E. Kofhny in Leipzig. Meyer’ ſche
Hofbuhhandlung in Detmold.
—
Leipzig, 1874.
Friedrich Ludwig Herbig.
(Ir. Wilh. Grunow.)
Grenuzboten.
ec 2
tbei allen Duchhandlungen und Pofämtern bes ud und Auslandes.
Die soeben erschienene No, 50 der Jenaer
Litersaturzeitung, im Auftrage der Universität
Jena herausgegeben von Anton Klette, Jena,
Mauke’s Verlag (Hermann Dufft)
enthält Besprechungen von:
IE
In Ferd. Dümmmler’8 Verlagebuchhandlun
(Harrwiß und Goßmann) in Berlin :
Magazin für die Literatur des Auslande
J. Köstlin, Martin Luther: von H. Holtzmann. | Begründet vor Jofepb Lehmann. 43, Yabı
H. Weingarten, Zeittafeln zur Kirchenge-
schichte: von F. Nippold. H, Thiele, die Va-
terlandsliebe der Christen: von R. Ehlers.
J. Chr. K. v. Hofmann, die Offenbarung Jo-
hannis, — J. Wiesinger, d. Gährungsprocess
unserer Zeit: von W. Grimm, F. v. Holtzen-
dorff, Rechtslexicon: von Th. Muther. O. Wal-
eker, d. russ. Agrarfrage: v. A. v. Miaskowski,
F. Merkel, Untersuchungen aus dem anato-
mischen Institut zu Rostock: von G. Schwalbe.
R. Sturm, darstellende Geometrie: v. F. Linde-
mann. A. v. Lasaulx, das Erdbeben von Her-
zogenrath : von E. Schmid. F. Sauter, diplo-
matisches ABC: von W, Schum. W. Arndt,
Schrifttafeln: von W. Schum. PB. Capasso,
historia diplomatica regni Siciliae inde ab anno
1250—1266: von W. Bernhardi. M. Ritter,
die Union und Heinrich IV.: v. @. Droysen.
C. Otto, Johannes Cochleaus: v. C. Bursian,
Rivista di filologia: von L. Jeep. Aeneae T.
poliorceticus, ed. A. Hug: von F.K. Hertlein,
A. Rosenberg, die Erinyen: von K. Dilthey.
Jean de Flagy, girbers de Metz, herausgegeben
von E. Stengel: von H. Suchier.”
‚Das December- Heft der „Deutſchen
Blätter‘, begründet von Dr. G. Füllner,
herausgegeben von Dr. €. F. Wineken,
Berlag von Friedr. Andr. Perthes in Gotha,
bringt folgende Aufjäge:
Zum Reichsvereinsgefeß. Yon einem Volkswirth.
Die Statiftit der fittlihen Thatjachen und die
fittlihen Wiffenfhaften. Bon Schmidt. Patrio-
tismus und Wiffenfchaftlichkeit. Don einem Pa-
‚trioten. Gewerbe und Gemerbegefepgebung in
Deutihland von der Reformationszeit bis zur
Gonftituirung des Norddeutfchen Bundes. Von
Marpe. Die fociale Frage feine firhliche Frage.
Bon einem GChiliaften. Die firchenpolitifche Lage
und die religiöfen Richtungen in der reformirten
Kirche des Gantons Bern. Bon Hugendubel.
Aus. der Neuchäteller Kirche. Schreiben an den
Herausgeber.
!Zur Geſchichte Frankreichs!
Soeben eifhienen er Buchbandlungen zu
3. 3. Honegger, Prof. in Zürig. Kritifhe Ge
ſchichte der franzöfifhen Gultureinflüffe in den
legten Jahrhunderten.
Inbalt. Geift und * der Geſchichte. — Auf⸗
Beinen der franzöfiihen Macht bis auf Ludwig XIV. herab,
ie ſranzöſiſche Weltmahtftelung auf ihrer Höhe:
XIV. — bis zur Scheide der Jahrhunderte. —
er Verfall des Staates, Herrihoft der revolutio,
iteratur, — ntreich felt der Revolution. XIV. u.
400 Seiten. gr. 8. Preis 21, Thlr. = 7 M. 50 Pi.
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Karl Hintbrond, —— und die Franzoſen in der 2.
Hälfte des XIX. Jahrh. Eindrücke und Erfahrungen. 2.
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* 8. Thir. — OB u r
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Das „Magazin“ ift Durch jede Poftanftalt un
Buchhandlung, auch von der Verlagsbuchhandlun—
zu beziehen. Eine Probenummer Tiefert jede But
handlung unentgeltlich.
No. 49 des „Magazin“ entbält folgent:
Deutihland und Das Musland. Biber vn:
Sozialdemofraten. 713. — Gefchichte der Stat
Köln. 714. — Deſterreich- Ingarn. Bereini
leben bei den Siebenbürger Sächfen. 715. —
Belgien. Der Krieg von 1866, ein Wat Bi:
mare. (Nach der Revue de Belgique.) 717. -
Frankreich. Friedensliguen und Völtertribunel
120. — Der neuefte Roman Daudets. 721. -
Indien. Bericht über indifche und en liſche Br:
hältniffe._Bom Abgeordneten Dr. wi
121. — Orient. Gichmunazars Grab 122.
— Rleine literarifhe Rebue. Am Er.
723. — Maurice Block, Statistique de la Franc,
ouvrage couronne€ par l’Institut. 724. — Sum
Ward Beechers ausgewählte Predigten. 724. -
Geſchichtsſtudien in Amerika. 724. — The Inter-
national Gazette. 724. — (Eduard VL gegen
die Suprematie des Papſtes. 724. — Häuslıcr
Krankenpflege. 725. — Spredfaal. Franttei
und die Karliften. 725. — Frit van de Kerfber:
726. — Ecole libre des sciences politique, 72%
— Brief aus den ruffifchen Oſtſee⸗Provingen. 72
a ee
No. 50 des „Magazin“ enthält folg ie!
gende Artite!
Deutſchlaud und Das Ausland. Kortitrir
der Menfchheit. 729. — Meue Titerarifge Orr
nungen und Weihnachtsgaben. I. Varnhagen un)
Nabel, Dtto Lange, Mylius, Erneftine, Ribarı
rg Prediger Bachmann, Bruno Buse
* er 3. Leffing. 731. — Epanier.
3. . Klein, Gefchichte des fpanifchen Dramas. |.
133. — alien. Gabrio und Camilla. Au
geihihtliher Roman von Guilio Garcano, 7}!
_ Frankreich. Die Kriſis in der reformirten
Kirche in Franfreih. 736.
a Shatefpeares. 736. — > en. *
bib. 737. — Bericht über indifche und ena
Berbältniffe.
Bom Ab eordneten Dr. Ebertu. \
——— — S$tleine literariſche Repur.
—* — i ei fsfehriften zum Weihnahtätis
KL Di neinder = Sefchichten von Laboulır
enen Sefhigten nn iihte Indiens, von feinen «
Bradet. Tan. ROSEN Erählt, Ta
741. — Les Grammalriens fran
Büpeferromane, 742 vet. —
Alter 3er
&d A — Ylber! vr
agogifche Schriften. 742.
. —
moine. 742,
iR
Vreußiſche Geſchichten.
Nicht ganz ungegründet iſt der Vorwurf, den manche Freunde der Ge
ſchichtswiſſenſchaft ihren Jüngern machen, daß gegenwärtig keine irgendwie
genügende Darſtellung deutſcher Geſchichte vorhanden iſt. Die alte fable
convenue, die man für die Geſchichte des deutſchen Volkes ausgegeben hat,
it an den meiften Stellen erſchüttert. Die neuere Eritifche Forſchung iſt in
voller Thätigkeit, an ihrer Stelle ein neues Gebäude aufzuführen; — diefe
Thätigkeit ift aber noch nicht vollendet; und fo entjchließt fich ein wiſſenſchaft⸗
licher Hiftorifer einftweilen nicht leicht, eine zufammenhängende und alles um-«
fafiende Darftellung zu geben. Es bleibt heute anderen Händen überlaffen,
Grundriffe und kurze Handbücher zu verfaffen. Jedenfalls was von größeren
und audführlicheren Werfen über deutfhe Geſammtgeſchichte in letter Zeit
audgeboten worden, wird nicht wirklich empfohlen werden dürfen.
Anders fteht e8 mit der Preußiſchen Geſchichte. Nicht ald ob man fagen
könnte, wir befigen eine allen wifjenfchaftlichen Anforderungen entfprechende
Geſammtgeſchichte des preußifchen Staates; — aber hervorragende Hiftortfer
haben fih an diefe Arbeit gemacht und es liegen Werfe über preußifche Ge-
{biete vor, an die man den Maaßſtab wiſſenſchaftlicher Eritifcher Geſchicht—
ſchreibung anlegen darf. Wir erinnern kurz an die älteren Verſuche, um dann
die neueren Bearbeitungen genauer zu charafterifiren.
Die Gefchichte des preußifchen Staates wächſt heraus aus der Gefchichte
des brandenburgifhen Kurfürſtenthumes. Um die Wende des 16. auf das
17. Jahrhundert trat die höher hinaufftrebende Tendenz der Brandenburger
zu Tage, da begann die brandenburgifche Kandeögefchichte einen anderen.
Charakter anzunehmen ald die der anderen deutfchen Randesfürftenthümer,
In diefer Zeit und aus diefen Verhältniffen der Fühner emporfommenden
brandenburgifchen Politif heraus fchrieb der erfte brandenburgifche Hiftorifer
Reutinger feine Werfe über die Gefchichte der heimijchen Rande,
Sm 17. Jahrhundert hat fodann der große Kurfürft aus dem von feinen
Borfahren gewonnenen Materiale den neuen brandenburgifch » preußifchen
Staat gebildet. Während feiner Regierung entwidelte ſich das eigenthümliche
Gepräge des neuen deutfchen Zukunftsreiches. Damald griffen Viele zur
Grenzboten IV. 1874, 56
442 .
Feder, dies neue Staatsweſen zu ſchildern, Lockelius, Rentſch umb in
den nächſten Nachmirkungen diefer Regierung unter feinen beiden Nachfolgern
Bundling, Zwantzig, Abel und Myliusd. Den großen Kurfürften
hatte Leti, einer der italienifchen Vielfchreiber, fi neben feinen anderen
zahlreihen Geſchichtsbüchern zum Gegenftand einer lebhaften und amüfanten
Schilderung gemacht; und der Kurfürſt felbft Hatte einen der erften europäi—
ſchen Gelehrten Bufendorf berbeigerufen, Herold feiner Thaten zu werden.
Das kurfürſtliche Staatsarchiv ftand Pufendorf offen; er benugte mit großem
Geſchick und mit politiihem Verſtändniß die geheimften Papiere der Regie
rung, — ein merfwürdiged Beifpiel von richtiger Erfenntniß der Bedeutung
und des Nutzens archivalifcher Forfhung, mit dem unfer Vaterland damals
Andern die Wege gemiefen !
Unter unfern preußifchen Hiftorifern ift mit befonderem Nahdrud unfer
größter König und Staatdmann zu nennen, König Friedrich der Große.
Gr bat befanntlicy nicht allein die Gefchichte ſeines Lebens und feiner Regie
rung verfaßt, fondern auch eine Skizze der vorhergehenden Geſchichte des
Landes und ded Fürftenhaufes geliefert, ein Kleines aber bedeutendes Buch,
voll der genialften hiftorifhen Blicke, gefättigt und getränft von dem hiſto—
rifch-politifchen Urtheil eines der gewaltigften und originalften politifchen
Genied. Der König, der wie feiner die Leiftungen und Fähigkeiten und Auf
gaben feines Volkes zu ermeſſen und zu leiten verftand, Eritifirte in ſcharf
pointirten Säten Thun und Laſſen, Tugenden und Fehler feiner Vorgänger:
beim Studium ypreußifcher Gefchichte wird man heute noch diefe Urtheile zu
erwägen und zu berüdfichtigen haben.
MWährend der Negierung dieſes Königd murde das Königreich Preußen
europäifche Großmacht; es lohnte fich immer mehr feiner Gefchichte nachzu—
gehen. Der Hallenfer Profeſſor Bauli hat damals ein umfangreiches Werk
aus gewiſſenhaften Studien verfaßt; von Band zu Band wächſt mit dem Auf:
ſchwung der großen Ereigniffe und Thaten des fiebenjährigen Krieges Kraft
und Muth des preußifchen Hiftoriferd: wir können heute immer noch die act
Quartanten von Pauli nicht entbehren. Um Pauli gruppiren fich, ihn ergän-
zend und ausführend, die Arbeiten und Studien von Buchholz, Gallus,
Thile, Wöhner, Fifhbah, Hering, Baezko u. A.: eine Anzahl von
Monographien ift damald entftanden, ohne deren Hülfe auch heute nod
Niemandem — leider! — gerathen werden könnte, preußifche Gefchichte zu
treiben !
Am Ausgang des vorigen und Eingang diefed Jahrhunderts hat fich der
Beifter in ganz Europa eine neue politifche Tendenz und Auffaffung bemäch—
tigt: wie fie das öffentliche Leben in allen Gulturländern zu beherrfhen und
allmälig umzuwandeln fich beftrebte, jo drang fie auch in die politifchen und
443
hiſtoriſchen Wilfenfhaften ein. Auf dem Gebiete, das wir betrachten, ent-
fand daraus die fehr interefjante hiftorifch- politifche Kritik, welche der Fran-
zoſe Mirabeau, einer der Führer der neuen Tendenzen, über den preußifchen
Staat gefchrieben : anregende und fruchtbare Discuffionen rief dergleichen na-
türlich hervor.
Seitdem konnte man nicht wohl mehr bei der hergebrachten Negenten-
und Volksgeſchichte fih begnügen; man empfand das Verlangen die maf-
gebenden politifchen Faktoren der preußifchen Gefchichte zu begreifen; und
eine von politifchem Geifte eingegebene Gefchichte des preußifchen Staates war
und blieb nun ein Thema, das vgr, während und nad den Freiheitäfriegen
manche Geifter reizen mußte. Diefer preußiiche Staat, der damald Deutfchland
aus fremden Joche errettet, dem die Deutjchgefinnten ihre Blicke immer
intenfiver zumandten, war eine Erſcheinung, mit der die neue politische
Doctrin ſich in irgend einer Weife abfinden mußte: in manchen Stüden fah
fie in ihm verwandtes, andererfeitd aber auch manches, was fie abftoßen und
zurüdichreden mußte, — von den verfchiedenen Seiten, die der Betrachtung
ih boten, galt es feine Gefchichte zu verftehen oder zu ftudiren. Das natio—
nale und patriotifhe Gefühl fteigerte das Intereffe an der Aufgabe; — und
doch iſt troß vieler Anläufe diefe Aufgabe damals nicht gelöft worden.
Wir willen, daß Friedrich's II. Minifter Herzberg ſich mit der Abſicht
einer Gefchichte getragen. Es ift befannt, daß der gefetertfte Hiftorifer feiner
Zeit, Johannes von Müller ein großes Werk diefer Art zu fehreiben,
nad Berlin berufen war: aus feiner nachmals gehaltenen Rede über Friedrich II.
ſchöpfen wir dad Gefühl dankbarer Befriedigung darüber, daß er nicht damit
zu Stande gefommen. Dagegen bedauern wir es auf dad Lebhafteſte, daß
der Schöpfer unferer kritiſchen Geſchichtsforſchung, B. ©. Niebuhr feinen
Gedanken einer Preußiſchen Gefchichte nicht ausgeführt hat: er wäre der Mann
für diefe Sache gemefen! Der Anftoß, den er ernften und eindringenden
Studien gegeben, wirkte natürlih auch auf diefem Felde förderlich meiter;
fritifhe und grundlegende Forfchungen wurden unternommen: man braudt
nur an die Namen von W. von Raumer, Klöden, Rancizolle,
Riedel u. A. zu erinnern, um die Bedeutung und die Refultate vieler mono»
graphijcher Unterfuchungen und vieler archivalifcher Forfehungen hervorzuheben.
Daneben Hatten auch in Berlin die Profefforen Rühs, Stuhr, Siegfried
Hirſch, in Königsberg Schubert die Abficht, preußifche Geſammtgeſchichten
zu ſchreiben; von allen aber find nur Fragmente fertig geworden fehr ver-
Ihiedenen Werthed. In den Jahrzehnten nach den Freiheitskriegen ift
manches ernftlich gemeinte Buch über einzelne Abfchnitte preußifcher Gefchtchte
zu Stande gefommen; es ift durch emergifchen Sammlerfleig für die ältere
Zeit das urkundliche Material zufammengetragen,; e8 find auch einzelne
441
Bartien fhon mit Hiftorifch-politifchem Geifte behandelt. Wir geben bier fein
Verzeichniß folder Monographien.
Nur zwei merkwürdige Erjcheinungen jener Tage mag es geftattet fein,
furz zu berühren. Der feudale Publieiſt Adam Müller untermwarf den
modernen Charakter, den ſchon Friedrich II. der preußifchen Staatsgeſchichte
aufgeprägt, einer fcharfen Kritik, während Manſo, der liberal gefinnte
Hiftoriker fi vorgenommen, nad) der Kataftrophe von 1807 den Niedergang
des preußifchen Staate® durch hiftorifche Darlegung zu erflären. Die befte
Kritik ded Buches von Manfo haben die Ereignifje geliefert: das Jahr 1813
ftrafte den Hiftorifer Kügen, der 1807 ald den nothmwendigen Ausgang feiner
Geſchichte in Ausficht genommen; und fo ftehen hier Anfang und Ende des
Geſchichtswerkes in feltfamem Widerfpruche zu einander. Nur wer In die
Endztele unferer Geſchichtsentwickelung ein unerjchütterliche® Vertrauen ge
mwonnen, war im Stande für eine preußiiche Gefammtgefchichte die richtige
Tonart zu wählen. i
Unvollendet geblieben find die Werke von Rancizolle’3 (1828) und
Helmwing’3 (1833), beide Kinder ernften und eindringenden kritiſchen
Studiums, beide etwas ſchwerfällig gearbeitet, für größere Kreife nicht an
ziehbend, aber dem wiſſenſchaftlichen Studium preußifcher Geſchichte lohnend
und gewinnreih. Helwing hat dabei auch die inneren Verhältniſſe ernfthaft
genommen, die fo leicht der Tummelplag oberflächlicher Behauptungen und
tendenztöfer Phraſen zu fein pflegen. Mit Unrecht find die genannten beiden
Bücher durch das Werk von Stenzel in den Hintergrund gedrängt worden.
Wie das große Unternehmen ded Buchhändlers Perthes, die Sammlung
europäifcher Staatengefchichten überhaupt, fo ift auch die Preußifche Gefchichte
Stenzel’3 für das Bedürfniß des größeren Leſepublikum beftimmt und be
rechnet. Won 1830 bis 1854 find fünf Bände fertig geworden, welche bie
1763 reihen. Die einzelnen Theile find ſehr ungleihen Werthes: anfangs
kaum mehr ala eine Compilation aus fremden Arbeiten, beruht das jpätere
auf eigenen felbftändigen Studien. Der erfte Band erzählt ſynchroniſtiſch die
Geſchichte der einzelnen Theile der jpäteren preußifchen Monarchie, „ein Rotpourri
pommerfcher, fchlefifcher, preußifcher und polnifcher und Gott weiß! noch
welcher Provinzialgefhichten.“ Stenzel folgt dem offenbar unrichtigen Ge
danken, die Gefchichten aller derjenigen Ränder, die nachher den preußiſchen
Staat gebildet haben, nebeneinander zu erzählen, ftatt aus der Gefchichte der
Mark Brandenburg den brandenburgiichpreußiichen Staat zu entwideln. So
hoch man auch immer das anfchlagen mag, was Preußen und die Rheinlande
und noch fpäter Schlefien für das Ganze ded Staates geworden find, es bleibt
doch eine ſchiefe Auffaffung, wenn nicht von vornherein feftgehalten wird, daß
Wiege und Fundament unfere® Staates Brandenburg gewefen ift. Wer aber
445
in die Borgefhichte Preußens eine falfhe Dispofition hineinbringt, verfehlt den
hiſtoriſchen Grundgedanfen und erfchwert das Verſtändniß der Beziehungen,
in welchen die Theile zum Ganzen jtehen.
Die zwei nächſten Bände umfaffen die Gefhichte de8 Jahrhunderts von
1640 bis 1740. Man fann fagen, bier findet fih das Bild firirt, das der
patriotifch gefinnte, mäßig unterrichtete, nach biftorifcher Bildung ftrebende
Liberalismus der vormärzlichen Fahre fih von preußifcher Gefchichte gemacht
bat: die populäre Karrifatur. Friedrich Wilhelm's I. als des Despoten in
feiner Familie und feinem Staate wird und ohne jede Fritifche Prüfung
der Ueberlieferung, durch die fie getragen ift, als wirkliche Geſchichte vor-
geführt: von der Bedeutung diefed greßen Organifators in Preußen bat der
Autor feine Ahnung, für einen fo eigenartigen Charakter fein Berftändniß.
Grade weil man fich vielfah für die Jahre 1688—1740 veranlaßt flieht,
Stenzel's Buch ald das maßgebende zu behandeln, gerade deßhalb muß betont
werden, daß diefer Abjchnitt bei ihm nicht auf eigenen Studien, nit auf
eigenem Urtheile beruht. Dem Xobe, das 1842 Häuffer über Stenzel aus-
gefprochen hat, wird Niemand mehr beipflichten können, der an hiftorifche
Arbeit und hiſtoriſches Urtheil etwas ftrengere Forderungen erhebt; wie alle
Melt fo fah auch Häuffer damald Preußen an mit den Augen des füddeutfchen
Kiberalen, dem die Behauptung preußifcher Eigenart und die Hervorhebung
preußijcher Verdienſte um die nationale Sache damald noch als „Borufjo-
manie“ erfchien. in wirkliches PVerftändnig der inneren Entmwidelung
Preußens ift bet Stenzel nicht zu finden; ja in den zwei letzten Bänden, die
1851 und 1854 erfchtenen und die Jahre 1740—1763 behandelten, ftellte er
ſelbſt fih in Gegenfas zu der richtigeren wiſſenſchaftlicheren Behandlung
preußifcher Gefchichte, welche damals ſchon verfucht worden war. Man follte
e8 heute kaum für möglich erklären, daß damald (1851) bei einem Vergleich
von Stenzel und Ranke felbft Häuffer fih auf die Seite des Erfteren ge
ſchlagen.
Leopold von Ranke, der vor jetzt fünfzig Jahren ſeine kritiſchen
Arbeiten zur Geſchichte des neueren Europa begonnen, hatte zwei Jahrzehnte
hindurch faſt ausſchließlich das Reformationsjahrhundert als Hauptobjekt
ſeiner Forſchung behandelt: der kritiſchen Behandlung und Beleuchtung
hiſtoriſcher Quellen hatte er die neuen Bahnen gebrochen, dem archivaliſchen
Studium cine bis dahin ganz ungewohnte Ausdehnung gegeben und in der
Auffafjung der Hiftorifhen Ereigniffe und Perſonen dem Htitorifer eine eigen-
thümliche neue Haltung angemwiefen: durch alles dies war er in der That der
Meifter der biftorifchen Studien und der Führer der vielen in feiner Schule
gebildeten Hiftorifer geworden. Auf der Höhe feiner fchaffenden Kraft an
446
gelangt, widmete er nun den vaterländifchen Dingen feine Bemühungen:
1847 und 1848 erjchienen feine „Neun Bücher Preußifcher Gefchichte.“
Die Aufnahme epochemachender biftorifcher Werke durh das Publikum,
dem fie zuerft zugehen, läßt fi Häufig ganz anderd an, ald die Werth
ſchätzung, der diefelben Werke nachher zu begegnen gewohnt merden. Mer
die erften kritiſchen Aeußerungen über die großen Geſchichtswerke Ranke's
einmal durchmuftert, wird in ihnen auf ſtaunenswerthe Säte ftoßen: man
würde vielleicht da8 Urtheil wagen dürfen, daß erft das legte Jahrzehnt an-
gefangen, Ranke's Bedeutung annähernd richtig zu würdigen, ja daß fogar
heute eine volle und ganze Werthſchätzung feiner großartigen Werke erft bei
wenigen Perfonen ſich vorfindet. Damald war man an die Albernbeiten
Rottecks und die draftifchen Aeußerungen Hiftorifchen Unverftandes, mit welchen
Schloffer die Welt erfreuete, noch allzufehr gewohnt, ald dag man ſich dur
Ranke's objectived Hiftorifches Weſen befriedigt gefühlt hätte. Ueber feine
preußifche Gefchichte war man ziemlich einig im Urtheile — eine beftellte
„Hofhiltoriographie* (Ranke war zum preußifchen Hiftoriographen ernannt
worden), eine „ſchönfärbende Künftelei“ betitelten die einfichtigeren und ſach—
verftändigen Kritiker fein Werk: es bedarf faum einer längeren Ausführung,
wie die Stimmen der gewöhnlichen Mubliciftif ihn mitnahmen! Weber das
legtere darf man fi doch nicht allzufehr wundern. Ranke's Buch fällt ja
gerade in eine Zeit, in welcher die gebildete Welt, unbefriedigt und geärgert
durch die politifchen Erperimente des preußifchen Königs Friedrich Wilhelm’s IV.,
jenes Fürften, dem der mildefte hiftorifche Beurtheiler nicht viel angenehmes
wird nahrühmen Fönnen, zu nicht® weniger geftimmt war al® zu einer vor-
urtheilöfreien Unerfennung des preußifchen Königthumed. Unbeirrt von
diefer Strömung der Tagesmeinung, feste Ranke in lichtvoller, alle Seiten
des hiſtoriſchen Lebens beleushtender Erörterung die fundamentalen Reiftungen
der preußifchen Könige auseinander: fharf und blank fam bei ihm die That
fahe zum Ausdrud, daß der preußifche Staat eine Schöpfung feiner Könige
tft, ein Urtheil, da8 heute nur die bodenlofefte Unmiffenheit noch beftreiten
fönnte, das damald zuerft von Ranke in fo beftimmter Wetfe und in fo
weitem Umfang aufgeftellt wurde, Ranke hatte dann die Anfänge Friedrich’ IL
In ihrer fo blendenden Virtuoſität aus neuem Stoffe mit neuen Thatfachen
gemalt, in einer Zeichnung, die wohl kaum viele Verbefferungen nod er
warten dürfte.
Es hieße Wafler ind Meer fhöpfen, wenn man heute die Forfhung
Ranke's als eine miljenfchaftliche erft befonder8 preifen wollte. Damals
flüchtete fi der Uerger über feine Nefultate hinter die Bemängelung feiner
Studien ald ungründlih und eilig gleichfam allein ad hoc gemachter. Aller:
dings bei allem Licht bietet und feine preußifche Gefchichte auch Schatten. Auf
447
ein paar Seiten drängt fi die ganze Gefchichte bis 1688 zufammen ; felbft
König Friedrich Wilhelm I. wird mehr beurtheilt als dargeftellt: was fo oft
bei Ranfe unbequem tft, — feine offenfundige Abneigung befannted zu er-
zählen, oft erzählted zu wiederholen, — das ftört hier in ganz befonderer
Weife den LXefer; bier wird viel, ja zu viel als befannt voraudgefegt; und
die Darftellung erhält dadurd etwas zerriffenes, unfertiged, fragmentariiches ;
es rächt ſich felbit bei Ranke, wenn er ausſchließlich für die Kenner preußifcher
Geſchichte zu fehreiben magt.
Immerhin war hier der Zufammenhang preußifcher und deutfher Ge
ſchichte in einer neuen Weife gezeigt, e8 waren die charakteriftifhen Momente
preußifcher Entwidlung mit fiherem Griffe aud der Maſſe der Thatfachen
bervorgeholt, ed war das perfönliche Verhältnig und die innere Bedeutung
der drei großen Megierungen ded großen Kurfürften, Friedrich Wilhelm’s I.
und Friedrich's II. mit feften Zügen gezeichnet: der eigentliche Inhalt, die
biftorifche Idee diefer preußifchen Geſchichte war aufgededt. Es galt dies
neue Licht meiterhin auf alle Theile der Gefchichte zu werfen, die Skizze
Ranke's zu einem dad ganze Leben wiedergebenden Bilde auszuführen.
Wie gefagt, ald das Buch erfchien, verhielt man meiften® ihm gegenüber
fih ablehnend. Ranke's kühle und vornehme Zurüdhaltung, feine unbefangene
Anerkennung ded Königthums mußten damals ihn ald Gegner der Wünfche
des Jahres 1848 darftellen. Ohne großen Eindrud von dem Werke empfan-
gen zu haben ging die öffentliche Meinung an ihm vorüber.
Die Hoffnungen, welche deutfche und preußifche Patrioten damald 1848
und 1849 über die deutfche und preußiihe Zukunft gehegt, waren bald zer-
ronnen: die liberalen und nationalen Parteien hatten ihr Ziel nicht erreicht.
Entmuthigung und Abſpannung bemädtigte ſich dann der Geifter. Aber
grade In der Zeit des. heftigften politifhen Katzenjammers der nationalen
Partei, grade in der traurigiten Periode politifcher Erbärmlichkeit in Preußen,
im Sabre 1855 trat Einer der Vorkämpfer unferer nationalen Wünfche und
Hoffnungen von 1848 mit einem groß und gewaltig angelegten hiſtoriſchen
Werke über Preußen auf, das mie eine biftorifche Nechtfertigung aller ge-
begten Ideale und mie ein prophetifche® Troſtwort auf eine befjere Zukunft
audfah, mir meinen die Gefhihte der preufifhen Politik von
3. G. Droyfen. Bon den Anfängen der Mark, von den Ahnherren des
Zollernfhen Haufe® an unternimmt diefer Autor es die deutfche Politik
Brandenburg-Preußend nachzumeifen: mas 1848 die Frankfurter Kaiferpartei
erftrebt, wurde ald das traditionelle Programm preußifcher Geſchichte und
preußifcher Politik gezeigt. Eine Erfriſchung gelunfener Hoffnungen, eine
Belebung erfterbender Wünſche wurde hier den Baterlandöfreunden darge
reicht. Und es war nicht ein politifched Pamphlet, nicht eine Tetchte, ſchnell
448
zu verwehende Broſchure, fondern ein Werk folider und maffiver Gelehrfam-
keit, nicht eine Frucht augenblicklicher Laune, fondern dad Reſultat langer
und mühfamer Studien. Die Gefchichte unfrer nationalen Entmwidlung in
den beiden letzten Jahrzehnten läßt fich nicht verftehen, wenn man von
Droyſen's preupifcher Politik abfehen wollte!
Doch das ift feine Wirfung auf das öffentliche Leben unferer Zeit.
Rrüfen wir feinen wiſſenſchaftlichen Charafter.
Zuerft iſt darauf hinzumeifen, daß Droyſen nicht eine preußifche Gefchichte,
fondern eine Geſchichte der preußifchen Politik fchreibt, und in hervorragender
Ausdehnung nur die auswärtige Politik behandelt; ja wenn man genauer
binfieht, beſchränkt Droyſen's Thema fih noch enger auf die deutfche Politik
Preußens: was der preußiſche Staat für die nationalen Aufgaben und Be
ftrebungen Deutſchlands geleitet, das im Cinzelnen binzuftellen und die ein«
zelnen Thatſachen und Erſcheinungen des hiſtoriſchen Lebens ala Glieder einer
zujammenbängenden Kette, ala Aeußerungen eined bleivend und einbeitlich
gedachten naronalen Programms aufzjumeijen ift die leitende Idee feiner Ar
beit. Große Mühe und viele Studien hat er aufgewendet, in der früheren
Geſchichte bis 1640 die einzelnen Anſätze diefer Richtung aufzufpüren und
als ſolche zu beleuchten, dem Zeitraum, den man ala die Vorgefchichte des
preußifchen Staate® verftehen und anfehen muß, hat er allein drei Bände
gewidmet. Das ift nicht nur ein Fehler der Fünftlerifchen Gompofition,
fondern auch ein Fehler des Hiftorifhen Gedankens felbft: man Fann nicht
von einer conftanten traditionellen preußifchen Politik reden für eine Epoche,
in der dad noch gar nicht vorhanden ift, was man den preußifchen Staat
nennt. Es wird bereitwillig zugegeben und gern anerfannt werden müflen,
daß diefe erften Bände Droyien’d für die deutfche Gefchichte des 15. Jahr
hunderts fehr ſchätzenswerthe Refultate enthalten oder doch den Studien über
died. Gebiet erfreuliche Anregungen bringen; auch für da® 16. Jahrhundert
fann man mandyed aus Droyfen lernen. Aber die preußifche Gefchichte gehen
diefe Dinge nicht viel an; ja fie rufen fehr leicht und fehr oft eine faljche Auf
fallung der Thatfachen brandenburgifcher Gefchichte hervor. Das was fpäter
bin den Brandenburgern eigenthümlich gewefen, wird bier in die frühere Zeit
bineingetragen: PBerfonen und Greignifje früherer Epochen erhalten ein Richt
über fi ausgegoſſen, da® nichts andere ald der Refler der fpäteren Dinge
it. So wird eine objective und ruhige Erwägung die Glorificirung des
Kurfürften Friedrich I. ald eine einfeitige Betrachtung auf ein anderes Ur
theil ermäßigen, die Bewunderung Albrecht Achilles’ als ganz unmotivirt, die
Joachim I. beigelegte höhere Bedeutung ald eine ungerechtfertigte Weber-
ſchätzung bezeichnen müflen: im 15. und 16. Jahrhundert fpielt weder in: der
deutſchen noch in der allgemeinen Gejchichte Brandenburg die Rolle, die
—
449
Droyfen ihm zuweiſt. In die legten Jahre des 16. und in den Anfang des
17. Jahrhunderts erjt Fällt die aufdämmernde Ahnung einer neuen Zukunft
diefed Landes, Für den allgemeinen Standpunkt Droyfen’® märe es befler
gewefen, wenn er nicht 3 Bände, fondern höchſtens 300 Seiten diefer Bor»
bereitung ſeines Hauptwerkes gewidmet.
Mit dem großen Kurfüriten beginnt der preußifche Staat: eine fpeziftih
preußifche Politik ift erft durch ihn ind Leben gerufen. Bei diefem Abfchnitt
erbreitert fi) Droyfen’3 Darstellung noch um ein bedeutendes. Sein bleibendes
Verdienst ruht in den Forfchungen über das erjte Jahrhundert der eigentlich
preußiichen Staatögefchichte. Won 1640 bis 1740 reichen fech® Bände; die
Jahre 1740 — 1742 umfaßt der jüngit erfchienene Theil. Die Darftellung
ded großen Kurfürften in 3 Bänden iſt eine monumentale Keiftung Mit
ausgedehntefter Benutzung der gedrudten Literatur verbindet fi eine raftlos
unermüdliche Korfhung in Archivalien. Sorgfältiged und eingehendes Detatl-
ſtudium des Berliner Archives ift das charakteriftifhe Merkmal Droyfen’s:
auf den Aktenſtücken des preußifchen Staatdarchived, auf den ächteften unver
fälichteiten und ficherften Zeugniffen, welche die preußifche Politik und Diplo:
matie und Verwaltung von fich felbit hinterlaffen, beruht alles, was wir in
diefen fieben Bänden lejen.
Es ift eine Arbeit hier angehäuft, die nicht Leicht Jemand in diefer Weife
unternimmt und in diefem Umfange durchführt.
Droyfen’d Studium hat fich im weſentlichen felbft die Beſchränkung auf
das Berliner Archiv gefeßt; er zieht nicht fremde Archive zur Controle und
Ergänzung Hinzu. Died Verfahren aber beruht auf freiem Entſchluſſe des
Forſchers; er folgt dabei einer feften Methode und einem eigenen Eritifchen
Gedanken. Droyſen entwidelt vornämlich den Inhalt der preußiſchen Staats-
papiere; er fpiegelt in feinem Buche die Auffaffung der Welt wieder, mie fie
den preußifchen Staatdmännern während ihrer politifchen Arbeit fich darge
ftellt hat; er fchildert die Mechfelbeziehungen und Verflechtungen preußifcher
mit öfterreichtihen, franzöfifchen, englifchen Dingen, aber er bleibt dabei ab⸗
bängig von der Auffafiung, mie fie im Lauf der Gefhäfte die preußifchen
Politiker gehabt haben. Recht oft würden diefelben Dinge, von franzöfifcher
oder englifcher oder döfterreichifcher Seite aus angefehen, eine ganz andere
Farbe oder Geitalt annehmen. Gewiß ift es für den politifhen Praktiker
ein unerläßliche8 Geſetz, nur von feinem Standpunfte aus die Ereigniffe zu
fehen und zu beurtheilen; und auch dem Hiftorifer mag es geftattet fein, auf
diefen Standpunkt eines beftimmten politifhen Praftifer® zu treten und mit
deffien Augen die politifhe Welt zu fehen. Der methodifhe Standpunft
Droyſen's ift ald ein berechtigter ficher zuzugeben; die Gefchichte eine® mäch—
tigen Staates oder einer Fräftigen Nation zieht aus ſolchem — der ihr
Grenzboten IV. 1874.
450
eigener ift, ganz beſonders wirkſame Säfte und Kräfte: Ton und farbe der
ganzen Darftellung wird und bleibt eine nationale Schöpfung: fo manche
nationale Eigenſchaft und Beftrebung wird nur von dem Geifte der eigenen
Nation und aus dem Geifte derfelben begriffen und verftanden. Droyſen's
Methode Fechten wir nicht in ihrer Berechtigung an; wohl aber behaupten
wir, daß fie nicht die einzig berechtigte fei: die univerfale Auffaffung, die es
veriteht von verjchiedenen Standpunften aus eine Sache zu ſehen und aus
dem Zufammenmirfen der vielfeitigen Bilder dad Endrefultat und Endurtheil
zu geminnen, fie ift nicht nur neben der Droyſen'ſchen Weife berechtigt, fondern
fie hat auch den Vorrang vor ihr zu behaupten.
Eine andere Eigenthümlichkeit Droyſen's ift neuerdings wiederholt be
merkt worden. Seine Erzählung ift bemüht, fi möglichſt genau dem aften-
mäßigen Verlaufe der Greigniffe anzuſchließen; er gebt jeder Windung und
Biegung feiner Straße gemwiffenhaft nad, von Monat zu Monat, oft von
Zag zu Tag begleitet er jede Eleine Abwandlung, welde die politifchen Ge
ihäfte durchmachen, mit aufmerkffamer Weder. Alfo beachtet er nicht immer
die Grenzlinie, die das Gefchäft von der Gefchichte fcheidet. Bei befonderd
wichtigen Gelegenheiten ift es natürlich jedes Hiſtorikers Beftreben, möglichſt
ing Detail der Hiftorifhen Vorgänge zu dringen; aber durchgehends diefe
minutiöfe tagebuchartige Erzählung feſtzuhalten ift ebenfo ermüdend ala «8
von dem eigentlichen Verftändniffe der Gefchichte ableitet. Des Hiftorikers
Sade ift ed aus dem unabfehbaren Meere der täglich vor ſich gehenden That-
jahen das zu wählen, was wirklich Gefchichte ift: nicht alles was gefchieht,
ift deßhalb auch Geſchichte. Aus der Fülle ſeines Materiald theilt Droyfen
oft zu viel mit, fein Leſer verliert die Straße, die er wandeln fol: er geht
unter bei allen den auf ihn einftürmenden Eindrüden und Gefihtäpunften
und Erwägungen.
Droyſen's Darftellung des großen Kurfürften ift von mehreren Htitorifern
der Vorwurf gemacht worden, daß bei feiner Betonung der „Politik“ die
Perſönlichkeit ded Kurfürften nicht zu vollem Ausdrude gelangt. Diefer
Einwand ift nicht unbegründet. Von dem perfönlichen Antheil des Herrſchers
und feiner einzelnen Staatäminifter ift weniger die Rede, ala es fein Fönnte.
Auch die ganze Originalität der Perſon Friedrich Wilhelm’ I. zeigt er und
nit. Dagegen werben felbft jene Kritiker zugeben müfjen, daß Friedrich's I.
perfönlihe Figur und Weſen zu zeichnen von Droyſen nicht verfchmäht
worden ift.
Die auswärtige Politik ift, wie gefagt, der Hauptinhalt dieſes Werkes:
auf diefem Gebiete hat Droyfen das Verdienft, ganze Abſchnitte neu gejchaffen,
ganze Kapitel preußifcher Gefchichte neu entdeckt zu Haben. Und menn er
auch bisweilen die inneren Verhältniffe berührt, fo erregt doch grade fein
451
Merk dad Verlangen nad einer ähnlichen Arbeit archivalifchen Fleißes über
preußifche Berfaffung und Verwaltung und preußiſches Rechtsleben. Noch
nicht zu Ende geführt ift dies Unternehmen wahrhaft großartiger Studien;
die eigentliche Glanzzeit preußifcher Diplomatie, die Heldenepoche des großen
Königs, ift nur erft eben eröffnet: mit Spannung fieht man der Fortſetzung
entgegen.
Und nun, nachdem Droyfen da® Jahr 1740 erreicht hatte, in welchem
früher Ranke's preußiſche Geſchichte erſt zu eigentlicher Darftellung ausgeholt
hatte, hat auch der Altmeiſter ſelbſt noch einmal ſeine frühere Leiſtung einer
erweiternden Umarbeitung unterzogen. In einer neuen Ausgabe wurden aus
den früheren neun jetzt zwölf Bücher. Die wichtigen Momente, welche die
Geneſis des preußiſchen Staates bewirkt haben, wünſchte Ranke, —
man kann nicht ſagen, in Rivalität oder im Gegenſatze zu Droyſen, wohl
aber neben Droyſen — in ſeiner Weiſe noch einmal etwas genauer darzu—
legen. So iſt ein ſehr intereſſantes und geiſtvolles Buch entſtanden. Auch
jetzt erzählt Ranke nicht den hiſtoriſchen Verlauf, er erörtert vielmehr die
hervorſtehenden und maßgebenden Punkte desſelben. Er benutzt ſelbſtverſtändlich
das, was Droyſen mittlerweile geboten; er ergänzt manches aus eigenen
Studien; er bemüht ſich neben der preußiſchen Anſchauung der preußiſchen
Staatspapiere auch von anderen Stellen her Erläuterungen und Aufklärungen
herbeizuſchaffen. Da er ſich nicht auf die äußeren Verhältniſſe beſchränkt,
gelingt es ihm meiſtens mit ſeiner allſeitigen Betrachtung und ſeiner mehr—
ſeitigen Erwägung das Nebeneinander und Ineinander der einzelnen Faktoren
ſehr gut zur Anſchauung zu bringen. Irren wir nicht, ſo wird dieſe Neu—
bearbeitung der preußiſchen Geſchichte durch Ranke leichter und dauernder die
Schaaren der Leſer um ſich verſammeln, als dies bisher Droyſen möglich ges
weſen iſt. Aber will man dem letzteren damit nicht Unrecht thun, ſo muß
man ſtets feſthalten, daß es für einen erfahrenen Hiſtoriker großen Stiles
immer leichter iſt, in kurzen Zuſammenfaſſungen die Verkettungen des hiſto—
riſchen Lebens anſchaulich zu machen, als in detaillirt ausgeführtem Bilde
der wechſelnden Ereigniſſe die hiſtoriſchen Richtwege in jedem Augenblicke
durchſcheinen zu laſſen.
Die Auffaſſung preußiſcher Geſchichte im Großen und Ganzen gelangt
bei Ranke und Droyſen zu denſelben Ergebniſſen: im einzelnen weichen ſie
wohl ab. Doch muß man hier ſagen, daß wo Detailausführungen der Beiden
nebeneinander vorliegen, z. B. betreffs 1740—1742, Droyſen eine Beſtätigung
gebracht deſſen, was Ranke vor jetzt 27 Jahren geſchaffen.
Droyſen's ganze Seele iſt mit der preußiſchen Politik verwachſen. Ranke
äußert nicht fo entſchieden feine eigene Meinung; bet allen feinen preußiſchen
Sympathien beftrebt er fich, über den patriotifchen Gefühlen zu ftehen und
452
in ganz. objeftiver Haltung Preußen? Eonflifte mit äußeren und inneren
Gegnern zu erzählen. Diefer Unterfchied ded Temperamentes tritt in manchen
Stellen auch beftimmend für ihr Urtheil auf. Es ift fiber, Ranke's Ent-
widelung der Stellung von Preußen zu Defterreich ift von einer recht ver«
jöhnlichen Tendenz durchhaucht. Droyſen's Buch athmet den entjchiedenften
Gegenfag ded Preußen gegen das Haus Hababurg und trägt Feine Scheu
jenen unauelöfchlichen Haß, den der Preuße gegen den Deftreicher eben megen
der früheren Vorfälle zwifchen beiden immer haben fol, offen zu befennen.
Bei diefer dur das Ganze ſich Hindurchziehenden Differenz der Auffafjung
wird man geftehen dürfen, daß die Gefchichte des letzten Jahrhunderts bei
Droyſen beffer ald bei Ranke vorbereitet if. Und damit hängt ein Anderes
zufammen. Der preußifche Staat war in der Periode feined Gmporfteigend
von zwei Nachbaren arg bedrängt und bedrüdt, von Sadfen und von
Hannover; von dem letteren wurde er auf Schritt und Tritt gehemmt und
hicanirt, ganz befonder® feit der Kurfürft von Hannover die englifche Krone
trug. Ranke ſchwächt auch diefen Gegenſatz der Zollern und der Welfen ab;
bei ibm empfängt die mwelfifche Ränkeſucht der Hannoveraner nicht das ihr zu-
fommende Licht. Droyſen's Tebhaftered, weil erclufivere® Gefühl für den
preußifchen Staat verdient in diefen und ähnlichen Fällen unfered Erachtens
den Vorzug vor jener objeftiveren und fühlen Auffafjung Ranke's.
Wie immer, fo hat Ranke auch diesmal feine ganze Meifterfchaft gezeigt
in der Fünftlerifchen Geitaltung und Abrundung. Die Dispofition des
Stoffes ift, wie wir bei ihm gewohnt find, ein Meifterftüd, Sprache und
Stil find plaftifh wie immer. Damit hält Droyfen keineswegs gleichen
Schritt. Schon die Anordnung des Ganzen läßt erhebliched zu münfchen,
und der nervöfe unruhige Vortrag geftattet ebenfalla feltener, als man wünſchen
möchte, dem Lefer zu ruhigem Genufje zu fommen,
Alles in Allem, bei einem Vergleiche der beiden großen Geſchichtswerke,
— und man liebt es ja von alteräher derartige Vergleiche anzuftellen und
man ift in der That dur manches in diefem alle zu Vergleichen heraus—
gefordert, — wird man fich geftehen, daß fie in merfwürdiger Art einander
ergänzen und ablöfen. Ein jedes will nad) feinen Abfichten verftanden und
beurtheilt werden; einem jeden eignen Vorzüge, die das andere nicht oder doch
nit in dem Umfange hat. Und wenn man durchaus die Frage beantwortet
haben wollte, weldyem von beiden der größere Preis zuzufprechen fein würde,
fo würden mir mit dem befannten Worte unferes Dichterd antworten : „man
folle fidy freuen, daß zwei folder Kerle nebeneinander da find!“
Neben diefen großen wiſſenſchaftlichen Gefammtdarftellungen befigen wir
eine große Riteratur von Monographien, deren Reichthum und Mannichfaltig-
feit au nur annähernd zu bezeichnen hier nicht möglich fit. Auch an po-
453
pulären Büchern ift fein Mangel; freilich die Im letzter Zeit verfuchten aus—
führliheren Gefchichtderzäblungen von Eofel und von Eberty müſſen als
mißlungene Berfuche bezeichnet werden, dagegen dürfen mehrere Fürzere über.
ſichtliche Abriffe als empfehlenöwerth gelten: wir zeichnen dad Buch von
%. Voigt unter ihnen aud,
Bisher find nun ganz befonderd die äußeren Beziehungen Preußens zu
feinen Nachbaren, zur europäifchen Politik, zur deutichen Nation erörtert und
erforfcht worden. Weber den großen Kurfürften verbreiten neben Droyfen
manche Eleinere Arbeiten noch ergänzendes Licht: auch die Akten und Ur
funden diefer Zeit felbit hat man zu fammeln und zu druden unternommen.
Für die Epoche Friedrich’8 des Großen fehlt und allerdings noch jeder Anſatz,
die Aktenſchätze des Staatdarchives in ähnlicher Weife zu veröffentlichen; die
Klagen über die unter der Aegide Friedrich Wilhelm's IV. erfchienene Aus
gabe feiner Werke find leider nur zu fehr begründet. Dagegen haben, wie
früher Preuß, fo Ranke, Schäfer, Mar Dunder u. A. fehr dankens—
werthe Studien über Friedrich's auswärtige Politik ſchon geliefert; und die
Bublifationen aus dem Wiener Archive, die wir Arneth und Beer vor
danken , verbreiten auch über König Friedrich manche? neue Licht. Nicht fo
günftig ftehen wir der Gejchichte der Freiheitäfriege gegenüber, jeder neue
Schritt lehrt und, wie ungenügend und unzureichend dad Material gemefen,
auf das Häuffer feine Erzählung gegründet. Diefe Periode wird von
Grund aus neu aus dem archivalifchen Stoffe zu bearbeiten fein. Und mad
die Jahre nach 1815 angeht, fo willen wir noch fehr wenig und fehr wenig
Zufammenhängended. Aber auch über diefed unbekannte Land winkt ja die
Hoffnung baldiger Auffchlüffe.
Was heute am meisten und am fohmerzlichften vermißt wird, ift eine
Gefchichte der inneren Entwidelung, ed fehlt an einer gehörig begründeten
Kenntniß der preußifchen Verwaltung. Alle Welt fpricht heute den Sag aus,
daß durch feinen Beamtenftand Preußen das geworden ift, mad es heute ift:
wer aber fennt die Gefchichte dieſes Beamtenftandes, feiner Einrichtungen und
feiner Reiftungen? Auf diefem Felde tappen wir noch vollftändig im Finftern.
Unfere Kenntniß fängt eben erft an vorbereitet und angebahnt zu werden:
erft weniges wifjen wir über die ältere Zeit durch die Arbeiten von Kühne
und Iſaacſohn; und die in allmählichem Erſcheinen begriffenen Studien
von Schmoller über die Epoche Friedrih Wilhelm's I. harren nod der
Vollendung und des Abſchluſſes. Gerade von Schmoller erhoffen und erwar—
ten wir eine Gefchichte unjerer preußiihen Verwaltung und Verfaſſung, —
ein Werk, das allerdings erſt aus lange und emfig betriebenen Detailjtudien
almäplih zufammenmwacjen fann. Wenn heute faft jeder brave Durchſchnitté—
politifer den Mund vol nimmt von Robederhebungen über die Stein'ſchen
454
Reformen und die großen Reiftungen ber ypreußifchen Geſetzgebung von
1807 — 1811, fo werden von diefen Lobrednern ebenfo mie von den junfer-
liben Tadlern derjelben Dinge nur fehr wenige eine Ahnung davon haben,
daß unfere Kenntniß diefer Reformepoche unfered Staated eine äußerſt lüden-
bafte und zufammenhangslofe und einfeitige iſt: fo befchämend es Klingt,
man muß diejen Sachverhalt eingeftehen und daraus die Ermahnung jhöpfen,
möglichft fchnell und möglichſt gut Abhülfe zu fchaffen.
Mit vollem Rechte bezeichnen wir ed ala ein Ergebnif unferer hiftorifchen
Erkenntniß, daß mir jegt wifjen, wie gerade durdy den Kampf mit den Rand»
ftänden feiner verfchiedenen Territorien der große Kurfürft unferm Staate
das Leben gegeben hat. Und doch wie gering ift unfere Kenntniß von dem
Detail diefer Kämpfe, von den ftändiichen Einrichtungen überhaupt! So—
eben bat Ranke als eine vor allem erforderliche Arbeit eine auf das ein
zelne eingehende hiftorifhte Darftellung der Kandtagsverhandlungen bezeichnet,
die wir bicher meder für die Mark Brandenburg no für das Herzogthum
Preußen befiten; es wird nöthig fein, was von ftändifchen Papieren jener
Jahrhunderte nody vorhanden ift, dem wiſſenſchaftlichen Publikum zugänglid
zu madhen.*) Erſt wenn auch died Material vorliegt, wird man zu abjchlie
Benden Refultaten gelangen Fönnen.
MWir würden im Stande fein, äbnliche Bemerkungen zu wiederholen
über die Gefchichte unfere® Heeres, unfere® Gerichtsweſens, unferer Schulen;
überall ift unfere Kenntniß eine lückenhafte. Ale diefe Lücken müflen audge
füllt werden, ehe wir auf eine allen Anforderungen wiflenfchaftlicher Geſchichts—
ſchreibung entjprechende preußiſche Gefhichte zählen dürfen. Bis dahin heißen
wir jeden Beitrag zur Löſung diefer ſchwierigen Aufgaben gern willkommen.
Wilhelm Maurenbreder.
Die Heneraldirechion der Hächſ. Hfaatseifendahnen, das
Aeihseifendahngefeß**) und das Yublikum.
In einer am 30. April d. 3. abgehaltenen Sitzung der zweiten Kammer
wendete ſich der Abgeordnete Philipp in längerer Nede gegen die königliche
*) Der in der Provinz Preußen 1872 entftandene hiftorifche Verein bat mit vollem Rechte
als feine erfte und mwichtigfte Aufgabe die Herausgabe der Preußifhen Ständeakte in Angriff
genommen (noch früber ald die mahnenden Worte Ranke's vorlagen); durch ihn find ſchon zwei
Lieferungen, von dem Gpmnafialdireftor Töppen in Marienwerder bearbeitet, zur Ausgabe
gebracht (bei Dunder & Humblot in Leipzig). Aus der Provinz Brandenburg wiſſen wir ähm
liches bis jept nicht zu vermelden.
) Der in der nachftehenden actenmäßigen Darftellung enthaltene ungewöhnliche Borfall
455
Generaldirection der fähfifhen Staatäeifenbahnen, wies tadelnd auf das in
derfelben „fo außerordentlich überwiegend juriftifche Element“ und „die von
dort aus ergebenden theilmeife geradezu unbegreiflichen Verordnungen“ hin und
log mit der Mahnung, „man möge fih vor allen Dingen hüten, daß, mie ed
jest fcheint, ein gewiffer junferliher, fporenElirrender Ton in
der Öeneraldirection wiederklingt.“
Unter dem Ausëdruck feine? Bedauernd über diefe „ziemlich ftarfen An—
griffe“ entgegnete hierauf der Staatöminifter v. riefen u. a. wörtlih: „Ich
fann aus meiner Erfahrung feit der Zeit, wo die Generaldirection eingerichtet
wurde, verfihern, daß fie ihre Pflicht mit großer Gemwiffenhaftigfeit
erfüllt und wefentlich dazu beigetragen hat, unfere Eifenbahnen auf den
Standpunkt zu bringen, auf dem fie fich gegenwärtig befinden. — Ich Tann
nur wiederholen, daß die Generaldirection fih, wie ih hoffe, im Lande und
aud im Auslande allgemeine Ahtung und Anerkennung erworben
hat und daß es doch wirklich nicht ganz gerechtfertigt ift, wenn man wegen
einzelner Borfommniffe, wenn nämlich vielleicht hie und da einmal ein Eleined
Verfehen vorgefommen tft, ein ſolches allgemeine® Urtheil ausfpricht.” —
Wenn ein Lenker des Staates in einer Rede vor der Volfävertretung bekundet,
daß er fich über die Öffentlihe Meinung ded Landes in einem Irrthume be
findet, der Teicht dadurch folgenfchwer werden kann, daß er nothwendige Re—
formen hindert oder erfchwert, dann ift es Pflicht jedes Staatsbürger, der
fih Hierzu befähigt fühlt, aufflärend und berichtigend feine Stimme zu er
heben. Diejer Pflicht wünfchte ih durch die nachftehende Veröffentlihung zu
genügen, aus welcher fi ergeben wird, daß die Hoffnung des Heren Minifterg,
fo weit fie fi auf das Inland bezieht, vor der Hand eben nur eine Hoffnung tft.
Am 3. Juli v. 3. richtete ih an die kgl. Generaldirection der fächfifchen
Staatdeifenbahnen folgende Beichwerde:
„Geſtern, Mittwoch d. 2. Juli Fehrte ich mit einem hiefigen Vereine in
einem Wagen dritter Klaſſe ded 8 U. 30 M. Abends von Tharand abgehen:
den Zuged nach Dresden zurüd. Unterwegs ftiegen in ein vorher leeres
follte im letzten Landtage zur Sprache gebracht werden. Das Talent der Regierung, ſich dur
einen plöglichen Landtagsſchluß der öffentlichen Erörterung dieſes Falles und anderer ihr gleich
falls nicht zum höchſten Ruhme gereichender Vorgänge zu entziehen, verdient unzweifelhaft hohe
Anerkennung. Geit dem rafhen Schluß der Stände im Juni 1866 ift eine foldhe Uebung
biefes Talentes nicht mehr erlebt worden. Dadurh find von felbft die für den Landhausfaal
in Dreöden in Ausficht genommenen Erörterungen vor das forum der deulfchen Preife gedrängt
worden. Das gilt namentlich von denjenigen Fällen, über welche nicht der biedere Sächſiſche
Landtag, fondern der Deutfhe Reichstag in letzter Inſtanz zu entfcheiden hat, da hierbei
eine — fagen wir eigenthümliche Auslegung von NReichögefeken in Frage fommt. Dahin ges
bört unfered Etachtens der vorliegende Fall, dahin die fogenannte Amtöblattfrage. Und deß—
balb hielten wir und verpflichtet, diefe fcheinbar rein perfönliche, in Wahrheit aber durchaus
öffentliche und das ganze Reich intereffirende Angelegenheit hier mitzutheilen. D. Red,
456
Coupe desfelben Wagen? mehrere Berfonen ein, von denen fi ein Mann in
höchſt anitößiger Weiſe bemerkflich machte. Als ihn fein unanjtändiges Bes
nehmen gegen eine mitfahrende Dame von feinem Nachbar, einem älteren
Herrn, verwiefen wurde, wendete er fi voll Erbitterung gegen denjelben,
drängte ihn in die Ede und infultirte ihn während der ganzen übrigen Fahrt,
indem er u. a. äußerte: „Wenn Ste ein junger Kerl wären, hätte id Sie
ſchon längſt an die Wand geſchmiſſen und Ihnen ein Paar in die — ge—
geben.“ Da der alte Herr, der ihm oft mit Anzeige gedroht, offenbar aus
Furcht vor Thätlichkeiten ſich nicht mehr zu rühren wagte, hielten meine
Meifegefährten und ich es für unfere Pflicht, un desſelben anzunehmen und
beichlofjen, den Greedenten bei der Ankunft in Dresden arretiren zu laflen.
Sobald der Zug ftand, ſetzte ich den Schaffner von unjerm Vorhaben in
Kenntniß und bat ihn, und einen Poliziften zu beforgen. Der Schaffner
fagte, daß er das betreffende Coupe nicht Öffnen werde und daß wir und um
daöfelbe ftellen möchten, im Uebrigen verwied er mich an einen den Perton
daherfommenden, dur ein rothed Behänge EFenntlichen Beamten. Während
ih mich an diefen wendete, öffneten die Inſaſſen das betreffende Coupe und
ftiegen aud. Indeß einige meiner Freunde dem bewußten Ercedenten möglichſt
zur Seite blieben, jagte ich jenem Beamten, daß wir den vor und gehenden
Mann, den ich ihm bezeichnete, verhaften zu laſſen wünfchten, und bat ihn
bei der Dringlichfeit der Sahe um feinen Beiftand und um Nachweiſung
eines Poliziften. Indem er nicht die geringfte Neigung-zeigte, und zu unter
ftügen, ermwiderte er: „Sie wollen jemand arretiren laffen? Weswegen wollen
Sie ihn denn arretiren laſſen?“ Ach antwortete, daß ich Alles vertreten
würde und eine ganze Anzahl Zeugen für das unanftändige Gebahren jenes
Mannes hatte, worauf er, ohne feine Schritte zu befchleunigen, verjegte: „Da
halten Ste ihn nur feſt!“ Da wir auf dem von vielen Menfchen gefüllten
Perron das nit wagen durften, ohne die ernfteften Gonflicte für und be
fürdhten zu müffen, bat ich ihm wiederholt um feinen Beiftand, erhielt aber
nur die Antwort: „Was geht da8 mid an? Da müflen Sie fih an den —
wenden.“ (Hier nannte er einen Beamten ded Zuges, wenn tch nicht ganj
irre, den Zugführer, was, wie ich nachher erfuhr, er felbft war.) Er ging
dabei, mit anderen Reuten plaudernd, möglichſt langfam den Perron entlang
und gab auf meine Borftellungen barfche und nicht zur Sache gehörige Ant-
worten, ja er hielt ed nicht einmal der Mühe werth, mir zu jagen, mo id
einen Genddarmen finden könne. Nachdem ich vergeblih auf dem Perron
einen ſolchen gefucht, fand ich endlich einen Poliziſten nahe der Treppe, wo
die Droſchkenmarken ausgegeben werden, aber mittlerweile war es dem Gr
denten, dem meine Freunde im Gedränge nicht mehr zur Seite bleiben Eonnten,
gelungen, durch einen Nebenaudgang zu entkommen. In unferer ganzen Gr
457
jellfehaft herrfchte nur eine Stimme darüber, daß die Hauptfhuld Hiervon den
gedachten Bahnbeamten treffe. Als derjelbe und nahe am Ausgange einholte,
fagte ich ihm, daß ich mich morgen über ihn befchweren würde. Der Mann,
welcher bis dahin unhöflich geweien war, wurde jest gradezu grob, er hielt
an das Publikum, das ſich auf dem Plake vor der Billetausgabe angefammelt
hatte, laute Reden über den Vorgang, fuchte mich dabei lächerlich zu machen
und die Sache jetzt fo darzustellen, als ob wir feine Intervention nicht recht:
zeitig und in der rechten Weife angerufen hätten, während er früher gethan
hatte, ala ob ihn die ganze Angelegenheit nicht? angehe. Er äußerte u. a.;
„da fagen Sie, Sie wollen jemand arretiren lajjen und als ich dazufomme,
Aft der fort" (während er doch fichtlich fein Dazukommen fo ange verzögert
hatte). „Sch muß doch erft willen, weswegen Ste ihn wollen arretiren laffen.”
Zweimal fagte er zu mir: „Sie denken wohl, ich bin Ihr dummer Schul.
junge?" Da id nicht Luſt hatte, mich weiter infultiren zu laffen, verlangte
ih das Beſchwerdebuch. Er verweigerte mir die Vorlegung desfelben mit den
Morten: „Sch habe weiter nicht? mit Ihnen zu reden.” Als ich hierauf
den PBoliziften fragte, wer diefer Beamte fei, wollte er demjelben die Beant-
wortung diefer Frage mit den Worten verbieten: „Sagen Sie es nicht!“
Trogdem theilte mir der Poliziſt mit, daß ed der „zugführende Oberfchaffner
des Tharander Zuges" ſei. Bald nachher, während wir noch in der Nähe
waren, erging er fich gegen den Genddarmen in lauten Reden über den Vor-
fall und fagte u. a.: „Ich denke, der Herr iſt befoffen.“
Auf Grund diefer Thatjachen erfuchte ich fchließlich die kgl. Generals
direetion, den mehrerwähnten Beamten zur Verantwortung zu ziehen, indem
ih die Hoffnung ausſprach, daß es derjelben „gewiß nicht gleichgiltig fein
werde, wenn auf den ihr unterftehenden Bahnen Anftand und Sitte von
Reifenden offen verlegt wird, und andere Reijende, welche gegen derartiges
Unmefen auf gefeglihem Wege einfchreiten wollen, bei dem Beamten, der
ihnen vom Schaffner ala competent bezeichnet wird, keinerlei Unterftüsung
finden, ja vielmehr von demfelben in fchroffer Form zurückgewieſen werden
und für ihren guten Willen nur Aerger und Beleidigungen ernten. Für den
Tal, daß jener Beamte eine der von mir angeführten Thatſachen Teugnen
follte, bat ich die Tal. Generaldirection, ihn mit mir zu confrontiren, und
machte ald Zeugen für die Wahrheit meiner Angaben den Seeretär der
Dresdner Handelöfammer und drei Gymnafialoberlehrer namhaft. Endlich
erlaubte ich mir, der Generaldirection die Frage zur Erwägung anheimzu-
geben, ob es fih nit, um die Wiederholung derartiger Vorgänge zu ver
meiden, empfehlen dürfte, bei Ankunft der Züge einen Genädarm auf dem
Perron aufzuftelen. — Auf diefes Schreiben erhielt ich am 27. Juli (alfo
nad) länger ald 3 Wochen) folgende vom 23. Juli datirte Antwort: „Auf
Grenzboten IV. 1874, 58
458
Ihre Beſchwerde vom 3. d. M. erwidern wir nad den angeitellten Erörte
rungen Folgended: Wenn Sie fihb am 2. d. M. an den Padmeifter ©.
mit dem Erfuchen gewendet haben, Ihnen einen Polizeibeamten zu verfchaffen
und dadurch zur Arretur eined Meifenden behilflih zu fein, der genannte
Beamte ſich aber nicht fofort willfährig gezeigt hat, fo bedauern wir, nad
dem wir Ihre Darftellung gelefen, zwar, daß G. Ihnen nicht mehr zu Willen
gewefen ift, noch Sie fofort an den bei Ankunft und bei Abgang jedes Zug
auf dem Perron anmefenden, an einer rothen Müse Eenntlichen Vertreter der
Bahnhofsinfpection, zu deſſen Obliegenheiten das Schlichten unter Paſſagieren
audgebrochener Differenzen gehört, gemwiefen bat, Fönnen aber dem Erfteren
feinen befondern Vorwurf machen, well er im Momente der Ankunft des
Zugs durd) feine Dienitgefchäfte ftarf in Anfprudh genommen, übrigens aber
auch gar nicht in der Rage war, zu erfennen, worauf der von einem Paſſagier
ausgeſprochene Wunfch auf Verhaftung des anderen beruhte, Diefer Beamte
hat zu Protokoll erflärt, Sie hätten, auf ihn zufchreitend, in heftigem Ton
zu ihm gefagt: „VBerfchaffen Sie mir einen Genddarm!* und auf feine
Frage: „Meshalb ?* hätten Ste erwidert: „Das geht Sie nicht? an, Sie
dummer Menſch!“ Darauf mögen nun allerdings auch feine Yeußerungen
den Ausdrud des Unmillend angenommen haben. — Er gibt nämlich zu, auf
Ihr wiederholtes Verlangen, Ihnen einen Polizeibeamten zu verfchaffen, ge
antwortet zu haben: „Nun, da fuchen Sie fich felbft einen“ und, auf hr
Drängen nad) Nennung feined Namens, fi mit den Worten: „Denken Sie
denn, ich bin Ihr dummer Junge?“ entfernt zu haben. — Wir mißbilligen
beide YAeußerungen, weil wir genöthigt find, unfere, wenn auch noch fo fehr
geplagten Zugsbeamten auch dann zur Höflichkeit anzuhalten, wenn fie
von Gebildeten oder Ungebildeten öffentlich beleidigt werden.
— Dagegen verwahrt ſich G. entfchieden gegen die Behauptung, daß er mit
Beziehung auf Sie gefagt habe: „Ich denke, der Herr ift befoffen“ und will
vielmehr mit den Worten: „Es ift jemand betrunfen gemefen“ den entfommenen
Auheftörer genannt und die muthmaßliche Urfache des Streites bezeichnet
haben. — Die legtere Auffafjung wird von dem zugegen gemefenen Gensdarmen
Glement mit dem Bemerfen beftätigt, daß aus dem ganzen Benehmen ©.
erfichtlich gemefen, mie er Ihnen durchaus nicht habe zu nahe treten wollen.
Das gemäß $ 71 des Bahnpolizeireglements für das deutfche Reich auf jedem
- Bahnhof audliegende, dem Publikum ftetö zugängliche Beſchwerdebuch befindet
fih in der Verwahrung der Bahnhofdinfpection, deren Vertreter, mie ſchon
erwähnt, bei Ankunft und bei Abgang jedes Zuged auf dem Perron am
wefend ift und auch im vorliegenden Falle anmwejend war. Wir können nicht
annehmen, daß Ihnen irgend eine Schwierigkeit zur Erlangung dieſes Buches,
über welches der Zugführer gar Feine Dispofitionsbefugnig hat, gemacht
459
worden fei. SHiernach allenthalben bietet und der ganze bedauerliche , Vorfall
zu einem Ginfchreiten gegen G. — dem übrigend von feinen unmittelbaren
Vorgefegten bezüglich feiner Artigkeit gegen jedermann das beite Zeugniß ges.
geben wird, Feine Beranlaffung. — Ob die fönigliche Polizeidirection Ihrer
Unfiht, es fei bei Ankunft eines jeden Zuges ein Genddarm auf dem
Perron aufzuftellen, beipflichten würde, laſſen wir dahingeftellt fein. Gegen
und hat bis jest noch niemand folhen Wunſch ausgeſprochen.
Dredden, am 23. Juli 1873. Königliche Generaldirection der
Herrn Dr. phil. Mar Krenfel fächfifchen Staatdeifenbahnen.
bier. Freiherr v. Biedermann.
Als ich diefen Beſcheid gelefen hatte, war ich um eine Erfahrung reicher.
Bid dahin hatte ich ed nämlich nicht für möglich gehalten, daß ein Collegium,
in dem, um mit Philipp zu reden, das juriftifche Element außerordentlich
überwiegt, fo leicht durch eine Ausſage zu täufchen fei, welche dad Gepräge
der Unmwahrfcheinlichfeit an der Stirn trägt. Selbſt wenn mir die Fönigliche
Generaldirection die Rohheit zutraute, welche fi in der mir von G. ange:
dichteten Aeußerung befundet, hätte fie mich doch nicht für fo unklug halten
jolen, einem Beamten eine derartige Beleidigung, die für mich leicht unan—
genehme Folgen haben konnte, an einem öffentlichen Orte und vor vielen
Zeugen ind Geficht zu fohleudern. Und das Eonnte fie fih wohl aud) fagen,
daß ein gebildeter Mann, einem Beamten, den er um Beiftand angeht, nicht
in demfelben Augenblide durch ganz unmotivirte Grobheiten, die Neigung,
diefem Verlangen zu entjprechen, gründlich benehmen wird. Wie endlich die
Öeneraldirection, nachdem fie fih um meine vier Zeugen nicht im Geringften
gefümmert hatte, von „angeftellten Erörterungen“ fprechen fonnte, war mir
gleihfalld nicht völlig verftändlih. — Der denkwürdige Befcheid wurde zu-
nähft von diefen vier Zeugen durch folgendes Schreiben beantwortet:
„An die Eönigliche Generaldirection der ſächſiſchen Staatseifenbahnen hier. —
Die königliche Generaldirection hat auf die Befchmerde des Herrn Dr. Krenkel
vom 3. Juli d. J. eine Antwort ertheilt, welche und, die ergebenft Unter
zeichneten, ald Augenzeugen de3 in dem gedachten Schreiben berührten Vor:
falles zu nachftehender Erklärung veranlaßt: Wir find bereit, die und be-
fannte Sachdarftellung des Herrn Dr. K., jeder an feinem Theile, mit unferm
Zeugnifje zu vertreten. Ja, diefe Darftellung läßt, weit entfernt, irgendwie
zu übertreiben, dad Benehmen des Packmeiſters G. in noch zu mildem Lichte
eriheinen, wie denn 3. B. in derfelben nicht ausdrüdlich erwähnt ift, daß ©.
Herrn Dr. K. verfpottend, die Stimme desfelben in carrifirender Weiſe nachge—
ahmt Hat. Wir laffen dahingeftellt, ob G.'s Unmwillfährigkeit durch die Behaup:
tung genügend entſchuldigt wird, daß derfelbe im Momente der Ankunft des
Zuged durch amderweite Dienftgefchäfte ftark in Anfpruch genommen gemwefen
460
fei. Das aber können wir bezeugen, daß derjelbe kurz nach Ankunft ded Zuges
und zwar no vor dem Entkommen ded Excedenten im Gefpräche mit an-
deren langfam den PBerron einherfchritt, überdies leuchtet ein, daß er in der
felben Zeit, in welcher er Herrn Dr. K. eine Reihe außmeichender Antworten
gab und ihn an den „Zugführer“ verwies (eine Aeußerung, deren fih Dr. F.
mit Beftimmtheit erinnert), ihn ebenfo gut an den Bahnhofeinfpector ver:
weifen Eonnte Wenn ©. fagt, daß er nicht in der Rage war, zu erfennen,
worauf der von einem Paſſagier ausgefprohene Wunſch auf Verhaftung des
anderen beruhte, fo können wir dem gegenüber bezeugen, daß Herr Dr. K.
ihm gefagt hatte, er habe für das unanftändige Benehmen jened Ercedenten
eine ganze Anzahl Zeugen. Die von G. dem Dr. K. zugefchriebene Aeußerung:
„Das geht Sie nicht an, Sie dummer Menſch“, ift von Feinem der Unter-
zeichneten gehört worden, obwohl diefelben, mit einziger Ausnahme des erjt
fpäter hinzugefommenen Dr. H. von Anfang an Augen- und Dbrenzeugen ded
Auftritted waren. Zudem wird niemand, der genannten Herrn auch nur ober
flächlich Eennt, denfelben einer fo unmotivirten, rohen Yeußerung für fähig
halten. Wohl aber hat G., während Dr. K. In durchaus höflicher Weife fein
Anſuchen ftellte, von Anfang an kurze und barſche Antworten gegeben und,
nachdem Dr. K. feine Abficht, fich zu beſchweren, geäußert, ihn in höchſt un-
paffender, lauter und grober Weife angefchrieen und ſich den Umitehenden
gegenüber in heftigen MNeden über den Vorfall ergangen. Nicht minder un
haltbar ift die Behauptung G.'s, daß er mit Bezug auf den entfommenen
Ruheſtörer geäußert: „Es ift einer betrunfen gemejen.*“ Im Gegentheil er
innert fih Dr. D. genau, daß feine Worte lauteten: „Sch denke, der Herr
ift befoffen * und wen dieſe Worte galten, ergiebt fih daraus, dag er im
Zufammenhange mit diefer YAeußerung die Stimme des Herrn Dr. 8. in
marfirender Weife nachgeahmt hat, wie die außer Dr. D. auch Dr. %. be
zeugen Fann. — Einen Punkt, den die Fönigliche Generaldirection mit Still-
ſchweigen übergangen hat, fühlen wir uns gedrungen, noch beſonders zu be
tonen, daß nämlih G. nicht nur die Nennung feined Namen verweigerte,
fondern auch hiervon den Gensdarm, welchen Dr. K. fragte, wer diefer Beamte
jet, mit den Worten abmahnte: „Sagen Sie ed nicht!“ — Für die Wahrheit
unferer vorftehenden Ausſagen treten wir ein und find bereit, Herrn Dr. 8.
erforderlichen Falles dur unfer Zeugniß auch weiterhin zu unterftügen.
Sn vorzüglicher Hochachtung zeichnen u. f. w.
Dresden den 22. Auguft 1873.“
Sleichzeitig mit diefer Erklärung ließ ich der Generaldirection folgende
Antwort zugehen: „Die Eönigliche Generaldirection der ſächſiſchen Staatseifen-
bahnen hat auf meine Beſchwerde vom 3. Juli d. 3. eine vom 23. desjelben
Monats datirte Zufchrift an mich gerichtet, melde erft am 27. Juli unmitz
Kr 5 A022 22 .
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telbar vor Antritt einer Reiſe bei mir abgegeben worden ift und von mir erſt
jest nach meiner Rückkehr beantwortet werden kann. ch habe von diefem
Schreiben mit dem allergrößten Befremden Kenntnig genommen. Es war zu
erwarten, daß ein Beamter, der fich gegen einen Reifenden in der beleidigenditen
Weife benommen, alles Mögliche verfuchen werde, um unliebfame Folgen feines
Benehmend von fich abzuwenden. In diejer Vorausſicht hatte id) in meinem
Schreiben vier hochachtbare, in öffentlichen Aemtern ftehende Männer nambaft
gemacht, welche Augenzeugen des gedachten Vorgangs geweſen waren, und
die Fönigliche Generaldirection erfucht, diefe Männer fo wie mich felbft mit
dem betreffenden Beamten zu confrontiren, falld derfelbe eine der von mir
angeführten Thatfachen leugnen folltee — Obwohl nun diefer letztere, Bad»
meiſter G., eine von der meinigen weſentlich abweichende, ihm ungleich günftigere
Darftellung des Sachverhaltes gegeben, fo hat es die fönigliche Generaldirection
doc nicht für geboten erachtet, auf mein Gejuch einzugehen, fondern ihr Ur:
theil über den „bedauerlichen Borfall* lediglich auf den einfeitigen Bericht jene?
Beamten und auf eine Bemerfung ded Gensdarmen E. gegründet, welcher jenem
Vorfalle nur zum geringiten Thetle beigemohnt hat. Während aber die Fönig-
lihe Generaldirection das Zeugnig von vier hochachtbaren Männern als völlig
unerheblich ignorirt, nimmt diejelbe feinen Anftand, auf die Ausſage eine?
Zugsbeamten bin, der laut feines eigenen Zugeſtändniſſes mehrfache Unziem-
lichkeiten gegen mid, begangen hat, die Befchuldigung gegen mich auszu—
Iprehen, daß ich einen ihrer Beamten öffentlich beleidigt habe. — Ich weiſe
diefe Befchuldigung als volljtändig unwahr und unbegründet mit Entrüftung
zurüd. Gegenüber der unbewiefenen und durchaus wahrheitäwidrigen Behaup-
tung G.'s erfläre ich hiermit und bin bereit, jederzeit eidlich zu erhärten, daß
ih weder die Aeußerung gethan: „das geht Sie nicht? an, Sie dummer
Menſch!“ noch irgend einen andern injuriöjen Ausdrud gebraucht habe. Viel«
mehr habe ich mit G. lediglich in den unter Gebildeten üblichen Formen und
in einem höflicheren Tone verkehrt, als derjenige ift, den die königliche General—
direction in ihrem Schreiben gegen mich anzufchlagen für pafjend befunden hat. —
Wenn übrigend die königliche Generaldirection die Unwillfährigkeit G.'s,
mir behufs Feſtnehmung eines Ereedenten Beiftand zu leiften, entjchuldigt
und nur bedauert, daß derfelbe mich nicht an den Vertreter der Bahnhofs—
infpeetion ald den in diefem Falle competenten Beamten gewiefen habe, fo
befindet fich diefelbe in einem offenen Widerfpruche mit den Beſtimmungen
vr $$ 12 und 69 des „Bahnpolizeireglements für die Eifenbahnen im nord»
deutichen Bunde“ *), welde u. a. befagen: $ 72. „Zur Ausübung der Bahn-
polizet find zunächſt berufen und verpflichtet folgende Eifenbahnbe-
*) In Kraft getreten am 1. Januar 1871, veröffentlicht in dem Giſetz⸗ und Berordnungds
blatt für das Königreich Sahfen vom Jahre 1870 ©. 377— 396.
462
amte: 1) der Betriebödirector, beziehungsweiſe der Oberingenieur, 2) der Ober.
betriebäinfpector, 3) die Betriebsinfpeetoren und die Betrieböcontroleure 4) die
Eifenbahnbaumeifter, beziehungsmeife Abtheilungäbaumeifter und Ingenieure,
5) die Bahnmeifter und die Oberbahnmwärter, 6) die Bahn- und Hilfebahn-
wärter, 7) der Bahncontroleur, 8) die Stationdvorfteher, beziehungsmeife
Bahnhofsinſpectoren, 9) die Stationdauffeher, 10) die Stattondaffiftenten,
11) die Weichenfteller, 12) die Zugführer, Badmeifterund Schaffner,
13) die Portiers und Nachtwächter.“ $ 69. „Die zur Ausübung der Bahn:
polizei berufenen und verpflichteten Eifenbahnbeamten ($ 72) find ermächtigt,
jeden Hebertreter der obigen VBorfhriften*), welcher unbekannt
ift und fich über feine Perfon nicht auszuweiſen vermag oder letzteren alles
nicht eine der angedrohten Strafe entfprechende angemefjene Caution erlegt,
deren Höhe jedoch dad Marimum der Strafe in feinem Yalle überfteigen darf,
wenn er bei der Ausführung der jtrafbaren Handlung oder glei nad
derfelben betroffen oderverfolgt wird, vorläufigzuergreifen
und feftzunehmen. Gnthält die ftrafbare Handlung ein Verbrechen oder
Vergehen, fo Fann fi der Schuldige durch eine Gautiondftellung der vor:
läufigen Ergreifung und Feftnahme nicht entziehen.“ — Somit ftand es feine
wegs in dem Belieben des Packmeiſters G., ob derfelbe mich bei Ergreifung
eines Excedenten unterftügen wollte oder nit. Völlig unzutreffend ift es
übrigens, wenn die königliche Generaldirection den Vorfall, welcher den näch—
ften Anlaß zu meiner Berührung mit ©. gab, unter den Gefichtäpunft einer
„zwtfchen Paſſagieren auögebrochenen Differenz“ und eined „Streiteö* ftellt,
während es fich vielmehr um ein von einem Paſſagier ausgegangenes Attentat
auf Anftand und Sitte handelte, welchen wir, meine Freunde und ich, denen
die beiden beleidigten Perſonen gänzlich unbekannt waren, im Intereſſe der
Öffentlichen Ordnung entgegenzutreten und gedrungen fühlten. — Nicht min
der hat ©. gegen ff. Beitimmungen des $ 76 verftoßen: „Die Bahnpolizeis
beamten haben dem Rublicum gegenüber ein befonnened, anftändiged und
foweit die Erfüllung der ihnen auferlegten Dienftpflichten ed zuläßt, mög
lichft rücdfichtsvolles Benehmen zu beobachten und ſich insbeſondere jedes
berrifhen und unfreundliden Auftretens zu enthalten.“ —
Wenn die Fönigliche Generaldirection fich damit begnügt, G.'s Unwillfäh—
rigfeit zu „bedauern“ und feine gegen mich gethanen Aeußerungen zu „miß
billigen“, fo entfpricht dies keinesfalls den Anforderungen des ebenge
dachten Paragraphen: „Unziemlichfeiten find von ihren Vorgeſetzten jtreng
*) Folglih aud des $ 64, welcher Tautet: „Wer die vorgefchriebene Drdnung nicht bes
obachtet, fich den Anorduungen der Bahnpolizei nicht fügt oder fih unanftändig benimmt,
wird gleichfalls zurüdgewiefen und ohne Anſpruch auf den Erſatz des gezahlten Perfonengelded
von der Mits und Weiterreife ausgefchloffen.“
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zu rügen und nöthigenfalld dur Ordnungöftrafe zu ahnden.“ —
Andere in dem Schreiben der königlichen Generaldirection enthaltene Un
rihtigfeiten zu beleuchten, fehe ich mich hier um fo weniger veranlaft, ala
derfelben gleichzeitig mit diefem Briefe eine Zufchrift der vier früher genannten
Herren zugehen wird, aus welcher fie entnehmen kann, daß meine Darftellung
der Sache, weit entfernt, irgendwie zu übertreiben, hie und da noch zu mild
gewefen ift, mie ich denn 3.3. nicht ausdrüdlich erwähnt habe, dag G. mich
verfpottend, in carrifirender MWeife meine Stimme nachgeahmt hat. — Wenn
(hließlih die königliche Generaldirection erklärt, daß ihr „hiernach allent-
halben der ganze bedauerliche Vorfall zu einem Einfchreiten gegen G. feine
Veranlaffung biete”, jo wird die Gegenbemerfung geftattet fein, daß bei einem
jo ungewöhnlichen, den anerfannteften Rechtsgrundſätzen mwiderfprechenden
Verfahren, bei welchem die Ausfagen des Angeklagten allein ald maßgebend
betrachtet und die gemichtigften Belaftungszeugen nicht einmal gehört worden,
überhaupt jelten oder nie ein wie immer „bedauerlicher“ Vorfall zum Ein»
fhreiten gegen einen Beamten Beranlafjung bieten dürfte Dann fordert aber
die Rüdficht gegen das reifende Rublicum, dasfelbe von diefem Verfahren in
Kenntniß zu feßen, denn niemand wird ſich zu den Opfern an Zeit, Mühe
und Aerger, welche mit Anbringung einer Beſchwerde verbunden zu fein
pflegen, leicht entfchließen, wenn er meiß, daß derfelben eine Behandlung zu
Theil wird, beit welcher der Vortheil fo überwiegend auf Seiten ded An—
geflagten und mit größter MWahrfcheinlichkeit vorauszufehen tft, daß diefer im
Wefentlihen entjchuldigt oder gerechtfertigt au8 der Unterfuhung hervorgehen
werde. — Selbftverftändlich werde ich bei der Entfcheidung der Föniglichen Gene—
raldirection nicht Beruhigung faflen, fondern habe bereitd einen Advocaten mit
Einleitung weiterer Schritte behufs Wahrung meines Rechtes beauftragt.
Ueberdie® behalte ich mir vor, die ganze Angelegenheit in weitverbreiteten
Organen der deutfchen Preſſe zu veröffentlichen und dabei auch dem Antwort-
ſchreiben der königlichen Generaldireetion diejenige Kritik angedeihen zu lafjen,
auf welche dasſelbe vermöge feined Inhaltes wie feined Tones berechtigten
Anſpruch hat.
Dresden, am 25. Auguft 1873. Mar Krenfel, Dr. phil.
Da die Generaldirection fich nicht bewogen fand, auf die beiden vor-
ftehenden Schreiben eine Antwort zu ertheilen, fo erhob ich gegen den Pack—
meifter ©. die Anklage wegen Beleidigung, Im feften Bertrauen auf die
Güte meiner Sache begnügte ich mich mit Abhörung von zmei Zeugen, um
den anderen eine Mühe zu erfparen. Der Richter erfter Inſtanz erklärte
bierauf, daß er nicht die volle rechtliche Ueberzeugung von der Schuld des
Angeflagten gewonnen habe, und fprach denfelben klagfrei. Wer unfer
Gerichtäverfahren kennt, wird ein erftinftanzliches Urtheil nicht für unfehlbar
nz *
164
halten und es begreiflich finden, daß ich Einſpruch erhob. In der öffentlichen
Verhandlung, welche am 27. Februar d. J. vor dem kgl. Bezirksgerichte in
Freiberg ſtattfand, ließ ich durch meinen Anwalt erklären, daß es mir nicht
ſowohl auf eine ſtrenge Beſtrafung des Angeklagten, als vielmehr auf das
einfache „Schuldig“ ankomme und beantragte Vervollſtändigung der Beweis—
aufnahme mittelſt Abhörung der zwei noch rückſtändigen Zeugen. Ich hatte
die Genugthuung, daß die fünf Richter zweiter Inſtanz, ohne auf dieſen An—
trag einzugehen, alle Klagepunkte für bewieſen erachteten und in einem
gründlich motivirten, die Aufſtellungen des Vorderrichters allſeitig widerlegenden
Erkenntniſſe das Urtheil fällten, daß G. gemäß $ 185 des Reichäftrafgefeh-
buches mit einer Geldſtrafe von drei Thalern zu belegen und die Koſten der
Unterſuchung zu bezahlen, mir aber gemäß $ 200 die Befugniß zuzuſprechen
jet, die Verurtheilung des Privatangeklagten auf deſſen Koften in einem
Dresdner Rocalblatte befannt zu machen. *)
Nachdem fo durch richterlihen Spruch entfchieden war, wer Recht, wer
Unrecht habe, theilte ich der Generaldirection dieſes Erkenntniß brieflich mit,
in der Erwartung, daß diefelbe mir wegen ihrer Antwort auf meine Be
ſchwerde ihr Bedauern ausdrüden und G. zu mir ſchicken werde, um mid
wegen der mir zugefügten Beleidigungen um Berzeihung zu bitten. So
handelte wenigſtens die Direction eines hiefigen Dienftmanninftitutes, nachdem
id) einen ihrer Reute, von dem ich überwortheilt worden, zur Anzeige gebradt
hatte. Sch würde in diefem Falle wahrfcheinlih von der Veröffentlichung
des Urtheild gegen G. und meiner Verhandlungen mit der Generaldirection
abgejehen haben. Allein ich hatte von letzterer zu viel erwartet. Da fie
beharrlich ſchwieg, machte ih zunädft in Nr. 81 des „Dresdner Unzeigerd“
das obige Urtheil befannt und gab etwa 7 Wochen fpäter im Anſchluß an
Philipp’3 bereitd erwähnte Kritik eine kurze Darftellung der Angelegenheit
in der „Dresdner Preſſe“ (Nr. 126). Jetzt endlih fand fi die General.
direction veranlaßt, aus ihrem Stillichweigen heraudzutreten. In Nr. 129
der genannten Zeitung erjchien nämlich folgende, nach Mittheilung des Nedac-
teurd auf diefe Behörde zurüczuführende Entgegnung:
„Sn Bezug auf die in Nr. 126 d. BI. abgedrudte, gegen die General:
direction der Staatdeifenbahnen gerichteten Artifel des Heren Dr. Krenkel be
merfen wir auf Grund erhaltener Auskunft, daß der Genannte den an die
*) Zn dem Erkenntniſſe 2. Inftanz iſt ausdrüdlich gejagt, daß „ſowohl das Benehmen als
die Ausdrüde des Pıivatangeklagten geeignet waren, den Privatanfläger vor den Augen dei
Publitums lächerlich zu machen und an feiner Ehre zu kränken, und daß der Privatangefläglt
ſich deſſen bei feiner vorfäglihen und rechtäwidrigen, weil dem Privatanfläger gegenüber
völlig unbefugten Kundgebung bewußt fein mußte.“ ferner befennt dad Gericht den Gindrud
gewonnen zu haben, „ald babe es der Privatangellagte bei dem fraglichen Borfall an dem
guten Willen, dem Publikum gegenüber zuvorfommend zu fein nicht unmerklich fehlen laſſen.“
465
Deffentlichkett gebrachten Vorfall vermieden haben dürfte, wenn er nicht an
den vor Allem zur Bedienung auöfteigender Paſſagiere verpflichteten
Schaffner ein Verlangen gerichtet hätte, welches diefer abzulehnen bemchtigt
war und welches au im $ 72 des Bahnpolizeireglements feine Begründung
nicht findet. Auch ift die Sache vom Gerichte erfter Inſtanz zu Gunften des
Schaffners entfhieden morden, alfo zweifelhaft gemefen. Im MUebrigen
hat und die Generaldirection ihre Bereitwilligkeit erklärt, jedem, der an der
Sache perfönlich intereffirt ift, Näheres mitzutheilen.“
Dürftiger ift wohl kaum jemals eine amtliche Vertheidigung in öffentlichen
Blättern ausgefallen. Erftlich ſcheint die Generaldirection ein ziemlich kurzes
Gedächtniß zu haben, wenn fie ihren Beamten G., den fie in dem Beſcheide
auf meine Befchwerde noch ganz richtig als Packmeiſter bezeichnet, jest auf
einmal zum Schaffner degradirt. Zweitens wird durch diefe Degradation
an der Schuld G.s nicht das Geringfte geändert, denn nach $ 72 des Regle—
ment? (j. oben) find neben den Zugführern und Wadmeiftern auch die
Schaffner „zur Ausübung der Bahnpolizei zunächft berufen und ver-
pflichtet“. $ 75 lautet: „Die Bahnpolizeibeamten werden von der compe-
tenten Behörde vereidet. Sie treten alddann in Beziehung auf die ihnen
übertragenen Dienftverrichtungen dem Publikum gegenüber in die Nechte der
öffentlichen Polizeibeamten“ und nad $ 77 erſtreckt fich „die Aufmerf-
jamfeit der Bahnpolizeibeamten auf die ganze Bahn und die dazu gehörigen
Anlagen‘. Wenn endlich die Generaldireetion wirklich fo bereitwillig ift,
jedem an der Sache perfönlich Intereffirten Näheres mitzutheilen, wie kommt
es, daß diefelbe den mehrerwähnten vier Augenzeugen, welche nächſt mir in
erfter Linie an der Sache intereffirt waren und died durch ihre gemeinfchaft-
liche Erklärung zur Genüge befundet hatten, bi8 auf den heutigen Tag mit
feiner Silbe geantwortet hat?
Bald nad Beröffentlihung meine? Artikels hatte ich Gelegenheit, zu
bemerken, daß mein Vorgehen gegen die Fgl. Generaldirection ſich der unge
theilten Zuftimmung de Publikums erfreue.. Bon vielen Seiten wurde mir
warme Anerkennung und der Wunfch audgefprochen, daß mein Beiſpiel Nach—
ahmung finden möge, da e3 dann in mander Hinficht beffer ftehen würde.
Selbft höhere ſächſiſche Bahnbeamte bezeugten mir ihren Unmillen über den
Beicheid der Bahndirection und ihre Befriedigung über die derfelben von mir
zu Theil gewordene Zurechtweifung und ein ihre nicht fern ftehender Mann
äußerte: „Uns thäte ein Lasker dringend noth!“ Wenn e8 aber unzweifel—
haft ift, daß meine Beſchwerde feitend der Generaldirection nicht die ihr ge-
bührende Berüdfichtigung gefunden hat, fo erfordert doch die Billigfelt,
ſchließlich noch zu fragen, ob bei Beurtheilung des Verfahrens diefer Behörde
nicht etwa mildernde Umftände in Betracht Fommen. Diefe Frage glauben
©renzboten IV. 1874, 59
466
wir minbeftend in Bezug auf den Unterzeichner jenes Befcheids, Freiherrn
v. Biedermann, unbedenklich bejahen zu dürfen, wenn wir den Umfang und
die Melfeitigfeit feiner außerordentlihen Thätigkeit ind Auge faflen. Herr
v. Biedermann tft nämlich, wenn wir feinem Selbftzeugniffe Glauben ſchenken,
ein Sprachkenner und Riterarhiftorifer, der feine® Gleichen fucht. Hören wir
ihn felbft: „Es mangelt noch an einer allgemeinen Darftellung der Formen
der Dichtkunft, wodurch das biftorifhe Vorkommen jeder der verfchiedenen
Formen, die geographifche Verbreitung derfelben, die Mannichfaltigkeiten in
ihrem Auftreten und ihrer Ausbildung, forte dad Weichen der einen Yorm
vor der andern durch vergleichende Betrachtung in möglichſt vollitändigem
Umfange nadhgemiefen wird. Ein ſolches ebenfo für die allgemeine Eultur-
gefchichte wie für die Erfenntnig des gefchichtlichen Begriffes der Dichtfunft
wichtiges Werk hat mir ſchon feit Jahren ald verlodende Aufgabe vorge
Ihwebt und es liegt ein ziemlich reicher, von mir gefammelter
Stoff mit den Dihtungen aud etwa 200 Spraden und Mund»
arten (ungerehnet die allein faft ſchon dreimal fo ftarf vers
tretenen germanifchen) vor mir, doch fehlte mir immer noch die Muße,
ohne melde das Drdnen und Geftalten 'deäfelben nicht möglich tft.“ Und
im weiteren Verlaufe ded Aufſatzes, der durch diefe Worte eingeleitet wird”),
weiß und Herr v. Biedermann nicht nur von Römern und Griechen, fondern
auch von Juden, Aegyptern, Phöniciern, Syrern, Arabern, Perſern, Arme
niern, Indern, Siamefen, Birmanen, Chinefen, Malaten, Mongolen, Mand
ſchus, Kalmüden, Kirgifen, Finnen, Efthen, Zappländern, Grönländern, Oft:
jafen und den poetifchen Reiftungen diejer Völker zu erzählen. Daß die bei
einer folchen Arbeit in Frage fommenden Studien, wenn fie anderd gründlich
betrieben werden, höchft zeitraubend find, wird fein Sachverftändiger leugnen.
Und Gründlichfeit darf man doc wohl bei einem Manne vorausſetzen, der
über einen Gelehrten von Herder'd Verdienften mit beneidenswerthem Selbft-
gefühl alfo urtheilen kann: „Herder, der in feinen Unterfuchungen über vorge
Ihichtliche Erfeheinungen immer mehr den getftreichen Gebildeten als den gründ-
lihen Sachkenner und Forfcher verräth“.“) Darf man einem folchen Manne
zumuthen, daß er feine Eoftbare Zeit damit verliere, unerquicliche Befchwerden
*) „Der Parallelism in der Dichtkunft“ im Johannes» Album herausgegeben von Ft.
Müller, Bürgermeifter zu Chemnitz. Zweiter Theil S. 70 ff.
») a. a. O. S. 73. Freilich bat der „geiftreiche Gebildete" Herder nicht fo wunderſame
Entdeckungen gemacht, wie der „gründliche Sachfenner und Forfcher“ v. Biedermann, ber in
feinem Buche „Goethe und Leipzig (Th. 1 ©. 28) die Bibel „von einer Quelle erzählen“
läßt, „melde dem Unfhuldigen wohl betommt, den Schuldigen aufbläht und berfien mad.”
Diefer Fabel ſcheint eine dunkle Erinnerung an das Gefep 4. Mof. 5, 12— 31 zu Grunde
zu liegen, über welches fih Herr von Biedermann aus Schenkel's Bibellerifon (Art. Fluch
waſſer) Belehrung erholen kann. Auch in Betreff der Behandlung feiner Mutterfprache dürfte
ed der jo abfällig beurtheilte Herder recht wohl mit Herrn v. Biedermann aufnehmen, det
467
des reifenden Publikums eingehend zu erörtern? Wenn aber dies billiger
mweife von Heren v. Biedermann nicht zu verlangen ift und gleihmwohl das
Rublitum ein Recht darauf hat, daß feine begründeten Beſchwerden nicht
kurzer Hand abgewiefen, fondern nah Gebühr berüdfichtigt werden, was foll
dann gefchehen? Wir meinen, dieſes Dilemma löſt fih am einfachſten da-
duch, daß das Finanzminifterium, al® die Herrn v. Biedermann vorgefeste
Behörde für ihn ein gutes Wort bei dem Cultusminiſterium einlegt und
dieſes letztere ihn vecht bald in eine Profeſſur der vergleichenden Riteratur.
geſchichte an der Univerfität Leipzig beruft, der ein Mann von feinen Kennt»
niffen nur zur Zierde gereichen wird. Damit erhält er die erwünſchte Muße
zum Ordnen und Geſtalten feines reichen Stoffed und fann endlich die ge»
lehrte Welt mit dem Werke befchenfen, das ihm ſchon feit Jahren ald eine
lofende Aufgabe vorſchwebt. Seine Stelle wäre dann mit einem weniger ges
(ehrten und vielfeitigen Nachfolger zu befegen, der eben vermöge feined be»
ſchränkteren geiftigen Horizontes mehr Zeit und Neigung hätte, fih mit fo
unerquidlichen und profaifchen Dingen, wie Bejchwerden des Publikums find,
zu befaffen. Daß ein Eifenbahndireetor Iiterargefchichtliche Unterfuchungen
anitellt und etwa 200 fremde Sprachen verjteht, ift nicht nöthig daß er aber
die wohlbegründeten Bejchwerden gebildeter Reijender genau unterfucht und
ihnen gegenüber die Sprache zu reden verjteht, die man ſonſt von Behörden
des 19. Jahrhundert? zu hören pflegt, das ift allerdings nöthig.
Mar Krenkel.
Fine nee Ausgabe von Zeremias Hofthelf.
Die Grenzboten haben ſchon mehrfach eine Lanze eingelegt für den fein
Volk fo treu wiederfpiegelnden und doc im Volk noch nicht genug gefannten
und gemürdigten Dichter des Schweizer Dorfes, Jeremias Gotthelf.
Eine Lanze eingelegt — denn von namhaften Kritikern iſt's dem guten
Randprediger ſchon gar oft herzlich ſchlecht ergangen, hat doch ihre äſthetiſche
Gnträftung ſogar fhon im Namen der beleidigten Geruchänerven Proteft ein:
gelegt gegen die Atmosphäre der Gotthelf'ſchen Schriften.
j. B. in dem nur erwähnten Buche die Präpofition „wegen“ mit dem Dativ verbindet („wegen
Ittthüm ern“, Ih. 1 ©. 50), einen jungen Mann „nah forgfältig genoffener häuslicher
Erziehung” auf die Hochſchule geben läßt (Tb. 1 &. 185) und folgende ganz der „Dresdner
Nachrichten” würdige Participialconftruction leiftet: „Nur beiläufig bemerfend, daß unter
dem beftellten Papier fogenanntes Unterfagpapier, zum Aufziehen von Kupferflichen verftanden
war, find dagegen die thätigen Söhne Weigel’d näher zu beachten.“ (Th. 2
€. 170.)
468
Auch feine Verehrer (und wir befennen und hiemit öffentlich zu diefen)
können den derben, oft verlegenden Realismus aus Gotthelf's Werfen nicht
hinweg läugnen, aber wenn feine Erzählungen und Verhältniffe und Menjchen
vorführen, die in ihrer rohen Natürlichfeit namentlich das verfeinerte Gefühl
des Städters beleidigen, fo liegt died an dem Volk, das er ſchildert und nicht
an dem Dichter.
Die Nachkommen jener Bauern, die bei Morgarten Felsblöcke herab:
mwälzten auf den anziehenden Feind, fallen auch heute noch weder das Leben,
no ihre Gegner mit Glaeé ⸗Handſchuhen an, oder, um die engere Heimath
der Gotthelf'ſchen Geftalten nicht zu verlafen, die Söhne jener Männer und
Frauen, die zu Ende des letzten Jahrhunderts mit Senfen, Drefchflegeln,
Heugabeln bewaffnet, fid) der „großen Nation“ entgegen werfen und im ver
zweifelten Einzelkampf den Apofteln der Givilifatton unterliegen, find auch
heute noch durchaus unfchuldig an Europens übertündhter Höflichkeit.
Mit Entfchiedenheit aber müſſen wir den Vorwurf zurückweiſen, daß
Gotthelf mit Vorliebe nur die Ausschreitungen diefed Volksgeiſtes ſchildert.
Gerade dur Gotthelf mag der Deutſche den feften, gefunden Kern erfafjen
lernen, den die rauhe Hülle birgt, und der allerdings auf der vielgetretenen
Heerftraße des alljährlichen Fremdenzuges in Höteld, Benfionen, bei Fremden-
führern und Spekulanten nicht oder fehr felten zu finden ift.
Die innere Tüchtigkeit de8 Schweizer Landvolks, feinen urgefunden
Humor, fein treued Zufammenhalten und Sichgegenfeitigaushelfen meiß gerade
Gotthelf zu fohildern wie fein Andrer und in der durchaus urwüchfigen Um—
gebung weiß doch auch Gotthelf Lieblihe und finnige Geftalten erftehen zu
laffen, die faft fremdartig aus dem rauhen Rahmen fi abheben (Erdbeeri-
Mareilt, Anneli in der Käſerei auf der Vehfreude u. ſ. w.), oder die dur ihre
Fülle von fchlichter Kiebesfraft ihren ganzen Kreis erwärmen und empor
heben zu ihrer unbewußten Größe.
Sol eine Geftalt ift Kätht, die Großmutter, die arme, alte Frau bie
um 7%, Thaler halbjährliche Zinfen fih Monate hindurch abquält, und bie
verzmweifelnd dem Winter entgegenblict, da die Kartoffeln mißrathen.
Diefe Käthi ift nicht nur die Infaifin ihres Heimathsdorfes. In ihrem
aufopfernden, mütterlihen Wirken, in ihrer fo durchaus unpädagogifchen und
in ihrer Qebenswahrheit fo rührend gefchilderten Erziehung oder vielmehr
Berziehung ihres Enkels ift fie das prächtigfte Urbild aller prächtigen Groß
mütter, „fo weit die deutfche Zunge Klingt”.
Die BVerlagshandlung von Julius Springer bietet diefe einzelne Et—
zählung in neuer, mohlfeiler Auägabe, fo recht als ein Volksbuch dem Volke.
Und zwar find im Auftrag des Unternehmers all die eingeitreuten, politiſchen
Abhandlungen, die nur der Zeit galten, in der die Erzählung gefchrieben
469
wurde, und die jest dem größeren Publikum fremb und beinahe unverftänd-
(ih gervorden, von berufener Hand, dem Volkäfchriftiteller Ferdinand Schmidt,
in pietätvoller Weiſe ausgefchieden worden.
Es iſt damit ein Haupthindernig der allgemeinen Verbreitung Gotthelf:
[her Werke aus dem Mege geräumt, und ein kurzes, einführendes Wort ver-
ipriht, daß diefem erften Band bald weitere Erzählungen folgen follen, die
in gleicher MWeife für das Verftändnig der Jetztzeit bearbeitet werden.
Jeder Freund einer fräftigen und gefunden, geiftigen Nahrung fann dem
Unternehmen nur den beiten Fortgang wünſchen. B. 2.
Vom deutfhen Reichstag.
Berlin, den 13. Dezember 1874.
Es find zunächſt die Vorgänge feit dem 27. November nachzuholen, an
welchem die erfte Refung der Juſtizgeſetze fchloß.
Wir brauchen die Situng vom 28. November nur flüchtig zu erwähnen.
Ste befchäftigte fih mit der erften und zmeiten Leſung des Vertragd zur
Gründung eine? allgemeinen Poftvereind, mit einer Snterpellation von Schulze.
Delitzſch, betreffend die Geſetzgebung über die Arbeiterflaffen, mit der erften
Leſung eines Gefeged über die Ausdehnung des Reichsgeſetzes betreffd Quar-
tierleiftung, mit der erften Berathung des Haushaltes der unmittelbaren
Reichslande. Die erfte Berathung des letzteren Gegenftandes erftredte fich in
die Sisung vom 30. November hinein, wo fie dem Netchäfanzler Anlaß gab,
auf die erheuchelten Beſchwerden der Elerifalen Abgeordneten aus den Reichs—
landen Einiges zu erwidern. Der Kern der Ermiderung lag, mie ed nicht
anderd fein Eonnte, in der Wiederhofung einer bereit in der vergangenen
Reichstagsſeſſion an die Vertreter der Reichslande gerichteten Erklärung. Die
frühere Erklärung lautete: „Wir haben Ste nicht erobert, um Ste glüdlich
zu machen.“ Wie wirkungsvoll der Kanzler wiederum ſprach, fich felbft über-
treffen Eonnte er nicht, obwohl man diefe Rede zumelilen anwendet, wenn
Jemand feine Sache erſt fo gut macht, wie er kann. — Das Haushaltsgeſetz
für die unmittelbaren Reichdlande wurde einer Commiſſion übermwiefen, und
der letzte Theil der Sigung dem Abſchluß technifcher Vorlagen gewidmet.
Am erften Dezember gelangte der Gefetentwurf, betreffend die Aufnahme
einer Anleihe für Zmede der Marine und der Telegraphenverwaltung zur
erften Berathung. Diefe Vorlage wird an die Budgetcommiffion überwieſen,
470
und die gefammten Ausgaben für die Marine werden nachträglich auf den-
felben Weg verwiefen, während fie erft zu denjenigen Theilen ded Reichshaus—
haltes hatten gehören follen, deren zweite oder Einzelberathung der Reichs—
tag ohne Kommiffion im Plenum vornimmt. Die zweite Xefung der zur
unmittelbaren Berathung im Plenum geftellten Theile des Reichshaushaltes
begann nunmehr, und zwar mit den Ausgaben des Reichskanzleramtes. Unter
diefen Ausgaben erjchien zum erſten Mal die Ausftattung eined neuen Reichs—
juftizamtes unter einem eigenen Director, der aber, wie dag ganze Amt nicht
nur dem Reichskanzler unterftehen, fondern als eine Unterabtheilung dem
Reichskanzleramt angefchloffen werden fol. Diefe Einrihtung veranlapte den
Abgeordneten Lasker zur Miederholung feiner altbefannten Ausführung,
wie wünſchenswerth Reichäminifterien feien, wie der Reichskanzler nicht für
alle Geſchäftszweige des Reiches verantwortlich fein könne, wie derfelbe bei
lebendigem Leibe durch den von feinen menfchlihen Schultern zu tragenden
Umfang der Verantwortlichfeit zu einer Abftraction verflüchtigt werde. Der
Präſident Delbrüd antwortete zunächſt correct aus dem Stand der Sache
heraus, mie er zur Zeit vorliegt. Er fagte im MWefentlichen: eine bejondere
Behörde zur bloßen Vorbereitung der Geſetze ift unfruchtbar, wenn fie nicht
mit der Verwaltung in enger organifcher Beziehung fteht. Deßhalb hat man
für jet das neue Geſetzgebunggamt mit dem Amt der inneren Reichäver-
waltung organifch verbunden. Wenn die große Reichsreform der deutſchen
Suftiz durchgeführt fein wird, dann wird vielleicht eine Reichsjuſtizverwaltung
erforderlich, und dann kann für diefe und die Vorbereitung der Geſetze ein
jelbftftändiges Juftizamt errichtet werden. Jetzt ift e8 noch nicht an der Zeit.
Die Ausführung ded Abgeordneten Lasker hatte jedoch die perfönlide
Stellung des Kanzlerd wieder zu fehr zum Augenmerk genommen, ala daf
diefer mit der aus der augenbliclichen Sachlage geſchöpften Erwiderung, wie
fie Präfident Delbrüd gegeben, fich hätte begnügen dürfen. Er ergriff auf
feinerfeit® das Wort über einen Gegenftand, den er nicht zum erften Mal
behandelte. Sehr erinnerlich ift die ausführliche Nede, welhe er am 16. April
1869 im Reichstage des Norddeutihen Bundes über dadfelbe Thema hielt,
wo der Abgeordnete Tweſten bereitd den Antrag auf verantwortliche Bunded-
minifterien, namentlich für auswärtige Angelegenheiten, Krieg, Marine,
Finanzen und Handel geftellt hatte. Die damalige Ausführung des Kanzlerd
gipfelte in der befannten Verurtheilung der collegtalifhen Minifterverfafung,
wie fie in Preußen befteht. Später iſt der Kanzler auf dasfelbe Thema am
10. Februar 1870 durd den Vergleich der preußifhen Minifterien mit acht
Bundesftaaten in draftiicher Weife zurückgefommen. Dagegen haben nun
feine diegmaligen Aeußerungen bet einem Theil der Tiberalen Partei große
Befriedigung erweckt, obwohl wir nicht finden können, daß er irgend etwas
471
die früheren Aeußerungen Modificirended gefagt, denn ſchon am 16. April
1869 fagte er dem Abgeordneten Lasker, daß es ihm auf ein halb Dutzend
Miniftertitel nicht anfomme, wenn in dem verlangten Gefammtminifterium
dem Kanzler die Stellung de3 englifhen Premierminifters, des erften Schab-
lords, wie er dort heißt, eingeräumt werde. Diesmal geftand er die Noth«
wendigfeit unummunden zu, für die großen Geſchäftszweige ded Reiches ber
fondere Aemter mit eigenen Vorftänden zu bilden, die auch den Namen
„Minifter* führen Eönnten. Aber er verlangte wiederum, wie früher, den
maßgebenden Einfluß des Kanzlerd, er befämpfte wiederum, mie früher, den
Shluß von der Unmöglichkeit der allfeitigen techniſchen Verantwortlichkeit
des Kanzlerd auf die Unmöglichkeit der umfaſſenden moralifchen WVerantwort-
lichkeit deöfelben. Dadurch erklärte fih nun der treffliche Lasker äußerſt ber
rubigt, befriedigt und beinah beglüdt. Wir glauben aber der Sache einen
Dienft zu leiften, wenn wir ohne Scheu und mit Nachdruck darauf hinweiſen,
dat diefe fchöne Eintracht ganz und gar auf einem Mißverftändniß beruht.
Selbft Lasker und ein Theil der Nationalliberalen kann fi nichts Schöneres
denken, ald das englifche parlamentarifhe Minifterium mit feinem maßgeben-
den Chef, und fie möchten dem Kanzler um den Hald fallen, daß er ihnen
die Freude macht, fih zu demfelben Ziel zu befennen. Wenn die Herren
aber fi nicht zu fchnell der Freude überlaffen und dafür recht genau zuhören
wollten, würden fie finden, daß der Kanzler doc ein ganz anderes Ziel im
Auge Hat. Er ſeinerſeits hat es am der nöthigen Deutlichkeit nicht fehlen
laffen. Der Unterfchted, der durchſchlagende Unterfchted, liegt in der Art,
wie der maßgebende Einfluß des leitenden Miniſters gefichert werden foll.
Der Kanzler fagte am 1. December: „Es giebt nur zwei Wege. Entweder
ed muß dem Kanzler gegen feine Gollegen ein Entlafjungsreht eingeräumt
werden, und dad verträgt fich nicht wohl mit der Monarchie; oder der Kanzler
muß in fämmtlichen Geſchäftszweigen das Recht der Dberauffiht und der
unmittelbaren Verfügung Haben.“ Dem englifchen Premierminiſter fteht
keines diefer beiden Mittel zu Gebote. Sein Einfluß beruht lediglich darauf,
daß er ald Bindeglied zmifchen der minifteriellen Majorität und dem Minifte-
rtum einen nicht harmonirenden Collegen durh die Drohung zur Nieder
legung bewegen kann, andernfalls feinerfeitd niederzulegen, was die Auflöfung
de8 Minifteriumd bedeutet. Die Stellung des engliihen Premierminifterd
beruht alfo ganz auf der nothwendigen Führung der Majorität durch ein
Blied ded Miniftertumd, welches in der Hegel Premierminifter, und wenn
einmal nicht Premierminifter, tet? die eigentliche Seele ded Minifteriums ift.
Der deutiche Kanzler verlangt dagegen für die Kanzlerftellung den etwaigen
Reihöminiftern gegenüber oder, wie wir fie lieber genannt ſehen würden,
gegenüber den Vorftänden der Reichdämter, ein Uebergewicht der gefeb-
472
lihen Amtscompetenz;. Die Forderung ift durchaus richtig und ſach—
gemäß. Denn wir haben nicht die monarchiſche Organifation der Haupt:
parteien im Parlament und Eönnen fie nicht haben, welche den Führer einer
Hauptpartei zum unumgänglichen Premierminifter macht, neben welchem die
anderen Minifter zurücdtreten, weil fie nicht diefelbe Stellung in der regieren»
den Partei haben. Bei und würde jeder Minifter bei der formell lofen Ber:
faffung des englifhen Minifteriumd feine eigene Partei im Reichstage und,
was noch fehlimmer wäre, im Bundesrath haben. Die Einheit der Reihe.
regierung würde ſich in klägliche Trümmer auflöfen.
Die Stellung des Reichskanzlers findet in der That bisher noch ein
merkwürdig geringes Verftändnig. Der Kanzler ift nad) der Reichsverfaſſung
der vom Kaifer ernannte Vorſitzende des Bundesrathes. Seine erfte und
vornehmfte Aufgabe ift, die einheitliche Action des Bundesraths herbeizu-
führen, eine Aufgabe, die während einer langen Zukunft die erfte Kraft er
fordern wird, welche fich zur Zeit in der Nation befindet. Denn es ift nicht
abzufehen, wie das deutfche Reich jemals eine Action feiner Regierung, alfo
ded Bundesrathes ertragen könnte, die auf planlofen, unzufammenhängenden
Majoritätsbefhlüffen beruht. Wenn der Kanzler aber die Aufgabe vollbringt,
ein einheitliche®, auf der Höhe der Reichsbedürfniſſe ftehended Handeln des
Bundesraths herbeizuführen, fo kann er denfelben Tanz nicht noch einmal
in einem collegialifhen Miniftertum und zum dritten Mal in einem Reich
tag mit von ſich befämpfenden Regierungdeinflüffen zerfegter Majorität an
fangen. Das geht nicht nur über die Fähigkeit, fondern felbft über die Vor
ftellbarkeit menjchlicher Retftungen hinaus. Es genügt auch nicht das eng»
liſche Mittel, daß der Premierminifter das Spiel zeitweiſe abbriht. Denn
ſowie das deutjche Reich nach Innen und Außen beichaffen ift, fteht bei der
Unterbrehung des Spield durch den einzigen Mann, der ed machen fann, dad
ganze Reich auf dem Spiel. England ift in der glüdlichen Xage, wenn man
dag für ein Glüd halten will, daß der Schlendrian fortgeht, ob der Anſtoß
des Staatswagens bald von der Seite, bald von jener kommt. Der deutjche
Staatdwagen, und fo wird ed auf unabjehbare Zeit bleiben, erfordert die
befte und geübtefte Kraft, um fich gehörig zu bewegen, um nit fofort aus
den Geleifen zu gerathen. Das ift unbequem, aber auch ein heilfamer Zwang
zur Selbftbeherrfhung, Weisheit und Anſchauung aller patriotifchen Kräfte,
Wir wollen deghalb die Engländer nicht allzufehr beneiden, vor Allem aber
ihre Einrichtung nicht ungefhidt nahahmen. Mögen die mwohlgefinnten
Männer im Reichstag, welche nicht nur gefonderte Reichsämter verlangen,
was wir vollftändig billigen, fondern an der Spitze derfelben verantwortliche
Reihäminifter, nur ja nicht vergeffen, was dem deutfchen Kanzler dann um
entbehrlih ift: nämlih ein Uebergewicht der gefeglihen Amts
473
—
competenz, nicht aber nur die der Perſon geltende Unterſtützung der Ma-
jorttät, welche in England auf der nicht herüber zu nehmenden Organifation
der PBarteten beruht und melche bei und ald eine Grundlage von Sand fi
erweiſen würde.
Das Uebergewicht der amtlichen Competenz, wie es Fürſt Bismarck am
1. December verlangte, wenn Reichsminiſterien eingerichtet werden ſollten,
beſaß übrigens der preußiſche Staatskanzler, ſolange dieſer Poſten beſtand.
Die Sitzung vom 1. December hat in ziemlich unſcheinbarer, unbemerkter
Weiſe noch einen anderen Gegenſtand, wir können nicht ſagen zum Austrag
gebracht, aber in die Wege des Austrages geleitet, der für das Reichsſtaats—
reht und feine Fünftige Entwidelung mindeftend ebenfo wichtig ift, als die
angeregte Errihtung eined collegialifhen Reichsminiſteriums. Bei der Ab-
flimmung über die Ausgaben des Neichäfanzleramtes, welche diedmal den
eriten zur Befchlußfaffung gelangenden Theil des Reichshaushaltes bildeten,
erklärte nämlich der Präfident von Forkenbeck, er werde, um jeden Zmeifel
zu befeitigen, daß durch die Billigung der Ausgabetitel die Reichsregierung
nit nur an die Titel im Ganzen gebunden werde, fondern an jede einzelne
Pofition, wie fie unter jedem Titel enthalten ift, die Abftimmung nicht titel-
weife, fondern nur pofitionenmweife vornehmen laffen. Diefe Erklärung rief
am Tiſche des Bundedrathes ſtarkes Kopffchütteln, aber Keine beftimmte Er—
Härung der Unzuläffigkeit de3 vorgefchlagenen Verfahren? hervor. Wir un—
jererfeit3 halten mit der Anſicht nicht zurüd, daß dieſes Verfahren den
äußerften Bedenken unterliegt, daß es nicht nur jede Selbftändigfeit der Ver
waltung aufhebt, fondern auch die Tüchtigfeit der Verwaltung ganz ent«
ſchieden gefährdet. Es werden ſich wohl noch Anläfje finden, unfere Anficht
zu begründen. Den Hauptvorwurf aber, daß der Präfident des Neichätages
einen fo gefährlihen Weg einſchlagen Fonnte, müſſen wir diesmal gegen die
Reichdregierung erheben. In dem gegenwärtig dem Neichdtag zum zmeiten
Mal vorgelegten Gefet über die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben
des Neiches findet fih nämlich ein $ 7, deffen zweiter Abſatz folgendermaßen
lautet: „Unter dem Titel eined Spectaletat3 ift im Sinne diefed Geſetzes jede
Pofition zu verftehen, welche einer jelbitftändigen Beſchlußfaſſung des Reichstags
unterlegen hat u. ſ.w.“ Um die Bedeutung diefer Definition zu ermefjen, vergegen-
wärtige man fich, dag der erfte Abſatz des $ 7 alle Mehrausgaben gegen die
vom Reichstage genehmigten Titel der Specialetats ald Etatsüberſchreitungen
bezeichnet, fo weit nicht einzelne folhe Titel ausdrüdlih ala übertragungd-
fähig mit anderen bezeichnet find. Man traut feinen Augen ‚faum, wenn
man jenen zweiten Abſatz lieſt. Wie er lauten follte, tft nicht ſchwer zu
finden. Es follte heißen: „Als Titel eines Specialetatd tft jede Poſition
anzufeben, melde mit Zuftimmung ded Bundesraths — ſelbſt⸗
Grenzboten IV. 1874.
GET
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ftändigen Beſchlußfaſſung des Reichsſtags unterworfen worden.” Daß bie
Worte „mit Zuftimmung des Bundedrath8* fehlen, ift ein Mangel,
für den wir feine Erklärung Haben. Der Reihdtag natürlich thut reiht,
feine Macht fomweit vorzufchieben, als die elaftifche Grenze noch nachgiebt und
Herr von Forckenbeck iſt es nicht, der Tadel verdient, wenn er furzer Hand
aus jeder Pofitton eined Ausgabetiteld durch feine Leitung der Abftimmung
einen jelbititändigen Titel maht. Seine Sorge tft ed nicht, mie mit einer
folhen Zwangsjacke eine große Verwaltung geführt werden Fann; feine
Sorge ift e8 auch nicht, wo die Selbitftändigkeit der Verwaltung bleibt,
die, wenn von fämmtlichen Bofitionen des Haudhaltgefeges bei der über.
mäßigen Specialifirung feine einzige inne gehalten wird, den Reichstag
hundertmal um Indemnität anflehen muß. Im März 1862 hatte im preu—
Bifchen Abgeordnetenhaus der Abgeordnete Hagen bereit3 denfelben Antrag
geftellt, alle zur Information der Abgeordneten beftimmten Bofitionen der
Haushaltävorlage in gejelih bindende Vorfchriften dur den Beſchluß der
Abgeordneten zu verwandeln. Als der Antrag die Majorität erhielt, fürzte
dad Miniftertum der fogenannten neuen Wera. — Sieht man fi in den
Motiven des jebigen Reichsgeſetzentwurfes über die Verwaltung der Ein
nahmen und Ausgaben nach der Begründung des $ 7 um, fo findet man
nur den lafonifhen Sag: „Der Baragraph reproducirt die vom Reichätag im
Sahre 1872 genehmigte Definition der Etatüberfchreitungen.* Das Ber
fahren, welches Herr von Forckenbeck am 1. December eingefchlagen, mird
vermutblich die Wirkung haben, die Reichsregierung, infonderheit den Reiter
der Neichöfinanzverwaltung auf den erwähnten $ 7 nachdrücklich hinzulenken.
Die Ausfihten für das AZuftandefommen des Geſetzes über die Verwaltung
der Reichseinnahmen und Ausgaben noch in diefer Seffton werden durd
diefed forgfältigere Studium kaum gewinnen. Allein diefer Aufichub ift Fein
Unglüd, vielmehr ein Glück, wenn er die richtige Regelung diefer wichtigen
Materie herbeiführt, die auf dem Wege war, gründlich verdorben zu merden.
Sinfofern bat die Meichäregierung nur Urfache, Herrn von Fordenbed
dankbar zu fein.
Die Sisung vom 3. Dezember mit der Berathung des Antrages, "in die
Meichdverfaffung einen Artikel aufzunehmen, welcher für jeden Bundeäftaat
eine Wahlkammer vorfchreibt, übergehen wir. Der Antrag will den Leiden
Heilung bringen, welche Medlenburg durch feine feudale Verfaffung zu tragen
hat. Wir wünfchen diefen Leiden die gründlichfte Heilung, glauben aber nicht,
daß diefelbe vom Neichdtag kommen kann, höchſtens daß die immer wieder-
fehrende Beſprechung des Schadend an den entfcheidenden Stellen die Sache
nicht einfchlafen läßt. — Der Tage ded 4. und 5. Dezember haben mir fon
gedacht. Die Sitzung vom 7. Dezember brachte im Berfolg de Haußhaltd-
475
geſetzes die Beſchlußfaſſung über verfchtedene Ausgaben und Einnahmen, die
Sigung vom 9. Dezember MWahlprüfungen und die eriten Refungen zimeier
Kleinen technifchen Geſetze.
Um 11. Dezember begann die zweite oder Einzelberathung der Ausgaben
des Reichsheeres auf Grund mündlicher Berichte der Budgetcommiffion. Er—
bebliche Streitpunfte haben fih bei diefer Berathung bis zum Schluß nicht
ergeben. Man Fann ſich denken, daß Herr Eugen Richter in den Berathungen
der Commiſſion das Mögliche gethan hat, Anträge zur Annahme zu bringen,
welche den Streit zur Folge gehabt hätten. Er hat aber bereitö in der
Commiſſion fo wenig durchgefegt, daß die Verftändigung mit der Heeres—
verwaltung im Reichstag felbjt wohl nicht fehlen wird. Auf die Einzelheiten
brauchen wir bis jest nicht einzugehen.
Am 12. Dezember gelangte ein Schreiben des Stadtgerichtd, morin die
Einziehung zur Strafhaft des Abgeordneten Majunfe, ded Redakteurs der
„Germania“, dem Reichstag angezeigt wurde, zur Verleſung. Dasſelbe rief
einen von Lasker und Mitgliedern aller Fraktionen geftellten Antrag hervor,
die Gefhäftsordnungscommiifton mit fehleuniger Berichterftattung zu beauf
tragen, ob die Einziehung zur Strafhaft eines Reichstagsabgeordneten während
der Thätigfeit des Reichsſtags nach Art. 31 der Verfaſſung zuläffig iſt.
Artikel 31 verordnet, daß Reichstagsmitglieder während der Seffion nur mit
Genehmigung des Reichstags zur Unterfuhung gezogen werden dürfen, außer
wenn es fih um eine Ergreifung in flagranti handelt. Es iſt ſchwer, ein
zufehen, mie die Geſchäftsordnungscommiſſion aus diefem Artikel, der in
fonnenflaren Worten nur von Unterfuhung und in einem befonderen Abfas
noch von Schuldhaft fpricht, ein Verbot der Einziehung zur Strafhaft heraus-
lefen fol. Der Antrag Lasker fand indeß einjtimmige Annahme, und wir
glauben aud, daß, nachdem der Antrag geftellt war, für den Reichstag Fein
Grund vorlag, nicht ein Uebriges zu thun und den Bericht feiner Geſchäfts—
ordnungscommiffton einzufordern. — Hierauf beendigte der Reichstag die
Ginzelberathung der Heeredausgaben. Der raſche Gang diefer Berathung
verftärkt die Hoffnung, daß der Reichstag dad Mefentliche feiner Aufgabe,
mit Ausnahme des Bankgeſetzes, in diefem Jahr erledigen wird.
Am 9. Dezember ift der Prozeß Arnim in das Stadium der öffentlichen
Verhandlung getreten. Gine alljeitige Beſprechung wird erft nad) der Be—
endigung am Plage fein. Was aber den allgemeinen Eindrud betrifft, fo
wäre jeded Wort zu wenig, um die Fülle des Merkwürdigen zu fehildern,
melche die Verhandlungen bereits bis jest in politiicher, pſychologiſcher und
eriminaltftifcher Beziehung geboten haben. Diefer Prozeß wird feine eigene
476
Literatur vielleicht in mehr als Einer Sprache erhalten, und die Nachwirkungen,
die er nach vielen Seiten hinterlaffen wird, laſſen ſich noch in feiner Weiſe
abſchätzen. Wohl aber läßt fih ſchon jest fehen, wer von allen direkt und
Indireft Betheiligten am ruhmvolliten daraus hervorgeht. C—r.
Deihnachtsbüchexſchau.
Mit einem der vorzüglichſten Werke aus Friedr. Bruckmann's Ber
lag in München ſchließen wir die im letzten Hefte begonnene Ueberſicht
der Prachtwerke für den Weihnachtstiſch ab. Als ſolches find zu nennen
die Waidmannd- Erinnerungen von F. v. Paufinger, mit Tert
von Karl Stieler, eine Sammlung von zwölf Photographien aus dem
Leben des Milde und Jägers im deutichen Tief- und Hochlande. Da
treffen mir das Wild bald im Stillleben der MWaldestiefe, bald im Kampf
mit Seineögleihen, bald im erbitterten Streit mit feinen Todfeinden, den
Raubthieren oder dem Menſchen; einige Ecenen (von den zahlreichen einge
freuten Holzfhnitten) deuten auch auf die ewige Fehde zwifchen Waldmann
und Wilddieb. Alle diefe Bilder find einer langen reichen Erfahrung ent:
nommen — v. Raufinger ift befanntlich der ftete Begleiter des Katferd von
Defterreih auf deſſen Hochgebirgäjagdzügen — und mit der Virtuofität eines
vollendeten Künſtlers wiedergegeben. Die Landſchaft fteht überall im fchönften
Einklang mit dem bewegten Leben des Wildes, das in diefem tiefen Wald-
Innern oder in dieſer rauhen Gebirgämelt fich abfpielt. Aber gleiches Lob
gebührt auch unferm Iiebenswürdigen Mitarbeiter Karl Stieler Der
Herr Dr. juris bat ſchon bei andern Gelegenheiten Fein Geheimniß daraus
gemacht, daß er mit Wild und Wald, mit dem Sägerleben der bairiſchen
Hochebene und des bairifchen Hochlandes eng vertraut ſei. Sein Tert zu diefem
Werke giebt und dafür volle Gewißheit. Er erhebt ftolz und Fühn dad Haupt
zur Freiheit des Waldlebens und feiner Bewohner. Er erhebt fi in diefem
Bewußtſein felbftempfundener thatkräftiger Ungebundenheit weit über die Iand-
Yäufigen Bildercommentare. In das Reben des Waidmannes, Wildes und
MWilddiebes, in die uralten Sagdfagen und Jagdlieder des Volkes dringt fein
klarer Blick, fein empfängliches Gemüth, und wir Alle freuen und der Arbeit,
die er in feiner Erholung gefchaffen. Das äußere Gewand, das die Ber-
lagshandlung dem Werke gegeben, ift ein äußerſt glänzende® und an-
fprechended. —
Es kann nicht die Abſicht diefer gedrängten Anzeigen der empfehlens—
477
werthen Schriften für das Feſt fein, den größeren Titerarifchen Kritiken biefes
Blattes zur Ergänzung zu dienen oder gar mit denjelben in Widerfprud zu
treten. Un erfter Stelle dieſes Heftes ift ein berufsmäßiges Urtheil gefällt
worden über die vornehmften Schriften preußifher Geſchichtskunde.
Der Mann der MWiffenichaft hat die beften Namen preußifcher Gefchichtd-
forfhung und vorgeführt. Wir mürden gering denfen von unfern Xefern,
wenn wir annähmen, daß fie nicht ihr Streben und ihren Stolz darein fegen
wollten, diefe Werke erften Ranges zu befigen. Aber nicht Alle find in der
Lage, diefem Wunſche fofort Raum zu geben. Und Allen ift es doch Bes
dürfnig, eine zuverläffige, moderne, auf der Höhe der Zeit ftehende Ausgabe
Preußiſcher Geſchichte zu befisen, melde dem Hiftorifee von Fach wohl zu
wenig Quellenwerf bieten mag, aber die doch die Refultate der neueften
uellenftudien Allen zu Nutze macht. Als ein ſolches zuverläffiges, von
gründlicher Sachkenntniß und dem beiten nationalen Geifte getragened Werk
über Preußiſche Geſchichte Fönnen wir dad unter diefem Titel bei
Gebr. Paetel in Berlin jett in dritter Auflage erfchienene zweibändige Buch
des Prof. Dr. Willtam Pierfon empfehlen, das die gefammte Entwidelung
des Preußiichen Volkes und Staates von den fagenhaft verflärten Anfängen
bis mitten in den heute entbrannten „Kulturfampf" hinein, uns vorführt.
Auch der Hiftorifer von Fach erkennt die volle Wahrheit über die Abficht
und den Werth der Preußifchen Politik ebenfofehr aus den Rebensäußerungen
und Xhaten der Feinde Preußens, ald aud den mehr und mehr entjchleierten
Geheimniffen ded Preußiſchen Staatsarchivs. Nichts ift belehrender für die
Hoheit und Würde der Politik der deutfchen Vormacht, ald der ohnmächtige
Ingrimm der deutjchen Kleinftaaterei gegen Preußen, ald e8 auf dem ſchmalen
Wege zur Einheit unerbittlich vorwärts? drängte. Nicht? zeigt und deutlicher
den Berfall preußifcher Staatskunſt, ald wenn die Wiener Hofburg unter
Metternich oder die Keinen Höfe ihre allerhöchſte Zufriedenheit nach Berlin
vermelden. Endlich als dritter Gefichtäpunft der Vergleihung dient vor«
nehmli die Schilderung des Volfälebend und der Regierungsmethode in den
deutfchen Kleinftaaten im Unterfchied oder im Gegenfag zu Preußen. In
diefer legten Richtung ift Karl Braun, der bekannte Volkswirth, Politiker
und Wbgeordnete, feit Jahren in bemerfenäwerther Weiſe thätig gemefen.
Er hat aus dem verfloffenen Mikrokosmus des Herzogthums Nafjau, aus
dem weil. Dalwigk'ſchen Großherzogthum Hefjen, aus Schwaben, Kurheſſen
u. ſ. w. Bilder der deutfchen Kleinſtaaterei von fo typifcher Bedeutung und
von fo unvergänglihem Humor gefammelt, daß man noch in fpäten
Jahren, wenn dem Xebenden die Erinnerung an diefe Mißſtände Tängit ent
ſchwunden fein wird, Karl Braun’d Arbeiten auf diefem Gebiete ala jehr
ſchätzbare Beiträge zur Kultur und Staatengefchichte Deutſchlands leſen wird,
478
Einige der tolliten und graufamften Leiftungen des deutfchen Kleincäſaren—
hochmuths find nun von Karl Braun in den beiden Bänden „Mord»
geſchichten“ zufammengeflellt, die bei Carl Rümpler in Hannover foeben
erfchienen find. Darunter find die lebensfähigſten Schilderungen, welche die
vier Bände „Bilder aus der deutfchen Kleinftaaterei” enthielten, und aus der
Sammlung „Während des Krieges“ die düftere venetianiſche „Mordgeſchichte“
Ztobä, und „Deutfche in Paris“ hier herübergenommen. Ganz neu ift dagegen
in diefer Sammlung die werthuollfte Studie beider Bände, die an den Schluß des
erften Theiles geftellt ift: „Deutfbe Studentenbilder und Mordgeſchichten aus
dem tollen Jahr Neunzehn!“ Diefe ernite, und durchaus auf zeitgenöfftiche
Quellen, mündliche Ueberlteferungen u. ſ. w. geftüßte Arbeit bietet die interefan-
teften Auffchlüffe über die politifche Stimmung der deutfchen Jugend nad den
Freiheitskriegen, die erfte deutjche Burfchenfhaft, da8 Wartburgfeft und den
inneren caufalen Zuſammenhang des Treibend der drei Brüder Follen und
der „Schwarzen“ in Gießen mit der unfeligen Mordthat Ludwig Sand's
und dem Mordverſuch ded Apothekers Löning auf den naffauifchen Staat
rath van bel u. ſ. w. — Da felbfiverftändlih ale diefe Mordgefchichten
keineswegs etwa im larmoyanten Ton fentimentaler Griminalgefchichten ger
fohrteben find, fondern wie alle Sachen Braun’d dem Humor überall zu
feinem Rechte verhelfen, wo immer defjen Necht begründet ift — und dieſes
Gebiet ift bei Bildern aus der deutfchen Kleinftaaterei um fo weitläufiger, ald
wir felbft für an fih und in ihrer Zeit tragifche Ereigniffe heute den Humor
befigen, fie von der heitern Seite zu betradhten — fo waren wir wohl be
rechtigt, ‚diefe neuefte Schöpfung der Braun’schen Weder, trotz ihres düſteren
Titeld, fogar unter der Weihnachtsliteratur zu empfehlen.
Eine humorvolle, oftmals fatirifche, überall aber von hohem Fluge der
Gedanken und Poeſie getragene dichteriſche Gabe zum Weihnachtöfeſte iſt
der „Till Eulenfptegel redivivus“ von Julius Wolff (Meyeride
Hofbuhhandlung, Detmold). Hier ift der Reiz der deutfchen Landſchaft, vor
allem der Rheinlande, das deutfche Bürgertum In allen Klafjen und Ständen,
«bier find die höchften Strebungen der Gegenwart auf allen Gebieten des
öffentlichen, foctalen, wiſſenſchaftlichen Lebens — an dem Faden einer Reife
des Dichters mit Til Eulenspiegel dur Deutfchland — mit feinem Humor
und mit vollendeter poetifcher Kraft geſchildert. Sehr häufig erinnert die
Sprade und die Gedanfenform und Richtung an Goethe's Fauft. Die
Ausftattung des Werkes ift geſchmackvoll. — Auf die neuefte, fehr be
deutende Dichtung Friedrich's von Shad „Nähte des Drientd”
(Stuttgart, J. ©. Gotta), welche die meifterhafte Sprachgewandtheit des
Dichters und feine treue Sehnfucht zum Wunderlande des Oſtens fo rein und
ſchön ausprägt, gedenfen mir bei Gelegenheit eines befonderen Eſſays über
479
Friedrih von Schad zurücdzufommen. Einſtweilen mögen unfere Lefer auch
die wenigen Worte für eine freudige Empfehlung nehmen. —
An Jugendſchrften find noch befonders zu erwähnen, (bez. einge:
gangen, feitdem wir diefe Rubrik verlaffen): unter den Schriften des Spamer-
[hen Verlags in Leipzig; Oft-Afrifa von Hermann von Barth, melde
den Dften des fchwarzen Erdtheild vom Limpopo bis zum Somalilande au?
ſachkundiger Feder und gut illuftrirt darftelt; dann, der wärmften Empfehlung
würdig, Sentral»Afien von Friedrih von Hellmald, dem befannten
und verdienftvollen Nedacteur des „Ausland,“ mit großentheild authentifchen
bildlihen Erläuterungen über Rand und Leute; weiter die dritte Auflage des
guten Buche? von Dr. Karl Oppel „das alte Wunderland der
Pyramiden“ und endlich die vortrefflihe Mythologie unſres geehrten
Mitarbeiterd Prof. Dr. Hermann Göll unter dem Titel: „Sötterfagen
und Kulturformen,“ gleihfalld bereit3 in dritter Auflage, an melcher
der Text meit über den Sluftrationen fteht. Weber die hervorragenditen
fonftigen Jugendfchriften de8 Spamer'ichen Verlags, die ihre Lebenäfähigkeit
und Beliebtheit großentheild auch diefed Jahr durch neue Auflagen befunden,
wie E. Lauſch, Bub der fhönften Kindermärdhen (6. Auflage),
Jahrbuch der Welt der Jugend von Ernft Stüßen (1875), der
Sfalpjäger v. Th. Bade und Franz Dtto (4. Auflage), das Deutſche
Flottenbuch v. Heinrih Smidt (4. Auflage) u. U.: haben mwir und
ſchon früher günftig ausgefprochen. Neu binzugetreten ift der Wegmeifer
durch die drei Reiche der Natur von Eduard Teller, deffen Text
das redlichfte und tüchtigfte Teiftet in Enapper Form — freilich ohne befondere
Anziehungskraft für jüngere Naturforfcher — aber dagegen in einer großen
Anzahl von Abbildungen beftimmt zu fein fcheint, einer Neihe wohlbekannter
Clichés ein fröhliches Rendezvous zu geben.
Meit höher fteht die Auaftattung, das Bilderwerf und die fefjelnde Kraft
der Darftellung in dem „Reid der Luft“ von E. Flamarion, deutſch
bearbeitet vn W. Schütte (Reipzig, Branditetterd Verlag). Alle die zahl
reihen Erfcheinungen, welche im Reiche der Luft zur Erfcheinung gelangen:
Wind und Wetter, Schatten und Licht, Electrieität und Feuchtigkeit u. |. w.
finden bier die interefjantefte Erörterung, bafirt auf die Grundlage ewig
waltender Naturgefege und zeichnen ſich dadurch an Solidität und Unan-
fechtbarkeit fehr vortheilhaft aus vor jener Denkſchrift des Sächſ. Kultus.
miniftertumd in Sachen des höheren Schulmefend gegen die Grenzboten,
welche in demfelben Verlag vor einigen Jahren vorübergehend das Licht der
Melt erblidte. —
480
Kin Brief Friedrich Fiſchbachs an die Redack
Mir erfüllen hiermit den Wunſch des Herrn Fr. Fiſchbach, nachſte
Brief zu publiciren. Die Redactig
Sehr geehrter Herr Redacteur!
Sch bitte Sie um die gefällige Aufnahme diefer Zellen, welche
bezweden, Mißdeutungen zu vermifchen, die ja ftetd das Ungewohnt
Auffallende begleiten.
Als kürzlich meine Selbſtbiographie in Ihrem geſchätzten Blatte
war wohl Niemand von derſelben mehr überraſcht wie ich ſelbſt. Hl
dieſelbe direet veranlaßt oder gewünſcht, fo hätte ich für die Oeffent
Vieles anders ausgedrückt, als es in zwangloſer Weiſe in einem Privall
geichieht. Ich erhielt nicht einmal den Correcturbogen zu der üblichen 9
fit, refp. Aenderungen zugefchidt und fomit Fann ich eigentlich meinem ar
auftretenden Freunde B. in N. den Vorwurf einer, wenn auch gut geme
Uebereilung kaum erfparen. — Er hatte mich erfucht, ihm zur Befpre
meine® neuen Werkes „Ornamente der Gewebe" biograpbifche Notize
geben, meil er mußte, daß ich unter den wechſelvollſten Ereigniffen 15 $
lang an diefem Werke gearbeitet habe und diefe Ereigniffe für die Vollenk
wie für die Anlage des Werkes von Einfluß waren. Ein Rückblick auf
gangene Tage ift und von Nuten und zur Gelbftfenntniß fo nothwe
wie die Addition einer langen Zahlenreihe. An den Feuilleton⸗Styl gen
der ja nichtö mehr und nichts weniger ift, ala die Fünftlerifche Form im (
fage zur rein miffenfchaftlichen Abhandlung, erhielt daher mein Brief die $
eines Feuilletond, welche meinen Freund verführte, dasſelbe felbft in
primitiven Neglige-Zuftande mit einem ftarf gepfefferten Lobe Ihren Leſer
präfentiren. Die Zufohriften vieler Ornamentiften und Zeicheniehrer, 1
fi in Folge der Publication Rath erbaten und das wachſende Intereſſ
ein in Deutfchland ſchwach vertretened Fach, verföhnen mich zwar m
Uebereilung meines Freundes, jedoch halte ich es für angemeffen, die ni
Nahfiht Ihrer Leſer durch obige Mittheilungen mir zu erbitten. |
Hochachtungsvoll und ergebenft
Hanau, den 10. Dec. 1874. Friedr. Fiſchbach
Mit Januar 1875 beginnt die Zeitſchrift das L Quartal
34. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und $
anftalten des In: und Auslandes zu beziehen ift. Preii
Duartal 7 Mark 50 Pfennige.
Leipzig, im Dezember 1874. Die Verlagshandlun
Beranttoortlicher Redakteur: Dr. Sand Blum in Leipzig. N
Derlag von $. 2. Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Regler in 2
„Sad g
2
2 = XXIII. Jahrgang. II. Semefter,
Die
Grenzboten.
Zeitfſchrift
für
Yolitik, Literatur und Kunſt.
N: 52,
Ausgegeben am 25. December 1874.
| Inhalt:
| Seite
u Die Münztrifis und die erfte Lefung des Bankgeſetzes im Reichätage-
Bei Ra . 2.2: 5:35 4 481
- Wilhelm Endemann's neueftes Werl. H. . . 2... 487
* Plaudereien aus London. 3. Alfred Blum. . . 2... 491
Statiſtiſches an Topogtaphiſches vom Oruslande. H.Schmolfe 501
De BrmB 2a — 508
Bom deuten Reihätag. CH. . » 2 2: 2 rennen 515
Grenzbotenumfchlag: viterariſche —
Hierzu eine literarifche Beilage von Eduard Trewendt in Breslau.
— — HF DAFT nm
Friedrih Ludwig Herbig.
(Ir. Bird. Grunow.)
— —— — ———
Die Münzkrifis und die exſte Sefung des Yank-
gefeßes im Reichskage.*)
Bon Mar Wirth.
Die Verhandlungen des Reichstages bei Gelegenheit der erften Leſung
des Banfgefegentwurfes waren nicht blos deshalb von hohem Intereſſe, weil fie
mit der Vermeijung an die Commiffion endigten und damit die Hoffnung auf
den Sieg der Reichsbank-Idee ftärkten, fondern auch weil fie die Ausficht
gewähren, daß die KHrifis, im der wir und befinden, glücklich gelöft werde,
nachdem das Urtheil über die Rage durch die im Reichstage gegebenen Auf-
ſchlüſſe geklärt worden ift. Diefelben find nad) ihrem Gegenftande in zmei
Theile zu theilen, in die eigentliche Bankfrage und in die damit zufammen-
hängende Frage der Ausführung der Münzreform. Die Vertreter der Reichs—
regterung wiederholten dad ſchon in den Motiven des Gefegentwurfes ausge
ſprochene Geftändnig, daß der Banfgefegentwurf eigentlich hauptſächlich den
Zweck habe, die Ausführung de Münzgefeges zu fihern und ergriffen dabei
dte Gelegenheit , die Interpellation theilweife zu beantworten, welche in Be—
ziehung auf die lettere Frage formulitt worden waren. Indeſſen find die
Geftändnifje des Präſidenten des Reichskanzleramtes Staatöminifter Delbrüd
derart, daß wir auch nicht ein Wort unſerer früheren Erörterungen zurück—
zunehmen haben. Aus den Erklärungen des Letzteren erfahren wir zunächſt,
daß am Ende des vorigen Jahres 178%, Millionen Thaler in Noten in Um—
lauf waren, melde auf Beträge unter 100 Mark Tauteten. Derfelbe nimmt
an, daß 78'/, Millionen davon auf 25:Thaler-Scheine zu rechnen find, welche
leicht durch 100-Marknoten erſetzt werden können und giebt felbit zu, daß
die Note von 100 Mark nicht geeignet fet, die Banknoten von 1, 5, 10 und
20 Thalern zu erfegen, welche noch im Betrage von 100 Millionen Thalern
umlaufen. Delbrück gefteht, daß dur den Wegfall diefer Kleinen Noten eine
mwefentliche Befchränfung des Zettelumlaufe eintreten werde. Diefer Ausfall
ift daher mit 50 Millionen Thaler eher zu gering angefchlagen und die
*) Wegen Ueberhäufung mit dringlicherem Stoff fönnen wir diefen Aıtifel unferes —
ten Mitarbeiters leider erſt heute bringen, D. Red
Grenzboten IV. 1874. 61
482
Gireulationdmittel würden in Folge der Annahme des Entwurfes fih unter
ven Normalbedarf vermindern und die Gefahr bringen, die Preife fpäter
ebenfo zu drüden, wie fie bisher gefteigert worden find.
Der Bertreter der Neichäregierung betheuerte, daß diejelbe es fich ala
ihre Aufgabe geftellt habe, bei der Ausführung des Münzgeſetzes ſowohl
für einen ftarfen Vorrath von Goldmünzen zu forgen, als auch die Prägung
von 1- Markftüden, von 20-Pfennigftüden, fowie von Nidel- und Kupfer-
münzen fich angelegen fein zu lafien. Wir müfjen geftehen, fo gern wir diefe
Betheuerung vernehmen, fo wenig fleht fie mit den Thatfachen in Ueberein-
ftimmung. ‚Uns ſcheinen die Prägungen, namentlich der Scheidemünzen, mit
ungewöhnlicher Yangfamfeit vorzugehen, insbefondere, wenn man bedenkt,
daß noch feinem Staate in ähnlicher Lage foviele Münzftätten zu Gebote
ftanden, wie dem deutjchen Neiche, dem überdied noch die Hilfe der öſter—
reihifhen Präge-Anſtalt ohne Zweifel zugeftanden werden würde. Man
muß in der That ftaunen, wenn man bedenft, daß die Ausprägung fämmtlicher
Schweizer Münzen bei der Münzreform 1852 innerhalb eines Jahres vollendet
war, während am 10. Detober d. J. im deutfchen Reiche erft 11 Millionen
Thaler an Silbermünzen, 1 Million Thaler an Nikelmünzen und 0,5 Millio-
nen Thaler an Kupfermünzen ausgeprägt waren. Denn bedenft man, daß
nad Artikel 4 de8 Münzgeſetzes der Gefammtbetrag der Reichöfilbermünzen
bi8 auf 410 Millionen Mart und nad) Artikel 5 die Nidel- und Kupfer-
münzen bi8 auf 102 Millionen Marf erhoben werden fünnen, und daß biefe
Summe von zufammen 170 Millionen Thaler von dem Verkehre, der bisher
an das Silber gewöhnt war, auch volljtändig in Unfpruch genommen werden
wird, fo hätte man 10 Jahre zu prägen, wenn man in dem Tempo fort-
fahren würde, welches in diefem Jahre eingehalten worden. Auch die Her:
ftelung der Reichsgoldmünzen hätte mehr befchleunigt werden können; indefjen
würden wir und in Beziehung auf fie leichter zufrieden ftellen laffen, wenn
fie nur vorfichtiger zurüdgehalten worden wären. Denn in diefem Falle ließe
fih von jest an in Furzer Zeit der nöthige Vorrath ergänzen, um die Aus-
führung des Münzgeſetzes raſch zu vollenden. Leider ift dies nicht gefchehen.
Unfere Befürdhtung bleibt vielmehr nach den Geftändniffen ded Präfidenten
des Reichskanzleramtes beftehen. Derfelbe hat nämlich) die nachfolgende Er-
klärung abgegeben:
„Wir hatten am Schluffe ded vorigen Monats 362 Millionen Thaler
in Gold geprägt. Von diefen befinden fich 40 Millionen im Neichäfriegs-
Ihat zu Spandau und, von dem Reſt von 322 Millionen ift in Abzug zu
bringen der, gewiſſen Schwankungen unterliegende Beftand, welcher dauernd
in der Bank ſteckt. Der Baarvorrath, den die deutſchen Banken, mit Aus—
nahme der baterifchen, Ende September Hatten, betrug 289°, Millionen. Es
483
wird auf die unbedingte Fortdauer eined Baarvorraths in diefer Höhe kaum
zu rechnen fein und noch weniger ift es beftimmt zu fagen, wie viel dieſes
Vorraths gemünztes Gold ift. Allein nach meinen Schägungen können wir
den Vorrat gut und gern auf 150 Millionen Thaler rechnen. Es würden
mithin von den bisher geprägten Reichsgoldmünzen 172 Millionen Thaler
übrig bleiben. Won dem Beitande ijt zunächſt ein Theil beftimmt, diejenigen
metalliſchen Umlaufämittel zu erfegen, welche mit Erlaß des Bankgeſetzes aus
dem Verkehr zurücktreten. Es find died zunädhft in Gold 30,800 Thaler,
fodann an 2-Thaler-Stüden 6 Millionen Thaler, in Kron- und Convention®-
thalern 3,790,000 Thaler, in 2:Guldenftüden 8,400,000 Thaler, und in Ein-
thalerftüden 19,020,000 Thaler, zufammen 68 Millionen Thaler.“
Herr Minifter Delbrücd gefteht alfo mit diefer Erklärung zu — vor Allem
durch die Erwähnung, daß er nicht beftimmt zu fagen wife, wieviel der Vorrath
an gemünztem Golde bei den deutfchen Banken ſei, daß die biöher geprägten
362 Millionen Thaler Reichsgoldmünzen größtenthetil® dem Ver:
fehr übergeben worden find Aus feiner Bemerkung, daß 172 Million
davon übrig bleiben, geht nicht hervor, ob diefelben im Staatsſchatze liegen. Da
Minifter Camphaufen in derfelben Sitzung erwähnte, daß bei den preußifchen
Banken allein 171 Millionen in Goldmünzen und Barren. fi befinden und
da Delbrück den Gold-Vorrath der deutfchen Banken nur auf 150 Millionen
ſchätzt, ſo follte man faft glauben, daß der obige Reſt der Goldmünzen bei
den preußifchen Banken deponirt if. — Set dem aber, wie ihm molle, fovtel
geht aus der Erklärung des Miniſters Delbrüd unzweifelhaft hervor, daß
wenigfteng 190 Millionen Thaler Reichsgoldmünzen dem Verfehr übergeben
worden find. Dieje follen noch um 68 Millionen zur Einziehung der oben
genannten alten Münzen vermehrt werden. Da nun bi8 Ende September
an alten Silbermünzen nur gegen 37 Millionen Thaler eingezogen worden
waren und die eingezogenen oder noch einzuziehenden alten Goldmünzen nad
Soetbeer (j. Deutfches Handeldblatt No. 44) nur auf 15 Milltonen Thaler
zu fchägen find, fo wäre der Metallgeldvorrath des deutfchen Reiches durch
die Ausgabe der Neichdgoldmünzen um eine ungeheuere Summe vermehrt
worden, welche mit 30pet. eher zu niedrig angefegt if. Wir waren daher
jehr begierig, au8 dem Munde des Minifterd zu erfahren, mit welchen Argu-
menten er dieſes Grperiment zu rechtfertigen gedenft, wie er der Gefahr zu
begegnen gedachte, daß entweder die Preife um 30pet. ftiegen, oder nad) Be-
ginn des Sinkens des Silberpreifes die Goldmünzen in einem ähnlichen Be
trage eingefchmolzen oder ausgeführt werden, — ein Fall, der wirklich ein-
getreten ift, und den die Vertreter der Neichdregierung zwar abzufhmwächen
verfuchten, aber nicht zu leugnen vermochten. Der einzige Grund, den wir
finden und welcher auch wohl dad Hauptmotiv des Reichskanzleramtes ges
484
weſen fein wird, tft in dem nachfolgenden Sat enthalten: „Das Geheim-
niß unferer Zeit ift, Feine Zinfen zu verlieren, feine über»
flüffigen Eaffenbeftände zu haben.“ Diefer Satz ſcheint denn auch
dem zweiten Vertreter der Neichdregierung, Heren Finanzminiſter Camphauſen
etwas zu gewagt zu erfcheinen, denn er lehnte eineätheild für feine Perfon
die Solidarität mit dem Neichdfanzleramt ab, indem er über einige Be
merfungen Bamberger’3 wörtlich fagt: „Was feine Kritif über die bisherigen
Dperationen zur Durchführung der neuen Währung betrifft, fo habe ich ſchon
früher bemerken müflen, daß ich weder die Rechte noch die Pflichten eines
Yinanzminifter8 gegenüber dem Reiche habe. Es tft das Sache ded
Reichskanzleramtes.“ Andererſeits geſteht er offen zu, „daß wir unter
erhöhten Mebelftänden zu leiden Haben würden,“ wenn mir die
Doppelwährung (die gegenwärtig factifh befteht, — auch) gefeglich eingeführt
hätten. An einer andern Stelle machte Camphauſen folgende, dahin bezüg-
liche Bemerkung: „die preußiiche Regierung hat jederzeit ein raſcheres
Tempo in der Einziehung der Silbermünzen empfohlen, in Süd—
deutfchland hat ſich indefjen ein folches nicht durchführen laſſen“ und fügte
dann fpäter Hinzu: „wir haben keineswegs fo leichtfinnig darauf los gewirth—
ſchaftet.“
Dieſe Bemerkung wird aber vollſtändig in Schatten geſtellt durch das
wichtige Geſtändniß, „daß beider preußifhen Banffeiteinem Jahre
die Hälfte des gefammten GSilbervorrathes abgefloffen fei*
Herr v. Samphaufen fagt und zwar, dies fei gefchehen, weil der Verkehr das
Silber" gebraucht habe und verfchweigt den wirklichen Grund. Da er aber
oben felbit indireet zugeftanden hat, daß wir Nachtheile aus der eingetretenen
factifehen Doppelwährung haben müſſen, jo wollen wir nachftehend an feiner
Stelle den wahren Grund angeben: das Gilber ift von den preußifchen,
ſowie auch von den anderen deutfchen Banken abgefloffen, weil die Banken
natürlicherweife lieber da8 höher im Curs ftehende Metal — das Gold in
ihren Baarſchätzen behielten, denn bas Sinken des Silberpreifes Hatte ſchon
vor zwei Jahren begonnen. Das Gold bildet alfo bei den Baarſchätzen der
deutfchen Banfen, — welche, fo lange die alten Silbermünzen gefetliche Kauf
kraft nach ihrem Nominalmerth haben, natürlich lieber mit diefem zahlen, —
die unterfte Schicht ded Geldrefervoird, die von dem Noteneinlöſungsgeſchäft
wenig oder gar nicht berührt wird. Da nun aber der größte Theil der
früher in den Kellern der Banken gehüteten Silberfhäge in den Verkehr ge
floffen tft, fo mußten natürlich die in dem Umlauf des Inlandes etwa noch
gebliebenen und nicht/von den Banfen mit Befchlag belegten Neichägoldftüde
fih aus dem Verkehr zurüdziehen, weil die Händler daran ein ſtarkes Agio
verdienen Eonnten. Die Erklärungen der Minifter haben alfo unfere Annahme
wi.
En ]
485
nicht geſchwächt, geſchweige denn widerlegt. So lange die franzöfifchen
Zahlungen nicht abgewidelt waren und der MWechfelcurd zu Gunften Deutfch:
lands ftand, wird allerdingd Gold nur in feltenen Ausnahmen erportirt
worden fein, hingegen mußten, wir wiederholen es, die Waarenpreife und
Löhne eine locale Steigerung erfahren. Ganz unausbleiblih war es aud,
dag die Inländifchen Goldfabrifen und Goldfchmiede Reichsgoldmünzen mit
Silberthalern auffauften und einfchmolzen. Als die franzöfifchen Kriege:
entihädigunggzahlungen abgewidelt waren, mußte die Ausfuhr von Gold
gerade fo gut vor ſich gehen, wie es in der Schweiz gefchehen tft und zwar
in noch höherem Maße, weil der Borrath an Elingender Münze über den
Normalbedarf vermehrt worden war. Wir ftehen alfo pofitiv vor der Gefahr,
dag die Einführung des Münzgefeges unmöglich wird, menn man in der
bie vor Kurzem beobachteten Politik verharrt. Unfere Befürchtungen werden
nicht befhwichtigt durch die Verficherungen Delbrück's, er glaube nicht, daß
der jebige Stand durch Goldausfuhr erheblich werde gefchmälert werden oder
dadurch, daß Camphauſen „zur Beruhigung des Publieums erklärt, daß die
Einfhmelzungen von Reichdgold in Brüffel bisher eine Million Thaler nichı
überfchritten hätten“. Es handelt fih nicht blo8 um Brülfel, ſondern aud)
um Paris, wo Arbitrage-Operationen durch den Zwangseurs erleichtert werden
und namentlih um das Einfchmelzen und Berfteden ded Golded im In—
lande felbft. |
Um dem Borwurf einer unfruchtbaren Kritit zu entgehen, wiederholen
wir unfere pofitiven Vorſchläge, die und allein geeignet erfcheinen, um die
Durchführung der Münzreform glüdlich zu vollenden.
1) Die Reichöregierung muß alle Reichögolditüde, über die fie gebieien
fann, bi8 auf MWeitered aus dem Verkehr zurücdhalten.
2) Sie muß fo rafch ald möglich den erforderlichen Vorrath an neuen
Gold» und Silbermünzen berftellen, um die Ummechfelung fodann auf einen
Schlag, in Fürzefter Frift, an möglichft vielen Einlöfungsfaffen bewerkitelligen
zu können. Wir erfahren mit Vergnügen aud dem Munde des Herrn
Gamphaufen, daß die Reichsregierung nur den Telegraphen fpielen zu
lafjen braucht, um den genügenden Goldvorrath zu diefem Zwecke aus dem
Auslande zu beziehen. Auch hoffen wir, daß die abichlägige Antwort, welche
jüngft die Handeläfammer in Sorau auf ihre Bitte um Verabfolgung einer
Summe neuer Goldftüde erhalten hat, dahin audgelegt werden fann, daß die
Neichdregierung begonnen hat, die erft genannte Vorfihtämaßregel zu ge
brauchen. |
3) Um aber die üblen Folgen der zu frühen Ausgabe des bereitö dem
Berfehre übergebenen Theiles der neuen Goldmünzen möglichſt abzufchmächen
und einen magnetifchen Einfluß auf die legteren zu üben, könnte noch folgende
-
486
Maßregel ergriffen werden: Nach dem Reichsmünzgeſetz, Art. 9 it Niemand
verpflichtet, nach Inkrafttreten dieſes Geſetzes, Reichsſilbermünzen im Betrage
von mehr ald 20 Mark und Nidel- und Kupfermünzen im Betrage von
mehr als einer Mark in Zahlung zu nehmen. Da nun nad) demfelben Ge
fee die Anordnungen der Außercuräfegung der Landesmünzen u. f. w. durch
den Bundesrath zu erfolgen hat, jo ftände es in dem Bereich der Regierung,
dem Ziele durch BZmifchenmaßregeln ſich allmälig zu nähern, indem fie
proviforifch die höchſte Summe des zu Zahlungen gefetlich erlaubten Silbers
z. B. auf 100 Thaler feftfegt. Freilich wären dabei gewiſſe Vorſichtsmaß—
regeln, 3. B. eine Ausnahmeftellung der Banken unentbehrli, weil die
Metallhändler fonft diefe Maßregel gerade ald ein Mittel zum Herausziehen
der Goldbeftände aus den Baarbeftänden der Banfen benügen könnten. Wir
würden megen diefer Gefahr deshalb auch auf diefed Proviſorium nur wenig
Gewicht legen. Die unter 1) und 2) aufgeführten Maßregeln aber halten
wir unbedingt für nothwendig, fei der Zindverluft, welchen der. Präſident des
Reichskanzleramtes befürchtet, auch noch fo groß.
Für ganz ungeeignet aber, die der Münzreform drohenden Gefahren zu
zerftreuen, halten wir den vorgelegten Bankgefegentwurf, weil darin von der
Errichtung einer Reichsbank Umgang genommen war. Dieſe Frage bildete
den zweiten Theil der Eröffnungen der Vertreter der Reichdregierung. Wir
müffen geftehen, daß wir über die Schwäche, ja den Mangel aller jtid-
haltigen Gründe gegen die Reichsbank in wahrhaftes Erftaunen gerathen
find. Wir können dieß hier nicht näher motiviren, — nur einen Punkt er
lauben wir und zu berühren. Man fcheint das Hauptgewicht auf die durch
die Sprocentige Notenfteuer bezweckte indirecte Sontingenttrung zu legen, melde
eine indirecte Nachahmung der in der Praxis fo kläglich verunglüdten Con
tingentirung der Bank von England if. Wie die Sachen ſtehen, fcheint
dabei die Einrichtung einer Reichsbank nad) dem Mufter der englifchen Bank
viele Anhänger zu haben. Wir wundern und befonderd darüber, daß Camp
haufen, der doch die Vorzüglichkeit der Einrichtung der franzöfifchen und
preußifhen Bank vor der der englifchen zu gut Fennen follte, eine folde
Forderung ftellen zu können meint. Wir wollen heute aber nur_ die Haupt
wirkung hervorheben, welche jene indirecte Gontingentirung haben würde
Bekanntlih ift das Bedürfniß an irculationdmitteln am ftärkiten beim
Ausbruch einer politifchen oder mirthfchaftlichen Krifis, gegen melche gerade
die Kontingentirung ein Schugmittel bilden fol. Das Mißtrauen, welches
beim Ausbruch einer Krifiß einzutreten pflegt und oft bis zu einer Panique
fich fteigert, Hat noch jedesmal bewirkt, daß alle Welt feine Geldvorräthe
einfperrt, weil die Banken ihren Credit befchränfen oder kündigen und daf
ein Mangel an Umlaufämitteln eintritt, dem nur durd größere Notenaudgabe
von# Seiten der großen Zettelbanfen gefteuert werden Fann. Werden nun
die im höheren Betrage ausgegebenen ungedrudten Noten dur eine Abgabe
von 5 Proc. befchwert, fo ift die Bank genöthigt, ihren Discontoſatz noch
mehr”zu erhöhen, ala e8 die Lage des Geldmarftes an fich erfordern würde.
Das Gefhäftspublicum wird alfo gerade in der kritiſchſten Rage, in welcher
die Bankforganifation Schuß gewähren follte, ftärfer beeinträchtigt, als in
ruhigen Zeiten.
Die englifhe Banfacte, welche die Contingentirung vorfchreibt, mußte aus
diefem Grunde drei Mal in den Kreifen von 1847, 1857 und 1866 ſuspendirt
werden, weil die ganze Wirthſchaftsmaſchine ftill zu ftehen drohte.
Die Contingentirung hat nur Sinn da, wo der Zwangseurs befteht.
Da es aber zu diefem in Deutfchland gar nicht kommen kann, ſo iſt diefe
Maßregel überflüffig und fchädlich.
487
Wilhelm Endemann's neueſtes Werk,
Unſere Leſer werden ſich wohl jenes höchſt intereſſanten Aufſatzes über
die Wechſelmeſſen erinnern, den Wilhelm Endemann im vorigen Jahre
in den Grenzboten veröffentlichte. Den Eindruck, den die Arbeit des gelehrten
Mannes auf den verſtändigen Laien und Praktiker geübt haben mag, habe
ich damals recht deutlich ermeſſen an dem Ausſpruch eines der feinſinnigſten
und in feiner Vaterſtadt wegen feiner großartigen Munificenz rühmlichſt be—
fannten deutſchen Bankierd, der Endemann’d Behandlung gelefen hatte. Ich
babe die Furzen Worte nicht ftenographirt, aber fie haften aud) ohne Kurz
fhrift treu im Gedächtniß. Endemann hatte in jenem Artikel gezeigt, wie
der Wechfel und die Wechſelmeſſen die Form waren, in der dad Bedürfnig
der mittelalterlihen Creditwirthichaft das Eanoniftifhe Wucher- und Zind-
verbot umging, und ein wahrhaft moderne? Umlaufdmittel ſchuf. Und diefer
jedem Laien verftändliche fulturhiftorifche Effay veranlaßte unfern Bankier zu
ſehr verftändigen Weußerungen über diefen vor mehr als einem halben Jahr—
taufend gefämpften „Kulturfampf* gegen die Kirche. Ach glaube, menige
Refer haben den Auffas Endemann’d über die Wechſelmeſſen fo ganz in feiner
vollen Tiefe erfaßt, wie diefer praftifche Denker. Denn Endemann felbit fagt
in feiner Einleitung zu feinem neueften Werke, „Studien in der Roma-
niſch-kanoniſtiſchen Wirthſchafts- und Rechtslehre bis gegen
488
Ende des fiebzehnten Jahrhunderts” *), fat genau und wörtlich dasfelbe, mas
jener klare Praktiker fih aus dem viel engeren Thema Endemann's „heraus
genommen“ Hatte: „bier galt e8 darzulegen, wie fehr die Fanonifchen Recht
anfichten auf die Geftaltung des Rechts eingewirkt haben, zugleich aber auch,
warum dieje Fanonifhe Wirthſchaftslehre, welche von der Kirche mit der Fülle
ihrer Macht Jahrhunderte lang aufrecht erhalten wurde und noch heute von
der orthodoren Doctrin nicht aufgegeben tft, im Widerftreit mit den realen
Kulturzuftänden endlich) doch hat unterliegen müfjen. . . . Sicherlich vermin-
dert fich das praftifche Intereſſe nicht, wenn zugleich erfichtlich wird, mas
die Geſetzgebung des Staated fogar auf privatrechtlichem Gebiete zu gewär—
tigen hätte, wofern die Fatholifche Kirche noch einmal verfuchen follte, die
Prätenfion ihrer Herrfchaft, der fie keineswegs entfagt hat, von Neuem gel-
tend zu machen. Das Gebiet der Moral eritredt ſich, wie gezeigt werden
wird, fomwelt, daß unter diefem Titel die unfehlbaren Erklärungen des Ober—
hauptes jeher wohl diefelbe Herrfchaft über die Nechtögefeggebung wieder zu
erobern ſuchen kann, welche die Fanonifche Dogmatik einft thatfächlich geübt
bat." —
Man fieht, wie nahe die dem modernen Xeben fcheinbar fo fern liegende
Arbeit, den michtigften Problemen der Gegenwart tritt. Es ift im Grunde
nichts andere® als das freudige, Siegespanier, das wir in dem heifeften
Kampfe hochhalten, den Deutfchland feit Jahrhunderten gekämpft, das diefe
Schrift uns troftreich entfaltet. Ste giebt und die Gewißheit, daß Deutſch—
lands ungebrochene Volkskraft, unter den denkbar ungünftigften Verhältnifien,
den Machtgeboten und Machtmitteln der einigen Fatholifchen Kirche, ungeachtet
ihrer vielhundertjährigen Hebung und Gewohnheit, fiegreich getroßt hat, um
leben und wirken zu können im Wettkampf mit den andern Nationen Euro
pas. Dieſer Gedanke tft fehr tröftlih. Denn wir haben nicht den Schatten
eined Grundes für die Annahme, daß unfer Volk heute weniger thatkräftig
und mächtig fei, ald vor einem halben SJahrtaufend.
Und aus einem andern Grunde noch iſt das vorliegende Wert Ende
mann's ſehr erfreulich und troftreich für unfere Gegenwart. Ganze Reihen
von Generationen haben mit fchwerer Gelehrfamfeit und größtentheils im
beiten Glauben an der Fabel gearbeitet, daß Deutfchland im Mittelalter
ſchlankweg das Römiſche Recht Juſtinian's als Grundlage des gefammten
deutſchen Privatrechtes „reeipirt* habe und — nach der Meinung vieler ge
lehrter Männer — noch bis zum heutigen Tage als das einzige „gemeine
deutjche Privatrecht beſitze. — Es ift tröftlih, meine ich, bei Endemann den
genauen wiſſenſchaftlichen Nachweis zu verfolgen, daß diefed Märchen im der
*) Erfter Band; Berlin, 3. Guttentag (D. Eollin), 1874.
489
That nur bei einer völligen Verfennung der wirthſchaftlich-privatrechtlichen
Entwidelungsperiode des Mittelalter fo breiten Glauben gewinnen Eonnte.
„Niemals können die für das Verkehrsleben beftimmten Rechtsnormen wahr-
haft erklärt und begründet werden“, fagt Endemann, „ohne die in der Praxis
des Verkehrs maßgebenden Anfichten zu Rathe zu ziehen, deren Summe mifjen:
ſchaftlich begriffen jene Philofophie der materiellen Güter darftellt, welche als
Volkswirthſchaftslehre bezeichnet zu werden pflegt. Selbit da, wo die Rechts—
lehre in fchematifchem Behagen ſich möglichft in fich ſelbſt abſchloß, wurde
fie unbewußt von den Strömungen diefer Anfichten beeinflußt. Der Satz,
dag Rechts- und Wirthſchaftslehre folchergeftalt in untrennbarem Zufammen-
hange ftehen, bewahrheitet fich namentlich, wo es gilt, die Entwidelung des
mittelalterlichen Verkehrsrechtes zu erforfchen. Wie fehr folhe Erforfhung
Bedürfniß ift, erhellt leiht. Das mittelalterliche, romaniſch-kano—
nifhe Recht bildet die nächte Vorftufe ded gegenwärtigen.
Aller Eifer um die richtige Erfenntniß des altrömifchen Rechts, um die volle
Einfiht in den Gang feiner Entwidelung bi8 zu Juſtinian und bi® zu den
Gloſſatoren zu gewinnen, bleibt Stüdwerf, fo lange man ſich nicht klar macht,
welche Ummandlungen feitdem eingetreten waren, als in umgemwandelter Geftalt
das römifche Recht auch in Deutichland aufgenommen wurde. Niemand Fann
heutzutage an das Märchen einer Neception des römischen Rechts in dem Beftande
glauben, den erit Jahrzehnte hindurch fortgefegte Arbeit unter dem Schutte
der Vergangenheit audzugraben begonnen hat. Niht das römische, fon-
dern dad romaniſche, längft vorher von dem Einfluß der fa-
nontfhen Gefeggebung und Doctrin durhdrungene Recht
haben wir thatſächlich recipirt. Wer alfo mit den wahren hiftorifchen
Thatfachen rechnen, die Entwidlung ded Rechtes bis zur Gegenwart nicht
nad theoretifchen Fictionen, fondern nach dem wirklichen Verlauf Fennen
will, für den tft ed unmöglich, über die breite Lücke hinmwegzufpringen, welche
die mittelalterliche Dogmengejchichte des Rechte zwifchen dem altrömijchen
und dem modernen Recht darftellt.*
Es iſt nicht Endemann’d Abſicht geweſen, das gefammte Verkehrsrecht
des Mittelalters und deſſen Entwickelung zu ſchildern, eine das geſammte
Verkehrsrecht umfaſſende Geſchichte der mittelalterlichen Dogmatik zu liefern.
Eine ſolche Aufgabe würde in der That der Zeit nach an einem doppelten
Hinderniſſe ſcheitern. Das ungeheuere Material liegt noch faſt chaotiſch durch—
einander, nicht einmal die Quellennachweiſe erſcheinen irgendwie erſchöpfend
abgeſchloſſen und geordnet. Und ſodann widerſtrebt der Zuſtand der mittel—
alterlichen Doetrin ſelbſt wie kaum eine andere den heutigen Anforderungen
an eine ſyſtematiſch zuſammenhängende Darlegung. Man mag noch ſo hoch
denken von dem wunderbar ſcharfſinnigen und geſchloſſenen u des Fano»
Grenzboten IV, 1874,
490
nifhen Kulturgebäudes, der kanoniſchen Rechtsordnung, auf allen Gebieten,
auf denen fie einft mächtig emporragten über die Staaten und Völker der
mittelalterliben Welt: der Juriſt wird dennoch überall daran erinnert, daß
dieſes Gebäute und diefe Ordnung auf einem Fundamente ruht, das mit
rechtlicher Beurtheilung und Gonftruction fo wenig ald möglich zu thun hat,
auf dem blinden Glauben, dem zwingenden Dogma. Daher muß die Grund
lage verfinfen und der folge Bau ftürzen, fobald der Glaube wankt und der
Zwang ded Dogmas bezweifelt wird. Es genügt, daß Endemann den Ber:
lauf diefer natürlichen Entwidelung an einzelnen Rechtserſcheinungen bis Ins
Kleinfte nachweiſt. Damit iſt für mande anderen der leitende Tingerzeig
gegeben, den Spuren zu folgen, welche zuerft die eracte aber verältete Denk
meife des Römerd, dann die humane Tyrannis der Fanonifchen Theorie, dann
das Bedürfniß moderneren Freiheitäftrebend in den gangbaärften und wid-
tigften Formen des Rechtsverkehrs Hinterlafjen haben. Auch die unmittelbaren
Folgerungen für die Gegenwart wird der Sachkenner überall direct an dieje
Nachweiſe Entemann’® anzufnüpfen vernögen. Ragen doch fo viele beaux
restes der mittelalterlichen Wucherlehre z. ®. unmittelbar in die Gegenwart,
in zahlreichen Dunfelheiten, Controverfen und Schrullen des lebendigen Rechtes
in wichtigen Zweigen des öffentlichen Verkehrslebens.
Jedem, der die beiden Bücher ftudirt hat, wird die Verwandtfchaft auf
fallen, welche diefe Unterfuchungen Endemann's mit denen Wilhelm Roſcher's
in feinem neulich befprochenen Werke, die „Gefchichte der Nationalöfonomil*
haben. Der Natur der Sahe nah iſt Endemann’? Aufgabe etwa in dem:
felben Maaße begrenzter, wie Roſcher's Unternehmung gegenüber der Gefchichte
und Literatur der Staatömifjenfchaften, die Robert von Mohl zu liefern
unternommen. Endemann mußte in engerem Rahmen arbeiten, weil die
nattonalöfonomifche Theorie der pofitiven Rechtsverkehrsnorm gegenüber die leichte
Erpanfivfraft de8 Dampfed im Vergleich zum Waſſer befist. Das Verfehre
recht if die zum Gemeingut der Nation gewordene Anerkennung einer beftimm-
ten Theorie der Volkswirthſchaft. Und die Völker Ieben bei meitem lang:
famer und zäher ala die einzelnen Denker. Aber dafür ift Endemann’s Auf
gabe und Darftellung infofern auch reicher, wie diejenige Roſcher's, als
Endemann au die praftifche Uebung und virtuofe Veberlegenheit des
Wirthſchaftslebens über die kanoniſch-romaniſche Doctrin zur Anſchauung
bringen fann, während Rojcher, feinem Plane gemäß, nur die Umrifje und
Wandlung der nationalöfonomifchen Theorien in Deutfchland feit Ausgang
des Mittelalter und vorführt. Auch dur das Uneinanderpaffen der beiden
Geſchichtsperioden, der mittelalterlihen Endemann’d zur modernen NRofcher's,
ift das gleichzeitige Erfcheinen der beiden bedeutenden Werke befonders erfreulid.
98.
491
Hlandereien aus Jondon.
3.
Während das gewöhnliche Londoner Wohnhaus ein befcheidened und
einfaches Aeußere zeigt; während großartige Brivatgebäude, im directen
Widerſpruch mit dem, nach continentalen Begriffen, unermeglichen Reihthum
der Stadt und ihrer Bewohner, nicht Häufig zu finden find, fo zeigt ſich da»
für bet allen öffentlihen Bauten, befonderd in den neuern Straßenan:
lagen, den Kais, den fohönen grünen Plätzen, überall ein großartiger Sinn
ausgeprägt. Aber auch hier ift es durchaus nicht dad Streben nad Ver—
ſchönerung der Stadt, welches die Projectirung und Ausführung folder
Bauten eingab und in allen ihren Theilen beeinflußte, fondern beinahe einzig
und allein das Nüslichkeitäprinzip, fodaß diefes fi auch naturgemäß überall
deutlich erfennen läßt.
Daß dabei fehr weſentliche Verſchönerungen als Nebenzweck erreicht
worden, ift wohl felbftredend und ficherlich werden diefelben auch von vielen,
oft maßgebenden Merfönlichkeiten nicht fo ganz als Nebenfahe behandelt,
oder vielleicht richtiger gefagt: diefe Perfönlichkeiten wünfchen diefelben nicht
zu fehr in zweiter Linie behandelt zu fehen und pflegen diefelben nach beiten
Kräften mit vieler Liebe. Im Allgemeinen aber hat der Engländer zu menig
Sinn für dad mas die übrigen gebildeten Völker ſchön nennen, um feinen
praktiſchen Sinn durch äfthetifche Rückſichten allzufehr beeinfluffen zu laſſen,
befonder® wenn letztere den Nützlichkeitsgeſichtspunkten gefährlich werden könnten.
Die zwei Gefihtspunfte, welche die Londoner Behörden in erjter Linie
bei ihren großartigen neuen Bauten und ganzen Städteanlagen leiten, find:
möglihfte Erleihterung des Verkehrs und Schaffung von ge—
ſunder Quft und [hönem Grün inmitten der Häufermaffen, welche bei-
den Zwecke fich fehr häufig durch diefelbe Anlage erreichen laſſen. In erfterer
Hinficht ift in den letzten Jahren in London außerordentlich viel gefchehen und
noch jest werben immer wieder neue großartige Straßendurhbrüche gefchaffen.
Während es der Engländer in allen andern Dingen vorzieht, dem Privat-
unternehmungägeift die Herftellung von neuen Verkehrswegen zu überlaffen
und 3. B., wenigſtens bis jest, der Begriff der Staatseifenbahn unbekannt
und fremdartig tft, fo werden alle diefe großen Straßenanlagen in London
und andern großen englifchen Städten faft ausfchlieglich durch die ftädtifchen
Gemeinwefen, natürlich unter Aufmwendung enormer Koften ausgeführt.
Es zeigt fich Hier alfo das ganz entgegengefegte Bild unferer deutfchen
Hauptitadt, wo ſich neben Staatdeifenbahnen viele Privatgeſellſchaften, oft
vergeblih, bemühen das Straßennes der Stadt durch mehr oder minder
492
fegendreiche Anlagen zu verbeffeen und oft ihre befte Zeit und ihre beiten
Kräfte an den Schwierigkeiten vergeuden, die ihnen durd die fo überreich
gegliederten, um nicht zu fagen zergliederten Behörden Berlin, die troß des
beiten Willend, aber megen ihrer Bielgliedrigkeit diefe Schwierigkeiten nicht
zu bewältigen vermögen, bereitet werden.
Die deutſche Auffaffung der Eifenbahnen als gemeinnüsige Verkehrs—
anftalten, die und mehr und mehr zum Staatdetfenbahnfyftem hingeführt bat
und täglich demfelben noch näher führt: diefelbe Auffaffung, die auch bet allen
Landſtraßen in noch viel ausgeprägterer Weiſe auftritt und mit vollem Recht
deren vollftändige Freigabe verlangt, fcheint momentan, befonders in Berlin,
in Bezug auf ftäbtifche Straßen etwas verfchoben zu fein, fonft hätte die
Stadt felbit ſchon längft die fo nothwendige Schaffung neuer Verkehrswege
in die Hand nehmen müſſen. Allerdings iſt bet allen von Privaten ausge—
führten derartigen Anlagen durch PBolizeivorfähriften und Conceſſionsbeding-
ungen nach beiten Kräften dahin gewirkt worden, das öffentliche Intereſſe
zu wahren. Uber in vollem Maaße kann das doc nie gefchehen, denn erftend
juchen die Privaten doh ausſchließlich ihren eigenen pecuniären Vortheil
und dann fann durch ſolche Privatanlagen fehr leicht die nothwendige Aus
führung wirklich geſunder Straßenzüge geradezu vereitelt werden, weil fie
häufig zwar annähernd dadfelbe Ieiften, aber aus Privatrüdfichten doc
nicht die wirklich einzig richtige Lage erhalten Fonnten und dieſe letztere
nun, des nochmaligen Koftenaufmande® wegen, troß des ungenügenden Er-
ſatzes doch nicht mehr ausführbar erfcheint.
Zum MUeberfluß werden aber au, troß aller Vorſicht der. Behörden
diefe jelbit oft noch getäufht. Sch brauche hier wohl nur an das Geber’iche
Anduftriegebäude in der Kommandantenftraße in Berlin zu erinnern. Der
Tall dürfte wohl, da er in vielen Blättern feiner Zeit befprochen wurde, auch
über Berliner Kreife hinaus befannt fein. Dort fol fi jest die Stadt an-
hidden dem Gebäude gegenüber mit großen Koften diefelbe Straßenverbrei-
terung vorzunchmen, die fih vor Jahren beinahe ohne Koften dur Zurüd-
ſetzen der Fluchtltnie bei dem fogenannten „Umbau“ des fraglichen Gebäudes
hätte erreichen Iaffen.
In der englifhen Hauptftadt werden, wie gefagt, beinahe alle diefe neuen
Straßenanlagen durch die Gemeinde ausgeführt und diefelbe findet, abgejehen
von Katanlagen, auch noch mit der Zeit ihre Rechnung dabei. Der Eng-
länder Itebt irgend welche Störung und Schmälerung feine® Beſitzes weniger
als irgend font etwas und fo fommt es, daß er in den meiſten Fällen, wo
auch nur Eleine Theile feines Grundftüds für die Straßenanlagen gebraudt
werden doch auf den Erwerb ſeines ganzen Beſitzes dringt und das Gefek
ſchützt ihn auch in diefem feinen Verlangen. So gelangt die Stadt in ben
493
Befig von ausgedehnten Ländereien, und wenn diejelben auch die erfte Anlage
jehr erheblich vertheuern, fo kann die Stadt doch die dadurch erlangten fehr
werthvollen Baupläße, deren Werth natürlich durch die Straßenanlage mefent-
ih geftiegen tft, vortheilhaft verkaufen oder verpachten. Letzteres iſt das
bäufigere und zwar erfolgt die Ausnusung ded Grund und Bodens in fol-
gender Weife. irgend welcher Bauunternehmer pachtet den Pla von der
Stadt gegen die Verpflichtung ein Haus darauf zu bauen auf 99 Jahre.
Nach Ablauf diefer Zeit muß der Pla& wieder der Stadt zurücdgegeben werben
und alle etwa darauf befindlichen Gebäude entfallen dann auch der Gemeinde.
Der Bauunternehmer gelangt fo in den Beſitz eines Haufed, das ihm eigen-
thümlich gehört, ohne daß der Grund auf dem es fteht, fein Eigenthum ift,
er verpachtet oder verkauft wohl auch fein Haus an dritte Perfonen, aber
immer fällt Alle nach Ablauf der genannten Friſt an die Eigenthümerin
des Bauplatzes zurüd. Diefe Art der Berwerthung der miterworbenen ‘Bar:
zellen oder ganzen Grundftüde ift die Negel, vollftändiger Verkauf felten,
weil beide Theile ihn nicht wünfhen und niemals führt die Stadt ald eigene
Unternehmerin auf ihren Grundftüden Häufer auf.
Auf diefe Weiſe find in den Iebten Jahren in der City die großen
ſchönen Straßenanlagen am Holborn-Viaduct entftanden, der felbit auch eine
großartige ftädtifhe Schöpfung tft und dazu dient, die fo verkehrsreiche
Skinner Street mit dem High Holborn über die nicht minder belebte Farring-
don Street hinweg zu verbinden, während früher dort Wagen und Fußgänger
einen geradezu gefährlichen Thalübergang zu paffiren hatten.
So ift die ſchöne Queen Bictoria Street im belebteften Theile der un-
ermeßlichen Stadt zmifchen der Bank und dem neuen Thamefembanfment
theilweife noch im Entſtehen begriffen und fo wird jest wieder eine neue
große Straße zwiſchen Charing Croß und der Themfe durchgelegt, durch
melde fogar das berühmte Palais des Herzogd von Northumberland mit
feinen Prachtgemächern, feinem Kamin aus maffivem Silber und feinen werth-
vollen Kunftfammlungen den alles verfchlingenden Verkehrserleichterungen
weichen muß.
Es ift fo in England ſchon feit einer Reihe von Jahrzehnten ganz von
felbft das Erreicht, mad fo lange in Berlin von vielen Kreiſen vergeben® an-
geftrebt wurde, daß nämlich die Stadt bei neuen Straßenanlagen durd alte
Stadttheile foviel Grundftüde durch Erpropriationdreht mit erwerben Fünne,
daß fie dadurch in den Stand gefett fet, fich durch ſpätere Veräußerung der
mit erworbenen und in zweckmäßigſter Weife neu parzellirten Bauplätze für
den augenbliclichen bedeutenden Koftenaufwand menigftend einigermaßen zu
entfchädigen ; d. 5. daß fie diejelben Bortheile geniegen möge, welche Privat-
gefelfchaften durch den freihändigen Ankauf ganzer Grunditüdcomplere, der
i 494
ja befanntlich allen Behörden bei weitem nicht in demjelben Maaße möglich
ift, faktiſch auch ohne Erpropriationdreht genießen. Nach dem alten Erpro-
priationdgefeg war died unmöglih; und mäÄhrend der Engländer das baare
Geld einem noch ungemiffen Gewinn, der fih aus dem etwaigen Steigen eined
Merthes feined® Grundftücddrechtes ergeben Fönne, vorzieht, — der durch die
neue Straßenanlage ja immerhin fehr wahrſcheinlich if, — und daher ganz
von felbft auf vollftändigen Ankauf feine® Grundftüds drängt, fo bält.im
Gegentheil der Berliner auch noch den Kleinsten Reſt desſelben mit bervundernd-
werther Energie feft, alle von der immenfen Entwidelung des Verkehrs der
neuen Straße erhoffend und erfchwert und vertheuert dadurch den ftädtijchen
Behörden die Anlagen gemeinnübiger neuer Verkehrswege fehr erheblich.
Jeder Fremde, der das Parlamentsgebäude in Weſtminſter und die
daran anftoßende neue MWeftminfterbrüde betrachtet, wird auch unwillkürlich
fein Augenmerk auf das jenfett® der Themfe gelegene neue St. Thomad-
Hospital richten, welches mit feinem faubern Ziegelrohbau aus ſchöner grüner
Umgebung fo freundlich herausfchaut, daß es unmillfürlih zur Betrachtung
herauäfordert. Und wenn man dasjelbe einer näheren Befichtigung unter:
zieht, fo wird man ob all der ſchönen zweckmäßigen Einrichtungen ftaunen,
die von einem ungewöhnlichen Reichthum Zeugniß ablegen und man wird
die gütigen Spender desjelben höchlich loben. Doch nur nicht zu voreilig mit
diefem Rob, denn von milden Gaben tft Hier Feine Rede. Wir Haben hier
einfach ein eflatantes Beiſpiel vor und, wie Gorporationen, die mit dem Gr-
propriationdrecht ausgeftattet worden find, auf Verlangen dazu gezmungen
werden, ganze au&gedehnte Befisungen felbft dann erwerben zu müffen, wenn
der abfolut nothwendige Grunderwerb auch noch fo unbedeutend tft. Es war
hier eine Eifenbahngefellfhaft, die das alte Hospital befchneiden wollte, und
diefed hat e8 verftanden, feine alten fchlechten Anlagen nicht allein los zu
werden, fondern diefelben auch durch vorzügliche zu erfegen, alles auf Koften
der South Eaftern Eifenbahngefelfchaft, die beim Bau der Eifenbahn von
London Bridge nad Charing Croß nur die Wahl hatte, eine der größten
Brauereien der Welt, nämlich die von Barclay, Perkins u. Cie., oder dad
alte Thomashospital zu erwerben und von zwei Uebeln das Fleinere vorzog;
von milder Stiftung aber ift hier nicht die Rede, ganz im Gegenteil.
Da wir und einmal auf der Meftminfterbrüde befinden , ſei es auch ge
ftattet, de8 fchon vorhin erwähnten Thamefembanfment3 zu gedenken, meldes
bei diefer Brücke feinen Anfang nimmt und in der City bei der Bladfrlard-
brüdfe endet. Von der MWeftminfterbrüde aus bietet fich dem Beſchauer ein
überaus anmuthige® und anregende Bild dar. Eine 30 M. breite Ufer
ftraße von Wagen und Spaziergängern ftarf belebt, zieht fih am linken Ufer
ſtromabwärts, von derfelben führen zahlreihe Randungsbrüden nad) den
495
Landungsplätzen der fo zahlreihen Dampfboote, die unabläffig die Theme auf-
und abwärts fahren, und an die Straße reihen ſich die fchönften grünen
Parks, über denen die Häufermaflen und Thürme der unermehlichen Stadt
beraudragen. An Stelle diefed wirklich prachtvollen Anblicks zeigten fich noch
bis vor wenigen Jahren die mwidermärtigften Sümpfe und Moräfte, welche die
ganze Gegend zur Ebbezeit verpeiteten, und um diefem Uebelftand abzuhelfen,
bat die Stadt dad Thamefembankment mit einem wirklich enormen Koſten—
aufwand ausgeführt. Es befteht aus einer mächtigen Ufermauer, die unter
den ungünftigften Fundirungsverhältniffen bei einer Fluth- und Ebbedifferenz
von 6 WM. auf eine Länge von etwa einer halben deutfchen Meile aus dem
fefteften Granit ausgeführt ift. Und hinter diefer Mauer liegen übereinander
die unterirdifche Eifenbahn,, deren Sohle unter dem Hochmaflerfpiegel ver
Themfe liegt und die ſchöne breite Uferftraße, die auf der einen Seite den
Berfehr mit dem fo belebten Strome und auf der anderen mit den herrlichen
Park und Gartenanlagen vermittelt. Wahrlich beim Anblide dieſes groß-
artigen Unternehmen? kann man mit gerechtem Stolze von dem menschlichen
Schaffenstriebe erfüllt werden, der vor Feiner Schwierigkeit zurückſchreckt, der
fih die widerwärtigften Naturereigniffe nutzbar zu machen weiß und, wenn
auch oft von den Naturfräften arg bedrängt, diefelben doch ſchließlich ſiegreich
überwindet.
Diefed Themſeembankment iſt in der Baugefhichte Londons gleich epoche—
machend als verfehrserleichternde und gefundheitäfördernde Schöpfung und,
nebft der Ganalifation wohl das großartigfte, was die Stadtgemeinde in den
legten Jahrzehnten in baulicher Beziehung geleiftet hat.
Über auch aller Orten in der ganzen großen Metropole wird mit rühm-
lihem Eifer danach geftrebt, den Bewohnern derfelben ein möglichft großes
Quantum guter Quft zuzuführen. Am ficherften läßt fich dies ja ſtets durch
Bertheilung von Bäumen und Sträudern durch die Stadt erreichen und fo
fehen wir denn auch eine ſolche Maſſe von Parks und grünen Pläten inner-
Halb Londons, wie fie wohl Feine zweite Stadt auch nur annähernd aufzu-
weifen hat. Zunächſt find hier die weltberühmten großen Parks zu nennen,
die im Often und Welten, Norden und Süden angebracht find, und mit ihren
unvergleichlich ſchönen Raſen Alt und Jung, Hoch und Niedrig gleich fehr
erfreuen. An fchönen Baumpartien und vor allen Dingen an der Mafjen-
haftigfeit derfelben mögen die Parks unferer deutfchen Großftädte den eng-
liſchen Rivalen weit überlegen fein, unfere öffentliden Promenaden und
Gärten zeigen beinahe überall einen waldartigen Charakter, der ficherlich
ihren eigenthümlichen Reiz mefentlih erhöht und ih muß offen befennen,
daß troß der englifchen Raſen unfere deutjchen urmwäldlichen Gärten auf mid)
einen fohöneren und tieferen Eindrud machen, ala die Londoner Parks mit
496
ihrer geledten Sauberkeit. Aber was nügt und all unfere Schönheit, menn
fie, außerhalb der Städte, wegen der großen Entfernungen von den Wenigſten
Teiht zu erreichen ift, und Wochen, ja Monate vergehen können, ehe die
Bewohner der entlegeneren Stadttheile ſich derfelben erfreuen. Deffentliche
Parks gehören in dad Innere der Städte, und mo feine vorhanden find,
möge man melche fchaffen. London zeigt hier ein ehrenwerthes Beifptel und
wenn man mir etwa einwenden will, feine deutfche Stadt könne mit London
verglichen werden, fo kann ich darauf einfach erwidern, daß es befjer ift, bei
Zeiten auch fhon für die Zukunft Hin zu forgen, als fih erft dur noch
größere Einwohnerzahl und noch größere Sterblichkeit zu Maßregeln zwingen
zu laffen, die dann in der Regel unverhältnigmäßig viel Eoftfpieliger werden,
ald wenn fie ſchon eher audgeführt worden wären.
Und nicht allein Parks gehören in das innere der Städte, fondern auch
grüne Pläge und auch davon zeigt Kondon einen nachahmenswerthen Reid:
tbum. Es wird wohl wenig Pläge mehr in der englifchen Hauptftadt geben,
die niht mit Bäumen, Rafen und Sträuchern geziert wären und menn
vielleicht auch der Engländer den Werth diefer grünen Pläte etwas zu hoch
veranfchlagen mag, wenn die unverhältnigmäßig hohen Miethen für die an
ſolchen Plägen gelegenen Häufer fich einzig wegen der größeren Reinheit der
Luft kaum rechtfertigen laſſen, jo find fie doch ficherlich bedeutend beſſer und
freundlicher ala die Plätze unferer deutfchen Großftädte, die fo Häufig zu
weiter nicht® da zu fein foheinen, als zur Anhäufung unermeplicher Sand»
maffen, die beim geringften Windftoß die ganze Umgebung der Pläte mit
Staub erfüllen; oder die den fchreienden Marft- und Fifchweibern zur fpeztellen
Vebung der Stärke ihrer Yungen angemiefen zu fein fcheinen.
Selbft der Trafalgar Square, der mit feinen Steinmafjen eine monumen-
tale Wirkung hervorbringen follte, fol jest in einen grünen Plab umge
wandelt werden; er wird unftreitig dann auch feinen eben genannten Zweck
weit befjer und vollflommener erfüllen, denn Grün iſt einer monumentalen
Wirkung ntemald nahtheiltg, fondern viel förderlicher, al® die Anhäufung
langmeiltger Steinmaffen.
Um diefe Square und um die im Weſten und Nordweſten gelegenen
Parks find denn auch die Paläfte des reichen englifchen Adels gruppirt, hier
findet man auch ftattlichere Miethshäuſer und jene, befonderd threr inneren
Einrihtungen wegen fo berühmten Elubhäufer der zahlreichen wiſſenſchaft⸗
lihen und Vergnügungägefellihaften. Aber auch felbft hier find die Mieth
häuſer in unfchöner Wetfe fohablonenmäßig eins neben das andere geftellt,
und ein Blick auf die Speztalfarten Londons zeigt, daß bet ſämmtlichen um
einen Platz herum gruppirten Häufern die Grundrißdispofitton völlig überein
ſtimmt. Leider ift dasjelbe auch bei der Fagade der Fall, und wenn aud oft
an arena
497
mit verfchrwenderifcher Wreigebigfeit, feitend der Bauherrn, mit Granit und
Marmor und Statuen aus echtem foliden Material das Aeußere des Haufeg,
dem innern Werthe deafelben entjprechend geſchmückt worden ift, fo wirken
alle diefe Herrlichkeiten doch entfeglich geifttödtend, meil die ewige Wieder—
bolung felbft die ſchönſte Form in den Staub der Alltäglichfeit und in das
Gebiet des Lächerlichen herabzieht. Zudem find aber die einzelnen Formen
nur in den feltenften Fällen ſchön zu nennen, fondern in der Regel prangen
die Gebäude in einem äußeren Kleide, das durch gedankenlofe Nahäffung und
Aneinanderreifung von Formen aller möglichen verjchtedenen Bauftyle ent:
ftanden tft.
Die großen Provinzialftädte Englands mögen im Allgemeinen in archi—
teftonifcher Beziehung ein viel anregendered Bild darbieten, ald London, und
namentlich wird Liverpool in feinen öffentlichen Gebäuden wohl von feiner
anderen Stadt Großbritanniens erreiht. Aber auch bier ift überall die fabrif-
mäßige Herftellung der Wohngebäude ihrer äußern Wirkung entfchieden feind:
felig. Selbft in dem herrlichen Edinburgh, das von der Natur mit ver-
Ihmenderifcher Pracht ſowohl Hinfichtlich feiner Lage, als auch hinſichtlich
feiner eigenen Gruppirung audgeftattet ift, dämpft diefe ewige Wiederholung
derjelben Formen, die wie ein Fluch auf der englifchen neuen Architectur zu
laften fcheint, die günftige Wirkung der Stadt ganz erheblih und fie ift hier
am allerunbegreiflichften, wo doc) die Natur und die alten Baumeifter mit
einer Fülle der herrlichiten Abmwechfelungen durchaus nicht gegeizt haben. Die
alte ehrwürdige Highſtreet wirft troß ihres Schmutzes und troß der viel ein:
fahern Mittel ihrer Fagaden doc fehr viel anregender, als die neuen
Straßen der vornehmen Welt, oder gar der Moray Place, bei dem dad emige
Einerlet feiner Paläfte einen unglaublich düftern und langweiligen Eindruck
bervorbringt, der felbft nicht durch das fehöne Grün, in dem fein innerer
Theil prangt, ganz aufgehoben werden kann.
Großartig zu bauen verftehen die Briten, wie wohl faum ein anderes
lebended Volk, aber die Schönheit kommt dabei fehr oft fchlecht genug weg.
Troß der fo bedeutenden Mittel, über die England und feine Bewohner zu
verfügen haben, tragen unfere continentalen Grofftädte doch einen viel monu—
mentaleren Charakter, und unfere deutiche Hauptftadt vor allen kann ſich troß
ihrer befcheidenen Mittel in diefer Hinficht dreift mit jeder Stadt dieljeitd des
Kanals meffen.
Der Grund für diefen auffallenden Mangel an entwickeltem Kunftfinn
unter den neuern Architecten Großbritanniens dürfte wohl hauptſächlich darin
feinen Grund haben, daß diefelben nicht ordentlich gefchult werden, wobei
diefer Ausdrud natürlich in feinem beften Sinne gemeint ift.
Die Kunft kann weder handwerksmäßig erlernt werben, * in ganz
Grenzboten IV, 1874.
IE
498
freier zügellofer Bahn edle Früchte treiben, fondern auch bet ihr ift die
Schulung, felbft bei epochemachenden Genied von wefentlichem Einfluß. Weblt
diefe, jo artet fie zu leicht in verſtändnißloſe Nachahmung oder in unjchöne
Originalität aus und in diefen beiden Richtungen ift in England mehr denn
genug zu fehen.
Man hat der von fo vielen Seiten oft geihmähten Berliner Ardhitectur
wegen ihrer antikifirenden Richtung fehr oft Mangel an Originalität vor-
geworfen, aber ich glaube, daß diefer Vorwurf durchaus ungerehtfertigt iſt.
Gerade ein Vergleich mit der englifchen Architectur, zeigt den Werth der
ftrengen Berliner Schule in feinem vollen Licht. Gin Gang durch die Straßen
in der Nähe des Thiergartens zeigt eine Fülle der reizendften villenähnlichen
Gebäude, die troß der vorzugsweiſen Anwendung antiker und Renaifjance-
formen fo eigenartig und originell find, wie man fie in London in der Nähe
der Parks oder in Richmond, Sydenbam und Forreft Hill vergeblich fucht.
Ein aus der Berliner Schule hervorgegangener Architect würde fich aber
auch niemals derartige Nahahmungen, um nicht zu fagen Copien zu Schul-
den fommen laffen, wie man fie in London zahlreich vertreten findet.
Während im Hyde Park in London der Marble Arch _eine ziemlich ge—
treue Nachbildung eines römifchen Triumphbogend zeigt, befigt Berlin fein
dur und durch originelled Brandenburger Thor. Während die Nelfonfäule
auf dem Trafalgarfquare eine getreue Nachbildung einer Forinthifchen Säule
des Mars ultor» Tempeld zu Rom ift, fann wohl Niemand der Stegeafäule
auf dem Berliner Königsplage, — mag man nun über diefelbe denfen, mie
man will — Mangel an Originalität vorwerfen und gerade ihr Erbauer tit
einer. der getreueften Anhänger der ftrengen antiken Richtung.
Wenn man vor dem Britiſh Mufeum mit feinen jonifchen Säulenhallen
jteht, wird man unmwillfürlih an die ältere aber auch fo viel ſchönere Säulen:
halle unſeres Meifters Schinkel, an das alte Berliner Mufeum erinnert.
Letzteres ift mit all feinen ftreng antifen Formen eine fo eigenartige herr»
the Schöpfung, daß das ftattliche Britiſh Mufeum dagegen doch vollftändig
in den Hintergrund tritt.
Und troß der unendlich werthvollen Schäße, die in Originalen in dieſem
jelben Britiſh Mufeum beherbergt werden, troß diefer Kunſtſchätze mit ihren
ewig unvergleichlich fchönen Formen, welche zum eingehenditen Studium
förmlich herausfordern, troßdem leiſten die Berliner Architecten mit ihren
beſcheidenen Mitteln vermöge ihrer ſtrengen Schulung mehr als ihre engliſchen
Kollegen und doch Können fie, ftatt an Originalen, ihre Studien großentheils
nur an Gypsabgüſſen und Nachbildungen machen.
In der Nähe des Eufton Square befindet fich bier eine Kirche, deren
MWeftfagade eine grobe Wiedergabe der Hauptfacade des Erechtheion zeigt;
499
jeder Arm ded Querjchifies beiteht aus der ebenfalld roh ausgeführten Eopie
der Horenhalle defjelben griechiichen Tempeld und der Thurm über der Weſt—
fagade ift durch zweimaliged Mebereinanderfegen des Thurmes der Winde, des
älteften korinthiſchen Bauwerks, gebildet. Die Gefimfe find nach dem Erech—
theion und dem Thurm der Winde combinirt; und das ganze Baumerf macht
in diefer Zufammenfegung ganz den Eindrud, ald ob ed nur audgeführt
worden fei, um damit einen ewigen Hohn auszuſprechen. Wahrlich, berliner
Architeeten würden fich in der Weije niemald an den ſchönſten Formen attifch
joniſcher Baufunft verfündigt haben; fie befigen allerdings glücklicher Weiſe
nicht genug „Originalität“ um die edlen Verhältniffe des Erechtheion
mit feinen berrlihen Karyatiden dem Spotte Preis zu geben. Ebenſo be.
findet fih in Birmingham am Eingange zum Güterbahnhof der London—
und North. MWeftern Eifenbahngefellichaft ein großartiger jonifcher Porticus.
Dan könnte wirklich Herzlich lachen, wenn derartige Verirrungen nicht fo
jehr traurig wären, oder foll dadurd etwa der Güterfehuppen als Tempel
des Hermes dargeftellt werden? —
Unter diefen Umftänden mundert ed mich daher auch gar nicht, daß
unter den Künftlern aller Zeiten und aller Länder die ala Reliefs auf dem
Unterbau des Albert Memoriald dargeitellt find, der größte Baumeiſter diejeg
Jahrhunderts, Schinkel, fehlt, während die englifchen Architecten zweifel-
bafter Größe in einer Bollftändigfeit vorgeführt werden, die fich felbjt durch
die nationale Eitelkeit nicht erklären läßt, wenn man eben erſt ihre Were
gejehen hat.
Der Engländer bat eine ganz befondere Vorliebe dafür, feine Helden,
Generäle und fonftigen berühmten Männer möglihit hoch auf Säulen oder
dergleichen zu ftellen. So ftehen in London Nelfon auf dem Trafalgar-
Square, York am Ende der Regent Street nah dem St. James-Park zu auf
hohen Säulen, Wellington an der Hyde Park Corner auf einem großen
Triumphbogen und in Neweaſtle upon Tyne und in Edinburgh finden ſich
wieder berühmte Männer auf hoben fchlanfen Säulen.
63 iſt diefe Art von Monumenten allerdings nicht eine englifche Er-
findung, fondern dad Vorbild aller mag wohl urfprünglich die Trajansſäule
gemejen fein. Da aber diefe nicht allein aus der Zeit des Berfalld der römt:
[hen Kunft ftammt, fondern gerade dieſen Verfall mit am allerdeutlichiten
in fi darftellte, fo hätte man glauben follen, daß das im ihr ausgeprägte
Prinzip Feine Nachahmung finden werde.
Wollen die Engländer mit ihrem aufs Materielle bedachten Sinn etwa
die geiftige Höhe ihrer Helden gleich räumlich darftellen, oder ftellen fie die—
jelben deßhalb auf folhe Höhen, daß man fie nicht mehr mit unbewaffnetem
500 J
Auge erkennen kann, um dadurch weniger an die perſönliche Aehnlichkeit
bunden zu ſein?
Ich ſollte denken, daß derartige nationale Denkmäler, die jedenfalls ein
große Erziehungsaufgabe erfüllen, indem fie dem Volke tagtäglich feine Ges
hichte predigen, nur dann diefen ihren Zweck ganz erfüllen Fönnen, wenn
man ſich durch ſie auch die Geſichtszüge der edeln Vaterlandsvertheidiger, de
großen Helden, die der Stolz der ganzen Nation ſind, einprägen kann.
Allerdings hat das engliſche Volk außer den auf den Strafen und
Plätzen aufgeftellten Monumenten nod eine große Anzahl von Denfmälern,
die in den hervorragenden Kirchen, zum Andenken an berühmte und nicht
berühmte Männer errichtet worden find, und die bei der englifchen Sonntag?
feier, die den Menfchen förmlich zum Kirhenbefuh zwingt, allerdingd auch
oft und deutlih dem Volke feine Gejchichte predigen. Unter den Kirchen
diefer Art, die dadurch gemwilfermaßen zu einem Pantheon werden, find vor
allen andern die MWeftminfter Abtei und die Paulskirche zu nennen. Die
beiden großartigen Bauten find ſchon an fi höchſt ſehenswerth, aber fie
werden durch den Reichthum ihrer Monumente noch weit bedeutender. Bes
fonderd die MWeftminfter Abtei entrollt mit ihren theilweife munderfchönen
Grabdenfmälern ein gut Stück englifcher Gefchichte vor den Augen und die
nahe gelegene Wejtminfter Halle mit dem neuen großartigen Parlamentsge—
bäude und dem prachtvollen Monument von Richard Löwenherz vor dem—
felben vereinigen fih alle mit den taufend Erinnerungen weltgefhichtlicher
Greigniffe, die fih daran Enüpfen, um das Bild zu vollenden.
Diefe Heine Gruppe großer, alter und neuer Gebäude, die fih hier eng-
gedrängt zufammen finden, dürften wohl ihres Gleichen auf der Welt fuchen,
nicht ſowohl wegen ihrer äußern Erfcheinung, ald wegen der Fülle nationaler
Denkmäler und gefchichtlicher Erinnerungen, die fich an fie Enüpfen.
Hier ruhen Königin Eliſabeth und Maria Stuart in derfelben Kapelle,
bier find die fämmtlichen berühmten englifchen Staatdmänner, die Pitts,
Ganning, For, durch Denkmäler geehrt, Hier ruhen in der Poets'Corner die
gefeiertiten englifchen Dichter neben unferm deutfchen Händel, bier find die
Koriphäen der Wiſſenſchaften und die erfinderifchen Genies beigefebt.
Und drüben im neuen Parlamentsgebäude mit feiner foliden Pracht,
feinen einzig [hönen Hallen und beinahe übertrieben geſchäftsmäßigen Sitzungs—
jälen find wieder die ſämmtlichen Fürften und Fürftinnen Englande und
Schottlands in friedlichfter Eintracht bildlich dargeftellt, wie wenn fie fi} nie
im Leben bitter angefeindet hätten. Und die großen bildlichen Darftellungen
an den Wänden der Hallen und Gorridore befchäftigen ſich beinahe aus-
ſchließlich mit den erbitterten Kämpfen zwifchen Krone und Parlament,
zwiſchen Ober- und Unterhaus, Hier wird gerade durch die Darftellung diefer
501
heftigen Kämpfe, die einft auch die Eriftenz und Entwidlung der ganzen
Nation bedrohten, deren läuternde Wirkung und der aus ihnen heraus:
gewachjene feite, beinahe unerjchütterlihe Beltand der englifhen Staats—
verfaffung fo recht Klar.
Wann werden wir in Deutfchland fo weit fein, daß wir unbefchadet des
Friedend unfered Hauſes die heftigen Stürme unjered Staat?» und Ver—
fafjungsleben®, in denen wir noch mitteninne ftehen, in unferm Reichstags—
gebäude bildlich darſtellen können? Gebe Gott, daß die Zeit nicht mehr zu
fern it! —
als Schinkel nach den Befreiungsfriegen mit all feiner [höpferifchen Kraft
und dem ganzen Enthufiagmud einer wahren Künftlerfeele daran ging, für
Berlin einen großen Siegesdom zu projectiren, da wollte er au) aus dem»
jelben ein deutfched Pantheon machen. Der Plan wurde nicht verwirklicht,
jpäter wurde zwar am Ruftgarten ein großartig angelegter Dom begonnen,
aber auch unvollendet gelaffen, und bis heutigen Tages harrt der Siegesdom
feiner Ausführung. Zu den Befreiungskriegen find die Tage von 1870—71
gekommen, das neue deutfche Reich tft erftanden, ausgezeichnete Generale,
unvergleichlihe Siege, wie fie Feine andere Nation aufzumweifen hat, hat
Deutfchland zu feiern und zu verherrlihen, und noch immer harrt Berlin
auf die Vollendung feined Domes, der fo recht eigentlih ein nationales
Denkmal werden follte, in dem dad Volk all den vielen Helden und den für
des Vaterlandes Freiheit und Macht Gefallenen ehrende Denkmäler fegen follte.
Vielleicht ſchafft das neue Reichstagsgebäude Erſatz für diefen Mangel,
— vielleicht; doch ift beinahe zu befürchten, daß es unferer nüchternen Auf-
fafjung gemäß nur zu fehr „Geſchäftsgebäude“ werden möge; ift doch
Ihon die Frage des Platzes für dasfelbe mehr oder minder nad diejem
Geſichtspunkte zum Nachtheil für den monumentalen Charakter desfelben be-
handelt worden.
Hoffen wir daher, daß das neue Reich nicht allein fein Geſchäftshaus
befomme, jondern auch das fchon fo lang geplante nationale Gotteshaus
endlich auch feine Vollendung erhalten möge.
Alfred Blum.
Sfatiftifhes und Vopographifhes vom Oxuslande.
Es ift nicht länger als 1", Jahr, feitdem die Expedition gegen Khiwa
zum Abſchluß gebracht worden, und ſchon verlauten wieder beunruhigende
Gerüchte aus den Gegenden füdli vom Aralſee. Die wilden turfmenifchen
02
Nomaden fehren fich wenig an die ruſſiſchen Verträge und an den Khan vom
Khiwa, der jest erſt recht nicht im Stande ift, fie in Ordnung zu halten,
und bald gegen feine fogenannten Unterthanen die Hülfe der Auffen wird in
Anfprud nehmen müfjen. Diefen aber fann ed nicht gleichgültig fein, ob in
den Gebieten, die fie dauernd pacificirt zu haben meinten, das alte Unweſen
fortdauert oder nicht, abgefehen davon, daß ihre natürlichen Grenzen nad)
dem Stande ihrer Macht eigentlich erft bei den Gebirgen von Choraffan
liegen. Die ruffiihen Unternehmungen in Zurfeftan haben von jeher den
Beifall, faft der ganzen gebildeten Welt für fich gehabt. Rußland, mag es
auch vornehmlich feine territoriale Vergrößerung und Machtitellung in Mittels
afien dabei im Auge haben, e8wertritt in jenen Gegenden die Intereſſen der
Civilifation und Menfchlichkeit gegenüber einer barbarifchen Bevölferung und
dient den Wifjenfchaften, die e8 für feine Zwecke gebraudt. Nur England
vermag fich diefer Auffaffung nicht anzuſchließen und hütet mit mißtrauifchen
Bliden die Grenzen von Afgbaniftan, wie fie durch die Verhandlungen vom
Winter 1872/73, die der jetige neue Botfchafter, Graf Schumalow, jo ge
ſchickt leitete, feftgefegt worden find.
Diesmal find es die räuberifhen Nomaden vom Stamm Tekke, dem
wildeften und gefährlichften im ganzen fürlichen Turan, gegen die vielleicht
eine neue Expedition oder Rekognoscirung im größeren Maßftabe nöthig
wird. Ihr Uebermuth wird von Tage zu Tage größer, da die Ohnmacht
des Khans am Tage ift, und der Czar, denken fie, ift weit. Sie fenden ihre
Horden in Stärke von mehreren hundert Mann bi unter die Mauern von
Khima und plündern ohne Rückſicht auf die Nähe der ruffifhen often die
friedlichen und anfäfigen Stämme der Amu-MNiederung. Nach den jüngiten
Nachrichten fcheint es fogar, ald ob fie vor einem bewaffneten Webertritt auf
das rechte Ufer nicht zurücicheuten, woraus hervorgeht, dag dad Preftige der
ruffifhen Waffen bei ihnen doch nicht fo groß fit, als es nach der lehten,
fo brillant gelungenen Expedition zu erwarten wäre, Rußland aber darf ſich
diefen Barbaren gegenüber auch nicht das Geringfte gefallen laſſen und ſich
nie mit einem halben Erfolge begnügen, wenn es fein Anfehen nicht aufs
äußerfte gefährden will. Unter diefen Umftänden lenken wir die Aufmerkſam—
feit unferer Lefer von neuem auf jenes Wüftenland und zwar auf den noch
am mindeften durchforſchten Theil desfelben, das Gebiet zwiſchen Amu-Darja
und Kaspifee, indem wir, was über die Topographie und Statiftif dieſer
Gegenden befannt geworden ift, in der Kürze mittheilen.
Die Tekke ſchweifen füdlih vom Aralſee und der Dafe Khiwa bis zu
den Abhängen des Elburs und den Grenzen des Emirs von Herat, die fie
fih bei ihren häufigen Raubzügen zu überfehreiten nicht ſcheuen. Sie find
Sunniten, wie alle turfmenifchen Stämme, und als ſolche gefchmorene Feinde
503
der fchitttifehen Perjer, denen fie auf alle MWeife Abbruch zu thun fuchen,
Sie rauben Menfchen und Vieh an der Grenze und fchleppen jene ald Sklaven
fort, um fie gelegentlih zu verfaufen. Früher waren Buchara und Khiwa
ihre Hauptabfaspläße, wo erft die Teste Erpedition dem Menſchenhandel ein
Ende aemaht hat. Beſonders aber haben die jchiitifchen Pilger von ihnen
zu leiden, die zu dem Grabe des Imam Riſa, eines Schülerd des Ali, nad
Meſchhed wallfahren, und die Karawanenitraße von Redeſcht über Mijamid
nach Mejchhed ift fet3 von auflauernden Tekfehorden umlagert. Südöſtlich
dehnen fie ihre Raubzüge fogar bis Afterabad aud und fpotten des perfifchen
Statthalters, der für den Kopf jedes getödteten Turfmenen einen Preis zahlt.
Hier. fand die ruffifche mwifjenjchaftliche Erpidttion nach Khorafjan, melde
unter Chanykow im März 1858 eintraf, die Einwohner in höchſter Angit
vor den räuberifchen Banden, die bis unter die Mauern der Stadt fchweiften.
Die Tekke zerfallen nach perfifchen Nachrichten in zwei Stämme: Tekke
Aachalniſchin und Tekke Gumniſchin. Die Lesteren haben feine feiten Weide.
pläße, fondern ziehen in der Wüſte umber, indem fie den Brunnen nachgehen,
die fie beliebig wieder verlaffen, und führen ein rechtes, wildes NRäuberleben.
Die Aachalniſchin find zwar auch größtentheild Nomaden, doch haben fie
einige fefte Anfiedlungen an Wafjerpläten und ihre beftimmten Sommer»
und Winterweiden. Sie bauen etwas Gerfte, Weizen, MWafler- und Zuder-
melonen und ein wenig Neid. Ihre Stuten find vorzüglid. Auch verar—
beiten fie Schafmolle zu Teppichen u. dgl., die fie verfaufen. Zur Sicherung
ihrer Niederlaffungen haben fie ſich kleine, vwieredige Lehmfeitungen angelegt,
um melde herum fie ihre Fifchzelte (Kibitken) aufftellen und in die fie fi
beim Herannahen eine? Feindes flüchten. Uns liegen perfifche ſtatiſtiſche
Angaben aus dem Jahre 1855 vor, nach melden die ſämmtlichen Tekke da-
mals auf ungefähr 10,700 Zelte gefhäst wurden, doch kann diefe Schätung
höchſtens für die Aachalniſchin einige Genauigkeit beanspruchen, welche den
Verfern am nächſten wohnen und von diefen zu ihren Unterthanen gerechnet
werden. *)
Meftlich von den Tekfe wohnen die ihnen ftammverwandten Jomud und
Golan: jene an der Dftküfte des Fafpifchen Meeres, von der Mündung des
Fluſſes Atrek nördlich bis zum Abfall des Ueſt-Urt⸗Plateaus zwifchen Aral
und Kaspiſee; diefe etwas füdöftlih an dem Flüßchen Gurgan und an der
perfifchen Grenze. Sie find der Zahl nah am ſchwächſten, größtentheils feſt
angefiedelt und haben an die Perſer ihre Selöftitändigfeit verloren, denen fie
ein jährliches Maliat d. i. Abgabe von 6000 Toman (perfiichen Dufaten)
entrichten müfjen. Die Jomud find theils freie Nomaden und ziehen als
*) Angaben in Tageöblättern, nach denen fich die Zahl der Tekke auf ca. 500,000 Köpfe
belaufen foll, find entweder verdruckt oder viel zu boch gegriffen. —
504
folde in der Steppe zwifchen dem Atrek und dem großen Balchangebirge um-
her, theils find fie im Atrefthal anfäffig und treiben Aderbau, Viehzucht und
Fiſcherei. Ste befahren da8 Meer in großen gedeckten Böten, die bisweilen
drei Maften führen, und holen Hol, Salz und Naphtha von der Inſel
Tſcheloken im Kaspiſee. Im Winter machen fie am Atret Jagd auf Waſſer—
vögel, die hier enorm zahlreich find, und verkaufen deren Häute und Federn
an Kaufleute aus Aſtrachan. Die oben angeführte Quelle ſchätzt fie auf
9210 Hütten mit angeblich nur 22,180 Köpfen, was in feinem rechten Ber:
hältniß zu ftehen fcheint. Die Golan »- Turfmenen merden auf 2550 Haus—
haltungen angegeben.
Sollte wirklich eine Erpedition gegen die Teffe nöthig werden, mie «8
nad dem oben Angeführten den Anfchein hat, fo fragt es fih, von meldher
Seite man am beften den unbequemen Gäften beikommen könnte. E38 handelt
fich Hierbei darum, die Feinde In ihrem Lager aufzufuchen und ihre feften
Punkte zu befegen, die ihnen zur Zuflucht dienen und zur Eriftenz unent-
behrlih find. Mahrfcheinlich wird mar, wie ed auch bei der Expedition
gegen Khiwa geſchah, die Sache von zwei Seiten zugleich in Angriff nehmen.
Auf der einen Seite ift e8 die Amu-Linie, welche die Nordoft- Flanke des
Feindes bildet. Diefe wird um fo fefter fein, je weiter die Dampfſchifffahrt
auf dem Amu-Darja aufwärts geht, und je aufrichtigere Gefinnungen, wenn
au nur nothgedrungen, der Khan gegen Rußland hegt. Oberſt Stftolatow
ift mit dem Parowöky umgekehrt bei einem Punkte, etwas oberhalb des
Forts Petro -Alerandromaf, wo die Stromfchnellen beginnen und fidh der
Diherma von dem Amu abzweigt. Do find jene nicht fo reißend, daß
thnen nicht mit gefteigerter Dampfkraft zu begegnen wäre, und bietet das
Fahrwaſſer überall die nöthige Tiefe, die fogar meiter aufwärts zunimmt, fo
dag man mit Hülfe Fundiger Lootſen leicht bis zur Höhe von Khima und
noch meiter gelangen kann. Aber bier lagert fich in breiter Ausdehnung die
Wüſte Kharafan vor, die bis jetzt noch durch Feine Expedition befchritten ift
und möglichermeife mehr Schwierigkeiten bietet, als die berüchtigte Kyfyl-Kum.
Hat man die Dafe von Khima oder die Niederung des Amu-Darja hinter
fih, fo fteigt der Boden zufehende an und führt der Weg gen Südweſten
mehrere hundert Werft durch eine Sandfteppe mit eintöniger Hügelformatton,
wo noch feine Brunnenftationen befannt find. Und doch find Iettere das
erite und nöthigite Erfordernig bei der Bewegung irgend einer XQruppen-
abtheilung. Soweit man die Steppe Eennt, ift fie nicht fo arm an Vegetation,
ald man vermuthen follte, und bietet den Nomaden einige, wenn auch nur
fpärliche Weidegründe. Hier wählt das Gras nicht, wie wir und mohl
denken, zu ganzen Wiefenflächen zufammen, fondern findet fih nur in einzelnen
großen Büfcheln, etwa 3 bis 4 auf einem Quadrat» Faden (Safjchehn
505
a 7 engl. Fuß), und wiegen etwa 20 bis 30 folcher Büfchel zufammen ein
Pud (16% Klgr.). Die Sandhügel find theils regellos vertheilt, theils ziehen
fie fi in Ketten von Oft nad Weit, durhfchnittlih 15 bis 20 Fuß hoch
mit biöweilen fteilem Anſtieg. Wird man Gefhüse duch den tiefen Sand
über die Hügelfetten fortfchaffen können?
Ein bequemerer Zugang zu den Teffingen-Neftern bietet ſich, mie es
jheint, von Weften, von den Ufern des kaspiſchen Meered, wo die Ruſſen
bereit8 in den Jahren 1869/70 einige fefte Punkte eingenommen haben. Hier
it die Entfernung nicht fo groß und der Weg befannter. Der eine jener
Bunte ift Kradnomodsf, gegenüber der Stadt Baku, in einem Winkel einer
tiefeingefchnittenen Bucht, die nad dem Balchan-Gebirge den Namen trägt;
der andere Tichikifchlär an der Mündung des Atreffluffe® im Gebiete der
Somud. Der nordmeftliche Winkel der Balchanbucht Heißt die Krasnowodsker
Bucht und bietet einen vortrefflichen Hafen, der im Weſten durch eine ſchmale
Randzunge, im Süden durch die vorgelagerte Inſel Tſchelaken geſchützt if.
Der Eingang ift nur 21, Meile breit und hat, wie die ganze Bucht, eine
Tiefe von durchfchnittlih 26 bis 28 Fuß, ift alfo für große Schiffe zugänglich.
Diefe außerordentlich günftige Rage erregte anfangs die Erwartung, als fei
Krasnowodsk dazu beftimmt, ein großes Handeldemporium zu werden, das
den Verkehr von den Faufafifchen Ländern und den Küſten des ſchwarzen
Meeres nad Mittelafien hin auf direftem Wege vermittelt. Bis jett ift aber
dazu Feine Ausfiht, und es fragt fi, ob Krasnowodsk jemald mehr als eine
ruffifche Feftung werden wird. Die Gegend ringd umher ift öde und jeder
Begetation bar, Süßmwafferquellen fehlen ganz und gar, und nur dur An.
legung artefifcher Brunnen wird e8 möglich fein, brauchbares Waſſer für
Menihen, Bieh und Kulturpflanzen zu ſchaffen. Die Zukunft der ganzen
Anlage hängt jomit mehr oder weniger vom Erdbohrer ab.
Bon Krasnowodsk aus gingen die erften ruffifhen Erpeditionen zur
Erforfhung jenes räthfelhaften Erdfpaltes, der fih, von den Eingeborenen
Usboi d. t. niedrige (Ebene genannt, von dem innerften Winkel der Balchan—
Bucht im Allgemeinen nordöftlich bi8 zum Aralſee hinzteht, und in dem man
nunmehr das alte Bett ded AmusDarja oder Oxus erkannt hat, welcher
früher mit einem Seitenarm in den Kaspifee mündete. Durch die Rekognos—
eirungen der Dberften Stebnitzki und Markofoff in den Jahren 1870—72 tft
die Linie des Usboi bis auf eine Strede von etwa 200 Werft in der Mitte
befannt geworden. An diefer Stelle bildet das alte Flußbett einen großen,
nad Norden offenen Bogen, welchen Oberft Markofoff dur Einhaltung der
geraden Richtung abſchnitt. So gelangte er im Jahre 1871 zu einem Punkte
des Usboi, Decktſcha genannt, der noch etwa 180 Werft in gerader Linie von
Khiwa entfernt ift. Hier fanden fich mehrere Süßwaſſerſeen in * trockenen
Grenzboten IV. 1874.
506
Flußbett, das eine Breite von 150 Faden hat. Turkmenen, die bier ihre
Meidegründe haben, fagten aus, daß das Land von hier bi Khiwa Hin
ziemlich wafjerreich fei und zwar nicht dur Quellen und Brunnen, jondern
durch Kanäle aus dem Amu. Hierauf ſchien auch die bei Dedtfcha fich reicher
entwicelnde Vegetation hinzudeuten: man fand an den Uferböfhungen Laub—
bäume von 3 bid 4 Faden Höhe und 6 bid 8 Zoll im Durchmeſſer. Auch
fol diefe Dertlichfeit von den die Dafe Khiwa bemohnenden Nomaden häufig
befucht fein. Da nun die Rekognosecirung des Oberften Glukhowski, die
diefer im Jahre 1873 gleich nach der Eroberung von Khima vom unteren
AUmu-Darja aus unternahm, zu demjelben Punkte, aber von entgegengefeßter
Richtung gelangte, wobei man die Angaben der Turfmenen Hinfichtlih der
Bemwäfjerungsverhältnifie beftätigt fand, fo dürfte von Dedticha aus die Ver—
bindung auch nad Oſten ala gefichert anzufehen fein, und diefer Punkt durch
Anlegung eined Forts oder einer Milttärftation, wozu er fih zu eignen
ſcheint, bald eine bebeutende Wichtigkeit erlangen. Ueberhaupt ijt die Linie
des Usboi ald die geeignetfte Operationsbafi3 gegen Süden hin, wo bie
Tekkingen-Feſten Tiegen, zu betrachten. Sie ift verhältnigmäßig ziemlich reich
an Brunnen und Kleinen Seen, deren Waſſer zwar meift von bitterlihem und
falzigem Geſchmack ift, aber doch braudbar zum Kochen und Trinken. Der
Weg führt theild in, theild neben dem alten Flußbett entlang und ift, vor-
ausfichtlih auch in dem noch nicht bekannten Theile, ziemlich praftifabel, da
er der Richtung einer vielbetretenen KRaramanenftraße folgt, die von Khiwa
nad den Meidepläten der Jomud an der Atrefmündung führt.
Auch in das Herz ded Teffe-Gebietes felbft find die Ruſſen bereit® von
diefer Seite her eingedrungen. Zuerſt Oberft Stebnitzki, welcher im Dezember
1870 feine erfte Rekognoscirung in füdöftlicher Richtung theils zur Erforfhung
des Oxuslaufes, theild gegen die Teffe-Turfmenen unternahm. Bon dem
füdlichften Punfte des Usboi ausgehend, verfolgte er die angegebene Richtung
am Nordoftabhange eine® Gebirge entlang, das unter dem Namen Kjurjan-
Dagh eine Fortfegung des Balchan zu bilden foheint, bis zu der Hauptfeite
der Tekke, Kyfyl-Arwat. Er begegnete auf diefer ganzen ungefähr 180 Werft
mefjenden Strede etwa 10 Brunnenftationen mit ziemlich brauchbarem Waffer,
außerdem aber zahlreichen Begräbnißftätten und Aulen (Zeltdörfern) des
Tekfeftammes; auch ſah er viele kurze Flußläufe, die in nordöftlicher Richtung
aus dem Kijurjan-Dagh hervorfamen. Noch weiter drang Oberft Markofoff
im Herbft 1872 vor. Seine Unternehmung, die bedeutendfte, die von der
Seite des Faspifchen Meered her von den Ruffen unternommen wurde, und
deren Reſultate vielleicht erft jet ihre volle Wichtigkeit erlangen werden, be—
wegte fih von zwei Punkten nad) demfelben Ziele hin. Man hatte nämlich
inzwiſchen die Strede von Krasnowodsk bis zur Atrefmündung, 250 Werft,
507
durchforſcht und an dem Punkte Tſchikiſchlär eine Militärftation errichtet.
Mir können nad den vorliegenden Nachrichten nicht beurtheilen, in wie weit
diefer Weg für größere Truppenbewegungen praftifabel ift_und ob er fich zu
einer Verbindung zwifchen Krasnowodsk und Tſchikiſchlär eignet. Er enthielt
etwa 20 Brunnen mit theils falzigem, theils brafigem (etwas falzigem) Waſſer
und war auf der rechten öftlichen Seite von einzelnen dünenartigen Sand-
bügeln begleitet. |
Bon Tſchikiſchlär aus zog die eine Kolonne unter perfönlicher Führung
Markoſoff's in nordöftlicher Richtung, die oben erwähnte Karamanenftraße
benußend, nach dem Usboi, wo ein Punkt zum Rendezvous beitimmt war.
Die andere Abtheilung, bei der fich Oberft Stebnigft und der befannte Heidel-
berger Geolog Dr. Sievers befanden, war in gerader öftlicher Richtung von
Krasnowodsk aus zu demfelben Punkte gelangt. Won hier aus bewegte fi
das vereinigte Erpeditiongcorp8 den Usboi aufwärts, wurde aber an einem
Süßwaſſerſee, wo fie ſich gelagert hatten, von einer Horde Tekkenzen ange
griffen, welche ihnen die Kameele mwegzutreiben verfuchten. Allein die Räuber
wurden mit Berluft und Hinterlaffung von Gefangenen zurüdgetrieben. Bald
darauf erfehienen Abgefandte der Tekke, welche um Entfhuldigung wegen des
Ueberfalld und um Auslieferung der Gefangenen baten. Unter den Ent-
ſchuldigungsgründen zeichnete fi) namentlich einer durch feine Originalität
aus: fie hätten, fagten fie, die ruffifhen Truppen für nicht beſſer als die
perfifhen gehalten. Die Gefangenen wurden ihnen ausgeliefert, da fie nur
eine Laſt waren, aber zur Bedingung gemacht, daß fie binnen 3 Tagen
300 Stüf gute Kameele liefern follten, widrigenfalld fie ſtrenge Ahndung
treffen würde. Was zu erwarten war, gejhah: die Kameele trafen nicht
ein. So beſchloß denn Oberſt Markoſoff, den Weitermarfh nad Oſten ein-
zuftellen und eine Rechtsſchwenkung zu machen, um die Nefter der Tekke auf:
zufuchen.
Wir enthalten und der weiteren Bejchreibung des ziemlich 140 Werft
mefjenden Weges durch die Sandfteppe, deren Natur mir im Anfange ſchon
berührt haben. Der Marfch war befonders dadurch ſchwierig, daß man gleich
zuerft auf einer Strede von 93 Werft fein Wafjer fand, Kyfyl-Arwat, das
man endlih nach vielen Mühjfeligfeiten erreichte, Tiegt etwa 490 Fuß über
dem Niveau des Faäpifchen Meered, 3 Werft vom Fuße des Kjerjan-Dagh
entfernt, und bildet die nord-mweftliche Spite einer Reihe von ungefähr 60 Be-
feftigungen, welche die Teffe an dem Abhange des genannten Gebirged zum
Schuß ihrer Aule angelegt haben. Die Feſtung hat eine quadratifhe Form
und beiteht aus Lehmmauern, die etwa 80 Faden lang und 16 Fuß hoch
find. Innerhalb derfelben erhebt fich eine Gitadelle mit etwas höheren Mauern
und Thürmen an den Eden und Thoren. Naht fih ein Feind, fo ziehen
508
fich die Bewohner der umliegenden Aule mit aller ihrer transportablen Habe
fchleunigft in die Feftung zurüd und warten hier die Belagerung ab. Als
die Ruſſen anlangten, war jedoch Kyſyl-Arwat bereitö geräumt und auch die
Gitadelle ftand Teer. Oberſt Markofoff zog nun mit feinem Corps in füd-
öftliher Richtung die Befeftigungslinie der Tekke entlang und paffitte die
Teftungen Kodfh, Sau, Kyfyl- Tihefhlt, Diehengi, die er gleichfalls ſchon
geräumt fand, während bei den beiden letzten Punkten, die er erreichte, Bami
und Beurma, 62 Werft von Kyfyl-Arwat, die Turkmenen nicht Zeit gefunden
hatten, ihre Kibitfen in Sicherheit zu bringen. Die Gegend an den Abhängen
des Gebirged mar ziemlich gut angebaut und durch zahlreiche Kleine Bäche
bewäfjert. Bei Kyfyl-Arwat war ein ſolcher Bach aus feinem urjprünglichen
Bette abgeleitet und vermittelft Eünftliher Gräben dur die umliegenden
Felder geführt, wo Weizen und Dſchuwan, eine Art Hirfe, auch etwas Baum-
wolle gebaut wurde. An den Bachufern waren Pappeln gepflanzt und bier
und da Wafjermühlen angelegt, die, mit alten Weiden umgeben, einen freund»
lihen und faſt gemüthlichen Anblick gewährten. Die feſten Anftedlungen der
Tekke erſtrecken fich angeblich in einer Ausdehnung von 400 Werft am Ge-
birge entlang und enthalten außer Kyfyl-Arwat noch eine Stadt oder nam—
baftere Ortſchaft, Aſchabad mit Namen. Doch befinden fi auch am obern
Atref und am Gurgan Niederlaffungen der Tekfe und zwar vom Stamme
Aachalniſchin, die jedoch Oberſt Markofoff auf feiner Rekognoseirung nicht
berührt hat. Er wandte fih, nachdem er feinen Zweck, die Räuber einzu»
ſchüchtern erreicht hatte, den Kierjan-Dagh in einem langen, ſchluchtähnlichen
Thale durhfchreitend, in gerader Richtung nach dem Atrek zu, in defjen Thale
fortziehend, er die Weiden der befreundeten Jomud und Tſchikiſchlär erreichte.
Diejen flößte der Zug gegen die Tekke die höchſte Achtung ein. Sie hatten
vor dem Audzuge de Oberſten benfelben wohlmeinend gewarnt, ſich nicht
mit ihren Stammverwandten am Kjerjan-Dagh einzulafjen, vor deren Tapfer-
feit und MWildheit fie den größten Nefpekt hatten. —
9 Schmolke.
Der Prozeh Arnim,
Berlin, 20. Dezember 1874.
Nahdem in der Anklage gegen Graf Harry Arnim die öffentlichen
Gerihtöverhandlungen am 15. Dezember beendet waren, ift geftern Nachmittag
das Urtheil verfündet worden. Um diefem Prozeß fein Recht widerfahren zu
laffen, müßte man eine umfaffende Studie geben, welche in drei Haupttheile
zu zerlegen wäre. Gin Theil müßte die veröffentlichten Aktenſtücke und ihre
509
politifche Bedeutung behandeln ; ein zweiter Theil die Vorgänge der öffent:
lichen Verhandlungen; ein dritter Theil den Urtheilsfprug. Am erften Tag
nah dem Schluß des Prozeſſes ift es begreiflichermeife nicht möglich, diefe
Studie vorzulegen. Ich beſchränke mich heute auf einige Bemerkungen über
den Eindruf der Verhandlungen. Der erfte Eindrudf, den wir in Bezug
auf den Gefammtverlauf der Verhandlungen conftatiren müfjen, ift der wenig
erfreuliche, daB der Anklageprozeß bei und bereitö mit eilenden Schritten auf
dem Wege der Entartung fich befindet. Zum erften Mal trat ein deutfches
Bericht aus einem Eleinen’Kreife der Aufmerffamkeit vor die Augen der Welt.
Alles war dazu angethan, die Betheiligten zur Wahrung der höchſten Würde
und zur lauteften Hingabe an den Ernft der Sache aufzufordern. Was follen
wir nun fagen zu diefen unaufhörlichen rüden perfönlichen Angriffen der Ver:
theidiger auf den Staatdanwalt? Als der Anklageprozeß bei und eingeführt
wurde, da wiederholte man und immerfort: der Vertheidiger ift Fein Rechts—
verdreher, Staatsanwalt und BVertheidiger find nicht etwa natürliche Gegner,
fondern befreundet in dem höchften Beitreben der Wahrheit und des Rechte;
nur ift zur Sicherung dieſes Beſtrebens die Aufmerkfamkeit des Vertheidigerg
auf die Momente der Unfchuld, wie die des Anklägers auf diejenigen der
Schuld gerihtet. So belehrte man und. Wo war nun von diefer Einheit
des Beſtrebens bei diefem ganzen Prozeß noch eine Spur zu entdeden? Mir
glaubten uns nicht felten in Amerika, auf dem Boden der völligen Entartung
des Strafprogefjed. Die Angriffe der Vertheidigung verſchonten nicht einmal
das Gericht felbft. Wir glauben aber, fo darf vor einem fich felbit adhtenden
Volke niemald im Gerichtäfaal geſprochen werden. Mo folche Beſchwerden
in der Ueberzeugung der Vertheidiger gegründet find, da muß durch fachliche
Führung der Verhandlungen dad Material vervollftändigt, und dann bie
Klage auf Mißbrauch der Amtöverwaltung erhoben werden. Die Empfindung
ded Herrn Präfidenten war wohl immer die richtige. Aber wir können un-
fere Berwunderung nicht bergen, die ärgften Ausfchreitungen als „unparlamen-
tariſch“ bezeichnet zu finden. Die Gebräuche der Parlamente find andere,
müffen ganz andere fein als die der Gerichte und der fämmtlichen Vertreter
des Rechts bei der öffentlichen Ausführung ihres Berufs. Auf die Würde
des Gerichts iſt zu vermweifen, die weit firengere Anforderungen ftellen muß,
als der parlamentartfche Brauch.
Das unerfreuliche Thema, welches und hier gegeben worden, läßt fi
leider fo bald nicht erfchöpfen. Daß ber durch feine würdige Perfönlichkeit,
wie durch feine hohe Stellung gleich ausgezeichnete Stantäfefretär des deutfchen
Auswärtigen Amtes infultirt wurde, Fonnte und bei diefer Art der Ber:
theidigung nicht Wunder nehmen. Aber in das höchſte Erjtaunen wurden
wir verfeßt, daß ein Vertheidiger einen Zeugen zweimal des Meineids bes
510
zihtigen durfte, ohne den mindejten fachlichen Grund anzugeben. Sind das
die Rechte der Vertheidigung? Dann find mir ja wohl nächſtens in Amerika,
wo jeder ehrenhafte Menfh um jeden Preis die Berührung mit den Gerichten
meldet, um nicht unter der burlesken Impertinenz der Warteivertreter zu
leiden; wo er fich lieber mit den Verbrechern abfindet, um nur nicht in Be
rührung zu fommen mit den Advokaten.
Nach der formellen Haltung der Verhandlungen fallen wir zunädit
einige allgemeine materielle Momente der Bertheidigung ind Auge. Da mir
die Berührung mit der Aufgabe des Nichterd meiden, Taffen wir die Frage
nad dem Verhältniß zu dem beftehenden Recht bei Seite. Es Fommen aber
in jedem Prozeß, und in diefem ganz befonders, zahlreiche Dinge vor, welde
nit nach juriftifchen, fondern nad den Begriffen des Lebens und der herr:
ſchenden Eultur zu beurtheilen find, oder auch nad den technifchen Begriffen
anderer Berufe. Der erfte Vertheidiger war e8, der mit einem folchen Kreis
von Begriffen fih ganz befonderd zu thun machte, nämlich mit der Technik
des diplomatifchen Dienfted. Er that es mit einer Selbftäufriedenheit und
einer zur Schau getragenen Veberlegenheit, die einen übermwältigenden Gontraft
bilden gegen eine Kogif, die an Abraham a Sancta Clara erinnert. Diplo:
matiſche Aktenftüde find nämlich, fo wurde ausgeführt, feine Rechtsurkun—
den, weil fie Hiftorifche Urkunden find! Wir bemerken, daß, wenn bieler
haarfträubende Schluß nicht dem Vertheidiger angehören, fondern der nothge-
drungen mehr oder minder flüchtigen Verichterftattung zur Laſt fallen follte, es
doch jedenfall® unbegreiflich bleibt, was die breite Auslaffung über die Hiftorifche
Urkunde follte, wenn fie nicht etwa ein bloßes Mittel zur felbitgefälligen Aus
ftellung trivialer Weisheit war. Für die reife der Bildung giebt ed wohl nichts
Einfacheres ald den Unterſchied diefer beiden Begriffe. Eine hiftorifche Urkunde
ift jedes fchriftliche und im meiteften Sinn jeded gegenftändliche Erfenntnif-
mittel für den Gang der Begebenheiten und für den Stand der Gultur in
einer Epoche. Will man den Begriff der Rechtsurkunde abgrenzen, fo hat
man nicht nöthig, bi8 an die Außeriten Grenzen des Spradhgebraudd zu
gehen, bis zu welchen derfelbe die Anmendung des Wortes Urkunde erftredkt.
Eine Rechtsurkunde tft im engen Sinn das formelle Zeugniß für das Ganze
oder den Theil eines Rechtsaktes. Wie weit dieſer Begriff im juriſtiſchen
Sinn ausgedehnt werden muß, darüber gehen die wiſſenſchaftlichen Anfichten
ja auseinander, und ob Erlaffe und Berichte des diplomatifchen Dienfted
unter den juriftifchstechnifchen Begriff der Urkunde zu befaffen find, darauf
wollen wir, den ſelbſtgeſteckten Grenzen gemäß, nicht eingehen. Im Sinne
des gebildeten Sprachgebrauchs find fie e8 aber, wie wir fogletch nachmeifen
wollen. Denn menn zur Urkunde im engften Sinn ein Schriftftüd nur
werden kann durch die Tendenz der Ausfertigung, jo kommt diefer Begrif
511
im weiteren Sinn zur Anwendung dur den Gebrauch, den die Nechtäpflege
von einem Schriftſtück macht. jedes Schriftſtück, das zum Zeugniß einer
Handlungsmeife geeignet tft, für welche Jemand in ftaatdbürgerlicher oder
amtlicher Beziehung zur gefelichen Verantwortung gezogen werden Fann, ift
eine Urkunde, fobald der Gebrauch der Nechtöpflege begonnen hat. Behaupten,
ein Privatbrief, der bei Gerichtäaften fich befindet, und den Jemand bei
Seite ſchafft, fei Feine Urkunde, weil die Ranke und Sybel der Zukunft ihn
ald Eulturdofument benugen fünnen — fo etwas darf man wohl in einem
Pickwickelub behaupten, aber nicht in einem deutfchen Gerichtsſaal. Die diplo-
matifchen Aktenftüde find nun aber Urkunden, nod ehe ein beftimmter Ge-
brauch der Nechtöpflege ihnen gegenüber begonnen hat, weil fie von Anfang
an für die Möglichkeit dieſes Gebrauchs einer forgfältigen Behandlung unter
worfen merden. Sie dienen ebenjowohl zur Rechtfertigung des Leiters der
Politik ald der ausführenden Beamten, für die fie beftimmt find. Der Herr
Bertheidiger, welcher die Miene annahm, als kenne er den diplomatijchen
Dienft, wie wenn er Minifter der ausmärtigen Angelegenheiten in drei
Großſtaaten gewejen wäre, warf tie Frage auf, wozu man die Originale in
Paris aufheben müfje, wenn die Gopien in Berlin aufbewahrt würden. Nun
wenn mit den Gopien nach denjelben Grundfägen umgegangen würde, mie
fie die Verthetdigung für die Originale aufftellt, fo wäre der diplomatifche
Dienft fchier eine Unmöglichkeit. Sit es aber nicht von Wichtigkeit, den
Eingang eined Grlafjed zu conftatiren? Können nicht einmal in einem
folhen auch Abweichungen vom Concept vorfommen, melde die Eile nicht
erlaubte nachzutragen? Darf ein ſolches Dokument bei Seite gefchafft werden,
damit nachher die Vertheidigung möglicherweife die Mebereinftimmung der
Concepte in Zweifel zieht, wie diegmal die NRegiftrirung der geheimen Aften-
ftüde, troß der pofitiven Ausfagen der Sadjverftändigen, in Zweifel gezogen
worden ift. Die diplomatifhen Aktenſtücke werden einer forgfälttgen geregel-
ten Aufbewahrung für den Zweck der gefeglichen Verantwortung der Urheber
und der Empfänger unterworfen. Das ſchon macht diefe Dokumente zu Ur:
funden, macht auf alle Fälle die unbefugte Wegführung derfelben zum Dienft-
vergehen, weil die Sicherheit über den Verbleib diefer Aktenftüde zur Wahrung
des Staatsgeheimniſſes gehört im Verkehr mit fremden Nationen, gegen bie
wir auf der Hut find. Außerdem dienen diefe Aktenftüde ja auch zur unent-
bebrlichen Information der fpäteren gefchäftsführenden Beamten und nicht
bloß für den Empfänger und im Moment des Empfanged. Freilich fagte
einer der Herren Vertheidiger: ein Staat, der mie das deutjche Reich für den
diplomatifchen Dienft nicht einmal eine Regiftraturordnung erlaffe, mie fie
jedes Gericht befite, der dürfe fich über die unregelmäßige Behandlung der
diplomatifchen Aktenſtücke nicht beſchweren. MWahrfcheinlich wird derfelbe
512
pathetifche Herr Vertheidiger auch behaupten, daß die Heerführer im Kriege
für die Aufbewahrung der Befehle nicht verantwortlich find, weil für die
Veldaften Feine Negiftraturordnung eriftirt. In der That muß die Behand-
lung der Geſandtſchaftsarchive eine verfchiedene fein je nach der Beichaffenheit
des Aufenthaltes, nah der Möglichkeit der Beichaffung zuverläffigen Perſo—
nald, des Lokals und taufend ähnlichen Dingen. Die Regierung muß fi
auf die Verantwortlichkeit, die Wachſamkeit und Gefchielichkeit der verfchie-
denen Chefs verlafien. Eine einheitliche Regiftraturordnung für Conftantinopel
und Japan, für Paris und Wafhington wäre eined Minifterd von Schöppen-
ftedt würdig. Und die Unmöglichkeit gleichartiger Vorſchriften für die For—
men der Sicherung diefer Aktenſtücke fol die Verantwortlichkeit der Chefs
aufheben, fol pflihtwidrige Nachläffigkeit rechtfertigen oder gar dolofe Ent-
fremdung ?
Die Behauptungen der Bertheidigung, melde nicht zunächft den Be-
griffen der Jurisprudenz, fondern dem Wahrheitäfinn der allgemeinen Bildung,
auf deren Boden fie fi bewegten, ind Geſicht fehlugen, find hiermit bei
weitem nicht erfchöpft. So wurde dem Staatdanwalt infinuirt, er habe die
mweggenommenen Aktenſtücke ala werthlofe Sachen erklärt, weil er die MWep-
nahme derfelben zwar auf eine rechtömidrige, aber nicht auf eine gewinnſüch—
tige Abficht zurückführen wollte. Als ob es nicht Randeöverräther geben
fönnte, die auß Rache, Eitelkeit, aber nicht au Gewinnſucht handeln. An
die Logik der epistolae obscurorum virorum gemahnte ed, wenn der Begriff
des Staatdeigentbumd auf die diplomatijchen Papiere für unanwendbar er-
flärt wurde, weil das Eigenthbum ein Begriff des Civilrechts, das deutjche
Neich aber ein Bundesstaat und ohne einheitliches Civilrecht ſei. Wie werden
die Franzofen bedauern, diefe Deduetion nicht gefannt zu haben! Sie hätten
fih damit die Zahlung der Milliarden erſpart. Wir aber glauben, daß
diplomatifche Aktenſtücke Mittel zur Führung der Regierung find, und daß
das Strafrecht zu allen Zeiten und bei allen Bölfern diefe Mittel fhüst.
Ein helles Rachen übermannte und in diefer traurigen Angelegenheit, ald mir
lafen, daß die Natur einem genialen Kopfe niemald eine peinliche Ordnung?-
liebe verliehen habe, die hinwiederum niemald in Verbindung mit hoben
geiftigen Gaben angetroffen werde! Hilf Himmel, diefer Vertheidiger ftreicht
und Goethe, Friedrih den Großen und — mir wollen nicht_fortfahren, meil
wir ſchwer aufhören könnten — au® der Reihe der genialen Köpfe Es gab
eine Zeit, wo man Genie und Kiederlichfeit als zufammengehörig anfah.
Heute weiß jeder nicht oberflächlich gebildete Menſch, daß die Ordnung, ja,
Herr Bertheidiger, die peinliche Ordnung das unentbehrliche Bedürfnig aller
[höpferifchen organifirenden Naturen ift auf dem Felde der Wiſſenſchaft, der
Prarid und der Kunft. Die Bermuthung läßt fi) kaum abmweifen, daß der
513
Herr Vertheidiger aus feiner eigenen Methode die Heberzeugung ſchöpft: „dag
er ganz ficher ein Genie und größer ald der Bismard if.“ So fordert er
im Namen der Unordnung mit feinem lienten dad Jahrhundert in die
Schranken.
Doch es ift Zeit, daß wir und von den Grundfäßen, welche die Ver-
theidigung aufftellte, zu dem Verhältnig des Angeklagten wenden. Der An:
geflagte war der rechtämidrigen Aneignung der Aftenftüde befehuldigt, die er
dem Archiv der deutfchen Botſchaft zu Paris entnommen. Die Richtigkeit
der Anklage vorausgefegt, fo würde jene dolofe Handlung den Angeklagten
zu vier dolofen Behauptungen geführt haben. 1) Zu der dolofen Behauptung,
einen Theil der meggenommenen Aktenſtücke für fein Privateigenthum ge
halten zu haben; 2) zu der dolofen Behauptung, den Verbleib eines Theiles
der mweggenommenen Aktenftüde nicht gefannt zu haben; 3) zu der dolofen
Behauptung, einige der weggenommenen Aktenftüde zufällig wiedergefunden
zu haben; 4) zu der dolofen Behauptung, einige der weggenommenen Akten—
ftüde aus Zartheit für feine Nachfolger entführt zu haben, in der Abfiht, fie
dem Auswärtigen Amt zuzuftellen. Auf dem Angeflagten ruht aber außerdem
noch der Verdacht einer zmweifachen dolofen Abfiht, wenn diefelbe au in
Folge des Anklageprozefjes felbft nicht zur Ausführung hat kommen Fönnen.
Der Verdacht nämlich, die rechtswidrig entnommenen Aftenftüde haben be
nugen zu wollen, erftend um die Stellung feine® Chefs zu untergraben und
äweitend um diefe Stellung zu untergraben ohne Rüdficht —2 den Schaden
des Vaterlandes.
Die Vertheidigung hat, wie ihres Amtes war, beides unternommen:
die Entkräftung des ſubjeetiven als des objectiven Momentes der Beſchul—⸗
digung. Um das objective Moment zu entkräften, iſt ausgeführt worden,
dag diplomatifche Driginalerlaffe, ſowie die Concepte geſandtſchaftlicher Be—
richte weder Urkunden noh Sachen feien, und daß ed feinen Eigenthümer
folder Schriftftüdte gebe. Demnach fcheint e8, daß die Direftiven und Befehle
der michtigften Staatähandlungen zum beliebigen Gebrauche Jedermanns find,
in defien Hände fie fallen. Die Verthetdigung hat ſich indeß herbeigelafjen,
eine bidciplinarifche Aufficht über die Behandlung der Aftenftüde des ver-
traulichen diplomatifchen Verkehrs einzuräumen. Nur hat der eine Verthei—
diger diefed Zugeftändniß infofern wieder zurückgenommen, ald er dem Mangel
einer gefandtfchaftlichen Negiftraturordnung eine alle Verantwortung auf-
hebende Bedeutung beigelegt hat. Das deutfche Reich wird fi) demnach be
danfen müffen, wenn feine diplomatifchen Schriftſtücke nicht einfach auf die
Straße geworfen worden find. Die Vertheidigung hat fih dann aud darauf
eingelaffen, daß äußere Umftände eine fehr ungleiche Aufbewahrung gejandt-
ſchaftlicher Aktenftüde erfordern können. Das ift gemiß 0: * hier
Grenzboten IV. 1874.
514
fommt eben Alles auf den Nachweis der veranlafjienden Umftände und der
pflichtmäßigen Abfiht an. Wenn ein Gerichtögebäude in Brand geräth, jo
tritt ebenfalld eine den Umftänden angepaßte Dispoſition ein, troß der
Regiftraturordnung. Wer wird aber aus ſolchen Ausnahmefällen eine Befug-
niß zur beliebigen Dispoſition für den Vorftand rechtfertigen wollen?
Wir fommen zu den Mitteln der VBertheidigung, um das fubjective
Moment der Befhuldigung zu entkräften. Der Vertheidigung zufolge Hat
der Angeklagte Erlaffe voll von wichtigſten Direktiven der großen Politik in
gutem Glauben für fein Privateigenthum gehalten — denn er hat fie mit
puerilen Randbemerfungen verfehen. — Ein Eaffifcher Beweis! Schreibt Einer
nicht fo etwas auch im Merger, ohne fogleih an die Folgen zu denken, oder
in der Meinung, die wenigen Worte wieder vertilgen zu fönnen. Oder kann
nicht auch Einer fo jehreiben, gerade meil er den Dolus der Entfernung be-
reitd in fih trägt? Die Vertheidigung hat ald weiteren Beweis ded guten
Glauben? angeführt, dag die erwähnten Erlafje doch immerhin nicht bloß
allgemeine Direktiven, fondern auch perfönliche Rügen enthalten, und daß
eine Rüge dazu da fei, damit fie Einer fich einſtecke! Grröthe, deutjche Wiſ—
ſenſchaft, erröthe, deutfcher Amtsernſt.
Die Vertheidigung hat fi des Weiteren damit befchäftigt, den guten
Glauben ded Angeklagten nachzumeifen, ald er gegen die wiederholte Auffor-
derung der Vorgefesten zur Herausgabe der weggeführten Aktenſtücke die Un-
fenntniß des Verbleibes derfelben vorſchützte, die wichtigiten derjelben aber nach-
ber plögli zu Berlin in einem Schreibtifch gefunden haben wollte Um die
unerhörte Fahrläfligfeit, die hier doch mindeſtens vorliegen würde, ganz zu
entfehuldigen, hat die Vertheidigung fich mit dickflüſſiger Sentimentalität wieder
und wieder auf einen höchft fchmerzlichen Todesfall in der Familie ded Unge-
klagten bezogen. Darf perfönliher Schmerz, wie groß und tief er fei, zur
völligen Verſäumniß der dringendften Pflicht führen? War das die Hand-
lungsweiſe der Römer ala deren Gleichen der eine Vertheidiger die Geſchmack—
lofigkeit hatte, diefen Angeklagten hinzuftellen? Das deutjhe Volt bewahrt
im frifehen und ehrfurdhtsvollen Angedenken das erhabene Beifpiel des Königs-
johned, dem ein Kind entriffen wurde, ald er ind Feld z0g, und der feine
Stunde ald Heerführer feine Pflicht verfäumte. Und dabei wird diefe Sentt-
mentalität nicht einmal mit der Aufklärung der Daten fertig, ob jener Trauerfall
und die unverantwortliche unmifjentlihe Wegführung der Aftenftüde wirklich
in denfelben Zeitpunkt fallen. Beſäße diefer Angeklagte eine Spur von Vor—
nehmbeit, jo hätte er diefe Art der Entjehuldigung im Zorn von ſich weg—
meifen müfjen. Iſt aber erwieſen, daß hier wirklich nur eine wodurd immer
herbeigeführte Nachläffigkeit vorlag? Wenn der Angeklagte das Wiſſen um
515
den Verbleib diejer Aktenjtücde leugnete, fo kann er es wohl gethan haben
in der Buverfiht, man merde fich immerdar fcheuen, auf gerichtlihem Wege
dem Verbleib nachzuforſchen, um den Inhalt der Aktenſtücke nicht an die
Deffentlichkeit zu ziehen. Daß indeß bier nur ein Verſehen obgemaltet, hat
die Vertheidigung theild aud der Größe des Koffer deduzirt, worin die Akten—
ftücke fchlteßlich gefunden wurden — ein Argument, deſſen Gewicht wir nicht
verfennen, — theil® daraus, daß neben den wichtigen Aktenſtücken fich folche
von gleihgültigem Inhalt fanden. Man kann meinen, e8 ift wohl ein alter
Kunftgriff, verfänglihen Dingen eine unverfängliche Emballage zu geben.
Eine große Lücke ift manchmal unverdächtiger als eine Fleine, fie bietet wenig»
ftend meift eine beflere Ausrede. Wenn bloß das fehlt, worauf ed ankommt,
fo tft die Abficht ſchwer zu verbergen.
Es fommt wohl felten vor, daß das Urtheil eines Gerichtähofed auch
nur überwiegend die Ausführungen der BVertheidigung abſpiegelt. Der Fall
ift auch bier nicht eingetreten. Das Urtheil lautet freilprechend bis auf einen
Theil der Anfchuldigung, auf den die Anklage jedenfalld nicht dad Hauptge-
wicht gelegt, und mit welchem die Vertheidigung fi Faum befchäftigt hatte. Der
Angeklagte ift verurtheilt wegen derjenigen Aftenftüde, welche er bereit? vor
dem Beginn der Unterfuhung zurüdgeftellt hatte. ‚Er tft nur des Vergehens
gegen die öffentliche Ordnung für übermwiefen erachtet, und die entfprechende
geringe Strafe ihm dafür zuerfannt worden.
Sn der allgemeinen großen Bewegung, welche der Prozeß hervorgeru-
fen, wird auch das Urtheil der erften Inſtanz lange nachklingen und die viel
feitigfte Erörterung erfahren. Wenn es gelegen jcheint und nüglich, fo werben
wir und noch damit bejchäftigen. M—t—s.
Dom deitfhen Reichstag.
Berlin, den 20. Dezember 1874.
Wir übergehen die Situngen vom 14. und 15. Dezember, deren Arbeit
die Fortſetzung der Haushaltsberathung nebft einigen technifchen Gefeßent-
würfen war. Giebt auch die Berathung des Haushalts und namentlich die-
jenige der Heeredaudgaben immerfort Anlaß zur Berührung wichtiger Fragen,
fo können doch unfere Berichte fich nicht die Aufgabe ftellen, Urfprung und
Tragmeite aller diefer mehr oder minder oberflächlich berührten, aber natürlich
faft niemals entfchiedenen Fragen bei ſolcher Gelegenheit zu erläutern.
516
In der Sitzung vom 16, Dezember fland der Bericht in der Gejchäfte-
ordnungdcommiffion über den Antrag Lasker zur Berathung, welcher die
Prüfung verlangt hatte, ob nad Artikel 31 der Reichsverfaſſung während
der Seffion ein Reihstagsmitglied zur Strafhaft eingezogen werden könne.
Wie man fich erinnert, hatte dieſes Schikjal den Abgeordneten Majunfe be-
troffen. Die Geſchäftsordnungscommiſſion hatte fich jedoch über feinen An-
trag einigen Eönnen, obwohl in ihrem Schooß zahlreiche Anträge aufgetaucht
waren. Nicht viel ander ging ed dem Reichätag. In demfelben gab es
einen Antrag: über die Strafvollftrefung gegen Reichetagämitglieder, die in
ihrer Thätigkeit begriffen, exft bei der Strafprozeßordnung Beftimmungen
zu treffen. Andere Anträge wollten ohne Weitereö Herrn Majunfe reflamiren,
andere wollten eine Abänderung der Neichöverfaffung einleiten. Der Reichs-
tag nahm fehließlich, nachdem alle Anträge gefallen, eine von Hoverbeck vor
geichlagene Refolution an: die Würde des Reichstags erfordere eine Abänderung
ded Artikel 31 in dem Sinn, dag Fein Mitglied ded Neichdtagd während der
Seſſion ohne Erlaubnig des Reichsſstags verhaftet werden dürfe. Die Eleine
Majorität für diefe Nefolution beftand aus den Klerifalen, aus der Fort-
ſchrittspartei und Lasker, mit deffen engeren Freunden. Um folgenden Tage
war der Reichsſstag voll von dem ungünftigen Eindrud, welchen der geftrige
Beſchluß auf den Reichskanzler gemacht hatte. Man erfuhr das Demiffions:
geſuch desſelben. Sovtel mir willen, ift Herr Majunfe wegen feiner Angriffe
auf die Reichsregierung verurtheilt, und es ift für den Leiter derfelben eine
eigenthümliche Lage, wenn er fi im Reichstag im Elerifalen Stil von feinem
DBeleidiger apoftrophiren Laffen fol, der für die Beleidigung tm Gefängniß
figen follte. Ein ſolches Privilegium der Reichstagsmitglieder ift in der Ver-
fafjung nicht begründet und an ſich eine Abgefchmadtheit. Vergebens hatten
die Abgeordneten Schwarze und Gneift vor der Beanſpruchung folder Privi-
legien gewarnt. Die demokratiſche Doctrin verlangt diefelben im Intereſſe
der Schmähung der Staatögewalt. Bon demokratifcher Seite glaubte man
wigig zu fein mit der Bemerkung, es würden ja nicht lauter Verbrecher in
den Reichstag gewählt werden. Der kluge Windthorft fagte, e8 würden doch
nur höchſtens politifche Verbrecher gewählt werden. Die Wahrheit ift,
wenn die Seffion von der Strafvollftredung befreit, fo werden die Eleri«
Tale und die focialdemofratijche Partei, die zufammen über eine große Zahl
von Wahlkreifen verfügen, regelmäßig ihre Verurtheilten in den Reichstag
jenden.
Es ift immer ein Unglüf, wenn Lasker, auf deſſen fleißige und ehrliche
Information fih ein Theil der nationalliberalen Partei blindlings verläßt,
feinerfeits ohne Vorbereitung fi auf feine Geiftesgegenwart verläßt. Diefe
Gabe befist er nicht, die freilich einem Führer zumellen unentbehrlich ift.
a u en EB rn de an _ Hi ,
517
Der Gehalt der angeregten Frage ift höchſt unbedeutend. Ahr Auf:
treten entjpringt lediglih der noch unreifen Bildung vieler unferer fonft
patriotifchen Kreife. Man hat in früheren Berfaffungsbildungen ſolche Pri—
vilegien audgefonnen, um die Qandeävertreter vor hifandfen Unterbrechungen
ihrer Thätigkeit zu fihern. Was mürde heute eine Negierung mit ſolchen
Chikanen ausrichten? Sie würde fi nur felbft verwunden. Dagegen ift es
eine unerträgliche Stellung für die Juſtiz, vor der Souveränität eines Wahl-
freifed inne zu halten, der einen Verurtheilten zu erkiefen für gut findet.
Am unerträglichften aber ift es für den Reichstag, entweder verurtheilte
Verbrecher in feiner Mitte zu dulden, oder aber über die Straffälle nochmals
zu Gericht zu fiten, um bald einmal die Zuftimmung der Strafvollitredung
zu gewähren, bald zu verfagen. Der Neichätag ift nicht in der Rage, ein
Syftem in diefe Berfagungen und Genehmigungen zu bringen und noch ment»
ger ein ſolches Syftem, dem eine fachliche Rechtfertigung zur Seite ftehen
fönnte. Er fönnte mit diefem Privileg, wenn er es befäße, nur fich felbft
verwunden, und ed zu erjtreben, da er es nicht beſitzt, follte fein einfichtiger
Freund der parlamentarifchen Inſtitution dem Reichstag anrathen.
Der Unmwille des Reichskanzlers erfcheint namentlich durch die taftlofe
Form der Reſolution erflärlih. Man follte denken, der Reichdtag fühle feine
Würde dur die Anweſenheit eined Verurtheilten, wie Herr Majunfe beein»
trächtigt. Statt deſſen wird erflärt, wenigſtens implicite, die Anweſenheit
diefe8 wegen Beleidigung der Reichsregierung Verurtheilten fet für die Würde
des Reichstags erforderlih. Die Sache iſt ſtark, wie man fie auch menden
möge, und jemehr die Stellung ded Reichskanzlers dahin geführt hat, daß
ihm eine zuverläffige Majorität im Reichdtage nothwendig iſt, defto ſchlimmer
ift e8, wenn fich zeigt, daß bei der unmwahrfcheinlichiten Gelegenheit ein Theil
diefer Majorität dur unüberwindliche Reſte demofratifcher Doctrinen ab-
gefprengt wird. Es mar dennoch nicht zu glauben, daß wegen einer immerhin
ſehr ftarfen Taktlofigkeit, die aber doch nur einem Theil der ihm befreundeten
Partei zur Laſt fällt, der Kanzler von feiner unermeßlichen Aufgabe gerade
jet zurücktreten würde.
In der Sitzung vom 17. Dezember mußte die Abftimmung über Hover-
beck's Refolution wiederholt werden, weil fie am Vortage nicht gedrudt vor:
gelegen. Es ift jehr zu bedauern, daß eine namentliche Abftimmung aus
formellen Gründen nicht für zuläffig erachtet wurde und vielleicht nicht dafür
erachtet werden Eonnte. Die Nefolution erhielt wiederum die Majorität, aber
eine ſolche, zu deren Feititellung e8 der Gegenprobe bedurfte. Die nament-
lihe Abflimmung wäre im hohen Grade erwünſcht gewefen, ſowohl für die
518
fichere Feſtſtellung der Majorität, als aud für die zuverläffige Kenntniß der
Freunde der Refolution.
Die Berathung über einen Eerikalen Antrag aus dem Eljaß, das neue
deutiche Unterrichtägefes in den Reichslanden wieder aufzuheben, können mir
getroft übergehen. Diefe Art von Debatten find Redeturniere, mit einer
regelmäßigen Motion habitueller Keidenfchaften verbunden, aber jahlid ganz
werthlod. Daß der Antrag dur Tagesordnung befeitigt wurde, verjtand
fih von felbit, wenn wir nad) der viertägigen Erfahrung jo fagen dürfen.
Diedmal zerfprengte fein Zufall, ‚fein doctrinäres Phantom die Majorität bei
der Erfüllung ihre Pflicht.
Um 17. Dezember fand noch eine Ubendfisung ftatt, in melder ein
Gefegentwurf angenommen wurde und gleich durch die beiden erften Leſungen
gebracht, welcher das die Ertheilung neuer Banknotenprivilegien verbietende
Geſetz vom 27. März 1870, deffen Geltung mit diefem Jahr erlifcht, um ein
Jahr verlängert. Außerdem trifft das neue Geſetz Vorkehr, daß die deutfchen
Banken, welche ſämmtlich verpflichtet find, vom 1. Januar 1876 ab nur nod
Noten auszugeben, die auf 100 M. oder ein vielfaches dieſes Betrages lauten,
mit der Einziehung der Eleinen Noten zur rechten Zeit, und in angemeffener
Weiſe vorgehen.
Am 18. Dezember verfuchte bei der dritten Berathung des Reichshaus—
halt Herr MWindthorft, die Verweigerung der geheimen Ausgaben ded Aus-
wärtigen Amtes herbeizuführen. Der ſchlaue Herr rechnete darauf, daß der
am 16. Dezember durch Annahme der Hoverbed’fchen Refolution bezüglich der
Verhaftung des Herrn Majunfe fozufagen entftandene. Conflikt dur Ver—
weigerung der geheimen Ausgaben angemeffen erweitert werden könne. Der
gute Rechner nahm die Verweigerung geheimer Ausgaben durch die Fortjhrittd-
partei als fihern Poften in fein Facit auf. Herr v. Bennigfen war ed, der
in einer fehr glücklichen Rede die Windthorftfhe Rechnung „aufmachte.“ Er
forderte den Reichätag auf, die Gelegenheit zu benugen, um dem Reichskanzler
vielmehr ein Vertrauendvotum zu geben. Herr v. Kardorff beantragte nar
mentliche Abftimmung, und die Debatte wurde gefchloffen. Herr Windthorft
begriff nun vollfommen den Fehler, den er begangen. Er nahm dad Wort
zur perfönlichen Bemerkung und fuchte ärgerlich, fich heraus zu manövriren.
Bergeblih, die geheimen Ausgaben mwurden von 199 gegen 71 Stimmen
namentlich bewilligt. Die Fortfchrittöpartei hatte alfo dem Kanzler ein
Bertrauendvotum gegeben! Wer hätte das je gedacht? Die Herren mochten
ſich fagen, daß fie den Kanzler ftürzen Fönnten, denn felbft in der Fortſchritts—
partei fonnte man nicht zweifeln, daß der Kanzler mit dem Rüdtritt Ernft
mahen werde. ber die Herren berechneten Gewinn und Berluft, und
519
ſchlugen ten Verfuft für den Augenblick doch höher an. Das macht ihrer
Einfiht immerhin Ehre. Das Bertrauendvotum kommt ihnen aber doch
nachträglich fauer an. Es tft doch zu wenig fortjchrittlih. Die Partei läßt
daher nachträglich erklären, fie habe Fein Vertrauensvotum geben wollen,
fondern die geheimen Ausgaben des Auswärtigen Amtes feien nach ihrer
„Tradition“ ein überall nothmwendiger Poſten. Wir wollen diefe „Tradition“
einer Hiftorifchen Kritik nicht unterziehen. Genug, daß die Fortfchrittäpartei
fi) gegen das Vertrauendvotum für den Reichskanzler verwahrt. Man follte
faft denken, die Herren glauben die Zeit nicht Jo fern, wo ihnen die Gefchäfte
zufallen, und machen darum den Anfang mit der Anerkennung gouvernemen-
taler Traditionen.
Uns ift bei diefen Aeußerungen fehr wenig fcherzhaft zu Muthe. Welches
ift unfere Rage? Der Kanzler hatte am 16. Dezember fein Demiſſionsgeſuch
eingereicht, der Katfer aber e8 nicht angenommen. Nachdem der Reichätag
die Gelegenheit raſch benugt hat, den Eindruck des Votums vom 16. Dezember
audzulöfhen, hat der Kanzler zunähft äußerlich feinen Grund, auf feiner
Demiffion zu beharren. Alle Welt aber fagt fi, daß er Grund haben muß,
mit feiner Stellung nicht zufrieden zu fein, und zerbriht ſich über diefen
Grund den Kopf. Wir mwiffen nicht mehr als alle Welt, aber eine Ver-
muthung liegt nahe genug, und wenn man recht überlegt, eigentlih nur
diefe Eine. Es ift fein Geheimniß, daß eine Partei, die in die hödhften
Kreife dringt, unermüdlich) daran arbeitet, die Ueberzeugung zu befeftigen, daß
der vom Kanzler geführte Kampf mit Rom ebenfo unnöthig ald gefährlich
fei. Man bietet einen Frieden an, der äußerlich das Anfehen des Staates
nicht beeinträchtigen würde. Fürſt Bismarck aber, der, wie die nun ver»
Öffentlichten geheimen Dokumente beweifen, fo eifrig den Frieden mit Frank:
reih will, kann den Frieden mit Rom nicht wollen, weil er Rom nicht ala
friegführende Macht anerkennt, oder vielmehr, weil Fein Staat, am wenigſten
aber das deutfche Reich, Rom diefe Anerkennung gewähren darf. Der Fürft
verlangt von Rom nicht den Frieden auf irgend welche Bedingungen, die
eined Tages umgeftoßen werden können und vom erjten Tage an nicht ge-
halten werden, fondern er verlangt, nit von Nom, mohl aber von jedem
deutfhen Katholiken die Unterwerfung unter dad Staatägefet. Wer
will ermefien, wie dem Fürften Bismarck die Behauptung diefer einzig correften
und fruchtbaren Poſition erſchwert werden mag. Leicht möglich, daß er fie
nur behaupten fann durch die Meberzeugung, daß der Reichstag ihm unwankend
folgt. Wird diefe Ueberzeugung durch eine Abjtimmung, wie die vom 16. Dez,
widerlegt, jo kann es wohl kommen, daß die Kraft des Fürften den Kampf
gegen geheime und offne Gegner zugleich nicht fortfegen will,
—
— ——
520 4
- 5 —
Viele, die ihm ſeine Pfade erſchweren, namentlich unter den links ge |
richteten Parteien, rechnen vermuthlih im Stillen, daß ihre eignen Pfeile von
dem Panzer der Unentbehrlichfeit de3 Fürften abprallen. Wenn aber der |
Fürft für Deutfchlands wahre und gefunde Entwidlung unentbehrlich iſt, fo
©
ift er e8 nicht in dem Sinne, daß ohne ihn Feine äußere Regierungsmöglichkeit
beftände. in neuer Kanzler, der Friede mit Rom machte, könnte ih aud
dem Gentrum und einigen Clementen der jett beftehenden confervatiwen
Parteien eine ausreichende, vielleicht eine ftattlihe Majorität bilden, und, maß
jehr ind Gewicht fällt, eine weit zuverläffigere Majorität als diejenige, welche
dem Fürften Bismarck zu Gebote fteht. Wer diefen Gang der Dinge ber
fördern will, der mag es auf feine Verantwortung thun. Die Ausrede, nicht
gewußt zu haben, was er that, wird aber Niemanden ſchützen.
Um 18. December beſchloß der Reichstag in einer Abendfisung endgültig
über das interimiſtiſche Banknotengeſetz und berieth den Haushalt der ums;
mittelbaren Reichölande zu Ende. Sehr ſpaßhaft war dad Cintreten bei
Gentrums für eine Qandesvertretung in Eljaß-Rothringen, während die Herren
zu Gunſten Medlenburgs die gleiche Anftrengung abgelehnt hatten, was ber
Abgeordnete Franz Dunder mit gutem Humor bervorhob.
Am 19. Dezember wurde über den Haushalt der Reichslande ——
beſchloſſen und das Werk des Reichstages für dieſes Jahr beendigt. Am
7. Januar 1875 tritt er wieder zuſammen. Er unterbricht ſeine Thätigkeit
nach angeſtrengter und fruchtbarer Arbeit in einer ſehr merkwürdigen Lage
des Reiches. In einer Lage, die fo glänzend iſt an Erfolgen der Vergangen—
heit und an Verheißungen der Zufunft, die vielfach bereits Geftalt gewonnen
haben, wie noch feine, die aber auch, wenn mir nicht irren, ungewöhnlich .
bedrohlich if. Die Ulten fagten: es ift noch meit vom Becher bis zur Rippe,
C—r.
Mit Januar 1875 beginnt die Zeitfchrift das L Quartal ihres
34. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Poſi—
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Hhandlung zu beziehen :
— — — — — — —
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig, — Drud von Hüther &
Regler in Leipzig.
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