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Full text of "Die Grenzboten; Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst"

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DIE 
GRENZBOTEN: 
1874 








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Priuceton Unibersitn. 





Printed | 





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6Grepnpeboten. 


Zeitfhrife 
für 


Yolitik, Siteratur und Kunfl. 


Ne 40. 
Ausgegeben am 2. October 1874. 


Inhalt: 


Herman Grimm's fünfzehn Eſſays. Hans Blum. . » x... 1 
Ein Prinz aus dem brandenburgiſch-hohenzollerſchen Haufe als 


Bifhof von Strafburg (1592—1604). Guſtav Kraufe . 16 


Felir MendelsfohnsBartboldy's Werke. S. Jadafjfohbn . . . 24 





Ein gemaßfregelter Preußenfeuhler. . 2 2: 2 2 2 na 27 
ng Briefe. Angelo de Gubernatie. . . 2... 29 
ad Leben Cavour's von Maffari in deutfcher Sprade . . . . 34 

Grenzbotenumfhlag: Literarifhe Anzeigen. r 

— — · — — 


Friedrich Ludwig Herbig. 
(Ir. Bild. Grunow.) 








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— ———— — — — — 


— —————— — — —— —— ——— — 








bs at 4 bei allen Buchhandlungen und Poftämtern des In: und Auslandes. 





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Die 
Grenzboten. 


— — — — nn 


Zeitſchrift für Politik Fiteratur und Kunſt. 


33. Jahrgang. 


II. Semeſter. II. Band. 





Leipzig, 
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig. 
(Fr. Wilh. Grunow.) 
1874. 





Inhaltsverzeichniß. 


Jahrgang 1874. 


Politit und Völkerleben. 


a. 


Aus dem deutfhen Reid: 


Vom deutfchen Reichstage. C—r. ©. 194, 
239, 270, 314, 353, 389, 426, 469, 515, 

Briefe aus der Kaiferftadt. ©. 73, 229, 
318, 383, 

Dilder aus Medlenburg. Hugo Gaedde. 
©. 113, 147, 264. 

Der Fall Arnim. Aus Berlin. ©. 118, 

Die jähfifche Politik. K. F. ©. 346. 

Die General» Direction der Sächf. Staats- 


Eifenbahnen, das Reichseifenbahngefe 
ee dad Publitum. Mar Krentel, 
454, 


Der Procek Arnim. ©. 508. 


— — 


Neuere kirchenpolitiſche Fragen. H. Jato by. 
S 41, 


In Sachen der finanziellen Lage der Uni— 
verfität Jena. Klagbeantwortung. Replik 
von®. Endemann. Actenſchluß. ©. 69, 

Die Goldausfuhr und die Münzreform, 
Mar Wirth, . 140. 

Die Münzfrifis und das Bankgeſetz. Mar 
Wirth. ©. 481, 


Ein gemaßregelter Preußenfeuchler. ©. 27, 

Italieniſche Briefe, Angelo de Guber— 
natid. ©, 29, 

Ein Mufterftüd bonopartiftifcher Propaganda 
in Franfreih. Aus Paris. S. 56. 

Die Banken in Luremburg. N. Steffen. 
©. 112, 

Der obligatorijche franzöfifche Unterricht in 
uremburg. N. Steffen. ©. 277. 
Zur Gefchichte des Septennats, Georg 

Zelle. ©. 293, 321, 401. 


611966 


Viertes Vierteljahr. 


Bilder und Schilderungen. 


Ein Hobenzoller als Biſchof von Straßburg 
(1592—1604). Guftap Kraufe S. 16 

—— Carl Friedrich's von 

löden. B. S. 51. 

Schweizer⸗Reiſegloſſen. F. B. ©. 151. 

Herbſttage in Schwaben. Friedrich Lam⸗— 
pert. ©. 187, 215. 

Die —— Erpedition. ©. T. 

Im Silberland Nevada, Nah Mart 
Twain. ©. 333, 367, 

Plaudereien aus London. Alfred Blum. 
©. 376, 414, 486, 

Statiftifches und Geographifches vom Oxus⸗ 
lande.. 8. Shmolfe. ©, 501. 


©. 270, 


Die mechanifche und die teleologifhe Welt: 
anfhauung. Mar Heinze ©. 51. 
Die Drafel Griechenlands. C. Brud. ©, 

161 


Hiftorifche Studien über Don Carlos, Wil: 
helm Maurenbrecher. ©. 241, 281, 

Preußifche Geſchichten. Wilhelm Mau- 
tenbreder. S. 44l, 


Literatur und Kunf. 


Herman Grimm's fünfzehn Eſſay's. Sana 
Blum S. 1. An 
Das Leben Gavourd von Maffari in 
deutfher Sprache. (Reipzig, Ambr. Barth, 
überfegt von Ernft Bezold. ©. 34. 
Mar Zähne, Jugenderinnerungen Garl 

Friedrich's von Klöden. ©. 51. 
Mar Wirth's Gefchichte der Handels⸗ 
kriſen. S. 78. 


——— 
Dali u 
>Im 
zur, J 


Amerikaniſche Humoriften: 

Thomas Bailey Aldrihd. S. 92. 

Mark Twain. S. 306, Hand Blum. 
Wenjukow's Werk über Innerafien.S. 183. 
Wilhelm Roſcher's Gefhichte der deut: 

fhen Nationalöfonomit, 8. B. ©. 361. 
Eine neue Ausgabe von Jeremiad Gott- 

belf. B. ©. 467. 

Burn, Endemann’s neuefted Werk. H. B. 


487. 





Felix — ——— Werke. S. 
Jadasſohn. S. 

„Um die Erde“ von — Hildebrand und 
„Maleriſche Reiſeziele““ von Eugen Krü— 
ger. ©. 421. 

Selbfibiograpbie von ————— Fiſch— 
bad. ©. 225, 480 


Goethe's Tagebücher 1780, 
C. U. 9. Burkhardt. ©. 121. 

Charles Wolfe, Skizze feines Lebens und 
Dichtend. Guftav Haller. ©, 129, 175. 

Proben gleichzeitiger Bolkälieder über die 
u bei Semmingftedt. 5. Schmolfe. 


1781, 1782, 


Slleine Beſprechungen. 
Deutfhe Jugend v. Jul, Lohmeyer und 


Oscar Pletſch. (Leip. Alpb. Dürr.) 
©. 360. 
Neſthäkchen, D. Pletfh. (Daf.) ©. 595. 


Aus unfern vier Wänden. Reichenau. 
(F. ®. Grunow, Leipz.) S. 395. 
Goethe's Erzählungen für e. nn 
v. F. Siegfried. en 6.) 
Weihnachtöverlag v. Velhagen * Klaſing. 
S. 396—399. 
Rob. König. — Scott's ſchönſte 
Romane. S. 30 
Clement Art Prinzeßchen Eva, das 
Kränzchen, Frau Theodore. ©. 398. 
Wilhelm Petſch, Kaifer Wilhelm der 
„ ergreie. S. 398. Graf Moltke ©. 398. 
D. Höder, General v. Werder. ©.398. 
Mar Bifh off, Robert der Echiffejunge. 


©. 398 
Die deutfchen Nordpol: 


Rich. And 9 
fahrer. S. 

Theod Bo J— Zeitalter det Entdeckun— 
gen. ©. 3909. 


IV 


Reinhold Zöllner, Der ſchwarze Grd- 
theil. S. 399 
Gottlob Dittmer, Kinderluft. S. 391. 
Robert Reinick's Märchens, Lieder: u. 
Geſchichtenbuch x. S. 399. 

Weibnachtsliteratur von Garl Flemming in 
Slogan. S. 399— 400. 

Thekla v. Gumpert, Töchter-Album. 
©. 400. Herzblättchen. ©. 400. 

NR. Koh, Bunte Farben. ©. 400. 

Sulie Ruhkopf, Zehn Thüren. ©. 400. 

Godin, Märhenbuhb. ©. 400. 

Kerd. Schmidt, ullivers Reifen. S.400, 

5.0.9. Jähde, Roggenförnlein x.©. 400. 

Erzählungen von 2. Budde (aud dem 
Dänifhen von Walter Neinmar). 
(F. W. Grunow, Leipjia.) ©. 438, 

Georg Scherer, die fchönften deutfchen 
Volkslieder. (A. Dürr, Leipzig.) ©. 439. 

Ernſt Förfter, Gornelius’ Loggien— 
bilder (U. Dürr, Leipzig). ©. 439. 

Düffeldorfer Künftler- Album (Preis 
denbab & Go, BDüffeldorf). ©. 440. 

Ernſt Scherenberg. Lieder (Ernft Keil, 
Leipzig). S. 440. 

Ludwig Nobod, dad Berner Oberland 
(Aquarelle), Tert von 6. Orenbrüggen. 
(Darmftadt, C. Köhler's Berlag.) ©. 410. 

3. v. Baufinger, Waidmannd:Erinneruns 
gen Photogr. nach Zeichnungen). Tert 
von Karl Stieler. (München, Fr. Brüd: 
mann’d Berlag) €. 176 

William Pierfon, Preuß. Gefchicte. 
(Berlin, Gebr. Paetel.) 3. Aufl. ©. 476, 

KarlBraun, Mordgeihichten. (Hannover, 
Garl Rümpler) ©. 477. 

Sulius Wolff, Till Eulenfpiegel redivi- 
vus. (Detmold, Meyer'fche Hofbuchhand— 
lung.) €. 478. 

Friedr. v. Schad, Nächte des Drients. 
(3. ©. Gotta, Stuttgart.) S. 478. 

Jugendichriften des Otto Spamer'fchen Ver— 
lags in Leipzig. ©. 479. 

HSermannv. Bartb, Dit-Afrifa. S. 479, 
Karl Dppel. Wunderland der Pyrami— 


den. ©. 479, 

Hermann Göll, Götterfagen und Kul— 
turformen. ©. 479, 

Lauſch, Kindermärden. ©. 479. 

E. Telle, — — durch die drei 
Naturreiche. 


C. Flamarion, Reich der Luft, deutſch 
von W. Schütte. CLeipzig, Fr. Brand- 
ftetter.) ©. 479, 


\% 


Herman Grimm's fünfzehn Sans. *) 


Es find jetzt fünfzehn Jahre verfloffen, feit Herman Grimm die erfte Samıms 
lung feiner Auffäße unter dem Titel „Eſſays“ herausgab. Bor neun Jahren 
folgte die zweite Sammlung unter dem Titel „Neun Eſſays über Kunft und 
Literatur“. Als die Gunft des Publikums eine neue Auflage nothwendig machte, 
mählte der Verfaſſer zunächit die auf bildende Kunſt bezüglichen Stüde aus, 
die 1871 erfchienen.**) Die vorliegende Sammlung bietet die älteren und 
neueren Auffäge, welche politifch-hiftorifchen und literaturgefchichtlihen Inhalts 
find. ine fünftige Sammlung wird und noch diejenigen Arbeiten Grimm's 
vereinigen, welche fi) mit dem Drama bejchäftigen. 

Die vorliegende Sammlung ift vielleicht diejenige, die den größten Leſer— 
freiß finden wird, eben ihres Inhaltes, ihrer Stoffe halber. Viele der darin 
enthaltenen Abhandlungen, auch einige der politifchen, ſtammen aus einer der 
Gegenwart faft entfehwundenen Zeit, fo z. B. der Aufſatz über „Friedrich 
den Großen und Macaulay“ aus dem Jahr 1858, der über „Herrn von Varn- 
hagen's Tagebücher” aus dem Jahr 1862. Natürlich find diefe politifchen 
Auffäse getragen und getränft von den politifchen Tagesintereffen, melde 
damals die beften Kreife Berlin erfüllten. Und auch in die literargefchicht- 
lihen Arbeiten aus alten Tagen, die hier neu aufgelegt werden, verwebt der 
Berfaffer eine Fülle von Sdeen und Wünfchen, die gerade dem vormwärtö- 
ftrebenden preußifchen Nationalen jener Zeit da® ganze Herz bewegten und 
juvorderft auf der Lippe und in der Feder ftanden. Manche jener Wünfche 
und Hoffnungen mögen mir heute ſchüchtern, manche jener Warnungen und 
Befürdhtungen heute irrig nenren; darum find wir aber dem Berfafjer nicht 
minder dankbar dafür, daß er dur den unveränderten Abdrud feiner 
Efjayd aus dem Ende des fünften und aus dem Beginn des fechiten Fahr: 
zehnt3 unfere® Jahrhunderts, und noch heute unverzagt den Spiegel hinhält, 
in welchem die beiten Beitgenoffen von damals fich fpiegeln. Das Bild, das 
*) Fünfzehn Eſſays von Herman Grimm. Zweite vermehrte Auflage der Neuen 
Eſſays u. f. w. Berlin, Ferd. Dümmler’s Verlagsbuchhandlung (Harrwitz & Goß- 
mann), 1874. 

**) Unter dem Titel „Zehn ausgewählte Eſſays zur Einführung in dad Studium der 


Modernen Kunft.” 
Grenzboten IV. 1874. 1 








2 


wir darin ſchauen, gereicht dem Verfaſſer wahrlich nicht zur Unehre. Es 
\ind, wenn auch ein wenig jünger und naiver, diefelben Züge, die heute in 
dem Charakterbild der beften deutfchen Männer zufammentreffen. 

Herman Grimm ift der Erfte in Deutfchland geweſen, der „Eſſays“ ge- 
ihrieben hat, die den Namen verdienen. Sein Beifpiel hat eine nambafte 
Coneurrenz hervorgerufen und mander von denen, die ihm nacheiferten, hat 
Hervorragendes geleiftet auf dem Gebiete des literar- oder kunſthiſtoriſchen 
Eſſays; im politifchen Eſſay befonderd hat Heinrich von Treitſchke Herman 
Grimm vielleicht überflügelt. Gleichwohl befist Grimm eigenthümlihe Bor 
züge, die wenig Andere in diefem Grade aufzumeifen haben, feiner ganz fo in 
fi) vereinigt wie er, und die ihn für das Genre des „Eſſay“ befähigen, wie 
feinen zweiten. Es mag mohl geftattet fein, die Eigenthümlichkeit der Schrift- 
gattung , die er zuerft bei und einführte, mit anderen Kunftwerfen zu ver 
gleihen, um fie zu harakterifiren, 3. B. mit gewiſſen Schöpfungsgattungen 
der bildenden Kunft. Jede Gemäldeausftellung zeigt uns den Unterfchied 
au in den Bildwerken, der auf fchriftftellerifchem Gebiete zwifchen der gründ- 
lichen gelehrten Abhandlung und dem Efjay von felbft in die Augen fällt. 
Hier finden wir vollendete Staffeleigemälde aller Genres: Arbeiten, denen wir 
vieleicht, Dank der Kunftübung Sicherheit und Genialität des Meifterd, die 
Mühe des Schaffend nicht anmerken, in denen aber bei genauer Betradhtung 
immerhin die Unmittelbarkfeit der Natur durchaus zurüdtritt vor der dee, 
die im Bilde audgefprochen werben fol; vor der Schule, melde die Hand 
des Meifterd übte und hier ſich ausprägt. Kaum ein Faltenwurf oder eine 
Gliedſtellung in dem hiftorifchen Gemälde vor und erinnert daran, daß lebende 
Modelle dem Künftler vor Augen ftanden, ald er die Vorftudien für diefes 
Bild machte; Faum eine unverfennbare Kirhthurmfpige oder eine eigenartige 
Linie des fernen Gebirged gemahnt und daran, daß die „ſtimmungsreiche“ 
Landſchaft vor uns wirklich einft an Ort und Stelle aufgenommen, vom 
Künftler fo gefehen wurde, mie wir fie in der Natur fahen, von Gottes 
blauem Himmel überfpannt. Neben diefen vollendetiten, am meiften durd)- 
gearbeiteten Schöpfungen des Pinfeld, in denen der Fünftlerifche Verftand vor: 
herrfcht, der jedem Menfchenantli etwas hiſtbriſchen Ebdelroft zulegt, jedem 
Thier etwas bucolifhe Würde und jedem Baum, jedem Berg die Form und 
Farbe giebt, welche gerade an der betreffenden Stelle vonnöthen ift, um an- 
genehm und harmonisch zu wirken, — neben ihnen erbliden wir eine Kleinere 
Anzahl von Gemälden, die fich felbit ald „Studien“ bezeichnen. Wenn ihr 
Titel vom Künftler richtig gemählt ift, fo müſſen fie alle den nämlichen, höchſt 
erfrifchenden Eindrud auf und machen: bier will der Künftler die Natur fo 
darftellen, wie fie ihn wirklich zum Schaffen begeifterte. Die flüchtige Skizze, 
welche den hundert und mehr Schwierigkeiten de8 Malend nah der Natur 


mn EI 


3 


abgerungen wurde — der mwechfelnden Laune des Sonnenlichtes, der Hitze 
oder Kälte, den natürlihen Grenzen menfchlicher Geduld und menfchlicher 
Muskelkraft — diefe Skizze foll veredelt und vertieft werden zu dem Bilde, 
welches die Natur felbit in jenen Stunden drangvollen Schaffend dem Maler 
bot, fol nun bequem auögeftaltet werden durch eine fertige Technif und er- 
füllt von dem warmen lebendigen Hauche, der den Künftler zum Schaffen 
jwang und ihn immer nod daheim in der ftillen Klaufe erwärmt, auch wenn 
deren eined® Fenſter nur nah Norden zeigt. Nur die Natur fol die 
„Studie“ wiedergeben, nicht mehr, nicht weniger — wohl ihr, wenn fie an- 
nähernd die Natur zu geben vermag! 

Die Studie ift der „Eſſay“ der bildenden Künfte; der Eſſay die „Studie“ 
unter den Schriftwerfen, im Gegenfas zum jtilvollen Staffeleibild und zur 
flüchtigen Wanderſkizze. In den ftillen Myſterien der Kunftgenofjen wird 
allezeit freilich wohl die Skizze am hödhften gehalten werden. Niemald wird 
der wahre Künſtler fich ihrer entäußern. Nicht, weil der Marft ihr ver- 
ſchloſſen wäre. Denn bei der leidigen modernen Gefhmadsrichtung, die 
Fehler und Schwächen des Farbenkörpers der Skizze auch auf dDurchgearbeitete 
Staffeleibilder zu übertragen, und bei der Unfähigkeit fo vieler Ausſteller ſich 
über fkizzenhafte Reiftungen zu erheben, möchte immerhin einige Hoffnung auf 
Abſatz aud für gute Skizzen vorhanden fein. Aber die Skizze ift dem Maler 
das Lebenslicht im edelften Sinne des Wortes. Sie ift dad Tagebuch, das 
er in inbrünftigem Verkehr mit der Natur, mit feiner Mufe geführt. In 
der Skizze — mag fie in den Augen des Laien noch fo unvollfommen fein, 
— fpiegelt fi) die unverfälfchte, von des Gedankens Bläffe noch nicht an- 
gefränfelte, Natur. Sic diefer Blätter entäußern, hieße fich felbft preiögeben. 
Sie bieten dem Künftler das ficherfte Schugmittel gegen die Gefahr, der 
Manier zu erliegen. Sie find der Prüfftein für jeden, ob er die Natur 
richtig und eigenartig zu verbildlichen vermag. An der Studie zeigt fich dann, 
ob dem Maler die Kraft poetifcher Ausgeftaltung, das künſtleriſche Vermögen 
gegeben ift, Vorbilder, die fehon der Vergangenheit, der Erinnerung angehören, 
lebendig zurüdzurufen und dem Befchauer vorzuführen. 

Diefer poetifchen Geſtaltungskraft Fann auch der Efjayift nicht entrathen. 
Im Gegentheil, nur wenn er Dichter ift, wird ihm der Eſſay völlig gelingen. 
Er kann fi nicht in jener behaglichen, alle Quellen erfchöpfenden Breite er- 
gehen, welche der eigentliche Gefhichtäfchreiber der Literatur, Kunft: und 
Kulturgeſchichte, die ſtaatswiſſenſchaftliche oder politifhe Fachgelehrfamkeit, für 
fih in Anfprud nimmt. Wo bliebe der „gebildete Leſer“, wenn er das viel- 
feitige Material, das Heute in unfern Salons, in unfern gejelligen und 
politifhen Bereinigungen zur Discuffion fteht, aus breiten Fachwerken 
jhöpfen müßte? Wie könnte der Schriftfteller den dringenditen politifchen, 


4 


literarifchen, mufifalifchen, bildnerifchen Novitäten gerecht werden, wenn man 
nur ftrenggelehrte Monographien darüber fchreiben dürfte? Ebenfowenig aber 
ald das literarifche Staffeleigemälde würde die Bedürfniffe des großen, ja des 
gewählten Publikums die literarifche Skizze befriedigen. Die Naturlaute des 
menschlichen Geifte® fprechen eben nicht jo unmittelbar zu Sinn und Empfin- 
dung, wie Form und Farbe der Landſchaft, der menjchlichen Geftalt, des 
Stillleben? oder Thierförperd. Sie bedürfen der Klärung und Durcharbeitung, 
um frudtbar und genußbringend auf Andere zu wirken. Alternde berühmte 
Schhriftiteller, die nach jenem köſtlichen chinefifhen Märchen Hand Hopfen's 
den Zauber ihrer Feder erfannt haben: daß fie fchreiben dürfen, was fie 
wollen, und dennoch ficher find, Beifall zu finden — beichenfen und in ihren 
impotenten Tagen etwa einmal mit ſolchen Skizzen. Jugenderfahrungen und 
Alterdreflerionen, Lefefhnigel und fog. gute MWite ihrer Bekannten erhalten 
wir da in abgerifjenen Sägen — am liebiten in der Form des Tagebuche 
des greifenhaften Roman-Helden — und fühlen und unendlich gelangweilt 
und verdroffen. Sollte aber ein Anfänger wagen, und mit feinen Skizzen zu 
behelligen, wie etwa ein junger Künftler mit unfertigen Bildern, fo Elappen 
wir das Buch nad) den eriten zwei Seiten empört zu und merfen und den 
Mann für fünftige Fälle. 

Dagegen bietet das Material der Skizze in derfelben Weiſe die be» 
fruchtende Grundlage für den Eſſay mie in der bildenden Kunft für die 
Studie. Nur ift hier wie dort die poetifche Intuition unentbehrlich für die 
fünftlerifhe Ausgeftaltung. Ein hervorragender Träger der Wiffenfchaft, der 
Staatäpolitif, der Literatur oder Kunft feined Volkes foll zum Gegenftand 
eines Efjay gemacht werden. Die Aufgabe erfüllt den Schriftfteller voll: 
fändig — er muß davon erfüllt fein, wenn er fie löſen fol — im Wachen 
und im Träumen, am Urbeitötifch, auf dem einfamen Spaziergang, felbft im 
Rafjeln des Eifenbahnzugs oder im traulichen Geplauder des Yamilienabende. 
Mas über den Stoff zu Iefen war, hat er gelefen, den Quellen ift er fo 
gründlich nachgegangen mie der Gelehrte von Fach, die Werke und Thaten 
ſeines Helden hat er fich angeeignet. Und dennoch ift damit erſt dad Roh— 
material zu der Arbeit gewonnen, die nun begonnen werden fol. Nicht den 
einzelnen Mann, nicht feinen Werdegang und feine Leiftungen allein will der 
Eſſay jchildern. Vielmehr fol der Lefer die eigenthümliche Stellung und 
Bedeutung jenes Mannes in feinem Volke, in feiner Zeit, in dem gefammten 
Kulturleben der Menfchheit erkennen. Das kann nur durch eine, im beften 
Sinne univerfelle Bildung, dur ein ungewöhnliches Aperceptiondvermögen 
und ein gewiſſes poetiſches Indigenat erreicht werden. Alle Wiffenfhaft und 
alle menſchliche Erfenntnig follten zur Verfügung ftehen, um einen Aus: 
erwählten des menfchlichen Geiſtes und allfeitig zn fchildern. So bedarf 


5 


auch der Eſſayiſt jetzt der eigenſten Lebenserfahrungen aus Kindheit und 
Jugend, um ſeines Helden Entwickelung zu erklären, im nächſten Moment wieder 
der Vertrautheit mit mathematiſchen oder naturwiſſenſchaftlichen Geſetzen oder 
den kühnſten Speculationen der Metaphyſik, um ein künſtleriſches oder politi— 
ſches Problem zu löfen, unmittelbar darauf der Literatur der Griechen oder 
der jüngften Eretgnifje der Weltgeſchichte. — 

Herman Grimm bietet und in feiner Perfon , in feinem Talent diefe 
nothwendigen Borbedingungen des Efjayiften. Er tft außerdem gewöhnt an 
eine ftrenge Handhabung des Stild, einen Wohllaut der Sprade, die auf 
das Freudigfte berühren. Seine Sprache ift bilderreih, gedanfenfprühend, 
mitunter fo erfüllt von Bildern und Gedanken, daß das raſche Fortkommen 
ſchwer fällt. Aber um fo größer ift der Umblid, den man gewonnen, wenn 
man einen Augenblick bedächtig innegehalten. Seine Darftelung, namentlich 
auch in feinen politifchen Gfjays, tft troßdem merklih ruhiger ald diejenige 
Treitſchke's. Treitſchke fohreibt immer mit jenem ‚rhetorifchen Pathos, das 
zuerst feine Vorlefungen und Reden in Leipzig berühmt machte. Treitſchke 
ift unter PBarticulariften aufgewachſen und jahrelang faſt einfam gejtanden 
mit feinem nationalen Schmerz und feinen nationalen Hoffnungen. Das 
Befenntniß und der Kampf für diefe Ideen hat ihn aus dem Baterhaug, 
aus der Heimath, dem felbftgefchaffenen Kreiſe feines erften academifchen 
Wirkens getrieben. Immer hat er fich darauf einrichten müffen, unter zehn 
Freunden feiner Anfichten hundert Gegner zu finden. Daher noch heute, 
fo oft er zur Feder greift, jene innerjte Erregtheit, jener überzeugende 
Schwung in feinen Worten; daher immer die Lenkung der Anfihten und des 
MWillend der Leſer oder Hörer das vornehmfte Ziel feiner Feder mie feiner 
Rede. Nicht lange Ueberlegung bezwedt er, fondern die fofortige Vollziehung 
der That, die der Verfaffer für nothwendig hält. Herman Grimm dagegen 
it aufgewachſen in jenem Elaffifh ruhigen und fichern Kreife, der fih um 
das Leben und Wirken ſeines Vaters und feines Onkels wob. Ein einziges 
Mal, ala er noch Knabe war, Hat der müfte Heinftaatlihe Partieularismus 
auch die Gebrüder Grimm aus ihrer ftillen Arbeit aufgefcheucht und heimathlos 
aus Göttingen getrieben. Aber nur zu ihrem, zu Herman's Segen. Seitdem 
fie in Berlin wirkten, war ihr Haus einer der Mittelpunfte des geiftigen 
Lebens der Nation. Hier verkehrten Jahr aus Jahr ein die vornehmften 
Geiſter Deutichlande, In guten und böfen Tagen der nationalen Ent: 
mwidelung wurde hier an die Vollendung der deutfchen Einheit durch Preußen 
mit jener erhabenen Geduld und Sicherheit geglaubt, welche jene Heroen der 
deutfhen Sprachwiſſenſchaft in allem ihrem Thun augzeichnet. Nach taufenden 
von Jahren zählten fie die Entwidelung der Spradlaute, in denen Heute 
unſer Volk redet. Warum follte ein Gefchleht erlangen, des Vaterlandes 


6 


Größe ganz zu erleben. Warum follte man verzweifeln, da nicht einer 
Generation allein beftimmt war, den großen Tag der Erfüllung der natio- 
nalen Hoffnungen zu ſchauen? So haben fie gehofft und geglaubt, bis einer 
nad) dem Andern getroft ind Grab geftiegen if. — In Herman Grimm’s 
Etil und Darftellung prägt fi die edle Ruhe und Klarheit aus, die er in 
Allem ald das befte Erbtheil des Baterhaufes von Kindheit an überfommen 
hat. Auch feine politifhen Abhandlungen aus Zeiten, in denen Andere an 
der Zukunft unfere® Volkes verzweifeln wollten, find von jener feiten ruhigen 
nationalen Zuverfiht getragen. Ihm ift von jeher nur die Zeit wann, 
nicht die Frage ob wir dad Biel unferer Staatdeinheit erreichen mürden, 
zweifelhaft gewefen. Zu diefer Einficht ift er gefommen bei jungen Jahren, 
ſchon im Baterhaufe; fie ift ihm nicht das Ergebniß ſchwerer innerer Kämpfe, 
nie die Quelle häuslichen Zmiefpalte® geweſen. Er hat fie ftolz und gelafjen 
ausgeſprochen folange er denkt und ſchreibt, wie einjt der römiſche Staatd- 
bürger das civis Romanus sum. 

Man wird Faum eine Arbeit Herman Grimm’s finden, welche die ge 
rühmten Eigenthümlichkeiten in ein günftigeres Licht feste, als die erſte Ab- 
handlung der vorliegenden Sammlung „Voltaire und Franfreih*. Sie erfchien 
zuerft in den erflen Heften der Preußifchen Jahrbücher von 1871. Hier iſt 
fie unverändert abgedrudt. Begonnen wurde fie, ald Paris noch von unferen 
Heeren cernirt war, beendigt als die feheußliche Erhebung der Commune er: 
ftiefte in Brand und Blut, wie fie angefangen hatte. Wie fommt der Deutjche 
dazu, in ſolchen Tagen des hervorragendften Schriftitellerd des Nationalfeindes 
zu gedenken? In Tagen, da niemand in Frankreich felbft an Voltaire dachte, 
fondern jeder Franzoſe nur Zeit hatte, mit dem Kampf à outrance gegen 
die deutſche Invaſion und dann mit der Niederwerfung der gemeinften 
Revolution fi zu befhäftigen, welche feit zweiundachtzig Jahren ſich dort 
erhoben hatte. Grimm gibt klare Antwort auf die berechtigte Frage: „Für 
und hat Voltaire gerade jebt befondere Bedeutung“, fagt er, „weil er der 
erite und mächtigfte Organifator der Lehre vom providentiellen Uebergewichte 
Frankreich gemefen ift, melde, mit Kleinen Anfängen beginnend, allmählid) 
als geiftige® Clement in den Charakter der Franzofen überging.... Voltaire 
war e8, der den ganzen Reichthum feines Volkes zuerst fah, und zuerft ihm 
felber und allen anderen Nationen im größten Glanze zu Gefihte brachte. 
Für ihn ift das die Welt überftrahlende Frankreich als einheitliche® Yand und 
Bolf dad Erzeugniß der allgemeinen Entwidelung der Menfchheit. Er felber 
aber mit feinem ganzen Wefen ift die reiffte Frucht, welche died Paradies der 
modernen Kultur jemals gezeitigt hat. Kein Schriftfteller ift in irgend einem 
Volke aufgeftanden, dem Volk und Land in folhem Grade zur Folie gedient 
hätten, als der franzöfifche Voltaire... Sein Geift repräfentirt den Geift von 


7 


Millionen, deren jeder einzelne ald ein Atom nur feiner Eeele angefehen 
werden fann. Gr war größer, ftärfer, glüdlicher als fie Alle, und das Jahr— 
hundert, in dem er wirkte, trägt feinen Namen.” Grimm unterfudt nun die 
Gründe diefer einzigen Erfcheinung, zu dem Zwecke, und die phänomenale 
Bedeutung Boltaire'3 für Frankreich, für feine Zeit, zugleih in ihrer ganzen 
Größe zu zeigen und zu erklären. Grimm führt in eingehender Entwidelung 
als folhe Gründe an zunächſt die lange Lebensdauer Voltaire's, welche die 
bedeutendfte Epoche der franzöfiichen Entwidelung umſchließt. „Er fam auf 
die Melt 1694. Seine Jugend bildet ſich alfo unter dem Gefühl der un- 
beftrittenen Uebermacht Frankreichs, melche die Regierung Ludwig's XIV. be 
gründet hatte. Sein Ausgang fällt in die Tage, wo die zur Thatſache 
werdende Revolution noch wie der Schimmer eined herrlichen Tagesglanz 
verheißenden Morgenrothed am Himmel aufitieg. Niemald hat Literarifche 
Thätigfeit fo hoch im Preiſe geftanden, ala mährend des Jahrhunderts, in 
welches Voltaire's Laufbahn fiel, niemal® hat jemand reichere Fähigkeiten 
für eine folde Laufbahn mitgebradht und audgebeutet.* Größere buchhänd— 
lerifche Erfolge hat unfer Jahrhundert mit gewilfen Romanen aufzumeifen. 
Niemals aber hat irgendwer alle Kreife ſeines Volkes und der gebildeten 
Zeitgenofjen überhaupt, zu Xefern feiner Werke gehabt, ald Voltaire: Friedrich 
der Große und Diderof und felbft Leffing ftehen unter feinem Einfluß. Sn 
Religion, Wilfenfhaft, Politik, in Alles ſickert allmählich fein Geift. Wider: 
ftand leiftet ihm Niemand; nur ein Mann Hält fih frei von ihm: Jean 
Jacques Rouſſeau; ihn allein ſucht Voltaire nie zu gewinnen, nur ihn zu 
ignoriren und fih vom Halfe zu halten. Alle Andern aber, deren bloße 
Eriftenz ihn reizt, wenn fie Miene machen, ihn felbit nicht ald mädhtigften 
Kiteraten im Lande gelten zu laffen, greift er an mit allen Waffen feines 
reichen Arfenald, mit dem lauten Knall feiner großen Geſchütze oder den 
Keinen infamen Pfeilen, die wie Gift wirken, je nach Umftänden. Seine Ge 
ihichte ift die Gefchichte diefer Kämpfe. In der Tiefe feines Weſens hat er 
faum eine Entwidelung gehabt, kaum etwas neues gelernt; alles lag bereits 
in ibm. „Er hat die Spinnenfäden feiner Kenntniffe und perfönlichen Ver— 
bindungen an immer fernere Punkte angeklebt, fie zu immer weiteren Mafchen 
gefponnen, in denen Freund und Feind, Müden und Elephanten hängen 
bleiben : aber das große, Leben ausfaugende Thier mit dem ungeheueren 
Berftande ſaß in der Mitte von Anfang an, mit denfelben Augen in der— 
felben Geftalt auf demfelben Flede und Tauerte.* — Diefe ganz einzige 
Stellung Voltaire's, welche fo befeftigt und unängreifbar mar, daß jelbit 
Friedrich der Große von einem der geringeren Producte der Voltaire'ſchen 
Mufe, der Henriade fagte, jeder Mann von Gefchmad werde fie der Ilias 
vorziehen — diefe wunderbaren Erfolge erklären fih nur dur ein ebenfo 


8 


wunderbare Zufammentreffen der verfchtedenften Umftände. Zunächſt fchrieb 
Voltaire für Paris d. h. für den Geſchmack der Stadt, deren Bewohner da- 
mals ala die bevorzugten Vertreter der gebildetiten Nation galten. Er wußte 
fih auf das vollftändigfte mit diefem Geſchmack zu verfchmelzen — ohne 
daß er ihn etwa zu erheben oder zu läutern geftrebt hätte — fo vollftän- 
dig, daß Voltaire auch damals ficher war, die allgemeine Aufmerkſamkeit 
der Pariſer fih und feinen neueften Schriften wochenlang zuzumwenden, ala er 
jahrelang in theil® erzmungener Abmefenheit in England, theil® in freiwilliger 
bei Friedrich dem Großen in Berlin und Potsdam lebte. Indeſſen hätte 
wohl diefe Vertrautheit mit dem Gefhmadd-, Intereſſen- und Bildungskreis 
der Pariſer nicht audgereiht, ihm für foviele Jahrzehnte unbeftritten die 
Balme zu verfchaffen, wenn er nicht zugleich im höchſten Maße die Sprache 
der beiten franzöfifchen Geſellſchaft und Schriftiteller in feiner Gewalt gehabt 
hätte. „Zu der Zeit, wo Voltaire auftrat, war die Sprache zu einem In; 
ftrumente und foldher Feinheit geworden, daß das Erfcheinen eines Mannes, 
der fich deffelben nur mit voller Kraft bediente, eine Art Forderung an das 
ihöpfertfhe Genie der Nation war. Man Fonnte fagen: ein Mann mie 
Boltatre mußte ſchließlich kommen.“ Hundert Jahre hatten an diefer Ent- 
widelung gearbeitet, feit Corneille zuerft aufgetreten war. Racine, Moliere 
hatten in ihrer Weife dazu geholfen, und dennoch konnte noch ein Kritiker 
wie Boileau daran zweifeln, ob ed möglich fei, fich überhaupt correct fran- 
zöfifeh audzudrüden. Ganz Parid war etwa von demfelben kritiſchen Geiite 
beieelt. Jeder fuchte an feinem Theile fih im beiten Franzöftich zu üben. 
Um 1700 etwa fchrieb Allemelt in Bart: Hohe Herren und Kammerdiener, 
Damen und Gavaliere; in Profa und in Verſen: galante oder fatirifche Ge- 
dichte, Epifteln, Memoiren, Komödien, Tragödien, Liebesbriefe. Alles wurde 
im Manufeript gelefen, Eritifirt, gedrudt wenig. Wer damals in Paris auf. 
treten durfte „mit dem Anfpruh, daß man Notiz von ihm nehme, hatte 
etwas von einem Auderwählten an ſich.“ Boltaire erhob diefen Anfpruch, 
denn er hatte wie Feiner vor ihm die höchſte Meifterfchaft in der Handhabung 
und Hebung feiner Sprache fich angeeignet und hat fie bis an fein Ende behaup- 
tete. — Als dritter Factor feiner unbeitrittenen einfamen Größe fam hinzu 
die Tendenz feiner Schriften. „Der allgemeinen europäijchen Gefelfchaft war 
damald nur darum zu thun, jo gut ala möglich fih Muſik zu fchaffen, nach 
der man tanzen könne. Die Langeweile zu befämpfen war Jedermanns erfte 
Sorge. In meld ungeheuerem Courſe mußte damald der Werth, eines 
Mannes ftehen, dem gegenüber, wo er eingriff mit feinem Geijte die Lange— 
weile verfchwand wie durch Hererei, der alle was fein Geijt berührte, zum 
amüfanteften Spielzeug für die Menſchheit geftaltete, Jahr auf Jahr, und fo 
weiter Generationen hindurch! Die geringften Nichtigfeiten mußte Voltaire 


bier zu verwenden, fo gut wie die gewaltigiten Fragen der Wiſſenſchaft, ein, 
wie und fcheint, fo leicht ald da® andere. Tous les genres Sont bons hors 
lennuyeux war fein Wahlfprud. Er brachte zum Lachen und zum Meinen, 
einerlei welches, wenn die Leute nur mußten, daß er ed war, deilen Kunft 
es zu Wege gebracht. Voltaire ift der ungeheuerfte literarifche Schaufpteler 
gemwefen, den jemals die Erde beherbergt hat.“ Nicht im gewöhnlichen Sinne, 
fondern im höchften, mie Garrid e8 war. Vergeſſen dürfen wir dabei nicht, 
mit welchem Aufmande geiftiger Mittel dies Spiel in Scene gefegt ward; daß 
Voltaire zur Befriedigung dieſes Triebed Unfchuldige vom Tode errettet hat, 
gegen die ganz Frankreich ſchrie. Er war muthig und zähe. Er befaß eine 
ungeheuere Macht, feine Gedanken zu denen der Menge zu machen und menn 
er diefe Macht oft anwandte um ſich zu rächen, fo fehlte fie ihm ebenjomenig, 
wenn er für die Unterdbrüdten eintrat. 

Diefe impofante Abhandlung Grimm’s über die Bedeutung Voltaire's 
und die inneren Gründe feiner literarifchen Alleinherrſchaft — die hier nur 
in den SHauptgedanfen verfolgt werden konnte — iſt indellen gewiſſermaßen 
nur die Erpofition oder Weberficht deſſen, mas der Verfaffer über den großen 
Branzofen eigentlich zu fagen beabfichtigt. „Voltaire ift für uns heute wid): 
tig ald Dichter, als Hiftorifer, und, für Deutichland befonders, ald Freund 
Friedrich's des Großen. Nach diefen drei Richtungen hin tft e8 von Werth 
für Jedermann, eine Anfchauung feiner Thätigkeit und feined Charakters zu 
gewinnen.“ 

Den Dichter Voltaire ftellt Herman Grimm durchaus nicht auf jene 
Höhe, auf welche dad befangene Urtheil feiner Landsleute und der bequemen 
Nachſprecher in vielen andern Nationen ihn erhoben hat. Grimm beginnt 
mit feiner Kritif bei jenem „Dedipus“ Voltaire's, den der achtzehnjährige 
Dichter ald Gefangener in der Baftille fohrieb, der 45 Vorſtellungen erlebte 
und ihm vom Regenten eine goldene Medaille und Penfion -eintrug. Grimm 
vergleicht zunächſt die antike fophoffeifhe Dedipusfage mit dem, was Cor— 
neille in einem faft völlig vergeffenen Stüd daraus franzöfifirt hat, und weiſt 
Boltaire nah, daß er das Corneille'ſche Vorbild, jo geringihäßtg er auch 
darüber urtheilen mag, doch fehr eingehend benügt habe, indem er in der 
Hauptſache die Corneille’jche Yabel des Stückes, ja felbft einzelne Verſe und 
Epifoden wörtlich copirte. Nur fällt der Vergleich durchweg fehr zu Unguniten 
Voltaire'd aus, da, wo diefer ſich von feinem Vorbilde trennt. Seine Aleran« 
driner find zwar „irreprochabel® — aber nicht einer einzigen ruhigen Scene 
begegnen wir. Voltaire befundet eine bedenkliche Unfähigkeit, zu charafteri- 
firen, oder audy nur deutliche Bilder zu liefern. Sein Philoftet wird zum 
befannten franzöfifchen Hausfreund, der, ftatt fich aus unglüdlicher Liebe zu 
Jokaſte regelrecht ins Waſſer zu ſtürzen, einfach leben bleibt, um ſich der 

Grenzboten IV. 1974, 2 


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Dame bei ihren fpäteren Schickſalen jo nüslic ala möglich zu machen. Dei 
Sphinx wird zu einer Art von entfprungenem Menagerieraubthier, dag Dedi- 
pus wieder einfängt u. f. w. Und diefe Unfähigkeit zu charakterifiren, weiſen 
auch feine berühmteften Dichtungen und Dramen auf: Mahomet, Zaire, Tan- 
cred und die Henriade. Grimm führt an einer Stelle des Mahomet in in- 
tereffantefter Weife aus, wie Goethe „umrißlofe Allgemeinheiten Voltaire's 
zu feiten Anfchauungen zufammenballt, und Verfe frei erfindet, durch melche 
endlich Licht und Schatten in das Gemälde gebracht wird. Das mar ed, mad 
Voltaire fehlte... Es ift mir nicht geglüdt, irgendwo bei ihm ein paar 
Sätze, Verſe oder Profa, zu entdecken, welche ein Bild lieferten!“ Selbſt da 
nicht, wo er eine beftimmte Gegend filtern will. „Am munderlichiten jedoch 
tritt diefer Mangel, malerifch auf die Phantafie zu wirken, in feinem großen 
Heldengedicht, der Henriade, zu Tage.” Bekanntlich ftellte fih Voltaire ſelbſt 
bauptfähli wegen feiner Henriade „fo einfah und bejcheiden* auf einen 
Platz, in Betreff deflen er der Nachwelt nur die Wahl überlich, ihn felbit 
zwifchen Homer, Birgil, Tafo und Milton zu rangiren. Ga, am andern 
Stellen ift auch diefe Wahl nicht mehr gelaffen. Voltaire hält ed für fo aus— 
gemacht, „daß feine Zeit die Blüthe der Jahrtauſende und er der Dichter 
aller Dichter fei, daß er davon wie von einer felbftverftändlichen Sache redet, 
beit der Bejcheidenheit oder Unbefcheidenheit gar nicht ind Spiel fam.* Grimm 
zeigt nun, wie wenig die Henriade gerade dazu angethan ift, den Dichter 
derfelben zu dem Anſpruch auf Dichterruhm zu berechtigen. Selbft die Wahl 
des Stoffes ift nicht fein Eigenthum. WUrmfelig, wie immer bei Voltaire, 
zeigt fich die Charakteriftif. Wo in Handlungen oder in den Gemüthern be- 
deutender Umſchwung eintritt, erfcheint unausbleiblich eine der zahllofen alle: 
goriſchen Figuren diefer Epopoe, welche die unerklärlihe Peripetie bet dem Hel- 
den ohne Murren durchſetzt, bald die „Diecorde”, bald die „Frömmigkeit“, bald 
l' Infame“, im entfcheidenden Augenblide fogar der heilige Ludwig in Perfon. 
Für die nothwendigen erzählenden Epifoden und die Glorification des regie- 
renden Herricherhaufes bieten Odyſſee und Aeneis bequeme Vorbilder. Alle 
diefe Schwächen trägt Grimm mit feinem Humor vor. 

Uber der innere Grund feines eingehenden Verweilens bei der Henriabe, 
welche „unter jehr Bielen, bei denen ich anfragte, nur ein Einziger gelefen zu 
haben erklärte”, ift weniger die Abfiht, die geringe Bedeutung deö dichte: 
riſchen Talentes Voltaire's nachzumeifen. Vielmehr leitet diefed Gedicht von 
jelbft über zur zweiten Aufgabe, die fih Grimm ftellt: die Charakteriſtik 
Voltaire's als Gefchichtsfchreiber und zeigt und an der Henriade bereits die 
bervorragenditen Eigenfchaften und Abfihten des Hiftoriferd Voltaire. Das 
ift feine Willkür des Efjayiften, die wir dem leicht geſchürzten Gewand feiner 
Darftelung zu Gute zu rechnen genöthigt waren. Denn die Henriade hat 


11 


unzweifelhaft großen, vielleicht den größten Antheil daran gehabt, daß Vol— 
taire 1746 zum Hiftoriographen ernannt wurde. Diefe Thatfache möchte frei- 
lih kaum glaublich erfcheinen, wenn man an der Hand Grimm’s die gehei— 
men Abfichten verfolgt. welche Voltaire bei Abfaffung der Henriade verfolgte: 
nämlich die boshafteſte, wirfungsvollite Satire und Streitfehrift gegen den 
damals in Frankreich allmächtigen Jeſuitismus zu liefern, die jemals gefchrie- 
ben worden iſt. Aber der Zeifel darüber, ob e8 möglich gemefen fei, den 
katholifchen Hof zu Verſailles fo vollftändig zu dupiren, verfchmindet wor der 
Thatjache, daß ein Cardinal, Quirini, die Henriade ins Italieniſche überfegte; 
dag Voltaire felbft es wagte, fi gegen einen alten, „wie einen Bater gelieb: 
ten Sefuiten* zu erbieten, jeded Wort aud dem Gedicht audmerzen zu wollen, 
das gegen die Fatholifche Religion, zu deren Ehre es gejchrieben fei; in Wahr- 
beit verftoße. In der That wiederlegt er auch durch nichts beffer ald durch dieſes 
Merk die Fabel von feinem Atheismus; in der That zeigt er fich darin ala 
gutfatholifhen Franzoſen; fein Held Heinrich IV. erreiht nur dadurd die 
Unterwerfung der Hauptftadt und die unbeftrittene Königswürde, daß er dem 
feßerifhen Calvinismus abfhmwört und fih plöglihd von „der Wahrheit” 
katholiſch erleuchten läßt. In vielen Verſen wird die Fatholifche Religion mit 
den höchſten Ausdrüden der Hingebung gefeiert. Dagegen wird der Klerus, 
die fihtbare Kirche, Nom, das vom Jeſuitismus beherrſchte Papſtihum, auf 
das ſchonungsloſeſte gegeifelt, und in der erfolgreichiten Meife im Bunde mit 
Spanien gezeigt, d. h. in Nationalfeindfchaft zu dem franzöfifchen Wolfe und 
Königthum verfegt. Die bo&haftefte Scene, zugleich die, welche diefe Tendenz 
am klarſten enthüllt, ift unzweifelhaft jenes Erfcheinen der Discorde im Pati» 
can; dad ſymboliſche Frauenzimmer, in der ihr ald allegorifchen Figur er- 
laubten Nadtheit, eilt durch die Gemächer; den Papſt umarmt fie zärtlich 
und regt ihn dur wilde Buhlfünfte zum Krieg gegen Franfreih auf und 
beginnt dann unter päpftlihem Segen eine Rundreife durch Frankreich, bie 
es ihr gelingt Jacques Clement zum Morde Heinrich's ded Dritten zu dingen. 
Gegen jeden Schlag von Rom hatte Voltaire aber fein Gedicht und fich ſelbſt 
ſicher geftellt durch die wahrhaft göttlichen Ehren, die er den Bourbons erwies. 
Er erhebt fie zu der vom Himmel vorberbeftimmten Herrfchenden Familie, 
welche direct nach göttlichen Eingebungen regiert, fo daß die Kirche in Frank: 
reich eigentlich überflüffig erfcheint. „Mit verbiffener Wuth ftand der Klerus 
dem Gedichte gegenüber und durfte nicht zufchlagen. Voltaire Hatte ein Merk 
geſchaffen, das die Quinteffenz ſeines Jahrhunders enthielt. In immer 
höherem Grade fand jeder Leſer darin, was er ſuchte, mochte er von einer 
Seite daran treten, von welcher er wollte.“ 

So phantaftifhe Formen diefer Haß Voltaire'd gegen den Klerus und 
Rom in der Henriade annimmt — und fo fehr diefer Haß der Grundton 


12 


aller Melodien fcheint, die Voltaire fein Leben lang angeftimmt hat, fo ver- 
wandt ijt er der beiten Erfenntniß, welche der Hiftorifer Voltaire zu Tage 
gefördert hat, fo wenig hat er den Dichter gehindert, ein vollendeter Geſchichts— 
fchreiber zu werden. Denn diefer Haß war nur die Vorftufe des vollen Ein. 
dringen® in die große Wahrheit ſeines Lebens, die Voltaire feinen hiſtoriſchen 
Studien dankt: die Duldfamfeit, welche ja überhaupt der hiftorifchen Objec- 
tivttät fo nahe ift. Der Klerus war der abfolute Gegner jeder Duldfamfeit, 
jeder Objectivität in Glaubensſachen, im Verhältniß der Kirche zum Staate, 
' Den Klerus trifft daher Voltaire’d Haß auch dann noch unvermindert, als er 
für fich ſelbſt längſt die volle Hiftorifhe Dbjectivität gewonnen hat. Mir 
find damit Grimm's Darftellung vorausgeeilt. Er befchreibt einen größeren 
Umweg, um und ®oltaire’d Bedeutung als Hiftorifer in das volle Licht zu 
fegen. Er ſucht, ganz im Allgemeinen zu zeigen, in welchen Grenzen die 
„dret Mittel“ wirken, „die Menfchheit wiſſen zu lafjen, was gefchieht und 
geſchehen ift: bildende Kunft, Dichtung und Geſchichtsſchreibung“. Er unter 
fucht, wie 3. ®. Homer ald Geſchichtsſchreiber den trojaniſchen Krieg bejchrie- 
ben haben würde, wie verfchiedene Zeiten nur die eine oder andere diefer Er 
fenntnißgattungen ertragen. Das ift meifterhaft gefchrieben und gehört zu 
dem beiten der ganzen Sammlung. Über ed muß Wort für Wort im Orts 
ginal gelefen werden. Ein Auszug läßt fich nicht geben. Grimm fehrt am 
Schluſſe diefed Ereurfed zu der Thefe zurück, von der er ausgeht: „Voltaire 
war geborener Gejhichtöfchreiber. Es zwang ihn, wie Machiavelli, ein Na: 
turtrieb, die Begebenheiten, von denen er Hunde erbielt, mit mechanifcher Par— 
teilofigfeit niederzufchreiben.. Aber nicht jede Zeit zeitigt jedes. Es gibt 
Epochen, denen die Gefchichtöfchreibung allein übrig bleibt, denen verfagt ift, 
Geſänge vorzubringen. Voltaire fuchte fi vergebend den Anfchein zu geben, 
als fei er ein Stüd Prometheus, der Menfchen formte nad feinem Bilde. 
Als Gefhichtäfchreiber dagegen hat er geleiftet, was fein anderer beffer gethan 
hätte neben ihm. Gr war ein fchöpferifcher Genius ald Hiftorifer. Er beur- 
theilte mit durchbohrendem Blicke die Thätigfeit derer, welche, längft dem 
Tode anheimgefallen, die Geſchicke ſeines Vaterlandes ruhmvoll leiteten, und 
befaß die Kraft, die Schattenbilder vergangener Tage, al® in lebendiger indi- 
vidueller Bewegung begriffen, und vorzjutäufshen. Sein Finger ging den 
Schritten der Menfchen und Begebenheiten nad, und nur diefe Rinie vielleicht, 
die er gezogen, wird nachkommende Jahrhunderte einft bewegen, fich näher 
um das zu fümmern, was zmwifchen 1650 und 1700 in Frankreich vorfiel.“ 
Voltaire, führt Grimm weiter aus, iſt in feinem großen Werfe über das 
Siecle de Louis XIV. keineswegs ein Banegyrifer des Königs, deſſen Namen 
das Jahrhundert trägt. Er redet von dem Glanz der Zeit überhaupt nur 
mezza voce, da er fein Publikum, das franzöfilche und fonjtige nicht zu 


13 

überreden brauchte, die Franzofen feien das erfte Volk der Welt und Louis XIV. 
der größte König. Seine Abfiht war vielmehr, die Gebredhen feine® Water 
landes an das Licht zu ziehen, denn er hoffte eine neue Blüthe Frankreichs 
aus deffen eigenem Schooß. Ganz verderblidh erfchien ihm auch bei diefer 
objectiven Unterfuchung der religiöfe Zuftand Frankreichs. Nicht mehr durch 
leidenfchaftliche Angriffe auf den Klerus wie in der Henriade, fondern durch die 
Darlegung der hiltorifchen Entwidelung der kirchlichen Verhältniffe in Frank: 
reich, fucht er fein Publikum über die höhere Anfhauung aufzuklären, die er 
bier einnimmt. In der Henriade hatte er den Calvinismus roh von fih ge 
wiefen, wie eine Krankheit fchlimmer Art, wie abfolutes Nichtfein. Hier fagt 
er vom Proteſtantismus, den die deutfchen Reichsſtädte angenommen hatten, 
er erjcheine „plus convenable que la religion catholique à des peuples ja- 
loux de leur liberte. Und über die Entftehung und die Notbmwendigfeit des 
Proteſtantismus überhaupt urtheilt er fo ruhig, wie ein Proteftant felbit. 
Die große Idee Voltaire'd, die ſich bei ihm erft allmählich in allen ihren 
Gonfequenzen entmwidelte, auf die hin er Schule und Partei bildete, die To— 
leranz, entfpringt diefer hiftorifchen Arbeit. Er faßt fie fo activ als möglich. 
Gr verlangt Bekämpfung der Intoleranz und handelt danach. Er gelangt 
in diefer Forderung von felbft dazu, das größte Zeitalter, deffen fih Frank. 
reich bi8 dahin rühmte, für eine Epoche des Niederganged zu halten. Aber 
er glaubte darum keineswegs an die furchtbare Kataftrophe der franzöfifchen 
Revolution, welche feit beinahe zweitaujend Jahren zum erften Mal wieder 
das alte keltiſche Volkselement an die Oberfläche brachte, fondern er hoffte, 
daß die alte gute franzöfifche Gefellfchaft wieder in fich felbft die Kraft finden 
werde, eine neue Zeit, dag wirklich goldene Zeitalter für Frankreich herauf 
zuführen. Er hat fih furchtbar getäufcht. 

Bon felbft, meint Herman Grimm, führt Voltaire's Sidcle de Louis XIV. 
zu Friedrih dem Großen, da der Verfaſſer während feines zweiten Aufent- 
baltes in Berlin und Potsdam zumeift damit bejchäftigt war. „Den lebten 
Stempel empfing ed durh den Einfluß Friedrichſs des Großen.“ Bol- 
taire bedurfte überhaupt einer feiten Stellung außerhalb Frankreichs. 
In England Hatte er ald Flüchtling ein Afyl, fih und feinen Schriften 
treue Freunde gewonnen. In den Niederlanden: wurden feine Bücher 
gedrudt. Immer weiter ftrebte er im Ausland nah Anfnüpfungspunften, 
um den Wanfelmuth der Barifer im gegebenen Falle „ein auf dem Ur: 
theile des übrigen Europas beruhende® Renommee als Gorgonenhaupt 
entgegenzuhalten: weder ihnen noch dem Hofe von Berfailled durfte je der 
Gedanke aufiteigen, Voltaire liege daran, ob man ihn mit freundlichen oder 
ſcheelen Blicten anfehe, oder gar ihm den Rüden zudrehe. Seine Schwäche 
aber war, daß er das Geſchwätz der Pariſer nicht entbehren Fonnte und wie 


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Rebensluft des Gefühls bedurfte, Franfreih fterbe vor Neugier über das 
nächte Wort aus feinem Munde“ Für diefe Zmede griff er mit beiden 
Händen zu, ala ihm Friedrich als Kronprinz von Preußen im Jahr 1796 
zuerft in einem bemwundernden Briefe feine Freundfchaft zu Füßen legte. 
Immer mehr aber wird das Bedürfnig ihrer Freundfchaft ein gegenfeitige®. 
„Hriedrich und Voltaire waren die beiden großen Xcteurs auf der Bühne des 
Öffentlichen KXebens in ihrer Epoche. Sie bedurften einander. Boltaire aber 
brauchte Friedrich anfangs in höherem Grade, bis ſich fpäter erft die Partie 
gleihftand. Bei Friedrich gab es eine Negion, innerhalb deren er fich auf 
fi bafirte und der übrigen Menfchheit Balet fagte. Er war da nur König 
und Feldherr. Voltaire fehlte diefe Macht, fih einfam zu fühlen. Hier war 
Triedrih tm Uebergewichte. Allein Voltaire war unermüdlich, unerfchöpflich, 
klüger ala alle, fähiger ald alle fi auszufprechen, und Friedrich, wenn er 
aus den Höhen herabftieg, weil ed unmöglich war, immer fi dorthin zurüd- 
gezogen zu halten, fand doch wieder nur Voltaire. Hter lag Voltaire's Veber- 
gewicht über Friedrih. Die Gefhichte ihrer Freundfchaft ift der abmechfelnde 
Kampf, in welchem jeder feine Supertorität durchzuführen trachtet.“ 

In der eingehendften und Itebevollften Weiſe füllt Grimm nun die 
ftrengen Eurzen Linien, mit denen das Bild diefer hohen Freundfchaft bier 
fElzzirt ift, mit Yarbe und Leben, mit Licht und Schatten. Selten ftehen 
dem Schildern einer wichtigen hiſtoriſchen Epifode fo treue und klare Quellen 
zur Seite, wie über das Verhältnig Friedrich’ zu Voltaire in dem dreibändtgen 
Briefmechfel zmifchen Beiden (Merfe Friedrich's des Großen, Bd. 21—23). 
„Der erfte geht von der anfänglichen Bekanntſchaft bi8 zur Thronbefteigung 
Friedrich's, 1706—1740. Der zweite von 1740 bis zum Bruche im Jahre 
1753. Der dritte enthält den 1754 wieder aufgenommenen briefliden Ver— 
fehr bis zum Tode Voltaire'8 1778. Jugend, männliche Zeit und Alter ded 
Königs entfprechen diefen drei Abfchnitten. In feinem Briefmwechfel fpricht 
Friedrich fo offen ſich aus, in feinem Boltatre fih fo fehr mit Zuhülfenahme 
all feine® Talentes, auf Andere Einfluß zu üben. Ihr Verhältnig geitaltet 
fih zu einem Drama. Gin Beginn mit der Hoffnung auf: fpätereö perjön- 
liche® Begegnen und Zufanımenleben. Eine Mitte ald Verwirklichung diefes 
Plans. Ein Umſchwung, ſich entwidelnd aus der natürlichen Unmöglichkeit 
für zwei eines ſolchen Umfreifes freier Atmofphäre ‚bedürftige Charaktere, 
fih jo nahe zu ftehen. Und ein letter verföhnender Abſchluß in der Uns 
möglichkeit fih zu entbehren. Ihre Correfpondenz enthält, was Innerhalb 
der Jahre 36—78 die Welt des vorigen Jahrhunderts bewegte. Diefe drei 
Bände gehören zu den Büchern, die man ſich immer freut in einem freien 
Augenblicke ergriffen zu Haben.“ Uber fo treu und Har diefe Quellen find, 
felten ift das Berhältnip des größten Königs zum größten franzöfifchen 


15 


Schriftfteller jener Tage deutlicher und wahrer gejchildert worden, ald von 
Herman Grimm. Gr ijt rückſichtslos aufrichtig und denkt nicht daran, irgend 
eine jener menſchlichen Schwächen zu verfchleiern, welche das ſchöne Freundſchafts— 
Verhältniß der beiden großen Männer fo brüsk löften. Aber dafür ift 
Grimm auch deutlicher und wahrer ald irgend ein Anderer in der Erklärung 
der pfychologijchen Motive, aus denen fich die beiden großen Geiſter zuerit 
mit Naturnothwendigfeit einander nähern und ſich auch geiftig wieder juchen 
und finden müſſen, nachdem fie perſönlich fich für immer getrennt haben. 
Namentlih auf Seiten Friedrich’ des Großen iſt dieſes Geiftesbedürfnig im 
der jugend wie im Alter mit gleicher Meifterfchaft dargelegt. Auch diejer 
Abſchnitt follte: fleißig im Driginale gelefen werden. 

Am Schluffe feiner Abhandlung fehrt Grimm noch einmal zu dem Ge— 
danken zurüd, von dem er ausgegangen und führt ihn meiter zu dem Gabe: 
Boltaire ift die Frucht der allgemeinen romanifchen Entwidelung, der Perſoni— 
fication Franfreihd. So betrachtet, enthüllt fih und das letzte Geheinmiß 
feiner Exiſtenz und feiner Wirkung. „EI gab eine Zeit, wo Guropa 
griechifch überfluthet gewefen zu fein fcheint. Es gab eine Zeit, wo Europa 
und ein Theil Aſiens und Amerifad von den romantfhen Gewäſſern über- 
ſchwemmt war. Wir fehen heute die gefammte Menjchenwelt der Erde im 
Beginn, germanifirt zu werden... Die Epochen der romanifchen Weltherrfchaft 
liegen deutlich vor und. Zuerſt galt es das Griechenthum zu befiegen und 
in fi aufzunehmen. Dann, ald die Alleinherrfhaft unbeitritten war, wurden 
die germanifchen, feltifhen und iberifchen Völker aufgefogen. Bon Rom ging 
die Zeitung über auf Spanien, von Spanien auf Franfreih. Das Papſtthum 
mar die eigentliche Gentralfchöpfung der romanifchen Race; die Herrfchaft 
Frankreichs ift ihre legte Anftrengung gegenüber dem anwachfenden germanijchen 
Principat. Das siecle de Louis XIV. von Voltaire ift die vom Geifte der 
romanijhen Race felber gefundene literarifche Form für ihr letztes gewaltiges 
Aufleuchten über Europa vor ihrem Zuſammenſinken. . . Auch Voltaire ent- 
fpriht in feinem ganzen Wefen der gefammten romanifchen Eriftenz, deren 
glänzender Untergang durch ihn verewigt werden follte.* In diefem Sinne 
bat ihn jhon Goethe mit hiftorifhem Tafte am beften erfaßt. Auch Goethe 
faßt Voltaire als Perfonification Frankreichs auf, und fpricht ihm und damit 
zugleih dem franzöſiſchen Wolfe Tiefe und Vollendung ab. Es entipräcde 
diefe Erjcheinung dem Abhandenkommen diefer beiden Eigenfchaften zur Zeit 
des Sinkens der griechiſchen Welt. Ueber die legten Zeiten der germanijchen 
Race heute reden zu wellen, meint Grimm, würde zu leeren Gebilden führen. 
Und bleibt für die nächften Zeiten nicht viel anderes übrig, als zu leben und zu 
fämpfen und, wie die Romanen der erften Zeit ihre geiftige Eriftenz auf die 
griechifche Kultur, fo die unfrige auf die der Griechen und Romanen zu bafiren. 


Das ift Schon bisher geichehen. „Luther's neue germanifche Schöpfung ent- 
fprang vollfommener Durhdringung der romanifchen Theologie, Goethe's 
deutfche Dichtung der vollendeten Aufnahme romanifcher Bildung, Friedrich 
des Zweiten echt germanifche Politik dem Durchſchauen all der romanifchen 
Ränke, melde Mackhiavelli in feinem Buche vom Fürften, wenn auch nur 
ald objectiver Beobachter zufammengeftellt Hatte. Friedrich, ein Schüler 
Boltaire'3, der nur franzöſiſch ſprach und fchrieb, der deutfche Kiteratur ver- 
fannte und deutſches Wefen oft kaum begriff, ift im eminenten Sinne der 
erfte deutfche Fürft gewefen. Sein Wort, daß er nur der erite Diener feines 
Staates fei, ift der Grundgedanke, auf dem heute Deutfchland beruht, ... 
dad Gefühl der Pflicht iſt die Grundlage der heutigen Herrfchaft der ger- 
manifchen Völker. Seine mit Staunen von und beobachtete Abweſenheit bei 
den heutigen Romanen tft dad am bdeutlichiten hervortretende Symptom, 
welches dad Zurücktreten diefer Race als regierender documentirt. Go be 
trachtet, erjcheinen die letten Anftrengungen auch der romanifchen Kirche ala 
der verzweifelte Verfuch, durch eine Formel, der ind Unendliche ausdehnbare 
zwingende Macht innewohnt, dem Einzelnen den Halt zu verleihen, der ihm 
aus der eigenen Natur fehlen würde. Sedenfalld kann died Mittel doch nur 
bei Romanen einen Zweck Haben und auch bei ihnen nur ein Erfolg 
denkbar fein.“ 

Mögen diefe Furzen Auszüge aus einer der neueften und zugleich für 
unfere Gegenwart wichtigiten Arbeiten Herman Grimm’3 den Leſer dazu er- 
muntern, feine fünfzehn Eſſays zu ftudiren. Er wird darin ein Buch erfennen, 
das er freudig unter die beften Werke feiner Bibliothek ftellen wird. 

Hana Blum. 


Fin Prinz aus dem brandenburgiſch-hohenzollexſchen 
Haufe als Bifhof von Htraßburg (1592—1604). 


Unter den freien Reichsſtädten Deutſchlands war Straßburg nicht allein 
eine der erften, die der Reformation die Thore öffneten; fie zählte auch zu 
denjenigen, welche alle retrograden fatholiihen Machteinflüffe am energiichiten 
befämpften. Nachdem bereit? im Jahre 1518 ein großer Theil der Bürger- 
ſchaft fi für die Iutherifche Lehre erklärt hatte, ordnete der Senat in den 
Jahren 1527 — 29 jchrittmeife die Abjchaffung des alten Fatholifchen Kultus 
an, fo daß der Katfer fich weigerte, die Abgeordneten der Stadt Straßburg 


17 


auf dem Reichdtage zu Speier zuzulafien, in befonderer Berufung darauf, daß 
der Magiftrat erft kurz zuvor. die Leſung der Meſſe unterfagt hatte. Ohne ſich 
durh die Drohungen des Kaiſers einfhüchtern zu laſſen, ſchloß fich die Stadt 
Straßburg dem Protefte der Iutherifchen Fürften und freien Städte an. 1530 
ftellte fie im Bunde mit Lindau, Memmingen und Sonftanz durch ihre Ab- 
geordneten Bucer, Gapito und Hedio der Augsburgifchen Konfeffion die zur 
Zwingli'ſchen Lehre hinneigende Tetrapolitana entgegen, trat jedoch fpäter dem 
erftgenannten Glaubenskenntniß bei und ſchloß fi) auch 1531 dem ſchmalkal— 
diihen Bunde an. Es verdient hier befonderd hervorgehoben zu werden, daß 
Straßburg dem eigennüsigen Verbündeten der Proteftanten Deutjchlande, dem 
Könige Heinrih II. von Frankreih, der fih auf Grund der Verträge mit 
den Fürſten des fchmalfaldifchen Bundes der Bisthümer Dies, Toul und 
Verdun bemächtigt hatte, energifh den Eintritt in die Stadt verweigerte, und 
als diefer drohte, trogig ihre Mauern in Vertheidigungszuftand feste, fo daß 
Heinrich fih zum Abzuge genöthigt ſah. Noch lange rühmte fih Straßburg 
mit befonderem Stolze der Treue, welche ed dem Reiche und dem Kaiſer be 
wieſen, obwohl e8 in Neligtondfachen deſſen entfchiedeniter Gegner war. Ihre 
Bedeutung verfchaffte der Stadt troß ihrer Weindfeligfeit bedeutende Privilegien : 
im Jahre 1538 bereitö durfte fie eine lateinifche Schule errichten, an melcher 
Galvin docirte; und 1566 erhielt fie vom Kaifer die Erlaubniß, die Schule 
in eine Afademie umzuwandeln, an deren Spige zunächſt ein calviniftifcher, 
jpäter ein Iutherifcher Nektor ftand. Ebenſo gewinnen jeit 1584 proteitan- 
tiſche Domherrn im Sapitel der Kathedrale Sit; 1588 werden deren nicht 
weniger als vierzehn aufgenommen, zu denen, wie aus einer Lifte einer alten 
Malerei, die im Bruderhof aufbewahrt ift, hervorgeht, neben Joachim Karl, 
Herzog von Braunfhmeig, Franz v. Rüneburg, Ulrih, Sohn Friedrich's IL. 
von Dänemarf und anderen, auch Auguft, Marquis von Brandenburg gehört. 
Im Jahre 1592 follte au die Wahl eines Biſchofs einen Sproß des Haufes 
Brandenburg Hohenzollern treffen. 

Der Biſchof Johann, Graf v. Manderjcheit, war mitten unter den hef- 
tigften Kämpfen der verfchiedenen Religionsparteien am 2. Mai 1592 in 
Zabern, der gewöhnlichen Reſidenz, geftorben. Es entſpann ſich zunächſt ein 
Streit über den Ort der Wahl eines neuen Oberhirten. Während die Pro- 
teftanten, gleichzeitig um ſich der Autorität ded Senats zu verfihern, behaup— 
teten, das Kapitel müſſe fih nach altem Herfommen behufs Vollsiehung der 
Wahl in Straßburg verfammeln, ftimmten dagegen die Katholiken für Zabern, 
weil fie fi in Straßburg den Feindfeligkeiten des Volkes ausgeſetzt glaubten. 
Sie richteten daher an den Kaifer Rudolf IL. die Bitte, das Kapitel unter 
feinen Schug zu nehmen, und jener, das zufagend, beftellte den Erzherzog 


Ferdinand ald vorläufigen Verwalter des Kapitels, der Schlöfler, San und 
Grenzboten IV. 1974. 


18 


Qändereien; gleichzeitig ermahnte er den Magiitrat, in feiner Weife die pro: 
teftantijchen Domherrn zu unterftügen, jondern ſich ihren Abfichten, fofern 
fie den feinigen widerfprächen, energifch entgegenzuftellen. Der Senat der pro» 
teftantifhen Stadt Straßburg war jedoch meit entfernt, diefen Anforderungen 
zu entiprechen, und Joachim, Herzog von Braunfchmeig, welchem die pro- 
teitantifchen Stiftäheren aus eigener Machtvollkommenheit die Würde eines 
Papſtes übertragen hatten, konnte ungeftört das Kapitel auf den 28. Mai 
zufammenberufen. Der Verſammlung feste in beredter Nede der Profeſſor der 
Theologie und Rektor der Akademie, Johann Pappus, die Eigenfchaften und 
Tugenden eined Biſchofs auseinander, wie fie der Apoftel Paulus von einem 
jolhen in feinem Briefe an, Timotheus fordert und ermahnte eindringlich, 
nur einen folchen Dberhirten zu wählen, der fich zu den Lehren der Prophe- 
ten und Apoftel, zu denen der drei erften fymbolifchen Schriften und der vier 
eriten Konzilien befenne und zugleich unverbrüchlich feithalte an den Sätzen 
der Augsburgiſchen Konfeffion. Nachdem Johann Pappus feine zündende 
Nede geendet, fehritt man zur Wahl und ernannte einftimmig Johann Georg, 
von Brandenburg, Eohn des nachmaligen Kurfürften Joachim Friedrich, in- 
dem man ihn poftulirte, da er dem Kapitel nicht angehörte. In dem Haufe 
Brandenburg erfannte man bereit damals die Bormadht der freien proteftan- 
tifchen dee, und man bedurfte hier in diefem Kalle unter allen Umftänden 
eined Fürften, der mächtig genug fehlen, um feine Würde gegen einen ftarfen 
MWiderfacher, den die Fatholifhen Domherrn aufzustellen nicht zögern konnten, 
mit Nachdruck aufrecht zu erhalten. Dieje Erwartung mußte natürlich zur 
Grundbedingung haben, daß die Partei, welche den proteftantifchen Streit- 
Biſchof aufftellte, in ihrem Muthe und ihrer Unterftügung nicht erlahmte ; 
doch wurde biefe Bedingung in der Yolgezeit nicht erfüllt. 

Der neu ernannte Bischof zögerte nicht, die auf ihn gefallene Wahl durch 
einen Bevollmächtigten zu ratifiziren, und vom 1. Juni ab wurden in feinem 
Namen Schreiben an alle Amtshauptleute und Magiftrate gerichtet, um ihnen 
anzubefehlen, Herrn Johann Georg von Brandenburg als ihrem Bifhof und 
gefegmäßigen Fürften den ſchuldigen Gehorfamzu erweiſen. Indeſſen hatte der 
Senat der freien Reichsſtadt, um den geiftlichen Oberheren zu fügen, 3 Fähn- 
lein Infanterie und 600 Reiter aufgebracht, welche er mit 7 Geſchützen gegen 
dag zum Bisthum gehörende Schloß Kochersberg zum Angriff vorfchidte. 
Nach ftarker Brefchelegung ergab ſich Kocheröberg, und es folgten ihm gleich 
darauf Dachſtein und Molsheim. Die efuiten, welche in Iekterem Orte eine 
Schule hatten, fahen fich zur Flucht genöthigt; und die Straßburger Aka— 
demie, die in diefem Greignig ein günftiges Vorzeichen erblicte, ſprach in einer 
poetifchen Epiftel, welche fie bei diefer Gelegenheit an den Bifchof Johann Georg 
richtete, die Hoffnung aus, daß er, nachdem die Jeſuiten die Flucht ergriffen, 


19 


nicht zögern werde, fih auch den Antichrift (d. b. den Papſt) zu Füßen 
ju werfen: 

„Si Jesuita fugit, ruet Antichristus et ipse, 

„Concipe spem princeps, non tenue omen adest.“ *) 


Die Eatholifchen Stiftäheren überzeugten fih, daß fie Feinen Augenblid 
Zeit zu verlieren hatten und erwählten daher in einer am 8. Juni zu Zabern 
abgehaltenen Sigung den Kardinal Karl von Kothringen, Bifhof von Met, 
Sohn Karl's IIL., Herzog von Lothringen und der Claudia von Frankreich, 
Tochter Heinrich’ II. Diefer ſowohl durch feine Abftammung wie durch feinen 
wüthenden Glaubenseifer hervorragende Gegen» Bifchof richtete nun fofort 
eine harte Anklagefchrift an den Senat von Straßburg rüdfichtlich der Weg— 
nahme mebrerer ihm als dem einzig rechtmäßigen Bifchofe gehörenden Schlöffer; 
er drohte, falld man ihm nicht die vollfte Genugthuung angedeihen laſſe, mit 
bewaffneter Hand Rache zu nehmen. Der Senat, um Zeit zur Rüftung zu 
gewinnen, ſuchte unter Entjehuldigungen der Sache zunächſt eine derartige 
Wendung zu geben, ald ob die Verantwortung für die Einnahme von Kochers- 
berg und Dachſtein auf dem Bifchof Johann Georg allein laftete; ließ aber 
gleichzeitig durchblicken, daß die Wahl desfelben unter feiner ganz bejonderen 
Autorität vollzogen fei. Diefe legte Bemerkung brachte natürlich den ſtreit— 
baren Kardinal vollende in Harnifh, und er bejtritt in einem Entgegnungs— 
ſchreiben dem Senat jeglihe Competenz in bifchöflihen Wahlangelegenheiten 
mitzureden, morauf diefer, noch immer in entfcehuldigendem Tone, ſich dahin 
äußerte, daß er nur diejenigen Rechte für fi in Anfpruch nehme, die ihm 
durch Verträge und Privilegien zuftänden. 

In der Zmifchenzeit war Karl von Kothringen mit feinen Rüftungen 
fchneller fertig geworden, al die Stadt Straßburg, und war nad der Ein- 
nahme von Benfeldt und Andlau mitten in dad Elfaß vorgedrungen. In 
anmaßendem Tone ließ er durch einen Trompeter die Behörden von Straß- 
burg auffordern, die proteftantifhen Domherren, welche die Urheber der 
neueften Unruhen jeien, unverzüglich audzutreiben und den ihm getreuen 
Stiftäherren ihre Kirchen und Revenüen zurüdzugeben, ſowie auch den feinem 
Bisthum zugefügten Schaden zu erfegen, widrigenfalld er fie als Feinde be 
handeln werde. Der Senat von Straßburg und Johann Georg antmworteten 
hierauf mit der Eröffnung der Weindfeligfeiten. Es entjpannen fich Eleinere 
Gefechte und den lothringifchen Truppen gelang ed, 500 brandenburgifche 
Reiter in Schafoldheim, ſowie ein Fleined Lager bei Geiipisheim zu überfallen 
und einen Theil der Bagage zu erbeuten. Die Eaiferlihen Kommiſſarien, 
welche indeffen angelangt waren, wandten fich zur Schlihtung des Streites 








) Aus einer Handjchrift des Riccius, Kanzlers der St. Petri Kirche, 


20 


zunächſt an den Kardinal Karl von Lothringen, und ließ diefer fich bereit 
finden, die Feindfeligkeiten einzuftellen, wenn der Kaifer dem „Marquis von 
Brandenburg“ und dem Senat von Straßburg anbefehlen wollte, die Waffen 
niederzulegen. In Folge deflen richteten die Kommiſſarien an leßtere die 
Aufforderung, fi) dem zu gewärtigenden Schiedörichterfpruche des Kaiſers zu 
unterwerfen. Johann Georg aber erklärte in voller Uebereinftimmung mit 
dem Senate, daß diefe Angelegenheit nicht zur Competenz des Kaiſers allein 
gehöre, jondern daß die gefammten Staaten des Reichs darüber zu entfcheiden 
hätten, überdies könne er in Eeinerlei Verhandlungen eintreten, bevor er nicht 
die Zuftimmung ded Kurfürften von Brandenburg erhalten habe. Diefe Er- 
Härung, welche der Senat unterftüßte, fchnitt allen weiteren Vermittlungen 
die Spite ab. Der Kardinal rücdte nunmehr mit Macht heran und nahm 
Kochersberg mit Sturm; in feinem Zorn gab der geiftlihe Herr die ganze 
Befagung der Vernichtung Preis und ließ nur dem einzigen Manne Gnade 
widerfahren, der fih zu der SHenkerdarbeit, den Kommandanten von Kochere- 
berg zu hängen, bereit erflärte. Der Senat ließ fich durch diefe Härte, ſowie 
durch den Fall von Dadjtein und Weſſelnheim nicht einfhüchtern, fondern 
verbot vielmehr den Katlsolifen die Ausübung des Gottesdienfted auch in der 
ihnen bisher noch überlaffenen Kirhe St. Johann. Johann Georg jedoch, 
in dem Streben, die Katholiken mit ſich zu verföhnen, erließ am 19. Juli 
ein Manifeft, in welchem er allen feinen Unterthanen völlige Gewiſſensfreiheit 
zufagte und gleichzeitig feine Anrechte auf die bifhöflide Würde Elarlegte, 
indem er darthat, dag feine Wahl, da fie in Straßburg, dem für die Ver— 
fammlungen des Kapitald beftimmten Orte, und duch die Majorität der 
Stiftäherren volljogen worden, ganz und ohne allen Zweifel Fanonifch fet. 
Indeſſen hielt er e8 doch für nothmwendig, fein Anfehen durch einen militärifchen 
Erfolg entfhiedener zu ftärken, und er verfuchte daher nach Ankunft der 
Hülfstruppen von Züri, Bern und Bafel und der ded Grafen von Nürn- 
berg dad von den Kothringern ſtark beſetzte Molsheim zu nehmen. Nach 
einigen Berluften fah er fi jedoh zum Rückzuge genöthigt, bis Prinz 
Chriſtian von Anhalt zu feiner Unterftügung beranzog und es ihm gelang, 
durch wiederholte heftige Angriffe das feſte Molsheim zur Mebergabe zu 
zwingen. Durch diefe glüdliche Waffenthat wurde dad Anfehen der proteftan- 
tifhen Partei bedeutend gehoben und ihr ein fefterer Halt gegeben. Ein 
Verſuch, den die lothringifhen Truppen in der Folgezeit machten, ſich Schlett- 
ſtadts durch Ueberfall zu bemächtigen, fcheiterte an dem Muthe der über ihre 
Freiheit forgfam mwachenden Bürger. 

Auf beiden Seiten fehlten übrigend die Mittel zu einer energifchen 
Kriegführung, und nachdem der Kampf ſich bereits faft ein ganzes Jahr lang 
bingezogen hatte, ohne daß ein wirklich entfcheidender Schlag geführt worden 


al 


wäre, ſuchte der Kaiſer fich gebieterifcher zwifchen die ftreitenden Parteien 
einzulegen, indem er Johann Georg und Karl zur Niederlegung der Waffen 
aufforderte, um die Entſcheidung über ihre beiderfeitigen Anſprüche einem 
Schiedegerichte anheimzugeben. Als auch die lutherifchen Geiftlichen, im 
Gegenfas zu den calviniftifchen, welche die Fortſetzung des Krieges predigten, 
für den Abſchluß ded Friedens fprachen, fofern die Katholiken fi mit den 
Kirchen, welche der Paſſauer Vertrag ihnen zugefproden, begnügen wollten, 
und der Bijchof Johann Georg ſowohl ald der Kardinal von Lothringen in 
ihren Mitteln erfhöpft waren, fo zeigten ſich Beide nicht abgeneigt, fi) dem 
Spruche eined Schieddgerichtd zu unterwerfen. Drei Katholifen und drei 
Proteftanten bildeten dasſelbe, nämlih: Wolfgang Brendel, Erzbiihof von 
Mainz; Julius, Bifhof von Würzburg; Werdinand, Erzherzog von Defter- 
reih; Ludwig von Hefien; Philipp Ludwig von Baiern, Pfalzgraf bei Rhein 
und Friedrih Wilhelm, Adminiftrator des Kurfürſtenthums Sachſen. Am 
9. März 1593 Fam es zu einem proviforifchen Ausgleiche, nach welchem, un- 
bejchadet einer fpäteren definitiven Entſcheidung ded Kaiſers, feftgefegt wurde, 
dag der Kardinal Karl Zabern, Benfeldt und Rauffach nebit einer Anzahl 
von Aemtern erhalten und ihm ingleichen Molsheim zurüdgegeben werden 
follte; daß ferner Johann Georg, feinen Biſchofsſitz in Straßburg nebft den 
zugehörigen Beſitzungen behaltend, Dachftein wieder ausgeliefert befäme, und 
ihm eine Zahl von Aemtern zu überlafen feien, deren Nevenüen fi fo hoch 
beliefen, als die der an Karl abgetretenen; endlich follte Karl der Stadt 
Straßburg Waffelnheim mit ſämmtlichem dort vorgefundenem Geſchütz wieder 
außliefern. In der Zuftimmung zu diefem Bertrage feitend des Kardinals 
von Lothringen lag alfo eine indirefte Anerfennung der Gerechtfame des 
Ketzer-⸗Biſchofs. Eine endgültige Einigung, die man auf einer Berfammlung 
zu Speier verfuchte, Fam nicht zu Stande, doc) gelangte man zu dem Ent- 
fchluffe, die beregten Feitfegungen dem Kaifer zu unterbreiten und auf einem 
nah Frankfurt a. M. zufammenzuberufenden Reichstage zur Entfcheidung zu 
jtellen. Beiden Theilen wurde unter Androhung der faiferlihen Züchtigung 
anbefoblen, bis dahin das getroffene Webereinfommen aufs Genauefte zu 
refpeftiren. Kaiſer Rudolf II., der froh war, dad Elſaß friedlichen Verhält- 
niſſen zurüdgegeben zu ſehen, hütete ſich, eine anderweitige Entjcheidung zu 
Gunften der Katholiken zu treffen, denn er bedurfte der Unterftügung der 
Proteftanten in dem Kriege gegen die Türfen, welcher in eben jenem Sabre 
ausgebrochen war. Wenn nun alfo von diefer Seite Johann Georg ſich 
vorläufig nicht gefährdet fah, jo wurden ihm jegt dagegen durch den Magiftrat 
von Straßburg, der ihn bi8 dahin in der Bekämpfung feines Gegners Fräftig 
unterftüst hatte, Schwierigfeiten bereitet, die für feine eigene Stellung fowie 


— 
22 


auch theilweife für die des Proteftantismug im füdweitlihen Deutfchland 
verhängnißvoll werden mußten. 

Die materiellen Intereſſen, die fo oft im menfchlichen Leben die geiftigen 
niederhalten, follten auch hier entjcheidend wirken. Die Stadt nämlich drängte 
da eine definitive Löſung der bifchöflichen Streitigkeiten vorläufig nicht in 
Ausfiht ſtand, Johann Georg zur vertragämäßigen Rüderftattung der ihm 
gemachten Vorſchüſſe und der anderweitigen Geldopfer, die man, um ihn in 
feiner Würde aufrecht zu erhalten, gebracht hatte. Ohne daß der Biſchof 
die Rechtmäßigkeit der Forderungen ded Magiftrat® zu beftreiten fuchte, bat 
er nur darauf Rüdficht zu nehmen, daß er zur Zeit außer Stande fei, feinen 
Verpflichtungen nachzukommen, da ihm feit der Theilung der Güter ded Ka— 
piteld und der Stadt nicht einmal die Hälfte der bifchöflihen Revenüen 
verblieben fet und er außerdem ſtarke Anleihen habe machen müffen für 
Repräfentationdkoften feiner Bevollmächtigten. Auf miederholted Andringen 
des Magiftratö jedoh, der unter allen Umftänden die materiellen Intereſſen 
der Stadt zu wahren befliſſen war, ſah fih Johann Georg genöthigt, unter 
dem 7. Dftober 1597 einen Vertrag einzugehen, nach welchem er unter Anderm 
eine Art Douane, Zollfeller genannt, verfchiedene Befigungen in Marlheim, 
Nonnenmweyer u. f. mw. und den Zehnten von SÜfir der Stadt überließ, 
mit dem Vorbehalt jedoch, daß er für ſich und feine Nachfolger alle Lehns— 
güter ſowie alle Lehnspflichten refervirte, welche feine Bafallen, rücfichtlich 
jener Douane, ihm zu leiften gehalten wären.*) Diefe Uebereinkunft, welche 
ohne Zuziehung der Fatholifhen Domherrn getroffen war, verſetzte diefelben 
in die höchfte Aufregung und fie nahmen aus diefen Umftänden ſowie aus 
einigen anderen Vorkommniſſen Veranlaffung, an Rudolf wiederholte Be: 
ſchwerden einzureichen, in Folge deren endlih am 3. Febr. 1600 ein £aiferlicher 
Erlaß erihien, der fich) weniger gegen Johann Georg, mit weldhem der un- 
entjchiedene Rudolf nicht brechen wollte, rüftete; fondern vielmehr, um den 
Katholifen einige Genugthuung zu verfhhaffen, forderte, daß die Grafen 
Hermann v. Kolmd, Ernft v. Mansfeld und Gebhardt v. Truchjeß den 
Bruderhoff und andere Pfründen der Domherrn, indbefondere aber die Dörfer 
Gaispolsheim und Lampertheim, deren fie ſich bemächtigt hatten, wieder ber- 
ausgeben follten. Die drei Grafen unterwarfen fi), aber der Herzog Franz 
v. Lauenburg und nad ihm der Herzog Chriftian v. Holitein, welcher mit 
Unterftüsung der proteftantifhen Domherrn die Würde des Präfidenten des 
Kapiteld für fih in Anfprud nahm, leitete dem Faiferlichen Befehle ent- 
fchiedenen MWiderftand, indem er Lampertheim, welches der Kathedrale von 
Straßburg zur Hälfte gehörte, bejegen ließ. In Folge einer neuen Klage 


*) Archiv, Argent. Bertrag von 1597. 


23 


des Biſchofs Karl und der Fatholifchen Domherrn erließ Rudolf unter dem 
2. Aug. 1602 an Chriftian v. Holftein eine nochmalige Aufforderung, feinen 
Anordnungen unverzüglich Folge zu leiften. Da der Herzog jedoch ſich hier— 
zu keineswegs bereit erflärte, fo ſchien das Kriegsungewitter abermald drohend 
heraufziehen zu wollen. Johann Georg war aljo dadurch, daß fein nothge- 
drungen mit dem Magiftrate gefchlofjener Abfindungsverrrag immer neue Ver— 
wicklungen nad ſich zog, ſowie endlich dur das etwas ungeftüme Vorgehen 
feiner Anhänger in die mißlichite Lage verfegt. Stets bemüht, den Geift der 
Verſöhnung walten zu lafjen, und Katholiken wie Proteftanten gleicdy gerecht 
zu werden, fah er fih, noch aus dem vorigen Kriege mit Schulden belaftet 
und durch den Vertrag mit der Stadt Straßburg, die ihn auch jest im 
Stich ließ, pefuniär lahm gelegt, nunmehr völlig außer Stande, den Kampf 
von Neuem aufzunehmen, zumal der font ſchwankende Kaifer, in Folge fteten 
Drängen? der Gegenpartei, mehr denn je geneigt fchien, für die Fatholifchen 
Intereffen nachdrücklich einzutreten. Die Stellung Johann Georg's war wegen 
mangelnder Unterftügung unhaltbar geworden. 


Da aud der Cardinal von Kothringen und Halb-Bifhof von Straßburg 
nicht geneigt war, feine Sache dem zweifelhaften Kriegsglück anzuvertrauen, 
jo Fam durch VBermittelung ded Herzogd von Würtemberg, der im Auftrage 
ded Kaiſers handelte, am 22. November 1604 der Vertrag von Hagenau zu 
Stande, welcher einen fünfzehnjährigen Waffenftillitand unter folgenden Be— 
dingungen feitfeste: Johann Georg leiftet Verzicht auf alle Rechte, welche ihm 
dur die Poſtulirung oder anderdmwie auf dad Bisthum Straßburg erwachſen 
find; er überliefert zur weiteren Vermittlung an den Herzog von Würtemberg 
den bifchöflihen Palaft der Stadt Straßburg und alle Schlöffer, Städte, 
Dörfer und Güter, melde dem Kapitel innerhalb und außerhalb der Stadt 
gehören; und erhält die Zufage, daß er betreffd der Verwaltung des Bisthums 
niemals zur Rechenfchaft gezogen noch beunruhigt werden darf; die acht Fürften, 
Grafen und Herrn der Augsburgifchen Konfeffion bleiben im Beſitz des Bru- 
derhofs und der innerhalb der Stadt gelegenen Stift&häufer und genießen 
fünfzehn Jahre lang die Hälfte ded Dorfes Lampertheim, fowie aller Renten 
und Revenüen ded Kapiteld innerhalb des Gebieted der Stadt Straßburg.*) 

Verner wurden die Abmahungen Johann Georg's mit dem Magiftrate, 
den Bollfeller betreffend, aufrecht erhalten; der Senat ſeinerſeits aber leiſtete 
auf dad Bündnig, welches zwiſchen Johann Georg von Brandenburg, den 
Herren der Augsburgifchen Konfeffion und der Stadt Straßburg beftanden 
hatte, Verzicht und erkannte Karl ala einzigen Bifchof an. 

Natürlih nahm Johann Georg darauf Bedaht, fi für die materiellen 


) Archiv, Argent. 


24 


Berlufte, die der undanfbare Kampf um die Aufrechterhaltung feiner bifchöf- 
lihen Würde verurfadht hatte, genügend zu entſchädigen. Thuanus läßt in 
feinen Berichten Herrn v. Thou, der fih um die friedliche Löſung verdient 
machte, hierüber folgendes fagen*: Der Marquid v. Brandenburg trat das 
Bisthum Straßburg an den Kardinal Karl v. Lothringen unter der Be— 
dingung ab, daß der Kardinal ihm 130,000 Thaler Gold zahlte und daß 
der Herzog v. Mürtemberg dreißig Jahre lang die Stadt und dad Amt 
Dberfich in Sequefter halten follte, um die Schulden ded Marquis v. Bran- 
denburg abzutragen, die fih auf 30,000 Thaler Gold beliefen, und ihm 
ferner jährlich (d. H. während der fünfzehn Jahre) 9000 Thaler Gold zu 
übermeifen. 

So lieg fi alfo der Kardinal von Lothringen bereit finden, bedeutende 
Abtretungen von Kirhengütern zu vollziehen und ungeheure Geldopfer zu 
bringen, um den Eatholifhen Glauben im Elſaß zu retten. 

An einem unbedeutenden Hinderniß, wie fo oft, mußten ſich auch bier 
die Schwingen einer freieren Geiftesbewegung brechen. 

Man begreift die eminente Wichtigkeit, die e8 für die Fortentmwidelung 
der protejtantifchen Sache im ſüdweſtlichen Deutfchland gehabt haben würde, 
wenn mährend der ſehr bald darauf außsbrechenden Wirren des dreißigjährigen 
Kriegs in Straßburg ftatt des Kardinald von Lothringen ein proteftantifcher 
Biſchof aus dem Haufe Hohenzollern refidirt hätte, 

Vielleicht würde ſich dann in der Folgezeit in die Blätter der deutjchen 
Geſchichte nie jener ſchimpfliche Hiftorifche Irrthum eingefchlichen haben, deſſen 
Korreftur die Creigniffe des Jahres 1870 möglich und nothwendig machten. 

Guftav Krauſe. 


Felix Mendelsfohn-Hartholdys Werke. 


Welch ein köſtliches Vermächtniß ift ed, das uns der leider fo früh ab» 
berufene Meifter hinterlaffen, welch eine Fülle der herrlichften Geftaltungen 
auf den verjchiedenartigften Gebieten mufifalifcher Schöpfung, welche Mannig- 
faltigfeit, welcher Reichthum wiederum in den einzelnen Gebilden gleicher 
Gattung. Ale tragen fie dad Gepräge vollendeter Meifterfchaft, in allen 
jehen wir das Streben nad dem Sdealen. Ueberall weiß Mendelsfohn mit 
klarem Blicke feine Kunftaufgabe zu erfennen, und mit der ficheriten Be- 


— nn nn 








*) Laguille, Histoire de la Province d’Alsace, 2 vol. — Strasbourg, 1727. 


25 


berrfhung der Mittel, mit Adel und Feinheit im Ausdrude zu Iöjen. Nur 
ein Theil diefer ftattlichen Reihe Mendelsfohn'icher Compofitionen ift bei des 
Meifterd Lebzeiten durch ihn felbft veröffentlicht worden; es find dies die 
unter den Opuszahlen 1 bie mit 72 erfchienenen Werfe. Cine große Anzahl, 
darunter die herrliche Muſik zu Racine's Athalie, die Duverture zu Ruy Blas, 
die vierte Symphonie, dag Finale aus der unvollendeten Oper Roreley, die 
Gonzertarie, der 98. Pfalm, und viele umfängliche und hochbedeutende Werke 
Mendelsſohn's kamen erjt nad feinem Tode zum Druck. Alle dieſe Werke 
eriftiren nun in verfchiedenen mehr oder weniger zuverläffigen und forreften 
Ausgaben, welche ſowohl in Deutichland, ald aud in andern Ländern von 
verſchiedenen Verlegern dem Publikum übergeben worden find. Die Verlags: 
handlung von Breitfopf & Härtel bat nun zuerst ed unternommen eine 
Geſammtausgabe der Mendelsſohn'ſchen Werke herzuftellen. Zu dieſem Zwecke 
haben fi) die Befiter de3 genannten Hauſes mit denjenigen Herren Verlegern, 
melde Eigenthumsrechte auf Menvelsfohn'ihe Compoſitionen befisen, ing 
Einvernehmen gefest, und weder Mühe noch Kojten gefcheut, das Recht zum 
AUbdrud der betreffenden Werke in der neuen Gefammtausgabe zu erhalten. 
In Hinfiht auf den ſchönen Zweck haben nun auch die Herren Breitfopf 
& Härtel faſt allenthalben ein bereitwilliges Entgegenkommen gefunden, 
und ift es ihnen faft allerorten gelungen die bezüglichen Rechte an fich zu 
bringen. Sollten der eine oder andere der Herren Verleger, mit welchen zur 
Zeit no Unterhandlungen ſchweben, nicht zu beftimmen fein, die Genehmigung 
zum Abdruck zu ertheilen, fo ift ed den Herien Breitfopf & Härtel ein 
Leichtes, die wenigen noch fehlenden Werke ſpäteſtens im Jahre 1878 nachzu— 
liefern, da Ende des Jahre 1877 die Eigenthumsrechte der einzelnen Ver— 
leger erlöjchen. 


Es handelt fi jedoch in der neuen Mendeldfohn - Ausgabe nicht blog 
um den Abdrud aller Werke des Meifterd, nicht blos um das Erfcheinen 
fämmtlicher Compofitionen in gleicher Ausſtattung. Diefe Ausgabe mird 
vielmehr eine fomeit ald möglich vollfommen fehlerfreie und korrekte fein. 
Die Eritifche Nevifion derfelben hat die Verlagshandlung in die Hände des 
Herrn Hoffapellmeifter Dr. Julius Ries gelegt. Wer die Revifiondarbeiten 
kennt, welche Julius Niet bei Gelegenheit der rühmlichit befannten Beethoven- 
und Bach-Ausgaben geliefert, der hat auch genugfam den Fünftlerifchen Fein» 
finn, die ſtrupulöſe Gemifjenbaftigfeit, die minutiöfe Sorgfalt kennen gelernt, 
welche Ries bei derartigen Arbeiten mit der größten Hingebung und Aus: 
dauer an den Tag legt. Wer nur jemals eined der unter der Nedaktion von 
Ried herausgegebenen größeren Werke von Beethoven oder Bah zur Hand 


genommen, aufmerfjam ftudirt und mit früheren Ausgaben — hat, der 
Grenzboten IV. 1874, 


26 


wird auch mir Neichtigkeit die mwefentliche Bedeutung der dadurh zu Tage 
geförderten Eritifchen Refultate erfennen, zu würdigen, und zu ſchätzen wiſſen. 

Gegenüber den Werfen Mendelsſohn's fällt bier noch ein befonderer 
Umftand ind Gewicht. Ein großer Theil diefer mufifalifhen Schöpfungen 
ift fozufagen unter den Augen feined bewährten, langjährigen, treuen Freundes 
und Kunftgenofien Ries entitanden, und ſchwerlich wird irgend ein Anderer 
ala Nies, Mendelsſohn's Werfe früher, ſchwerlich ein Anderer fie genauer und 
bis in die geheimften Intentionen des Autors eingehender gekannt haben, als 
eben Rietz. 

Wir haben Gelegenheit gehabt, einen Einblik in die bereit3 weit vor- 
geſchrittene Nevifionsarbeit thun zu dürfen, und haben und überzeugt, daß 
es fi dabei nicht blos um die Berichtigung falfcher Noten, vergeffener Ver: 
ſetzungszeichen und ungenügender Vortragsnüancen handelt. Es ift außer 
tiefen Dingen Mancherlei anderd, Bieled befjer geworden. Theilweiſe fand 
fih neues Material für die Nevifion, z. B. erfte Abjchriften der Streich 
quartette Op. 12, 13, 44 u. a., theild aber aud find dur Vergleichung der 
Stimmen mit den Bartituren bei Orcheſter- und Chormerfen, bet Vergleihung 
der untergelegten Terte bei Liedern und anderen VBocalcompofitionen mit den 
Driginalterten eine Menge von Irrthümern bereinigt worden. In der neuen 
Gefammtaudgabe wird überall in den Partituren die größte Genauigfeit bei 
der Angabe der Vortragdzeichen und Stricharten vorhanden fein, ebenfo fehr 
aber au in allen Dingen die vollkommenſte Uebereinftimmung der Stimmen 
mit der Partitur. Die Partituren felbjt werden möglichft überfichtlich her— 
geftelt. In allen Werken find die Vorſchläge und vielfach auch die Mordente 
ihrem rythmiſchen Werthe nach angegeben. Bei den Klavierfompofitionen ift 
mit größter Sorgfalt darauf geachtet, dag meijt alle dag, was die linke Hand 
zu fpielen hat, auf dem unteren Linienſyſteme ſteht, mwodurd der Weberblid 
bedeutend erleichtert wird, und dem Spieler jeder Zweifel über die zmed- 
mäßigſte Art und Weife der Ausführung benommen ift. Bei den mit Orcheiter 
begleiteten Werfen für Clavier wird außer den Zuttid, auch foweit e8 zum 
Verftändniffe nothwendig, das MWefentlihe der Begleitung in der Prinzipal- 
ftimme mit Eleinen Noten beigefügt fein. 

Die äußere Ausftattung, wie auch der Preid der neuen Mendelsfohn- 
Ausgabe follen denen der gleihfald bei Breitlopf & Härtel erjchienenen 
Beethoven-Ausgabe gleichgeftellt werden. Bartituren, Stimmen und Klavier- 
auszüge werden ebenjowohl im Ganzen, ald auch gejondert abgegeben. Die 
ſchnell aufeinanderfolgenden Kieferungen der einzelnen 19 Serien, in welde 
jämmtlihe Werke eingereiht find, werden abmechjelnd Werke verſchiedener 
Gattungen bringen, um den verfchiedenartigen mufifalifchen Intereſſen und 
Bedürfnifien möglichft gleichzeitig Genüge zu leiften. Pianofortewerke und 


27 


Lieder eröffnen die Reihenfolge. Auf die einzelnen Lieferungen kann aud) 
beliebig fubferibirt werden. 

Wir begrüßen diefed neue Unternehmen der Verlagdhandlung Breitkopf 
& Härtel mit Freuden. Die Mendelsfohn - Ausgabe wird der gefammten 
mufifalifhen Welt hochwillkommen fein, und fi in ihrer unzmeifelhaften 
Aut hentieität, durch ihre foltve und elegante Ausftattung, fchließlich noch durch 
den fehr billig gehaltenen Preid von 30 Marfpfennigen für den Bogen groß 
Mufikformat allerorten den günftigften Eingang verfchaffen und überall Freunde 
erwerben. ©. Sadaffohn. 


Fin gemaßregelter Preußenfendiler. 


Ich will Ihnen eine Gefchichte aus Böhmen erzählen, die harakteriftifch 
für unfere Zuftände ift, und nicht verfehlen wird in weiteren Kreifen Aufjehen 
zu erregen. 

Im Süden ded Landes liegt an der Moldau das Städtchen Budweis, 
eine deutfche Sprachinſel inmitten des tfchechifchen Gebietes, die fih, obmohl 
in höchſt ungünftigen Verhältntffen, tapfer gegen eine hereinbrechende Tſchechi— 
firung mehrte. Bis heute ift die Mehrheit der Bürger deutfch und manifeftirt 
diefed Deutſchthum aud dur die Wahl eines verfafjungsfreundlichen Candi— 
daten. Aber Budmeis ift ein fehr gefährdeter Außenpoften unferer Nationalität 
und birgt in feinen Mauern einen der fchlimmiten, audgefprochenften Feinde 
derjelben, den Biſchof Valerian Jirſik, der ein tichechticher Heißſporn vom 
reinften Waſſer ift und ed audgefprochen hat, daß Budweis wieder tfchechifch 
werden müfle. Die Leitung der geiftlichen Bildungsanftalt in Budweis ift 
von ihm durchweg Tfchechen anvertraut worden, in deutfche Dörfer werden 
tihechifche Geiftliche geſchickt, welche oft nicht richtig deutfch fprechen, doch 
das fchadet nicht? — wenn fie nur tfchechifiren. Lange wird es nicht dauern 
und die Budweiſer Diözefe ift ganz von tichehifchen Geiftlichen eingenommen, 
die deutfchen werden feltener und feltener. Dazu fommt, dag in der Nähe 
die Eolofjalen Güter des Fürften Schwarzenberg liegen, eines Haupttjchechen 
und Ultramontanen — troß feiner deutfchen Abftammung ; auch er läßt fi 
die Vertretung des Tſchechenthums eifrig angelegen fein und ftellt faft nur 
Tihechen in feinem großen Beamtenheere an. Gewiß, dad Deutſchthum in 
Budweis und im. füdmeftlichen Böhmen überhaupt ift gefährdet. 

Daß ein ftrammer deutfher Mann von liberaler Gefinnung an einem 


28 


ſolchen Orte nicht gerade auf Roſen gebettet tft, liegt wohl auf der Hand. 
Sein Leben ift ein emiged Ringen und Kämpfen; bei den eigenen Leuten hat 
er es oft mit Lauheit und Philifterhaftigkeit zu thun und von den Gegnern 
darf er fiher fein, daß er auf Schritt und Tritt, Tag und Naht mit allen 
Maffen, rechten und fchlechten, befämpft wird. Das hat Dr. Julius Lippert 
meidlich erfahren, er der treu und feit die deutfche Wacht an der Moldau ges 
halten hat und von je den Tichechen ein Dorn im Auge war. Welche Freude 
für die Tchechen und Ultramontanen, wenn ein folher Mann von feinem 
Poſten in Budweis entfernt wird, den er fo lange mit Ehren gehalten, den 
er um ded Deutſchthums willen mit zäher Energie vertheidigte. 

Julius Lippert ift Hiftorifer und Schulmann. Er ift hoch verdient um 
den Verein für die Gefchichte der Deutjchen in Böhmen, dem er vom Anfange 
an angehörte und deffen reiche „Mittheilungen“ viele vorzügliche, oft mit Föft- 
lihem Humor gewürzte Aufjäge aus Lippert's Feder brachten. Er fchrieb eine 
„Geſchichte der Föniglichen Leibgedingftadt Trautenau“ und eine umfangreiche 
„Geſchichte der Stadt Leitmeritz“. Als der „Vater“ der tichechifchen Nation, 
Franz Palacky, feine befannten rohen Angriffe gegen die Deutihböhmen und 
die deutfchen Hiftorifer machte, ald er ſchamlos genug war, und Deutjche ein 
„Räubervolf“ zu tituliren, da war e8 Qippert, der vereint mit feinem Freunde 
Ludwig Schlefinger die Palacky'ſchen Angriffe „würdigte“ und in einer vor- 
trefflihen Schrift den tſchechiſchen Hiftoriographen gründlich „abführte”. Um 
die Maflen in Fluß zu bringen, fie im deutfchnationalen und liberalen Sinne 
zu bearbeiten, übernahm Lippert aud die Nedaction des deutfhböhmifchen 
Volkskalenders, der alljährlich in großer Auflage über das Land verbreitet 
wird und Ultramontanen mie Tſchechen ein Dorn im Auge if. Was brauchen 
auch böhmifche Bauern von Hutten, von den Reformatoren, von den großen 
Geiſtern Deutſchlands, vom deutichen Reiche überhaupt zu wiſſen! Lippert 
war eben von der „MPreußenfeuche” angeftedt, er bejubelte die Siege der 
deutfhen Waffen, freute fich der Errichtung eines deutfchen Reiches, das die 
Ultramontanen befämpfte und den Handſchuh aufhob, welchen Rom in frechem 
Uebermuthe ihm hingeworfen. Hier kann fo etwas aber Verbrechen fein. 

Nun die Gefhichte. Lippert war Direktor der Budweiſer Oberrealfchule 
und er hat fie, wie Sachverſtändige erklären, ald ausgezeichneter Schulmann 
geführt und zur Blüthe gebracht. Aber was nützt das, wenn die übrige Ge- 
finnung nicht den herrſchenden Anfichten entjpricht und wenn ein Schulmann 
fih erfühnt, dem Minifterium Vorwürfe zu machen, e8 gar zu Eritifiren. Sie 
fennen unfern Stremayer, den famofen Gultugminifter, der die Altkatholifen 
nicht anerfennt, da® Stehaufmänndhen, das heute liberal, morgen ultramontan 
ſchielt, diefen Teibhaftigen Beleg zu dem Ausſpruche: „Waſch mir den Pelz. 
mad ihn aber nicht naß.“ Nun, Rippert, der unentwegte Mann, der aus 


Bj 
- 


29 


feinem Herzen feine Mördergrube macht, hatte es gewagt in der Miener 
„Deutfchen Zeitung“ zwei Artikel über Stremayer zu bringen, welche die 
ganze armfelige Spiegelfechteret bei der Durchführung der konfeſſtonellen Ge— 
feße an den Tag legten. So etmad verträgt man oben nit. Dazu Fam, 
dag der Mann den Philiſtern zu liberal war und als er fih nun gar meigerte 
feine Kinder in der alleinfeltgmachenden Religton unterrichten zu laffen, da er- 
ihöpfte man fich in Anfeindungen gegen ihn ob feiner „ftaate- und religiong- 
feindlichen Gefinnungen“. Sa, ein Baterlandöverräther follte er fein — weil 
er ein preußiſches Lehrbuch eingeführt. Hinc illae lacrymae. Da 
famen denn die Dieciplinarunterfuchungen, die aber in Nichts zerfielen, denn 
dem Direktor und feinem Lehrkörper, die die Schule meifterhaft im Stande 
hatten, war nicht8 anzuhaben. Man mußte alfo, um den Mann los zu 
werden, die Sache anderd anfangen. Der Staat übernahm die Budweiſer 
Dberrealfchule, doch mit Ausſchluß der Lehrkräfte, troßdem diefe allen geſetz— 
lihen Anforderungen entiprachen und die Gemeinde wurde dem Lehrkörper 
gegenüber geradezu fontraftbrühig, erklärte vom Tage der Uebernahme an 
feinen Gehalt mehr audzuzahlen und der Staat ftellte die Lehrer zur Diepo- 
nibilität. Für die übrigen werden fi wohl zur Zeit Stellen finden, aber 
für Lippert ift natürlich Fein Platz offen, troß feiner brillanten Staatderamina, 
feiner eminenten zehnjährigen Verwendung, feiner außerordentlichen Verdienfte 
um das Deutfhthum. Der „Breußenfeudhler* mußte fallen als ein 
Opfer des Minifteriums und der Philifter. In Defterreich ift feines Bleibens 
nicht mehr und feine vielen Freunde fuchen dem hartgeprüften Mann den 
Uebergang ind Deutjche Reich zu erleichtern. Möge er dort eine Stelle finden ! 
Um empfindlichften aber wird Böhmend Deutihthum dur ſolche Bor- 
gänge gefchädigt, wenn von der ohnehin geringen Zahl der tüchtigeren Leute 
einer aus den Reihen genommen wird, von einem Poſten, der geradezu in 
nationaler Beziehung gefährdet iſt. @. 


Ztalieniſche Briefe. 


Man hat viele Vücher über Stalien gefchrieben, in manchen hundert 
Liedern hat man es befungen; aber faft durchgängig geben die Bücher, welche 
es befchreiben, und die Lieder, welche e8 in den Himmel erheben, Stalien nur 
oberflählih und einfeitig wieder. Wenige Schriftfteller haben Italien gründ- 
lich ftudirt; und vielleicht niemand, der über das moderne Stalien geſprochen 


30 


bat, vermochte fi von feinen Vorurtheilen für deffen Vergangenheit frei zu 
machen, und von feinen politifhen Sympathien und Antipathien, welche deſſen 
gegenmärtige Zuftände ihm einflößen. Man pflegt, indem man über Italien 
Spricht, nicht über Gemeinpläße hinauszjufommen. Entweder wird ed bemun- 
dert, oder e8 wird verachtet; aber wenig Schriftfteller, Italiener ebenſowohl 
wie Ausländer, können fih rühmen, es wirklich zu fennen, und vermögen 
folglich au nicht, ihre Beobachtungen dur eine genügende Menge ermie- 
jener Thatſachen zu begründen, um wirklich belehrend und verläßlich über das— 
felbe zu fchreiben. Die Einen werden von ihrer Begeifterung hingeriſſen, 
die Andern blendet ihre Raffion für Allee, mas ihnen fremdärtig entgegen» 
tritt. Andere wieder durchreifen unfer Land mit irgend einem fpeciellen 
Zwecke, und fümmern fih um nichtd, mad nicht in deſſen Sphäre Itegt. So 
fommen die Gefchäftsreifenden, die Induſtriellen, die Philologen, die Archäo— 
logen, die Künftler, in einem Worte alle die Specialiften, deren jeder unfer 
Rand in der Meite und Breite auf der Suche nad einem andern etwa ver- 
fteeftem goldnen Vließe durchforſcht; aber wenig Reifende, italienifche und 
fremde, fieht man, welche Stalien in feinem ihm eigenthümlichen, realen und 
habituellen Reben zu erfunden fuchten. Für die Fremden hat ed ja im Grunde 
feine verdrießlichen Confequenzen, wenn fie und nicht Fennen, wie mir wirk— 
lih find. Aber für und Staliener ift die Unfenntniß unferer felbft eine 
ſchwerwiegende Unzuträglichkeit. 

Bor einiger Zeit veröffentlichte ein ſchätzenswerther Schriftfteller, der 
Advocat Carlo Rozzt zwei Bände „L’ozio in Italia“ betitelt. Er unter- 
nahm in diefem Werke und nachzuweiſen, mie viel Nachläſſigkeit noch in Ita— 
lien vorhanden fei, und mie großen Schaden und diefe zufüge. Die Liebe 
zum Guten hat Lozzi manchen beredten Paſſus eingegeben, und dad Bud 
hat dur die vielen gefunden Bemerkungen, welche durch dadfelbe zerftreut 
find, gewiß feinen Nuten. Aber im Allgemeinen hat das Merf Lozzi's doch 
eine zu beſchränkte Anzahl neuer Thatfachen beigebraht, als daß es den ge 
bildeten Staliener über Unbekannte® und Unvermuthete® hätte aufklären 
fönnen. Er gab und in der Hauptjache ein moralifhes Buch, aber es be 
durfte eined anderen Buched, um und zur Kenntniß unferer Rebendeigenthüm- 
Iichfeiten zu bringen. Es giebt zahlreiche Führer durch unfere Städte und 
Monumente, aber es giebt Feine folchen, melde den Weg zu unferm häus— 
liben Herd, in unfre Arbeitäftätten, unfre Bauernhöfe, kurz, in die reale 
Melt des Italieners zeigt, in der fich fein actuelled, materielles, moralifches 
und intellectuelles Reben bethätigt. Zwar ift es ſchwer, ein ſolches Buch zu 
ſchreiben. Es würde Zeit dazu gehören, und dad Zuſammenwirken Bieler. 
Über man kann den Anfang dazu machen, dadurch, dag man die Materia- 
lien dazu zufammenjchichtet und fie zmedentfprechend zu ordnen ſucht. Und 


31 


ein Werk, welches vortrefflich diefem Zwecke zu dienen vermag, kann ich zu 
meiner Freude heute anfündigen. Es ift died ein vierbändized Werk, von im 
Ganzen 1500 Seiten, welches joeben in Meiland erfchienen ift, und folgen- 
den Titel führt: Delle colonie e dell’! emigrazione d’ italiani 
all’ estero sotto l’ aspetto dell’ industria, commercio ed 
agricoltura (Preis 24 Fes.) Der Verfaffer ift ein verdienftvoller National- 
öfonom, Herr Leone Carpi, ehemald Parlamentömitglied. 

Die italienifche nationalöfonomifche Gefelfchaft, präfidirt durch den hoch— 
verehrten Senator Grafen Giovanni Arriva, und unter der Gönnerſchaft des 
Minifteriums für öffentlichen Unterricht, welches augenblidlih durh Ceſare 
Gorrenti verwaltet wird, hatte ein Preisausſchreiben erlaffen bezüglich einer 
Studie über die italtenifchen Golonien. Das Programm war folgendermaßen 
geſtellt: 

„Ueber die Bildung ſpontaner Colonien von Italienern im Auslande, 
über ihre öfonomifchen und juridifchen Zuftände und ihr BVerhältnig zum 
Mutterlande. Seit langer Zeit und jegt in zunehmender Menge verlaffen 
viele Staliener ihr Heimathland, begeben ſich in verfchiedene fremde Länder, 
hauptſächlich in den Orient und vereinigen ſich dort, indem fie fich eine 
beſſere SLebenäftellung zu gründen ſuchen. Diefe Thatfahe wünſcht die 
nationalöfonomifhe Geſellſchaft mit Sorgfalt unterfuht zu fehen. Site läßt 
den Goncurrenten vollftändig freie Hand in der Art, wie fie ihre Studien 
machen wollen, und macht fie nur verbindlich, befondere Aufmerkſamkeit zu 
verwenden auf 1) die Emigration aus Stalien und ihre ökonomischen Rüd- 
wirfungen, ald Einleitung. 2) die Gefchichte der Colonien, ſoweit fie ſich ver- 
folgen läßt; ihre Statiftif, fpectell in wirthfchaftlicher Beziehung ; die Gebräuche 
welche die Individuen jener Colonien unter einander und mit dem Mutterland 
gemeinfam erhalten. 3) Ob und in melcher Weife die italtenifche Regierung 
müſſe oder könne durch geiegliche und diplomatifhe Mittel zum Schuge der 
Kolonien Vorkehrungen treffen, und auf ihre Wohlfahrt ſowie auf die Ent- 
wicklung ihrer Beziehungen zu Stalten Einfluß üben.“ 

Es war, wie jeder Leſer fehen wird, eine bedeutende Aufgabe, Carpi hat 
fich nicht nur ihr mit Ernst unterzogen, fondern mehr als dad, er hat ein 
Werk geichaffen, welches meit mehr leiftet, ald die geftellten Anforderungen 
verlangten, ein Werk, melched eine Aufgabe für‘ eine ganze Gefellihaft ge- 
wejen wäre. 

Die Commiſſion, welche dag Werk Carpf's zu prüfen hatte, beftand aus 
drei berühmten Nationalöfonomen: den Herren Minghetti, Scialoia und 
Mefjedaglia, denen Herr Protonotari ald Seceretär zugefellt war, und das 
Buch fand vor diefem fehr competenten Schiedsgericht die befte Aufnahme. 
Indem die Commiſſion dem Buche den Preis ertheilte, Tieß fie fich folgender: 


82 


maffen vernehmen: „Das Buch ift zu bewundern megen der Sorgfalt, mit 
welcher der Stoff gefammelt tft; wegen der geſchickten Vergleihungen, wegen 
der noblen Intentionen. Es ift die erfte Studie, welche in Stalien über 
tiefen Gegenftand gemacht wurde.“ „Die Commilfion, welche fih aus frei- 
händlerifchen Volkswirthen zufammenfest, verwahrt ſich nur gegen die jchuß- 
zölnerifchen Theorien, die Herr Carpi befürmortet. Die Commiffion hatte fich 
allerdings auf ein Memoire gefaßt gemacht, Herr Carpi hat ihr dagegen ein 
vierbändige® Werk vorgelegt, und niemand Fönnte ihm in demjelben irgend 
welche Längen vormwerfen, denn fie enthalten nur Sachgemäßes, wichtige 
Notizen und Zahlen. Aber welche harte Arbeit muß es für den Autor ge 
wejen fein, fie zufammen zu bringen. Es galt faft durchweg eine terra in- 
cognita zu erploriren. Woher die Materialien nehmen, aus melden Hilfe- 
quellen [höpfen? Die Schwierigkeiten de Unternehmen® mußten unüberfteigbar 
erfcheinen. Und fo war aud Herr Garpi der einzige Concurrent. ber es 
gehörte au ein Mann mie er dazu, energifh, thätig, geduldig und aus— 
dauernd, und vor Allem intelligent. Ale diefe Eigenfchaften befist der Ver— 
faſſer des Werkes in bemwunderungdmwürdigem Grade. Und nachdem er 
einmal an dad Werk gegangen war, hat er fich nicht begnügt, die geitellten 
Fragen zu löfen, fondern meinte, die Gelegenheit jei günftig, ſich auch zu 
gleicher Zeit an dad Studium des Criminalrehtd und der Deportation zu 
machen (der ganze 3. Band ift diefer Frage gewidmet) und fi genaue 
Kenntniß der materiellen und moraliſchen Zuftände der verfchiedenen italieni- 
hen Provinzen zu verfehaffen, um daraus die verfchiedenen Gründe der Aus— 
wanderung verftehen zu können. In den lesten Jahren war man im 
Miniftertum ded Innern mit doppeltem Eifer bemüht gewefen, von den Prä- 
feeten Auffchlüffe über die Zuftände der Provinzen zu erhalten, und im Mis 
nifterium des Aeußeren, die Confuln zu veranlaffen, genaue Berichte über die 
Verhältniſſe der Colonien einzufenden. Es find vortreffliche Berichterftattungen 
geliefert worden, und wir verdanken fie der Initiative der Minifter; die Seele 
ded Unternehmend war jedoch Carpi und man Fann fagen, daß er der Ur 
beber der fo großen Nuten bringenden Regjamkeit war, welche in den letzten 
Fahren unfere Präfecturen und Gonfulate durhdrang. Er hat den beiden 
Miniftern verfchiedene Fragebogen vorgelegt, wie fie für feine Arbeit geeignet 
waren; und wenn jest Documente vorhanden find, aus melden fich die 
Zuftände unferer Colonien ftudiren laffen, und wenn Garpi fie fo vortrefflich 
verwerthen konnte, fo verdankt er diefen WVortheil nur fih felbft, und dem 
Entgegentommen der Minifter. Die Berichte der Präfecten geben und werth— 
volle Auskunft über die relative Moralität, die Phyſiognomie und den Cha» 
racter der verſchiedenen italienifchen Provinzen. Wenn man diefe Documente 
vervolljtändigte und mehr ind Einzelne ausführte, könnte man eined Tags 


einen fehr interefjanten Führer durch das lebende Stalien ſchreiben. Es ift 
Garpt bet feinen Studien über die Auswanderungen vielleiht nicht aufge- 
ftoßen, mie wett fi) jene Documente hätten ausnützen laffen, fonft hätte er 
fie nicht in einem Buche vergraben, welches doch zunächſt einem ganz anderen 
Zmede dient, fondern für ein populäred und gewiß einem größeren Publikum 
nügliched Werk referuirt, wenn auch das „gegenwärtige Werf einer großen 
Anzahl von Emigranten werthvoll fein wird. Denn die italienifhe Aus— 
mwanderung nimmt, wie Carpi nachmeift, beunrubigende Dimenfionen an, 
einzig die deutfche Auswanderung liege fich in der Anzahl mit ihr vergleichen ; 
aber während die deutjche wohl geregelt und nusbringend jet, unterläge die 
unfere nur zufälliger Yaune und Gaprice, und ſei nur zu oft fehädlich. 

Um Schluß feines Werkes jagt der Verfaſſer, daß er die Machteinwirfung 
Deutſchlands auf unfern Seehandel und unfere Colonien nicht fürchte. Ich 
citire hier feine eigenen Worte: „Jene Gründe, melde dem Berftändigen 
nicht entgehen werden, die geographifche Lage und die gemeinfchaftlichen po— 
litifchen und commerziellen Intereſſen, machen ein freundfchaftliches Verhältnig 
zwiſchen Deutfchland und Stalien zur Nothwendigkeit, und, da die Intereſſen 
der beiden Länder fich in feiner Meife miderftreben, ift e8 naturgemäß, daß 
fie eine folide Freundschaft verbindet, die Feiner gejchriebenen Tractate und 
Erklärungen bedarf, um aufrichtig und dauernd zu fein. Die unparteiifche 
und zugleich platonifche Freundfchaft der Schmeiz liegt mie ein ſympathiſches 
Bindeglied zmifchen Deutfchland und Stalien. Sch lege weder den vagen 
Gelüſten einiger Deutfchen noch den politifchen Elucubrationen einiger Journa— 
liften diejes Landes Gewicht bei, welche fich mit den Rechten befchäftigen, welche 
die Deutfchen auf die Stalten umgebenden Meere befigen follen. Das find ab- 
geblaßte Reminiscenzen aus der Zeit des alten deutfchen Kaiſerreichs, welche 
felbft in feiner größten Epoche nicht wirflih Wurzel zu faflen vermochte, in 
Stalien, diefem Rande, welches für jede Fremdherrfchaft fatal wurde. Die klugen 
Söhne Herman’d werden fih hüten, diefen Erinnerungen neues Reben geben zu 
wollen. Deutfhland hat zahlreihe und ergiebige Hülfdquellen in dem bal- 
tifchen Meere. Bon dort aud macht ed feine Unternehmungen und breitet 
feinen Handel über alle Meere der Welt aus. Dur feine Schtenenwege ift 
ed mit dem ſchwarzen Meere verbunden und bald werden diefe ed in Rapport 
fegen mit dem Ural einerfeitd? und Conftantinopel andererfeitd; es hat eine 
blühende Schifffahrt auf feinen Flüffen, die bald noch bedeutender werden 
wird dur die Verbindung der Wefer und Elbe mit dem Rhein. Alfo bleibt 
wenig, um mad es Italien beneiden fünnte. Es ift gewiß, daß es mit dem 
ganzen Gewicht einer mächtigen und induftriellen Nation fi in unfere Alpen 
drängt, um fich unferen Meeren zu nähern, jedoch nicht um diefe zu annec- 


tiren, fondern nur um der gewaltigen Thätigfeit feine® Handels as feiner 
Greniboten IV. 1874, 


34 


Anduftrie einen Ausflug nach dem Oſten zu eröffnen. Das fann keinen Grund 
zu einer Gollifion geben; vielmehr würde ed dem Einklang der beiden Nationen 
dienen, wenn Stalien, um diefem Handel Borfhub zu leiften, mit derfelben 
Thätigfeit entgegenfäme und in jenen unendlichen Meeren, die fich jenſeits 
des Kanal von Suez erftreden, zum Cap, zum Feuerlande, auf denen Deutſch— 
land die Rivalin Englands, der vereinigten Staaten und Franfreih® gewor— 
den ift, auf viele Luſtren hinaus wird ihm die italienifhe Flagge Feinen 
Schaden verurfadhen Fönnen. Und menn auch Stalten zur See alle die Macht 
gemönne, die ich ihm münfche, fo ift doch das Meer fo weit und feine Straßen 
jo audeinandergehend, dak es Raum für alle hat, und Deutfchland wird 
wohl nie Concurrenz oder Schädigung feiner eigenen Intereſſen von Stalien 
zu gemwärtigen haben. Bielmehr glaube ih, daß Italien in jenen fernen 
und gewaltigen Meeren eine nüsliche Bundesgenoffin für Deutfchland fein 
wird“. Angelo de Gubernatiß. 


Das Seben Eavour’s von Maflari in deutfher Sprache. 


Sin den erjten Heften dieſes Jahrgangs“) haben die Grenzboten das 
Leben und Wirken Camillo Cavour's behandelt. Die letzte Arbeit eines der 
treueften deutfchen Patrioten, — Ludwig von Rochau's, — der zuerft unter 
den Riberalen in feiner „Realpolitif* den heute allgemein anerkannten deut: 
ihen Staatögedanfen ausſprach, war dem Gründer der italienifchen Einheit 
gewidmet. Ste ift leider unvollendet geblieben, mie die Lebensarbeit Cavour's 
jelbft. Rochau's Arbeit reichte, wie die Leſer d. Bl. fich erinnern werden, 
nur bis zur Schlaht von Magenta. 

Veberhaupt haben die hervorragenditen Bubliciften Deutſchlands ſich in 
den legten Jahren mit Cavour ganz bejonderd eingehend und gern be 
Ihäftigt. Längft bevor Deutfchland und Italien das Ziel ihrer Einheits- 
beftrebungen erreichten, ftudirten die nationalen Patrioten und Hiftorifer 
diefjeitö und jenfeitö der Alpen den Werdegang des befreundeten fympathifchen 
Staated. Nun, da die beiden Länder geeint und mächtig daftehen, und ſich 
zu Schuß und Trug die ftarfe Hand reichen, bildet wieder dieſſeits und jenſeits 
der Alpen das Studium der öffentlichen Charaktere beider Länder, ihres 
Lebens, ihrer Politik den Gegenftand der Lieblingsbeſchäftigung aller vor« 
nehmen politifch » regfamen Geiſter. Das nothwendige Bündniß, die un- 


*) Grenzboten, Nr. 4 und 5 I. Quartal 1974. ©. 


35 


erſchütterliche Intereſſengemeinſchaft beider Staaten fpriht fi in diefem 
freiwilligen lebendigen Streben, ſich gegenfeitig in feinen hervorragenden 
Staatdmännern immer beffer fennen zu lernen in der liebensmwürdigiten Weiſe 
aus. Und wer daran z. B. biäher gezmeifelt hat, daß die oftgerühmte 
Freundſchaft Frankreichs und der Franzoſen zu Stalien nur ein offizielles 
Shauftüf, und im Grunde auf franzöfifcher Seite nur von phrafenhaften 
Egoismus beherrſcht fet, der mag an der Hand der franzöfifchen Preffe und 
Literatur der letzten Jahre fich belehren laſſen. Nirgends faft ein fpontanes 
Streben in Franfreih, fi über die Verhältniffe und Männer Jtalien zu 
unterrichten, nirgends die Vorausſetzung gedacht, daß franzöfifche Leſer ſich 
für eine in den Augen des wahren Franzofen fo geringfügige und undanfbare 
Nation intereffiren könnten. 

Die italienifche Sprache mird zur Zeit in Deutfchland noch zu wenig 
getrieben, als daß die legte Stufe diefer befruchtenden gegenfeitigen Erfenntniß 
erreicht gelten Fönnte: daß wir Deutſchen auch allgemein in der Urfprade 
liefen Eönnten, was in talien über Italien und über uns gefchrieben mird. 
Die große Mehrzahl unferer Yandsleute wird in diefer Hinfiht immer auf 
Ueberfegungen angemiefen fein. Deßhalb verdient jeder Verfuh, und durch 
gute deutfche Ueberſetzungen mit guten italienifchen Werfen befannt zu machen, 
welche dem öffentlichen Xeben in beiden Nationen von Wichtigkeit find, 
freundliche Förderung und bereitwillige® Entgegenftommen. Befondere Auf- 
merkſamkeit aber darf die Ueberfegung eines italienifchen Werkes beanſpruchen, 
welches das Neben ded Grafen Cavour aus der Feder eined vertrauten 
Freundes ded großen Staatsmannes in vollendeter Weife fchildert, die Eleinften 
und die größten Züge dieſes Lebend und Charaktere mit dem Tiebevollen 
Detail ausfüllt, das der Freund in nächſter Nähe beobachten konnte, und 
daher und Deutjchen erjt ermöglicht, den Schöpfer der italienifhen Einheit 
ganz fo kennen zu lernen, wie er daheim aufgefaßt wird. Eine folche deutfche 
Ueberfegung der berühmten „biographifchen Erinnerungen“ von Joſeph 
Maffari an Cavour ift in diefen Tagen bei Joh. Ambr. Barth in Leipzig 
erſchienen. Die Ueberfegung ift von Dr. Ernft Bezold mit Geſchick und 
Berftändnig bearbeitet. Prof. Dr. v. Holgendorff hat ein einleitended Vor— 
wort dazu gefchrieben. Beide Männer fprechen ſich über die Abfichten, welche 
fie bei Herausgabe dieſes Werkes verfolgten, in fo intereffanter Weiſe aus, 
daß einige ihrer einführenden Worte bier wohl angeführt zu werden ver- 
dienen. An Gedanken, mie die eben vorgetragenen fih anlehnend, fagt 
Prof. von Holtendorff: „Was mid) beitimmte, eine Webertragung ind 
Deutjhe anzurathen, war in Kürze diefed: Jedes bedeutende Werk, welches 
die neuere Gefchichte Deutfchlande und feiner einheitlichen Wiederherftellung 
behandelt, fcheint mir zu einem Theile für Stalien, jede Geſchichte der italie- 


36 


nifchen Einheit zu einem Theil für Deutſchland gefchrieben zu fein... . Das 
eine ift gewiß, daß die politifche Wiedergeburt Deutfchlands und Italiens in 
der gejchichtlichen Betrachtungsweiſe der fie bedingenden Zeitumftände un- 
trennbar mit einander verwachſen find. Ebenfowenig Fann beftritten werden, 
daß die Namen der beiden in der entjcheidenden Kriſe leitenden Staate- 
männer, Bidmard und Cavour an der Spiße jener perjönlichen Kräfte 
ftehen, welche das weltgejchichtliche Werk vollbringen halfen.“ Holtzendorff 
prüft dann die Möglichkeit, diefe beiden Männer miteinander zu vergleichen, 
„deren Streben im Berhältniß zu ihrem Volke ein fo ähnliches, deren perfün- 
liches Weſen ein fo grundverfchiedenes ift“, und er fommt zu dem Refultate: 
„der zuverläffigite Mapftab ſcheint indeffen immer derjenige zu fein, welcher 
dem lebenden Staatämanne in dem Haffe noch nicht völlig entmuthigter 
Gegner, dem todten Staatemanne in der Dankbarkeit der ihn überlebenden 
Gefhlehhter entgegengehalten wird. Cavour ſtarb gleihfam im Anfang feiner 
Aufgabe, in einem Augenblide, als Alles noch Begeifterung, Zuverfiht und 
jugendlihe Hoffnung war, ald Niemand in Stalien ahnte, daß jeder Sieg 
neue Weindfchaften entftehen ‚läßt, jeder Gewinn, der auf Schlachtfeldern 
errungen wird, durch die Mühfeligfeiten lang andauernder Beiltesarbeit be 
fefttgt werden muß. So glicy fein Tod mehr der Raufbahn eined Jünglings, 
den der Tod im Genuffe der Siegesfreude dahinrafft, ald dem Ende eined 
Mannes, der die volle Hinterlaffenfchaft feiner Lebensaufgabe in deutlichen 
Umriſſen überblidt. Gavour gab feiner Nation ald letztes Vermächtniß ein 
großes Räthſel, deffen Löſung er felbft zu betreiben feine Zeit gefunden 
hatte.* Gelbftverftändlich meint Holgendorff damit den Wahliprudy Cavour's: 
„die freie Kirche im freien Staate.“ Der deutfche Staatsrechtslehrer ift nicht 
zweifelhaft, daß Cavour diefe Formel, diefen Vertragsentwurf bei Seite ge- 
mworfen haben würde, wenn er, im Kampfe auf Leben und Tod mit der rös 
mifchen Hierarchie, „vom Quirinal als Kapitol, der LUnverföhnlichkeit des 
Vaticans ind Antlitz hätte fchauen müſſen“. Holtzendorff rühmt ed als ein 
befondered BVerdienft der Biographie Maſſari's, daß er die Beantwortung 
diefer Frage feinen Leſern überläßt und und den fterbenden Gavour im 
Gewiffendfrieden mit der Kirche zeigt. „Aber hat fich die herrſchende Kirche 
auch mit ihm verföhnt? Kann fie fi) jemald mit einem Staatdmanne ver: 
föhnen, der feine eigenen Wege ging? jeder Staliener hat fi darüber Klar 
zu werden, wie jeder Deutfcher darüber Klar werden mußte... Wenn 
Mafjart’3 verdienftvolles Werk feinen anderen Werth hätte, ald zur Prüfung 
diefer Lebensfrage angeregt zu haben, fo wäre ſchon damit dad von Gavour 
feiner Nation hinterlaſſene Erbe gemehrt worden“. 

Auch der Veberfeger und Herausgeber der deutichen Ausgabe Dr. Ernit 
Bezold in Münden beginnt feine Vorrede mit ähnlichen Gedanken, mie dieje 


r 37 


Zeilen. „Am unvergänglidften”, fagt er, „wird dad Werk Cavour's jelber 
dauern: das Reich Italien. Auch zu diefem Zwecke, zur Erhaltung diejes 
unfhäsbaren Gutes durd die italienifche Nation wird die Gefchichte Cavour's, 
das ſtets lebendige Andenfen an ihn, einen Hebel bilden. Zwar war in diefer 
Richtung ſchon Vieles geleiftet. Nicht der geringfte Beitrag war vom be 
freundeten. Deutfchland geliefert. Es geſchah durch die Eaffiihe Geſchichte 
Sstaliend von Hermann Reuchlin, durh das glänzende Eſſay Treitſchke's. 
Allein eine halbwegs erfchöpfende Selbftbiographie fehlte noch. Die Stadt 
Zurin wendete fi daher an einen vertrauten Freund Cavour's, den unter 
der Bourbonenherrſchaft aus Neapel entflohenen Hiftorifer Joſeph Maffari, 
Gelehrten und Staatsmann zugleih... Er übernahm die beneidendwerthe 
Aufgabe, die Biographie Cavour’d zu fehreiben und alle andern Freunde 
Cavour's metteiferten neidlod, ihm die ihnen zu Gebot ftehenden Notizen 
zu überlafjen. Bor Allem that died auch die von Gavour innig geliebte und 
in feine Lebensſchickſale am tiefften eingeweihte Nichte, Marchefe Alfieri.“ 
So fam ein Werk zu Stande, das im beften Sinne ald eine Selbftbio- 
graphie Cavour's gelten kann. Selbit in der liebevollen Nachgiebigkeit gegen 
den Firchenpolitifchen Standpunkt feines Helden thut der feurige, auf dem 
Standpunft der heutigen politifhen Erfahrung ſtehende Neapolitaner feinen 
Gefühlen und feiner Hiftorifhen Einfiht Zwang an, um Gavour ganz 
gereht zu werden. Das deutjche Gewiſſen des Ueberfegerd dagegen wehrt 
feine abweichende Ueberzeugung durch) einige energifche Noten. Das Werf 
Maſſari's wurde von der italienifchen Nation wie ein Nationaldenfmal begrüßt. 
An demfelben 8. November 1873, an welchem das Denkmal Cavour's in 
Zurin enthüllt wurde, ging dad Werk Maſſari's in wahrhaft monumentaler 
Ausftattung in die Welt. Der deutfche Verleger hat die deutfche Ueberfegung 
mindeftend ſehr freundlich ausgeftattet. Der deutfche Ueberſetzer hat fein beftes 
gethan, ung, felbftverftändlich nicht durch wörtliche Uebertragung, den Inhalt 
des Maſſari'ſchen Werkes fo treu ald möglih, d. h. fo wiederzugeben, als 
ob Mafjari ald Deutfcher zu Deutfchen gefchrieben Hätte Dadurch ift man- 
cher unferm Geſchmacke widerftrebende rhetorifche oder fentimentale Schmud, 
manche Iehrhafte Einfhaltung des Driginal® weggefallen, die Zahl der dor: 
tigen Abſchnitte auf weniger als ein Fünftel verkürzt und überhaupt eine 
wejentlihe Kürzung des Raums erzielt worden. Dagegen hat fidh der Ueber— 
feger angelegen fein laffen, und Deutſchen einen weſentlichen Erſatz zu leiften 
für einen Fehler des Originals, der durch die perfönliche Hingebung Maſſari's 
an Cavour veranlaßt, freilich auch dort durch feine individuelle Auffafjung we- 
niger fühlbar wird. Maſſari hat nämlich fehr wichtige, mit dem Leben und 
Wirken Cavour's gleichzeitige Ereigniffe, jomwie ihre Erklärung und Entmwidelung 
aus der früheren italieniſchen Gefchichte, gänzlich unberührt gelafjen. Der ita- 


38 
v 


lieniſche Lehrer empfindet dieſen Mangel vielleicht nicht in demſelben Grade wie 
der deutſche. Aber ganz wird auch er ihn keinesfalls verſchmerzen. Die 
(deutſche) Bezold'ſche Ausgabe ſorgt nun wenigſtens für das Bedürfniß unſrer 
ſynchroniſtiſch-hiſtoriſchen Orientirung. Es ſollen in kürzeſter Zeit Geſchichts— 
Tabellen über die einſchlagenden Perioden der modernen italieniſchen Geſchichte 
— und der für die Geſchichte der Halbinſel entſcheidenden Ereigniſſe im übri— 
gen Europa — als Anhang zu der bereits abgeſchloſſen vor uns liegenden 
Deutſchen Ausgabe von Maſſari's Werk folgen. Auch die vortreffliche Pho— 
tolithographie Cavour's mit dem (kaum erkennbaren) Faeſimile ſeines Namens— 
zuges, vervollſtändigt unſer Intereſſe an der deutſchen Ausgabe. Das Bild 
Cavour's iſt nach der gelungenſten Photographie gearbeitet, die während des 
Pariſer Congreſſes von ihm genommen wurde. Es iſt der Güte des Grafen 
Greppi zu danken, der, wie überhaupt der ganze überlebende Freundeskreis 
Cavour's einſchließlich Maſſari's (und ſeines Verlegers) durch Rath und That 
das lebhafteſte Intereſſe für das Zuſtandekommen der deutſchen Ausgabe bezeigt 
hat. Das Bild Cavour's, das hier geboten iſt, kann recht eigentlich als Illuſtration 
zu jener bekannten Schilderung gelten, welche Treitſchke von dem Aeußern des 
großen Staatsmannes entwirft. „Man ſah den unterſetzten lebhaften Mann mit 
dem behaglichen Lächeln auf dem breiten Geſichte, wie er ſich in den Seſſel warf, 
beide Hände in den Hoſentaſchen, oft die Beine faſt nach Türkenart verſchränkt, 
wie er unter ſchmetterndem Gelächter übermüthige Witze herausplauderte. .. 
Offenherzig und geſprächig ſagte er gleichwohl nie ein Wort zu viel. Als— 
bald, ſobald ein bedeutender Gegenſtand herantritt, faßt er ſich ſicher zu— 
ſammen; es lagert ſich dann tiefer Ernſt über die breite Stirn, die Klarheit 
eines mächtigen Verſtandes leuchtet aus den ſtechenden, tiefliegenden Augen... 
Den Italiener verräth nur das Feuer des Auges, nach ſeiner hellen Haut, 
feinem blonden Haar iſt er Nordländer. . . Er ift aber geradezu ſtolz darauf, 
daß er dem Grenzvolfe angehört — halb Romane und halb Germane Wie 
die anderen Söhne des Hochlandes ſchwärmt er für dad Haus Savoyen. Er 
ift aber d’rum doch von Herzen Staliener, Italiener vom Scheitel bis zur 
Sohle.“ 

Auch Ludwig von Rochau hatte in ſeiner Arbeit über Cavour in dieſem 
Blatte auf die halbdeutſche Abſtammung und Nationalität Cavour's hinge— 
wieſen. Und er, der mit Maſſari die Ehre theilte, Cavour perſönlich gekannt, 
ſein Leben und Wirken jahrelang aus nächſter Nähe beobachtet zu haben, 
befindet ſich bis zu dem Punkte, wo der Tod ſeiner Abhandlung über Cavour 
ein Ziel ſetzte, in allen Hauptſachen in merkwürdiger Uebereinſtimmung mit 
dem italieniſchen Biographen. Namentlich führt Maſſari die von unſerm 
Rochau ſo ſchön und klar entwickelte Befähigung Cavour's zur Behandlung 
volkswirthſchaftlicher, mercantiler und finanzieller Fragen auf jene Vorliebe 


39 J 


Cavour's zu landwirthſchaftlicher Thätigkeit und kluger Verwaltung des eige— 
nen Gutes zurück. Die Selbſtſtändigkeit und Richtigkeit des Urtheils von 
Rochau tritt erſt aus einer Vergleichung mit der italieniſchen Biographie voll 
zu Tage und läßt uns doppelt bedauern, daß ihm nicht vergönnt war, die 
größten Probleme, die Cavour's Wirken erfüllten, die wichtigſten folgenreich— 
ſten Thaten ſeines Lebens gleichfalls darzulegen. Wir würden vielleicht ge— 
neigt geweſen ſein, der Arbeit des Deutſchen ſelbſt den Vorzug vor der un— 
gemein detaillitrten Darſtellung Maſſari's zu geben. Denn dieſes Detail iſt 
nicht ſelten atomiſtiſch angehäuft, es zerfällt manchmal in einzelne hübſche 
Anektoden, über welchen die große einheitliche ſtaatsmänniſche Weberficht, die 
Entwickelung der Anfichten Cavour's über die einzelnen Hauptfragen , die ihn 
in den lesten zwei Jahren feined Lebens befchäftigten, die Trennung diejer 
Hauptfragen von einander und manches Andere vergelfen oder doch geringer 
beachtet wird. Gerade für diefe beiden legten Jahre von Cavour's Wirken 
wäre dad Urtheil eined fo gründlichen Kenner der italienischen Gejchichte 
und des italienifchen Staatämannes, wie Rochau ed war, von der hödhiten 
Bedeutung gemwejen. Denn melde Fülle von Problemen und Schmierigfei- 
ten aller Art — theilmeife foldhe, die heute noch ihre Schatten werfen — 
drängen fih in diefe Testen Jahre zufammen. 

Die für Cavour fehmerzlichite und überrafchendfte Nachricht vom Abſchluß 
des Maffenftillftandes vom 6. Juli 1859 zwijchen Napoleon und Franz Jo— 
ſeph, dem fhon am 12. Suli die Friedenspräliminarten von Villafranca 
folgten, hatte feine Demiffion zur Folge. Vergebens verſucht Arefe feine Erb- 
ihaft anzutreten. Erft Ratazzi gelingt die Neubildung des Minifteriums, unter 
dem Vorfis des Franzofenfreundes Ramarmora. In feiner verzweifelten Stim- 
mung reift Gavour in die Schweiz. Ein fchlichter berner Grenzfoldat reicht ihm 
bier — und unter Thränen die Hand, als Cavour mit ſeinen Freunden 
unthätig und trübfinnig in der Sonne ſitzt. Anfang September kehrt Cavour 
nach Turin zurück. Es bat fich inzwiſchen entfchieden, daß Napoleon Sta: 
lien gegenüber am Nichtinterventionsprineip fefthalten und namentlich zulafien 
will, daß die Bevölferungen der mittel» italienifchen Herzogthümer, der Aemi— 
lia, Umbriend und der Romagna durd eine Volksabſtimmung ihren Beitritt 
zum Staate Victor Emanuel's erklären. So kann der Beitpunft ind Auge 
gefaßt werden, wo zum erften Mal das italienifche Nationalparlament be- 
rufen, das Königreih Stalien feierlih proclamirt werden fann. Aber das 
Minifterium Rataäzzi-Lamarmora erklärt noch zu Beginn des Jahres 1860 
ed für unmöglih, die Wahlen zum Nationalparlament zu einer be 
ftimmten Zeit audzufchreiben. Gavour meigert fi, folange diefe Frage 
nicht entjchieden fei, irgend eine Mijfion für die Regierung zu über- 
nehmen, dad Minifterium ftürzt und Gavour tritt am 16. Januar 1860 von 
neuem an die Spige der italienifchen Staatsgeſchäfte — ununterbroden bie 
zu feinem Tode. Die erfte und ſchwerſte Aufgabe feines Amtes tft die Ab- 
tretung von Nizza und Savoyen an Frankreich. Der Fünftlihe, von der 
radicalen Partei erzeugte Sturm des Unmwillen® gegen Cavour wegen dieler 
nothmendigen Gegenleiftung gegen die franzöfiiche Bundesgenofjenihaft im 
Kriege legt ſich erft, ald kurz darauf (2. April 1860) das italienifche National- 
parlament eröffnet wird und Cavour den Fühnen Zug Garibaldi’8 gegen 
Sieilien und Neapel erjt heimlich, dann offen unterftüßt und dann aud) die 
neapolitantfhen und ficilianifchen Provinzen, die Marken und Umbrien mit 
dem Staate Bictor Emanuel's vereinigt werden. Am 18. Februar 1861 wird 
das Parlament eröffnet, das zum erften Dal, mit Ausnahme der Benetianer 
und Römer, Vertreter des gefammten Italiens in feiner Mitte zählte. mn 


ü 40 


bedeutfamer Weiſe verkündet die erite Thronrede die innige Freundfchaft mit 
Preußen als die Hoffnung der zufünftigen Bolitif der italienifchen Regierung, 
und fait einftimmig mird vom Warlament das Königreih talien und 
Victor Emanuel als „König von Italien“ audgerufen. Wie an diefem Tage 
Gavour beim Heraudtreten aus dem Warlamentägebäude von Aleſſandro 
Manzont umarmt wurde, und das zu Taufenden verfammelte Volk ftürmijchen 
Beifall klatſchte, als es den Begründer feiner politifhen Ginheit in den 
Armen des edeliten Vertreterd der literarifhen Einheit Italiens liegen ſah, 
da mochte jeder Zufchauer in der Begeifterung der bedeutfamen Stunde dad 
große Werk des Staatdmanned für erfüllt halten. Indeſſen für ihn begann 
nun erſt der Gipfel der Schwierigkeiten fih zu zeigen: Venedig und Rom, 
die Stellung zu Franfreih und Deutfchland, zu den radicalen Drängern im 
Innern, dad Verhältnig der Kirche zum Staate — Alles das forderte von 
Tag zu Tag immer lauter und dringlicher feine Löſung. Es ift nun ein be» 
fonderer — oben ſchon von Holgendorff betonter — Vorzug der Maffart’fchen 
Biographie, daß er alle diefe Diffonanzen wohl Fräftig erklingen läßt, mie fie 
ja auch Cavour's letzte Lebensmonde erfüllten, aber daß er dagegen auch auf: 
zeigt, wie dem unermüdlichen Vorkämpfer feines Volkes das feltene Geſchick 
befehieden war, verföhnt mit allen Gegnern feines Strebens zu fterben. So 
endete jene denfwürdige Zufammenfunft Cavour's mit Garibaldi, die nad) 
dem furdhtbaren Aneinandertreffen beider Männer im offenen Barlament vom 
Könige gewünſcht wurde, aber faum möglich erfchten, mit einer feierlichen 
Billigung des politifchen Programms Cavour's im Verhalten gegen Deiterreic) 
und Franfreih durch Garibaldi. Die Männer fchieden, wenn nicht ale 
Freunde, doch ohne jegliche Gereiztheit. So glüdte Cavour noch in den 
legten Tagen feined Xebend, die Verhandlungen mit Parid und Rom dem 
Abfchluffe nahe zu führen: Napoleon mollte dad Königreih Stalien an- 
erfennen und ſich verpflichten, die Truppen aud dem SKirchenftaat zurüd- 
jurufen, wenn dagegen die italienifhe Regierung eine Gewähr geben 
würde, dag fie feinen Angriff duldete und die Grenze ftreng bewachte. 
Die Zufage diefer Bedingung Seiten Cavour's enthielt eines feiner legten 
Zelegramme nah Paris, mit dem Datum vom 31. Mai 1861. Den 
Reſt der Schmierigfeiten dachte er mit der Zauberformel zu ebnen: „die 
freie Kirche im freien Staate.“ Das war der lette Gedanke, den der Ster- 
bende ausſprach, der ihm das Sterben im Frieden mit feiner Kirche, deren 
legte Gnadenmittel ihm der eigene Bruder fpendete, ermöglichte. So breitet 
fidy über all feine legten Handlungen die Verklärung ded Friedens, der Ber- 
föhnung. Am 6. Juni 1861 früh 6%, Uhr verfchted er. 

Möge die Verdeutfhung der Biographie Maſſari's in Deutſchland recht 
viele, recht aufmerkfame Leſer finden. Denn wenn der Politiker und Staatd- 
man Savour vielleiht auch noch kunſtvoller dargeftellt und charafterifirt mer- 
den kann — den Menſchen Cavour wird niemand pietätvoller und anfchaulicher 
jemal® und fchildern fünnen, ald das Werk Joſeph Maſſari's. R 

Mit dieſem Hefte beginnt diefe Zeitfchrift ein neues Quartal, 
welches durh alle Buchhandlungen und Poſtämter deö In- und Aus- 
landes zu beziehen ift. 

Privatperfonen, gefellige Vereine, Lefegefellichaften, 
Kaffeehbäufer und Eonditoreien werden um. gefällige Berüdjichtigung 
derfelben freundlichit gebeten. 

Leipzig, im October 1874. Die VBerlagsbandlung. 


Berantwortlicher Redakteur: Dr. Hand Blum. 
Berlag von F. 2. Herbig. — Drud von Hüthel & Legler in Leipzig. 





Die 


Grenzboten. 


BEeittfäarcifi 
für 


»olitik, Mexreatur und Kunſt. 





Ne: A. 


Ausgegeben am 9. October 1874. 


Inhalt: 


Neuere kirhenpolitifche Fragen. 1. 9. Jacoby. . . .. 

Jugenderinnerungen Karl Friedrich's v. Klöden. B.. 

Gin Mufterftüd —— Propaganda in diantrüch Aus 
Paris . . 

In Sachen der finanziellen Lage der Univerfität Jena. " Klagbeant: 
wortung. — Replit von W. Endemann, — —— 

Briefe aus der Kaiferftadt. . s : 

Mar Wirth's Gefchichte der Handelstrfen 


vn 





Orenzbotenumfchlag : Literariiche Anzeigen. 
Literarifche Beilage von F. N. Brodhaus in Yeipzig. 


en 7 27252 SZ 


Leipzig, 1874. 
Vriedrih Ludwig Herbig. 
(Fr. Wild. Grunow.) 








Neuere kirhenpolitifhe Fragen. 


Es ift von Freunden Firchlichen Lebens und chriftlicher Gefinnung oft 
geflagt worden, daß die großen Errungenfchaften des lebten Jahrzehnts, die 
fieggefrönten Kriege dem deutfchen Volke feinen Zuwachs an religiöier und 
fitrliher Vertiefung erworben hätten, und unmillfürlich ift der Blick auf die 
Befreiungsfriege gefallen, welche den Ausgangspunkt für eine ideale Erhebung, 
für eine Rückkehr des deutfchen Volks zur Kirche und zum chriftlichen Leben 
bildeten. Wir mollen den Wahrheitögehalt nicht beftreiten, der in diefer 
Klage liegt, müſſen aber doch offen ausſprechen, daß fie aus einer einfei- 
tigen Betrachtung der Zuftände und Bewegungen ter Gegenwart hervorge— 
gangen ift. Dder mer kann leugnen, daß in unirer fo ſehr auf Einficht 
in die Sinnenwelt und auf Verwerthung ihrer Erzeugnifje gerichteten Zeit die 
firhliben Angelegenheiten ein allgemeines Intereſſe erregt haben, ja eine 
brennende Frage geworden find. Freilich zeigt fi auch in der Art und Meife 
der Beihäftigung mit ihnen der eigenthümliche Charakter unfrer Zeit. Es 
find nicht die Gegenjtände ded Glaubens, die Unterfuhhungen, auf welche die 
theologiſche Wiffenfhaft fich vorzugämeife richtet, um welche fich die Aufmerf- 
famteit ded Volke fammelt, es ift vielmehr die Gemeinschaft, welche die Hei. 
ligthümer bewahrt, es ift die fichtbare Kirche, für welche die Gegenwart ein 
Herz bat. Das Chriftenthum als ein fihtbarer, das öffentliche Leben beitim- 
mender Faktor nimmt ihre Beachtung und Thätigfeit in Anfpruc. Die Bezeugung 
ihrer Theilnahme am chriftlichen Leben ftellt fi dar auf dem Gebiet der Kirchen» 
politi. Man unterſchätze diejelbe nicht, es giebt einen Weg, der von der 
Peripherie zum Centrum, von der Form zum Inhalt führt. Wir haben ein 
begründeted Recht zu der Hoffnung, daß unfer Volk vom Intereſſe an der 
Kirche zum Leben in der Wahrheit des Evangeliums und zum Glauben an 
die Heildgüter werde geführt werden. 

Die Richtung, welche die neuere firhenpolitifche Geſetzgebung eingefchlagen 
bat, bürgt dafür. Sie hat erkannt, daß es nicht angeht, das Firchliche 
Reben ald eine Privatſache der Individuen oder gleichzeitiger Vereine anzu— 
jehen, daß dasfelbe vielmehr einen integrirenden Beitandtheil des öffentlichen 


Lebens bildet, daß fich derjelbe einer Beeinfluſſung desfelben nicht entziehen 
Grenzboten IV. 1874. 6 





42 


darf. Uber, died zugeftanden, welche Fülle Ser fehwierigiten Fragen ergiebt 
fih bier. Es gilt die Grenze zu ziehen, welche der Staat nicht überfchreiten 
darf, ohne die Freiheit der Kirche zu vernichten, es gilt der Kirche, vor 
allem der evangelifchen Kirche, die Organe zu ſchaffen, die ala wirklihe Ver— 
treter derfelben betradytet werden dürfen. Und alle diefe Fragen können nicht 
gelöft werden, ohne daß ein hohes Map Firchenpolitifcher Einficht gewonnen 
wird. Mir heißen daher alle Schriften willkommen, welche ung eine folche ver- 
mitteln, und beabfichtigen in diefen Zeilen auf einige derfelben hinzumeiien. 

Beichränfen wir und auf die Forderung eines gefunden, unbefangnen, 
die Verbältniffe frei und nad allen Seiten überblidenden Urtheils, fo können 
wir die Schrift von Theodor Körner „Grundzüge und Beiträge zur ſyſte— 
matifchen Behandlung der Religionspolitik im deutfchen Staate“ (Berlin 1873 
C. Heymann's Verlag, S. 206) unbedingt empfehlen. Sie ift eine Apologie 
der neueren preußiſchen Firhenpolitifchen Geſetzgebung, ruht auf einer befrie- 
digenden Kenntniß der hier in Betraht kommenden Berhältniffe, beurtheilt 
maßvoll und befonnen die verſchiednen kirchlichen Parteien und bewahrt ſich 
bei prinzipielem Anfchlug an die gegenwärtige Politik der preußifchen Re 
gierung Selbftändigkeit und Freiheit der Entjcheidung. Nicht3deftomeniger 
fönnen mir den Werth diefer Schrift nicht ganz fo hoch anſchlagen, als die 
eben angezeigten Eigenichaften zu nöthigen fcheinen. Denn leider befitt der 
Berfaffer nicht die für eine fyftematifhe Darftelung der Religionspolitif 
nothwendige religionsphilofophiiche Bildung und eben deshalb fehlt ihm die 
Befähigung, die prinzipiellen Fragen befriedigend zu löfen. Sa die philofo- 
phiihe Begabung und Schulung des BVerfufferd überhaupt ſcheint nur eine 
geringe zu fein. Die grundlegenden theoretifchen Erörterungen des erften 
Theild legen Beweis dafür ab. Der erfte Abſchnitt „Bon Religion und 
Glauben” zeugt von einer Oberflächlichkeit, wie fie nur bei völliger Unfennt- 
niß der religionsphilofophifchen Arbeiten des Jahrhunderts fich begreifen läßt. 
Im dritten Abſchnitt „Vom Staate* finden wir allerdings eine richtige Ein- 
fiht in dad Weſen desfelben, infofern er ald Rechtsſtaat und Gulturftaat 
begriffen wird, aber beide Beitimmungen werden äußerlich neben einander ge 
ftellt, ohne daß der Verſuch gemacht wird, fie mit einander zu vermitteln. 
Doch mollen wir diefen Mangel nicht zu Scharf tadeln, finden wir ihn doch 
in der audgezeichneten Abhandlung von Sohm nicht einmal völlig befeitigt. 
Dagegen müſſen wir tadelnd hervorheben, daß der Verfaffer dem Staate Re 
ligion, Neligiofität und Chriftlichfeit abfpricht und ihn nur an die chriftliche 
Ethik ald an das fittlihe Gefeg der Vernunft gebunden willen will. Nach 
der unzureichenden religionsphiloſophiſchen Grundlegung Founten wir freilich 
nicht8 anderes erwarten, Über fragen müſſen wir do, ob der Berfafjer ſich 
bewußt gemwefen ift, daß der religionsloje Staat die Worderung des Eides 


43 


aufgeben und den Meligiondunterriht aus der Staatöfchule vermeifen 
muß. In auffälligem Widerfpruch zu der vorausgefegten Religionslofigkeit 
des Staat? ſteht die Bemerkung des Verfaſſers: „Er (der Staat) wird fie 
(die Neligion), fomweit es fein Beruf geftattet, als ein guted Kennzeichen fitt- 
liben Werthes in feinen Bewohnern, namentlich in den Organen feiner Wirk: 
famfeit anerkennen und fie geeigneter Weiſe nähren und pflegen; — fie aber 
ih felbft aneignen, kann er nicht.“ *) Wie kann der religiös indifferente 
Staat die Religiofität feiner Bürger nähren und pflegen. wenn er nicht jelbit 
religiöß ift, mit welchen Mitteln foll er dieſe Pflege ausüben? Und ift ein 
Staat, der Maßregeln trifft zur Pflege der Religiofität, religionslos, und 
wenn er bejonders die hriftliche Religioſität begünftigt, nicht chriftlich ? 

Der „biltorifch = politiiche Mückbli“ , mit welchem im vierten Abfchnitt 
der allgemeine theoretifche Theil ſchließt, it am dürftigiten in der Abtheilung 
„Das proteftantifche Zeitalter“. Wir bärten doch wenigſtens einige Andeu- 
tungen über die Entftebung des landesherrlichen Kirchenregiments, jeine Be— 
gründung durch die Neformatoren, und über die Eirchenpolitifchen Syfteme 
erwartet. Aber nichts von alledem. Der Berfaijer beichränft fi auf die 
Berührung einiger weniger Thatjachen. 

Wir wenden und zum zweiten befonderen praftifchen Theil. E83 freut 
und, über die erften Abfchnitte desſelben, melde den Katholiciömug und den 
Neukatholieismus nad feinem Dogma ter päpftlichen Unfehlbarfeit zum Gegen- 
itande haben, günftiger urtbeilen zu fönnen. Wir finden hier eine eingehende, 
gründliche, lichtvolle Daritellung. Das neue Fatholifche Dogma wird in feinem 
Werth, feiner Entjtehung ‚und Begründung vergegenmwärtigt. Sehr richtig 
und beachtenswerth it, wenn der Berfafler jagt, daß die Bijchöfe nicht legi- 
timirt jeien, auf das ihnen durch Chriftuß übertragene apoftolifche Recht 
Verzicht zu leiften, daß dasfelbe ein von der Perſon ded damit Betrauten 
untrennbar gedachtes ſei und daher nicht einem andern übertragen werden 
könne, daß. es ein umveräußerliches Recht fei. Und der Schluß ift volllommen 
begründet, day daher dem Unfebibarkeitspogma das Firchenrechtliche Funda— 
ment der bijchöflichen Legitimation fehle. Auch der folgende, Abfchnitt „Grund- 
läge der Staatäpolitit den Religionggefellihaften gegenüber“ ‚-; befriedigt im 
Ganzen. In befonderem Maße gilt aber unfer anerfennendes Urtheil dem 
achten Abſchnitt: „Der Proteſtantismus.“ Die gefunde und befonnene Cha- 
rafteriftil der Firchlichen Parteien, der Muth, den der Verfaffer in der Frei 
heit von landläufigen Werthſchätzungen des, vulgären Liberalismus zeigt, ver- 
dient alle Anerfennung. Wir rechnen bierhin**) die Bemerkungen des Verfaſſers 
über den Proteftantenverein ”**): „Der Kampf gegen Beſtehendes hat bereits, in 


) S. 22. **) Die machflebenden Anfihten des Werfafferd werden von der Redaction 
keineswegs allenthalben getheilt. D. Red. *S. 112—3, 


44 


Deutſchland lebhaft begonnen und meite Kreife in fein Gebiet gezogen. Die 
Vertreter desfelben haben ſich namentlich in einem „Proteftantenvereine* ver» 
bunden und das Berdienft erworben, ſei ed auch auf radicalem Boden, die 
Mängel im Beitehenden ohne Rüdhalt aufgededt und den Wunſch zum Beſſern 
nach Sinnen und nad Außen rege erhalten zu haben; aber meiter reicht das 
Verdienst bis jest nicht. Bon einem Erſatz der oft mit Verläugnung allge: 
meiner Toleranz angegriffnen orthodoren Glaubensrichtungen durch Aufitellung 
eined Bekenntniſſes ijt in der bisherigen Wirkſamkeit ded Proteftantenvereind 
nicht die Rede, mit einer bloßen Negation ohne ſchöpferiſche Kraft ift aber 
weder dem religiöfen Gefühle noch dem religiöfen Geſellſchaftsverbande gedient ; 
eine Kirche ohne alle Bekenntnißſchrift, wie fie der Agitation vorzufchweben 
icheint, ift unausführbar und ohne Beftand. — Aus diefen Gründen fann 
der Mroteftantenverein,; ungeachtet feined® an fich berechtigten Thund und 
Wirkens innerhalb der Religiondgefelihaft, Feinen Anfprud darauf machen, 
in der äußern Organifation derjelben ald ein irgendwie maßgebender 
Faktor mit in Betracht gezogen werden; es fehlt ihm dazu jeder Anhaltd- 
punkt.“ Mir rechnen hierhin ferner die befonnene Beurtheilung ded ev. Ober: 
firchenrath® in Preußen: „Die Bildung des Oberkirchenraths war der nad 
unferer Auffafjung im Prineip ganz richtige und gebotene erjte Schritt zur 
kirchlichen Selbftändigfeit. Wir jtehen nicht auf dem Boden feiner vielfeitigen 
Anfeindung, deren Ursprung großentheild in religiöjem Liberalismus wurzelt, 
und deren thatfächliche Begründung wir nur im geringften Theile, hauptfäch- 
ih in der Richtung anerkennen, daß feine unleugbaren wiederholten Beſtre— 
bungen zur einigenden felbitändigen Kirchenreform in den Hauptrejultaten 
erfolglos gemejen find; — aber zur Milderung auch diefes Vorwurfs gejtehen 
wir, daß und der Nachweis fehlt, ob andere Schritte zum gedachten Zwecke 
beſſer und fruchtbarer geweſen wären. Die aus jener Feindfeligfeit wieder« 
holt hervorgegangenen Anträge im Landtage auf feine Abjhaffung halten wir 
im Intereſſe der Kirche für ebenfo unpolitifhe als unreife und in ihren Wir- 
fungen unüberlegte Tendenzen.**) Wir billigen endlich vollfommen, daß der 
Berfaffer mit Entjchiedenheit die fchleunigfte Vollziehung der Audeinander- 
fegung zwiſchen Kirche und Staat fordert und mit Necht denen, welche den 
geeignetiten Zeitpunkt noch nicht für gekommen erachten, zuruft: „wann wird 
der geeignete Standpunkt da fein? find die Verhältniffe des evangelifch-Firch- 
lihen Gejammtlebens dazu angethan, feine Annäherung ficher zu hoffen? — 
und wird durch defjen weitered Abwarten etwas gewonnen? — wir antwor- 
ten hierauf: Nein; im Gegentheil, die Schwierigkeiten werden nicht geringer, 
jondern fteigen mit jedem XZage.“ **) 

Zeider hat fich in diefen fo trefflichen Abfchnitt ein biftorifcher Irrthum 

,6. 190. °)6E. IM—5, 





45 


eingeflichen, den wir um fo ernftlicher rügen müffen, ald er eine weite Ber- 
breitung gefunden zu haben foheint. Der Berfaffer meint, daß fidy das pred« 
byterial-fynodale Syſtem vorzugämeife bei den Reformirten in der Schweiz ent» 
widelt habe. Das ift falſch. Das genannte Eyftem ift allerdings auf reformir- 
tem Boden entfproffen, aber nicht in der Schweiz. Die reformirte Kirchenver- 
faffung bat einen ebenfo territorialiftifchen Charakter getragen, wie die Iutherifche 
Deutſchlands. Richtig ift, daß Calvin die Grundgedanken der Synodalverfaffung 
entwicelt bat, aber verwirklicht wurden fie weder in Genf noch in Zürich. 
Mit dem zehnten Abfchnitt beginnt eine neue Abtheilung, welche fich 
auf die einzelnen Gegenjtände der Neligtonspolitif bezieht. Zuerſt wird das 
geitlihe Amt in Betracht gezogen. Hier würde der Verfaſſer befjer gethan 
haben, ftatt faft alle Maigeſetze abdruden zu laffen, näher, als es gefchehen 
it, auf Ddiefelben einzugehen. Referent gehört zu den warmen Freunden der 
neuen Firchenpolitifchen Gefeggebung Preußens und er ift prinzipiell mit allen 
ihren Beftandtheilen in UWebereinftimmung. Eben deshalb hält er ſich für 
befugt, in diefen Blättern, einen Diffenfus bei diefer Gelegenheit zur Sprache 
zu bringen, der nicht fomohl dad Prinzip, ald die Audgeftaltung desſelben 
wit. Wir haben dad Staatderamen der Theologen vor Augen. Es kann 
feinem Zweifel unterworfen fein, daß von einem Manne, der, wie der Geift- 
lihe zu einer fo tiefgreifenden Wirkfamfeit auf das Volksleben berufen ift, 
ein hohes Map allgemeiner Bildung gefordert werden muß, und daß der 
Staat berechtigt ift, die Aneignung derfelben zu verlangen. Aber auf welchem 
Wege ift died Ziel zu erreihen. Wir fchließen die Whilofophie aus dem 
Kreife unferer Erwägungen aus, meil fie fhon längft Gegenftand der theo- 
logifhen Prüfungen geworden ift, und berüdichtigen nur die Geſchichte, und 
die deutjche Kiteraturgefchichtee Und hier fcheint ed unmöglich, daß der 
theologifche Kandidat im Großen und Ganzen am Schluffe ded Trienniums*) 
über eine größere Summe von Kenntniffen verfüge, ald ihm beim Abi- 
turienteneramen eigen gemefen ift. Ja noch mehr, ed muß fih die Summe 
vermindert haben, da der Student der Theologie doch nicht die Zeit und den 
Fleiß ohne Vernabläffigung des Berufsſtudiums auf die genannten Objekte 
wenden Fann, die er als Gymnaſiaſt ihnen widmen fonnte Wozu alfo eine 
Repetition des Abiturienteneramend fordern, die nothmendig nur bdürftige 
Refultate Eonftatirt. Man erwäge ven Umfang des Gebietö beider Wiffen- 
haften: Oder follen allgemeine Ideen an die Stelle der Thatſachen treten 
und das Examen fich auf eine Whilofophie der Gefchichte beziehen? Davor 
müflen wir dringend warnen. Es wäre der Weg, den nur die Ignoranz 
ih wünfchen könnte. Sie würde ihre Blöße mit Phrafen deden. Aber was 


*) Barum müffen aber gerade die Theologen allein nur drei Jahre jtudiren ? 
Die Rep. 


46 


fol geichehen? Es ift nicht fowohl Mehrung der Kenntniffe, als vielmehr 
der Einſicht zu fordern. Diefe läßt fih nun für den Studenten, der nicht 
Gefhichte und Riteraturgefchichte zu feinem Berufsſtudium gewählt hat, wohl 
aber auf beiden Gebieten vermöge der gumnafialen Borbildung orientirt it, 
nur dadurch erreichen, daß er auf befhränftem Gebiet an den millen- 
ſchaftlichen hiſtoriſchen und literarhiftorifchen Studien ſich betheiligt. Wir 
würden e8 daher für das geeignetite Mittel halten, das gewünfchte Ziel zu 
erreichen, wenn von den Studierenden der Theologie gefordert würde 1) dag 
fie eine größere Privatvorlefung aus dem Gebiete der Gefhichte und zwar 
mit Rüdfiht auf nationale Bildung aus dem Gebiete der deutfchen Gefchichte 
und ebenfo eine größere Privatvorlefung aus dem Gebiete der deutichen 
Literaturgefcbichte anhörten; 2) daß fie fodann unmittelbar nah Beendigung 
der Vorlefungen fih einer Prüfung von Seiten ded vortragenden Docenten 
unterzögen, deren Reſultat fchriftlich bezeugt werden müßte Die erfte For 
derung führte in befchränftem Maße die früher beftehenden fogenannten 
Zwangsvorleſungen ein, die zweite dehnte die gegenwärtig beftehenden Semeitral- 
eramina aus. Unfer PBetitum ginge daher dahin, daß alle Theologie Stu- 
dierenden, welche durd, dad Abgangdzeugnig vom Gymnafium den Befig be» 
friedigender Kenntniſſe in der Gefchichte und Kiteraturgefchichte bemeifen, durch 
eine Generaldispenfation des Kultusminiſters vom Staatöeramen befreit 
mwerden, dagegen angehalten, in der angegebenen Weiſe die Fortentwidlung 
in allgemeiner mifjenfchaftlicher Bildung fich angelegen fein zu laffen. Auf 
diefem Wege, fcheint und, würde ebenfo fehr den berechtigten Forderungen 
des Staatd wie den Intereſſen der Theologie Studierenden Genüge getban 
und ein höheres Maß allgemeiner wifjenfchaftlicher Bildung erzielt, als auf 
dem von der Regierung in Ausficht genommenen. Man täujche fih nicht, 
ed hat mehr Werth und bringt mehr Gewinn, auf befchränftem Gebiet Gründ— 
lihes zu willen, als auf weitem Gebiet vieled aus der WVogelperipeftive zu 
betrachten. Es iſt bildender eine Vorlefung über deutſche Geſchichte im 
Dlittelalter fi) aneignen, 'ald aus einem Gompendium eine Meberficht der 
Meltgeihichte nach ihrer Ränge und Breite repetiren. Es ift bildender, eine 
Vorlefung über dad Nibelungenlied oder Goethe ſich aneignen ald aus einem 
Reitfaden eine Weberficht der deutfchen Literaturgefchichte in ihrer Yänge und 
Breite repetiren. Denn daß das ganze Gebiet beider MWiffenfchaften ernftlich 
durchgearbeitet werde, dad kann doch nur vom Hiftorifer oder Yiterarhiitorifer 
vom Fach, nicht aber vom Theologen gefordert werden. Was bleibt ihm 
aljo übrig ald zum Gompendium oder zur Tabelle zu greifen. Unfer Bor: 
ihlag fällt alfo mit den Tendenzen der Regierung zufammen, weicht nur im 
Ausführungsmodus ab und begünftigt nicht eine Minderung, fondern eine 


47 


Steigerung der allgemeinen milfenf&yaftlihen Bildung der Theologie Stu- 
direnden. 

Man verzeihe und diefe Abſchweifung. Die bier audgefprochenen Ge 
danfen liegen dem Weferenten ſchon lange auf dem Herzen und fein Beruf 
treibt ihn, fie audzufprehen. Wir kehren zu unferer Schrift zurüd. Der 
Abſchnitt, welcher und hier befchäftigt, berührt viele fchmierige Probleme. 
Uber fie find eben nur berührt, ohne daß ein ernitliher Verſuch gemacht 
wäre, fie zu löfen. Was der Verfaffer über den Glaubendeid fagt, ift durch— 
aus unzureichend. Worin fich derfelbe vom zulegt erwähnten Religionseid 
unterfcheidet, wird nicht mitgetheilt. Wünſchenswerth wäre ed auch gemefen, 
wenn der Verfaſſer fich eingehender über die ſchwierige Frage nad den 
Grenzen der Lehrfreiheit geäußert hätte. Doch tft er auf dem rechten Wege. 
Sehr beachtenswerth find die Thefen: 1) Der Lehrituhl in der evangeltjchen 
Kirche ift nicht derfelbe, mie der des theologiſchen Katheders; ter eritere 
fließt die Erörterung theologifcher Streitfragen, welche der Wiffenfchaft an» 
gehören, im Mefentlihen aud. 2) Insbeſondere tit das Lehramt, welches auf 
die Grundfäge in den Reformationdichriften und nah Maßgabe derfelben 
ald ein Kirhengemeindeamt verliehen worden, nicht berufen, dieſe 
nach fubjectiver Auffaffung zu ändern oder zum Gegenitande des Zweifels 
oder Angriff zu erheben; — dadurch aber den Glauben der Gemeindeglieder 
zu erfchüttern und die Stellung ded Lehramt? zur Gemeinde erheifht, daß 
diefes auch nicht durch öffentlihe Yeußerungen außerhalb der Iehramtlichen 
MWirkfamkeit nah Form und Faffung in der Weiſe gefchehe, daß das Ber- 
trauen der Gemeinde in die Wahrhaftigkeit des Lehramts mefentlich gefährdet 
oder abgefchwächt werde; die freie Grenze einzuhalten iſt Sache feiner jorg- 
famen Prüfung.*) Die liberalen Theologen thäten gut, auf die Worte folcher 
liberaler Suriften zu hören. Der Theologe iſt in Gefahr, einfeitig nur die 
Intereffen des religiöfen oder vielmehr des über die Neligion refleftirenden 
individuellen Subjekts mahr zu nehmen, der Yurift tritt für dag Recht der 
Gemeinschaft ein und fhüst die Bedingungen, ohne deren Bewahrung ein 
jecialer Organismus nicht beftehen kann. 

Aus dem 11. Abfchnitt, der über „die Familie und die Religion“ handelt, 
heben wir die Bemerfungen des Verfaſſers über die gemijchten Ehen hervor. 
(53 wird bier der Wunſch ausgeſprochen, „daß jeded Verlangen eined Ber: 
ſprechens Seitens eines Geiftlichen, fet e8 eined mündlichen oder jchriftlichen 
oder wohl gar eidlichen über die religiöfe Erziehung der Kinder unter nam» 
hafte Strafe geftellt werde.” Mir können dem Verfaſſer nur beiftimmen, 
zumal in Bezug auf Preußen, da bier eine Forderung folhen Inhalt von 


) ©. 150. 


48 


Seiten der Geiftlihen geradezu eine Geſetzwidrigkeit in fich fhließt*), aber 
auch überhaupt, da, wie Eichhorn **) richtig fagt im einer ſolchen Forderung 
fihtbar die Anwendung eine® moralifchen Zwanges liegt, um eine Handlung 
zu bewirfen, die nach den bürgerlichen Gejegen nicht erzwungen werben, 
fondern nur aus freier Bereinigung der Verlobten hervorgehen kann.“ Die 
geſchichtlichen Mittheilungen des Verfaſſers über die Form der Eheſchließung 
find zum Theil unrichtig. Es ift falfch, wenn gefagt wird: Erft die Refor- 
matoren der evangelifchen Kirche erachteten diejelbe (die Firchliche Trauung) 
für eine zum Abſchluß des Ehevertrages erforderliche Form.“ ) Solche grund- 
lofe Behauptungen follten nad dem Erfcheinen von Frievberg’d Epoche 
machender Schriftr) nicht mehr gewagt werden. Was ſpeziell Luther's 
Stellung zu diefer Frage anlangt, fo hat fi Referent an einem anderen 
Drterr) eingehend darüber ausgefprochen und beſchränkt fich darauf, hier die 
dort gemonnenen Refultate zu vergegenwärtigen. „Quther weiſt die Che 
angelegenheiten der bürgerlichen Obrigkeit zu und betrachtet fie ala ein Ge: 
biet, das eigentlih außerhalb der Firchlichen Rechtsſphäre fich befindet. 
tichtödeftomeniger fol die Kirche, wenn die bürgerliche Obrigkeit eine kirch— 
lihe Segnung oder Trauung verlangt, diefelbe vollziehen. Luther fieht aljo 
die Chefchliegung mefentlih als einen civilen Akt an und betrachtet die 
Kirche, infoweit fie die Trauung vollzieht, als Mandatarin der bürgerlichen 
Obrigkeit.” „Er fah eben die Trauung ald eine mefentlich civile Handlung 
an. Dagegen die Segnung der Getrauten erfchien ihm ala eine Feier, welche 
die Kirche in ihrem eigenen Namen volljog. Er folgte daher der beftebenden 
Afte und theilte die Handlung in zwei Abfchnitte, die Trauung verlegte er 
vor die Kirche, die Segnung dagegen knüpfte er an den Altar.“ 

Auch ignorirt der Verfafler, dag ſchon früh auf proteftantifchem Boden 
die Civilehe fich gebildet hat. In England hat fie von 1653—1660 Geltung 
gehabt. In den Niederlanden wurde die fafultative Civilehe am 1. April 
1580 für die Provinzen Holland und Weſtfriesland, am 18. März; 1656 für 
die General-Staaten eingeführt, in Schottland gelten die heimlichen Ehen und 
Gretna-Green ift der rettende Hafen für die Liebenden, deren Bund in Eng: 
land Feine gejegliche Geltung erlangen Fann, wie den Kennern englifcher 
Romane binlänglich befannt ift. 

Gegen den Abſchnitt „Die Schule und die Religion“ haben wir ernite 
Bedenken. Vielleicht läßt fih die Frage nad der Confeffiondlofigfeit der 
Schule nicht beantworten, wie es der Berfaffer thut. Er hat dem vorliegen» 


*) Sacobfohn, das ev. Kirchenrecht des preußifchen Staatd. ©. 570. 

**) Grundfäge des Kirchenrehts Bd. 2. ©. 506. **) ©. 159. 

7) Das Recht der Eheſchließung in feiner geſchichtlichen Entwidelung. Leipzig 1865. 
+7) Jacoby, Liturgik der Reformatoren. Gotha 1861. Bd. I, ©. 326 u. d. f. 


49 


den Problem gar nicht ernſt in das Angeficht gefehen. Wir erheben feinen 
MWiderfpruc gegen die Anſtellung jüdifcher Lehrer an hriftlichen Schulen, evan 
gelifcher Zehrer an Fatholifchen Schulen und umgekehrt, aber fordern trogdem 
eine confejfionelle Beftimmtheit der Anftalt. Abgeſehen von dem Religiond- 
unterricht, der felbitverftändlich confefjtonell fein muß, kann der Geſchichts— 
unterricht, der deutfche Unterricht nur confeffionellen Gharafter tragen, und 
ebenfo darf das Directoriat der Schule und das Drdinariat der Klaſſen einer 
confeffionellen Bedingtheit nicht entbehren (? d. Red.). enjeit diefer Grenzen 
dagegen kann das confejfionelle Element durchbrochen werden. Simultanjchulen 
in den Schranfen einer confeffionellen Grundrichtung, nicht confeffionslofe Schu- 
len entjprechen den Forderungen der Gegenwart. Wir begründen mit ments 
gen Worten unfere Forderung. Wie Fann ein Jude, der, wohlgemerkt ein 
Jude mit ganzem Herzen ift, die Entitehung und den Werth des Chriften- 
thums würdigen? Gr fieht in ihm einen Rüdfall in den Polytheismus des 
Heidenthums. Wie kann ein Katholif, der feinem Glauben von ganzem Her: 
zen zugethan tit, der Reformation gerecht werden? Sie tit ihm ein frevel« 
bafter Bruch mit der Kirche. Daher ja an den Univerfitäten, auf die Pro- 
vinzen mit gemifchter Bevölkerung angewiefen find, obmohl doch die Univer- 
fitäten die Objectivität wilfenfchaftlicher Betrachtung vertreten, ein Fatholifcher 
und ein proteftantifcher Lehrſtuhl für die Hiftorifche Wiſſenſchaft errichtet ift. 
Wer den confeffiondlofen Geſchichtsunterricht befürmortet, fest Xehrer voraus, 
die innerlich außerhalb der Kirche ftehen,, der fie äußerlich angehören, oder 
er münjcht einen bhiftorifhen Vortrag, welcher auf die ideelle teleologifche 
Werthſchätzung der hiſtoriſchen Erſcheinungen und damit auf die Wirkung 
auf das Gemüth der Schüler verzichtet. Es ift nicht viel ander® mit dem 
Vortrag der deutjchen Kiteraturgefhichte. Man leſe z. B. Eichendorf's Dar- 
ftellung derfelben, um als Proteftant eine gründlihe Scheu zu fühlen, feinen 
Kindern eine folhe Einführung in die deutjche Kiteratur zu wünſchen, welche 
in der Romantik die Blüthe, den Höhepunkt ihrer Entwicklung findet. Der 
echte Katholif kann es nicht verwinden; daß dies neue Geiſtesleben Deutfch- 
lands auf dem Boden des Proteftantiömus erwachſen ift. Und der Jude? 
die religiöfen und fittlichen Ideen, welche die innerjte Subjtanz der Getanfen- 
welt unferer Dichter bilden, find aus der Wurzel chriftliher Welt und Got- 
tedanjchauung hervorgegangen, und der Nihthrift muß fih in dieſelbe erit 
fünftlich hineinleben. Der deutſche Unterricht ſchließt aber auch ferner die 
Verpflihtung in fi, die Aufgaben für den deutfchen Aufſatz zu ftellen und 
ihre Löſung zu controlliren. Es ift bieher diefer Theil des Unterrichts nicht 
blos als ein Mittel der Stilbildung, fondern in erjter Linie als ein Mittel 
der ethifchen Bildung angefeben worden. Im Aufſatz follte der Schüler — 
wir berückſichtigen felbitverftändfih nur die Schüler der oberen Klaſſen — die 
Grenzboten IV. 1874, 7 


50 


eigene Kraft in der Beurtheilung der ihm zugeeigneten Objecte erproben, die 
hiſtoriſchen, äfthetifhen, moralijchen Beftandtheile des Wiſſens reproduziren. 
Es war dies eine Gelegenheit, in hervorragender Weiſe, pofitiv und negativ, 
die fich bildende Gejammtanfchauung des Schülerd zu reguliren. Aber mie 
fol dies möglich fein ohne die religiös -ethiiche Einheit der Schule! Wenn 
wir endlich das Directorium und die Klafjen - Ordinariate ald Träger der 
confeffionellen Beſtimmtheit betrachten, fo geſchieht es, weil wir die Schule 
nicht blos ala ein Lehr- jondern auch als ein Erziehungsinftitut gefehen. Und 
wem Erziehung etwas anderes iſt als Dreſſur, der wird fih nicht dem Zu- 
geſtändniß entziehen können, daß die confeffionelle Beltimmtheit aud in die 
Ethik bineinragt. Wroteftantiemnd und Katholiciamus, Chriftentfum und 
Judenthum find nicht nur dogmatifh, fondern auch ethifch different. Wir 
halten deghalb an der Forderung der confeffionellen Schule feft, tragen aber 
fein Bedenken gegen die Bildung von Simultanfchulen. Sind die von und 
audgefprochenen Forderungen befriedigt, fo braucht der Unterricht in der Phi— 
Iologie, Mathematik, der Naturwiſſenſchaften nicht an die confeffionelle Be— 
ftimmtheit der Vehrer gebunden zu werden. Auf diefe MWeife wird dad Sn» 
tereſſe des Staates, welches nicht auf die Sndifferenzirung, fondern auf die 
Milderung der confeffionellen Gegenfäte gerichtet ſein kann, Befriedigung finden. 

Auch in anderer Hinfiht müfjen mir diefen Abſchnitt in Anſpruch neh. 
men, Erzeugt nämlich wieder von der unzureichenden religiondphilofophifchen 
Durhbildung ded Verfaſſers. Oder können wir anderd die Meinung beur- 
theilen, daß der Einfluß der Religion, ala einer das Reben umfaffenden und 
erhebenden Gemüthskraft abnehme, je mehr der Verſtand dem wiſſenſchaftli— 
hen Stoffe zugänglich werde und fi) denfelben aneigne? Wer ein folches 
Urtheil zu fällen vermag, weiß allerdings nicht, was Religion ift. 

Mas den Abfchnitt von Klöftern, geiftlihen Orden und Congregationen 
betrifft, fo machen wir nur auf eine gefchichtliche Unrichtigkeit aufmerkfam. 
Dad Kloſterweſen des Abendlandes iſt nicht im erften Jahrhundert durch 
Einführung einer geregelten Lebensweiſe geordnet worden, fondern vielmehr 
im ſechſten Jahrhundert. Die maßgebende Mönchäregel ded Benedietus von 
Nurfia ftammt aus dem Jahre 529. 

Indem wir unfer Referat ſchließen, müffen wir von neuem unfer Be— 
dauern darüber ausſprechen, daß die Schrift des Verfafferd den Werth, der 
ihr mit Rückſicht auf das ſich in ihr bezeugende objective, unbefangene und 
meift richtige Urtheil zuerfannt werden muß, dur einen auffälligen Man- 
gel auf dem Gebtet religiondphilofophifcher Begründung mefentlich verringert. 
Zu einer fyftematifhen Bearbeitung der Religionspolitif fehlen dem Ber: 
faffer die nothmwendigen Vorausſetzungen. 

Königebergi.P. . 9. Jacoby. 


51 


Dugenderinnerungen Karl Friedrich's v. Klöden. *) 


Unter diefem Titel giebt eine umfangreiche Selbjtbiographie des befannten 
Gelehrten und Erziehungs» Direftord Klöden neben dem ehr intereffanten 
Rebendgang zugleich ein Kulturbild, das wohl faft einzig in feiner Art dafteht, 
denn es beleuchtet und eine Stufe der focialen Gejellfchaft, die fich zu feiner 
Zeit jeder anderen Schilderung entzog. 

Mir werden in die letten Negierungsjahre Friedrich's ded Großen ein- 
geführt. Die glänzenden MWaffenthaten des fiebenjährigen Kriege® haben 
Preußen zu einer gefürchteten Macht erhoben, des Königs große Theilnahme 
an philofophifchen, wiffenfhaftlichen und fünftlerifchen Beſtrebungen hat dem 
jungen Reid neben dem Kriegdruhm auch ein meited Feld geiftigen Wachs— 
thums, dad Mirfen großer und bedeutender Gelehrten und Philoſophen 
erfchaffen. Aber auf diefem glänzenden Hintergrund entrollt ſich ein Bild 
des niederen, ſchwergedrückten Soldaten- und Kafernenlebend, ein Elend des 
unteren Beamtenthums, mie es erjehütternder kaum gedacht werden Fann. 
Der einzige Sohn eined alten, ypreußifchen, einft reich begüterten Adels— 
geichlechte® lebt ald Unteroffizier mit Frau und Kind in der Kaferne Zu 
der Sorge um die dürftigite Eriftenz gefellen fich täglich die abſchreckenden 
Gindrüde der harten Disciplinarftrafen, durch welch lettere das buntzufammen- 
gewürfelte Heer in Zucht gehalten werden fol. 

Bid zu welch verzweifelten Schritten die rohen Soldaten ſich oft reißen 
liegen, davon erzählt Klöden ein entfegliche® Beifpiel: „Ich war zwei Jahre 
alt; meine Mutter trug mich noch auf dem Arm und ging mit mir vom 
Georgen-Kirchhof durch den Gang am Hofpitale nach der Randöbergeritraße. 
Kaum tritt fie aus dem Gang heraus, fo entdedt fie, nicht 30 Schritte von 
fi entfernt, einen Soldaten mit einem langen Meſſer in der Hand, deffen 
furchtbar verftörtes Anfeben die heftigite Graltation verrät. Die Straße iſt 
auf größere Entfernung menfchenleer, ringdum aber liegen die Bewohner 
angftvoll in den Fenftern. Meine Mutter überblidt im Momente den Stand 
der Dinge; aus den Fenftern ruft man ihr zu: „Retten Ste fih, retten 
Sie fib und das Kind.” Umfehren Fonnte fie nit, ohne den Menfchen 
binter fich berzuziehen ; änaftlich wagte fie ed, an den Häufern herzufchleichen, 
und flüchtete fih dann in die nächte, offene Hausthüre. Der Kerl hatte fie 
wohl geliehen, aber nicht verfolgt. Sie wurde mit einer Art von Jubel 
empfangen und erfuhr, daß der Menſch ſchon feit einer Viertelftunde in der 
Nähe auf entfeglihe Art geflucht, getobt und fein Meffer auf den Steinftufen 


*) Herausgegeben und durch einen Umrig feines Weiterlebend vervollfländigt von Mar 
Zähne. Leipzig, Derlag von F. W. Grunow. 


52 


gewest, auch unter lauten Verwünſchungen gefhworen habe, den Grften 
Beiten zu ermorden, weil er feines Lebens müde fe. Jeder habe fich daher 
geflüchtet, und man habe nur gewünfcht, daß ihm Niemand in den Wurf 
fommen möge, ald zum Schreden Aller meine Mutter mit mir erfchienen fei. 
— Kinder Itefen bei folchen Gelegenheiten die größte Gefahr, weil es bei 
diefer Art von Leuten ein allgemeiner Aberglaube war: es fei eine geringere 
Sünde, ein Kind zu tödten, ald einen Erwachſenen, denn Letzterer fahre in 
feinen Sünden in die VBerdammniß dahin, ohne Zeit zu haben, ſich vorher 
zu befehren, während ein unfchuldiges Kind fofort ein Engel werde und 
jelig ſei.“ — 

Died waren die Verhältniffe, in denen Karl Friedrich von Klöden feine 
erſten Eindrüde empfing, und immer drücdender wurde die Rage feiner Eltern. 
Der Bater ließ fi, durch den Spott feiner Kameraden geftachelt, verleiten, 
im Jahr 1792 freiwillig als Lazareth-Commiſſarius mit nah Frankreich zu 
ziehen. Gr ward von den Franzofen gefangen genommen, und die Mutter 
mit drei Kindern war einen Winter lang ohne Nahriht von ihm und ohne 
Eriftenzmittel. Nach feiner Rückkehr z0g er mit der Familie nah Preußiſch— 
Friedland, wo er als Wccife-Auffeher angeftellt worden mar. 

Hier nun beginnt der eigentliche, bemußte Entwidlungsgang ded Knaben. 
Bon den erften Rehranfängen bei der alten, 70-jährigen Schulmeifterin am 
Spinnrad, begleiten wir ihn in die höhere Schule zum Rektor, der „den 
runden, kahlen Kopf mit einer meißen Zipfelmüte bededit, im weiten, Elein- 
geblümten, Fattunenen Schlafrof, der den ftarfen Spitzbauch weit bededte, 
und mit Pantoffeln an den Füßen wortlos Schule hielt. Jahr aus, Jahr 
ein wurde aus der Bibel vorgeleien, und wenn die Offenbarung Johannis 
„fertig“ war, fing der Nächfte ohne Pauſe wieder mit dem erjten Wort des 
ersten Buches Mofid an. 

Noch zeigt fih nichts von der großen vieljeitigen Begabung bes fünf» 


tigen Gelehrten, und die Art des Unterrichts ift nicht dazu angethan, die + 


ihlummernde zu weden. Gbenfowenig that er fih anfangs in der Schule 
zu Mürkifch- Friedland hervor, in welche Stadt fein Vater als Thoreinnehmer 
1796 überfiedelte, und es ift eigenthbümlich, daß erit von einer Krankheit, 
den Majern, ſich das geiftige Erwachen und der rajtloje Lerneifer des Knaben 
datiren. Biel, faſt das Entjcheidende, trug zu diefem Umſchwung die Lektüre 
von Campe's Robinſon Grufoe bei: „Ale Erklärungen verfchlang ich förmlich 
und eignete fie mir auf das genauefte an, um fo mehr ald mir diefe Art 
von Belehrung völlig neu war; denn außer der mütterlihen hatte ich ja 
niemals eine Erklärung erhalten. Die in den Gejprächen vorfommenden 
Lehren der Sittlichfeit, des Verhaltend gegen das Lernen und gegen die 
Menschen, kurz jede Marime prägte ich mir um fo tiefer ind Herz, als ich 


53 


ihre Wahrheit und Angemeſſenheit im Innerſten fühlte. Mir ging eine ganz 
neue Melt auf, ich hätte jede Scene bis ind Kleinfte malen können; ich Tebte 
mit Robinjon, empfand mit ihm, er wurde mein anderes Selbit.“ 

Und von nun an raftet der erwachte Geift nicht mehr; jeden, auch den 
entlegenften Stoff weiß er zu verwertben und feinem Bedürfniß anzupaffen. 
Die Schule bot dem Wiſſensdurſt fat Nichts; nur aus fich felbit: und aus 
den wenigen Büchern, die in der abgelegenen Stadt, bei den fehr beichränften 
Mitteln feiner Eltern ihm erreichbar waren, fonnte der junge Geift Nahrung 
ziehn für fein Heranmwachfen. Gin neuer Lehrer weiß endlich den lernbegierigen 
Schüler auf neue Gebiete zu führen, feinen Gedanken neuen Inhalt zu geben, 
aber noch immer bleibt die eigene, innere Arbeit an fich felbft da® bewegende 
Element feiner Entwidelung. Er beginnt für fi) dad Studium der Mathes 
matif, fucht fi im Zeichnen immer mehr zu vervollfommnen und lernt ohne 
Lehrer die Flöte blafen. 

Während fo fich dem 13-jährigen Knaben ein ſchöner, vielverheißender 
Horizont Öffnet, freilich mit der traurigen Gewißheit, daß er feinen ſehnlichſten 
Wunſch, zu ftudiren, niemals wird erfüllen fönnen, wird das Leben zu Haufe 
ein immer drüdendered, Der Vater ift durh den Trunf moralifch tief ge— 
funfen, die Familie verarmt gänzlich, trog Fleiß und Sparfamfeit der Mutter, 
die beiden jüngiten Geſchwiſter erliegen in einer Woche einer herrſchenden 
Podenepidemie. In all diefem Elend, neben dem an Charafter-Schwäche 
untergebenden Vater, tritt und nur eine Richtgeftalt entgegen: Die Mutter. 
Die Mutter ift e8, die dem Sohne die dürftige Kindheit erhellt, die ihn auf- 
muntert und anfpornt in feinem Streben nad Kenntniſſen, die den Kindern 
auch in bitterer Armuth durch aufopfernden Fleiß, durch liebliche Erzählungen 
und Kieder das Chriftfeft zum fchönften Tag des Jahres weiht, die den Sohn 
auszuſöhnen fucht mit feiner dur die Noth gebotenen KXebenäftellung als 
Goldſchmied-Lehrling. Und wenn fpäter, da der Gelehrte auf der Höhe feines 
Wirkens fteht, die Frage und nahe tritt: Warum Hält der Naturforfcher fi 
fern von jener Richtung, die unter dem Einfluß von Voltaire und Roufjeau 
und auf Grund eben der Naturwiſſenſchaften die Rückkehr erftrebt zur Natur, 
die den Bruch mit der Gultur und ftatt der chriftlichen dee die natürliche 
Bernunft auf ihre Fahne ſchreibt? Warum bleibt der Fünftlerifch begabte 
Geiſt, der jeden neugebotenen Stoff fi fo fruchtbringend anzueignen weiß, 
unberührt von der Sturm» und Drangperiode unferer Literatur, die, fih an- 
lebnend an die neue Philojophie, alles bisher Gültige niederzureigen ftrebt? 
Dann haben wir wohl zur Erklärung den fehr natürlichen Widerftand des 
Autodidaften, der ſich das nicht nehmen läßt, was er felbft fih jo mühſam 
erjt erwerben mußte, während e8 anderen leicht entgegengebracht worden; aber 
es taucht doch dabei immer wieder die Geftalt der Dlutter auf, die dem Kinde 


54 


fromme Lieder fingt und ihn lehrt, die Welt anzufhauen im Sinne des 
Wortes, das er fpäter fo gerne gebraucht: „Groß find die Werke de Herrn ! 
Mer ihrer achtet, hat eitel Luſt daran.” 

Es bietet einen eigenthümlichen Reiz, diefem Werden des Charafterd, diefem 
Emporfteigen des Wiffend zu folgen, dad von Stufe zu Stufe, über die wider: 
wärtigften Hindernifje zu freier wifjenfchaftlicher Arbeit und Forfhung drängt. 

Als Goldarbeiter fommt der Züngling zu feinem Onkel nad) Berlin und 
wiederholt franzöfifche VBocabeln, während er in der dunfeln Küche mit unzu- 
reihendem Werkzeug die Handgriffe feiner Kunft lernt und zugleich das bro- 
delnde Mittagseſſen auf dem Kochherde überwahen muß. Sonntagd auf 
dem Hausboden, wo fein Bett und feine Kiſte neben dem auffteigenden 
Schornjtein ftehen, mo auf der einen Seite die Brennmaterialien ded Haus— 
halted liegen, auf der andern naſſe Wäfche zum Trocknen hängt, treibt er 
Algebra, Logik, Gefchichte. 

Hören wir, was er von feiner damaligen Rage erzählt: 

„Unterdeffen rüdte der Winter heran und mit ihm neue Plage. Noch 
immer war idy Lehrburſche, Hausknecht, Bedienter, Dienftmädchen, Küchen» 
magd in einer Perfon. Als nun die Tage kalt wurden, Eonnte ich nicht 
mehr auf meinem lieben Boden fihen und verlor damit meine Sonntagder- 
bolungen ; zudem mußte ich jest auch die Defen heizen und Abends vorher 
mir das Holz dazu beforgen und Klein baden, ſowie den Torf und die Koh. 
len berbeifchleppen. Ich durfte des Abends Fein Licht auf den Boden nehmen, 
fondern mußte mid im Finftern an» und auskleiden. Das hätte wenig ger 
ſchadet, aber ich fehlief nicht viel beffer ald im Freien. Wenn es ſchneite, 
mußte id den Schnee von Kopfkiffen und Dedbette abſchütteln; bei ftarfer 
Kälte fror das Bette vor meinem Munde fteif. Dad Schlimmite aber waren die 
Zeiten, wo der ganze Boden voll naffer Wäfche hing, durch welche ich mich im 
Finftern oft kaum hindurch finden konnte und dann während ded Schlafes 
von ihr rings dicht umgeben war. Bei naffer Witterung hing die Wäfche oft 
wochenlang, ehe fie trodnete, und fo lange hatte ich die Bein, fo zu ſchlafen.“ 

Wahrlich, e8 gehört eine ungewöhnliche Ausdauer, ein unerfchütterlicher 
Lebensmuth dazu, aus ſolchen Verhältniffen fi empor zu arbeiten | 

Mir folgen ihm in feinem Studium der franzöfifhen und italienifchen 
Sprade und Geometrie; in allen diefen Fächern, die er nur in den fehr 
fnapp gebotenen Mußeftunden üben darf, kommt er rüftig vorwärtd. Dann 
thut er, durch feine Gefchiclichkeit im Zeichnen ermuthigt, den erften Schritt 
zur Verbefferung feiner Yage und wird Graveur. Bon da an geht e& ftetig 
vorwärts: der Graveur wird Schrift- und Kupferftecher, und diefe Beſchäftigung 
führt ihn zu dem Fach, in dem er jo Großes leiften und Ruhm und Ehre 
gewinnen follte, zum Stechen geographijcher Karten. 


55 


Set lieſt es fich glatt meiter, das fchöne, fo reichlich verdiente Vorwärts— 
fommen, wie Klöden fi durch Mufikunterricht befjern Berdienft erwirbt, wie 
er Freunde findet, die fein Streben fördern. Seine forgfältigen geographifchen 
Pläne führen zur Verbindung mit der Schropp’'ihen Buchhandlung und 
machen feinen Namen ſchon befannt; er heirathet, wird Kehrer am Plamann- 
ſchen SInftitut und mit der Begeifterung für die Sache des Vaterlandes, die 
Befreiung vom wälſchen Joche, für die auch er thätig wirkt, fteigt fein Ruhm 
glänzend empor, weit über die Grenzen ſeines Baterlanded. Da er jhon 
Familienvater ift, erreicht er endlich die Erfüllung feines Herzenswunſches und 
fann ſich auf der Univerfität ald Student in die Negifter aufnehmen lafjen. 

Und wenn wir ihn jest auf feiner ſchönen Zaufbahn weiter folgen, ihn 
geehrt und ausgezeichnet ſehn von wiſſenſchaftlichen Größen, geliebt von den 
Freunden und in der ehrenvollen Stellung, fein allſeitiges Wiſſen für eine 
neue , babnbrechende Stiftung der Jugenderziehung zu verwerthen, da müſſen 
wir wohl mit einftimmen in das Staunen ded Schwiegervaterd, von dem 
Klöden mit Behagen erzählt: „Er hatte feine Tochter einem Graveur gegeben, 
und nun follte fie mit einem Mal die Frau eined Seminardireftord fein.” 

Was von da an Klöden ald Lehrer und Bildner der Jugend gewirkt, 
da® darf niemald vergeffen werden. Er war einer der Erften, der die Er: 
fenntniß, daß nicht auf dem Studium der alten Sprachen allein, fondern 
hauptiählih auf dem lebendigen Erfaffen und Verftehn der Natur die höhere 
Volksbildung fußen muß, zur praftifchen Ausführung brachte. Er war für 
Preußen der Gründer der Nealfchule, der erſte Pädagog, der den erzieherifchen 
Einfluß der eraften Wiſſenſchaften richtig erkannte. Und wie der 14 jährige 
Knabe einft das tieffinnige Geheimniß der Dreieinigfeit fi) und Andern durch 
die fiht- und greifbare Anjhauung des Dreiecks und feiner Gefege klar zu 
machen ſuchte, fo iſt des Lehrers Grundſatz, daß nur die Anfchauung, die 
richtige Erfafjung des Gegebenen den Lehrſtoff zum geiftigen Eigenthum des 
Schülers machen fann, und fo vertritt auch noch in fpätern Jahren in der 
anfhaulihen Vergleihung mit einem halb verwifchten Delgemälde der Ge- 
ſchichtsſchreiber Klöden die Berechtigung der Geſchichtsforſchung, verwiſchte 
Linien zu ergänzen, verblaßte Farben wieder aufzufrifchen. 

So tritt und der Mann entgegen, der dem Geifte feiner Zeit eine neue 
Richtung geben half und doch durchaus aud ein Kind diefer Zeit war; denn 
wenn ed wahr ift, daß nur ein ungewöhnlich ftarfer Charakter fich durch die 
traurigen Hemmnifje zu feiner jhönen Reife entwideln Fonnte, fo ift e8 doch 
niht minder wahr, daß gerade diefe widrigen Verhältniffe und die daraus 
entfpringende Nothwendigkelt, alle Kraft zu entwideln in ihrer Bekämpfung, 
den Charakter zu dem gemacht, was er gemorden. 

Dem Herausgeber aber fagen wir unfern Danf, daß er ein Buch, das 


biöher nur werthvoller Familtenbefig geweſen, der Deffentlichkeit übergeben und 
mit pietätvollen Worten begleitet hat. Haben wir doch aus dem Werf Fennen 
gelernt, den fennen zu lernen immer wieder erfreut, fei ed nun, daß er und 
perfönlih im Wirklichkeit oder aus vergilbten Blättern entgegentritt: Einen 
tüchtigen Menfchen und ganzen Mann. 

Dieje Zeilen gehen hinaus Angeſichts des Jubeltages, an dem Klöden's 
bedeutendfted Werk, die Friedrichs-Werder'ſche Gewerbſchule in Berlin ihr 
fünfzigjähriges Beftehen feiert. Möchte diefer Tag dazu beitragen den „Jugend— 
erinnerungen“ des theuren Mannes, die der Enkel mit einem Umriß feiner 
fpäteren Tage ergänzt hat, die danfbare Aufmerkjamfeit des Vaterlandes zu: 
jumenden. B. 


sin WMuſtexſtück bonaparkiſtiſcher Propaganda in 
Frankreid). 


Paris, 27. Sept. 


Der Bonapartiömus ift in Frankreich wieder eine Macht gemorben. 
Zum Verftändniß diefer Erjcheinung wird die Mittheilung des folgenden 
Schriftitüds beitragen, dem eine äußerft geſchickte Mache nicht abzufprechen 
ift und welches außerdem, was die Frage nad) der Schuld des franzöfifchen 
Volkes am Krieg gegen Deutjchland betrifft, ebenſo überſichtlich als wahr: 
heitögetreu ein ſchätzbares Material zufammenftellt. In diefer doppelten Ber 
ziehung hoffen wir durch das Intereſſe des Leferd für die mechanijche Arbeit 
der Ueberfegung des umfangreihen Schriftſtücks entſchädigt zu werden. 

Dasſelbe ift am 26. Sept. d. J. im „Drdre“ erfchienen, dem bonopar: 
tiſtiſchen Hebblatt von Paris, dad zwar wenig Abonnenten, aber fehr viele 
Leſer zählt, da es mit reichen Mitteln aus dem Chislehurſter Preßfond ver: 
fehen, in großen Mafjen umſonſt colportirt und ausgetheilt wird. Nament- 
lich gejchieht da8 mit Nummern, wie die vorliegende, welche befonderd mid) 
tige Artikel enthalten. Der politifhe Direktor des Blattes ift ein bonapar- 
tiſtiſches Blaublut, der befannte Herr Vagué de la Fauconnerie. Er bat aud 
dag fragliche Schriftitük verfaßt, um ſich durch dasfelbe den Weg zu einem 
Sig im Confeil General des Cantons de Nocd (Orne) zu bahnen bezw. feinen 
republifanifchen Gegencandidaten zu vernichten. Deshalb trägt es auch den 
Charakter eined „Offenen Briefe” an den Ießteren. Diefer „offene Brief“ 
lautet: 





Mein Herr! 

Sch meiß, daß man, um meine imperialiftifhe Candidatur zu be- 
kämpfen, die Ihrer republikaniſchen gegenüberfteht, in unferem Lande 
wieder alle jene Berläumdungen und Rügen audzubreiten begonnen hat, welche 
bemweifen follen, daß das Kaiferreich die Urfache all unfrer Niederlagen fei. 
Deshalb Halte ich es für meine Pflicht, Ihnen gegenüber Eurz feitzuftellen : 

1. dag nicht das Kaiferreih den Krieg gewollt hat. 

2. dag niht das Kaiferreih die Schuld trägt, wenn wir 
nicht bereit waren. 

3. daß man niht dad Kaiferreih für den Berluft zweier 
Provinzen und die außerordentlihden Summen, die und der 
Krieg gefoftet, verantwortlih machen kann. 

4. daß Sedan der edelfte Akt des Lebens Napoleon's II ift. 

Ich habe die Ehre, Ihnen diefe Notiz zu überfenden, indem ich Sie bitte, 
diefelbe mit forgfältigfter Aufmerfamkeit zu Iefen. Wie Sie leſen werben, 
bringe ich nicht Worte, fondern Thatfachen zum Beweis. Nun, ich fordere 
Sie auf, die Wahrheit einer einzigen diefer Thatfachen zu beftreiten und biete 
Ihnen in diefer Hinfiht eine Wette von 25000 Franks gegen 25000 
Sous zum Beiten der Armen ded Cantons. Und nit nur Ihnen, 
fondern allen franzöfifchen Republifanern biete ich diefe Wette. Empfangen 
Ste, mein Herr, die Verfiherung meiner Hochachtung. 

Vagué de la Fauconnerie. 

Dieſen offnen Brief — die durchſchoſſen gefesten Worte find im „Drdre” 
mit Riefenlettern gedrudt — hat der Verfaſſer folgende auch ald Brofchüre 
für die Wähler gedruckte Abhandlung beigefügt: 

j An meine Wähler! 

Man hat gewagt, Euch zu fagen, daß das Kaiferreich den Krieg gewollt 
habe. Ich antworte: das ift eine Rüge! Nein, das mar nicht der Kaifer, 
denn er hat fi von Drouyn de Lhuys, feinem alten Minifter getrennt, weil 
diefer den Krieg wollte. Dad war nicht der Kaifer, denn einige Zeit, bevor 
der Krieg audbrah, hat er Preußen eine gegenfeitige Entwaffnung vorge: 
ihlagen. Das war nicht der Kaifer, denn in feiner Nede an den Bräfidenten 
ded Geſetzgebenden Körperd hat er im Moment feined Abgangs zum Heer 
gefagt: „Wir haben Alles gethan, was von und abhing, um den Krieg zu 
vermeiden, und id; kann fagen: es ift die gefammte Nation, melde in 
ihrem unmwiderftehlihen Elan unferen Entſchluß dictirt hat. 

Anderfeitd braucht Ihr, um zu willen, was in diefer Hinficht die öffent- 
ide Meinung mar, nur einen Bli auf die Zeitungen, felbit auf die dem 
Kaiferreich abgeneigteften, zu werfen. | 


Die „Liberté“ 3.8. fagte: „Wir haben feit einigen Tagen nicht ab» 
Grenzboten IV. 1574, , 8 


58 


gelaffen, den Krieg zu fordern. Und aus unferer Seele heraus und des Ge- 
wifjend wegen erklären wir, daß wir dabei der Pflicht gehorchten, welche die 
MWürde und die Ehre Frankreichs vorſchrieb!“ — 

Die „Preffe* fagte: „Die Kriegärufe, welche geftern auf unfern Boule- 
vard® ertönten, erfüllen jest ganz Frankreich und unterftügen unfere Armee 
in dem Heldenfampf, zu welchem die Frechheit Preußend und heraugfordert. 
Der Entfhluß zum Krieg geht niht von der Regierung auß, 
er entftammt den Eingemweiden ded Landes!“ 

Der „Univers“ (da8 Elerifal-Tegitimiftiihe KHauptblatt Frankreichs) 
fagte: „Der Krieg, in den wir eintreten, ift für Frankreich weder das Werk 
einer Partei, noch ein ibm von der Regierung auferlegted Aben— 
teuer: die Nation gibt fih ihm hin mit vollem Herzen!“ 

Der „Soir” fagte: „Nicht der Katjer Napoleon III. hat den gegen- 
wärtigen Krieg erklärt, wir find e®, die feine Hand genöthigt 
haben!“ — 

Molt Ihr noch einen andern Beweis dafür, daß die Regierung nur 
dem allgemeinen Gefühl folgte, das ſich aufs deutlichite Fundgab? hr 
folt es haben! Hier, was der englifche Gefandte an feine Regierung 
fchreibt: „Die Erregung des Publikums und die Gereiztheit des Heeres find 
derart, daß ed immer zweifelhafter wird, ob die Regierung dem Gefchret nach 
Krieg widerftehen Fann. Man fühlt e8, dag man gezwungen fein wird, die 
Ungeduld der Nation zu befhmwichtigen, indem man bündig die Abſicht er— 
Eärt, die Haltung Preußens zu züchtigen.” — 

Wer den Krieg wollte, da® waren die Preußen (?! d. Red.). Sie waren 
bereit und hätten eine Gelegenheit entitehen laffen, gleichviel welche, wenn fie 
ſich ihnen nicht geboten hätte. 

Wer den Krieg wollte, dad waren die Leute der Oppofition, melde um 
jeden Preis einen Vorwand ſuchten, um die Regierung zu fritifiren, und 
welche unaufbörlih, auf den oft blinden Patriotismus der Maffen rechnend, 
um fih populär zu madhen, von der Shmah Sadowas und der 
Nothwendigkeit einer Rache hiefür redeten. 

Mer den Krieg wollte, da® waren die Schreier in Paris, welche die 
Marjeillaife heulten und a Berlin brüllten, ehe fie felbft wußten, worum es 
fih handle! 

Mer den Krieg wollte, dad war, mit einem Wort, alle Welt, und 
wenn Shr Euch davon überzeugen wollt, fo braucht Ihr nur nod einen Blick 
auf die Zeitungen von damals zu werfen, felbft auf die notoriſch der Perſon 
des Kaiferd und feiner Regierung feindlichiten. Der „Rappel“ z. B., das 
Blatt Victor Hugo’d, ded nämlichen, der heute alle Verantwortung für 
unfere Niederlagen auf den Kaifer wälzt, fchrieb, wie folgt: „Die Hohen» 


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zollern find in ihrer Kedbeit fomeit gekommen, daß fie an die Weltherrſchaft 
zu denfen wagen, von der ein Karl V., ein Ludwig XIV., ein Napoleon ver: 
geblidy geträumt haben. E3 genügt ihnen nicht mehr, Deutſchland erobert 
zu baben, fie trachten, Europa zu beherrfhen! Es mird für unfer Beitalter 
eine ewige Schmach fein, daß diefer Plan, wir fagen nicht ausgeführt, nein 
ſchon, daß er überhaupt gefaßt wurde!” 

Der „Soir*, das Blatt ded Herrn About, der heute feine Gelegenheit 
verfäumt, und täglich zu befehimpfen, fchrieb wie folgt: „Wie, man follte 
Preußen geftatten, einen Proconſul an unferer ſpaniſchen Grenze einzufegen ! 
Dann find wir achtunddreißig Millionen Gefangene!“ 

Der „ Gauloid“, der damald der Regierung heftige Oppofition machte, 
ihrieb: „Wenn e8 dem autofratifhen Kaiſerreich gefallen Hat, ſich 
Sadomwa bieten zu laffen und ſich über die Luxemburger Angelegenheit zu 
tröften, fo fann doch das liberale Franfreih nimmer ertragen, daß man 
ihm trogt und es ungeftraft heraudfordert. Die Regierung kann, ohne Frank» 
reich zu verrathen, feinen Tag mehr die preußifchen Unverſchämtheiten 
ertragen.“ 

Der „Figaro“, der niemals einer großen Anhänglichfeit an die Sache 
und die Perfonen de3 Kaiferreih8 angeklagt worden war, fagte: „Frankreich 
kann mehr fordern ald die Zurüdmeifung der Gandidatur des Prinzen von 
SHobenzollern. Es fieht fih von Preußen geprellt, betrogen! Unfere Re 
gierung muß Bürgfchaften fordern und kann auf die Unterftüßung des 
Landes rechnen!“ 

Sin der „Liberte” fohrieb Herr Girardin: „Machen mir ein Ende! 
Preußen wird nur der Furcht weichen! Nehmen wir eine energifhe Stellung 
ein, die einzige, die Frankreich geziemt, und wenn Preußen vermeigert, fich zu 
jchlagen , fo wollen wir ed mit Kolbenfchlägen über den Rhein werfen und 
das linfe Ufer einnehmen!“ 

Der „Univers“ fagte: „Vorwand oder Grund, die Belegen. 
heit ift gut für den Krieg. Frankreich kann nicht zugeben, daß fi 
Preußen noch mehr vergrößere. Um das zu hindern, muß man e8 Fleiner 
machen!” — 

Die fämmtlihen Zeitungen aller Färbungen fprachen fo, und ich zweifle, 
dag man mir auch nur eine nennen kann, die eine andere Sprache geführt 
hätte, von der rötheiten bis zur meißeften. 

Über, meine Herren, e8 gab Einen, der weniger begeiftert war, ala alle 
Welt, Einen, welcher traurig und ahnungsvoll al diefe Großiprechereien und 
Herausforderungen anhörte. Dad war der Kaifer! Obwohl er fich durch 
diefe öffentlihe Meinung, der er nicht widerftehen konnte, geftärft fühlte, 
wußte er Doc nur zu gut, daß Preußen furdtbar gerüftet war und daß 


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deöhalb der Krieg große Gefahren bieten würde. Wer das bezmeifelt, dem 
empfehle ich die forgfame Xectüre der Proclamation des Kaiferd an die Armee: 
„Soldaten, ich tele mid) an Eure Spite, um die Ehre und das Heil des 
Baterlanded zu vertheidigen. hr werdet eine der beften Armeen 
Europas befämpfen. ... Der Krieg, der jest beginnt, wird lang und 
ſchwierig fein. Ganz Frankreich begleitet euch mit feurigen Wünfchen, und 
die Welt richtet die Augen auf eu! Bon unferem Erfolg hängt dad Loos 
der Freiheit und der Givilifation ab! Soldaten, thue jeder feine Pflicht, und 
der Herr der Heerfchaaren wird mit und fein!“ — 

MWahrhaftig, nicht der Kaifer ift e8, der den Krieg gewollt hat! Er 
war damald ſchwer von der Krankheit heimgefuht, die er tragen mußte, er 
wollte und Fonnte nicht? wollen ald den Frieden. Und andererfeitö, man 
ftand hart hinter dem Plebiscit von 1870. Sehr naiv in der That oder 
vielmehr ſehr unverfhämt find alle diejenigen, welche behaupten, der Kaiſer 
habe damals des Preftiged bedurft, das ihm der Sieg hätte verfchaffen können! 
Wie? War denn nicht die Kraft des Kaiferreichd foeben durch mehr ala 
7 Millionen Stimmen, durch Eure Stimmen, meine lieben Freunde, beftätigt 
worden? Und dad fol der Augenblid fein, den Napoleon III. gemählt 
hätte, um fi aus freien Stüden in die Abenteuer eined Kriegd zu flürzen, 
er, der franfe Mann, mie ic Euch eben erinnerte, und während fein Sohn, 
fein inzwifchen zum Mann gereifter Sohn, noch ein Kind war, und während 
er, der Kalfer, wußte, da wir zum Kampf mit Preußen nicht bereit waren! 

Sa, wir waren nicht bereit. 

Und man hat Eudy gejagt, auch daran fei der Kaifer ſchuld. Das ift 
die zweite Rüge. Wenn wir nicht bereit waren, fo liegt der Fehler nicht am 
Kaiſer, welcher, ſchon 1867, in feiner Rede bei Eröffnung der Kammern 
fagte: „Der Einfluß einer Nation hängt von der Anzahl Menfchen ab, die 
fie bewaffnen kann.“ — 

Der Fehler liegt auch nicht an feinen Miniftern. Im Jahr 1868 fagte 
Marſchall Niel, welcher beftändig die DOrganijation der Miobilgarde forderte, 
in der Kammer: „Sch bin überzeugt, daß Sie in Kurzem es bitter beklagen 
werden , diefe Inftitution angetaftet zu haben“, und meiter: „Sie machen 
mir meine Aufgabe unmöglid. Wenn idy die Miffion, die Armee zu reorga- 
nifiren, die mir der Kaifer anvertraute, aufnahm, eine Miffion, deren Erfolg 
ich für gefichert halte, wie können Sie mir die Dinge verweigern, die ich ale 
nothwendig betrachte?“ — Ab, Ihr mwißt, wie diefer arme Marſchall 
vor Kummer ftarb ohne felbit erlangt zu haben, daß man die Mobilgarde 
im Gebrauch der Feuerwaffen und bei den Mandvern übte! Hört weiter, 
was andererfeit® Rouher gejagt hat: „Preußen Fann in gewiflen Wällen 
über eine Million dreimalhunderttaufend Mann verfügen. Ohne Zweifel 


61 


fann Franfreih mit 800,000 guten Soldaten diefer Militärmacht miderftehen, 
aber man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß zwiſchen dem Effektivftand 
auf dem Papier und in der Wirklichkeit bei und ein großer Unterſchied be- 
ſteht.“ 

Endlich hört, was die Abgeordneten der Rechten, wie der Graf La Tour, 
ſagten, indem fie die Oppofition anflehten, die Augen aufzumachen: „Es iſt 
nothwendig, unſere Kräfte zu vermehren und beſtändig auf Preußen zu achten. 
Es verfügt über eine Million dreimalhunderttauſend. Wir müſſen alſo für 
das Geſetz ſtimmen und, um unſere Pflicht als Franzoſen zu thun, dem Lärm 
der Wahlkörper, mit dem uns die Oppoſitionsblätter drohen, die Stirn 
bieten!“ — 

Wer alſo war ſchuld, daß wir nicht bereit waren? Die Republikaner, 
die Abgeordneten der Oppoſition. Ich wollte, ich könnte Euch ihre ganzen 
Reden citiren. Aber es werden auch einige Auszüge hinreichen, um Euch zu 
beweiſen, welche verhängnißvolle Rolle jene Leute geſpielt haben, die heute 
unverſchämt genug find, dad Kaiſerreich des Leichtſinns und der Sorgloſigkeit 
anzuklagen. 


Herr Jules Simon z. B., ein Mann des 4. September, hat gejagt 
— und dad genügt, um all feine Reden zufammenzufaflen —: „Sch hoffe, 
man wird und eine Gerechtigkeit nicht verfagen, die nämlih, daß man und 
jeded Mal, wenn ed galt, den fogenannten bewaffneten Frieden zu organifiren, 
bereit fand, alle Maßregeln zu durchkreuzen, die zu diefem Ziel führen follten.” 

Herr E. Picard, ein Mann des 4. September, fagte: „Man fagt ung, 
ed feien 800,000 Dann nöthig. Seit warn fpriht man in Frankreich diefe 
Sprade. Seit wann darf man öffentlih fagen, daß wir folche Vorfihts- 
maßregeln brauchen, nicht nur um unfere Grenzen zu vertheidigen, fondern 
auch, um unfere Unabhängigkeit zu wahren? Nichts rechtfertigt diefe über- 
triebenen Rüftungen, melde das Land vernichten!" — 


Herr J. Favre, ein Mann de 4. September fagte: „Man verfichert 
und, Frankreich müfje wie feine Nachbarn bemaffnet fein; feine Sicherheit 
hänge davon ab, daß ed befeftigt und bepanzert fet, daß ed in feinen Maga- 
zinen Haufen von Pulver und Kartätfchen habe, daß ed ohne dad Gefahr 
laufe zu verderben. Mein Gewiſſen protejtirt gegen foldhe Vorlagen. Was 
fürdhtet man denn? Denken denn die 40 Milltonen Deutichen daran, und 
anzugreifen? Warum führt man beftändig vor der Kammer died Phantom 
Ipazieren, welches zu nichts führt und das Land ruinirt.“ 


Herr Garnier Pages, ein Mann des 4. September fagte in feiner 
Erwiderung auf die Botſchaft des Kaiferd, melde die Drganifation der 
Armee begehrte: „Der Einfluß einer Nation hängt von ihren Grundfäten 


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ab. Die Armeen, die Flüffe, die Gebirge, die Feftungen, ihre Zeit ift vorbei! 
Die wahre Grenze ift der Patriotismus!“ 

Herr Magnin, ein Mann des 4. September, fagte: Die ftehönden 
Heere find in der Theorie gerichtet und verurtheilt. Die Zufunft gehört der 
bewaffneten Demokratie. Das Geſetz, das und vorliegt, hat nur die Abſicht 
und wird auch feinen anderen Erfolg haben, als unfere Kraft noch zu ver 
mehren und unfere Finanzen zu fchwächen. Sich weiſe das Geſetz zurück, meil 
ed die Nation überbürdet, weil es amtidemofratifh, weil es gegen die 
„Gleichheit“ (antiegalitaire) ift.“ 

Herr v. Keratry, dedgleihen ein Mann ded 4. September fagte 
einige Tage vor Eröffnung der Kammern bezüglich der Linie: „Der Minifter 
fordert no died Jahr 400,000 Mann, welche 370 Millionen koſten werden. 
Das tft zu vie. Warum eine fo große Armee? Offenbar im Hinblid auf 
den Norddeutihen Bund. Nun, das Heer diefed Bundes, das preußiſche in- 
begriffen, beziffert fih nur auf 299,000 Dann und Eoftet faum 254 Dlillion, 
das find 100,000 Mann und 116 Million weniger ala bei und, Wlan bat 
die Refrutenzahl unferes Heered von 100,000 auf 90,000 Mann berabgefett ; 
dad genügt niht. Man muß fie auf 80,000 herabfegen, um zum normalen 
Gontingent von früher zu gelangen.“ 

Endlih Herr Thierd, der doch feitdem ſchon ald Prophet gilt, hat 
gefagt: „Man zeigte Ihnen letter Tage die Ziffern 1,200,000. 1,300,000, 
1,500,000. Soviel Mann könnten die einzelnen Mächte unter die Waffen 
bringen. Nun, diefe Ziffern find völlig chimäriſch. Preußen würde und nad) 
dem Herrn Staatdminifter 1,300,000 Mann entgegenftellen. Aber ich frage, 
wo hat man diefe furchtbaren Streitkräfte geſehen? Wieviel Mann hat 
Preußen 1866 nah Böhmen geworfen? Etwa 300,000 Mann. Man darf 
fih auf dieſe Phantafiegebilde von Zahlen nicht verlaffen. Das find Fabeln, 
welche nie einen Schein von Wirklichkeit hatten. (Großer Beifall.) Alſo fei 
man verfichert, daß unfere Armee genügen wird, den Weind aufzuhalten. 
Hinter ihr wird das Land Zeit haben, ruhig feine Reſerven zu fammeln. 
MWerden Sie nicht immer 2 oder 3 Monate, d. h. mehr als nöthig fein wird, 
Zeit haben, die mobile Nationalgarde zu organifiren, und fo den Eifer der 
Bevölkerung zu benugen? Außerdem werden die Freimilligen zuftrömen. Sie 
haben lange nicht genug Vertrauen zum Lande!” — 

Nun meine Freunde, ich denfe das genügt, um zu zeigen, wer und 
eigentlich gehindert hat bereit zu fein, und daß das ficher nicht die Negierung 
war; denn fie hat, unaufhörli auf die Gefahren hingewieſen, und Ber- 
beflerungen begehrt, während die Oppofition ebenjo unaufhörlich blind war, 
und Alles verweigerte, was zur Reorganifation der Armee dienen konnte. 

Drittens fagt man Euch, den Kaifer müfje auch die Verantwortlichkeit 


63 


treffen für den Verluſt der zwei Provinzen, und der riefigen Summen, die und 
der Krieg gefoftet hat. Das ift noch jo eine elende Verleumdung. Am 
4. September 1870 war nichts verloren; wir Eonnten mit 2 Milliarden 
Kriegdentfhädigung davon fommen, dad erhellt aus officiellen Schriftitüden, 
und namentlich au der Ausſage ded Herrn Thierd vor der Unterſuchungs— 
commiffion. Nachſtehend, was er in der That am 30. Detober 1870 den 
Regterungdmännern der nationalen Vertheidigung gefagt hat: „Wenn ih 
Ihnen einen Rath geben fol, fo nehmen Sie den Waffenitillitand, felbit ohne 
Neuverproviantirung an, um eine Afjemblee in Fürzefter Frift einberufen zu 
fönnen und, mit Hülfe derfelben, zu Friedendunterhandlungen zu gelangen. 
Sch glaube nicht, daß die Lage ded Landes und der Armeen derartig fei, daß 
die Fortjegung ded Kampfes zu einem guten Ende führte Heute würde 
Ihnen der Friede das Elſaß und 2 Milliarden Eoften, Später, ganz abgejehen 
von den Uebeln und den Leiden des Krieged, Elſaß, Lothringen und 
5 Milliarden. (Enquöte parlamentaire sur les actes du gouvernement de 
la defense nationale. Rapport Daru p. 271.) Und am 20. November er- 
neuerte Herr Thierd die nämliche Erklärung, indem er zu Herrn Jules Favre 
fagte: „Heute glaube ih, daß wir den Frieden zu folgenden Bedingungen 
erlangen: das Elfaß und 2 Milliarden. Später werden wir neue und be 
trächtlichere Werlufte erleiden. Die Deutfchen werden gewiß das Elſaß, 
Lothringen und 5 Milliarden verlangen. Unter diefen Umftänden halte ich 
es für beffer, den Frieden jest anzunehmen.“ (Deposition du general Ducrot 
p. 12.) 

„Um diefen Preis hat man die Narrheiten Jules Favre's, Jules Simon's 
und Underer bezahlt, welche das SKaiferreich in den Krieg trieben, nachdem 
fie die Entwaffnung des Landes durchgefegt hatten. So paßte e8 dem Herrn 
Gambetta und feinen Mitfchuldigen in den Kram, welche vor Allem nad) der 
Macht ftrebten, und dann aud den Krieg verlängerten, aber ſich fern von 
den Schlachtfeldern hielten, weil fie wohl wußten, daß all das nur unfere 
Leiden und Niederlagen vermehren müſſe. Deshalb Haben fie Eure Kinder 
auf die Schlachtbank geſchickt mit Sohlen aus Rappdedeln, mit Mänteln aus 
Fliespapier, und mit Gewehren ohne Schlöffer, während fie felbit in den 
Präfecturen ſich's wohl fein ließen. Das ift die Wahrheit der Gefchichte, 
und diefe Gefchichte, Ihr kennt fie fo gut wie ich felbit, Ihr habt fie gefehen, 
Ihr habt darunter gelitten, ift die republicanifche Geſchichte! 


„Endlih wagt man Euch zu fagen, der Kaifer fei bei Sedan feige ge: 
weſen. Um diefe elende und gehälfige Erfindung zurückzuweiſen, beſchränke 
ih mich darauf, bier eine Stelle aus der volfäthümlichen Brofchüre des Herrn 
Perron wiederzugeben, welche den Titel trägt: „Das haben fie gelogen!” Es 


64 


find Thatfahen und nicht Worte, welche man den Verleumdungen Napo— 
leon's III. entgegenfest: 

„Trotz der inftändigften Bitten mehrerer Generale fi zu entfernen, 
wollte der Kaifer das Loos feiner Armee theilen, mit ihr fiegen oder ſter— 
ben. Er begnügte fi, feinen Sohn abreifen zu laflen, damit wenn er felbit 
fiele, Frankreich fih no um den Sproffen der einzigen Dynaftie, meldhe 
populär geblieben ſei, fammeln Fönne. So lange diefer ſchändliche Kampf 
währte, blieb der Kaifer inmitten feiner Soldaten, mit Wort und Beifpiel 
fie ermuthigend, und mie Napoleon I. bei Waterloo vergeblih die Kugel 
begehrend, die ihm geftatte, feine Niederlage nicht zu überleben. Man frage 
die Dfficiere und Soldaten, welche diefen blutigen Tag mitgemacht, alle mwer- 
den bezeugen, daß der Kaifer beftändig in der dringenditen Gefahr war, und 
dem Tod mit jenem falten ruhigen Muth troßte, den er bei Magenta, Sol. 
ferino und vor den Kugeln, Bomben und Dolchen der Mörder gezeigt hatte. 
Mehrere feiner Adjudanten wurden an feiner Seite verwundet, er war fogar 
genöthigt in einem Augenblid, al® der Kartätfchenhagel rings um ibn ber 
die wildeiten Verheerungen anrichtete, den Dfficieren feined Gefolgeö zu be- 
fehlen, Hinter einer Terrainfpalte Schuß zu fuchen, während er felbit allein 
blieb, zu Pferde, inmitten dieſes eifernen Hageld. Zeugen hierfür giebt es 
im Ueberfluß, nennen wir zuerft den tapfern und treuen General Pajot, den 
Flügeladjudanten des Kaifers, der den ganzen Tag feinen Augenblick von 
feiner Seite wid. Er erzählt: „Ed war um 5 Uhr früh, ald der erfte An— 
griff von Bazeille ftattfand. Unter dem Feuer des Feindes kam der Kaifer 
inmitten jener ſchönen Divifion Marineinfanterie an, welche der General 
Bafjoigne befehligte. Der Kampf war lebhaft, denn die preußifche Garde (!) 
und ein bairiſches Corps waren darauf verfeflen, dad Dorf zu nehmen. Der 
Kaijer mochte Stunde gemeilt haben. Als er fah, daß die Geſchoſſe von 
allen Seiten heranflogen, befahl er den Officieren, die ihn begleiteten, bei 
einem Jägerbataillon zu bleiben, das Hinter einer Mauer Deckung gefucht 
hatte und den Augenblid erwartete, mo es in den Kampf eintreten follte. — 
Der Kaifer ging dann ohne Begleitung, weil er felbit die Stellungen ſehen 
wollte, noch weiter vor, und von feinem Flügeladjudanten, d. h. von mir, 
dem Capitain Hendecourt ald Ordonnanzofficier (er fiel), dem erften Stall- 
meifter Davillierd, und dem Dr. Corvifart gefolgt. Dann begab fi Seine 
Majeftät auf eine Höhe, wo die Batterien ded Kommandanten Saint-Aulaire 
waren und blieb dort faft eine Stunde inmitten eined Hagels feindlicher Ge— 
ſchoſſe. — 

„Gehen wir nun zu Zeugniffen von Männern über, welche dem Kaifer: 
reih nicht im mindeften gewogen waren. Ein höherer Officter, der bei Sedan 
verwundet nourde, fehrieb an einen Freund folgende im „Journal de Geneve“ 


65 


veröffentlichte Zeilen: „Ich liebe den Kaiſer nicht, aber noch weniger die Ver- 
läumdung. Gr bat fih tapfer gezeigt und wenn er nicht getödtet wurde, fo 
bat ihm doch menigftend die Luſt dazu nicht gefehlt. Unfere Anführer waren 
ungefchieft, unfere Soldaten Narren und zügello®, aber feige mar Niemand, 
Ich fage das mit Nahdruf zur Ehre Frankreichs. Man dient feiner guten 
Sache dur Lügen. Sedan ift ein Fehler, ein großes Unglüd, aber nie eine 
Schande! Sagen Sie da® überall und Jedermann!“ — 

Diefem Zeugniß, das man nicht wird abweiſen Fünnen, fügen wir noch 
dasjenige der Kournaliften bei, welche das Heer begleiteten. Der Berichter- 
ftatter de8 „Temps“ fehrieb: „Der Kaifer hat fterben wollen. Diefe That- 
ſache fteht jest feit. Der Tod ging an ihm vorüber wie bei Met auf dem 
Feld von Mont-Saint-ean, ald die Kanonenkugeln, die er herbeirief, darauf 
beitanden , ihn zu verſchonen.“ 

Der Berichterftatter der „ Times“ erzählt, daß in der Schladht von 
Sedan „der Kaiſer den größten Muth bewies. Vergeben? fuchte er den Tod. 
Eine Kugel fiel unter den Füßen feined Pferdes nieder“. 

Das Amtsblatt von Berlin vom 8. September jagt, „der Kaiſer 
babe fih nach dem Bericht von Augenzeugen in der Schladht bei Sedan in 
ſolchem Mape ausgefest, dag feine Abficht, ſich tödten zu lalfen, in die 
Augen fprang.* 

Endlih in dem Brief des deutjchen Berichterftatterd des „Standard“ 
lefen wir: „Die Oppofition erklärte, die Sapitulation von Sedan fei ein Akt 
der Feigheit des Kaiferd gemweien, und diefe Züge, ohne Prüfung angenommen, 
wurde eine der Grundlagen der neuen Republik. Indeſſen weiß heute Jeder: 
mann, daß den Kaiſer an diefem fehredlichen Tage, an welchem feine ganze 
Macht zufammenbrad, fein kalter Muth nie verlaflen hat. Mehrere Stunden 
lang bat er fi dem heftigiten Feuer ausgeſetzt und dem Tode angeboten. 
Alerdingd wollte er fein Selbitmörder fein, das ift die leichte Zuflucht hoch— 
müthiger Egoiften, aber wenn er fagte: „Ich Eonnte den Tod an der Spibe 
meiner Soldaten nicht finden“, jo hat er einfach die Wahrheit geſagt.“ — 

In Sahen der Tapferkeit fennen wir feinen beijeren Richter als den 
franzöfiihen Soldaten. Ein Sergent nun der Vierundfiebziger erzählt: „Als 
die Schlacht am tolliten war, bemerkte der Kaifer eine Mitrailleufenbatterie, 
auf welche die Preußen einen Regen von Geſchoſſen fallen liegen. Die Be 
dienungdmannfchaft war getödtet oder verwundet, und durch Soldaten aller 
Waffen erfeht. Der Kaifer näherte fi, ftieg von Pferde, befehligte das 
Manöver und richtete felbft eines der Stüde, indem er fagte: „Muth, Kinder, 
noch eine Anftrengung, e8 gilt für Frankreich!" Das ſah ih, das hörte ich, 
denn ich war dabei.” — 


Die nämlihe Thatſache ift durch das Zeugniß des ande Obriſten 
Grenzboten IV. 1574, 


Forbes beftätigt, der den ganzen Feldzug mitmadhte: „Mit feiner ganzen 
Armee in diefe Maufefalle von Sedan gerathen, bemwahrte der Kaifer jene 
ruhige Unerfchrodenheit, welche ihn mährend des ganzen Kampfes nicht ver- 
laffen hatte.” 

Der Gorrefpondent de „Temps“ erzählt folgende Thatſache: „ALS er 
bei unferem Cafe vorüberfam, mar eine Granate zwei Schritt vor feinem 
Pferd geplagt. Keine Muskel diefer abfonderlihen Maske hatte fich bemegt. 
Gr begnügte fi, mit einer Handbewegung die Zurufe abzumeifen, welche ihn 
noch empfingen.“ 

Eine ähnliche Thatfahe wird von einem Zeugen im „Paris⸗-Jour— 
nal“ erzählt: „Der Mann, welcher einft Napoleon III. war, faß auf einem 
Feldftuhl und redete mit feinen Offieieren. Gine Bombe fiel an ihrer Seite 
und mifchte fich in dad Geſpräch. Die Offieiere machten unmillfürlih einen 
Schritt zurück. Der andre verzog Feine Miene und fette ruhig die Unter- 
haltung fort.“ 

Die Kunft hat die ruhige Geftalt des erften Napoleon unfterblich gemacht, 
wie er mit feinem Ferngla® fortfährt, die Bewegungen ded Feindes zu 
beobachten, während gerade eine Granate zwifchen den Beinen feined Pferdes 
plagt und ihn in Eifen und Rauch einhüllt. In ähnlicher Qage hat ſich der 
Neffe des Oheims würdig gezeigt. Weshalb hat man fie fo verfchteden be - 
urtheilt? Deahalb, weil der Eine bereit? in der Hand der Gejchichte d. h. der 
Wahrheit ift, während der Andere fi noch in den Händen deren befindet, die 
ein Sintereffe daran haben, ihn zu verleumden. Zum Glüd geht ihr Reich 
zu Ende und das der Wahrheit wird bald beginnen. Wenn je eine Anklage 
Napoleon III. hätte verfchonen follen, fo gewiß doch die, dag ihm der Muth 
gefehlt habe. Die Störer der öffentlichen Ordnung wiſſen das befjer. Alle 
ftimmten darin überein, daß, fo lange er die Macht habe, eine Revolution 
unmöglich fei, weil er fich lieber würde tödten laflen, ald vom Plate zu weichen. 
Ihre Herrfchaft und die der Commune fonnten fi erft nad) feinem Sturze 
aufthun. Wer weiß nicht, mit welcher Gemüthsruhe er die Riftolenfchüffe 
Pianori's und die fchredliche Erplofion der Bomben Orſini's aufnahm! Weit 
entfernt, die Gefahr zu fliehen, bot ex ihr vielmehr die Stirne mit jener 
ftolzen Beratung, die feine Umgebung zittern machte. Und wenn feine 
Freunde verfuchten, ihn zur Vorſicht aufzufordern, fo antwortete er bloß: 
„Seid ruhig! Ich bin nur ein Werkzeug in der Hand der Vorfehung. Hält 
fie mich für nüglich zur Erfüllung ihrer Abfihten, fo wird fie mich zu er- 
halten willen. Ich werde fallen an dem Tage, an dem meine Aufgabe erfüllt 
fein wird. Und was liegt dann daran?* Und doch iſt das der Mann, 
den die... . der angeblichen nationalen Bertheidigung den „Feigling von 
Sedan“ zu nennen gewagt haben! Was hätte wohl an feinem Pla& der 


67 


Bürger Favre gethan, der nur dem Feind ind Geficht zu weinen verftand, 
oder der tapfere J. Simon, der feine Söhne in den Bureaud veritedte, 
während er die anderer Leute ind euer fchickte, oder der Generaliffimug 
Gambetta, der fi aus Orleans rettete, ala er hörte, daß man fich fchlug, 
oder der unerfchrodene Rochefort, der bei einer Beerdigung die Farbe verliert, 
oder all die Negierenden deö 4. September, welche dem Aufitand nichts ala 
die Flucht entgegenzufegen hatten, oder al die feigen Wufitachler zu den 
Berbrechen der Commune, die ind Ausland flohen und ihre Opfer der Strenge 
des Geſetzes überließen! Seit wann hat die Feigheit dad Recht, die Tapfer- 
feit zu befchimpfen ? 

Alles, was Ihr jet gelefen habt, ift es nicht Elar, in die Augen fpringend, 
und genügt ed nicht, ein für allemal die Unverfhämtheit der Republikaner 
zu zeigen? Es wäre mir leicht, mit Aftenftücen in der Hand, nachzuweiſen, 
was die Republik von jeher gewefen, wie fie immer, wenn fie die Regierung 
hatte, nur den Ränkeſchmieden und Schreiern genügt hat, wie die Öffentlichen 
Fonda z. B., welche der Gradmefjer des öffentlichen Vertrauens find, immer 
gefallen find, wenn die Republik in Flor war, und geftiegen, wenn fie ab- 
nahm, und wie endlih, wenn die Gefchäfte in unferen Randgemeinden bie 
jegt noch nicht allzufehr beunruhigt find, daran zunächſt der Umftand ſchuld 
ift, daß der Krieg beträchtliche Lücken riß, die jegt auszufüllen find, vor allem 
aber der andere, daß wir ja in der That die Nepublif nur dem Namen nad 
haben und von Männern regiert werden, welche, um mit Herrn von Mac: 
Mahon anzufangen, niemald ald Republikaner befannt gemwejen find! 

Uber darum handelt es fich gar nicht. Ich wollte nur bemeifen: 1) Daß 
es eine Rüge ift zu fagen, der Kaifer habe den Krieg gewollt. — 2) Daß es 
eine zweite Rüge ift, zu fagen, der Kaiſer trage die Schuld, wenn wir nicht 
bereit waren. — 3) Daß es eine dritte Rüge ift zu behaupten, der Kaifer 
babe Elſaß, Kothringen und unfere Milliarden verloren. — 4) Daß e8 endlich 
eine vierte Rüge ift, zu fagen, der Kaifer habe, als er bei Sedan feinen Degen 
dem König von Preußen übergab, um das Leben von 80,000 Soldaten zu 
fchonen, welche fonft verloren geweſen wären, nicht eine große und gute That 
vollbracht. — Treu der Verpflichtung, die ich Eingangs auf mich genommen, 
babe ich mic) darauf bejchränkt, Thatfachen aufzuzählen. — Diefe, Thatjachen 
find fie wahr? Ich mwiederhole e8, ich fordere meinen Nebenbuhler und feine 
Freunde heraus, auch nur eine von diefen Thatfachen ald ungenau zu be» 
zeichnen und biete ihnen allen in diefer Hinfiht eine Wette von 25,000 Fr. 
gegen 25,000 Sous zum Beften der Armen ded Ganton?. 

Bagud de la Fauconnerie, 

Man mird, mie gefagt, diefer Brofchüre ein großes Geſchick in der Mache 
nit abſprechen können. Wahrheit und Dichtung mifchen ſich darin in fo 


68 


eigenthümlicher MWeife, daß der gemeine Mann, welcher die „zwanzig Sabre 
der Wohlfahrt unter dem Kaiferreich* noch nicht vergeffen hat, vielfah nur 
die erftere heraudlefen und behberzigen wird. Dad Blatt Gambetta's, die 
„Republ. frang.“ verbirgt denn aud ihren Uerger über diefe Schrift in einem 
kurzen Artikel vol erzwungener Heiterkeit. „AU diefe ſchönen Dinge“, jagt 
fie (nämlich die vier „Theſen“ des Herren Dugue) „find in jener Broſchüre 
den Wählern audeinandergefegt. Natürlich bemeift der Verfaſſer dieſer 
Senfationefhrift, daß die Oppofition alles verfchuldet, daß fie dem Staatö- 
oberhaupt die Hände gebunden, die Urfenale geleert, unfere Feſtungen und 
Armeen übergeben hat! Diefe Thefe ift zur Genüge befannt. Sie hat nichts 
gegen ſich, als die befannteiten Thatſachen, die officiellen Schriftftüde, die 
Meinung von ganz Europa und die Heberzeugung aller vernünftigen Menfchen ! 
Trogdem kann derjenige, welcher Luſt hat, 25,000 Fr. zum Beſten der Armen 
zu gewinnen, fi) dad Vergnügen machen, fie zum hundertften und taufendften 
Dial zu widerlegen. Nur jagt Herr de la Fauconnerie nicht, wer der Richter 
über die Wette fein fol, und darauf fommt ed doch an. Es erübrigt ihm 
noch zu jagen, wie und von wem die Jury gebildet werden fol. Es gäbe 
das Stoff zu einem zweiten Plakat. Uber wie dem auch fei, die Bonapartiften 
find auf dem Plag, und machen derartige Demonftrationen, ohne zu ge: 
wahren, daß fie eine nicht nur fomifche, fondern jede Partei disereditirende 
Nolle fpielen. Oder meinen fie, daß ihre Partei diefe Gefahr nicht mehr zu 
fürchten hat?“ 

Diefe Erwiderung des republifanifchen Blattes trifft augenſcheinlich nur 
eine ſchwache Seite der bonapartiftiihen Broſchüre, die politifche Reclame 
nämlih, die fih darin breit macht. Aber werden nicht gerade dieſe 
25,000 Frank dem großen Haufen auf dem flachen Land imponiren, ja 
wird nicht auch mancher gebildetere Xefer dem gegenüber ein Auge zudrüden, 
indem er fich fagen muß, daß hinter diefer Neclame denn doch ein bedeutendes 
Stück Wahrheit verborgen ift? Daß fich aber die Bonapartiften durch der- 
artige Mittel nicht „disereditiren“, willen die Republikaner ſelbſt am beiten, 
Haben fie doch lediglich) dadurch den unleugbar großen Kredit wieder erworben 
den fie thatfächlid) genießen und der fie heute ſchon zum furdhtbarften Feind 
der Republikaner gemaht hat. Der Knabe von Chiälehurft hat bereits 
längit angefangen, ihnen fürchterlich zu werden! 


In Sachen der finanziellen Sage der AUniverfität Jena 


erhielten mir folgende Zufchrift von einem Manne, der fi und als völlig 
unparteiifch bezeichnete: 

Jena, September, Der Verfaſſer der beiden Artikel in Ihrer geehrten 
Zeitfhrift über die hieſige Univerfität hat fich infofern einen Anſpruch auf 
den Dank aller Angehörigen derfelben erworben, als er den Regierungen der 
jähfifhen Herzogthümer, indbefondere denen von Meiningen und Gotha Hin- 
fihtlich der Unterhaltung der Univerfität, fo zu fagen, dad Gewiſſen geſchärft 
bat. Er hat aber gleihwohl dadurd Hier eine gewiſſe Mipitimmung erregt, 
daß er die hiefigen Zuftände in einem viel zu ungünftigen, der Wirklichkeit 
nichts meniger als entfprechenden Lichte dargeftelt hat. Es iſt freilich ge- 
gründet, daß die hiefige Univerfität weniger reich dotirt ift, als die meiſten 
übrigen Univerfitäten, und daß namentlich die Gehalte der Docenten wenigitend 
zum Theil unverhältnigmäßig gering find: aber folgt denn daraus, daß noth« 
wendig auch die Reiftungen der Univerfität ungenügend fein müflen? Wir 
fönnten mehrere Beifpiele anführen, daß ihr ausgezeichnete Lehrkräfte troß 
dürftiger Befoldungen treu geblieben find, und wenn manche Docenten, nad)- 
dem fie hier ihren Auf begründet, auswärtigen Rufen gefolgt find, dürfte 
es vielleicht zweifelhaft fein, ob nicht gerade Jena aus ihrer frifchen, jugend» 
ih aufftrebenden Kraft den beften Vortheil gezogen: hat man nicht neuer- 
dingd den angeblichen Verfall der Berliner Univerfität daraus erklären wollen, 
daß diefelbe meift ältere Wrofefjoren habe, und worin fann died anders feinen 
Grund haben, als darin, daß eine Berliner Profefjur wegen der damit ver- 
bundenen äußeren Vortheile für einen afademifchen Lehrer die legte Stufe zu 
bilden pflegt? Gewiß, wer nur das Jenaiſche Rectionäverzeichnig anfteht und 
darin 3. B. in der theologifhen Facultät die Namen Häfe, Lipſius, Pflei— 
derer, Schrader, Hilgenfeld, Grimm verzeichnet findet, wird die hiefige Uni- 
verfität nicht mit dem Verfaſſer „eine langſam hinſiechende“ nennen wollen. 
Eben fo wenig aber wird man bei den Stupdierenden, deren Zahl im letzten 
Semefter auf 500 geftiegen, irgend ein Symptom ded Siechthums entdeden 
Eönnen. Es herrſcht unter ihnen ein frifche® reges Leben, und der wiſſen— 
[haftliche Sinn, von dem die meiften befeelt find, zeigt fih unter Anderem 
auh darin, dag die nicht zum Brodſtudium gehörigen philoſophiſchen und 
biftorifhen Gollegien, wenn ich nicht irre, Hier verhältnigmäßtg zahlreicher 
befucht werden ald auf andern Univerfitäten. 

Der Berfafjer unferer Artikel will aber felbft nicht, daß dieſes Siehthum 
der Univerfität zum Tode führe. Er ſpäht daher nach neuen Lebensſäften für 
diefelbe aus; aber wie es feheint, mit geringem Erfolg. Die ſächſiſchen Her- 


70 


zogthümer wollen oder können nicht viel mehr leiften ald bisher, auch von 
einer Hinzuziehung der benachbarten Meinen Staaten, abgeiehen von der Un- 
wahrfcheinlichkett ded Gelingen®, ift wenig zu hoffen; es bleibt alfo nur die 
Hülfe dur eine allgemeine Collecte im ganzen deutfchen Reiche oder die Auf 
nahme von Jena in die Anftalten ded Reiches übrig, fo daß alfo Jena auf 
hörte, thüringifche Univerfität zu fein und, wie Straßburg, Reichsuniverſität 
würde. Mir fürchten aber, daß dur ein Aufbieten freimilliger Beifteuern 
wenig erzielt werden würde, und was die Ummandlung in eine Reichduniver- 
fität anlangt, fo würde diefe erſtlich kaum durchzuſetzen fein (die Analogie von 
Straßburg ſcheint und wenig zutreffend), zweitens halten wir fie aber für nicht8 
weniger ald wünſchenswerth. Jena würde dadurd feinen bisherigen Charafter 
verlieren, e& würde nur dazu dienen, die Zahl der preußifchen Univerfitäten zu 
vermehren (denn dem Charakter nad) wird man auch Straßburg zur Zeit als 
preußifche Univerfität anfehen müffen), e8 würde alfo nicht mehr im Stande 
fein, der Wiſſenſchaft die Dienfte zu leiiten, zu denen ed bisher gerade durch 
feine freie Stellung befähigt worden ift. Warum bat aber der Berfafler nicht 
an ein Mittel gedacht, dur das allein die thüringifchen Staaten wieder 
leiftungsfähig gemacht werden könnten? Diefelben find jest vorzugämelfe 
dur die Art der Erhebung der Matrikularbeiträge gedrüdt, in Folge deren 
3. B. das Großherzogthum Weimar mehr zu leiften hat, ald die Stadt Ham- 
burg, weil feine Geelenzahl eine größere ift, während die Steuerfraft von 
Hamburg, ich glaube nicht zu viel zu fagen, mindeſtens hundertmal fo groß 
ift. Wird der hierin enthaltenen fehreienden Unbilligfeit abgeholfen, dann 
und nur dann wird man den thüringifchen Staaten größere Leiftungen für 
ihre Univerfität zumuthen und einen günftigen Erfolg von ſolchen Anſprüchen 
hoffen dürfen. 

Diefe Correfpondenz wurde vom Berfaffer der erſten Artikel über die 
Univerfität Jena — und gewiß mehr im Intereſſe der Sache, ald mit Rüd- 
fiht auf obige Auslaſſungen fehr eingehend — dahin beantwortet: 

Jena, Ende Septbr. 

Der VBerfaffer vorftebender Korreſpondenz aus Jena macht mir den 
ebenfo ſchweren, als unbegründeten Vorwurf, die Zuftände der biefigen 
Univerfität in den beiden Artikeln über die finanzielle Lage der letteren „in 
einem viel zu ungünftigen, der Wirklichkeit nichts weniger als entjprechenden 
Lichte dargeftellt zu haben“. Wer fih die Mühe genommen hat, die beiden 
Artikel auch nur mit einiger Aufmerkfamfeit zu lefen, wird bezeugen fönnen, 
daß es höchſt komiſch Klingt, wenn man zur Widerlegung einer Schilderung, 
die niemals in einer dazu Anlaß gebenden Weiſe gemadht morden ift. auf die 
Tüchtigkeit der vorhandenen Rehrkräfte, die Frequenz, den wiſſenſchaftlichen 





71 


Sinn beſonders binwelfen fieht. Den intereffanten vergleichenden Hinblid auf 
Berlin überlafje id vollends dem Herrn Verfaſſer. Im Mebrigen frage ich: 
wo babe ich denn die jegigen Zuftände, die Verdienfte und Leiftungen Jenas 
in ungünftigerem Lichte, unter der Mirklichkeit angefehen? Es galt die 
finanzielle Rage zu ſchildern. Ich Hatte alfo Feine VBeranlaffung, aus— 
führlicher auf die geiftige Thätigkeit und ihre Erfolge einzugehen. Soviel 
jedod leuchtet wohl jedem Unbefangenen zur Genüge ein und ift auch an 
verjchiedenen Stellen ausbrüdlich hervorgehoben, daß gerade darum, meil fidh 
Jena in der Vergangenheit höchſt Iebenäfähig bemiefen bat und im der 
Gegenwart in jeder Richtung noch bemeift, meil ed eine wichtige, ja unent- 
behrliche Kulturftätte bildet, mit ernfter Sorge die finanztelle Zukunft erwogen 
werden muß. 

Wenn aljo der Grund, dem der Herr Korrefpondent der „gewiffen Miß— 
ſtimmung“ unterlegt, wirklich der einzige tft, dann erfcheint diefe Mißſtimmung 
gewiß die unbegründetfte, die nur gedacht werden fann. Ob überhaupt Mip- 
ſtimmung vorhanden, in welchem Maaße und In welchen Kreifen, meiß ih 
nicht. An gegentheiligen Yeußerungen fehlt es durchaus nit. Das kann 
ih mit Genugthuung behaupten. Ginen anderen Grund der Mipftimmung 
fann ich nicht voraudfegen. Die Data und Zahlen, auf denen meine Dar- 
ftellung fußt, beruhen glei den Angaben, die ih ſchon im Landtage zu 
Weimar machte, überall auf genauen Auszügen aus den akademiſchen Rech— 
nungen. Dem ®Berlangen des Landtags gemäß legte die Großherzogliche 
Regierung bereitwillig die Hauptrechnungen von 1870—1872 mit allen Neben: 
rechnungen dem Randtage und damit der Deffentlichkeit vor. Aus warmem 
Intereſſe für die Zukunft der Hochſchule entſchloß ich mich, nicht ohne An— 
reaung von verfchiedenen Seiten her, die auf ſolchem Wege gewonnenen Ein« 
blicke weiteren Kreifen zu überliefern. Die Verbreitung der Wahrheit kann 
nie ſchädlich und könnte einen Grund zur Mißſtimmung nur bei denen bieten, 
welche die Darlegung der Wahrheit für jchädlih zu halten vermögen. So 
etwas voraudfegen, annehmen, daß es für die Univerfität zuträglicher jet, 
möglichit Alles im Verborgenen zu laflen, ift ein Gedanke, den man nicht 
denfen jol. Mir und nicht mir allein erfcheint die Darlegung der Wahrheit, 
der vollen ungefhminften Wahrheit der thatjächlichen Verhältniffe ald das 
allein würdige und ausfihtsvolle Mittel, um für die Univerfität bei den Re 
gierungen und Randtagen zu wirken. 

Ob aber die Folgerungen, die ich aus überaus deutlich redenden 
Ziffern gezogen babe, die Beforgniffe und Wünſche, die daraus hergeleitet 
wurden, unrichtig fein, mag jedermanns Einfiht entfcheiden. Welche 
Schwierigkeiten das eine oder das andere der von mir angedeuteten Aushülfe- 
mittel darbieten mag, ift nicht verfchmwiegen warden. Gubjeftive Untipathien, 


12 


inäbefondere gegen die preußifchen Univerfitäten und gegen die Reichs— 
univerfität, die meinem Gegner fo gut, oder vielmehr jo ſchlimm, wie eine 
preußtjche ift, zu beftreiten, ift nicht meine Aufgabe. Ebenſo gern verzichte 
ih auf eine Analyfe des „bejonderen Charakters“ Jenas und des groß und 
gelaffen ausgeſprochenen Wortes, Jena werde ald preußifche oder als Reichs— 
univerfität gar nit mehr im Stande fein, der Wiſſenſchaft die feit- 
herigen Dienfte zu leiften. Der Herr Gegner meiß, daß ich felber, fo wenig 
ih allerding® mich entjchliegen Fann, bei voller Anerkennung deſſen, was an 
Sena gut ift, Alles was preußifche oder NReichduniverfitätäverwaltung heißt, 
als Popanz zu betrachten, herzlich mich freue, wenn die Thüringer Staaten 
im Stande find, lediglich von fih aus die Univerfität zu erhalten. Er läßt 
fie, wie es jcheint, lieber zu Grunde gehen, ehe die Hülfe des Reichs oder 
Preußens angerufen werden follte? Ein merfwürdiger Patriotismus. Andere 
find anderer Meinung und es Fann died unmöglich dem geehrten Herrn ver- 
borgen fein. Der Gedanke an Preußen oder namentlih an das Reich ala 
Helfer in der Noth ift, wie ich fchon früher gefagt habe, ſchon fehr oft und 
von fehr vielen Leuten in und außer der Univerfität erwogen morden. 

Und nun nod ein Wort über den Vorwurf, dag ich das eine Mittel 
vergeflen habe, das alle die Sorge erjpart! Die Abichaffung der Matrikular: 
beiträge! Wenn in den Thüringer Staaten irgendwo der Schuh drüdkt, tft das 
allemal unweigerlich das beliebte Thema. Was haben die böfen Matrikularbeiträge 
nicht Alles gethan! Folglich iſt e8 Far, wenn fie weg find, dann öffnet fich 
die volle Ausſicht auf einen glänzenden Haushalt und der Gnadenregen für die 
Untiverfität braucht nur zu beginnen. Schade nur, daß zu diefer Meinung 
ein befjerer Glaube gehört, als ich nach meiner Kenntniß der Dinge zu theilen 
vermag. Ich habe niemals die Matrikularumlagen gebilligt; aber die Ueber- 
zeugung hege ih, daß von der Abſchaffung höchſt übertriebene Erwartungen 
gehegt werden. Das tft einfach der Grund, warum ich dieſes Mittel nicht in 
Rüdfiht gezogen. 

Auch der Glaube ded Herrn Gegnerd nimmt fich nicht eben feljenfeit aus. 
„Wird der hierin (in den Matrifularbeiträgen enthaltenen fcheinenden Uebel- 
lofigfeit abgeholfen, dann und nur dann (d. h. der Herr Gegner jagt ed 
ja) wird man den thüringifhen Staaten größere (sic!) Leiſtungen für ihre 
Univerfität z umutbhen (alfo um eine Zumuthung handelt es fi) und einen 
günftigen Grfolg von ſolchen Anſprüchen (warum nicht Prätenfionen für die 
Univerfität) Hoffen dürfen.“ So lautet fein Schlußrefultat. 

So befcheiden venfen Andere nicht. Welche Anſprüche Jena machen 
muß, nicht aus Laune oder Luxus, fondern um ded Nothwendigften willen, 
darüber fann man fich in Jena felbft fpielend informiren. Wenn der Herr 
Gegner mit feiner ganzen anerkennenswerthen Liebe für die Univerfität nichts 


13 


meiter zu erfinnen weiß, als die Vertröftung auf Hinwegfall der Matrifular- 
beiträge und die alddann zu verhoffenden VBermilligungen, wenn er befennt, 
dag das feinen einzigen Hoffnung&blid in die Zukunft hinein ausmacht, dann 
bleibt demjenigen, der von der Nothlage der Univerfität geredet hat, nur 
übrig , für die Fünftige Unterftügung herzlichen Dank abzuftatten. 

Auf etwalge weitere Entgegnungen werde ich nur antworten, wenn fie 
dur den Namen ded Verfaſſers gedeckt find. 

W. Endemann. 
Damit erklären wir die Aeten für gefchloffen. D. Red. 


Briefe aus der Kaiferfladf. 


Berlin, 4. Dftober. 


Man bat Mühe, fein Berlin miederzuerfennen, wenn man dermalen aus 
der Sommerfrifche zurückkehrt. Die Leipzigerftraße gleich am Anfang gefperrt, 
von baumhohem Erdwall bedeckt — mas foll das bedeuten? fragt fi finnend 
der vom Potsdamer Bahnhof kommende Wanderer, bid er inne wird, daß 
mit der Ganalifation nun wirklich Ernſt gemacht wird. „Wäre fie nur erft 
vollendet!" hat ſicherlich Mancher in den letzten Wochen gefeufzt; denn die 
verjpätete Hunddtagähise diefer Zeit hatte unferen ffandalöfen Rinnfteinen 
nochmals alle Wohlgerüche Arabiens entloft. Gar mancher der SHeim- 
fehrenden hätte wohl am liebften fofort wieder Kehrt gemacht. Aber mer 
nichts verfäumen will, muß es doch über fich gewinnen und da bleiben. Sit 
ja doch die „Saiſon“ bereit? in vollem Zuge! Schon am 6. September hat 
fie begonnen, denn an diefem Tage murde die Kunſtausſtellung der Kal. 
Akademie der Künfte eröffnet. Sie ift noch heute das Greigniß ded Tages 
und wird es bis zum 1. November bleiben. Kommen wir aljo fpäter auf 
fie zurüd; nad erſt einmaligem Beſuch geht Einem die reihe Fülle des Ge- 
jehenen nur wie ein Mühlrad im Kopf herum. Für heute ein Blick in die 
bauptftädtifche Theatermwelt! 

GSrfreulichermeife ijt diesmal vom Kgl. Schaufpielhaufe eine refpectable 
That zu verzeichnen, die Aufführung von Hebbel’8 „Heroded und Marianne“. 
(58 gehört einiger Muth dazu, diefe in ded Wortes volliter Bedeutung ent- 
jegliche Tragödie auf die Bretter zu bringen. Kaum ift ein Drama denkbar, 
welches an die Ausdauer der Spieler wie der Zufchauer größere Anforderungen 
ſtellte, als dieſes. Vom erften Augenblide an liegt der tragiſche Gonfliet 
‚zwifchen den beiden Gatten in feiner ganzen Unverföhnlichfeit vor und; vom 


erften Augenblide an drüdt ung die traurige Gemwißheit: da ift fein Ausweg 
Gtenzboten IV, 1874. 10 


714 


mehr. Ob zwoifchen Herodes, dem tyrannifchen Emporkömmling, der Creatur 
der Römer, und dem Sproß vom alten föniglihen Stamm, der flolzen 
Makkabäerin Martanne jemals ein Verhältniß gegenfeitiger wahrhaftiger Liebe 
beftehen Fonnte, ift ein pſychologiſches Problem, über welches ſich ftreiten 
ließe. Hebbel fett ein ſolches Verhältnig als thatjächlich vorhanden geweſen 
voraus und wir müflen und darein finden. Das aber ift fein Zmeifel: nad: 
dem Herodes der Gattin den Bruder hat ermorden laſſen, ift die Möglichkeit 
eines glüdlihen Zufammenlebend auf immer zeritört. Und fo iſt die Sage 
am Beginn ded Stüded. Daß diefe Menichen zu Grunde gehen müfjen, tt 
von vornherein ausgemacht; mit einer gewiſſen Nefignation bejchränft fi 
unfere Neugier darauf, zu erfahren, mie fie zu Grunde gehen. Der Gang 
der Handlung ift träge; noch fehlimmer, dad Motiv, welches den Conflict auf 
die Spibe treibt, wiederholt fih in voller Breite Der lebte Act wird in 
bedenklichiter Weiſe zerriffen. Eben ift Marianne zum Tode gegangen; die 
Zeugen der Hinrihtung find noch nicht zurüd, den Ausgang zu melden. In 
diefem gräßlichen Augenblide erfcheinen plöglih „die drei Könige aus dem 
Morgenlande*, leibhaftig jene halb ehrwürdigen, halb komiſchen Geltalten, 
wie wir fie ald Kinder in den Wachsfigurenbuden gefehen, felbitverftändlich 
nicht ohne ein Trompetercorp& und eine pompöfe Garnitur von Dienern! 
Freilich ift e8 ein großartiger Gedanke, den edomitifchen Barvenu, in dem 
Momente, da er das alte Königshaus bid auf den Grund ausgerottet hat, 
durch die Kunde von dem neuen König der Könige niederzufchmettern. Uber 
die Weife, wie dies hier gefchieht, ift Drramatifch unhaltbar; auf diefer Außerften 
Höhe verträgt die Handlung Feine Epifode mehr; auch paffen die durch und 
durch mythiſchen Figuren nicht in diefe reale Welt von, bei Licht bejehen, jehr 
modernen Menfchen. Auf Herodes freilich muß der Vorgang einen Eindrud 
machen, der in Verbindung mit der unmittelbar darauf folgenden Gewißheit, 
dap Marianne unfchuldig hingerichtet worden, einen Ausbruch von Raſerei 
vollauf begreiflih macht. Der Zufchauer aber wird die Störung nicht mehr 
überwinden. Dazu gefellt fich ein ganz unbefriedigender Schluß. In feinem 
Wahnfinn befiehlt Herodes den allgemeinen Kindermord in Bethlehem; dann 
bricht er zufammen. Ob er ftirbt oder ob er weiter wüthet, bleibt ungewiß. 
Ohne Bmeifel bat der Dichter den Zufchauer dur die verheifungsvolle 
Perjpective in da® auf den Trümmern des jüdifchen Staate® fi) erhebende 
neue Reich Gottes über trübe Metitationen hinweghelfen wollen, aber die 
verfehlte Einfchiebung diefer Perſpective läßt ihn dieſen Zweck nicht erreichen. 
Und fo verlaffen wir dag Haus ohne jenen harmonifchen Eindruck, den jede 
echte Tragödie nach der „Räuterung der Leidenſchaften“ im Gemüthe des 
Hörers zurüdlafien fol. 

Vom Standpunkte der dramatifchen Architektonik ift alfo das Hebbel’jche 


75 


Stück vollkommen verfehlt, nicht fo vom Standpunkte der pfychologifchen 
Wahrheit. Mas ver Dichter hier gezeichnet hat, iſt einfach jenes tragifche 
Phänomen, mie zwei miteinander zerfallene Ehegatten, obgleich fie die Un- 
möglichkeit einer Wiederverföhnung ahnen, dennoch nicht von einander laffen 
können und in langfamer Marter fich gegenfeitig verderben. Wie oft wird 
von dem einen Theil der ehrliche Anlauf genommen, an das alte liebende 
Herz des anderen Theiles zu appelliten! Sofort aber beginnen Stolz, Troß 
und Mißtrauen ihre Wirkung, die Anmwandlung warmen Gefühld wandelt 
ich in kalte Dialektif, erſt mie feine Nadeln, dann wie derbe Pfeile fliegen 
die Worte herüber und hinüber und die Scene endet mit vollftändigem 
Brud. Das ift feine „Tüftelei”, wie man Hebbel vorgeworfen hat, das iſt 
brutale Wahrheit! Auch in den einzelnen Handlungen der Perſonen Tiegt 
nichts Naturwidriged. Herodes' Liebe zu Mariannen beruht auf dem nadteften 
Egoismus. Iſt es da, bei feiner zügellofen Leidenſchaftlichkeit, nicht ganz er— 
tlärlich, dag ihm der Gedanke, die fhöne Maffabäerin fünne im Falle feines 
plöglichen Todes einem Anderen die Hand reichen, unerträglich ift? Und da 
einmal dad Mißtrauen in ihm rege gemorden, entfpricht es nicht ganz diefem 
gewaltthätigen Charafter, wenn er in die Todedgefahr die Gewißheit mit- 
nehmen will, daß, follte er fterben, fein Weib ermordet wird, wenn es ſich 
nicht alsbald freimillig den Tod gegeben? Weniger felbitveritändlih jcheint 
Mariannend Handlungsmeife. Doch aud bier entdecke ich Fein Vergehen 
gegen die pſychologiſche Wahrſcheinlichkeit. Was fie an Herodes feſſelt, it 
ver kühne Mannesmuth, der helle Geift und der hochherzige Sinn, der unter 
der Hülle tyrannifcher Rohheit verborgen liegt. Mit folh dämoniſcher Ge- 
walt bat der Zauber fie erfaßt, daß ein Leben ohne Liebe zu ihm ihr fein 
Leben mehr dünkt. Darum ift ed möglich, daß die fophiftifche Rechtfertigung 
für den Mord ihres Bruders bei ihr verfangen, ja daß fie auch nad der 
furchtbarften Kränfung noch einmal neue Hoffnung fchöpfen kann. Es iſt 
jener Hang zur Selbfttäufhung, welchem die menjchlihe Natur in den ver: 
zweifelten Lagen fo gern nachgiebt. Erſt als fie fih zum zweiten Male unter 
dad Schwert geftellt fieht, ift ihr die letzte Möglichkeit der Hoffnung genommen, 
und nunmehr ſucht fie den Tod. Nicht troßiger Stolz allein verhindert fie, 
fih von dem grundlofen Verdacht der Treulofigfeit zu reinigen, ſondern mehr 
noch die Cinfiht, daß glückliche Liebe zwifchen ihr und Heroded nie mehr 
beftehen fann. Darum will und muß fie fterben. Ich fehe_nicht, worin 
e3 diefer pfychologifhen Entwidelung an Correetheit gebräche. — Auch dem 
Borwurf, dag das Stüd der eigentlich ergreifenden Momente entbehre, kann 
ich nicht beiftimmen. ft es nicht eine tief erfchütternde Scene, wenn wir 
das unglüdliche Weib den Zorn über die erlittene Schmach dur die Liebe 
überwinden und noch einmal fich in füße Hoffnung einwiegen fehen in dem: 


76 


felben Augenblide, wo wir die volle Gewißheit erlangen, daß diefe zmei 
Menfchen fi niemald mieder verftehen werden? Und fo iſt die Rage am 
Schluß des dritten Actd. Marianne hat der Entrüftung über die Schande, 
welche der Gatte ihr zugefügt, als er fie unter das Schwert ftellte, freien 
Lauf gelafien. Nun, da fie ihn zerfnirjcht fieht, geht ihr die befeligende 
Hoffnung auf, daß er fein Unrecht begreife und bereue, und daß fih no 
Alles zum Guten wenden fönne Wir aber wiſſen, daß er gar feine Empfin— 
dung hat von der verübten Unbill, fondern daß ihn allein der Argwohn er- 
fült, Marianne babe da® Geheimniß durch den Bruch der ehelichen Treue 
erfauft, und daß feine unbändige Eiferfucht gerade in diefem Augenblicke den 
teuflifchen Prüfungsplan erfinnt, der Alles vernichten muß. 

Wahr ift allerdings, dag die Hebbel’jche Tragödie, troß einzelner padender 
Situationen, troß einer Fülle fehöner und zum Theil origineller Gedanken, 
troß einer fräftigen und edeln Sprache, nicht unfern ganzen Menjchen erfaßt. 
Die handelnden Perfonen befinden fich fchon beim erften Auftreten fozujagen 
in einem fo vorgefchrittenen Stadium von Berbiffenheit, daß fie und unmöglich 
noch volle Sympathie einflößen können. Der Gefammteindruf ded Ganzen 
wird wohl am zutreffendften ald „interefjant“ bezeichnet. Nichtsdeſtoweniger 
verdient die Leitung der Föniglichen Bühne für die Vorführung des Stückes 
aufrichtigen Dank. Nach meinem Geſchmack ift e8 immer noch angenehmer, 
fi einen Abend lang von einem wahren Genie, jei ed auch nur ein „Kraft: 
genie*, „foltern* zu lafien, als in gewiſſen neumodifchen „Ruft-* oder gar 
„Schauſpielen“ die unmöglichften Menſchen und Verhältniffe an ſich vorüber: 
gehen ſehen und noch obendrein eine Yadaife über die andere mit in den 
Kauf nehmen zu müſſen. 

Auf die Aufführung war große Sorgfalt verwendet. In der glänzenden 
und Hiftorifh correcten Ausftattung werden wir wohl eine MWirfung des 
Gaſtſpiels der Meininger erbliden dürfen. Was die Belegung der Rollen 
anlangt, fo muß jedoch eingejtanden werden, daß für die Darftellung der 
Riefengeftalten der Hebbel’fhen Mufe die Kräfte unſeres Schaufpielhaufes 
niht ausreichen. Am beiten murde noh Frau Erhartt ihrer Aufgabe ale 
Marianne gereht. Die Momente ded Falten Trotzes, der ftolzen Erregung 
und der Entfagung wurden von ihr meifterhaft miedergegeben ; minder gut 
gelang das Anjchlagen der meicheren Accente. Herr Ludwig verwandte auf 
den Herodes alle erdenklihe Mühe, aber er füllt die Rolle niht aus, weder 
durch feine äußere Erſcheinung, noch durch feine Fünftlerifhe Begabung. 
Namentlich) das Geberdenfpiel war, von dem conftanten Rollen der Augen 
abgefehen, nichts weniger ald der adäquate Ausdruck diefer fturmbewegten 
Seele. — 

Mehr Aufiehen übrigend, ald dad vor 8 Tagen zum erjten Male über 


77 


Me Bretter gegangene Trauerfptel, macht in diefem Augenblicke jedenfalls die 
neueite Feerie im Victoriatheater. So auf das Aeußerliche gerichtet ift in 
der That heutzutage der Geſchmack unfered großen Publikums. Es ift faum 
glaublih, was für haarfträubende Albernheiten die Befucher diejer Zauber- 
ftüde fi bieten laffen, wenn nur der Gefihtäfinn mit recht derben Effecten 
befriedigt wird. Zum Glüd ift aber an der Novität des PVictoriatheatere ein 
ganz bedeutender Umfhwung zum Beten zu conjtatiren. Das Sujet derfelben 
it dad Märchen von den fieben Raben, in recht hübſchen Verſen bearbeitet 
von Emil Bohl und von G. Lehnhardt mit einer zwar nicht originellen, aber 
ſeht anfprechenden und von launigen Melodien reihen Muſik ausgeftattet. 
68 gebricht dem Stüde nicht an draftifchen und witzigen Momenten; aber e3 
fiebt an ihnen nichts von jener platten Gemeinheit und jener moralifchen 
Unfauberfeit , worin fonft nur zu ſehr das Charakfteriftifche der Zauberpofje 
beichloffen zu jein pflegt. Der ernite Grundton und der poetifche Hauch des 
Märhens find im Ganzen wohl bewahrt geblieben. Doc dad Alles ift ja 
nur Beimerf; die große Hauptfache ift die Scenerie, die decorative Ausſtattung. 
und man wird zugeben müſſen, daß das in diefer Richtung Geleiftete an Ge- 
ſchmack und technifher Vollendung alles biöher in Berlin Gefehene weit hin- 
ter ſich zurückläßt. Die Decorationen find theilmeife den Schwind'ſchen Fresken 
nachgebildet. Gin wahres Meiſterſtück ift Roſalinden's Schlafgemach. Der 
Ölanzpunft des Ganzen aber wird am Schluß des dritten Acts erreicht. Eben 
it die arme Rofalinde von der hartherzigen Landgräfin Edwina zum Scheiter: 
haufen verurtheilt. Nun liegt fie, ohnmächtig hingefunfen, in ihrem Kerker. 
Da fpendet die gütige Fee ihr lieblichen Traum. Unter den Wunderflängen 
der Harfe ſenken ſich Nofengewinde hernieder, immer dichter, überall und ohne 
Ende, ſodaß die öde Gruft fchier angefüllt ift von den lachenden Blumen 
und ein baljamijcher Duft das ganze Haus durchweht. Dann wieder zertheilt 
ih allmählich der Wofenflor, meiter und weiter öffnet fi der Blick in 
wunderlichte Räume, immer deutlicher tritt aus fchwindendem Nebel die un- 
nennbare Pracht des Feenreichs hervor, bis auch der legte Wolkenſchleier fich 
lüftet und aus fryftallener Fluth in den Strahlen der aufgehenden Sonne 
die Feenkönigin emporfteigt. Die Wirkung diefed Schaufpield ift nicht zu 
befchreiben. Die vornehmften Kritifer der Berliner Preffe, welche einen Hebbel 
wie einen Secundaner behandeln, fah ich wie behert mit den Händen arbeiten. 
Damit ift mehr ald Alles gefagt. — 

Unter den Fleinen Bühnen ſcheint fi) auch in diefem Winter wieder dad 
Stadttheater durch bejonderen Fleiß hervorthun zu wollen. Zwei, drei neue 
Stüde in jeder Woche — das iſt ihm Spielerei. Daß es dabei mit tem 
Dialog immer recht glatt von Statten ginge, kann freilich nicht geſagt wer: 
den, im Ganzen aber ſchlägt man ſich redlih durd. Das Stadttheater be— 


78 


figt auch jest, nach einer ziemlich durdhgreifenden Erneuerung feines Perfonals, 
immerhin einige tüchtige Kräfte und in der naiven Riebhaberin Frl. Both 
fogar eine nad gewiſſen Seiten Hin vollendete Künftlerin. Uber auf Ihren 
Schultern liegt auch Alles; in den Stücken wenigſtens, die ich bisher ange- 
feben, „Ein deutſches Mädchen im Elſaß“ von Rudolf Kneifel, „Rofa und 
Röschen“ von Charl. Birch-Pfeiffer und „Der Sefuit und fein Zögling“ von 
A. Schreiber, ift fie dad Factotum. Namentlih in dem lesteren, ſonſt übri- 
gend fehr harmlofen und Teidlih langweiligen Stüde entzüdt fie als fieb- 
zehnjähriger Baron Garbonet durch frifhen Humor und liebendwürdige Na- 
türlichkeit. Uebrigens ift das befte unter den genannten Quftipielen unbe 
ftreitbar das Kneifel’ihe, freilich ein Tendenzſtück, aber zeitgemäß und, gut 
gefptelt, ſehr bühnenwirkſam. X 


Max Wirth's Geſchichte der Handelskrifen. *) 


Gin alter Profeſſor des Römiſchen Recht? aus der Bekanntſchaft des 
Referenten, der geneigt ſchien, fih auf den Kopf zu ftellen, ald die National- 
Öconomie an einer gewiſſen Univerfität Deutfchlands unter die obligatorifchen 
Fachſtudien der Yuriften und unter die Didchplinen aufgenommen wurde, in 
denen männiglich beim erjten Eramen geprüft werden follte, pflegte in ver- 
traulihen Stunden das gelaſſene Wort audzufprehen: „Was heißt National: 
Öconomie? Die Gefege, die man darin zu erfennen glaubt, beruhen im gün- 
ftigiten Falle auf Einbildung, oftmala auf Schwindel“ — er brauchte wirklich 
diefed harte Wort — „und practifchen Nutzen fann niemand daraus ziehen ?“ 

Sch meiß nicht, welches Mißgeſchick den gelehrten Kenner der Digeften in 
ein fo gefpanntee Verhältniß zur Volkswirthſchaftslehre verfegte. Daß fein 
Eolleg nad) wie vor von den Zwangsabonnenten fpärlich befucht war, im 
Hörfaal des Nationalöconomen dagegen Fein Apfel zur Erde fallen Eonnte, 
war jedenfalld feine Erklärung feiner harten Worte. Denn dad mar fchon 
lange vor der academijchen Hoffähigfeitserflärung der Nationalöconomie nicht 
ander? geweſen; und dieje Thatjache allein hätte ſchon fein Dietum widerlegt, 
„dag niemand practifchen Nutzen aus ihr ziehe." Ja, wir jungen Juriſten 
— ich geftehe e8 mit tiefem Erröthen — waren ſchon damals fo unklaſſiſch 
veranlagt, daß mir jeder Frage der Volkewirthſchaftslehre mehr practifchen 
Nutzen zutrauten, als den berühmteften Eramenfragen jened ehrmürdigen 
Römiſchen Rechtälehrerd, unter denen die berühmteften lauteten: „Welche 








) Gefchichte der Handelätrifen von Mar Wirth. Zweite vervollftändigte und verbeilerte 
Auflage. Frankfurt a. M. 3. D. Sauerländer'd Berlag 1874, 


19 


Farbe hatte die Tinte Juſtinian's? Was war Juftinian’® Gemahlin für eine 
Geborene ?“ 

Diefed Aufbäumen der zünftigen Jurisprudenz gegen die Wirthichafte- 
lehre und die politijche Deconomie hat und Allen, die davon Zeugen waren, 
jedenfalld nur in mohlthätiger Weife den Blick gefhärft für ihre Segnungen, 
für ihren „practifchen Nugen“. Ich muß geftehen, ich habe, je länger ich 
darüber nachdachte, ftudirte, und practifche Erfahrungen fammelte, außer der 
Chemie, Geologie u. a. Naturwiffenfchaften, Feine anvere Wiſſenſchaft gefunden, 
welche aus ihren NRefultaten felbft einen fo allgemeinen und unmittelbaren 
practifchen Nutzen verſpräche, als die Nationalöconomie in ſachkundiger 
und geübter Volkswirth oder Statiftifer befitt — um die Sache ganz 
practtfh audzudrüden — fait in jedem Refultat feiner Forſchungen ein Ge- 
heimniß, um Taufende glüdlicher, gefunder, behäbiger, ja reich zu machen. 
Nur mit dem Unterfchiede, dag er meiſt, im Gegenfate zu vielen Vertretern 
jener naturmwiffenfchaftlihen Dieciplinen, nichts eiligeres zu thun hat, ala fein 
Geheimnig auf den offenen Markt zu tragen, und dafür — die allgemeine 
Nihtbeahtung, im günftigften Falle Zweifel und Widerſpruch zu ernten; bie 
dann das von ihm vorher Gefagte eintritt, und man fich der ſchon vergeffenen 
Weiffagung erinnert, um — von neuem in dem nämlichen Falle die nämlichen 
Thorheiten zu begehen. Jede große Fabrik, die ſich mit der chemiſchen Ver— 
arbeitung von Rohſtoffen beſchäftigt, hält ihren Chemifer; jedes größere 
Bergwerk hat fortwährend Männer engagirt, welche geologijche oder geo- 
gnoftifhe Unterfuhungen zu madhen im Stande find. Aber wir find noch 
jehr weit entfernt davon, dag große Banken oder Ereditinftitute, große in« 
duftrielle Etabliſſements oder ſelbſt große ſtädtiſche Gemeinweſen ihren prac- 
tiſchen, tüchtig theoretifch gejchulten Volkswirth und Statijtifer hielten, welcher 
die für die betr. juriftifche Berfon wichtigiten Enqueten vornähme und wifjen- 
Ihaftlich beantwortete, um dieſes Unternehmen in VBorjchlag zu bringen, von 
jenem abzurathen, oder gewiſſe Reformen aus eigenem Antriebe dringend zu 
empfehlen. Und doc find die Ergebniſſe diefer Wiſſenſchaft fo ficher, daß 
3; B. ein berühmter deutfcher Statijtifer den ganzen Verlauf der Berliner 
Baufpeculation in ihrer ftetigen Hauffe und Baiffe vor Jahren und zwar in 
gleiher Vorzüglich Feit vor und nach der franzöfifchen Kriege — richtig vor- 
ausgeſagt hat, jo richtig, daß nach der von ihm über diefed Thema com- 
ponirten Zufunftämufit die Haufe der Jahre 1871 und 1872 und der Rück— 
ſchlag ſeit 1873 nur verftärkte Töne der von ihm angejchlagenen Xccorde bilden. 

Für die practifche Berechtigung diefer Wiffenjchaft wird man aber — 
wenn es deffen heute überhaupt noch bedürfte — Faum ein Flaffifcheres Bei- 
Ipiel finden können, ala das hier vorliegende Werf Mar Wirth’. Vor fieb- 
zehn Fahren iſt die erfte Auflage desfelben erfchienen. Der Berfafler war 


80 


damals ein blutjunger Schriftfteller und Gelehrter. Alles was heute unf 
nationale Größe ausmacht, ift erſt lange nad der Zeit vollbracht word 
Unfere Nationalwirtbfhaft von heute ift eine durchaus andere wie die vo 
fiebenzehn Jahren. Der deutfche Zollverein war damald noch mit Defterreich 
jufammengefpannt und krankte am Schugzollfyften, am abfoluten Veto feiner 
Blieder und an der durchaus mangelnden Vertretung des Volkes. Grit fünf 
Jahre nachdem Wirth's Buch erſchien, wurden diefe unfeligen Bande theil- | 
weife gelodert durch Abſchluß des deutfch- franzöfifhen Handelsvertrages. 
Oeſterreich erlebte bereits im Jahr 1863 fein Sadowa auf wirthſchaftlichem 
Gebiete. Das Freihandelsſyſtem wurde, wenn auch noch verſchämt, von 
Deutfhland proclamirt. In den Zollvereindverträgen von 1867 wurde dann 
endlich auch das abjolute Veto über Bord geworfen und ftatt deffen ein Zoll: 
bundedrath und ein Zollparlament eingefet, welche Behörden beide mit ein- 
facher Majorität der Stimmen beſchließen follten, und deren Functionen feit 
1871 auf den deutjchen Reichsbundesrath und den Deutſchen Reichstag über- 
gegangen find. Man follte denken, durch diefe gewaltigen Neuerungen fei 
Wirth's Merk über Handeläfrifen gründlich veraltet gemefen. Und dennoch 
ald die KHrifid von 1873 über Defterreich und Deutfchland hereinbradh, wur» 
den diejenigen feiner Kapitel, welche bier einfchlugen, von der größten Zahl 
der (namentlich öfterreihifchen) Zeitungen Wort für Wort abgedrudt, denn 
faft Wort für Wort paßten fie auf die Urfachen und Wirkungen der großen 
Krife, deren Folgen noch jest nicht überall verwunden find. 

Mar Wirth ift feit dem Erfcheinen der erften Auflage feines Werkes 
unter den jüngeren Volkswirthen mit am jtetigften fortgefchritten und in 
bleibender Fühlung mit der Wiffenfchaft mie mit der Praxis gemefen. Gr iſt 
befanntlih Jahre lang an der Spige ded „Arbeitgeber“ in Frankfurt a. M. 
ald Nedakteur geftanden, dann Jahre hindurch Chef des Statiftifchen Bureau 
der Eidgenofjenfchaft zu Bern gemefen, dann wieder in das journaliftifche 
Fach übergegangen, zuerft bei der „Breslauer Preſſe“, feit einem Jahr bet 
reinem der bervorragendften Blätter in Wien. In allen diefen Stellungen und 
Berufen hat Mar Wirth auch auf dem Gebiete der „Handeläfrifen“ die 
veifften Erfahrungen gefammelt, welche der vorliegenden zweiten Auflage fehr 
zu Statten fommen. Dieſes Buch kann auf dem Gebiete, welches e8 behandelt, 
Haffifh genannt werden. Es verfehont uns gänzlich mit jener dilettantifchen 
feuilletoniftifchen Manier der MWehklage, Prophezeiung, Warnung u. dergl., 
welche bei jeder größeren volfäwirthichaftlichen Krije in einer Legion von 
Flugfchriften vorherrſcht. Es iſt erſchöpfend theoretiih und biftorifh und 
formulirt die gewonnenen Grfahrungen flar und bündig und ſicher. Möchte 
es es recht viel geleſen, recht allſeitig beherzigt werden. 


Berantwortlicher Redakteur: Dr. Sans Blum. 
Berlag von $. 2. Herbig. — Drud von Güthel & Legler in Keipzig. 





— — — 





. Die 


Grenzboten. 


Bei tie ri fi 
für 


Bolitik, gitteratur und Kunfl. 


Ne 4 42, 
Außgegeben am 16. October 1874. 


— — 


Inhalt: 


Die mechanifche und die BERN —— 
Mar Heinze . : 

Gin amerifanijcher Humoriſt. „Sans B {um 

Die Banken in Luremburg N. Steffen. . . 

Bilder aus Medlenburg. Aus den — de Bürgermehr, 
Von Hugo Gaedcke. . 

Der Fall Arnim, z. 





Grenzbotenumichlag: Piterarifche Anzeigen. 
Literarifche Beilage von Breitfopf & Härtel in Leipzig. 
Literariſche Beilage von Alphons Dürr in Leipzig. 


Leipzig, 1874. 
Friedrich Ludwig Herbig. 
(Ir. Wild. Grunow.) 











Die mehanifhe und die feleologifhe Weltanfhanung. *) 
Bon 
Mar Heinze. 


Schon in den Anfängen der griehifhen Philofophie tritt und der 
Gegenfas der mechaniſchen und teleologifhen Weltanfchauung entgegen in 
den Antipoden, Heraflit und Demokrit, die beide groß find in ihrer Weiſe. 
Bis auf die Gegenwart haben fich diefe Gegenſätze gehalten. Würde der 
Berfaffer der Philofophie de8 Unbewußten an Heraflit fih anlehnen, bei 
welchem Lebteren das Vernünftige und Zweckvolle fih au ohne Bemwußtfein 
bheraudarbeitet, fo würde die Mehrzahl der eracten Naturforfcher ala ihren 
Führer anerkennen den in feiner Conſequenz gewaltigen Demofrit. Einer 
diefer beiden verfchtedenen Grundanfichten Huldigen die meiften Philofophen 
in Betreff ihrer oberjten Principien, und will man ſich nicht genügen laſſen 
an dem äußeren Gefichtäpunft des Monigmus und Dualismus, fo laffen fi 
die Weltanfchauungen theilen in eine mechanifche im weiteren Sinne und eine 
teleologifche. Die erſte diefer beiden fann auch bezeichnet werden als die der 
mechaniſchen Gaufalität, oder als die der wirkenden Urſachen im Allgemeinen, 
indem wir bei den letzteren zunächſt denken werden an das mechanifche 
Wirken, oder wenigſtens für alle mwirfenden Urfachen eine Analogie fuchen in 
dem Mechanismus, jo dag ſich die Weltanfchauungen fchlieglich ſcheiden in 
die der wirkenden Urfachen und die der Zwecke oder Endurſachen. 

Die unbedingte Geltung der Gaufalität, fo weit die Erfahrung reicht, 
wird von alten und neuen Dentern in gleicher Weiſe zugegeben. ' „Nichts 
gejchieht ohne Urjache, fondern Alle aus einem Grunde und mit Noth» 
wendigfeit*, ſpricht Demofrit, in feiner einfachen aber alle eigene Unficherheit 
und allen Zweifel Anderer ausſchließenden Weiſe, und ihm haben es feitdem 
Unzählige nachgefprochen. ine wahre Allherrjcherin ift die Gaufalität! Alles 
unterliegt ihrem Zwange, und mögen mir diejelbe nur als ein Geſetz unferes 
Geiſtes anfehen, mögen wir fie auf die transcendenten Dinge anmenden, alfo 
auch — — von ihr machen, wir müſſen, um zu irgend 


*) Vortrag, — beim Antritt der ordentlichen Profeſſur der ——— in Baſel. 
Grenzboten IV. 1874. 


82 


welcher Erfahrung zu gelangen, gerade wie mit Naum und Zeit, fo auch mit 
ihr operiren. Feſtgeſchloſſen ift die Kette von Urſachen und Wirkungen, nicht 
ein Glied kann ohne dad andere herausgenommen werden, gerade fo wenig 
wie der geringfte Theil von Raum oder Zeit aus dem Continuum für fi 
berauggefchnitten werden Fann. Bon Urfahe wird man bei der Forſchung 
zu Urfache getrieben, und es ift die Kette ganz ebenfo unendlich wie Raum 
und Zeit, und ein Aufgeben geradezu des Gefeges ift ed, wenn man ein erfted 
Glied der Reihe annimmt. Gin Bedürfnig des Menfchen mag dazu nöthigen, 
das Geſetz felbft fchliegt den Anfang aus. 

Mird died Gefek der causae efficientes als das meltbewegende ange 
nommen, fo haben wir den Mechanismus, mie er fich ausgebildet hat in der 
antifen atomiftifchen Lehre, in dem Materialismus der neueren Zeit, aber 
auch mit beftimmtem Ausdruf in der Phyſik des Begründers der neuen 
dogmatifchen Philofophie, de Descarte®, und befonderd bet defjen großem 
Nachfolger, Spinoza. Aus der Lehre des Ietteren lernen wir, daß mit dem 
Mechanismus nicht nothwendig verbunden ift der Materialiamud, Denn fo 
häufig Spinoza auch zu den Materialiften gezählt wird, er darf doch nicht 
ala folcher bezeichnet werden; man müßte denn unter Materialidmud ver 
ftehen die Anerkennung der ausnahmsloſen Gaufalität. Dann mürden aber 
viele Andere, die biöher nicht zu den Materialiften gerechnet wurden, fich 
diefen Namen gefallen laſſen müfjen. 

Bindend ift das Gefeg der Baufalität in allen Fällen, fo daß man ſich 
nit von ihm löfen kann. Ob es aber au ausreicht zur Erklärung von 
Allem, was in der Erfahrung aufſtößt? Die rein wirkenden Urfachen fcheinen 
blind, ed Fann zu dem Einen das Andere nicht pafjend vorhergeformt werden 
durch das blinde Aufeinanderfolgen von Urſache und Wirkung, und doc) tft 
eine Harmonie in dem Ganzen der Welt troß der mannigfachen Diffonanzen 
nicht in Abrede zu ftellen. Es befteht eine Harmonie zwifchen den einzelnen 
Dbjecten im ganzen und großen Weltenraum und auch auf unferer Erde; e8 
bejteht eine Harmonie zwijchen den einzelnen Cheilen der Organidmen, indem 
fih Eins zum Andern fügt, Eins das Andere ftüst und fördert, fo daß Keins 
ohne das Andere fich denfen läßt; es befteht aber ganz befonders eine Har- 
monie zmwifchen dem Object und dem Subject, jo daß eine Empfindung, An- 
Ihauung, Erfahrung zu Stande gebracht wird. Ohne genügende und wirkende 
Urfahen kann man ſich nichts von dem allem entjtanden denken ; aber reichen 
diefe hin um die Wirfung, wie fie vorliegt, ganz zu erflären? 8 findet fid 
im Cicero die jehr bemerfenämwerthe Stelle: 

„Wer meint, dag die Welt nur durch zufällige Zufammenfügung von 
Atomen entftanden ift, der kann auch glauben, daß wenn unzählige Formen 
von Buchftaben unter einander geworfen würden, die Annalen des Ennius 


83 


dadurd; hervorgebracht werden könnten, fo daß fie zu Iefen feien.“ Es läßt 
fi) hier von vornherein mit voller Beftimmtheit nicht? ausmachen, aber die 
Wahrſcheinlichkeit ift außerordentlich gering und wird unendlich Elein, daß die 
ganze Welt mit allen ihren Einzelheiten dur das ziellofe Bewegen ter 
Atome hervorgebracht fet, ebenfo wie die Wahrfcheinlichkeit unendlich Hein ift, 
dag auf die angegebene Weife ein großes und treffliches Gedicht, eine Tragödie 
oder Komödie, zu Stande komme. Wir müffen und hier nad) einem anderen 
Rrineip no umfehen, das uns den Zufammenhang der Welt leichter erklärt, 
oder überhaupt erklärt. Bei dem Gedichte ift es der fchaffende Geiſt des 
Menfhen, der die Buchſtaben im Hinblide auf ein beftimmtes Ziel, das er 
in fi) aufgenommen hat, zufammenfett. Nach einem Ziele. werden fih auch 
die Atome der Natur bewegen, wie wir auch fonft die Atome auffallen 
mögen, und jo würde dad Prineip, deſſen wir zur Erklärung bedürfen, der 
Zwed fein. Mag der Zweck nun zu unferem apriorifhen Beſitz gehören, 
oder mögen wir diefes Princip erft gewinnen aus der Thätigfeit des Menfchen 
felbft, der einen zukünftigen Zuftand herbeizuführen fucht, jedenfalld ift er 
[don in den Anfängen der Philofophie dur Sofrated übergeführt worden 
von der menfchlichen Thätigkeit in die Natur, und feit jenen Tagen tft neben 
bejonnener Anwendung viel Mißbrauch mit diefem Princip getrieben worden. 

In der Außerlihen Art, den Zweck zu handhaben, ift Chryſippos, der 
ehte Schüler des Sofrated, Chryfippod, der fi deshalb den Spott der 
Epifureer und Akademiker verdiente. Artitoteles it ed, der in einer tieferen 
Auffaffung den immanenten Zwed, den jedem Wefen eingeborenen Zweck feines 
Dafeind und feiner Entwidelung auffuht, und von ihm find die causae 
finales in die Speculation des Mittelalterd und der neueren Zeit über- 
gegangen, um eine große Rolle zu fpielen. 

Für die bedeutendften Gegner des Zweckes können außer den Atomiftifern 
de8 Alterthums Francid Baco, Spinoza und endlich neuerdings viele Anhänger 
Darwin’s gelten. Die Zmwedbegriffe gehören nad) Baco zu den idola tribus, 
d. h. zu den falfchen Vorftellungen, die in der Natur eined jeden Menfchen 
begründet find. Diefe Zweckurſachen feien die Quelle des flaunendwerthen 
BVerderbend in der Whilofophie, da die Methode der Endurfahhen in der 
Phyſik die Unterfuhung der natürlichen Urfachen geftört oder geradezu zurüd- 
gedrängt habe. In der Natur fei aber Alles durch wirkende Urſachen und 
causae physicae zu erklären. Deshalb ſei auch die Philofophie eines De 
mofrit und Anderer, welche Geift und Gott bei der Bildung der Dinge nicht 
anmendeten, die Ordnung der Welt aus dem zufälligen Spiele der Natur: 
fräfte entftehen ließen, und die Erfcheinungen im Einzelnen aus materieller 
Nothwendigkeit, ohne Berückſichtigung eined Zweckes ableiteten, in phyſika— 
kalifcher Hinficht weitaus den Lehren des Platon und des Ariftoteled vorzu- 


84 


ziehen. Die Betrachtung der Endurfachen gehöre in die Metaphyſik und nicht 
in die Phyſik, aus der fie zu verbannen ſei, weil fie in ihr den größten 
Schaden angerichtet habe. 

Baco vermwirft alfo nicht für die ganze Philoſophie den Begriff des 
Zwedes, aber wohl für die Phyſik, d. h. für die eracte Wilfenfchaft, und er 
bat ſich hierdurch ein großes Verdienft erworben. Hier müffen die Thatfachen 
erforfht, die materiellen und wirfenden Urfachen müffen ergründet werden; 
methodifche und auf Erperimente fich ftügende Inductionen, das ift es mo. 
durch die Phyfik Förderung erfahren kann. Mit diefer Anfiht verträgt fich 
aber nad Baco gar wohl der teleologifche Geſichtspunkt. Denn wenn die 
Gegenftände unferer Erfahrung auch nah der einen Seite ald MWirfung 
mechaniſcher Kräfte angefehen werden, fo ſchließt died nicht aus, daß fie nach 
der anderen nüglih und zweckmäßig erfcheinen. Die Augenwimpern dienen 
allerdings ald Haare dem Auge zum Schuße, aber nicht ift die Frage in der 
Phyſik: „Wozu nüsen die Augenwimpern?“ fondern: „Warum wachen an 
diefer Stelle Haare?" ine Umkehr ded Sachverhalts, wie man ihn bei ge 
nauer Unterfuhung findet, ift ed, wenn man den Nuten, der durch etwas 
hervorgebracht wird, ald das Bewirfende felbit Hinftellt. 

Zugleich weiſt nach Baco die teleologifche Betrachtung der Natur Hin 
auf eine Vorſehung, melde das MWalten der Naturkräfte ordnet und lenkt; 
denn einer folhen Ergänzung bedürfe die Erklärung aus phyfifchen Urfachen. 

Mir fehen, der Vater der modernen Empirie hat für dad Ganze feiner 
Weltanfhauung des Zweckes nicht entbehren wollen und können. — Er faßt 
zwar das Princip etwas äußerlich, indem er nur den Vortheil im Auge bat, 
verfolgt es auch nicht weiter, weil fein Schwerpunkt auf einem anderen Ge- 
biete Itegt, aber er gebraucht e8 doch, und falfch tft e8 demnah, wenn Baco 
als abfoluter Gegner der Teleologie hingeftellt wird. 

Ganz entjchieden ſchloß von feiner MWeltbetrahtung den Zweck aus 
Spinoza, der fich befonders in feinem berühmten Appendir zu dem erften 
Bude der Ethik über diefen Begriff verwerfend audfpricht, und die fpinoziftifche 
Philofophie erfreut fi deshalb auch hier und da bei den Naturforfchern der 
Neuzeit einer großen Achtung. 

Freilich richtet ſich Spinoza hauptfächlich gegen die fehr äußere Anmen- 
dung des Zweckes, infofern die ganze Natur auf den Nuben ded Menfchen 
angelegt fein fol. Da die Menfchen in fi und außer fi viele Mittel fän- 
den, die zur Erreihung ihres Nutzens bedeutend beitrügen, wie die Augen 
zum Sehen und bie Zähne zum Kauen, die Kräuter und Thiere zur Speife, 
die Sonne zur Erleuchtung, dad Meer zur Ernährung der Fifche und dergl., 
fo ſei e8 gefommen, daß fie alled Natürliche gleihfam ala Mittel zu ihrem 
Bortheil betrachteten, und ohne Zmeifel hat Spinoza volled Recht, wenn er 


85 


mit feharfer Polemik diefe niedrige und populäre Art der Teleologie bekämpft. 
Aber hierbei bleibt fein Angriff nicht ftehen. Schon in dem menfchlichen 
Handeln darf nah Spinoza das, was wir Zweck nennen, nit angenommen 
werden; auch bier beruht die Annahme von Zwecken nur auf Unfenntniß der 
Berfettung von Urfachen, und noch viel mehr ift dies der Fall, wenn wir in 
die Natur einen Zwed ſetzen. Es führt zu nichts, ala alled Forſchen nad 
der Urfache der Dinge abzufchneiden, und nur die Unmiffenheit flüchtet fich 
in dieſes Afyl. 

Die Natur bat fich Feinen Zweck vorgefegt, und alle Zwecke find nicht? 
als menfhlihe Erfindung. Durch die Lehre vom Zwecke wird der wahre 
Sachverhalt gänzlich umgedreht; denn das, was in Wahrheit die Urfache ift, 
betrachtet dieſe Lehre als Wirkung und umgekehrt; ferner macht fie dad, was 
in Wahrheit dad Spätere ift, zu dem Früheren, und was dad Höchfte und 
Bolfommenfte ift, zu dem Unvollkommenſten, diefed dritte deshalb, weil die 
legten Dinge um deren willen die früheren hervorgebradht worden am voll- 
fommenjten fein müßten, nach Spinoza aber das die größte Vollkommenheit 
bat, was von Gott unmittelbar bewirkt wird — eine unbemwiefene Behaup- 
tung Spinoza's, die mit demfelben Rechte umgekehrt werden könnte. Richtig 
ift es, daß durch Annahme von Zwecken das Verhältnig von Urſache und 
Wirkung umgekehrt wird, doc nicht vollftändig: das Ding felbit, oder die 
Veränderung, die in dem Zwecke vorgeftellt und gewollt wird, eriftirt noch 
nicht realiter, fondern nur, um von und Menfchen zu reden, in der Vor- 
ftellung. 


Zur Reugnung der Zmede trieb den Spinoza der ftrenge Gedanfengang, 
die zwingende Gewalt, die er feiner Philofophie beilegen wollte, das Princip 
der Gaufalität, dem er feine Philofophie unterwarf. Dad Mufter für die 
Demeidführung ift dem Spinoza die mathematifche. Den mos geometricus 
führte er in feine Philofophie ein. Die Mathematik fennt feine Zwecke: das 
Dreieck iſt nicht dazu da, damit irgend welche Sätze aus ihm abgeleitet wer— 
den fönnen, fondern weil dad Dreieck der Art ift, wie es ift, folgen die das— 
felbe betreffenden Säge; gerade fo nun, wie ſich aus dem Wefen der Figuren 
die näheren Beitimmungen ergeben, implicite alle darin ſchon liegen, fo daß 
es nur des folgernden Verſtandes bedarf, um die ganze Geometrie zur Dar; 
ftellung zu bringen, gerade fo follte ed nur eines mathematifchen Verſtandes 
bedürfen, um aus den Grundbegriffen des Spinoza die ganze Welt abzuleiten. 
Es ift hier nur von Spinoza bei aller Großartigfeit feined Syſtems, die den 
Geift fo leicht gefangen nimmt, ein bedeutender Fehler begangen. Die Ma- 
thematif bedarf bloß einer logiſchen Entmwidelung, die Welt aber bedarf einer 
zeitlichen Entwidelung; in der Mathematif Handelt es fih nur um Grund 


86 


und Folge, in der Entwidelung der Welt, der Vielheit aus der Einheit, der 
Modi aus der Subftanz, handelt es fi) um Urſache und Wirkung. 

Urſache und Wirkung Haben wir in der reinen Mathematik nicht, die 
Gaufalität ift aber dad Princip, von dem der gemaltige Denker feine Philo— 
fophie abhängig macht, der zu Liebe er den Zweck vernichtet, und die Caufa- 
lität gerade ift in feinem Syftem unmöglich gemacht, gerade fo unmöglich 
wie der Zmed. Es tft bier demnach zu viel bewiefen, und gegen den Zweck 
feine ftichhaltige Inſtanz vorgebracht, die nicht auch zugleich die Cauſalität 
mit vernichtete. 

Als den dritten Hauptgegner des Zweckes nannte ich viele Anhänger der 
Dedcendenzlehre und ihrer näheren Begründung, der Selectionätheorie. Yin- 
den die Anhänger ded Zweckes ein Hauptargument für diefed ihr Prinzip in 
den zweckmäßigen Organismen und in ihrer großen Verſchie denheit, fo werden 
nad der neuen Lehre diefe Gattungen von Thieren und Pflanzen aus einer 
geringen Zahl vorbergehender abgeleitet, und diefe wieder aus einer einzigen 
Stammmutter, indem fich die Gattungen herausgebildet haben nad) den ver- 
fchiedenen Rebendbedingungen, und das einmal Vorkommende und für die 
äußeren Umftände Paſſende dur Vererbung ſich fortpflanzt: „die natürliche 
Auslefe im Kampfe ums Dafein, dad Zugrundegehn ded minder Zweckmäßi— 
gen, das Ueberleben und Sichmeitervererben des Paſſendſten und Zweckmä— 
Bigften, ift ein Borgang von mechanischer Caufalität, in defjen gleichmäßige 
Befeglichkeit nirgends ein teleologifeh beftimmended, metaphyſiſches Princip 
eingreift, und dod geht aus ihm ein Refultat hervor, das mwefentlich der 
Zweckmäßigkeit entfpriht, d. h. diejenige Befchaffenheit befist, welche den 
Drganidmen unter den gegebenen Umftänden die höchſte Zweckmäßigkeit ver: 
leiht. Die natürliche Zuchtwahl löft das feheinbar unlöglihe Problem, die 
Zweckmäßigkeit ald Kefultat zu erklären, ohne fie dabei ala Princip zu Hülfe 
zu nehmen“ *), und auf diefe Art hat diefe Lehre den Götzen des Zweckbegriffs 
zerbrochen. So triumphieren die Anhänger Darwin's. 


Segen die Descendenz- und Gelectiondtheorie felbit ift von philo— 
ſophiſcher Seite nichts einzuwenden. Es ift durch fie Vieled erklärt und fie trägt 
gute Früchte, wenn fie auch felbft noch nicht über alle Zweifel erbaben ift, 
wie ſchon andererfeitd darauf hingewiefen ift, daß fih Manches in den Dr: 
ganidmen, 3. ®. die Fünftliche, auf äfthetifhen Genuß, nit auf Erhaltung 
ded Lebens nur, zielende Einrichtung in Auge und Ohr aus dem Kampfe 
ums Dafein allein nicht wohl erklären läßt. 

Uber diefe Lehre zugegeben, follte durch fie wirklich der Zweck vollftändig 

vernichtet fein? Cie nimmt die Zweckmäßigkeit ald Nefultat einer langen 


) S. Oscar Schmidt, Dedcendenzlebre und Darwinidmud. ©. 176. 


87 


Kette von Urfachen und Wirkungen auf, fie erfennt diefelbe alfo do an, und 
damit, daß fie ald Folge der natürlichen, caufalen Entwidelung angefehn wird, 
ift der immanente Zweck noch keineswegs aufgehoben. Es ift die Immanenz 
gleibfam nur weiter zurüdgefchoben ; es find alle fpäteren Bildungen hinein— 
gelegt in die Urzelle, in das erſte Moner, oder dad, was man als das erfte 
organifche Wefen annehmen mag. Es hat in diefem Urmwefen der Keim zu 
der ganzen organifchen Welt gelegen; — nit durch Zufall kann diefe ent- 
fanden fein, fondern dur Nothmendigfeit, durch den von innen heraus nad 
dem ehernen Gaufalitätägefeg, d. b. nach Nothwendigkeit wirkenden Zweck, 
muß fte fih entwickelt haben. 


Auch die Eleinen Abweichungen in den Individuen, , die fih für die äu— 
heren Verhältniſſe ala pafjend bewähren und fi) vererbend nun immer 
zweckmäßigere Bildungäformen hervorbringen, fie find doch nit Zufällig. 
feiten , fondern auch fie müſſen ihre Urfache in den vorangegangnen Gene: 
rationen haben, wie die Anhänger Darwin’ felbjt am erften zugeben werden. 
Wären diefe Abweichungen dem Zufall anheimgeftellt gemefen, und hingen 
fie niht ab von immanenten Gefegen,, fo wäre wahrfcheinlih nichts Zmed« 
mäßige8 entftanden, denn der unzweckmäßigen Organifationen kann man fich 
unendlich viel mehr denken, ald der zmwedmäßigen. est müfjen wir aber 
nah Darwin fogar fo weit geben, zu fagen, daß die organifche Welt in 
ihrem jeweiligen Zuftande die vollfommenfte ift, d. h. die, weldhe ſich den äuße— 
ven Berhältniffen unter allen denkbaren Fällen am beiten angepaßt hat, da 
dad Gleichgewicht zwiſchen äußeren Bedingungen und der Organifution der 
Mefen ftet? erreicht wird. Alfo nicht nur die Entwidelung, fondern aud) die 
Entwickelung zum Beſten ift in der Selectionstheorie eingefchloffen, und 
diefe Lehre muß bier zu demfelben Refultate kommen, wie der Optimismus 
Reibnizen. *) 

Das Einzelne und dad Ganze mußte vorgebildet fein, fonft hätte es 
nicht entftehen können, vorgebildet mußte es fein, wie der Baum mit vielleicht 
taufendjähriger Entwidelung vorgebildet ift in dem Samenforn, aus dem er 
entftanden ; die äußeren Umftände treten hinzu und helfen diefer und jener 
Möglichkeit zur Verwirklichung, unterdrüden andererfeit® diefe und jene 
Anlage, aber fein Aft, fein Blatt, Feine Zelle Fann ſich bilden, wozu die 
Möglichkeit und die Anlage nicht gegeben wäre. 

So ruht und fchläft das Spätefte in dem Früheften, das Früheſte wird 
zum Späteften. Wir haben beim Baum mie bei der ganzen Welt das große, 
freilich ſchwer auszudenkende voregor reorepor, zu dem aber der Gedanfe 
mit Nothwendigfeit drängt. Diefed varsgor reorsgor tft weiter nichts ala 


) ©. du Boid-Reymond, Leibnizifche Gedanken in der neueren Naturwiſſenſchaſt. 


88 


der Zweck, der im Anfang ſchon beitand, und von dem Zwecke kann ſich die 
Selectiondtheorie nicht losmachen. 

Auh noch etwad Anderes zmingt zur Annahme dieſes Principe nad 
Darwin's Lehre. Der Kampf ums Dafein ift das Loſungswort der Theorie. 
Aber beruht nicht der ganze Kampf ums Dafein auf dem Streben der Natur, 
das einmal Hervorgebrachte zu erhalten, ald Individuum oder als Gattung? 
Jedes Einzelgefhöpf ſucht fein Dafein fortzufegen, das iſt ein echter und 
fihtbarer Zwef, den fogar Spinoza klar genug ausgeſprochen, und zum 
Fundament feiner Ethik gemacht hat. Fiele diefer Trieb, diefer immanente 
Zwed, der fi) dur den Trieb verwirklicht, einmal meg, fo hörte der ganze 
Kampf um das Dafein auf, da jedes Gefchöpf fih dann ebenfo gern dem 
Berderben anheim geben müßte, als fich felbft erhalten. 

Mir find bier gerade bei der Lehre Darwin's zur Verbindung von Cau- 
falität und Zmed gefommen. Bon beiten fünnen wir und bei der Betrad- 
tung der Welt nicht los machen. Wollen wir ung nicht in dem Widerſpruche 
der zwei WPrincipien gefallen, fo müfjen wir beide in einander aufnehmen, 
wenn auch nicht das eine dem andern unterordnen. Die ftrenge Gaufalität 
wird nicht ohne Zweck fich denken lafjen, ebenfowenig wie der Zmed ohne 
Gaufalität. Die letztere ift nicht® Anderes, ald die logifhe Nothmendigfeit, 
die fih in der Entmwidelung darlegt, — wird fie doch als Geſetz unſeres Geiftes 
aufgefaßt und ift durchaus logiſch. Die Logik fchließt aber ſtets das Ende 
der Reihe, alfo den Zwed in fih. Demnad würden wir in der Logik, in der 
logiſchen Nothwendigfeit, die wir nun und nimmer aus der Welt unjerer 
Erfenntniß, ebenfomwenig mie aus unferm Geifte entfernen Eönnen, die beiden 
ſcheinbaren Gegenfäge, Caufalität, d. h. mechanijche Eaufalität, und dad teleo- 
logifche Princip, verbunden finden. Nur ift die Teleologte nicht in der Meife 
zu faffen, daß wir den Zmwed, worauf Alles ſtets hinarbeitet , jedes Mal er 
Eennen, die Zweckmäßigkeit eines jeden Dinged angeben Fönnten, ebenjomwenig, 
wie wir je dahin Fommen werden, die wirkenden Urſachen von allen Er: 
fheinungen anzugeben, ohne doch daran zu zweifeln, daß ſich ſtets jolche 
finden. 

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Gefchichte, fo ift der Verſuch, 
Gaufalität und Teleologie mit einander zu verbinden, ſchon öfter gemacht. ch 
gebe hier nicht auf Ariftoteled ein, den eigentlihen Philoſophen des Zwecks. 
Bei ihm wird der Zweck noch nicht Herr über die Materie, und der Dualik- 
mus bfeibt ftehen. Ich erwähne zunächſt die Stoifer, die mit einer Beitimmt- 
heit das Cauſalitätsgeſetz ausſprechen und überall geltend machten, mie wir es 
fonft in der alten Philoſophie nicht finden, und doch den Zmed als all 
mächtig in ihrem Syſtem walten liegen. Zugleich waren fie Materialiften, 
nicht in dem Sinne wie die Atomiftifer, aber doch in dem, daß fie nichts 


89 


Immaterielles als wirfend, als wirklich, annahmen. Der Begriff, in dem fie 
die fcheinbar widerfprechenden WBrincipien, die mechanische Gaufalität und 
den Zwed, zufammenbanden, war der Aoyos anepnerimös, der ſich theilt 
in unzählige Aoyoı onsouerixoi oder Samenfeime. Dieſe vernünftigen 
Urfamen — der Name „Atom“ würde für fie nicht bezeichnend fein, — 
find materiell und enthalten in fih dynamifch die ganze Entwidelung 
der Melt, indem fie fi bald zu dem einen Gebilde oder Organigmus, 
bald zu dem andern geftalten. Nach dem ftrengen Gefes von Urfache und 
Wirkung ift ihre eigene Entfaltung und find ihre Einwirkungen auf die fie 
umgebenden Stoffe nur möglich, aber doch gehen fie auf beftimmte Ziele, auf 
beitimmte Formen los, die fie in nuce in ſich bergen, ohne etwa Typen für 
die entftehenden Geſtalten zu fein, alfo ohne alle Aebnlichkeit mit den pla- 
tonifchen Ideen, mit denen man fie öfter zufammenitellt. Nicht Borbilder 
find fie, nicht Allgemeined oder Gattungsbegriffe, welche bei den Stoifern 
feine reale Griftenz hatten, fondern auf etwas Individuelles ftet? angelegt 
und in dadfelbe ausgehend. 

Der Begriff ift von der Stoa nicht weiter ausgebildet, oder wir finden 
ihn wenigitend in den fragmentarifchen Berichten über diefe Schule nicht 
näher durchgeführt, aber ohne Zweifel ift er einer der mefentlichiten in der 
ſtoiſchen Philofophie und hätte eine größere Bedeutung gewinnen follen, da 
in ihm die drei wichtigften Prinzipien in der Philofophie: mechanische Urfache, 
Materie und Zweck, mit einander vereinigt find. Die Harmonie der ganzen 
Welt wurde dann durch den allmaltenden Logos, welcher alle diefe Samen in 
fh zufammenfaßt zu einer Einheit, hervorgebradht und erhalten. — Man 
mag über diefe Lehre abſchätzig urtheilen; ald ein VBerdienft muß den Stoifern 
der Berfuh die entgegengefesten Standpunkte zu verfühnen, immerhin an: 
gerechnet werden. 

In ganz andrer Weiſe als diefe alten, ernten, häufig nicht genug ge 
würdigten Denker, unternahm es Leibniz. Saufalität und Teleologie zu ver 
einen, und er ftellte geradezu in feinen jüngeren Jahren es als Aufgabe feines 
Lebens hin, die Atomiftit des Demofrit mit den fubjtanziellen Formen des 
Ariftoteled in Einklang zu bringen. Als ftrenger Mathematiker mußte er der 
mechanischen Weltanſchauung huldigen, aber ala umfafjender Geift hielt er da- 
für, au in der Teleologie fei Wahrheit, und fo müßten die Gegenfäße ver- 
einigt werden, wie er überhaupt es für Befchränftheit anfah, wenn jemand 
auch auf anderm Gebiete in einem Gegenfage verharrte. Hatten nun die 
Stoifer in ihrem Monismus alles Geiftige zur Materie gemacht, fo machte 
umgekehrt Leibniz alles Materielle zu Geift, oder wenigſtens zu Monaden, 
d. h. zu metaphufifchen Punkten, deren Kraft das Voritellen ift. Trotzdem 


gelangt er zur Materie und zu Körpern, freilich auf etwas ſchwierige Weiſe. 
Grenzboten IV. 1874. 12 


0 


Im Grunde beruht aber die Erfheinung der Materie nur auf unjeren ver- 
worrenen Anfhauungen. Mit diefer Materie verbindet nun Leibniz ftreng 
den Begriff der mechanischen GSaufalität. Die Monaden find auch Körper, in- 
fofern fie Einzelmefen find, alfo Schranfen haben , und die Bewegungen der 
Körper gehen alle nah mechanijchen Gefegen vor fih. Someit von einer 
gegenfeitigen Ginwirfung von einem Beitimmtwerden durch einander die Rede 
ift, fo vollzieht fih das Alles auf mechanifhem Wege. Jeder Körper ift 
von vornherein eine Maſchine, fo daß fogar eine materialiftifche Naturan- 
ſchauung bei Leibniz zu Tage tritt. Wie verhält fih nun zu diefem Herr- 
ihen des Gaufalitätögejege® der Zweck bei ihm, durch defjen Annahme fi 
feine Philoſophie jo weſentlich von der des Spinoza unterjcheidet ? 

Es ift außer der leidenden Kraft, melde die Monade nach außen be 
ſchränkt und fie untertban macht dem Geſetz von Urfache und Wirkung, noch 
eine thätige Kraft in jeder Monade, welche ihren eigentlichen Inhalt bildet, 
während jene leidende ihre Individualität, ihre Befonderheit überhaupt er- 
möglicht. Dieſe thätige Kraft ift die Erfüllung der Eigenthümlichkeit einer 
jeden Monade, nichts ala diefe eine Monade vorausſetzend. Wird die leidende 
Kraft ald Materie betrachtet, fo diefe ald Form, daher auch entelechia 
prima genannt. Sie ift gleichſam die Seele der Monade; die Seele geht aber 
darauf aus, die urfprüngliche Anlage zu entfalten, und fo fommt in diefe 
Entwidelung der Zweck hinein, ald das Beitimmende und Maßgebende. Auf 
diefen Zweck, alfo die Entfaltung der urfprünglichen Anlage, arbeitet die 
ganze Mafchine los, auf ihn arbeitet die Caufalität los, die fogar das noth: 
mendige Mittel ift zu der Entmwidelung einer jeden Monade. Teleologie und 
Mechanismus müſſen fich verbinden, um die Welt in ihrem Grunde zu erklären. 
Allerdings bildet dabei die Teleologie das beftimmende und allgemeine Prin- 
cip, die Gaufalität das untergeordnete, wie died Leibniz unzmeideutig aus— 
ſpricht: causae efficientes pendent a finalibus. Während die Cauſalität nur 
auf die Natur im engeren Sinne, auf die Körpermelt geht, erftredt fi das 
teleologifche Prineip auf die ganze Weltordnung. Die mechanifche Welt darf 
nicht abgejondert werden von der moralifchen, auf welche leßtere Alles ange- 
legt ift.*) 

Man ann nicht fagen, daß troß der beftimmt ausgefprodhenen Abficht 
Leibnizens, die Gaufalität mit der Teleologie zu vereinen, diefe Aufgabe glücklich 
von ihm gelöft fei. — Die eine Seite, die Gaufalität, zieht trogdem, daß Reibniz 
auf dem Gebiete der Natur ein fo eracter Forfcher war, den fürzeren. Wird die 
Materie überhaupt zu einem Phänomenon, menngleid) bene fundatum, fo 
fommt aud die Gaufalität nahe daran, zu einem Schein zu werden, bloß 


) Val. Kuno Fifcher'd Darftellung diefes Kardinalpunftes in der Leibniziſchen Lehre. 


9 


auf einer confufen Anficht zu beruhen. Immerhin iſt e8 viel werth, zu con- 
ftatiren, daß Leibniz die Nothwendigkeit einer ſolchen Verbindung eingefehen hat. 

Eine jede philofophifhe Anfiht muß ſich heutigen Taged mit der 
Kant'ſchen Lehre, welche noch immer tonangebend ift, audeinanderfeßen. 
Stellen wir und auf den rein Fritifchen Standpunkt, fo ift allerdingd nicht 
die Rede von einer Teleologie, aber dabei darf man nicht vergeffen, daß dann 
auch nicht die Rede fein kann von Gaufalität. Beide Principien ftammen 
danach nur aus unſerem Geifte, find nicht conftitutiv, fondern nur regulativ. 
Solange wir alfo nur die Formen unfered Geifted in der Außenwelt finden 
und in dem Ding an fi nichts ihnen Entſprechendes, wird unjer ganzed 
Thema gegenftandalos fein. Sobald Kant aber den fritifchen Standpunft 
nicht einnimmt, fondern in die Welt der Erfahrung hinabiteigt, ftrebt er 
felbft, Gaufalität und Teleologie zugleich anzuwenden. So lange wir in der 
Natur audfommen mit dem Mechanismus, meint er, müſſen wir denfelben 
anmenden, wir müffen fogar verfuchen, Alles auf mechanifche Weife zu er- 
klären; kommen wir aber zu Naturerzeugnifjen, bei denen die Möglichkeit der 
mechaniſchen Erklärung ein Ende hat, fo müfjen wir fo verfahren, als ob fie 
nach Zweckbegriffen gebildet wären. Solche Producte findet nnn Kant in der 
Natur vor, indem er zugleich den Zweckbegriff in ariftotelifch » leibnizifcher 
Weiſe viel tiefer faßt, als die Aufflärungsphilofophie, welche in der populären 
Art des Alterthums Alles auf den Nuten des Menfchen bezog, und fo ver- 
dankt der Zweckbegriff dem Schöpfer des Kriticiamus ſehr viel, troßdem daß 
er nur aus unferem Geifte ftanımen fol. Die organifchen Wefen find nach 
Kant ohne den Zweck, der in ihnen deutlich hervortritt, gar nicht zu verftehen. 
Denn alles das Einzelne ift auf das Ganze gerichtet, alles Einzelne exiſtirt 
nur deshalb und hat nur darum einen Sinn, weil es fich zu einem beftimmten 
Ganzen bilden fol. So muß das Ganze ald Urfache für die einzelnen Theile 
angefehen werden, und diefe Urfache, d. b. diefe Endurjache, liegt ald formen» 
des Princip in ihnen felbft. ft aber bei den Organismen die innere Zweck— 
mäßigfeit anerkannt, fo ift e8 natürlich, daß wir fie auch fonjt in der Natur, 
in den anderen Producten und den Gefegen der Natur nicht blos ſuchen, fon: 
dern aud finden. Wenn gleib Kant ſelbſt diefen Begriff nicht zum Aufbau 
einer naturmiljenfchaftlichen Theorie anwendet — dazu ift er zu vorfihtig —, 
jo bat doc feine Naturerflärung für die Naturforichung der folgenden Zeit 
die beiten Früchte getragen. 

Kant läßt die beiden Principien nicht in einander aufgehen; fie haben 
getrennted Gebiet. Wo das eine aufhört, fängt das andere an; die eine 
Erklärungsart fchließt die andere aus. Erklären wir etwas nad) mechanifchen 
Urfahen, jo können wir nicht mehr nach einem Zweck fragen, und können 


92 


wir etwas aus feinem Zweck herleiten, fo erjcheint es nicht ale mechaniſch 
nothwendig. 

Diefe Lehren Kant's würden zu einer beſtimmt bdualiftiichen Anficht 
führen. Der Dualismud treibt aber den Stahel in den Geift und Täßt 
diefen nicht ruhen, bis er in der Einheit des Princips Befriedigung gefunden 
hat. In der vorhin angedeuteten Weiſe ift es möglich, den Dualimus zu 
befiegen. Wendet man die Gaufalität allein an, fo vergißt man den Blick 
nah vorn zu richten, vergißt man, daß jede Urſache eine beftimmte Wirkung 
haben muß; braucht man einfeitig das teleologifche Princip, fo unterlißt 
man den Bli nach rückwärts, denkt nicht daran, daß jede Erfcheinung von 
einer Urfache abhängen mug. Gebt man aber die Entwidelung und das 
Ende in den Anfang und braudt ald Bindendes und Einendes die Logifche 
Nothmendigkeit, jo daß der Zweck nichts ift, ald das Endglied der logiſch— 
caufalen Kette, das mit dem erften Glied zugleich gefegt fein muß, jo berüd- 
fihtigt man beide® in der für unferen Verſtand nöthigen Weile. Dann 
findet das fireng wiſſenſchaftliche Bewußtſein, das ſich an die Gaufalität 
halten will, feine Befriedigung, aber indem der Zweck ald dee von vorn- 
herein in dem Stoffe liegt und ihn zum Ziele führt, gelangen auch die 
idealen Intereſſen und Bedürfniffe zu ihrem Nechte, das zu fordern ihmen 
zufommt. 


Fin amerikanifher Kumorifl.*) 


Unter den jüngften Erzeugniſſen der belletriitifchen Xiteratur des Aus— 
landes hat kaum eine Schrift in Deutfchland ſoviel Auffehen und Beifall 
erregt, ald die Argonauten-Gefhichten von Bret- Harte, die vor mehr ale 
einem Jahre im Verlage von F. W. Grunow in Xeipzig erfchienen. Unſere 
beiten Zeitungen und Zeitfchriften brachten aus der Weder der hervorragenditen 
Schriftſteller und Kritiker Deutfchlands Beſprechungen und Eſſays über 
diefe Dichtung des Falifornifchen Autorde. Ste Alle zeigten fih durchaus 
einig in der bewundernden Anerkennung feiner fünftlerifchen Kraft und 
poetifchen Tiefe, feiner wunderbaren Begabung für anfchauliche, feine und 
gedrängte Zeichnung von Landichaften, Stimmungen, Charakteren und Ereig- 








*) Amerifanifhe Sumoriften. 1. Band. Prudence Palfrey und andere Leute von 
Thomas Bailey Aldrih. Ins Deutſche übertragen von Morik Buſch. Leipzig, fr. 
Wilh. Grunow 1874, 


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niſſen. Einmüthig war die deutfche Kritif über Bret Harte's Argon auten- 
Geſchichten au darin, dag nur einem Dichter von Gottes Gnaden gelingen 
fönne, aus dem groben und gemeinen Stoff des Falifornifhen Minenlebens 
das echte Gold ver Poeſie herauszuſchlagen in folcher Reinheit und Feinheit, 
dag alle Welt das Edelmetall, das Bret Harte dem fpröden Boden ab- 
gemonnen, als foldhed anerkennen mußte. Namentlich Iehrte jeder Vergleich 
feiner Argonauten-Gefhichten mit den Schriften unferer deutfchen Kallfornia » 
Reifenden und Amerifa-Schilderer, wie unendlich hoch an poetifhem Werthe 
jede der Fleinen anfpruchslofen Novellen Bret Harte's über all den didleibigen 
und mit aller Kunft der Reclame zu angeblichen Ehrendentmalen deutjcher 
Literatur aufgeblafenen Roman-Bänden ftehe, welche von Deutfchen über die- 
felben Stoffe gefchrieben morden find. Nur das Eine tft Bret Harte's 
Schreibweije nicht ohne Grund zum Vorwurf gemaht worden, wad an an— 
deren Stellen man gern als einen feiner größten Vorzüge anerfennen wird: 
feine Kürze und Gedrungenheit in der Schilderung und Entwidelung nämlich 
erzielt oft den allergrößten Erfolg, beweiſt häufig in überrafchender Weiſe 
fetne poetifhe Kraft; aber keineswegs felten verdirbt fie auch die Klarheit 
und Anfchaulichkeit des Bildes, und namentlich ded Fadens der Handlung. 
Die Situationen, die Charaktere, die Spracymanieren der Argonauten Bret- 
Harte's find und ja ohnehin nicht ganz geläufig, und offen geitanden auch 
nicht immer ganz behaglih. Für einen genauen Kenner der neuen und in- 
fonderheit der Falifornifhen Welt mögen diefe Eurzen ſcharfen Striche, über 
die Bret-Harte höchſt felten hinausgeht, genügen ; die Phantafie oder Lebens— 
erfahrung mag dem Kenner die menigen Umriſſe des Künftler® von felbit 
mit Richt und Schatten füllen. Und dagegen merden fie nicht immer genügen, 
und nicht felten den Eindrud einer allzu flüchtigen Skizze zurücklaſſen. — 

Es wird natürlich nie im Ernfte unternommen werden können, die höchſt 
eigenthümlihe Art Bret-Harte'3 der eined anderen Schriftfteller® nahe zu 
ftellen. Und ficherlich erjcheint fein Randamann Thomas Bailey Aldrid, 
der heute bei den Xefern d. Bl. eingeführt werden fol, dem Dichter der 
Argonauten-Gefhihten auf den erften Blick ſo unähnlich als möglich. Humor 
wird freilich niemand Bret-Harte abjprechen. Aber die Tiefe feiner Seele ift 
durchaus ernft. Er befist eine befondere Kunft darin, und eine befondere 
Borliebe dafür, feine Gefchichten luftig anzufangen und mit Frohfinn und 
Heiterkeit anzufüllen, und dann plötzlich mit einem Accord zu ſchließen, der 
ung den tiefften Ernft des Menfchenlebend ausſpricht. Thomas Batley Aldrich 
ift darin gerade dad Gegentheil von Bret-Harte. Auch er ift ficherlich weit 
entfernt von einer leichten oder gar frivolen Auffaffung des Lebens, menſch— 
liher Strebungen und menfchlicher Beſtimmung. Er tft ein vortrefflicher 
Beobachter und Schilderer auch der ernfteften Züge des menfchlichen Herzen? ; 


94 


er Kann fogar das jchmerfte Leid und die fürchterlichfte Lage, in die ein 
Menih gerathen kann — fein Mr. Philipp Wentworth z. B. wird im 
Todtengewölbe feiner plößlich geftorbenen Braut vergeffen und eingefchloffen 
— mit einer realiftifhen und doch poetifchen Anfchaulichkeit ſchildern, daß 
man glaubt, nur diefe Schilderung fei der Zweck ded Dichter. Aber im 
Grund ift das keineswegs feine Hauptabfiht. Aldrich verfolgt fiherlih unter 
anderm auch den Zweck, und zu fpannen, für feine Helden mit Intereſſe und 
Sympathie, wohl aud mit Zittern und Zagen zu erfüllen, oder unfer Ge- 
müth auf einen tragifchen Ausgang vorzubereiten. Aber der Haupt und 
Endzweck aller feiner Sachen ift doch, ung ein herzliches Lachen abzugeminnen, 
und zwar nicht am menigiten über und felbft, daß wir und von feiner Dar- 
ſtellungskunſt verleiten ließen, bange zu werden und den Scherz für Ernft zu 
nehmen. Aldrich ala ehrlicher offener Humorift wird nie zulafien, daß eine 
Geſchichte übel endet. 

Das wird und fchon bei der eriten Bekanntſchaft mit ihm zur Gewißheit 
und er ift fo anftändig, Wort zu halten. Der arme Mr. Philip Wentworth 
z. B., der nad) der Erzählung eined Mr. H. feine parifer Braut gerade in 
dem Augenblid verlor, ald er im Begriff ftand, fie zu heirathen und auf ein 
neuerfaufte® Landhaus bei Parid zu führen, und der dann, im Dunkel der 
Grabgewölbe de Montmartre lebendig begraben , das Grabliht aufißt, um 
fi feiner Familie zu erhalten und, nad einer Stunde und zwanzig Minuten 
Aufenthalt im Grabe, mit grauen Haaren wieder an die Erdoberfläche be 
fördert wird. — Diefer unfelige Mr. Wentworth ift bei Lichte befehen gar 
nit Mr. Wentworth. fondern Mr. Jones, auch nie im Fall gewefen, eine 
Braut zu verlieren oder lebendig begraben zu werden. Unbeftreitbar ift nur, 
daß er graue Haare bei jungen Zügen und Muskeln hat, und das hat dem 
Mr. H. „einem Mann mit literarifchen Neigungen, der beim Brüten über 
einem großen amerifanifhen Roman, der noch nicht gefchaffen ift, ein bischen 
von feinem Verſtande eingebüßt hat“, Gelegenheit gegeben, Mr. Aldrich „zum 
Beten zu halten, um thatfählih die Wirkung eine feiner Gapitel an ihm 
zu probiren.“ Das hält natürlih Mr. Aldrich nicht ab, und die Gejchichte 
mit der vollendeten Täuſchung zu erzählen, der er felbft angeblich zum Opfer 
gefallen ift. Diefe Täufchung des Leferd über die wahre Natur der Haupt: 
perfon oder mehrerer Berfonen bildet faft durchgehende den Haupteffect ded 
Humord bei Aldrih und fie wird meift mit um fo größerer Sicherheit 
erreicht, weil alle andern handelnden Perfonen gleichfalls fich fo benehmen, 
als ob fie volfommen an die Täufchung glaubten oder in der That wirklich 
daran glauben, fo daß bei und jeder Zmeifel dann ſchwindet, dat Alles mad 
Aldrih und zu erzählen für gut findet, auch wirklich wahr fei. Erft ganz 
am Ende der Gefchichte merken wir, daß wir ebenſo vollftändig wie die 


95 


Perſonen ded Stüdd myjtifizirt worden find: daß z. B. der ehrwürdige junge 
Beiftlihe Mr. James Dillingham, der die vernünftigften und thörichtiten 
Perſonen in der Hafenftadt Rivermouth in gleihem Maße entzüdt und 
erbaut, niemand Anderes iſt, als einer der gefährlichiten Hochftapler der Union, 
Namens Nevind. Oder wir fehen in einem Briefwechfel zmifchen zwei Freunden, 
von denen der eine gefund im Bade meilt, der andere mit gebrochenem Fuße 
frank daheim liegt, mit zunehmender Deutlichkeit Fräulein Majorie Dam 
geichildert — der Gefunde fhildert fie dem Kranken — wir erfahren mie fie 
ausſieht und fich Eleivet, was fie fpricht und thut, wie fie ſich allmählich in 
den beinbrüchigen Unbekannten ſterblich verliebt und zwei vortreffliche Partieen 
feinethalben ausfchlägt, bi® fie der Herr Papa nah dem Geftändniß ihrer 
Liebe zu dem Unbekannten einfperrt, um fie zur Raiſon zu bringen. Da hält 
ed der Kranke nicht mehr aus. Gr reift fofort in da® Bad — aber er findet 
dad Haus nicht, in dem Marjorie Dam mohnen fol, er findet auch feinen 
Freund nicht, fondern nur einen Brief deöfelben, der ihm mit dürren Worten 
fagt: „es gibt durchaus Feine Marjorie Dam!" Sie murde nur erfunden, 
um den Freund geduldiger auf feinem Lager zu machen, und vielleicht auch, 
um Watkins, feinen treuen Bedienten, vor der unangenehmen Bekanntſchaft 
mit den 27 Bänden von Balzac’d Werfen zu ſchützen, die lediglich zu dem 
Zmede um das Kranfenlager aufgefhichtet waren, um dem Herrn ald Wurf: 
geihoffe gegen den Diener zur Hand zu fein. Oder Aldrich jagt ung in einer 
anderen Novelle im Boraud, daß Fräulein Mehetabel dem würdigen 
Mr. Zaffrey ald jungfräulihe Braut dahingeftorben fe. Wenn aber nachher 
Mr. Jaffrey ung bi8 in die kleinſten Detaild erzählt, wie der aus diefer nicht 
vollzogenen Che mit Sicherheit zu erwarten gemwefene Sohn „Andchen“ ein- 
Hläft und Zähne befommt, feinen Vater beftiehlt, einem alten Spinet die 
Beine abfägt, und fchließlich in dem hoffnungsvollen Alter von elf Fahren 
in der rothen Stube von einer Bockleiter fällt und den Hals bricht, fo wirft 
die Sicherheit der Erzählung und die Fülle des Detaild fo berüdend auf 
und, daß wir aud) hier auf Schritt und Tritt uns fragen: mas ift Täufchung, 
was Wahrheit? Kann ein verwirrtes Gehirn fo confequent und folgerichtig 
bloße Phantosmagorien ausbilden, oder liegt der Geſchichte ein wirklicher 
Sohn des feligen Fräulein Mebetabel zu Grunde. Zuletzt erft find mir 
her, daß „Andchen“ wirklich nur in der Ginbildung eriftirte. 

An einer Stelle in „Prudence Palfrey“ fagt Aldrich: „Er beſaß Wis, 
aber feinen Humor, und der Unterjchted zwifchen Wit und Humor ift, wie 
mir fcheint, juft der Unterſchied zmwifchen einem zugeflappten und einem 
offenen Federmefjer.” Er meint bier offenbar den Gegenfaß von Satire und 
Humor; denn Wis und Humor find feine Gegenfäge. Der Wis fann fich 
in bumoriftifcher oder in fatirifcher Yorm äußern. Er ſelbſt gebietet, wie 


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wir fehen werden, über Humor und Satire in gleihem Maße, und wir find 
überzeugt, daß viele feiner Novellen, wie 3. B. unzweifelhaft die Gefchichte 
des begrabenen Mr. Wentworth „der Kampf um das Leben“, und vielleicht 
au die Iuftige Phantafiegeftalt „Marjorie Dam“ und „Andchen“ in der 
Hauptfache oder doch nebenbei den Zweck verfolgt, gewiſſe Modethorheiten 
ded amerifanifchen Senfationdromang zu geißeln. Uber wir Deutfchen wiſſen 
aus Karl Immerman's Schriften und deren negativem Erfolg, wie wenig 
ein Schriftfteller, felbit in einer, literarifchem Schaffen fo vorwiegend zugeneigten 
Epoche, wie diejenige war, in der Immermann fohrieb, damit augrichtet, den 
geiftreichen Kritiker der literarifchen Verirrungen feiner Zeit zu ſpielen. Und 
Aldrich zählt in dem meit weniger Eritifchen und weit productiveren und zeit 
ärmeren Nordamerika unferer Tage zu den beliebteiten Schriftitellern der 
Nation. Bon Smmermann’d Schriften ift im weſentlichen nur „Münchhaufen” 
und von dieſem geradezu epochemachenden Roman wiederum uur jener Theil 
zum unvergänglichen Gemeingut des deutfchen Volkes geworden, melcher fid 
um den Hofiehulzen und die Liebe des ſchwäbiſchen Jägers zu Lisbeth webt. 
Hier hat der Dichter Sitten und Neigungen und Charaktere geſchildert, die 
dem deutfchen Wolfe von heute fo ureigenthümlich und theuer find, wie vor 
vierundvierzig Jahren, ja die Faum eine Aenderung erfahren haben, feitdem 
das Schwert Karl’ ded Großen unter der uralten Behmlinde auf rother 
Erde beim Dingtag in der Sonne glänzte. 

So iſt auch Aldrich's befte Kraft gefest an die treue und wahre Schil— 
derung feine® Volkes, und der große und allgemeine Beifall, den feine Schrif- 
ten über den Dcean gefunden, ein Beweis dafür, daß er richtig und vor- 
trefflich darzuftellen vermochte, was Millionen mit ihm gleichzeitig empfanden. 
Nur fpringt auch bier, in der Schilderung der Eigenthümlichkeit des nord- 
amerifanifhen — oder wie er mit Vorliebe jagt „neuenglifhen“ — Lebens, 
der Unterfhied zwifchen ihm und Bret Harte in die Augen. Die nordameri- 
kaniſche Union ift in fich felbit das merkwürdigſte Beiſpiel der gleichzeitigen 
Vereinigung aller Kultur- und Wirthichaftdepochen, melde die Melt je 
gefehen hat. Große Stäbe, erfüllt von allen Tugenden und Gebrechen 
moderner Großftädte. Ringsum der ſtädtiſche Nahrungsfpielraum mit der 
intenfivften Bewirthſchaftung des Bodens foweit befchäftigt, als Induſtrie 
und Handel vom Boden übrig gelaſſen haben. Dann weite Strecken Landes, 
die einer mäßigen Landwirthſchaft dienen. Dann noch größere Flächen, melde 
die Väter erft der Kultur gewannen, wo die Abſatzquellen ſpärlicher find, als 
die Ernte. Dann jene immer noch unendlichen Streden jungfräulichen Bodens, 
auf denen der Trapper den Büffel jagt, oder der Indianer die legten Jahre 
feiner Freiheit verträumt oder der Goldfucher das gelbe Metall aus der Erde 
Ihaufelt oder dem Flußfande abgewinnt. Alle diefe Fachwerke menfchlicher 


9 


Thätigfeit aber rütteln fich fortwährend durcheinander. Aus dem überfeiner: 
ten Luxus der Großftadt ftrebt der verarmte Sohn eines reihen Haufes hinaus 
in die Wildniß, um fein Glüd in den Minen zu fuchen. Won der äußerten 
Peripherie des Landes ftrömen die Glüdlichen nad) den großen Gentren, um 
dad Gewonnene im Genuß zu verjubeln oder doc) behäbig zu leben. inmitten 
der größten Städte ift die Rechtsſicherheit und Rechtspflege etwas primitiv, 
der Gemeinfinn und das öffentliche Gewiſſen der VBervolllommnung fähig. 
Draußen aber an der Süd- und Weftgrenze oder in der Wildniß iſt von alledem 
gar nicht? zu fpüren. Das befte Mittel gegen Frevelthaten aller Art iſt 
dort immer noch, daß mohlmeinende Verſchwörer die Habeas-Corpus-Aete 
ſtillſchweigend fufpendiren und notorifche Mitjethäter an den nächſten Ahorn 
Mmüpfen, um deren Gundrechte an diefem Zuftande der Zufpenfion Theil nehmen 
zu laſſen. 

Bret Harte fchildert und nun mit Vorliebe das Yeben der Minen-Wild— 
niß, der füdmeftlichen Peripherie; Aldrih dasjenige des Kulturbodens der 
Vereinigten Staaten; indeffen nicht am liebften das Leben der großen Gentren, 
fondern Fleiner Städte der Oftküfte. Bret Harte würde vermuthlich erit dann 
zu der vollen Einfiht der dunfeln Seiten feiner Helden — auch der beitbe- 
leumundeten unter ihnen — gelangen, wenn die Gründlichfeit einer deutfchen 
Unterfuhungsbehörde fi) damit befchäftigte, das bedenkliche Vorleben und 
die zweifelhafte Gegenwart derfelben actenmäßig im Werfonalbogen feitzu- 
ttellen. Er findet den höchſten poetiſchen Reiz darin, zu zeigen, wie die» 
felben Qugenden, die der moderne Kulturmenfch für fich in Anspruch nimmt, 
diefelben Leidenfchaften und Zweifel, die diefen erfüllen und peinigen, auch da 
draußen in der gejeßlofen, fast Fulturlofen Atmofphäre ver Wildniß bei einem 
jufammengewürfelten Haufen meifterlofer Menfchen zu Tage treten, und die 
jelben Eonflicte erzeugen wie in der Kulturwelt. Aldrich dagegen jchildert 
und das verhältnigmäpig geordnete Leben alter gefeßter und mohlerzogener 
Städte „Neuenglands“, in denen dad Puritanertbum der Roundheade nod) 
deutlich wirft — alfo auch directe Erinnerungen an die vor zmeihundert Jah— 
ren eingemwanderten Vorfahren ſich erhalten haben — Städte, welche bewohnt 
find von einer für Amerifa denfbar confervativften und jtabiliten, dur und 
durch autochthonen Bevölkerung, der es tagelang zum Stadtgejpräch dient, 
wenn ein Kind der Gemeinde hinaugzieht, um fein Glüd in den Minen zu 
fuhen. Und dennoch müßten diefe Städte nicht Theile der amerifanifchen 
Union fein, wenn das milde Reben, welches da draußen in den Goldwüſten 
brandet, nicht feine mächtigen und unreinen Wogen bis hierher wälzen jollte 
in das reine glatte Waſſer der Kleinen Hafenftadt, hinüber über die Dämme 
der Ordnung der civilifirten Theile der Union. Während alfo Bret Harte 


mit Vorliebe ſich die Aufgabe jtellt, zu zeigen, wie auch inmitten des wert. 
Grenzboten IV, 1874, 13 


48 

lofeften Gefindela der Welt wahrer Seelenadel zu finden fei und die Erin- 
nerungen an die gefittete Welt, an Erziehung, Religion und Gewiſſen, an 
die taufendjährige Entwidelung des menſchlichen Geſchlechtes auch das ver- 
lorenfte Geſchöpf diefer Wildnig in jtilen Stunden überwältigt, und der 
Dichter fo uns die feite Hoffnung begründet, daß keineswegs alle Brüden ab- 
gebrochen find zwifchen der Kulturwelt der Union und diefen gefeßlojen 
Diftrikten: fo zeigt und Aldrich andrerfeit3, daß unabläjjig der meifterlofe 
fulturlofe Sinn der Abenteurer der Goldfteppen in die befriedeten Kreife der 
Kultur verheerend einbricht, innerhalb deren man fi fo groß, fo ficher, fo 
unangreifbar und vollfonmen fühlte Mit einem Worte: Bret Harte ftellt 
dar die unauslöfchlichen Spuren der Kultur und Sitte in der Wildniß, im 
fulturfernen Menfchen, Aldrich die unausrottbaren Rüdfälle und Heimfuchungen, 
welche die ftaatliche Gemeinſchaft mit fat Fulturlofen Territorien den gefitteten 
Städten und Staaten der Union bringt. So fpielt, wie ſchon oben erwähnt, 
in der Hauptnovelle des vorliegenden Bandes, „Prudence Palfrey“, ein Hod- 
ftapler von eminenter Begabung, welcher dem Helden des Stüdes den fauren 
Ertrag gemeinfamer jahrelangen Mühen in den Minen geftohlen hat, die 
erite und fohmierigfte Holle der Novelle, unter der Maske eines Geiftlichen 
der Ziegelkicche in Rivermouth. Selbitverftändlich hat er fich feine Predigten 
in derjelben freien Weife angeeignet, wie die achtzig- oder hunderttaufend 
Dollard feiner früheren Minencollegen. Mit welcher Feinheit und mit wel- 
chem Humor diefe Figur gezeichnet ift, fol unten dargeftellt werden. Die 
Art der Arbeitötheilung zwiſchen Bret Harte und Aldrich entfpricht vollkommen 
ihren Naturen. Der Nachmeis edeljter Menfchlichkeit in den denkbar roheften 
und gefeglofeiten Verhältniffen entipricht mehr einer erniten poetifchen Richtung ; 
die Schilderung der Gonflicte, welche ein in die Kulturwelt verfchlagener 
Abenteurer erzeugt, paßt mehr für den rein humoriftifchen Dichter. 

Das it ein Theil der Probleme, melde die Gegenwart der Union 
ihren Schriftftellern ſtellt. Das für und wohlmwollende Beurtheiler nord- 
amerifanijcher Berhältnifje beflemmendfte Problem der Gegenwart aber: wie 
die Gorruption in der öffentlichen Verwaltung der Gentralregierung, der 
einzelnen Staaten und jeded größeren Gemeinweſens wirkt, welche Hoff- 
nungen und welche Mittel für ihre Beſeitigung vorhanden find, befchäftigt 
feinen der beiden Schriftiteller. Sie mochten mit Recht erfennen, daß die 
wihtigfte Zufunftöfrage der Union nur in ernften politifchen Berathungen 
und Thaten, nicht im Roman und in der Novelle ausgetragen werden 
könne. — 

Dagegen hat Aldrich zwei der wichtigften Ereignifje der Bergangen- 
heit und Entwidelung ſeines Landes zum Gegenitand der Erzählungen in 
diefem Bande gemacht: die Ginführung von Gifenbahnen und Telegraphen, 


99 


und den großen Krieg mit dem Süden unter Lincoln. Für Amerika bezeich— 
net der Uebergang von der Poſt zur Eiſenbahn, von der Poſt zur Telegraphie 
noch in ganz anderem Sinne den Eintritt in die neue Zeit, als für und alt» 
eingefefiene Völker Europad. Denn erft von jener Epoche ab ift der größere 
Theil der Union dem modernen Verkehr erjchloffen worden. Es ift daher auch 
für die amerikanische Auffaffung diefer Neuerung höchſt charakteriftifh, wenn 
Adrih an einer vormaligen Poftherberge der Union, „der alten Schenke an 
Bailey's Kreuzweg“ zum erften Mal feit dreißig Jahren am Anfang diefes 
Jahrzehnts einen Gaft vorfprechen läßt, und wenn er dem einzigen Stamm: 
gaft diefer Schenfe, troß der enormen Maffe von Zeitungen und Beitfchriften, 
die er fih hält, Muße genug zugefteht, um dad Wahnbild „Andchens“, des 
elfjährtgen ungeborenen Sohnes der Jungfrau Mehetabel, in feiner Bhantafie 
zu erzeitigen. — Der Krieg der Union mit den Südftaaten ſpielt in drei der 
Erzählungen feine Role, in „Prudence Balfrey*, im „Roman in River 
mouth”, und „Ganz recht“. In jedem diefer Fälle ift die Erinnerung an 
den feit beinahe hundert Jahren größten Nationalfrieg der Union in höchſt 
eigenthümlicher Weiſe wachgerufen, Jedesmal nämlich laſſen fich bei Aldrich 
erft dann die Reute mit Handgeld zum Sternenbanner werben, wenn fie gar 
nichts anderes mehr auf der Welt zu thun willen, um fich zu erhalten, oder 
um zu vergefien. Der Beifall, den auch diefe „Noveld* Aldrich's in feinem 
Baterlande gefunden haben, ift Beweis genug, da diefe Art von Verwendung 
de8 Unionskriegs in feinen Novellen ihm vom nationalen Standpunkt aus 
nicht verübelt worden, daß ein großer Theil feiner Landsleute fie der Wahr: 
heit verwandt hält. Darin liegt für und Deutfche eine große Genugthuung. 
Bei und würde der Schriftiteller, der conjequent nur verzweifelte Eriftenzen 
unfern Fahnen zumeijen wollte, der einmüthigen Entrüftung der Nation be 
gegnen, weil eine folche Daritelung mit der Wahrheit in den ſchreiendſten 
Gonfliet träte. Für dad Miliziyftem kann es keine vollftändigere Impotenz— 
erflärung geben, als die Motive, welche die drei Helden Aldrich's bewegen, 
Handgeld zu nehmen. Unſrer Fahnenehre wäre der Gedanke ded Handgeldes 
ſchon unerträglich. — 

Der Leſer mag diefe Betrachtung vielleicht zu ernft nennen, wo es ſich 
um die Beurtheilung humoriftifher Produktion handelt. Aber unmillkürlich 
wird fie Jedem ſich aufdrängen, der Aldrich mit Aufmerkſamkeit lieit. Nur 
joll bier diefer Gedanke nicht weiter verfolgt und au nicht — fo nahe das 
läge — in Verbindung gebracht werden mit der Frage, ob nicht das un- 
bändige Freiheitögefühl oder beffer die gänzlihe Entmöhnung von jedem 
energijchen Zwang, den ung Aldrich in feiner Skizze „ein junger Raufbold“ 
jo föftlich perfonifizirt, ſchuld daran ift an diefem und den meilten anderen 
Gebrechen, welche die Union heute zur Schau trägt, Die Verfolgung viefer 


100 


Gedanken ift, wie gefagt, den Fachpolitifern drüben zu überlaffen. Hier fol 
der Lejer nur ein Bild des Humoriften nicht des Staatsphilofophen Aldrich 
gewinnen. Und am beften wird dieſes Bild, nad) diefen einführenden Worten, 
wohl durd ihn felbft gegeben, indem wir der bedeutendften feiner hier ges 
fammelten Erzählungen, „Brudence Palfrey“, folgen. 

Der Gang der Erzählung ift kurz der folgende: Der reiche ehemalige 
Brauer, jest Rentier, Ralph Dent in Willombroof, bei Rivermouth , ift der 
Vormund der Waife feiner ehemaligen Flamme Mary Gardner, Prudence 
Balfrey, geworden und hält das Mädchen wie fein eigen Kind in feinem 
Haufe Sein Neffe John Dent verliebt fi in die Mündel feine® Onfelg, 
wie er ald Student die Ferien im Haufe des Onkels zubringt. Johns Vater 
ift todt, Vermögen hat er nicht, eine Xebenäftellung ebenfowenig. Als der 
Onkel rauh und entjchieden die Erklärung des Neffen von der Hand weiſt — 
die Gefühle ded Onkels für die Tochter feiner alten Liebe waren damals 
etwas zärtlicher, ala diejenigen eines Bormundes abfolut jein müflen — und 
Sohn das Haus verbietet, wartet der junge Mann nur noch folange im 
Pfarrgarten des ehrwürdigen Paſtors Wibird Hawkins — eined Freundes 
ſeines verftorbenen Vaters — bis er „Prue“ noch einmal gefehen und ihr 
Treue bis in den Tod gelobt hat, dann geht er von dannen in die meite 
Melt d. h. natürlich in die Minen, um fein Glück zu machen. Für Prue 
it die ſchlechte Behandlung John's dur ihren Vormund natürlich das 
Signal, diefem offen ihre Liebe zu John zu erflären, an der fie bis dahin felbft 
zweifelte. Der Onfel nimmt diefe Erklärung, nad) einem längeren Schmollen, 
gütig auf, und der Neffe würde unzmeifelhaft zurüdigerufen werden, menn 
man müßte, wo er wäre. Das erfährt man indeflen erft nach einem Jahr. 
Sohn Dent hatte inzmifchen zufammen mit dem Sohn ded Diafonen 
Twombley von Rivermouth und einem erfahrenen Goldfuhher Georg Neving, 
der fich ihnen angefchloflen, gemeinfam ein Vermögen in Gold und Silber 
gewonnen, und dachte bereit3 an die Heimkehr, als eined Morgend Georg 
Nevind mit dem gefammten Vermögen feiner Aſſociés verſchwunden iſt. 
Sohn Dent thut nun das Weußerfte, was ihm zu thun übrig bleibt, er 
nimmt Dienfte im Kriegsheer der Union und wir willen für Jahre nicht, ob 
er todt ift oder lebt. Prue bringt indefjen ihre traurigen Tage am liebften 
bei Paſtor Hawkins zu, bis diefer überalte Mann dur den Einfluß ihres 
Onfeld von den Diakonen der Gemeinde entlaffen wird, und infolge diefer 
Entlafung — fofort an einem Schlagfluß ſtirbt. Das bisher Erzählte ift 
als Epifode fpäter eingeflodhten, die Entlafjung ded Paſtors bildet das erfte 
Kapitel der Erzählung und der vor unferm Auge in der Gegenwart fi ab— 
fpielenden Thatfahen. Der Paſtor hat Hohn Dent zum Univerfalerben 
feined bedeutenden Vermögen? eingefett. Doc fol der jung Mann erft 


101 


ein Jahr nach feinem Tode davon erfahren, und wenn er in diefer Zeit 
ftirbt, fol das ganze Vermögen an Prue fallen. Der neue Geiftlihe nennt 
fih James Dillingham — er ift in Wahrheit niemand Anders als Georg 
Nevind, der Kohn Dent audgeraubt und feinen zweiten Gompagnon, den 
jungen Twombley in einem Bankierhaus in Chicago placirt bat, um in 
Nivermouth ganz ungeftört feinem Plan nachgehen zu können: Prue zu 
beirathen,; denn Mr. Ralph Dent ift ihm fehr gewogen, und Dillingham- 
Kevind Fennt das Teftament ded alten Paſtors und er verfuht daher 
Sohn Dent durch einen Helferähelfer, der ihm ſchon früher die beften Dienfte 
geleiftet, und dem jungen Mann fortwährend als Spion folgt, aus dem Wege 
zu räumen, um dadurch Prue, auf deren Hand er hofft, die Erbichaft zuzu— 
wenden. Bon al diefen Plänen und Dingen erlangen wir bei Aldrich 
natürlich erft am Ende der Erzählung Kenntniß; aber der wahre Genuß der 
Lectüre wird nicht verringert, fondern erhöht, wenn wir ed fhon im Voraus 
wiſſen. Denn Aldrich gehört keineswegs zu jenem fchriftftellerifehen Mittels 
gut, defien Producte man kaum ein zmeited Mal lefen möchte, nahdem man 
glüdlich weiß, „wie es abläuft.“ Im Gegentheil: die vollen Feinheiten der 
Sharakterzeihnung und des Humors, die Aldrich bietet, werden von und erft 
dann ganz empfunden werden, wenn wir vom Intereſſe und der Spannung 
der Handlung nicht mehr gefeffelt werden, alfo bei einer mehrmaligen Lectüre. 

Sehen wir nun zu, wie diefer ehrmwürdige Mir. James Dillingham zu- 
nächſt bei feiner Gemeinde fich einführt. „Rivermouth tft eine Stadt“, fagt 
Aldrih, „wo beinahe buchftäblich nicht paffirt. Bisweilen heirathet jemand, 
bisweilen ftirbt jemand — mit überrafchender Plöglichfeit, wie zum Erempel 
der alte Paſtor, und biöweilen weht der Wind ein Schiff an die Felfen vor 
der Mündung der Rhede. Aber von jenen lebendvollen Tragödien und Ko— 
möbdien, aus melchen fi in großen Städten das Leben zufammenjest, wußte 
Rivermouth nahezu gar nichtd. Seit in den Tagen vor der Revolution eine 
oder zwei Heren gehenft wurden, ift das Amt eined Sheriffd dort thatſächlich 
eine Sinecure gewefen. Das Polizeigericht, wo der einzige Gewohnheitäfäufer 
periodifh nad dem Stadtgute gefchickt wird, fieht faſt wie ein Zmeig ber 
Sonntagsfhule aus. Man kann fagen, die Gemeinde Habe dreißig Jahre 
von einem einzigen Eheſcheidungsfalle gelebt, der fi) aus dem Davonlaufen 
des Majord Tone Deering mit Frau Honoria Maddor entwidelte — noch 
heutigen Tages eine gefährlihe Geſchichte, welche Matronen mit fcharfer 
Zunge Jungfrauen mit niedergefchlagenen Augen erzählen.” ine Kleinftadt 
diefer Art — die Detatld für die allgemeine Bereitwilligkeit zur Neugierde 
und Klatfhfucht auf Koften der Nachbarn werden von dem Dichter bier und 
an anderen Stellen der Novelle in der Tiebevollften Weife gehäuft — mar 
natürlih für das feltene Ereigniß der Probepredigt eines neuen Pfarrers 


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ganz beſonders empfänglih. Allein noch keineswegs etwa für die Perjon 
des Predigers und dad, was er fagen wollte. Im Gegentheil, dank der 
langen Amtsdauer und Beliebtheit ſeines Vorgängers hatte Herr Dillingham 
einer fo Eritifchen und unfympathifchen Gemeinde gegenüberzutreten, ald nur 
möglih mar. Dafür aber war ed an jenem Morgen in der Ziegel-Kirche 
ebenfo voll, wie in allen andern Kirchen der Stadt leer. „Joſiah Jones, 
Hohmwürden, der ſich bei der Ausarbeitung feiner Predigt für den Vormittag 
nicht gefhont hatte, ſah mit übel verfehltem Aerger, daß der größere Theil 
feiner Heerde fih auf die benachbarte Meide verlaufen hatte.” Schon ala 
Herr Dilingham die Kanzelftufen hinaufftieg, machte er, wie fi fpäter 
herauäftellte, einige Groberungen. Er war „ein fchlanfer junger Mann, faft 
ſechs Fuß lang, mit fanftem blauem Auge und langen Haaren von dunfel- 
blonder Farbe, die er hinter die Ohren gebürftet trug. Der feftgejchnittne 
Mund und das Entichloffenheit verrathende Kinn bewahrten fein Geficht 
davor, weibifch audzufehen. Er war neunundzwanzig oder dreißig Jahr alt, 
aber fah nicht fo aud.* Sein Erfolg wählt, ald er dad Gebet gejprochen 
und den Grundtert zu feiner Predigt in der heil. Schrift marfirt hat „und 
dag mildheitere bleihe Gefiht, da8 fo wenig zu verfprecdhen geſchienen, von 
geiſtigem Leben erfüllt“ war. Die Predigt vervollſtändigte den Sieg. 
Nur Seth Wiggins blieb unbezwungen, „da er in alles vergeſſenden 
Schlummer gefallen war und inſtinetmäßig mit einem Ruck erſt erwachte, 
um den Segen zu empfangen, und jenen halb um Verzeihung bittenden, 
halb trotzigen Geſichtsausdruck annahm, der den chroniſchen Miſſethäter 
bezeichnet.“ Wir übergehen die köſtliche Schilderung von dem, was die 
Leute, namentlich die Frauen, zur erſten Predigt des neuen Paſtors ſagten. 
Genug, den nächſten Sonntag fiel der Talar des hochwürdigen Paſtor 
Wirbid Hawkins über ihn, und er war wohlbeſtallter Geiſtlicher in der 
Ziegelkirche. „Wie ich die Dinge anſehe, war es eine Art Feuerprobe, die 
Herr Dillingham in den erſten drei Monaten zu beſtehen hatte;“ — es 
war nämlich herausgekommen, daß er unverheirathet ſei — „ein eitler Mann 
hätte binnen Wochenfriſt Schiffbruch gelitten. Aber der hochwürdige Herr 
Dillingham war, wie Ralph Dent erklärt hatte, ohne kleinliche Einbildung. 
Die Aufmerkſamkeiten, die Herrn Dillingham von allen Seiten zu Theil 
wurden, würden von zehn Männern, die in ſeine Stellung gelangt waren, 
acht verdorben haben. Es iſt fo leicht, der hohen Meinung, welche andere 
Leute von uns haben, noch ein Stockwerk aufzuſetzen. Es wurden — bei 
den Honorationen — Abendgeſellſchaften für Herrn Dillingham gegeben; es 
gab Pieniks den Fluß hinauf und Ausflüge nach der Rhede und unzählbare 
Theeabende am Ufer. Ich weiß nicht, ob Herr Dillingham einen ſtark aus— 
geprägten Sinn für Humor hatte, aber ſelbſt wenn er nur mäßig humo— 


103 


riitifch veranlagt war, muß die Menge von geftickten Bantoffeln, genial er- 
fundenen Tintenwiſchern, Studirfäppchen und gejchnigten Papiermeſſern, die 
bei dem um diefe Zeit zum Beſten der Heidenmiffionen abgehaltenen Bazar 
auf jein Theil fielen, ihn ebenſo ergögt, als in Verlegenheit gejegt haben. 
Wenn er ein Taufendfuß geweſen wäre, jo hätte er unter vier Jahren die 
Bantoffel nicht abtragen fönnen, und wenn er fie auh Tag und Naht an- 
bebalten hätte. Wenn er eine Hydra gemwefen wäre, fo hätte er nicht Köpfe 
genug gehabt, um in einem Menfchenleben mit den Studirfäppchen fertig 
zu werden. Briareus hätte nicht Hände genug gehabt, um die Papiermeſſer 
zu halten. Die Pantoffeln überwimmelten das Schlafzimmer des Herrn 
Dilingham wie Heufchredenfhmärme, die fi) auf Egypten niederließen. Die 
Zintenwifher machten, daß fein Studirtifch wie ein Beet vielfarbiger Geor- 
ginen ausſah.“ Er entgeht indefjen mit derfelben Anmuth und Heiterkeit 
auch viel gefährlicheren Achtungsbezeugungen. „Es gab ein plögliches Senken 
von Augenlidern, ſchwarzen und goldenen, wenn er ſprach; verftohlene Blicke 
vol Schüchternheit und Ehrerbietung, halb geöffnete Lippen, die jenes athem- 
loſe Intereſſe verriethen, welches das höchfte aller Gomplimente ift und mie 
Mein zu Kopfe jteigt.” 

Auh die Männer in Rivermouth wurden fämmtlih vom neuen Paſtor 
begeiftert. Gr erwies fi) ald zartfühlender Wohlthäter der Armen. „Selbft 
der einzige Gewohnheitsſäufer pflegte, falls er das Kicht feined Antlitzes nicht 
gerade auf dem Stadtgute verbarg, krampfhaft nach feinem zerdrücdten Hut 
zu greifen, wenn er dem jungen Paſtor auf der Straße begegnete. Auch er 
fürdtete fih nicht, fi um einen Dollar an den Paſtor zu wenden, da er 
entdedt hatte, daß er die Münzen ihm nicht aus einer folchen moralifchen 
Höhe zufallen laffen würde, daß ihm davon der Athem aus dem Leibe ge- 
trieben und alle feineren Gefühle verwundet werden würden.” Und Sam 
Kembley, demokratiſches Mitglied des Obergerichts, fagte von Dellingham: 
„Man fann mit hellen Augen ſehen, daß er zu der füdlichen Ariſtokratie 
gehört, aber er Flettert nicht immer und ewig feinen Stammbaum hinauf. 
Da haben wir den alten Blydenburgh, der hodt in einem weg auf den obern 
Zweigen und fchmeigt mit Kokosnüſſen feiner Ahnen nad) den gemeinen 
Xeuten herunter.“ Dder mie Aldrih auf eigene Rechnung binzufegt: „Sch 
bin in der Hauptitadt des Freiſtaats Mafjachufett3 zwei oder drei jungen 
Herren begegnet, welche die dee zu haben fchienen, daß fie in der Schladht 
bei Bunkershill getödtet worden wären.“ 

All diefe Erfolge waren Herm Dillingham jedenfalld verhältnigmäßig 
gleihgültig gegenüber denjenigen, die er in Willowbroof davontrug. Ralph 
Dent war von Anfang an fein aufrichtigfter Bewunderer. Gr betrachtete 
mehr und mehr die Verheirathbung feiner Mündel mit Herrn Dillingbam als 


104 


den fchönften Abſchluß feines Lebene. Aber Prue hatte ſich vorgenommen, 
den neuen Geiftlichen zu haſſen und fie blieb aud lange ftandhaft. Wenn 
dieſer nur ſich ein Klein bischen mehr von ihr erfreut gezeigt, für fie interef- 
firt hätte, jo märe fie ihrem Vorſatz gewiß treu geblieben. Aber er fchlägt 
die Einladung ihres VBormundes, in Willomwbroof zu wohnen, entſchieden aus. 
Gr verkehrt täglih im Haufe, aber er ift ihr gegenüber fo fteif und Ealt wie 
anı erften Tage. Dazu kommen die infamften Gerüchte „AZuerft ging das 
Gerüht, Herr Dillingham intereffire fih ſehr ftarf für Fräulein Palfrey, 
und dad war hinreichend verdrießlich; aber fpäter änderte das Gerücht feine 
Taktik und berichtete, dag Fräulein Palfrey fih ftark für Herrn Dillingham 
intereffire. Der Klatjch ift mie die Vorſehung unergründlich in feinen Wegen, 
er hat feine Gefege, wie wir annehmen dürfen, Far ausgeprägt, wenn man 
ihnen nur beifommen könnte; aber fie lafjen fich durch inductives Denken 
nicht erreichen, und fo muß es ein Räthfel bleiben, wie e8 Fam, daß man in 
Rivermouth glaubte, Prudence wäre in Folge ihrer unerwiderten Liebe zu 
Herrn Dillingham unglücklich. Wollte ich fagen, dag fie von diefer ärger: 
lihen Geſchichte nicht fobald, ald fie geboren war, gehört hätte, fo 
bieße das jagen, Prudence hätte Feine vertraute Freundin gehabt, und da 
gab es doch Fräulein Veronica Blydenburgh.“ Unter folchen Umſtänden 
war es gewiß nicht ungerechtfertigt, daß Prudence „das Gefühl hatte, daß 
e8 doch eine höchſt mohlthuende Rechtfertigung und ein rechter Triumph fei, 
wenn Herr Dillinghbam fih mit Maßen in fie verliebte und ihr Gelegenheit 
verfchaffte, den Beweis zu liefern, daß fie nad) diefer Seite hin fi) nichts aus 
ihm made”. Das Fam eher als fie Dachte, und vielleicht ihr felbft nicht fo 
gleihgültig, wie fie meinte. Ralph Dent, Dillingham und Prudence pflegten 
miteinander fpazieren zu reiten. Eines Tages vertrat fich Herr Dent plöglich 
den Knöchel und nun mußte das junge Paar vor Sonnenuntergang allein 
augreiten. Sie ritten weit und einfam big zu einer verlaffenen alten Redoute, 
manchen Abend hintereinander. Die Landſchaft flammte, von dort gefehen, 
im Golde der finfenden Sonne „Nah und nad) zerichmolz der Scharladh- 
ftreifen in Zinnober, dann in matted Gold, dann in Silber und dann gleich 
dem Uebrigen in farbloſes Grau, wie die Aſche von Roſen und das erite 
Zwielicht breitete fi über Land und See aus. „Es ift wie ein Traum, 
nicht wahr?“ murmelte Prudence für fih; denn in diefem Augenblicke hatte 
fie die Gegenwart ihres Begleiterd vergejen. Herr Dillingham beugte ſich 
vor, ohne ein Wort zu fprechen, und legte feine Hand leicht auf die Hand 
Prudenece's, welche ohne Handſchuh auf der ſchwarzen Mähne ihres Pferdes 
rubte. Das Mädchen erhob ihre Augen mit einer fchnellen Bewegung nad) 
dem Geſichte des jungen Gelftlihen, und zj0g dann langfam ihre Hand zurüd, 
„Prue!“ ſagte Herr Dillingham leiſe.“ 


105 


Er hält in jenem Augenblik um ihre Hand an, wie wir fpäter erfahren. 
Uber Prudence verdient ihren Namen. Sie zeigt ſich als die Klugheit felbit. 
Sie nimmt ihn nicht an und weiſt ihn nicht ab. Sie fordert Bedenkzeit — 
wie lange, fagt fie nicht. Inzwiſchen naht das Jahr nad) dem Tode des 
Paſtor Hawkins feinem Ende, und Ralph Dent ala Teitamentsvollftreder hat 
dann die Pflicht, feinem verfchollenen Neffen John Kunde vom Grbanfall 
ju geben, was dieſen natürlich vorausfichtlic nach Siwermouth zurüdführen 
wird. Grund genug für Dillingham-Nevins, ſich den doppelt gefährlichen 
Nebenbuhler ganz vom Halfe zu fchaffen und damit wohl auch die lange Be- 
denkzeit Prudence'3 abzufürzen. Zu diefem Zwecke läßt Dillingham Kohn durd) 
jeinen Spion die Kunde zutragen, daß Prudence nächſtens den neuen Paſtor 
beirathen werde. Und ala Kohn felbft wieder einmal fchreibt — im Begriff 
ur Truppe zu ftoßen —, läßt er ihn von feinem Spießgefellen meuchlings 
anſchießen, und diefer faubere Geſelle kommt dann unter der Maske eines 
Dberften Todhunter felbft nad Rivermouth, um dem Onkel Ralph zu er 
zählen, fein Neffe Kohn babe im Negiment des Oberften gedient und ſei ge 
fallen. Diefe ganze Scene, bei der natürlich Dillingham zugegen ift, und 
nit mit einem Muskel verräth, daß er den Mfeudoeifenfrefler und Gewohn— 
beitätrinfer Todhunter jemals gefehen habe, — ebenfowenig ahnt es der 
Leſer — gehört zu den vorzüglichften der ganzen Novelle. Um die Täuſchung 
zu vollenden, treibt fi) der Oberſt noch tagelang in der Stadt umher in 
allen Kneipen und Schnapsfchenten und wird fchließlic vom Paftor — mit 
dem er dasſelbe Hotel bewohnt — mit Manier und erborgtem Reifegeld ge- 
waltfam fortgebradht. Den Gemwohnheitäfäufer der Stadt „Jah man in diefer 
Periode Todhunter im Zuſtande hoher Erregtheit des Gehirns in den Straßen 
umberflattern. Er wurde unter dem Einfluffe oder richtiger den Einflößungen des 
Oberften beinahe allgegenwärtig und brachte faft die ſchwierige Aufgabe fertig, 
in demjelben Augenblide in zwei verfchiedenen Quartieren der Stadt. zwei 
Hläfer zu leeren.” Dann, nad dem Verſchwinden des Oberften heißt «8: 
„Der tapfere Oberft war zu den Nivermouthern wie der gute Queßalcoatl zu 
den Aztefen und wie Hiamatha zu den Indianerftämmen Nordamerikas herab- 
geftiegen und gleich diefen Gottheiten geheimnißvoll wieder geſchieden. Ein 
Glaube, daß er miederfehren werde, um eine Aera gratis verabreichten Ja— 
maica-Rums einzuweihen, bildete fi) unter einigen Auserwählten ganz von 
jelbft zum Glaubenäbefenntnig aus. Herr Odiorne (der Verkäufer geiftiger 
Getränke) hatte e& mit feiner Miederfunft fehr eilig, aber das war mehr 
ein Wunſch ala ein Glaube”. 

Ralph Dent theilt beide Nachrichten, die, daß Sohn felbft geichrieben, 
und daß er bald darauf durch den Oberften todt gejagt worden ift, Prudence 


nicht mit, um ihre Ueberlegung auf den Heirathsantrag Dillingbam’s nicht 
Grenzboten IV. 1874, 14 


106 


zu ftören durch die lebhafte Rüderinnerung an John, der in der That aus 
dem Kreife ihrer täglichen Gedanken mehr und mehr geſchwunden if. Un 
den Tod John's glaubt überdie8 Herr Ralph Dent felbft nicht. Es ift nun 
meifterhaft gezeichnet, wie das Bild des fernen Geliebten fich bei Prudence 
wieder belebt und erwärmt, fobald fie ernſtlich mit ſich zu Rathe geht, welche 
Untwort fie Dillingham geben fol. Somie fie aufhört, diefen dilatorifch zu 
behandeln, legt die flammende Erinnerung an die erjte Liebe ihres Mädchen- 
berzend ein abfolutes Veto ein, und die entfcheidende äußere Veranlaſſung 
zur Abmeifung Dillingham's — wie diefer fie bittet das Lied „der Alte Robin 
Gray”, eine ihrer eigenen Situation verwandte Ballade zu fingen — ift nur 
die formelle Beftätigung defjen, was bei ihr ſelbſt längſt beſchloſſen mar. 
Sie bricht mitten im Liede ab und läuft davon. Herr Ralph Dent, der das 
Paar allein gelaffen hatte, um die erhoffte Enticheidung ja nicht aufzuhalten, 
findet nur Dilingham, zum erften Male nicht in befonderer Raune. 

Das Kartenhaus ded Schwindlers bricht nun rafch zufammen. Am an- 
dern Morgen fehrt Hohn Dent verwundet und verfümmert zurüd, in einem 
Anzug, „den fein Onfel von Zeit zu Zeit nachdenklich betrachtete und ent- 
ſchloſſen mar, in nicht ferner Zeit im Garten hinter dem Haufe eingraben 
zu lafjen.“ Leider entwijcht Nevin® mit feiner Beute (dem früher geftohlenen 
Gelde John's) abermald. Denn Nevind hat fein Opfer bereit? am frühen 
Morgen nah jenem Abend, an dem Prudence das Lied vom Alten Robin 
Gray nicht zu Ende fang, in einer Drofchke über die Brüde fahren fehen, 
die nah Willowbrook führt, und gefehen, wie John bier den Diener feines 
Oheims geſprochen, der eben mit Prudenee's ſchriftlichem Nein Herrn Dilling- 
ham zuftrebt. Erft am andern Morgen entdedt John durh eine Photor 
graphie Dillingham'd, daß er Georg Nevins ift, und Onfel und Neffe finden 
natürlich den faubern Vogel längft nicht mehr in der Stadt. Was aus John 
und Prudence geworden, verräth und Aldrich deutlich genug am Ende, indem 
er fagt, er habe im letzten Frühjahr bei feiner legten Anweſenheit in River- 
mouth einen Heinen Mann fi auf einem Gartenthore der Befisung des weil, 
Paſtor Hawkins jchaufeln jehen. „sch hatte diefe Eleine Perfönlichkeit nie zu- 
vor gejehen, aber ed lag etwad munderlih Bekanntes in den ſchwarzen 
Haaren und den aufgewedten fchwarzen Augen, etwad wunderlich Befanntes 
in der biegfamen, gefchmeidigen Geftalt (ed war, wie wenn John Dent, von 
fünf Fuß acht Zoll zu drei Fuß vier Zoll verfchnitten worden, wäre) und ala 
er meinen Gruß mit jener cavaliermäßigen Mine erwiderte, welche unfern 
jehsjährigen Mann von Welt bezeichnet, fo lag in feiner Stimme ein Ton- 
fall fo feltfam gleich dem Tonfall in Prudence'd Stimme, daß ich In mid 
bineinladhte.* 

So kurz und gedrungen diefe Auszüge naturgemäß fein mußten, foviel 


107 


wird der Leſer daraus erfehen, daß Aldric ein Humorift von ungewöhnlicher 
Begabung ift. Er mag Bret Harte vielleicht nachftehen in der Tiefe der 
poetifhen Auffaffung und in der Feinfühligkeit feiner Naturfchilderungen — 
Farbenfinn z. B. fcheint Aldrich nicht im Uebermaße zu beftgen, fonft würde 
er u. A. nicht mit MWohlgefallen ſchreiben: „die Gruppen runder Inſeln auf 
der Rhede fahen wie Smaragden in Türkis gefaßt aus“. Uber er ift Bret 
Harte weit überlegen in der Sorgfalt und detaillirten Ausarbeitung feiner 
Charakterfchilderungen: wir erhalten überall fertige, durchaus anfchauliche 
Bilder, die nirgends in Nebel zerfließen, von denen wir fogar meift genau 
wiffen, wovon fie leben. Und Aldrich's fpezififh humoriſtiſches Talent, 
namentlich die Fülle feiner humoriſtiſchen oder ſatiriſchen Vergleiche und 
Wendungen dürfte unter den Zeitgenoffen wenig Rivalen haben. 

Endlich ift noch ein herzliches Lob dem Ueberfeger zu fpenden. Die aud- 
geſprochene Vorliebe des Ueberfegerd für einige unfchöne Provinztaliämen, 
wie 3. B. das häufig miederfehrende fächfifhe „Feixen“, abgerechnet, iſt 
diefe Heberfegung ald außerordentlich gelungen zu bezeichnen. Nirgends iſt 
der deutfchen Sprache Zwang angethan, um dem Driginal treu zu bleiben; 
nirgend8 aber auch der Geift und Sinn ded Original® vergewaltigt, um mit 
Umgehung fpradhlicher Schwierigkeiten bequem darauf los fchreiben zu können. 
Eine Fülle Dialefte, Nüancen und Wortfpiele find mit Birtuofität wieder— 
gegeben. Kurz, wer Aldrich im Original gelefen, wird fich herzlich freuen, 
ihn fo verdeutfcht zu fehen; mer ihn in diefer Ueberſetzung lieſt, darf fagen, 
Adrih zu kennen. 

Hand Blum. 


Die Yanken in Tuxemburg. 


Mie ſich der materielle MWohlftand im Großherzogtbum Luxemburg 
während der letzten 20 bid 25 Jahre gehoben, bemeifen am beiten die in 
diefer Zeit hier ind Leben getreienen vielen und bedeutenden Banfinftitute. 
Bor 25 Fahren vegetirten bier ein paar faum weiter befannte Heine Bank— 
häufer. Der Handel und die Induftrie, welche, bei unferm geringen Verkehr 
und den geringen Verfehrämitteln, halb und halb von der umliegenden Welt 
abgetrennt waren, fhienen nicht im Stande, bedeutenderen Bauunternehmungen 
die genügende Stütze und Garantie zu bieten. Aderbau und Viehzucht waren 
die erften und bedeutendften Ermerböquellen ded Landed. Die menigen 
Kleinen Fabrifen und Gewerbe, welche durch das Land zerftreut lagen, und 


108 


unter denen die Papier-, Steingut- und Zuchfabrifen mit der Lohgerberei die 
bebeutendften waren, bedurften nicht erheblicher Betriebscapitalien und waren 
daher auch nicht dazu angethan, große Kapitalien ind Rand zu ziehen. Das 
bier fabrizirte Steingut wurde meiften® von den FEleinen Krämern und 
Haufirern im Lande felbft oder in deffen nächſter Nahbarfhaft an Ort und 
Stelle gekauft, auf Kleine Gefärthe, Teichte Wagen, Krämerkarren, Schieb- 
farren, ja Hotten, verladen und ringsumher colportirt, manches jogar gegen 
alte Rampen, altes Eifen oder fonft gangbare Waare vertaufht. ine Fabrik 
konnte von Glüd fagen, wenn fie von Zeit zu Zeit eine tüchtige Sendung 
per roulage, wie wir bier fagten, nad) Belgien ausführen fonnte. Unfere 
Papierfabrifen, die ſich noch bis in die letzteren Zeiten mit der Handfabrifation 
begnügten, Eonnten ſchon dadurch zu Feiner Bedeutung fommen. Uber wie 
follten wir, jo von aller Welt ifolirt, zur Mafchinenfabrifation kommen ? 
Wo hätten wir mit einer ftärferen Produktion Hin geſollt? Auch unjere 
Tuchfabriken waren kaum über die erften Elemente der Tuchfabrikation 
hinausgekommen. Site fabrizirten aus der einheimijchen Wolle ganz; tüchtiges, 
freuzbraves Zeug, das vorhielt Generationen und Generationen hindurch , fo 
daß — wie das noch beim Schreiber diefer Zeilen der Kal war — der Enkel 
im Brautrod des Großvater zur erften Communion gehen konnte. Wer 
aber die Glieder in dem liniendiden Zeuge kaum bewegen konnte, dad waren 
die Enfel der Grofväter. Daß ein ſolches Produkt nicht fehr zum Erport 
nad Rändern hin geeignet fein fonnte, die und in Allem ein halbes Jahr: 
hundert voraus waren, begreift der Leſer gewiß ohne große Schwierigkeit. 

Mie weit die Eifeninduftrie in jener Zeit bei und vorangefchritten war, 
geht wohl zur Genüge daraus hervor, daß ein nicht unbedeutender Haufir- 
handel mit altem, verroftetem Eifen, wobei jogar die alten verrofteten Schubr, 
Huf und andere Nägel nicht verfchmäht wurden, durchs ganze Land ge 
trieben wurde. Diele von diefen Haufirern, meiften® Juden, durdhtrabten 
fogar ihren Bezirk auf Schufterdrappen, den ſchweren Sad mit dem „Eoft- 
baren” Metall auf dem Rücken. Wir befaßen auch wohl damals ſchon 
einige fogenannte Puddlingswerke, jo namentlich das des Herrn Collart in 
Dommeldingen ganz in der Nähe der Hauptftadt, aber ach! meld eine kläg— 
lihe Figur würde heute das ehemalige Dommeldinger Eifenwerf neben den 
gewaltigen Hüttenwerfen der Gefellihaft Metz & Co. machen! Hier festen 
damals die Haufirer ihr altes Eifen ab, wenn fie e8 nicht vorzogen, es den 
einfachen Huf- und Grobfchmieden zu verkaufen, die dafür ein paar Heller 
mehr zahlten. 

So ſah es mit unferer Großinduftrie vor etwa 30 bie 40 Jahren no 
aud, wenn der Name die Sade nicht noch Tächerlicher macht. Die Leber 
Induftrie ſtand allen andern voran. Sowohl Häute ald Lohe waren in 


109 


reihlihem Maße im Sande vorräthig, fo daß hier unter fehr günftigen 
Bedingungen fabrizirt werden konnte. Und fo machten unfere Lohgerber 
Ihon früher recht brave Gefchäfte auf der Leipziger Meſſe, wie auch noch 
heute. Doch Hauptfahe war der Aderbau und die "Viehzucht, und Haupt: 
artikel unferd Exports waren Getreide, Pferde, Rindvieh, Schafe und 
Schweine Unfere Jahrmärfte waren ſtets maffenhaft befucht von aus- und 
inlfändifhen Getreide und VBiehhändlern, vorzüglich aber von israelitiſchen 
Pferde, und belgifchen und franzöfifchen „Schweinfäufern“, wie die Reute 
bier genannt werden. 

Und mie der GErport, fo der Import. Beim Import machten die 
Solonialmaaren die Hauptfache aus. Das Volk Eleidete ſich meiſtens noch in 
jelbftgewonnenes, felbftgefponnenes und felbftgewebtes Zeug, welches feinen 
beiten Glanz beim Blaufärber erhalten hatte. WBlauleinene Hofen und ein 
blauleinener Kittel dazu war das gewöhnliche Nationalkoftüm bei ung. 

Der Leſer begreift, daß, bei einer folhen faft patriarchalifchen Einfachheit 
dad Geld nicht in floribus bei und zu fein brauchte, und bet unferer elementaren 
Induſtrie auch wohl nicht in floribus fein konnte. Wozu hätten wir damals 
große Bankinftitute gebraudt. Es genügte reichlich an den Herren Notaren 
und Udvofaten, um den guten Bauern, die ſich da ſchinden lafjen wollten, das 
Fell über die Ohren zu ziehen. Große Kapitaliften, die ihren Bortheil auch 
damals ſchon verftehen mochten, fahen in unferm ifolirten Rändchen nichts, 
was fie hätte in Verfuchung führen können, ihr Geld bei diefem oder jenem 
Unternehmen zu riöfiren, dad etwa erft nad langen Jahren rentabel werden 
ſollte. Unſere großen Schätze, die beften Reichthümer des Landes, unfere 
Eifenerze und prachtvollen Hau- und Pflafterfteine mußten ungefhäst und 
unbenugt in der Erde liegen. Die gehaltvollen Bohnenerze, die man nur 
zufammenzufchaufeln und zu waſchen brauchte, um fie nach dem Schmelzofen 
zu bringen, machten den guten Bauern nur Verdruß und entwertheten ihr 
Erdreih. Die paar Hüttenwerke, weldhe unter ſolch günftigen Verhältniſſen 
ind Leben gerufen wurden, famen nicht fort. Sie vegetirten und verfümmerten. 
Es fehlte und an Verkehrsmitteln mit der Außenwelt. Wir ftanden ifolirt 
von dem übrigen großen europäiſchen Körper, und die reichen Verkehrsadern 
desſelben pulfirten nicht in unferm induftriellen Organismus, danf dem alten 
heillofen Schlendrian der leitenden Gewalten bei und. Das war, mie 
unfere Paftoren meinen, die goldene, paradiefifche Zeit, die Zeit der Unfchuld 
und des findlichen Glauben? und Gehorfamd. Für die guten Herren mag 
allerdingd die Zeit viel von einem goldenen Paradieſe (mie ed Pater von 
Cochem in feinen „vier legten Dingen“ fo lebhaft ſchildert) gehabt Haben. Das 
eiferne Zeitalter war es jedenfall® noch nicht, das follte und erſt der deutſche 
Zollverein bringen, und zwar zugleich mit den Eifenbahnen, diefer verruchten 


110 


Erfindung des Zeufeld, denen auch der fromme und gottesfürchtige Banden- 
führer in Spanien, Don Carlos, Verderben geſchworen hat. 

Alfo, mie gejagt, erft mit unferm Gintritt in den deutfchen Zollverein, 
jollte der Teufel bei und los gehen. Deutfhland braudte nämlich unfere 
Schätze, wir meinen diejenigen, die bis dahin nuslo® in der Erde lagen. Wir 
dagegen Fonnten da® deutfche Geld, Thaler oder Gulden, n’importe, fogar 
das Papiergeld, die preußifchen Caſſenſcheine, brauchen. Zwar zogen wir das 
franzöfifhe WFünffranfenftüf dem preußifhen Thaler vor (auch Flügere Leute 
ald wir, thaten das), aber befjer doch immer ein preußifcher Thaler oder auch 
nur ein füddeutfcher Gulden, ald gar nichte. Dabei ſagten ſich die großen 
Herren und fpefulativen Köpfe, melde Geld hatten, dieſes: Wenn der deutfche 
Zollverein unfere Eifenerze braucht und und dafür feine Thaler oder Gulden 
geben will, fo wären wir ja Thoren, wenn wir ihm feine Eifenbahn bauen 
wollten, auf welcher ex diefe Erze beziehen fann. Andere meinten fogar, wenn 
wir einmal die Eifenbahn hätten, könnten wir auch felbit unfere Erze ver- 
hütten und Deutſchland unfer Eifen fir und fertig (das Roheiſen vorerft) 
verkaufen; denn dadurch, meinten fie, fpare man die Transportkoſten für die 
Schlade und verfchaffe den armen Leuten im Lande Arbeit und Berdienft. 
Ja! nun ging den Kapitaliften auf einmal ein Licht auf. Und als die 
belgiſchen Koblenbefiger vernahmen, wir wollten, ſobald mir unfere Eifenbahnen 
haben, „Hütten bauen“ (Eifenhütten wohlverftanden), da fam ihnen ſofort 
der Gedanke, mir fünnten dabei wohl ihre Coaks gebrauden, und ein nettes 
Stück Geld könnte auch für fie dabei herausfallen. Freilich mußte dazu 
unfere Bahn Anflug an die ihrigen haben. Auf diefe Weife gab ein 
Wort das andere, ein Projekt führte auf das andere und — unfere Eifenbahn- 
Geſellſchaft Wilhelm-Quremburg conftituirte fi, bradyte das Kapital zufammen 
und — baute und unfere Bahnen. 

So kam das Geld ind Land, der nervus rerum der Banfen und — 
aller Induſtrie; und mit dem Gelde die Großinduftrie und — die Banfen. 
Hier gab's gar nichts zu riefiren. Der Reichthum, den unfer Rand in 
feinem Schooße barg, und den man nur zu Tage zu fördern brauchte, zählte 
nad Millionen. Da konnte es alfo feine Schwierigkeiten haben, das Betriebö- 
Fapital Herbeizufhaffen. Doch hierzu bedarf es der Vermittlung der Geld— 
inftitute, der Banken. Sofort trat nun unfere Internationale Bank, ein 
deutfches Bankinftitut, mit einem Kapital von vielen Millionen, ind Reben. 
Die Bank verlangte weiter nichts, als ihre Millionen dem Lande und feiner 
Induftrie zur Verfügung zu ftelen; doch um nicht felbft zu kurz dabei zu 
fommen, follte das Rand ihr erlauben, Papier zu fabriziren (nämlich Banfnoten- 
papier) und zwar nur zum doppelten nominellen Werthe der Millionen, die 
fie, zu fo und foviel Procent, dem Rande und der Induſtrie zur Verfügung 


—— 
111 


ftelte. Wir griffen mit beiden Händen zu, und dieß um fo eifriger, ald mir 
die Millionen der Internationalen Bank höchſt nothwendig brauchten, wenn 
es mit dem Bau unferer Eifenbahnen, von denen fonft alle® Uebrige abhing, 
niht den Krebögang gehen ſollte. Und kurz und gut, die Banf gab und 
ihre Millionen (natürlid nur auf Eredit), und wir ließen die Bank Papier 
fabriziren. Und mirklih, wenn wir dabei Fein ſchlechtes Geſchäft gemacht 
hatten, fo fchien die Bank felbft auch gar nicht übel zufrieden mit der 
Commiſſion, oder Provifion, oder wie man die Sache betiteln will, zu fein, 
die für fie dabei herausgefallen war. Sie profperirte zufehenne, und zwar 
jo jehr, daß ihre Korbeeren einen andern großen Bankherrn und nod 
größeres finanzielle und politifches Genie nicht Länger ſchlafen ließen. Dieſes 
Genie war noch dazu ein großer Freund und protege von Franfreich, der 
den „Preuß“ Faum minder verabfhheute, als den leibhaftigen Gottjeibeiund 
jelbft. Der Mann kannte fomohl feine eigene Kraft als Ddiejenige der ge 
waltigen Stügen, worauf fie fußte. Somohl ald Politiker, ald Finanzgenie 
juhte er Seinedgleihen. Diefer Mann nun fam von Belgien ber in unfer 
Rand mit dem feiten Entfhluß, zuerſt die deutfche Banf in den Grund zu 
bohren und zu zermalmen, und dann, um und das große, reiche, jchöne 
Frankreich, wo es die Banfherren und andere großen politifchen Herren damals 
jo gut hatten, zu anneftiren. Für die vielen Millionen der deutfchen 
Bank wollte und der franzofenfreundliche Bankherr doppelt fo viele von feinen 
Millionen zukommen laffen, und dabei follten feine Millionen in Fünffranfen- 
füden und nicht in lumpigen preußiſchen Thalern, gefchmweige denn in ſüd— 
deutſchen Gulden, beftehen. Wer hätte da nicht mit beiden, ja mit zehn Hän- 
den, zugreifen wollen, wenn er fie gehabt hätte, ich meine diefer die Hände, 
und der andere die Millionen. Wie es ſchien, fehlte ed dem großen Bankherrn 
faft noch mehr an den Millionen, ald und an den Händen, diefelben in 
Empfang zu nehmen. Erſt müßten wir, meinte er, und das reiche Frankreich 
annektiren, dann kämen die Millionen bald von felbft, und zwar direft aus 
der franzöfifhen Nationalbanf. Denn die neue Banf, die der Herr bei ung 
„gründen“ wollte, und die der deutfchen Bank den Garaus machen follte, 
jolte ja meiter nichts fein, als die Succurfale der großen Nationalbanf von 
Frankreih, und der Herr follte Oberdirektor derfelben werden. Doch fiehe! 
die deutfche Bank ftand fefter, als der geniale Finanzmann fich dag vorgeftellt 
hatte. Sogar feine beften Chikanen brachten fie nicht zum Wanfen. Es 
ging dem Freunde Frankreich der deutfchen Bank gegenüber, wie e8 Franf- 
veih felbft bald Deutſchland gegenüber gehen follte: er verlor die ſchöne 
Partie und — ift bis zu diefem Tage noch nicht Oberdireftor der Succurfale 
der franzöfifchen Nationalbank bei und. Wir haben nämliche diefe Suceurfale 
bis dato noch nicht. Das große finanzielle Genie muß fich alfo mit einem 


112 


Kleinen, ziemlich unbedeutenden Bankinftitute begnügen, bi® dahin, wo — die 
„Revanche“ kömmt, die Succurfale der Nationalbanf von Frankreich im 
Schlepptau führend. 

Seitdem aber ift ſchon ein anderes großes Banfinftitut beit und gegrün- 
det worden, nämlid die „Nationalbanf“. Wir befiten fomit ſowohl eine 
Nattonalbanf ala eine Internationale Bank, und beide überbieten fih darin, 
und ihre Milltonen aufzufhmwasen und — Papier zu fabriziren, das man glüd- 
licher Weife im Auslande nicht nehmen will, jo daß wir den ganzen colofjalen 
Reichthum für und allein behalten. Glückliches Land! — und um fo glüdlicher, 
als die Abneigung des Auslandeg, fich mit unfern Banfnoten zu bereichern, eher 
zu» al® abzunehmen fcheint. So fagt die „Kölnifche” in ihrer geftrigen 
Nummer, fogar der deutſche Neichdfanzler habe unferm Gefandten in Berlin 
fein Wort gegeben, daß fich Deutfchland nicht durch unfere Millionen in 
Banfnoten bereichern und und verfelben berauben wolle. Das ift ja recht 
tröftlih für und und unfere Banken. Gin Glück, daß unfere Eifenbahnen 
gebaut und in guten Händen find, und unfere Grofinduftrie nicht minder, 
weil diefe fonft den ganzen papiernen Schwindel verfchlucfen würden. So 
aber fann doch ein armer Teufel wie unfereind auch nody Hoffnung hegen, 
feinen Theil von den Millionen, die fonft Niemand will, zu erhalten. 

Doch, Spaß bei Seite! Mas wollen unfere Banfen mit ihren vielen 
Banknoten anfangen, wenn diefe Niemand mehr nehmen will? Wird nicht 
dadurch unferm Lande felbit eine tiefe Wunde geſchlagen werden? Wenn 
auch das Land und feine Regierung keineswegs ſolidariſch mit unfern Zettel: 
banfen find und feinen direkten Theil an deren etwaigen Verluſten zu tragen 
haben, jo fann es doch für und nicht gleichgiltig fein, ob die Banfnoten 
diefer Inſtitute Curs haben oder werthlos find. Uns fcheint durch ſolche 
Verhältniſſe aus dem Handel und der Großinduftrie bei und Gefahr zu drohen, 
wenn der Gredit der beiden bedeutendften Bankinftitute unfer® Landes durch 
die Weigerung , ihre Noten in Deutjchland, auf welches fie doch großentheile 
berechnet find, circuliren zu laſſen, erfchüttert wird. Wir geftehen gern, daR 
wir in der Sache nicht competent genug find, um Far über die Folgen der 
beregten Weigerung aburtbeilen zu können. immerhin aber muß es den 
deutfchen Leſer intereffiren , diefe Frage hier aufs Tapet gebracht und etwas 
näher beleuchtet zu fehen. 

Wir werden nicht verfehlen, fpäter, wenn diefelbe fich erft noch weiter 
in den Vordergrund drängen wird, an diefer Stelle auf diefes Thema zurüd- 
zufommen, N. Steffen. 


113 


Vilder aus Mecklenburg. 


Aus den Tagen der Bürgermwehr. 1. 
Don Hugo Gaedde. 


Unter meinem Fenſter fpielen die Kinder „Soldat“. Des Nachbars 
Emil tt die Hauptperfon; die andern Kinder folgen ihm ehrfurchtsvoll, denn 
er trägt einen Tjchafo, den er Gott weiß woher erhalten hat. Und fah’ ich 
recht? MWahrhaftig, diefer mächtige Tichafo mit der ftrahlenden Sonne 
vorn und dem Vogel Greif in der Sonne, diefer furhtbare Augenfhirm an 
dem Tſchako und oben darüber der mächtige weiße Haarbujh —, das ft 
wahrhaftig noch ein Käppi von der alten Roftoder Bürgerwehr. Du Reſt 
vergangener Herrlichkeit, armed Käppi! Wleinte doc in deiner Blüthezeit ein 
Anonymus in der Zeitung von Dir: „Mir ift ſchon das ſchwizeriſch Täbelnde 
weibifche Wort Käppi etwas widerlihd. Wer es nicht weiß, der foll es 
wahrlich nicht verrathen, daß mit jenem federleichten Wort ein fo ſchwerer 
Sturmdedel gemeint ift, er wird fich jedenfall® eher ein ſpitzenbeſetztes Mull- 
häubchen für ein Wickelkind darunter voritellen.” 

Roftoder Bürgergarde! Ja, ed war eine fchöne Zeit, als diefe alte 
Bürgerwehr jung gemejen. Jugendliche Begeifterung hatte in den Märztagen 
des Jahres 1848 Alt und Jung auch in Roſtock entflammt. Es galt den 
edfen und thatkräftigen Gedanken: Schu dem Volke durch das Wolf, 
Aufrechterhaltung der fittlihen Ordnung und Erleichterung der Militärlaft. 
Als daher am 18. März die Liſten für den freimilligen Eintritt in die 
Bürgermwehr öffentlich ausgelegt wurden, zeichneten an diefem Tage eine Menge 
tüchtiger Männer ihren Namen in die Lifte. Schon der zweite Tag zählte 
200 Freiwillige; die Zahl ftieg bi8 zum 6. April auf 671 PBerfonen. Alle 
Stände metteiferten in der Begeifterung. Einer wollte e8 dem Andern zuvor: 
tbun. Herrliche Reden wurden gehalten; man verfchwor fi, für die Garde 
und zum Schuß ded Vaterlandes Gut und Leben zu lajjen. 

Zur einftmweiligen Benfhffnung fuchte man auf das Schleunigite aus den 
dunklen Kammern des Rathhauſes nach den alten abgedienten Flinten, die 
ohne Schloß und Feuerftein, feit Decennien dort verborgen lagerten. Einige 
Unteroffiziere vom Militär wurden requirirt, um die nöthigen Exereitien zu 
leiten; Alles war muthvoll und Fampfbejeelt. Namentlih die alten Degen 
von 1813 lebten wieder auf. Es war ordentlidy eine Freude, zu fehen, wie 
fie wieder jung geworden, von ihren Thaten erzählten und in dem Gebraud 
der Waffen den Neuling unterrichteten. 

Noch immer fhien die Begeifterung zu wachſen. Man begrüßte freudig 


die Berordnung des Magiftrate®, melcher die gefehlichen REINE zur 
— IV. 1874. 


114 


Errichtung einer fürmlihen VBürgergarde regeltee Cine Volksverſammlung 
ward berufen, über Montur und Waffen follte dort das Meitere geplant 
werden. In diefer Verfammlung platten aber die Geifter aufeinander. Die 
Einen hielten einen Säbel für unnöthig, als Schugwaffe fei der Säbel nicht 
wohl zu denfen, „denn vor einem Handgemenge mit dem Säbel werde der 
Himmel die Bürgergarde gnädig bewahren.* Die Andern ftimmten für den 
Säbel; namentlid) die braven Freimilligen von 1813, die alten Haudegen, 
die den Gebrauch des Säbeld aus der eigenen Praris fannten und ihn wohl 
zu führen gedachten. Die Einen wollten blaue Tuch, die Andern grünes 
Tuch zur Uniform, aber auf feinen Fal ruſſiſch Grün; Ale waren fie einig 
im Haß gegen den Modcomiter. Die eine Partei wünſchte died, die andere 
das, — es galt hier fehon der verzweifelte Schmerzendruf, den ein Freund 
der Bürgerwehr fpäter ausftieß: „Dergleichen verfchiedene Sinne bringe nun 
einmal Einer unter das gleiche Käppi!“ 

Bei den Meiften freilih wollte in den nächſten Wochen ſchon die Be- 
geifterung merklich abfühlen. Die tapferen 671 Männer und Yamilienväter, 
welche ihren Namen fo begeiftert in die Lifte eingezeichnet hatten, wo ftedten 
fie auf einmal? Die Meiften waren nirgends zu fehen. Ueber diefe Saum- 
feligen ereiferte fi namentlich ein alter Vicefanzleidirector, der mit jugend- 
lihem Feuer der guten Sache diente; er ſchalt Öffentlich in der Zeitung über 
diefe Helden, die ihn und die wenigen Getreuen allein exereiren ließen. Es 
erfchienen nämlich bei den öffentlichen GErercitien höchſtens 30 Mann, dies 
Mal der Eine, das nächte Mal ein Anderer. „Es ift fehr zu befürdten“, 
ruft der alte Vicefanzleidireftor jammernd, „daß die Noftoder Bürgergarde 
bei ihrem erften Öffentlichen Auftreten entweder dur) die Mängel ihrer äußern 
militärifchen Haltung oder auch durch unrichtige Ausführung ded Commandos 
leicht die Heiterkeit der Strafenjungen erregen könnte.“ 

Inzwiſchen fuchte der Magiftrat der finfenden Begeifterung etwas nach— 
zubelfen. Es erjchien am 7. April eine Verordnung ded Rathes, melche ein 
feſtes Corps von 800 Mann, in acht Compagyien, von je 100 Mann ges 
theilt, gründete, und den Dienft der Bürgermehr einem jeden Bürger zur 
Pfliht machte, fobald er noch nicht das 50fte Lebensjahr überfchritten hatte. 
Die Dienftzeit ward auf drei Jahre feftgeftellt; die Montur follte jeder 
Bürger auf eigene Koften fi anfchaffen, dagegen wollte die Stadt die 
nöthigen Waffen, — Flinte, Säbel und Batrontafhe, — jedem Bürger 
Eoftenfrei liefern. Um diefe Zeit war die Uniform der Bürgergarbdiften in 
der Plenarverfammlung im Allgemeinen berathen worden. Man hatte hierauf 
eine Commijfion zur Organifation der Bürgergarde ernannt. Diejelbe trat 
mit einem detaillirten Entwurf über die Uniform hervor, welcher wieder in 
einer Plenarverfammlung berathen wurde. Nur einige wenige Abänderungen 


115 


erſchienen zweckdienlich; und fo follte man glauben, daß hiermit endlich die 
Sache abgethan war. Aber nein! Deffentlih in den Zeitungen und unter 
der Hand ward jetzt bald diefe, bald jene Abänderung der Uniform in Vor— 
ihlag gebracht. Der Eine wollte für den Waffenrot den Militärſchnitt, der 
Andere den Givilfchnitt, „denn der Civilfchnitt“, fagte ein Zeitungsartikel, 
„ift meit eleganter und hat noch den Vortheil, daß die theure Uniform fpäter, 
nach beendigter Dienstzeit, noch in einen hübfchen Leibrock kann umgearbeitet 
werden.” Inzwiſchen kaufte der Eine das Tuch zu feiner Uniform von 
Diefem, der Andere von Jenem und foheerte fih nicht im Mindeften darum, 
ob es die vorgefchriebene Farbe hatte oder nicht. Andere fchrieen Zeter über 
dad Modell des Bürgergardiftenfäppie. „Wir hatten Gelegenheit, heute ein 
bereits fertige® Käppi zu fehen und waren nicht wenig erftaunt, ſolches mit 
dem Vogel Greif geziert zu finden, welchen wir nur gewohnt find, bei un— 
jeren Bolizeimachtmännern und Sprigenleuten wahrzunehmen. Iſt e8 der 
Mille des Plenums, diefe Auszeichnung an den Käppis zu tragen?“ Dazu 
war ſchon ein Unglück der neuen Interimsmütze begegnet, die bis zur An- 
fertigung des Käppis das letztere vertreten follte. Zwei verfchiedene Gewerke 
nämlih, die Mützenmacher und die Hutmacher, hatten fich die betreffende 
Competenz ftreitig gemacht, — und jeder auf feine Hand nad) feiner Form 
gearbeitet; fo lief nun ein Theil der Bürgergardiften mit der einen Form, 
der andere mit der andern Mübenform umher. Und dann heißt es weiter 
in einem Schmerzendrufe der Zeitung: — „inzwifchen haben nicht wenige 
Bürgergardiften aud) ihre Käppis, der eine bei Diefem, der andere bei jenem 
beitellt, ohne Gewißheit darüber, ob und in wie weit die Arbeiten der ver- 
Ihtedenen Lieferanten wirklich modellmäßig feien.“ 

63 erhob daher ein eifriger Verehrer der Bürgergarde in der Zeitung 
einen Mahnruf; er forderte die Gardiften auf, diefen Uebelftänden abzuhelfen 
und die Uniform nur fo anfertigen zu laſſen, wie es bereitd durch die 
Commiſſion für die Organifirung der Bürgergarde angeordnet worden. Cr 
Ihloß fein Mahnfchreiben mit den Worten: „Halten wir feit zufammen, fo 
müfen ſich jene Leute, welche, um Staat zu machen, Bürgergardiften wurden, 
Ihon fügen.“ 

Auf diefen Mahnruf erfolgte in den üffentlihen Blättern die höchſt 
ergötzlich und anfchaulich gefaßte Antwort: „Durh Ihr Schreiben, fürchte 
ih, haben Sie der größeren Zahl der Bürgergardiften und dem Publicum 
ein großes Vergnügen geſtört. Welch' ungeheure Heiterkeit würde ed nicht 
verurfaht Haben, wenn wir hier einen befammteten Lieutenant, dort einen 
Unteroffizier mit einer Goldtreffeneinfafjung am Kragen, bier einen Lieutenant 
mit Goldftickerei, dort einen Unteroffizier mit ladirtem Lederzeug, hier einen 
Lieutenant mit Sammet und doppelter Goldtrefjeneinfaffung an Kragen, 





116 


Händen und Füßen u. dgl. m. zu fehen befommen hätten. Mit welchem 
Jubel würde nicht jedes neue Abzeichen von der lieben Straßenjugend begrüßt 
und dur ein bedeutendes Gomitat beehrt worden fein! Um dies große Ber- 
gnügen haben Sie und durch Ihr Schreiben nicht allein gebracht, ſondern 
Site haben und dadurch zugleich der Gelegenheit beraubt, eine große Zahl der 
Reute kennen zu lernen, welche ded bunten Rocks wegen Vürgergardiften ge- 
worden find. Das ift unverantwortlih von Ihnen gehandelt.” — 

Inzwiſchen tönte mieder die ſcheltende Stimme des alten PVicefanzlei- 
directord. Er hatte bet der legten Grereirübung nur noch 20 Mann gezählt. 
Es muß danach die Autorität der Hauptleute nicht groß geweſen fein. 
Hauptleute eriftirten nämlich damald wirklich ſchon; fie waren nad einem 
allgemeinen Ausmarſch ded gefammten Bürgereorps auf freiem Felde gewählt 
worden. Augenzeugen können nicht genug davon erzählen, wie ſtolz und 
martialifch die erwählten Hauptleute (in Ermangelung eined Degend mit dem 
Spazierftof über die Schulter), an der Seite ihrer neuen Compagnie in Die 
Stadt heim marfhirten. Das waren die Hauptleute; nun fehlten aber wieder 
die Lieutenant? und die Unteroffizier... Neue Klagen in der Zeitung geben 
hiervon Zeugniß. 

In diefem MWirrwarr fette die Commiffion für die Organifirung der 
Bürgergarde gemächlich ihren Weg fort. Sie fümmerte fi mehr um bie 
Uniform ald um die Gardiften. Ein Zornausbrud der Zeitung vom 25. April 
macht fih in der Anfrage Luft: „Wie lange ed wohl noch währt, daß acht, 
fage acht Compagnien Bürgergarde ſich bei der Nafe herumführen Taffen ?“ 

Endlih, nad langer Baufe, und kurz vor der Auflöfung der ganzen 
Garde in ein Nichts, fährt neues Leben in die Glieder. Die Commiffion 
ermannt fih. Das Dienftreglement wird zur Hand genommen, die zum Dienit 
verpflichteten Bürger werden für die Garde audgehoben, man revidirt die 
Gompagnieliften und ladet die faumfeligen Gardiften zur Verantwortung, — 
wie dies Alles ſchon der alte Vicefanzleidirector in der Zeitung wiederholt ge- 
predigt hatte. So Famen endlich im Monat Juni feine Worte noch zur Gel: 
tung. Inzwiſchen waren auch Dffiziere und Unteroffiziere gewählt. Am 
7. Juli rüdte denn zum erften Male die ganze Bürgergarde in voller Uni- 
form zum Manöver ind Feld. Ein Zeitungsartikel rühmt die Garde als ein 
ſchönes Corps, das feiner Baterftadt gewiß Ehre made. „Die kräftigen 
Männer imponiren und werden ihren Zweck nicht verfehlen,“ jagt der Bericht: 
erftatter. Es fragte fih nur: welchen Zweck? Auch der alte Vicefanzleidirector 
ſprach jest in einem etwas fanfteren Ton. Auch er nennt in dem Zeitungs: 
blatte die Garde ein hübſches, ja ein imponirended Corps. Es fehlte nach 
feinem Bericht nur noch an taufend Fleinen militairifhen Anordnungen, na- 
mentlih bei der Schießübung. Es wurde mit unbegreifliher Unfunde und 


117 


Fabrläffigkeit von Vielen beim Laden und Schießen verfahren. — Ebenfo 
war ein ſachkundiges Commando nicht zu bemerken, inden das Commando 
oft verworren und ftotternd hervorgebracht, ja nicht felten völlig unrichtig 
gegeben ward, worauf dann die Befolgung des Commandos Stoff zur Be: 
Iuftigung für die niemald fehlenden Zufchauer gab. Dazu Fam, daß die 
Chargirten da8 Commando nicht ala ein ſolches, als einen Befehl, fondern 
tgelmäßig in Form einer ganz ergebenen Bitte vortrugen. Natürlich fürch— 
tete der Schufter mie der Schneider ald Bürgermwehrlieutenant, feine vorneh- 
men Runden; der Herr Ober - Appellationd » Gerichtärath und der Herr Pro» 
feffor Eonnten ihm die KRundfchaft entziehen, wenn er bei dem Commando 
nicht ganz ergebenft bat, fie möchten doch fo gut fein und da® Gewehr prä- 
jentiren oder linksum marſchiren. 

Dann ereignete ſich bisweilen auch wohl einmal das Unglüd, welches ein 
Zeitungsinferat meldet: „Und es geſchah, daß fie verfammelt waren, um 
binaugzuziehen, der Hauptmann war aber nicht da. Und e8 ftellte ſich ein 
Stellvertreter an die Spite der Bewegung und er fing an zu rufen und zu 
befehlen den Leuten. Da geihah ed, — höret ihr Söhne ded Nordend, — 
daß Einer in diefer Zeit, in der Alle befehlen wollen, nicht befehlen Eonnte, 
fondern fich immer verhadderte. Und die Reute, die da gehorchen follten, wurden 
fnitihabig und gingen in gereizter Stimmung brummend audeinander, da hieß 
es: aud — ein — ander.“ 

AN diefem Elend ward mit einem Schlag ein Ende gemacht, ald endlich 
im Spätherbft 1848 ein penfionirter Major ala preislich beftellter Comman— 
dur der Bürgergarde die Bügel in die Hände nahm. Auf einmal Fam ein 
ſtrammer Zug, ein militärischer Geift in da ganze Corpd. Wenn man 
jest die Bürgermehr, die Muſik vor, mit der wehenden Fahne in gefchloffenen 
Öliedern ind Feld marſchiren fah, war es ein wirkliches Vergnügen, jedem 
Einzelnen mit den Augen zu folgen. In der kleidlichen Form des grünen 
Waffenrocks und im grauen Beinkleide trat jeder Gardift ftraff daher; felbft 
dad viel gefchmähte alte Käppi ſaß eigentlich ganz ftattlih auf dem Haupte 
ſeines Gardiften. Mit Necht ift über die Uniform der Bürgerwehr und über 
die Haltung ihrer Gardiften in mander Stadt gefpöttelt worden, — aber die 
Roftoder Garde verdiente nicht die Strophe des dänifchen Volksliedes, in 
weldher die Bürgerwehr von Kopenhagen bejungen wird. Die ergößliche 
Strophe Tautet: 


„Die Uniform von damals, dieſes Kleid, 

Sie tragen e8 im Sturm und Regenzeit. 

dein wohl war es von Wagon: 

Enge, weiße Pantalons, 

Geſchnürt feſt übern Magen, da er ausjah wien Gonggong. 
Der Rothrock da 


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Saß Bater'n! Ah! 

Die Patte 

Dran hatte 

Hellblau ; der Schwanz 

Am Rod hing ganz 

Bi zur Fußplatte, 

Und von dem Tſchako blidte 

Ein Bündel Federn, nidte 

Nah dem Gewehr, — der Anblick, ach, erquidte!“ 


Unter der eifernen Fauft de alten Soldaten und braven Commandan- 
ten, fam mie gefagt, eine neue Ordnung in das Getriebe des ganzen 
Roſtocker Bürgercorpe. Vom Rathe der Stadt ward jebt eine neue Ber- 
ordnung erlaffen, wonach jeder angehende Bürger vor feiner Aufnahme ala 
folder in voller Montur und Bewaffnung dem Commando der Bürgermehr 
fih vorftellen, diefem die gehörige Cinübung nachweiſen und von dem 
Sommandeur eine Befcheinigung über die vollftändige Equipirung, Bewaff— 
nung und Einerereirung erwirken mußte. Auf ſolche Weife ward für die 
neue Ergänzung der Bürgergarde durch tüchtige und gefchulte Soldaten Sorge 
getragen. Und fo gefchult ward diefe Bürgerwehr nach fo vielen Fährnifjen 
und Abenteuern ſchließlich doch noch eine wirkliche Schutzwaffe für die Stadt. 
Sie hat in den unruhigen Tagen, die auch Roſtock unbeilvoll bedrohten, 
treffliche Dinge geleiftet und den Wöbel im Zaume gehalten, der, von den 
Radicalen aufgehegt, den Verſuch machte, einen Aufruhr ind Werk zu feben. 
Auf ſolche Weiſe erwarb fih die Bürgergarde um Roſtock ein bleibendes 
Verdienſt und find damit die Opfer aufgewogen, welche die Stadt für diefe 
Wehr und ihre Waffen mit faft 30,000 Thalern dargebracht hat. 

Ein zweiter Artikel fol nun eine höchſt merkwürdige Gefchichte bringen: 
die feierliche Auflöfung und das jonderbare Ende der Roſtocker Bürgermehr. 





der Fall Arnim. | 
Berlin, 11. October 1874. 


Bis diefe Zeilen erjcheinen, wird vermuthlich in der Arnim'ſchen Sache, 
welche nun ſchon eine Woche lang das Tagesgefpräch der deutſchen — und 
mancher andern — Hauptitadt bildet, mindeſtens nach einer Richtung Hin, 
ein feſtes Refultat erzielt fein. Wir werden bis dahin wahrfcheinlich ziemlich 
beftimmt wilfen, welchen Kreis von ftrafbaren Handlungen die Anklage um— 
faßt. Bis jetzt ſteht ficher in Ausficht die Anklage wegen Entfremdung von 
öffentlihen Aftenftüden auf Grund der $$. 133 und 348, Abſatz 2 des 


Di 
119 


Deutjchen Reichsſtrafgeſetzbuchs. Nach einigen ziemlich confequent in gut- 
unterrichteten Preßorganen auftretenden Nachrichten fol dem Grafen außer 
diefen Vergehen au dad Verbrechen des Berrathes von Staatsgeheimniſſen 
zum Nachtheile des deutfchen Reiches zur Laſt fallen ($ 92 des Deutfchen 
Reichsſtrafgeſetzbuchs). Diefed Verbrechen unterjcheidet fih von anderen og. 
politiichen Vergehen dadurch, daß dad Geſetz die Strafe auf Zuchthaus nicht 
unter zwei Jahren normirt, und Feſtungshaft nur bei Annahme mildernder 
Umftände zuläßt, d. h. mit anderen Worten, bis zum Beweiſe des Gegen: 
theild annimmt, daß die verbrecherifche Handlung „aus einer ehrlojen Ge- 
finnung entfprungen“ fei ($ 20.). — 

Wir wollen freudig aufathmen, wenn am Ende der begonnenen Woche 
nur die erjte der beiden Anklagen Beitätigung findet, und der Angeklagte, 
der jo lange einen der höchſten Vertrauenspoſten des Reiches inne hatte, 
nicht eines Verbrechens verdächtig erjcheint, welches das deutjche Strafgejes 
nad der Höhe des Mindeftftrafmaped unter die ſchwerſten und gemeinjten 
Verbrechen zählt. Aber im Grunde Ändert das leider an der Ungeheuerlicy- 
feit und dem jfandalöfen Charakter des WYalled nur wenig. Man wird 
Gottlob lange fuchen müſſen, bevor man im Preußiſchen Beamtenthum einen 
Diplomaten der höchſten Rangſtufe findet, welcher unter der nämlichen An- 
Klage jtand, wie heute der Graf Harry von Arnim. Und der vorliegende 
Fall ift ficherlich der denkbar häplichite. 

Denn vor Allem — fo felbitverftändlich auch wir mit dem Urtheil über 
Schuld oder Nichtſchuld und das Map der Verſchuldung zurüdhalten, bis der 
Kichter feinen Spruch gefällt hat — ift e8 kaum mehr zmeifelhaft, daß der 
Angefhuldigte den Thatbeitand der Entfremdung von Aetenſtücken aus den 
Archiven und Wetenbeftänden der Botjchaft des deutfchen Reiches in Paris 
jelbft unummunden eingefteht. Die Manöver feiner ungeſchickten Freunde aus 
dem Kreuzzeitungslager, feine Weigerung der Herausgabe diefer Actenftüde bald 
ald eivilrechtliches Retentionsrecht, bald als berechtigte Zurüdhaltung von 
Privatbriefen des Kanzlerd an Arnim darzuftellen, fünnen bei feinem Un- 
partetifchen mehr verfangen, feitdem man weiß, daß das Auswärtige Amt 
von der Neclamirung der civilrechtlichen Correſpondenz ganz abgefehen hat, 
und die angeblichen Privatbriefe des Kanzlerd an den vormaligen Botjchafter 
des deutſchen Reiches fortlaufende Negiftrandennummern tragen und in den 
amtlihen Documenten des Auswärtigen Amtes gebucht find. Damit jteht 
im Einklang, daß die Haft des Grafen keineswegs den Zweck verfolgt, etwaige 
Sluchtverfuche oder die Verdunfelung des Thatbeftandes zu verhindern, fondern 
die Herausgabe jener Staatäfchriften zu erzwingen, deren Befig der Graf 
einräumt, und deren Herausgabe an feine vorgefehte Behörde er trogdem ver» 
weigert, bis ein Nichterfprud ihn dazu zwingen werde. Es ift auch geringe 


120 


Hoffnung vorhanden, daß die eindringlichen Vorftellungen einiger Angehörigen 
ded Angeſchuldigten, ſowie feines eigenen Vertheidigerd, den harten Sinn er» 
weichen werden. Und ſelbſt wenn Arnim nachgäbe und die Urkunden aus» 
lieferte, würde die Unterfuhung ihren Lauf haben müffen, da die angezogenen 
Paragraphen des Reichsſtrafgeſetzbuchs das VBeijeitefchaffen von amtlichen Do- 
cumenten mit ganz derfelben Strafe belegen, wie die vorfägliche Verfälſchung 
oder Befhädigung derſelben. Beifeitegefchafft find aber diefe Urkunden bis 
heute ohne Zweifel. 

Diefe Erwägungen führen von felbft zur Prüfung der Motive der That 
und der bis heute vorhandenen Weigerung der Herausgabe. Und auch diefe 
Motive find dem Angefhuldigten fo nachtheilig wie möglih. — Verletztes 
Gelbitgefühl hat, nad) dem Urtheil der Freunde und Gegner — oder bejjer 
Ankläger — des Angeklagten, diefen zu dem gegenwärtigen Conflict, zur 
leidenfchaftlihen Feindfhaft gegen den deutſchen Kanzler getrieben. Aber 
was hat mit diefer perfönlichen Mipftimmung — mag fie fo berechtigt oder 
unbere&htigt fein wie fie will — die mwiderrechtlihe Zurückhaltung amtlicher 
Schriften zu thun? Diejenigen, welche die Weindfchaft des Grafen gegen 
Bismard — und zwar ficherlich der Wahrheit gemäß — ald Motiv feines 
Deliets anführen, erheben damit, vielleiht ohne es zu ahnen, die ſchwerſte der 
Anklagen gegen ihren Schügling. Denn die Zurückhaltung der Documente 
Geiten ded Grafen wäre dann diefem — wie natürlid — keinesfalls Selbft: 
zwed, fondern in urfächlichen oder abfichtlihen Zufammenhang zufegen zu feiner 
Feindihaft gegen den Kanzler. Damit formulirt man aber von ſelbſt die 
neue Anklage gegen Arnim, daß diefer die Documente nur zurüdhalte, um 
der Politik des Kanzlers d. h. der Politik de Deutjchen Reiches zu ſchaden 
und fi dadurd zu rächen. Diefer Zwed wäre aber wiederum abfolut un— 
erreichbar ohne directe oder indirecte Veröffentlichung der betr. Urkunden; 
denn da das Auswärtige Amt die Urfchriften oder Kopien diefer Documente 
befist, fo könnte Arnim durch die bloße Hinterziehung derfelben eine fatale 
Stockung der Gefchäfte u. dergl., in welcher er ald Retter der Noth erjchiene, 
nimmermehr erzeugen. Das Fönnte alſo auch die Abficht feiner Beifeitefhaffung 
derfelben nicht fein. — Der einzig denkbare Zweck diefed unerhörten Amts— 
mißbrauchs wäre alfo lediglich ein beabfichtigter Verrath von Staatsgeheimniſſen 
oder die Erpreffung einer neuen Carriere ald Gegenleiftung für dad Schweigen 
des Grafen, für die Auslieferung der Documente. 

Der preufifche Richterftand hat bei diefer Gelegenheit feine altberühmte 
Unvarteilichfeit und Pflichtftrenge bewährt. Ein jäher Schred geht durd 
die Neihen der Neichdrebellen. Mit faurer Miene fuht man die Fatalität 
der Situation durch das hübſche — aber dem Herrn Grafen fehr ungünftige — 
Märchen auözugleihen, Bismarck habe die Arnim'ſchen Enthüllungen gefürchtet. 
Graf Arnim's Geheimniffe find Bismarck's Geheimnifje. Und der deutjche 
Kanzler hat noch immer die Sympathien der denkenden Welt auf feiner Seite 
gehabt, wenn er daran ging, jeine Geheimnifje auf den offnen Markt zu 
fragen. u. 





Verantwortlicher Redakteur: Dr. Hans Blum in Leipzig. = 
Verlag von F. 8. Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Legler in Leipzig. 





XXI. Jahrgang. 







Die ! 


renzboten. 





de 7— 
für 


Bolitik, Literatur und Kunſt. 
Ne 43. 


Ausgegeben am 23. October 1874. 













Inhalt: 
Seit: 


Goethe's Tagebücher. 1780, 1781. 1783. EC. A. 9. Burkhardt. 121 
Charles Wolfe. Skizze feines Lebens und Dichtens. 1. — | 


DELL. . . 129 | 
Die Goldausfubr und ‘die Müngreform. Mar Wir tb. 2 . 140 N 
Bilder aus Medlenburg. Aus den ur: der Büngermehr. 2: 

Bon Hugo Gacrdde . - » -» = or \ 
Schweizer Reijegloffen. F. 2. - ee ai u | 








Die Revüe Univerfelle und die Örengboten, ee m | 


Grenzbotenumſchlag: Literarische — i. 





Leipzig, 1874. 
Friedrich Ludwig Herbig. 
(Fr. Bild. Grunow.) 









bönnirt bei allen — und — des In⸗ und Auslandes. 








rum 
—— 


Goekhe's Tagebücher. 


1780. 1781. 1782. 


Im Anſchluß an die bereits mitgetheilten Tagebücher Goethe's laſſen 
wir die von 1780—82 folgen. Auch fie liegen und nur abſchriftlich vor und 
obwohl auch für diefe nicht feitzuftellen war, mie fie fich zu den Goethe'fchen 
Driginalen verhalten, fo haben wir die Mittheilung derfelben um jo weniger 
beanstandet, ald fie die Mittheilungen Riemer's über Goethe weſentlich er- 
gänzen. Was von Niemer ganz oder theilmeife benust ift, haben wir durch 
Klammern angedeutet. Aus der Bergleihung mit der Niemer’schen Arbeit 
wird fi ergeben, daß die unverfürzte Wiedergabe diefer Aufzeichnungen für 
die Kenntniß des Goethe'ſchen Lebens ſich mehr ala die Verarbeitung des 
Materiald empfiehlt, das in Berüdfihtigung mancher Verhältniffe hie und da 
eine Kürzung erfahren mußte. Selbſt auf die Gefahr hin, daß auch unfere 
überfommene Abfchriften fich als lückenhaft erweiſen werden, wollen wir diefe 
nicht zurücdhalten. Vielleicht entſchließen ſich die Goethe'ſchen Erben vor allem 
die wichtigen Tagebücher aus den Originalen herauszugeben, die jedenfalls 
auch in fpätern Jahren de ntereffanten viel bieten, wie wir aus einigen 
andern Aufzeichnungen, die in der Folge mitgetheilt merden ſollen, ſchließen 
müſſen. 


Goethe's Tagebuch von 1780. 


Januar 17. Früh Anfang zur Ordnung und Beſorgung gemacht. 
Kriegs-Kommiſſion. Waren mir die Sachen ſehr proſaiſch. Zu Wieland. 
Gut Geſpräch und Ausſicht beſſeres Zuſammenlebens. Vorſchlag zu einer 
Societät. Nah Tiſch zu Boden. Weit läuſige Erklärung über a Y.“) Er 
ift ein fehr ehrliher Mann, NB. [Sedermann ift mit dem Herzog ſehr zu 
frieden, preift und nun und die Reiſe ift ein Meifterjtück**), eine Epopoe.] 
Das Glück giebt den Titel, die Dinge find immer diefelben. 

Sanuar 19. Auf die Vibliothet wegen Bernhard's Leben. Auftrag. 


*) Loge Amalia ijt gemeint. 
"*) Riemer II. 100 bat preift und an. 
Grenzboten IV. 1574. 16 


122 


Zu Er. Eſſen. Sie drüdt mich durd eine unbehagliche Unzufriedenheit, ich 
ward fehr traurig bey Tifch. 

Februar. Den Anfang des Monat? mit wenigen Verfuchen im Zeich— 
nen, Dietiren meiner Reifebefchreibung zugebracht, um nad) und nach wieder 
in Thätigfeit zu kommen. 

Vebruar 6. Früh Reife dietirt. Wenig an Wilhelm. Kam Albrecht. 
Ging zu Er. ejfen. Abends zu ©, dann nah Haufe. 

Februar 7. Reiſe dictirt. aftrop wegen ded MWegebaued, dann Fam 
Albreht, ſprachen über Glectrizität, zu © effen. Gezeichnet. Zu der Geh. 
N. Schardt, die Frank war. Halb 7 Uhr nah Haufe. Reichshiſtoria Karl V. 
Acht aufs Theater. Kriegskommiſfion. Zu (, Friegte gegen Mittag meniged 
Kopfweh, zu Sedendorf, zu © effen. Hatte Quft auf die Redoute, unterlieh 
ed aber. Abends kam Wieland umd wir waren fehr Iuftig. 

Februar 9. Früh Acten, Conſeil. Ging mit meinem Kopf mieder 
jiemlih. Nach Tiefurt. Eſſen. Knebel las Amor und Pfyche. Abends mit 
O und der Heinen Schardt hereingefahren. Corona zu Tiſch bey mir, waren 
fehr Iuftig. 

Februar 11. Abends auf der Redoute. Täglich geht es befjer und 
ih kann anhaltender arbeiten. 

Vebruar 12. Kriegdfommiffion und Beforgung wegen der Reife. 

Februar 13. Nah Gotha, waren recht gut da, mit vieler mechjel- 
feitiger accens*) und bonhomie. Kam mancherlet Intereſſantes vor. Verſprach 
aufs Frühjahr wieder zu fommen. 

Februar 16. Mit Wedeln zurüf im Wagen. Der Herzog ritt auf 
Neuheiligen, war wild Stöpermetter. 

Februar 17. Kriegdfommiffion, mit Corona gegeffen, war gut. 

Februar 18. Früh viel meggearbeitet. Zu C zur Tafel. Ging ganz 
leiht und gut die Cons., aufs Theater, nad) Tiefurt geritten, fand H. 4. o 
die FE. Sch.“), die Hofdamen und Steinen. Knebel lad. Gen fieben 
alles fort. 

Februar 26. Mittag! zum Herzog. Den Reft ded Tags bis Abende 
8 gezeichnet. [ES fängt an befjer zu gehen und ich fomme mehr in die Be 
ftimmtheit und in das lebhaftere Gefühl des Bildes. Das Detail wird fid 
nah und nad herausmachen. Auch hier fehe ih, daß ich mir wergebend 
Mühe gebe, vom Detail ind Ganze zu lernen, ich habe immer nur mich aus 
dem Ganzen ind Detail herausarbeiten und entwideln können. Durch Aggre 
gation begreif ich nicht8, aber wenn ich recht lang Holz und Stroh zufammen- 
geſchleppt habe und immer mich vergebend zu wärmen ſuche, auch fchon 


*) acsance gefchrieben. ) Die Meine Schardt, 


123 


Kohlen darunter liegen und ed überall raucht, fo ſchlägt denn doch endlich 
die Flamme in einem Wind übers Ganze zujammen. Ich ſprach davon mit 
dem Herzog und er fagte, eine gute dee. Die Sachen haben fein Detail, 
fondern jeder Menſch macht ſich drinn fein eignede. Manche können's nicht 
und die gehen vom Detail aus, die andern vom Ganzen. Wenn man diefem 
Gedanken beiftimmte, und ihm nachginge, eigentlih was er jagen will, nicht 
was er fagt, beherzigte, würde es fehr fruchtbar feyn.]*) 

März Bon Tag zu Tag die Gefchäfte ordentlich beforgt und hernach 
gezeichnet. 

Bis den 11. war ich fehr ftill, alled der Reihe nach beforgt. Gute Stun- 
den mit &. Eine fehr fohöne Erklärung mit dem Herzog. Abends im Klofter 

März 12. Mit Batty im Amt Großrudeftedt, feine Anftalten gut 
befunden. Seine Handelöweife mit den Leuten unverbeſſerlich. Wenn wir 
nahhalten, fo wird's gut, aber freilich Jahre lang immer nachhalten. 


März 14. Werden Aepfelferne bey mir gefät. Ging meinen Gefchäf- 
ten nah. War Confeil, aß mit dem Herzog. Fingen an, in den Inſtrue— 
tionen zu lefen. Abends mit demfelben im Klofter. 

März 16. Mit dem Herzog fpazieren. An Egmont gefchrieben. Nah 
Tiefurt. Mit Knebeln hereingeritten. Diefe Tage ber hatte ich ſchöne 
mannigfaltige Gedanfen. 

März 21. Morgens nad) Belvedere zu Fuß. [An Herzog Bernhards 
Leben im Gehen viel gedacht. Was ich guts finde in Ueberlegung, Gedanken, 
ja fogar im Ausdrud, fommt mir meift im Gehen. Sitend bin ich zu nichts 
aufgelegt. **)] 

März 26. Früh zu Fuß nad Tiefurt, [mannigfaltige Gedanken und 
Ueberlegungen ***) das Reben ift fo gefnüpft und die Schietfale fo unvermeidlich. 
Wunderfam ich habe fo mandes gethan, was ich jetzt nicht möchte gethan 
haben und doch wenns nicht gefchehen märe, würde unentbehrliched Gute 
niht entftanden feyn. Es ift, ald ob ein Genius oft unfer Aynuovıxov ver: 
dunkelte damit wir zu unjrem und andrer Vortheile Fehler machen. War 
eingehüllt den ganzen Tag und konnte denen vielen Saden, die auf mid 
drüden,, weniger widerftehn. Sch muß den Eirkel, der ſich in mir umdreht, 
von guten und böfen Tagen näher bemerken, Leidenſchaften, Anhänglichkeit, 
Trieb, died oder jenes zu thun, Erfindung, Ausführung, Ordnung, alles 
mwechjelt und hält immer regelmäßigen Kreis. Heiterkeit, Trübe, Stärke, 
Glaftizität, Schwäche, Gelafjenheit, Begier ebenfo. Da ich ſehr diät lebe, wird 
*) Riemer II. 112— 118, 

»N Riemer II. 114, der noch den Meinen Zuſatz bat: darum das Dictiren weiter treiben. 
")®,c II. 114 und 115. 


124 


der Gang nicht geftört und ich muß noch heraudbringen, in welcher Zeit und 
Ordnung ih mich um mich jelbit bewege.) 

März 29 Ging der Herzog mit den Prinzen und andern nah 
Querfurth. (Früh Hat ich den aufräumenden und ordnenden Tag.]*) Biel 
Briefe weggefchrieben und alles ausgepußt. Abende Probe der Kalliſte. 
O Kallifte, DO, Kallijte! 

März 30. hat ich den erfindenden Tag. Anfangs trüblih, ‚ich lenkte 
mid zu Geſchäften, bald wards lebendiger. Brief an Kalb. Zu Vlittag 
Inah Ziefurt zu Fuß, gute Erfindung, Taſſo]“), Herders, Stein, Wertbern, 
Knebel gut, mit beiden Männern lief ih um 4 herein. [Abends wenige 
Momente finfender Kraft. Darauf acht zu geben, moher.] 

März 31. Die Dämmerung ded Schlaf gleich mit frifcher Luft und 
Waſſer weggeſcheucht. Sehnte fih ſchon die Seele nah Ruhe und ich wär 
gern herum gejchlichen. Naffte mich und diftirte an der Schmeizerreije]***). 
Antwort von Kalb angefagt. 7) IConſeil. Momentane Bewegung widerftanden 
und überwunden. Es fcheint dad Glück mich zu begünftigen, daß ih in 
wenig Tagen viel garjtige mitgefchleppte Berhältniffe abſchütteln fol. Nemo 
coronatur, nisi qui certaverit ante. Sauer ließ ich mird denn doch werden.) 

April 1. [Seit drey Tagen feinen Wein. Sich nur vorm Englijchen 
Bier in acht zu nehmen. Wenn ich den Wein abfchaffen fönnte, wär ich ſehr 
glüklih. ir) Nah Tiſche Thorheit. Kam Korona zu mir und Mine. Las 
ih ihnen die Schweizer Reife. Kam der Herzog Abende und [da wir alle 
nicht mehr verliebt find und die Lava oberflächlich verfühlt ift, gings recht 
munter und artig, nur in die Rizzen darf man noch nicht vifitiren, da brennts 
no] 4*4) | 

April 2. Früh gleich wieder munter und gefhäftig, um 10 Uhr mit 
Kalb 2 Stunden lange Erörterung, er ift fehr herunter. Mir fehmindelte 
vor dem Gipfel des Glücks, auf dem ich gegen fo einen Menfchen ſtehe. 
Manchmal möcht ich mie Polykrates mein höchſtes Kleinod ind Wafjer werfen. 
Es glükt mir alled was ih nur angreife. Aber auch anzugreifen fey nicht 
läffig. Zur Herzogin. Schweizer Reife gelefen. Wieland fieht ganz un 
glaublich alles was man machen will, macht und was hangt und langt in 
einer Schrift. Bis 10. 

April 3. Von 6 Uhr bi8 halb 12 Diderot® Jaques le Fataliste in 
der Folge durchgelejen, mich wie der Bel zu Babel an einem jo ungeheueren 
Male ergöst und Gott gedankt, daß ich fo eine Portion mit dem größten 








*) Riemer II. 116. *) Riemer II. 116. *9) Riemer II. 116—117. 
+) Nun wird erft die Stelle, welche Niemer uuvollftändig gegeben, verftändlic. 
++) Riemer IL, 117. 
zrr) Riemer II. 117 in d. Anmerk,, aber unter Weglafjung der bezüglichen Perfönlichkeiten. 


125 


Appetit auf einmal, ald wärs ein Glas Waſſer und doch mit unbefchreiblicher 
Woluft verfchlingen Fann. Zum Herzog effen. Kamen auf unfer alte mo- 
ralifche Mferde und turnirten was recht? durd. Man Flärt fih und andere 
unendlih durch folche Gefprähe auf. Zu ©. mar wieder franf. Sit mein 
einzig Yeiden. Nah Haufe. War fehr ftürmifch Wetter. 

April 15. War fehr ruhig und beitimmt, die legten ‘Tage wenig ein» 
gezogen. Ich trinke fait feinen Wein und gewinne täglih mehr in Blick 
und Gejchid zum thätigen Leben. Doc ijt mird wie einem Vogel, der fi 
in Zwirn verwicelt hat, ich fühle, dag ich Flügel habe und fie find nicht zu 
brauchen. Es wird auch werden, indeß erhole ich mich in der Gefchichte und 
tündle in einem Drama oder Roman.*) Der Herzog wird täglich befjer, nur 
it ein Uebel, daß ein Prinz, der etwas angreifen will, nie in die Verlegen— 
heit Fommt, die Dinge im Alltagsgang von unten auf zu fehen. Er kommt 
manhmal dazu, fucht wohl, was fehlt, aber wie ihm zu helfen? Ueber die 
Mittel macht man fich Elare Begriffe, wie man glaubt, und es find doch nur 
allgemeine.]**) Litte Prometheiſch! Waren in Leipzig. Vergnügte Tage, der 
Fürft von Defjau war da mit Erdmannädorf. Ich gewann viel Terrain in 
der Welt. In der ftürmiichen Naht vom 25. auf 26. zurüd. 

April 30. lad ich meinen Werther, feit er gedrudt ift, das erite Mal 
ganz und munderte mid). 

May i4 Verzogen fi einige hypochondriſche Gefpenfter. [E38 offen- 
baren fi mir neue Geheimnifje. Es wird mit mir noch bunt gehen. Sch 
übe mich und bereite dad Möglichſte. In meinem jeßigen Kreife hab ich 
wenige, fait Feine Hinderung außer mir. In mir noch viele. Die menjd- 
lien Gebrechen find rechte Bandwürmer, man reift wohl einmal ein Stüd 
(08 und der Stod bleibt immer fisen. Ich will doch Herr werden. Niemand 
ald wer fich ganz verleugnet, ift werth zu herrſchen und kann herrſchen. 
Rudte wieder an der Kriegskommiſſions-Repoſitur, hab ich das doch in andert- 
bald Jahren nicht Eönnen zu Stande bringen! Es wird doch! Und ich 
willd jo fauber jchaffen, ald wenns die Tauben gelefen hätten. Freilich ift 
8 ded Zeugs fo viel von allen Seiten und der Gehülfen mwenige.]***) Briefe 
von Batty! [das ift mein faft einziger lieber Sohn] an dem ich Wohlgefallen 
babe, fo lang ich Iebe,7) folld ihm weder fehlen an nafjem noch trodnen. 
Ich7) fühle nah und nad ein allgemeines Zutrauen und gebe Gott, daß 
ih8 verdienen möge, nicht wies leicht ift, fondern wie ichs wünfdhe Was 
ih trage an mir und andern fieht fein Menfh. Das befte ift die tiefe 





*) Riemer II. 117,, wo der Roman weggelaifen. 

**) Diefer Paſſus undronologifh bei Riemer 1. 120 ganz allgemein in den April gelegt, 
») Riemer II. 115 unter dem 13. Mai. +) Riemer Il. 119. 

ir) Riemer IL 119 unten aber in anderer Berbindung. 


126 


Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachſe und gewinne, was fie mir 
mit Feuer und Schwert nicht nehmen Fönnen.] 


Den 16.—22. folgenden Monatd.* In der Kallifte hatte ich die 
ſchlechte Role mit großem Fleiß und viel Glück gefpielt und habe allgemein 
den Eindrud gemacht, den ich habe machen wollen. Voigtens mineralogifde 
Unterfuchungen vergnügen mid, ed wird ein artiged Ganze geben. [**) Defer 
brachte die Decorationd:Malerey auf einen beffern Fuß. Und id) fing an die 
Bögel zu fchreiben. Meine Tage waren von Morgens bis in die Nacht be- 
fest. Man könnte noch mehr, ja das unglaubliche thun, wenn.man mäßiger 
wäre. Das geht nun nit. Wenn nur jeder den Stein hübe, der vor ihm 
liegt. Doch find wir hier fehr gut dran. Alles muß zulegt auf einen Punkt, 
aber eherne Geduld und fteinern Aushalten. Wenns nur immer [hön MWetter 
wäre. Menn die Menfchen nur nicht fo pover (sic) innerlih wären und die 
Reihen jo unbehülflich. 

Den 25. Juni. Einiges früh beforgt nad Ettersburg, fand Klauern, 
der Deferd Büfte buffirte. Las ihm die Mitfchuldigen vor. Waren munter. 
Nah Tische diktirt ich der Göchhaufen an den Vögeln fehr lebhaft und ſprach 
viel dazmijchen über alte Kunft. Ward Feuerlärm, ritt nah Grosbrembach. 
Kam mitten in die Flammen. Die Dürrung! Der Wind trieb grimmig. 
War um die Kirche befchäftigt. Verſengte mir die Augenlieder und fing dad 
Waſſer mir in den Stiefeln an zu fieden. Hielten fi die Leute gut und 
thaten das Schidlihe. Nun war das Feuer umftellt. Der Herzog fam und 
der Prinz. Das Halbe Dorf brannte ganz hinunter mit dem Winde wie ich 
anfam. Ging mit einem Hufaren außerm Weg untern Wind, faum durchzu— 
fommen. Nah Mitternacht mußt ic) ruhen. Legte mich ind Wirthshaus 
über dem Wafler. Ein Hufar wachte. Früh dem Pfarrer Quartier geſchafft 
und herein nad Weimar. Gefchlafen. Gelefen. Gefchrieben. — 

Auguft 18. die Vögel in Etterdburg gefpielt. Zog die Herrfchaft auf 
Belvedere. War der Herzog nicht wohl. 

Den 26. Früh**) im Garten auf und ab und nachgedacht, was in 
diefem meinen zu Ende gehenden 31ten Jahre gefchehen und nicht gefchehen 
joy. Was ich zu Stande gebracht. Worin ich zugenommen. Conzepte fignirt. 
Unterfhrieben.. Zu Haufe gegeffen. 

Den 28. Früh im Stern fpazierend überlegt, wo und an welchen Eden 
es mir fehlt. Was ich dies Jahr nicht gethan, nicht zu Stande gebradit. 
Ueber gewifje Dinge mich fo klar ald möglich gemacht. Mittags zu O, artig 
gegellen. Abends Gefelihaft im Garten, fehr vergnügt. 


) d. h. 16. Mai—22, Juni. **) Riemer II. 122, 
*) Das hat Riemer II, 124 ſehr unwahrfcheinlih nur unter dem 25. Auguft. 


127 


September 1. Confeil. AB der Herzog mit mir im Garten. Aus— 
gebreitetes Gefpräcd über moralifche Verhältniffe, war fehr klar und Eräftig. 

Detober 14. Bis 11 bey Corona, noch im Mondſchein fpazieren ge- 
rannt und im Bette die Mönchsbriefe gelefen. Ordnung und Fleiß. 

Taffo angefangen zu fehreiben. Coronen getröftet. Mit Prinz Conitantin 
u thun. 

November. Bid den 16ten immer Schritt vor Schritt nach) Vermögen 
vorwärt®, Fürchtete die Krankheit vom Anfang des Jahres. An Tafjo 
morgendlich gefchrieben. In Geſchäften mich gehalten. Wenn*) nicht gehen 
mollte gezeichnet. 

Den 21. November. Conſeil. Mittag allein. Abends bei Werther, 
Garolinhen, die Schardt. Der Herzog Knebel und Schardt zu Tiefurt. Waren 
gut und vergnügt. O war Franf. 

December. [Biel Arbeit und Bearbeitung **) Volgftedt abgefchüttelt. 
Diefen Monat hab ih mird fauer werden Iaffen.] 





1781. A 

Sanuar den 17. Früh im MWelfchen Garten, Hafen getrieben und in 
der Falten Küche““). Dann auf der Ilm Schrittfehuh gefahren, mit ©, dann 
mit Knebeln im Klofter gegeſſen, nah Tiſch O Herzog, Lichtenberg. Abends 
mit Knebeln wohl eine Stunde ftarfed Geſpräch auf dem Eid. Dann in 
Gonzert, zu 6. Spielte Kayfer. Abends zu ©. 

Den 1. Auguft. Es thut mir leid, daß ich bisher verfäumt habe auf. 
zufhreiben. Died halbe Jahr war mir fehr merkwürdig. Bon heut an will 
ih wieder fortfahren. 

Den 5. Auguft. Früh Concepte fignirt. Acten das Konkurs Patent 
betreffend gelefen. Zu Coronen. Die Arien zu der Fifcherin berichtigt. Kam 
Aulhorn und fie fangen die alten Duettd. Abends mit © fpazieren. Mit 
ihr und Stein zu Nacht gegefien. Auf die Schnede, 7) das Bligen am Horizont 
gefehen, war die Nacht fehr fchön. 

Den 6. Auguft. Früh Konkurs Patent. Zu Haufe gegeffen. Nach— 
mittags und Abends theild für mich, theild mit andern fpazieren und mandherley 
Gedanken nachgehangen. Müllers Brief. 

Den 7. Auguft. Früh Eonfeil. Zu © gegeffen. Nach Tifche mich 
fill enthalten. Abends mit dem Herzog und Knebel nach dem Jagen. Vor 
Bergern*) kampirt. Die Naht war ſchön. 


*) Riemer IT. 125. **) Riemer II. 125, der den Namen Bolgftedt unterdrüdt, 
»9 Der Theil des Parks wo die Felspartien find, 

+) Bauwerk und Ausfihtspunft im obern Part, 

+) Nabe Berka. 


128 


Den 15. Auguft. Kriegskommiſſion. Recapitulirte in der Stille, 
was ich bey diefem Departement geſchafft. Nun wäre mird nicht bange ein 
weit größeres, ja mehrere in Ordnung zu bringen, wozu Gott Gelegenheit 
und Muth verleihe. Zu Corona. Sie fang Rouffeaus Lieder und andere, 
ih war vergnügt.) 

Den 16. Auguft. Früh über die Conecurs-Conſtitution. Betrachtungen 
dietirt. Zu Haufe gegeſſen; nah Tiſch zu ©, Klauern, der Schardt. Allein 
fpazieren. Abends zu ©, wo die Waldner mar. 

Den 23. Auguft. Abend! Tiefurt. Nathan und Tafjo gegeneinander 
gelefen. 

Den 24. Auguft. Kein Eonfeil. Mit dem Herzog gegeffen unter der 
Yaube. Nachmittags bei den Arbeitern. Abends Theater. 

Den 25. Auguft. Der Herzogin Louiſe den Taffo vorgelefen. Mittags 
bey Knebeln. War diefe Zeit her überhaupt gute Konftellation. 

Den Reſt des Detober und den November Taäglich mehr 
Drdnung, Beftimmtheit und Gonfequenz in allem. Mit dem alten Ginfiedel 
nah Jena. Dort Anatomie. Auf der Zeichenafademie. Anfang Diteologifcher 
Borlefungen. Glüd durh ©, hielte forgfältig auf meinen Plan. Haus ge- 
miethet. Aufklärung und Entwidelung mander Dinge Dide Haut mehrerer 
Berfonen durchbrochen. 

December In Eiſenach, Wilhelmsthal, Gotha. Ueberall Glück und 
Geſchick. Ruhe und Ordnung zu Haufe Sorge wegen ded Herzogs allzu- 
koſtſpieligen Ausfchweifungen. Mit © ftille und vergnügt gelebt. 

1782. 

$anuar 1. Früh verfchiedenesd in Ordnung. Agenda durchgeſehen und 
überlegt. Leben Pompals gelefen. Quintiltan. Zu © gegeffen. Nachmit: 
tags viel gefprochen. Beſonders über die gegenwärtigen Verhältniſſe. Wir 
waren nicht Elar und einig darüber. 

Sanuar 3. Früh Acten. Kam Kalb und fprad über verfchiedenes, 
befonder8 über die Kammerumftände AB zu Haufe Laß die Journeaux de 
Paris. Abends Ballet- Probe. Zu ©, mit ihr zur Waldner. 

Sanuar 11. Gonfeil. Mit dem Herzog gegellen. Wieder einmal eine 
radicale Erklärung gehabt. Zu ©. Nachts Redoute. In der Nacht ge- 
Ichlafen. 

Januar 12. Verſchiedene Arbeiten. Zu Kraus. Gezeichnet. Mit © 
jpazieren gefahren, da gegeſſen. Nah Tiſch über Wedel's Schidfal und meine 
Borfhläge Kam der Herzog. Ballet-Probe. Zur Herzogin Mutter. War 
Wieland da und war gut. Nach Tifche geblieben. No zu @. Nah Haufe. 

Januar 19. Den Morgen verpämpelt. Schön Gefpräch mit ©. Mit 


129 


dem Herzog gegeſſen. Sehr ernftlih und jtarf über Defonomie geredet und 
wieder eine Anzahl faljcher Ideen, die ihm nicht aus dem Kopf wollen. 
Wedel ftimmte mit ein bis auf einen gewiſſen Bunft. Ach blieb bie 6 Uhr. 
Zur Herzogin Mutter zum Thee. 

Sanuar 20. Kalbs Betrachtungen gelefen und Flagte mir feine Noth. 
Bei Hofe zur Tafel. Nachmittag zu ©, zu Boden, der mir die Präparation 
lad, womit der Herzog aufgenommen werden follte*). Im Concert. Alddann 
1 ©. Kam der Herzog auch hin. Er war gar nicht wohl. 

Jeder“) Stand Hat feinen eignen Beſchränkungskreis, in dem fi) 
Fehler und Tugenden erzeugen]. 

Februar. Den 5. Aufnahme des Herzogd. Bid gegen 11 Uhr in 
der o. 

Juni 2. In die Stadt gezogen, zum erften Male binne gefchlafen. 

uni 10. War Kalb bei mir zum erften Male nach feiner Entlaffung. 

C. A. H. Burkhardt. 


Charles Wolfe. 


Skizze ſeines Lebens und Dichtens. 
Von Guſtav Haller. 


Sm Jahre 1759 ſollte der engliſche General James Wolfe (1726— 
1759), ein Vorfahre des Dichters Charles Wolfe, von Louisburg aus ganz 
Canada aus den Händen der Franzoſen erobern. Er ging im Juni mit 
einer ſtarken Flotte und 8000 Mann den St. Lorenzſtrom hinauf und griff 
die Canadiſche Hauptftadt Quebeck wiederholt und mit großem Berlufte von 
der Oftfeite an. Die Naturhindernifje und die VBertheidigungdanftalten des 
Marquis Montcalm, der bier die ganze franzöfifche Streitmaht zufammen- 
gezogen, ließen den Erfolg mehr als zweifelhaft erfcheinen. Wolfe veränderte 
deshalb feinen Plan, fchiffte fich wieder ein und Iandete unter den größten 
Schwierigkeiten am 13. September 1759 unvermuthet weitlih von Quebed, 
auf der Abrahamdebene. Hier Fam es zur Schlaht. Die Engländer fiegten ; 
aber Wolfe wurde, von drei Kugeln durchbohrt, Hinmeggetragen. Schon 
glaubte man ihn todt, als der Ruf „Sie fliehen!“ an fein Ohr drang. — 


— — 





) Nämlich in die Loge. 
**) Riemer II. 140, der diefe Meuferung in den Anfang der Jahre fept. 
Grenzboten IV. 1874. 37 


130 7 


„Wer flieht?“ fragte Wolfe, wie vom Tode erwachend. — „Die Franzofen!* 
— „Dann fterbe ih ruhig!” — und er verfchied. — Die Schlacht war von 
großem Erfolge; einige Tage darauf fiel Quebek und bald ganz Canada in | 
die Hände der Engländer. Wolfe's Ueberrefte wurden nad England gebradt 
und in der Weftminfter »Abtet beigeſetzt. | 


Der Tod Wolfe's auf dem Schlachtfelde ift der Gegenftand eined Ge— | 
mäldes des nordamerifanifchen Malers Benjamin Weit (1738 — 1820), 
das diefen zu einem der berühmteiten Künitler feiner Zeit machte. Der geniale 
englifche Kupferfteher William Woollett (1735—1785) hat e8 in reinfter 
und fauberfter Grabftichel» Arbeit wiedergegeben, ein Blatt, das jebt außer- 
ordentlih gefucht ift und in hohem reife ſteht. Photographifche Verviel- 
fältigungen desſelben find jedermann zugänglich.) 

Beinahe 50 Jahre nad) der Schlacht bei Quebeck wurden die Franzofen 
auf einem andern Terrain abermald durch die Engländer befiegt; und auf 
diefer Sieg, bei dem die glüdliche Einfchiffung der Engländer, wenn auch in 
anderer Weiſe, eine Rolle jpielte, koſtete ihrem umfichtigen und tapfern 
General das Leben, und fein Tod, insbejondere fein Begräbnig auf dem 
Schlachtfelde wurde abermald der Stoff zu einem unfterblichen Kunſtwerke, | 
diefe® Mal auf dem Gebiete der Dichtung, und zwar von einem bis dahin 
unbefannten Manne aus der nachgeborenen Vermandtichaft ded Helden von 
Quebeck. Es war am 16. Sanuar 1809 bei Corufa an der Nord - MWelt- 
füfte von Spanien, als der britifche Generallieutenant Sir John Moore 
(1761 — 1809) den franzöfifhen Marſchall Soult befiegte und fo die Ein 
ſchiffung der englifhen Flotte fiherte. Moore felbft ward tödtlich vermundet 
und ftarb in der folgenden Nacht mit der Gemißheit, daß fein Heer gerettet 
fel. Auf dem Walle der Citadelle von Coruña ward er beftattet, und in ber 
Paulskirche zu London feste man ihm ein Denkmal von Erz oder Stein. 
Über ein Denkmal anderer Art ftiftete ihm der junge irische Gelehrte Charles 
Wolfe (1791 — 1823), in deflen Adern das Blut des Helden von Quebeck 
rollte. Eine Schilderung von der Beftattung Moore's begeifterte ihn zu feinem 
berrlihen Gedichte „The Burial of Sir John Moore*, und diefed eine Ge 
dicht ficherte ihm einen unverlierbaren Chrenplas in den Annalen der eng- 
liſchen Literatur und machte in Ueberfegungen feinen Namen allen civilifir- 
ten Völkern des Erdfreifes bekannt. — 


Und 61 Jahre fpäter war es wiederum eine fiegreiche Schlacht gegen die 
Franzoſen, die der Deutſchen am 18. Auguſt 1870 bei Gravelotte, aus der 
eine ergreifende Gpifode einen Dichter zu unfterblihen Strophen begeifterte, 
deren pathetiiher Tonfall dem an englifchen und franzöfifhen Muftern ge 
bildeten ‘Boeten unverfennbar durch Wolfe's „The Burial of Sir John Moore* 


131 


infpirirt ift: — ich meine Yerdinand Freiligrath's „Die Trompete 
von Gravelotte*. 

Welch intereffante Verknüpfung Eunfthiftorifcher Daten am Faden der 
Völker» und Staaten: Gefhichte! — Drei Niederlagen der Franzofen! Drei 
blutige Siege germanifcher Völker, auf deren Weldern drei edle Blüthen der 


Kimpfe gegen die Napoleoniſche Invaſion in Spanien. 

Als General Dupont bei Baylen in Andalufien am 22. Juli 1808 mit 
20,000 Franzofen capituliren mußte, erfannte Joſeph Bonaparte, daß er fid) 
in Madrid nicht mehr halten könne, und zog fih am 1. Auguft mit feinem 
ganzen Hofe nad) Burgos zurüd. Die franzöfifchen Heere waren bi8 zum 
Ehro gewichen. Denn inzwijchen waren die Engländer unter Welledley (dem 
nahmaligen Herzog von Wellington), Moore und andern Generalen in Por 
tugal gelandet und hatten dort die Franzofen zum Weichen gebracht. Die 
pyrenäiſche Halbinfel ſchien für die Franzofen verloren zu fein. 

Da befahl Napoleon in Frankreich eine bedeutende Truppenaushebung, 
jog einen großen Theil der Truppen von Deutjchland an fi, ließ die Con— 
tingente der Rheinbundftaaten dazu ftoßen, fuchte fih durch diplomatifche 
Kunft in der Erfurter Zufammenkunft mit Kaifer Alerander den Rüden frei 
ju halten und führte fein großes Heer von 250,000 Mann, das fi dur 
Nahfendungen noch beträchtlich vermehrte, felbit nad) Spanien. Leider 
fandten die Engländer nur 20,000 Mann zu Hilfe, leider hatten die fpa- 
niſchen unten es nicht verftanden, ein großes ſpaniſches Heer zufammenzu- 
dringen; und fo Fam e8, daß die fpanifchen und englifchen Truppen bet 
Burgos und in andern Einzelgefehten (November 1808) geſchlagen wurden 
und Joſeph am 22. December 1808 in Madrid wieder einziehen Fonnte. 
Sofort murde die Aufhebung der Inquifition, die Auflöfung vieler Klöfter 
und eine umfafjende Amneftie verfügt, aber — die Spanier wurden durch all 
dad nur defto tiefer verlebt. 

Inzwiſchen war General-Lieutenant Sir John Moore*) mit dem bi8 


) Moore mar fhon vor der Zeit feined Einrückens in Spanien einer der bewährteften 
und beliebteften britifchen Helden. Im Jahre 1761 zu Glasgow geboren, trat er 1776 im bie 
Armee ein, machte den amerifanifhen Krieg, 1793 den Zug nad Gibraltar, 1794 die Erpe: 
dition gegen Gorfica mit. Dort zeichnete er fich bei der Belagerung von Galvi aus und er= 
bielt dafür den Grad eined Brigadegenerald. Als ſolcher folgte er 1796 Sir Ralph Abercromby 
nah Weftindien, der ihm nach der Eroberung von Gt. Lucia im Mai 1796 dad Goupernement 
diefer Inſel übertrug. Moore reinigte diefelbe von den Negerbanden, mußte aber im Augnft 1797 
feiner Gefundheit wegen nach England zurücfehren. Nun übernahm er ein Commando bei 
den britifchen Streitkräften in Jrland und Teiftete der Regierung im Aufftande von 1798 außer» 
ordentliche Dienfte, für die er zum Generalmajor emporftieg. Im Juni 1799 begleitete er den 


132 


zu nur 30,000 Mann verftärften englifchen Hilfäheere von Liſſabon audgerüdt. 
Im Begriff über Marfhall Soult herzufallen, der ihn mit nur 18,000 M. 
beobachtete, erfuhr Moore, daß Napoleon bereits felbit käme, um ihn den 
Rückzugsweg zum Meere abzufchneiten. Augenblicklich begann er den Rück— 
zug nad Coruña, am Meihnachtsabend.*) Aber erft am 2. Januar 1809 ritt 
Napoleon auf der Straße nah Aftorga, ald ihn ein Courier mit Depefchen 
aus Paris einholte. Gefpannt auf den Inhalt derfelben, ließ er auf offenem 
Felde ein Feuer anzünden und begann eine Lectüre, deren fehr ernſter Cha- 
rafter der Umgebung fofort aus den veränderten Mienen des Kaiferd offenbar 
wurde. Seine Minifter meldeten ihm, daß an den feindfeligen Abfichten 
Deftreih8 nicht mehr zu zweifeln fei, daß auch die Freundſchaft Rußlands 
nicht mehr fo unbedingt zuverläffig erfcheine wie in Erfurt, daß der Katfer 
erwarten müßte im Frühling aufs neue einen deutfchen Krieg zu haben, in 
dem er fchmerlich auf ruffiiche Hilfe rechnen dürfe. Sehr nachdenfli flieg er 
wieder zu Pferde. In Aftorga übertrug er Eoult die weitere Verfolgung 
der Engländer. Er fonnte fih nicht noch weiter vom Mittelpunfte feines 
Reiches entfernen, mußte fi der großen Straße nähern, um fchneller mit 
Paris correfpondiren zu können, Eehrte ſich nach Valladolid, um dort zugleich 
die ſpaniſchen Angelegenheiten definitiv zu ordnen und feine Befehle für neue 
Rüftungen In Frankreich und Stalien zu geben. Das rettete Moore vom 
Verderben, indem es die Kraft der franzöfifchen Verfolgung lähmte Es ge- 
lang ihm jegt mit erftaunlicher Energie, fein von allen böfen Geiftern heim- 
gefuchtes Heer fo weit zufammenzuhalten, daß er den Franzofen zuerft bei 
Pietrod, dann bei Lugo, hier drei Tage lang, die Etirn bieten fonnte. So 
erreichte er mit einem für die Verhältniffe fehr geringen Berlufte am 
11. Januar die Höhen von Coruña. Da er frühzeitig Gouriere auf Couriere 
abgefhict hatte mit der dringenden Bitte an den englifchen Admiral, die 
Trandportflotte fchleunigft vor Coruña zu fammeln, hoffte er jetzt das Ende 
der unfäglichen Strapazen erreicht zu haben; aber der erfte Blick, den er auf 


Herzog von York auf der Erpedition nach Holland und wurde ſchwer verwundet. Kaum genes 
fen, ging er nach Aegypten und ward bei Abukir abermald verwundet, was ihn jedoch nicht 
binderte, an der Belagerung von Kairo tbeilzunehmen. Nah der Einnahme von Alerandria 
fehrte er nah England zurüf und erhielt ein Gommando im Innern. Im Mai 1808 wurde 
er zum Anführer des 10,000 Mann ſtarken Corps ernannt, das Schweden gegen die Ruffen 
und Dänen unterftügen follte. Bei der Landung zu Gothenburg überwarf ſich der launenhafte 
König Guſtav IV. Adolf mit ihm und ließ ihn, wenn auch nur für einige YAugenblide. feſt⸗ 
nehmen, worauf er die Grpedition zurüdführte. Dann erhielt er den DOberbefehl in der Er- 
pedition nach Portugal und Spanien, 

) Ich folge nun bis zur Einfhiffung der Engländer im Hafen von Coruña in allen 
wejentlihen Punkten der autbentifchen Darftellung von Hermann Baumgarten in feinem 
vortrefflihen Werke: „Geſchichte Spaniens vom Ausbruch der franzöfifchen Revolution bis 
auf unjere Tage” (3 Theile. Leipzig 1865 — 1871), Th. I. ©. 333. 





133 


dad Meer werfen Fonnte, überzeugte ihn, dag neue Prüfungen feiner warteten. 
Widrige Winde hatten e8 den Schiffen unmöglich gemacht, von Vigo, wo fie 
gelegen, nad Coruña zu fegeln. Als feine Truppen, die er nur mit der 
äußerften Anftrengung durch die Ausſicht auf vie rettende Flotte vorwärts 
getrieben hatte, fih am Meere fo hilflos fahen wie im Lande, ja bilflofer, 
weil jezt das Meer fie hemmte und die Macht der Franzofen die Möglichkeit 
gab, fie zu erdrüden, erlagen fie volftändiger Muthlofigfeit. Sogar einige 
Generale drangen in Moore, mit dem Feinde zu verhandeln, der am 12. und 
13. Januar Zeit hatte, feine Kräfte zum Angriff zu fammeln. Moore blieb 
anerſchütterlich. Zu feinem Glüde mar Soult jest fo unentfchloffen und be- 
denklich wie vor Lugo. Gr ließ den 14. und 15. ungenüßt verftreihen, und 
am 14. erjchienen die erften Segel der englifchen Flotte Am 15. fonnte 
Moore die Einfhiffung feiner Gefhübe und Pferde beginnen. Jetzt aber war 
die Ungeduld der Franzofen nicht mehr zu halten, die ſich einen gehaßten 
Feind in dem Augenblicke entjchlüpfen fahen, wo fie ihn endlich gepadt zu 
haben meinten. Um 16. befahl Soult den Angriff. Moore begegnete ihm 
mit herrlicher Bravour: er felber führte feine Leute an dem zumeift bedrohten 
Punkte und flug den Sturm des überlegenen Feindes blutig zurück, der 
au jegt nicht mit der nachhaltigen Energie geführt wurde, wie fie font 
franzöfiihen Marjchällen eigen gewefen war. Moore frönte an diefem Tage 
dad Werk, deſſen erdrückende Laſt er feit drei Monaten mit wahrer Seelen» 
größe getragen hatte; fein Heldenmuth ficherte die Einfchiffung der Armee big 
auf den legten Kranken. Doch erleben follte er diefen Triumph nicht. Un- 
mittelbar nachdem es ihm gelungen, das entjcheidende Manoeuvre beim Dorfe 
Eviña auszuführen, traf ihn eine Kanonenkugel und zerfchmetterte ihm die 
Schulter; nach wenigen Stunden verfchied er. „Sch hoffe, dad Volt von Eng- 
land wird zufrieden mit mir fein“ — mar fein letztes Wort. 

„So endete” — fagt Baumgarten’) — „ein Mann von faft antiker 
Harmonie der Geifted- und Gemüthäbildung, fo liebendwürdig, edel, wahr und 
ſelbſtlos, daß man den Menfchen noch höher in ihm ſchätzen muß als den 
Feldherrn. Keiner der Engländer, die in diefem fpanifchen Kampfe in leitender 
Stellung mitwirkten, hatte von der Anarchie und den böjen Zügen und Zur 
ſtänden des unglüdlihen Volkes graufamer zu leiden, ala Sir John Moore, 
und eben er war von allen feinen Landsleuten, fo viel ich weiß, der einzige, 
der fi bis zuletzt ein ungetrübtes Urtheil über die Natur dieſes Volkes be 
wahrte, den Glauben an feine Tüchtigkeit fefthielt, unbeirrt durch die häßlichen 
Gewohnheiten, welche unter einer mehrhundertjährigen Mißregierung maren 
großgezogen worden. Dieſe freundliche, wahrhaft humane Art lohnten ihm 





) A. a. O. L ©. 334, 


134 


denn auch die Spanier in den lebten fehmweren Tagen dur eine brave Hin» 
gebung, welche die früher erfahrenen Widerwärtigkeiten in feinem Geifte zurück— 
drängte: die Bevölkerung von Coruña that ihr Aeußerfted, um die glückliche 
Einfhiffung zu ermöglichen, obwohl fie wußte, daß fie dafür fchwer werde 
büßen müfjen”. 

Das „Edinburgh Annual Register* (1808 p. 458) enthält folgenden 
furzen, bier getreu überfegten Bericht über die Beſtattung Moore's: 

„Sir John Moore hatte oft gejagt. er wünfche, wenn er in der Schlacht 
fallen follte, da begraben zu werden, wo er fiel. Der Leichnam wurde um 
Mitternacht nach der Citadelle von Coruña“) gebradt. Dort auf dem Walle 
wurde für ihn von einer Abtheilung des 9. Regiment? ein Grab gegraben; 
wechjelmeife Hatten die Adjutanten dabet den Dienft. Kein Sarg fonnte be- 
Ihafft werden; die Officiere feined Stabes hüllten den Körper, bekleidet wie 
er war, in einen Militärmantel und in Decken. Die Beerdigung wurde eilig 
vollzogen; dann gegen 8 Uhr Morgen? vernahm man einiged Yeuern, und 
die DOffictere fürdhteten, daß fie im Fall eines ernfthaften Angriffs abcom— 
mandirt würden und ihnen dann nicht geftattet wäre, ihm die letzte Pflicht zu 
ermweifen. Die Dfficiere feines Stabes trugen ihn zu Grabe; der Reichenfermon 
wurde von dem Gapellan gelefen; und dann wurde der Körper mit Erde 
bededt.“ 

Diefer furze perfpectivenreiche Bericht über die jo einfache und doch fo 
wunderbar:feterliche Beifegung der Leiche eines tapfern und allgemein verehrten 
Generald war wohl geeignet, einen zündenden Yunfen in die Bruft eines 
echten Dichterd zu werfen. Charles Wolfe bemächtigte ſich dieſes Stoffes 
und fhuf „The Burial of Sir John Moore“. 

Das Gedicht erfchien zuerft nur mit den Initialen von Wolfe's Namen 
in dem irifhen „Newry Telegraph*, wo ed ohne Wiſſen ded Dichter einer 
feiner Bekannten hatte abdruden laffen. Dann nahm es rafch feinen Weg 
nad London, Dublin und Edinburgh in zahlreihen, aber mannichfach ver 


— 





*) Die Giudat, (d. i. in Spanien eine Stadt erften Ranges) La Coruña mit jet circa 
28,000 Einwohnern ift die ſtark befeftigte Hauptitadt der gleichnamigen Provinz Spaniens an 
der Nord» Weft- Küfte des Königreichs Galicien. Sie liegt fehr fhön am öftlichen Ufer der 
Ria oder Bai gleichen Namens und befteht aus der obern oder alten und aus der untern oder 
neuen Stadt. Die neue Stadt, auch Pedcaderia genannt, befindet fi) auf dem Iſthmus der ſchmalen 
Landzunge, welche die geräumige und gegen alle Stürme geficherte, von malerifhen Granit: 
felfen umſchloſſene Hafenbai von der Enjanada de Drfan trennt. Die Altftadt liegt auf einer 
Anhöhe im öſtlichen Theile der Landzunge, ift mit Mauern umgeben und von der Eitadelle ges 
fügt. Hier alfo werden wir dad Grab Moore's im Geifte zu fuchen haben. — Der Hafen, 
in dem 1809 die englifhe Flotte und 1588 die „unüberwindliche Flotte” Philipp’8 II. lag. iſt 
balbmondförmig und wird durch vier Forts und durch das vor dem Eingange auf einer Meinen 
Belfeninfel gelegene Gaftell St. Antonio allfeitig gedeckt. Als Leuchttburm dient der angeblich 
von den Römern erbaute Herculestburm, der am nördlichen Ufer der Landézunge auf einem 


Felſen ftebt. 


135 


unftaltenden Abdrüden, wie es bei folcher Urt und Weiſe der Publication 
begreiflih if. Sn engeren Kreifen mwunderte man fih, daß der Dichter fi 
noch immer nicht nenne oder andere ebenbürtige Dichtungen veröffentliche. 
Als Lord Byron in einer Gefellichaft, in der auch Shelley anmefend war, 
mit Begeifterung es vorla® und pried, da wurde e8 populär. Byron ftellte 
die Dichtung über verwandte Gedichte von Coleridge, Thomas Moore und 
Gampbell, nannte fie eine Dde, die wenig den beften nachſtände, die das da— 
malige fruchtbare Zeitalter hervorgebracht; vorzugsmeife lobte er die dritte 
Strophe; er nannte fie vollfommen, befonderd Vers 3 und 4 derjelben 
(ef. Thomas Medwin’s Conversations of Lord Byron, 2 ed. vol. II p. 154). 
„The Burial of Sir John Moore“ ift in Deutſchland fehr verbreitet, aber 
mir ift fein einziger Abdruck befannt, der authentifch wäre: ein Umftand, der 
bei der Publicationsmeife des Gedichtes erklärlich und um fo verzeihlicher ift, 
da auch die in England erfchienenen Anthologien felten correcte Abdrüde 
dieſes Gedichtes bieten, obgleich die Heraudgeber fi doch auf Wolfe's „Remains* 
fügen Fonnten, während die deutſchen Anthologen den engliſchen nachdruckten. 
Nah langem vergeblichen Bemühen ift e8 mir endlich gelungen, ein Eremplar 
der auch in England felten gewordenen: Remains of the late Rev. Charles 
Wolfe, A. B. Curate of Donoughmore, Diocess of Armagh. With a brief 
Memoir of his Life. By the Rev. John A. Russell, M. A. Chaplain to his 
Excellencey the Lord Lieutenant of Ireland, and Curate of St. Werburgh’s, 
Dablin. Second Edition. London: Printed for Hamilton, Adams, and Co, 
33 Paternoster Row. MDCCCXXVL (gr. 8. XII. und 474 Seiten. — Ist 
ed.: Dublin and London 1825. 2 vols. 12 mo.) zu erlangen melde die 
wenigen aber meift fehr fhönen Gedichte getreu nah den Manufcripten 
des Dichters enthalten. Daraus (Pag. 29—31) hier dad Gedicht felbft 
buchſtäblich treu: 


THE BURIAL OF SIR JOHN MOORE. 
Not a drum was heard, not a funeral note, 

As his corse to the rampart we hurried; 
Not a soldier discharged his farewell shot 

O’er the grave where our hero we buried. 


We buried him darkly at dead of night, 
The sods with our bayonets turning; 
By the struggling moonbeam’s misty light, 

And the lantern dimly burning. 


No useless coffin enclosed his breast, 
Not in sheet or in shroud we wound him; 


136 


But he lay like a warrior taking his rest, 
With his martial cloak around him, 


Few and short were the prayers we said, 
And we spoke not a word of sorrow; 

But we steadfastly gazed on the face that was dead, 
And we bitterly thought of the morrow. 


We thought, as we hollow’d his narrow bed, 
And smooth’d down his lonely pillow, 

Tbat the foe and the stranger would tread o’er his head, 
And we far away on the billow! 


Lightly they’ll talk of the spirit that's gone, 
And o’er his cold ashes upbraid him, — 
But little he’ll reck, if they let him sleep on 
In the grave where a Briton has laid him. 


But half of our heavy task was done, 
When the clock struck the hour for retiring ; 
And we heard the distant and random gun 
That the foe was suddenly firing. 


Slowly and sadiy we laid him down, 
From the field of his fame fresh and gory; 

We carved not a line, and we raised not a stone — 
But we left him alone with his glory! 


Ich Taffe eine Meberfegung von G. Emil Barthel folgen, die 
derfelbe zur erften Veröffentlihung in diefem Artikel mittheilte: 


Die Beftattung des Sir John Moore. 
Kein Trauerchoral, keine Trommel erflang, 

AL zum Wall wir den Leichnam erhuben; 
Keine Salve rollte zum Abſchied bang 

Ueberd Grab, das dem Helden wir gruben. 


Wir gruben ihn trauernd um Mitternacht ein, 
Bayonnette brachen den Ader 

Bei des zitternden Mondſtrahls nebligem Schein, 
Bei der trüben Laterne Geflader. 


Nicht Taken dedten, nicht Finnen ihn zu, 
Es umſchloß fein eiteler Sarg ihn; 

Er lag wie ein Krieger fich Iegt zur Ruh, 
Der Soldatenmantel nur barg ihn. 





— 22 


137 


Wir beteten kurz, wir redeten nicht, 
Berbiffen den Schmerz und die Sorgen; 

Wir ſchauten ihm feft in das bleiche Geficht 
Und dachten erbittert an morgen. 


Wir gedachten mit Grimm, daß der Held uns geraubt, 
Der zum Siege voran und gezogen, *) 
- Daß der Fremdling, der Feind ihm tritt auf das Haupt, 
Und wir dann fo fern auf den Wogen! 


Ihr ſchmähender Mund wird den Geift, der entflohn, 
Auch über dem Grabe noch ſchelten, — 

Dod was fümmert ihn Spott, was kümmert ihn Hohn 
In der Gruft, die ihm Briten beftellten! 


Nur Halb fam das fchwere Werk zum Beichluf, 
Als die Glocke zum Nüdzug ertünte, 

Und wir hörten des Feindes ziellofen Schuß, 
Der plöglid die Runde durchdröhnte. 


Wir fenkten ihn langfam und traurig hinab, 
— Des Schladhtfelds blutige Blume —; 

Nicht Infchrift, nicht Stein bezeichnet fein Grab — 
So ruht er allein mit dem Ruhme! 


*) Diefe Ueberfegung ift fo treu, mie eine deutfche Ueberſetzung eines englifchen Gedichtes 
im Metrum des Driginald nur fein kann; — nur an diefer Stelle glaubte ih mir eine 
Eubfiituirung, die nicht gegen den Geift des Originals und die hiſtoriſche Wahrbeit verftößt, 
erlauben zu müffen, weil ich wegen Vers 3 diejer Strophe: 
„Daß der Fremdling, der Feind ihm tritt auf das Haupt”, 
den ih um feinen Preid abſchwächen möchte [etwa durch: 
über's Haupt ihm gebt (Peter von Bohlen. 1840), 
betritt dein Aſyl (Georg Perk. 1862), 
zu Häupten ihm ſchreit' (H. 3. D. U. Seeliger. 1563), 
ſchreitet .. . über's Haupt ihm bin (Rouife von Ploennied, 1563), 
bald über ihn gebt (Heinrih Stadelmann. 1864), 
tritt über ihn fort (Giöbert Freiherr Binde. 1865), 
gehn über ihn hin (Julius Mever. 1874) ] 
einen paſſenden Reim auf „Haupt“ nöthig hatte; — und ferner, weil man im Deutfchen nicht 
von pillow (Kiffen) in unmittelbarer Verbindung mit to smootli down (glatt ftreichen, 
glätten) reden kann, wenn Erde gemeint ift. — Wer aber pillow durchaus nicht miffen will 
und auf die Abſchwächung von Vers 3 feinen jo großen Wert legt, dem biete ich folgende 
Ücberfepung der fünften Strophe, die mir freilich recht mangelhaft, aber immer noch eriräg- 
liber erfcheint, ald die meiner obigen fieben Vorgänger: 
Wir dachten und, ald wir fchaufelten dort 
Und aus Erde das Kiſſen ihm bogen, 
Das der Fremdling, der Feind tritt über ibn fort, 
Und wir dann fo fern auf den Wogen! 
Anmerkung des Weberjegeis, 
Grenzboten IV. 1574. IS 


138 


Byron und nad ihm Chambers Haben dad Gedicht eine Ode ge 
nannt, und wir fönnen uns diefe Bezeichnung des pathetifchen Ausdrucks we 
gen, den der Dichter feinem Stoffe angedeihen läßt, gefallen laſſen; da aber 
diefer Ausdruf nicht einem Gegenftande, fondern einer Begebenheit 
zutheil wird, fo würde man die Benennung dur) den Zuſatz „epifh“ prä 
cifiren müffen, und wir würden und durch die Bezeichnung „epifhe Ode“ 
einer contradictio in adjecto nicht mehr ſchuldig machen, ald wenn mir von 
epifcher Lyrik oder Iyrifcher Epik überhaupt reden. Schon das mit dem Reim 
verbundene anapäſtiſch-logaödiſche Metrum entfpricht weder nah altelaffifchen 
noch nad) unfern modernen Begriffen dem Wefen der Ode, fondern erinnert 
mit feinen vier Hebungen und unterfchtedlichen Senfungen in jedem Berfe 
vielmehr an den epifch-Iyrifchen Ton, wie er fih in Deutfhland auf dem 
Fundamente des mittelalterlichen Epos dur Goethe! „Erlkönig“ und 
Uhland’3 hierher gehörige Dichtungen herausgebildet hat. In der epifchen 
Lyrik möchte ich aber mit Theodor Ehtermeyer*, dem bierin aud 
Heinrih Kurz*) gefolgt ift, von der Ballade, die dem mythiſchen Epen- 
£reife (Edda), und von der Romanze, die dem romantifhen Kunſtepos (Barcival) 
entfpricht, die Rbhapfodie trennen, die mit dem heroifchen Epos (Nibelungen: 
lied) correfpondirt. Das Clement der Rhapſodie tft die Tapferkeit der 
biftoriichen Welt. So mie die Ballade myſteriös und tragiſch, die Romanze 
bel und ethiſch, fo ift die Rhapſodie, aud wo fie den Untergang darſtellt, 
far und markig. Der Stoff der Rhapfodie tft dad gefammte Heldenleben 
aller Völker, fie ſchließt fich aber vorzugsmeife an die Gefchichte ded Volkes 
an, in dem fie entfteht, und bewahrt dadurd ein nationale® Intereſſe. Der 
Form nad) erfordert fie den klaren und ruhigen Fluß der epiſchen Darftel- 
lung, dem das Pathos durchaus nicht fremd tft, wie das Muftergedicht diefer 
Gattung in Deutjchland, „Des Sänger Fluch“ von Uhland, veranfchau- 
liht. — Diefer Charakteriſtik entſpricht vollkommen Wolfe'3 „The Burial“, 
und fo entjcheide ich mich ohne Bedenken dafür, dag Gedicht den Rhapfodien 
beizugefellen. s 

Da ih dad Metrifche ſchon berührt Habe, fo wenden wir und nun von 
der Betrachtung des Stoffd und der Form zu der dichteriſchen Compofition. 











*) „Unfere Balladen» und Romanzen»Poefie”, eine ſehr beachtenswerthe, bereitö früber 
von Theodor Echtermeyer veröffentlichte Abhandlung, die von der zweiten Aufl. an (Halle 1839) 
jeder von desjelben Berf. „Auswahl deutſcher Gedichte“ einverleibt war bis zur 11. Auflage 
(Halle 1861); jpätere Herausgeber des befannten Schulbuches haben diefe Abhandlung des in- 
zwijchen verftorbenen (1944) Echtermeyer leider nicht wieder mit abdruden lafjen. 

) Gommentar zu feinem „Handbuch der poetifhen Nationalliteratur der Deutfchen“ 
(Zürih 1842) ©, 377. — „Gefchichte der deutfchen Literatur.“ Bd. III. (Leipzig 1859 u. ö.) 
S. 353 a. 358 b, 


139 


Die erfte und die legte Strophe bilden gleihfam den Rahmen zu dem 
hiftorifchen Nachtbilde, das die ſechs inneren Strophen vor unferm geiftigen 
Auge entfalten; fie verhalten fih etwa zu einander, wie Erpofition und Ka— 
taftrophe. Die erfte Strophe führt und die Situation in Furzen Zügen vor: 
fie begruben den Helden ohne alle militärifchen Ehren. Die folgenden ſechs 
Strophen bringen die Einzelheiten des Begräbniffes felbft und die ſich von 
Wehmuth und Schmerz bis zur Erbitterung fleigernden und dann wieder in 
Wehmuth auflöfenden Gefühle der Begrabenden in ergreifender Weiſe zur An- 
ſchauung und Nahempfindung: — das mitternächtlihe, nur durch den nebel: 
umbüllten Mond und den trüben Schein der Laterne erhellte Dunkel — 
Bayonette dienen als Spaten — fie hatten weder Sarg noch Leichen» 
tuh — doch: 

Er lag wie ein Krieger fich legt zur Kuh, 
Der Soldatenmantel nur barg ihn. 

Und dann der Ausdrud ded verhaltenen Schmerzes beim Anblick des Ge- 
fihte, that was dead; noch gejtern lebte es und belebte fie alle! — Und 
die Erbitterung über den Feind, der am nächſten Tage, vielleiht unwiſſend— 
lih über feinem Haupte ftehend, die Stätte ded Todten durh Schmähungen 
über den Sieger entmeihen wird —: 

Dod was kümmert ihn Spott, was kümmert ihn Hohn 
In der Gruft, die ihm Briten bejtellten ! 

. Aber no haben fie das ſchwere Merk nicht vollbracht, da fchlägt die 
Stunde der Einfhiffung, und zugleih hören fie plößlich [suddenly — früh 
gegen 8 Uhr in der Dunkelheit ded Januar» Morgend] ein entfernte® und 
nichtiges Schießen [random gun — Fühlungsihuß??] des Feindes. — — 
Nun knüpft die legte Strophe mit „we laid him down‘ wieder an das „we 
buried him“ im letzten Verſe der erften und im erften Verfe der zmeiten 
Strophe an: — fie erfüllen die legte traurige Pflicht; einen Dentitein können 
fie ihm nicht ſetzen — fo rubt er fernab verlaffen, nur der Ruhm ift fein 
Genoſſe! — 

Und all das tönt und entgegen ald ein Bericht au dem Munde der 
Soldaten, die das Bayonnett als Spaten ded Todtengräbers verwenden ! 
Der Gefühlsausdruck wird dadurch zum Ausdrud des Gefühls der gefammten 
Armee, welche durch die kleine Schaar repräfentirt wird. Die Kraft, Gedrängt: 
beit und innere Wahrheit der Darftellung ift im Hohen Grade, aber im 
edelften Sinne des Wortes — effectvoll. Es ift alled in Wirklichkeit fo ge 
Ihehen, aber die hiftorifche Wirklichkeit ift zur poetifchen — verklärt 
und erhoben worden. 

Und welche Anſchaulichkeit erzielt der Dichter durch ein glückliches Er— 
greifen der Naturelemente der Sprache, durch bildliche Worte, wirkſame Laut— 


140 

und Zonverbindungen im Ginzelnen , und durch den frappanten, an den ger 
ftiefelten und gefpornten feierlichen Schritt der Soldaten erinnernden Rhythmus 
im Ganzen! Die finnliche Rebendigfeit wird unterftüst durh MWiederho- 
lung ein und desfelben Wortes (not in Str. IB. 1u. 3. — bu- 
ried in I, 4 und II, 1. — thought in IV, 4 und V, 1. —), durch 
Allitteration (I, 1. — U, 3. — III, 2 und 3. — VI, 1. — VII, 
1 und 2) durh Färbung ded Bocaliömuß (I, 1. — V, 4 — 
VI, 1. — VII, 2 und 3. — VIII, 4.) und endlich dur die gleitenden 
Reime in Strophe III und VI. AU diefe einzelnen Schönheiten des Ori— 
ginal® vermag der Heberfeger, der mit Wohllaut Treue vereinen will, nur theil⸗ 
weiſe nadhzubilden. 

Dem gemaltigen Xotaleindrude ded Gedicht? vermag fich bei einem 
einigermaßen guten Vortrage auch der flüchtige Hörer nicht zu entziehen, aber 
die einzelnen Schönheiten bleiben ihm natürlich verborgen. Und doch habe 
ih in feinem englifchen — aud in den „Remains“ nit — und feinem 
deutfchen Buche etwas gefunden, dad nur annähernd den Namen einer Cha: 
rakteriftit oder Analyfe des Gedichtes verdiente. In Deutſchland ift es oft 
genug, aber meiſt ſehr mangelhaft überfegt worden; eingehend befprochen und 
gewürdigt fcheint e8 von niemand zu fein. ine faft tragifomifche Wirkung 
macht e8, wenn Bodenftedt von feinem Mirza- Schaffy, dem pfeudo- 
transfaufafifhen Dichter des Epikurismus berihtet*): „Einige Lie— 
der von Thomas Moore und Lord Byron machten ihm große Freude und 
waren ihm verſtändlich, ohne daß es eines Commentars dazu bedurfte. Einen 
gewaltigen Eindruck auf ihn machte das wunderbar ſchöne Gedicht von 
Rev. C. Wolfe: Not a drum was heard, not a funeral note etc. Nicht 
fo gut ging e8 mit Uhland und Geibel*. 





Die Hodausfuhr und die Münzreform. 
Bon Mar Wirth. 


Indem mir in der nachfolgenden Unterſuchung die wahre Urfache der 
ftarfen Goldausfuhr, unter welcher Deutfchland feit einiger Zeit zu leiden 
hat, fo wie die einzigen Mittel, um diefem Uebelftande abzubelfen, darzulegen 
und bemühen, werden wir zugleich die damit zufammenhängende Geld- 





*) Im 22. Gapitel von „Taufend und ein Tag im Drient“; Bodenſtedt's „Gefammelte 
Schriften”. Bd. IL. (Berlin 1865) ©. 77, 


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entwerthung beleuchten, fo meit diefelbe eine momentane ift, bzw. die Preife 
in Deutfchland feit einiger Zeit gefteigert hat. Denn was die bleibende 
Beldentwerthung betrifft, welche Statiftifer und Volkswirthe, Kaufleute und 
Ninanzminifter im Munde zu führen pflegen, die feit der Entdeckung der 
Goldlager in Californien und Auftralien Plat gegriffen haben fol, und über 
welche Poake und Newmarch einerfeit? und Levaſſeur andrerfeits ftatiftifche 
Unterfuhungen angeftellt haben, die zu einander mwiderfprechenden Mefultaten 
gelangten, — fo iſt diefelbe zwar möglich, aber noch nicht erwiefen.. Um den 
wiffenfchaftlichen Beweis dafür zu erftellen und, wenn diefer gelingt, da Maaß 
der Entwerthung und ihres Einflufje® auf die allgemeine Steigerung der Preife 
teftzufegen, müßten nachher die Preife der Haupt-Artifel und Löhne aller 
Yänder Europas über ein Jahrhundert zurüd zufammengeftellt und verglichen 
werden. Dies ift aber bis jegt noch nicht gefchehen, obgleich bet der Orga— 
nijation der Wiener Weltausftellung ein Anlauf dazu gemacht worden, und 
eine Gommiffion niedergejegt ift, um die gemonnenen Materialien zu ver: 
arbeiten. 

Die außerordentliche Goldausfuhr aus Deutfchland, melde im Monat 
September ihren Höhepunkt erreicht Hat, wird von Fachorganen in den erften 
acht Monaten diejed Jahres auf gegen 300 Millionen Mark geſchätzt, melche 
größtentheild nad Frankreich abgezogen find, da deflen Einfuhr an Edel: 
metall in derfelben Zeit die Ausfuhr um 593,835 Fr. überftiegen, wovon der 
größte Theil in Gold beftanden hat. Dagegen hat Deutfhland Faum für 
2 Milionen Mark Gold in diefem Jahre aus England importirt. Die ge- 
jammte Goldaudfuhr aus Deutfchland wird in Berlin auf eine halbe Milliarde 
Mark oder ungefähr die Hälfte der bid zum 19. September geprägten neuen 
Goldmünzen angenommen. 

Diefe Bewegung ift fo außerordentlich, daß fie geradezu die Einführung 
des neuen Münzgeſetzes gefährdet, d. h. wenigftens die Reichsregierung zwingt, 
faft von vorn anzufangen; da anzunehmen ift, daß die erportirten Goldmünzen 
ſtets wieder eingefchmolzen werden. Zugleich zwingt fie, alle Mittel zu er- 
greifen, welche geeignet find fie aufzuhalten. Das zunächft liegende war die 
Diecontoerhöhung; allein diefe kann dem Uebel auch nicht radical fteuern, 
wenn man nicht den Ginfas fo hoch fchrauben wollte, daß dad Heilmittel 
ſchlimmer ald das Lebel würde. Wie jene ftarfe Goldausfuhr möglich ift, 
obgleih da8 Münz-Gefes den Fall vorbergefehen zu haben fchien, indem die 
Zwanzig: Markt: Stüf um ungefähr 33 Centimes geringerhaltig ausgeprägt 
find, ald 25 France Gold, erfcheint faft räthfelhaft. In Berlin ſchreibt man 
fie von vielen Seiten, unter denen auch tüchtige Volkswirthe wie Julius 
Faucher, der ungünftigen Handelsbilanz zu, indem die Ginfuhr ſich ftark ver- 
mehrt und die Ausfuhr fih vermindert habe. Diefe Bermuthung erweiſt ſich 


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aber nicht als ftihhaltig. Es muß dabei nämlich beachtet werden, daß bie 
Einfuhr im Allgemeinen und in der Regel höher ift und höher gemerthet fein 
muß, als die Ausfuhr, weil zu der Urfprungefactura noch mehr Fracht, Zins 
und BVerfiherungsprämie zu rechnen ift, als bei der ausgeführten Waare. 
Im fpeciellen Fall aber haben England und Frankreich in dem erften Semefter 
des laufenden Jahres ebenfalld eine Vermehrung der Einfuhr und eine Ber- 
minderung der Ausfuhr aufzumelfen, ohne daß diefe Bewegung von der 
gleichen’ Erfcheinung begleitet gewefen wäre. In Frankreich zeigt nämlich der 
Ausfuhrhandel in den eriten drei Monaten von 1874 folgende Ziffern: 


Einfuhr Ausfuhr 
1873 Fr. 776,576,000 971,982,000 
1874 „  925,129,000 856,000,000 
+ 148,553,000 — 115,982,000 
Der Audfuhrhandel Großbritannien® ergab in derfelben Zeit: 
Einfuhr Ausfuhr 
1873 Pf. St. 84.877,000 92,374,000 
1874 „ 62,376,000 57,802,000 


— 22,501.000 - 34,572 000 
Gerade in dem Lande, nad welchem aus Deutfchland am meiften Gold 
erportirt wurde, hat alfo die ftärkfte Einfuhr ftattgefunden, und zwar den 
Edelmetall: Import dabei außer Rechnung gelaffen, denn jene Ziffern fegen 
fih folgendermaßen zufammen: Ä 
1873 1874 








Nahrungsmittel Fr. 160,987,000 202,561.000 
Rohſtoffe 479681,000 586,272,000 
Fabricate „ 97,383,000 96,698,000 
Verfchiedene Waaren „  38,625,000 39,598,000 

_776,576,00 028120 000 


Die weiteren vier Monate des Jahres, deſſen genaue Ziffern uns gerade 
nicht zur Hand find, haben ein ähnliches Reſultat ergeben. 

Zu allem Ueberflufie ift aber jene Vermuthung über die Berfchlechterung 
der deutfhen Handelsbilanz gar nicht zutreffend, denn nad) dem fo eben ver- 
Öffentlichten Ausmeife haben die Einnahmen an Yöllen im deutjchen Reiche 
vom 1. Januar bid 31. Auguft d. J. 6,102,057 Thaler weniger betragen, 
al® in der gleichen Periode des Jahres 1873. 

Aus diefen Thatfachen allein geht zur Evidenz hervor daß die Handel 
bilanz nicht die Urfache der enormen Goldaudfuhr if. Die wahre Urfade 
muß anderswo gejucht werden. 

Um diefelbe fofort in voller Klarheit zu erfennen, muß man fich in den 
Prozeß des Umſatzes der Waaren und Dienftleiftungen hineindenfen. In 


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jedem Lande wird in einer gegebenen Zeit eine beftimmte Anzahl von Käufen 
und Ablohnungen bewerkftelligt, welche zur Erhaltung der allgemeinen Wirth: 
ihaft und zur Grnährung der Bevölkerung nothmendig find. In diefen 
Trandactionen ift eine gewilfe Summe von Umlaufsmitteln nothwendig, ala 
teren Grundlage die Edelmetallmünzen und Barren dienen. Ein Theil diefer 
Umlaufsmittel fann auf die Dauer durch Greditmittel (Staatöpapiergelod, 
Banknoten, Wechfel, Checks) oder durch organifche Einrichtungen wie Com— 
penſationsbörſen (3. B. die Clearing- Häufer in London, Newyork, Bojton) 
regt werden. Sin geordneten Zeiten aber haben fie einen fehr ebenmäßigen 
Umfang, der vom Durchſchnitt nur wenig abweicht, ganz im Verhältniß wie 
die Käufe und Lohnauszahlungen Umlaufsmittel erfordern. Außer vorüber- 
gehenden Schwankungen, welche entweder durd ein Stoden der Gefchäfte bzw. 
dur eine Verminderung des Bedarfd an Girculationsmitteln, oder durch 
großen Auffhwung des Unternehmungsgeiftes hervorgerufen werden, ift aber 
der Bedarf an Girculationämitteln in der Regel ein fehr gleihmäßiger. Nun 
it an den Lehrfas zu erinnern daß die Preife und Löhne finfen, wenn die 
Umfagmittel fi vermindern; daß die Preife und Löhne aber fteigen, wenn 
die Umfagmittel fich vermehren. 

MWerden nun die Girculationdmittel eines Landes im Verhältniß zu dem 
Umfang der Umſätze fo bedeutend vermehrt, daß eine Preisſteigerung erfolgt, 
welche fo erheblich iſt, daß fie den Wechfelcurd bis auf den Grad afficirt, daß 
Metallfendungen fi) verlohnen, — dann wird einerfeit3 ein Theil der im 
Auslande fälligen Zahlungen in Gold ftatt in Wechfeln gemacht, andrerfeitg 
it der Reiz vorhanden, die billigere Waare des Auslandes in größerer Quan- 
tität ald vorher zu kaufen. Die Folge diefed doppelt wirkenden Anftoßes ift 
8, daß gerade fo viel Geld ind Ausland abftrömt, als über dad Bedürfnig 
der Umſätze hinaus in Girculation gejegt worden war. 

Befteht, in einem Lande die einfache Währung, d. h. dürfen zu größeren 
Zahlungen gefeglich nur Gold» oder Silbermünzen verwendet werden, fo wird 
fih die Sache ohne Schwierigkeit ausgleichen, weil das überflüffige Metallgeld 
wie das Waſſer aus einem überfüllten Refervoir ablaufen wird. Befteht aber 
ein Theil der Umlaufämittel aus Staatspapiergeld oder Banknoten und werden 
die leßteren über dad Maaß des Bedürfniſſes vermehrt, dann ftrömt Edelmetall 
aus dem Rande, weil Papier im Auslande nicht giltig if. Dauert die Ber: 
mehrung der papiernen Gireulationdmittel fort, fo wandern zuerft ſämmtliche 
gute Münzen der berifchenden Währung, dann die Theilmünze und endlich 
jogar die Scheidemünze fort. Beſteht in einem Lande die Doppelmährung, 
d h. dürfen alle Zahlungen bis zu beliebiger Höhe in beiden Metallen ge- 
mat werden, fo wandert in einem ſolchen Falle dasjenige Metall aus, 
welches gerade auf dem Weltmarkt höher im Curs ftebt, weil natürlich im 


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betreffenden Rande von Seiten inländifcher mie ausländifcher Schuldner, da 
die Wahl gefetzlich freifteht, nun mittel® des im Curſe billiger ftehenden Metalles 
gezahlt wird. Ueber alle dieje Vorgänge find in den letzten 20 Jahren fo 
reihe Erfahrungen in den Vereinigten Staaten, in Deflerreih, Italien, Frank— 
reih und in der Schweiz gemacht worden, daß man glauben follte, fie müßten 
Jedem fo geläufig fein, wie das Schickſal der einftigen franzöfifchen Affignaten. 
Zur Vorbereitung des Geſetzes betreffend die Ausprägung von Reiche: 
goldmünzen vom 4. December 1871 war vom Bundesfanzleramte eine Sta— 
tiftit der im Norddeutfchen Bunde ausgeprägten und eingezogenen Münzen 
aufgenommen worden, welche folgendes Refultat ergeben hatte: 








„ 0: Ueberſchuß der Ausprägungen 
—— — über die Einziehungen: 
— 
zn en 175,726,396 | 2,500,535 | 173,219,851 
ilber - Gourant = 
\ Münzen 498,049,074 | 55,901,698 442,147,376 
Eilber - Scheide» | | 
Münzen 77,317,066 | 8,415,497 | 74,401,569 
Kupfermüngen 2,730,547 99,775 1 2,630,772 
154,323,073 | 61,923,505 | 692,399,568, 


Zu diefer Summe kommen nod die von den füddeutfchen Staaten 
Bayern, Württemberg, Baden und Heffen geprägten, abzüglich der eingezogenen 
Münzen. Da und darüber Feine authentifhen Zahlen vorliegen, fo wollen 
wir fie mit demjenigen Betrage compenfiren, welcher im Privatverfehr ver- 
ſchloſſen d. h. verloren, eingefchmolzen, vergraben oder ind Ausland gelangt it. 
Dian kann danach alfo annehmen, daß die Metalleirculation 1869 in Deutfd- 
land gegen 500 Millionen Thaler betragen hat. 

Nach einer im Jahre 1871 dem Reichstage übergebenen ftatiftijchen Zu— 
fammenftelung erhob fi) jene Summe des Meberfchuffes der Ausprägungen 
über die Einziehungen für ganz Deutfchland einfchliehlich der ſüddeutſchen 
Staaten auf 597,700,000 Thaler, wovon etwa 26,700,000 Thaler Scheidemünze. 
Die Annahme, daß der regelmäßige Bedarf an baarem Gelde bis jest 500 
Millionen Thaler betrug, ift alfo feine übertriebene Schäßung und mag eher 
unter als über der Wahrheit bleiben, ta die Baarvorräthe der Zettelbanfen 
allein fih auf 300 Millionen Thaler erheben. Zu jenen Baarbeftänden, 
welche zum Theil dur Noten repräfentirt werden, Fommen noch circa 100 
Millionen Thaler ungededte Noten und endlich etwas über 50 Millionen 
Staatspapiergeld, welches durch Reichskaſſenſcheine erfegt wird. Man Konnte 
demnach bis 1871 den Gefammtbedarf an Umlaufsmitteln für das deutſche 
eich auf etwas über 650 Millionen Thaler annehmen. Soetbeer, melder 
auf die nämlihe Summe kommt, nimmt an, daß bis im März 1873 jener 
Münzumlauf nod vollftändig erhalten oder um höchſtens 10 Millionen Thaler 
vermindert geweſen fei, und daß damald ſchon ca. 200 Millionen Thaler 


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der neuen Goldmünzen ausgegeben worden, wovon nun etwa 10 Millionen 
für den Mehrbedarf des Kriegsſchatzes abzuziehen feien. Der Vorrath an 
baarem Geld mar alfo innerhalb eines Jahres um mehr ald 33 Procent 
vermehrt worden. Wenn diefe Behauptung richtig ift, und wir haben feinen 
Grund daran zu zweifeln, fo hätten ſchon damald, Kraft des oben gefchil- 
derten Verkehrsgeſetzes jene fämmtlichen 200 Millionen, um melde die Um- 
laufdmittel vermehrt worden waren, ind Ausland wandern müffen und jene 
gerade in Geftalt der neuen Goldmünzen, weil der Preid des Silbers ſchon 
von 1872 an zu meichen begann, da die Arbitrageure, wie bet allen ähnlichen 
Borgängen, die der Ausführung des Münzgeſetzes mit Nothwendigkeit folgende 
Abwälzung von wenigſtens 300 Millionen Silber ſchon im Voraus zu es— 
ecomptiren begannen. Anfang 1873 war der GSilberprei® um 4°%,, Ende 
1873 ſchon um 6'/, %, gelunfen und hat fi) während des laufenden jahres 
durchſchnittlich auf menigftend 6 %, unter dem Stand von 1871 erhalten. Um 
einem folchen Abftrömen des Goldes, das früher oder fpäter eintreten mußte, 
weil ausländifche mie inländifche Schuldner natürlich möglichft in dem billi- 
geren Metalle zu zahlen und dad Gold mit Agiogewinn fonft zu vermwerthen 
ſuchen, mußte die Reichdregierung für die Goldmünzen, welche fie dem Ver 
fehr übergab, diefelbe Summe an groben Silberftüden einziehen. An War: 
nungen bat es auch im Reichstag nicht gefehlt. Allein die Reichöregierung, 
welcher doch das wirthſchaftliche Geſetz des Umlaufs zweifellos befannt iſt, 
hat ſich durch zwei außergewöhnliche Umſtände täuſchen laſſen, welche die 
Wirkung des Geſetzes eine Zeitlang aufſchoben und verdunkelten. Der eine 
war die Zahlung der Kriegsentſchädigung. Da Frankreich das dazu erfor- 
derlihe baare Geld unmöglich in der gegebenen Zeit auftreiben konnte, jo 
mußte e3 in Mechfeln zahlen. Dadurch ftiegen die Devifen auf Deutfchland 
auf ungewöhnliche Höhe, fo daß z. B. in der Schweiz Anfang 1873 Preußijche 
Banknoten über Bart ftanden. Der andere Umftand war die Meberfpeculation, 
weldhe bereitd 1871 begonnen hatte und mit dem Ausbruch der Krifid von 
1873 ihr Ende nahm. Dieſe Speculation fteigerte in Folge ihrer vermehrten 
Umfäge den Bedarf an Girculationdmitteln beträchtlih. Gleichzeitig wurde 
fie aber auch gerade durch die Herausgabe der neuen Goldmünzen, welche den 
regelmäßigen Bedarf an Umlaufsmitteln überſchritt, noch anfehnlich gereizt. 
Und in diefer Hinficht ift der Vorwurf durhaus nicht unbegründet, daß die 
Reichäregierung mit Schuld, wenn nicht an der Kriſis, jo doch an der Er- 
ſchwerung derfelben, hatte. Wie, nebenbei bemerft, unter folhen Umftänden 
der Bankgefegentwurf dazu kommt, die ganze Schuld der mit der Heberfpecu- 
lation verbundenen Steigerung der reife einzig den Notenbanfen in die 
Schuhe zu ſchieben, begreifen wir nicht. \ 

Mir hatten bid zum Geſetz vom 9. Juli 1873 rechtlich die a 

Gtenzboten IV. 1874, 


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von diefem Datum an die Goldwährung; der Uebergang von der einen zur 
anderen muß aber nothmwendigermeife durch ein Broviforium ausgefüllt werden, 
während deffen factifch die Doppelmährung herrſcht. Welche Nachtheile aber 
leßtere mit fi) bringt, wenn das eine der beiden Metalle im Preiſe fich än- 
dert, das haben wir angedeutet und merden wir noch näher prüfen. Wegen 
diefer zu befürchtenden Uebelſtände follte diefe Uebergangszeit fo kurz als 
möglich gegriffen werden. Die Reichöregierung hat aber, verführt durch jeme 
beiden außerordentlichen Umftände das Gegentheil getban. Ste hat die Aus 
führung des Münzgeſetzes fo in die Ränge gefchoben, als ob fie dadurch be- 
fondere Vortheile zu erlangen oder Nachteile abzumenden hoffte. Sie hat 
dadurch der Edelmetallfpeculation und der Arbitrage Zeit gelaffen im aller 
Muße ihre Operationen ind Werk zu fesen und die Reichdcaffe viel mehr zu 
benachtheiligen, al8 der höhere Preis des Goldes ausgemacht hätte, wenn 
die Prägungen rafcher bemerkitelligt worden wären oder als der Zinsverluft 
betragen hätte, wenn die Goldmünzen fo lange unter Verſchluß gehalten 
worden wären, bis eine foldhe Summe vorräthig war, um die groben Silber 
münzen rafch außer Cours jegen zu Fönnen. In Folge diefe Mißgriffe 
haben wir jest, nachdem die Kriegsentſchädigung abgemidelt, Feine Urſache 
zum günftigen Wechfeleurs für Deutfchland mehr vorhanden ift, und nachdem 
die Blaſe der Agiotage und Meberfpeculation in der Krifid geplagt ift, das 
wenig beneidendwerthe Vergnügen, das ganze Schaufpiel vor unferen Augen fi 
wiederholen zu fehen, welches die Vereinigten Staaten, Frankreich, Belgien 
die Schweiz und Stalien von 1852 bid 1865 abwechfelnd vorgeführt Haben. 
Damals war es dad Gold, welches in Folge der neuen Lager in Californien 
und Auftralten billiger wurde und das Silber in jenen Kändern, wo die 
Doppelwährung berrfehte, aus dem Lande trieb, fo day die Vereinigten Staa- 
ten genöthigt waren, 1853 die reine Goldwährung einzuführen, daß die Schmeiz, 
um einer völligen Verfehröftodung vorzubeugen, fich veranlaßt fah, ihre Silber 
münzen geringerhaltig auszuprägen, und daß endlich 1865 der lateinifhe Münz- 
vertrag zu Stande fam, durch welchen für die contrahirenden Staaten wenig. 
ften® der erfte Schritt zur Goldwährung gethan wurde, indem Eraft defien 
die ein und zwei Franfen-Stüfe um 10°, geringerhaltig geprägt werden ; 
wobei freilih durch die vorläufige Beibehaltung der Fünffranfen-Thaler der 
Keim zu neuen Verwicklungen gelegt wurde. 

Wie man nach folhen Erfahrungen in den alten Fehler zurüdfallen 
fennte, das bleibt dem in die Geheimnifje der Staatöfunft Uneingemeihten 
ein Räthſel. est ftehen die Sachen fo, daß die Regierung feit zwei Jahren 
Syfiphusarbeit gethan hat und daß fie immer wieder von Neuem anfangen 
und Millionen verfchleddern muß, wenn fie nicht den begangenen Fehler 
und radicale Abhilfe ſchafft. Solche befteht aber darin, daß fie alle Mittel 


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ergreift, um die UVebergangäperiode der factifchen Goldwährung, in welcher 
wir und jetzt befinden, abzufürzen. Die Didcontoerhöhung um 1%, Hilft 
nit, weil die Ausfuhr von Gold durch ein Agio von 6%, begünftigt wird. 
Den Zindfas aber noch höher zu fpannen, würde der Production zu große 
Nachtheile zufügen; fie muß alfo alles Gold von jest an zurüdhalten, den 
Borrath raſch fo zu vermehren fuchen, daß er den umlaufenden groben Silber- 
münzen entjpricht, und fodann :lettere in den Fürzeften Friften außer Curs 
ſetzen und umtaufchen. 

Ale verfchiebenden Maafregeln arbeiten nur der Speculation in die 


Hände. 


BVilder aus Mecklenburg. 


Aus den Tagen der Bürgerwehr. II. 


Bon Hugo Gaedde. 
(Nahdrud verboten.) 


Der jechite Auguft 1848 war ein ftolzer Tag für die Noftoder Bürger- 
wehr. Schon am Morgen ded Tages hielt fie auf dem Neuen Markte in 
großer Parade; es galt der Huldigung ded Reichsverweſers. Schöne Jung— 
frauen überreichten dem Commandeur eine goldgeftickte mächtige Fahne und 
dem Fähnrich eine ſchwarzrothgoldne Schärpe, dann zog man de Nachmittags 
hinaus, die Garde und der große Feſtzug, auf das weite grüne Feld, zu dem 
Ölanzpunfte des Feſtes. Und hier beginnen wir eine neue denkwürdige Seite 
der Chronik unferer Bürgergarde. 

Der Großherzog fam in Perſon daher gefahren. Er fchritt Höchſtſelbſt 
die Reihen der Bürgergardiften entlang und hört! er ſprach laut feine Freude 
aus über das fchöne Feft und über die „mufterhafte Haltung“ der Bürger: 
garde. Da nidten fie ſchmunzelnd, das gefiel ihnen mwunderfhön. Von nun 
an ließen fie fih dafür auch alle Jahre im Herbft einmal, in großer Parade, 
vom Rathe der Stadt und von den Deputirten der Bürgerſchaft feierlich be 
ſichtigen. So noch an einem fonnigen Herbittage des Jahres 1852. 

In altgeriohnter Weiſe nahmen die Herren VBürgermeifter und die Depu« 
firten, (ein Nadler und ein Fabrifant von Selterswaſſer,) die „Honneurs“ 
entgegen; fie fchritten mit wichtiger Amtsmiene, fo ficher, wie alte Generäle, 
die Front des präfentirenden Bataillond entlang und grüßten huldvoll. 
Hinter ihnen folgten die Bürgermeifterdiener; die ftiegen nicht minder ftattlich, 


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in ihren blanken Neiterftiefeln einher; und es flammte der feharladhrothe 
Frack im Sonnenfhein und die Silberborten an dem hohen Zweimaſter 
blisten. Die Bürgermeifterdiener mufterten auch ihrerfeitd natürlich mit jad- 
verftändigem Auge die Truppen. Die Zeitung fagte hierüber am andern 
Tage: „Dem beunrubigenden Gerüchte, es feien die Abnehmer der Parade 
diegmal weniger befriedigt geweſen, als das legte Mal, können wir auf das 
Beftimmtefte miderfprechen ; vielmehr erklärte man fi auch diesmal durchaus 
zufrieden mit der Haltung ded Corps.“ 

Es ift aber merkwürdig; man fol nichts berufen! Gerade, als die 
Bürgerwehr an die nächfte Herbitübung dachte, wobei fie fih vornahm, in 
diefem Jahre fich wieder fo mufterhaft zu Halten, und juft, ald die Deputirten 
der Bürgerfchaft, (der Nadler und der Fabrifant von Selterdmwafler,) fih im 
Stillen ſchon darauf freueten, wie prächtig fie in diefem Jahre wieder bei 
der Parade fih audnehmen wollten, ja, da fam es, am 17. Juni 1853, wie 
ein Schlag zwiſchen die Krufen mit Selterömafler, — da Fam der Befehl 
aus dem hohen Miniiterium: „Alle Bürgerwehren des Landes find hiermit 
aufgelöft.“ 

D feltfamed Spiel ded Zufald! Gerade hatte die Preußiſche Polizei 
einem Mecklenburgiſchen in das minifterielle Ohr ein ſchreckliches Wort ge 
flüftert, da8 Wort: „Hochverrath!“ Man wolle fih nur erinnern, mie ber 
Minifter auf diefen Schreckensruf lebendig wurde; fürs erfte ließ er geſchwind 
eine Handvoll Profeſſoren und Advofaten einfperren; der berühmte „Noftoder 
Hochverrathsproceß“ ging in Scene. 

Juſt in diefem Unglücksmond kam ein neuer Blitzſtrahl; — das Refeript 
an den Magiftrat in Roftod: „binnen 14 Tagen an das Minifterium des 
Innern zu berichten, daß und in welcher Weiſe die Auflöfung der Bürger 
garde bejchafft ſei“ Aus jedem großen Buchftaben des Reſeripts guckte dad 
ängftlih lauernde Geſicht des Herrn Miniftere. „Und mas die von der 
Stadt Roftod im Jahre 1848 angefauften Gewehre betrifft” , hieß es weiter 
im Refeript, „fo wird der Magiftrat diefelben, da ein derartiges Waffendepot, 
wie es biöher beitanden, nah Auflöfung der Bürgermwehr nicht ferner geduldet 
werden Fann, vorausſichtlich zu verfaufen beabfichtigen. Für diefen Fall wird 
derfelbe angewiefen, die Waffen außerhalb Landes zu verkaufen.“ 

Uebrigeng, das muß man fagen, der Senat ward in dem Reſeript höchſt 
zuvorfommend und artig darauf hingewiefen, falls e8 ihm nicht möglich fei, 
den Verkauf innerhalb diefer Zeit zu realifiren, fo habe er die Gewehre „zur 
einftmweiligen fihern Aufbewahrung“ an das Großherzogliche Zeughaus zu 
Schmerin abzuliefern, wo fie etwaigen Kaufliebhabern „zur Anficht jeder Zeit 
zur Dispoſition“ ſtehen follten. 

Der Rath der guten Stadt Roſtock befah das Schreiben des Minifters 


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von oben bis unten und ſchrieb hierauf einen freundlichen Schreibebrief an 
den Herrn Minifter, in welchem man ihm auseinanderfegte, wie überall Fein 
Grund vorliege, dem Schreiben des Herrn Minifterd nachzukommen. Nach 
den Verträgen der Regierung mit der guten Stadt Roftod habe die Iektere 
das Recht auf die Bewaffnung ihrer Bürger. Es ſei jedenfalld an der Stelle 
der Bürgerwehr eine neue Organifirung der wehrhaften Bürgerfchaft nöthig; 
dem ſcheine aber dad Refeript entgegen treten zu wollen und werde daher 
zunächſt noch eine gefällige Erläuterung erbeten. 


Der Herr Minifter hatte mittlerweile ſchon zehnmal das Gefiht zum 
Fenfter hinausgeſteckt. Die Frift war abgelaufen. „Kommen denn nod) immer 
nit die Gewehre von der Roftoder Bürgergarde?“ 


Er wiſchte die goldene Brille, er gudte: richtig, fie Famen noch im: 
mer nicht. 


Nun ward er aber ernſtlich böſe. Dbendrein Fam in diefem Augenblid 
auch noch das obige, ihm höchſt verdächtige Schreiben des Roſtocker Ma— 
giſtrats. 

Ein neues Reſeript ward entſendet! „So gewiß binnen nunmehr acht 
Tagen nach Schwerin anzuzeigen, daß und in welcher Weiſe die Bürgerwehr 
aufgelöſt worden, als ſonſt das Minifterium unverzüglich dieſe Auflöſung 
und die damit verbundenen Maßnahmen ſelbſt ins Werk ſetzen wird.“ 


Ja, das verſchlug! Die Herren vom Rath in Roſtock wurden ſchier 
bedenklich; ſie ſteckten die Köpfe zuſammen. Es ward weitere Verhandlung 
mit der Bürgerfchaft beſchloſſen. 

Man überlegte. 

Die Männer der VBorfiht meinten: „Er fommt und mit Militatrmadt.“ 
Die Männer der That erwiderten: „Mag Er fommen , die Ehre der Stabt 
erfordert die Anmendung des Zwanges.“ 

Man rieth, ſich mit der beliebten Glaufel zu behelfen, die ſchon oft 
hatte helfen müſſen. Und richtig! Man beſchloß die vortrefflihe Claufel: 
„mit Vorbehalt der Nechte der Stadt“ dem Minifterium von der Auflöfung 
der Bürgerwehr Anzeige zu machen. 

Aber die Gewehre? Die follten auf feinen Fal nach Schwerin aus- 
geliefert werden. Ganz ſachte wollte man die Waffen nach Hamburg fenden; 
dort follten fie einfiwellen zur Dispofition der Stadt bleiben. 

Schade! Der Minifter hatte fih doch fo herzlich darauf gefreut, den 
guten Roftodern die Gewehre im Zeughaus „einftweilen ficher aufzu- 
bewahren “. 

Während er noch fo recht fehnfüchtig nach den taufend Stück Gewehren 
auslugte, fuhren die Waffen Schwerin an der Nafe vorbei, Iuftig nah Ham- 


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burg. Der mit diefer Sendung betraute Senator hatte nämlich die MWeifung 
empfangen, den Verkauf und die einftwelligen Verhandlungen einzuleiten. 

Eben, ald die Sehnfucht des Minifterd nach den ſchönen Gewehren auf 
das Höchfte ftieg, rückte das Proteftfchreiben des Roftoder Magiſtrats in die 
Nefidenzitadt ein. 

Ward aber der Minifter böjfe! „Was Proteft? Wartet, ih will Eud 
bei Proteſten.“ 

Ein neues Refeript ward gefchmettert: „Binnen acht Tagen ift an 
zuzeigen, daß und wie die Auflöfung der Bürgerwehr beendigt ift und binnen 
4 Wochen der wirklich vollbrachte Verkauf der Gewehre außerhalb Landes zu 
dociren, oder bei Ablauf diefer Frift find diefelben an die Direktion des Grof- 
berzoglichen Zeughaufes in Schwerin abzuliefern.“ 

Reider follte Schwerin der Appetit nach den hübſchen Gewehren noch im- 
mer nicht geftillt werden. Die taufend Obergewehre der Roftoder Bürger 
garde lagerten ſchon in Hamburg. 

Die Verhandlungen mit einem Kaufliebhaber wurden eingeleitet. Man 
hoffte in Roftod auf den beiten Erfolg. 

Aber o Schreden! Nun erfhien der Deputirte des Rathes und der 
Stadt mit einem wahren Reichenbittergeficht: „Wie geht und das! Wie geht 
ung dad!” 

Was war ihm gefchehen? Er hatte richtig, wie ihm aufgetragen war, 
den Verkauf eingeleitet. Der Kaufliebhaber aber hieß nicht umfonft John 
R. Möller & Co.; ald ein geriebener Kaufmann ließ er ſich die Kiften mit 
den taufend Gewehren öffnen, aber faufen wollte er die Waffen nicht, die 
Gewehre „find nicht probegemäß“. 

Das war eine nette Gefhichte! Hier drohte das Minifterium mit fo 
und fo viel taufend recutiondtruppen hinter fih: „Gieb die Gemehre 
heraus!“ und dort Tagen fie nun, heimathlos, in erbrochenen Kiften, im 
Ausland, die unglüdjeligen taufend Schießprügel, die Niemand Faufen wollte. 
Und dabei ftand das Ende der Frift, welche das Refcript geftellt hatte, nolend 
volens vor der Thüre. Der Minifter puste ſchon wieder die goldne Brille 
und gudte: „Kommen die Gewehre noch nicht ?* 

Ein fatale Stück! Soviel ift gewiß: Sohn Möller verftand ſich auf 
den Handel. Als gewiegter Hamburger überfchaute er mit ruhigem Auge 
die Situation und die Operationdbafid. Er freute fih. Er ſah dort in 
Roftod einen Rath in der Klemme und hier in Hamburg einen Markt, der 
überſchwemmt war mit Waffen von jeglicher Art, die Niemand Faufen wollte. 

Ungezählt nämlich war in jenen Tagen die Menge von Waffen, melde 
in Hamburg ſich anfammeltee Denn die Entwaffnung der Schledmig- 
Holfteinfhen und der Ungarifchen Armeen und die Wuflöfung zabllofer 


151 


Bürgerwehren in den deutfchen Staaten hatten große Maffen von Gemwehren 
jeden Kalibers an diefen Haupt Erportplat des nördlichen Deutſchlands zu- 
fammen geführt, ohne daß e8 bi8 dahin möglich erfchien, diefen Waffen die 
erhofften Abzugscanäle zu verfhaffen, zumal die englifchen, fpanifchen und 
portugtefifchen Colonien der Einfuhr diefer Waffen verfchloffen waren. 

Alles dies hatte John Möller fehr wohl bedacht. Er blieb dabei: Die 
Gewehre find nicht nach Probe. Hierin ward er noch durch einige Beulen 
in ein paar Flintenläufen, durch verfchtedene verbogene Bajonette und einzelne 
jrbrochene Ladeſtöcke auf das Glücklichſte unterftügt. Mafter John war aber 
großmüthig. Er hatte zwar zuerft 4 Thaler für das Gewehr geboten und 
an diefe® Angebot fich für fech® Tage gebunden; jet bot er aus reiner Güte 
31, Thaler pro Stüd. 

Mafter John wußte am leßten Tage der Frift mit feinem Erpreßfchreiben 
noch trefflih zu operiren. Er fohrteb am 30. Juli Eurzweg: „Um erften 
Auguft Habe ich Gelegenheit, die Gewehre nach Californien zu fenden. Nach 
dem erften Auguft haben diefe Gewehre für mich gar feinen Werth mehr.” 

Das wirkte. Sofort erhielt er den Zuſchlag für fein Angebot. 

In einem Fläglichen Berichte erbat hierauf der Deputirte des Rathes 
von feinen Eollegen und von der Stadt gütigft die nachträgliche Genehmigung 
des Handels, den er In der eilften Stunde in feiner Herzendangit mit diefem 
einzigen Käufer, zu dem Preife von 31/, Thaler für das Gewehr, abgefchlofjen 
hatte. Und die Genehmigung ward ihm fröhlich erteilt. 

So ift es gefommen, daß taufend Gewehre, Waffen von vorzüglichem 
Kaliber und im Ganzen von befter Befchaffenheit, für den Jammerpreis von 
31, Thaler pro Stüd Fopfüber verhandelt find, Gewehre, die man bei ihrem 
Ankauf das Stüd mit 8 Thaler bezahlt Hatte. 

Aber Gott fet Dank! Nun konnte man doch getroft an dad Großherzog. 
lihe Minifterium des Innern ergebenft berichten: „Die Bürgerwehr ift auf: 
gelöft! Die 1000 Gewehre find verklopft!“ 


Reiſegloſſen. 


Wer, aus der nordiſchen Tiefebene kommend, durch das deutſche Paradies 
von Darmſtadt bis Baſel hinauffährt, der müßte ein Herz wie Stein haben, 
wenn er ſich nicht wie neugeboren fühlte. Wandert er gar am ſonnenhellen 
Morgen hinein in eins der waldigen Gebirgäthäler diesſeits oder jenſeits des 


152 


Rheins mit den raufchenden Flüßchen, den malerifhen Burgruinen und den 
altertHümlichen Städtchen, da wird ihm die Bruft zu eng für all die Selig. 
feit und wär's ihm auch feit Jahren nicht mehr paffirt, er muß ein luſtig 
Liedchen trällern. Und doch, wie raſch find alle diefe Eindrüde vergefien, fo- 
bald du den Jura im Rüden Haft! Wie oft du auch die Wunderwelt des 
Hochgebirges geſchaut habeft, wenn du zum erften Mal wieder in Quzern auf 
der großen Brüde oder in Bern auf der Terraffe ded Bundespalaftes ftebft, 
da überwältigt dich ein unbejchreibliche® Gefühl des Entzückens zugleih und 
der Ehrfurcht ob diefer Miſchung von liebliher Schönheit und ſchauriger Er- 
habenheit. Die engen Formen dieſer gewohnten Vorftellungsmeife find mit 
einem Sclage zertrümmert, nur langjam und mit Mühe findeft du Maßftab 
und Bezeichnung für diefe ganz andere Welt. Und eine foldhe ift die Schmelz 
nicht nur in geographifcher, fie ift e8 ebenfo in ethnographifcher, in politifcher 
und in wirthſchaftlicher Beziehung. Dan kann die Schweizer nicht gerade 
zu den liebendmwürdigen Völkern zählen, ihr ediged, ungefüges Weſen be- 
wahrt fie vor diefem MWrädicate Dagegen ift auch von Stumpffinn und 
Faulbeit, den hervorftechenden Merkmalen mancher Gebirgsvölfer, bei ihnen 
wenig zu finden. Im Allgemeinen ift died Volk intelligent, ernft, fleißig, 
berechnend, doch ohne Habgier; felbft der bigotte Urfchmeizer läßt bet aller 
fonftigen Aehnlichkeit feinen Tyroler Nahbar an Geiftedanlagen und praf- 
tiſchem Geſchick weit hinter ſich. Einen bedeutenden Antheil an diefer Ge 
ftaltung des Volkscharakters hat ohne Zweifel die republifanifche Etaatdein- 
richtung, die überhaupt mehr als alles Andere der Schweiz den Stempel eines 
Unicumd in ganz Europa aufprägt. Mag man über den abfoluten Werth 
der Republif den ketzeriſchſten Anfihten Huldigen, daß fie für diefe concreten 
Verhältniffe die „beite Staatöform* ift, wird Niemand beftreiten, der die 
Reiftungen der Eleinen fchmeizerifchen Gemeinweſen Eennen gelernt hat. Man 
betrachte die prunflofen und doch fo impofanten öffentlichen Gebäude, nament- 
lih die Armen» und Krankenhäuſer, die arme Gebirgäfantone aus eigenen 
Mitteln hergeftellt, und man erfennt, daß es zur Erzielung folder Refultate 
eine® Gemeinfinnd bedarf, wie wir ihn, wenn wir ehrlich fein wollen, von 
monarchiſch erzogener Bevölkerung nur audnahmameife rühmen können. Im 
Zufammenhange mit diefem Gemeinfinn fteht eine Außerft rege Thätigkeit 
auf mwirthichaftlihem Gebiete. Wer jemald von der Höhe ded Brünig den 
fchnurgeraden Faden der Yare, wie er fich durch den fäftig grünen MWiefen- 
plan des Meiringer Thals hinaufzieht, überfchaut Hat, wird zugeben, daß 
der Kanton Bern im Punkte der Flufcorreetion mehr als einen deutfchen 
Staat befhämt. Mit befonderen Stolze aber darf die Eidgenoffenfchaft auf 
ihre Verkehrseinrichtungen bliden. Nicht menige der vortrefflihden Einrich— 
tungen auf dem Gebiete des Poſtweſens, mit denen und unfer Stephan beglüdt 


153 


bat, hat die Schweiz vor und befefjen. Bor Allem aber im Eiſenbahnweſen 
berefht eine Zwecimäßigkeit und ein Entgegenfommen gegen die Wünfche und 
Bedürfniffe des Publitumd, welches mir in Deutfchland größtentheild noch 
Ihmerzlich vermiffen. „Ja“, mendet man ein, „die Schweiz muß eben von 
den Fremden Ieben.“ Als ob unfere Eifenbahnen nicht auch von dem reifen- 
den Publikum ihre Eriftenz friften müßten! Oder dürfen wir an die Goulanz 
deutiher Bahnen nur deshalb nicht fo hohe Anforderungen ftellen, weil mir 
Deutihe und nicht „Fremde“ find? Noch mehr aber, ald unfere Eifenbahn- 
verwaltungen dürfen fi) unfere Gafthofbefiger ihre fchmeizer Collegen zum 
Nufter nehmen. Man fann heutzutage dreift behaupten, daß die Schweiz 
die beften Hoteld der Welt befist. Ich habe dabei nicht einmal jene fürftlich 
eingerichteten Paläfte von Interlaken, Genf, Luzern u. f. m. im Auge; nein 
auch die befcheidenen, theild nur mit Bretterwänden verfehenen Häufer tief in 
den Thälern oder auf fechätanfeud Fuß hoher Alp find vortrefflih. Sch Habe 
nie ein zweckmäßiger eingerichteted Gaſthaus, eine eractere und freundlichere 
Bedienung, ſchmackhaftere Speifen und verhältnigmäßig mohlfeilere Preife ge- 
funden,, ald weit hinten im Madaranerthal, dicht vor dem ewigen Eife deö 
Hüfigletfeherd, mit dem vier Stunden entfernten Fleden Amfteg nur durch 
einen ſchlechten Saumpfad verbunden. Auch bier freilich wendet man ein, daß 
die Vortrefflichkeit der Gafthöfe ja doch nur eine felbftverftändliche Folge des 
großen Fremdenandrangs fei. Nun, e8 giebt Gegenden im Schwarzmwalde, in 
welhen der Yremdenandrang ſchon feit Jahren ebenfo groß, im legten Sommer 
logar größer war; troßdem dürfen die Schwarzwälder Wirthe getroft glauben, 
daß fie mit ihren Hoteld Hinter den fehmeizerifchen noch weit zurüditehen, 
während von ihren Rechnungen, namentlich wenn man die ungleich fchmwieri- 
geren Berhältniffe, mit denen die Schweizer zu fämpfen haben, in Anſchlag 
bringt, fich ein Gleiches Leider nicht fagen läßt. Hoffen wir, daß diefer Un- 
terfhied zu Nutz und Frommen der reifenden Menfchheit recht bald gehoben 
wird. inftmweilen aber darf den ſchweizer Wirthen nicht beftritten werden, 
daß fie, wenn auch ſchwerlich aus idealer Nächitenliebe, emfiger als alle 
anderen darauf bedacht find, den Fremden den Aufenthalt angenehm zu 
mahen. — 

So haben die Natur und die Menſchen ihre Möglichſtes gethan, der 
Schweiz eine ganz aparte Anziehungäfraft zu verleihen. Und das gefittete 
Europa ermweift fich nicht fpröde gegen diefelbe. Wohl auf einem Fleck der 
Erde begegnen fich die Angehörigen der verfchiedenften Nationen in folcher 
Mafle, wie in der Schweiz. Und die politifche Neutralität des Landes be 
wirft, daß man fich leichter mit einander verträgt. Im Jahre 1870 haben 
allerding3 viele Deutjche über diefe Neutralität, wenigſtens über die neutrale 


Gefinnung der Schmetzer ihre eigenen Gedanken gehabt. Die unerwartete 
Grenzboten IV. 1874, 20 


154 


Bekanntſchaft aber, welche die Eidgenofjen im Februar 1871 mit den Gambetta- 
Bourbafifchen Legionen machen mußten, hat ihre Schwärmerei für die „Hüter 
der europäifchen Civiliſation“ empfindlih abgekühlt und man braucht, me- 
nigften® in der deutfchen Schweiz, nicht mehr zu befürchten, daß der Franzofe 
ald der Privilegirte der Schöpfung betrachtet werde. Es gibt nur noch eine 
Nation, für welche das freie Volk der Berge eine ausgeprägte Vorliebe begt 
— der englifche Geldbeutel. Schade nur, daß die Franzoſen, feitdem die 
Schmeiz Sonne und Wind zwifchen ihnen und und glei getheilt hat, die 
Begegnung mit und wie die Sünde haffen. Trügt mich mein Urtheil nicht, 
fo hat der Beſuch der Schweiz von Frankreich aus feit dem Kriege auffallend 
nachgelaſſen. Die zahlreichen. franzöfifchredenden Touriften, denen man aud 
jegt nody begegnet, find, wenn man näher zufieht, meiſt Schweizer; trifft man 
einmal auf echte Franzofen, fo kann man ficher fein, daß fie, fobald fie über 
das Nationale ded deutſchen Wanderers im Klaren find, Abſperrungsmaß— 
regeln treffen, ald ob die ſchwarze Veit im Anrüden wäre. Recht traurig in 
der That, daß Galliend anmuthige Töchter „aus patriotifhen Nüdfihten“ 
auch in der freien Schweiz dad Ammenmärchen vom deutichen BarbarentHum 
nicht vergeffen dürfen! Zu einigem Troft mag und yereichen, daß und doch 
nod reichlich Gelegenheit bleibt, au der Neutralität des helvetifhen Bodens 
Nusen zu ziehen. Haben wir Deutſche doch — Gott ſei's geklagt! — felbft 
bald nöthig, ind Ausland zu gehen, um und ala Söhne einer Mutter 
wiederzuerkennen! 

Es mar am 2. September. Strahlend lachte die Sonne vom molfen- 
lofen Himmel und in majeftätifcher Pracht erglänzte die Bergriefin des Ober- 
landes, ald wir und zur Fahrt von Bern nad Interlaken anſchickten. Und 
welcher Zauber erft lag über dem Thuner See. Und war, ald hätte jelbft 
die alte Erde ihr Yeierfleid angelegt, den deutfchen Siegedtag mitzufelern und 
urfröhlichen Sinnes tranfen wir dad Wohl des Vaterlandes, derweil und 
der Dampfer durd die tiefblaue Fluth dahintrug. Nur ein dunkler Punkt 
mifchte fi in died Meer von Luft und Freude Auf dem Schiffe befanden 
ſich zwei Fatholifche Geiftliche, ältere Herren, der Mundart nach Deutfche. 
Wie hätten wir, mein füddeutfcher Freund und ih, beide „Kulturfämpfer“ 
vom reinften Waller, er mit der Schneide ded Geſetzes, ich mit der Feder — 
wie hätten wir, eben erſt dem wüſten Schlachtgetümmel entronnen , die 
fhrilen Töne des großen Rufers im Streit, ded grimmen Ketteler, noch im 
Ohr, die ehrwürdigen Prieſter anders ala „mit gemijchten Gefühlen“ betrachten 
fönnen? Wir kommen nad Interlaken. Im Omnibus des „Schmeizerhofes* 
ſperrte und der Zufall mit den beiden Geiftlichen zuſammen, bei Tiſch machte 
er und zu ihren Nachbarn. Das Wetter mar ed an diefem Tage zehnfach 
werth, die Unterhaltung zu eröffnen; fie fing denn auch richtig alsbald damit 


155 


an. Der ältere der beiden Herren, ein Sechziger, defjen freundliches, frifches 
Geficht doch die unverfennbaren Spuren tüchtiger Geiftedarbeit trug, war 
heiter und geſprächig; aber die Unterhaltung drehte fih um gleichgültige 
Dinge. Erſt zwiſchen Gemüfe und Braten, ald wir Kulturfämpfer nad 
echter deutfcher Sitte in ded Franzmanns fhäumendem Tranke unferer bis 
dahin verhaltenen Feititimmung Ausdrud zu geben begannen, gewann die 
Situation eine intereffantere Geſtalt. Was merden fie thun? dachten wir 
Beide. Werden fie unfere patriotifche Demonftration ignoriren® werden fie 
fih, im Geifte des Heiligen von Mainz, mit Abſcheu hinwegwenden von den 
Berfuhern? Dder werden fie am Ende gar — —? Der Alte pflog Furzen 
Rath mit feinem Gefährten, gab dem Kellner einen Wink und wenige Se 
funden ſpäter prangte vor ihnen der filberne Kübel mit der eisbedeckten 
Flaſche. Und nun Fangen unfere Gläfer Iuftig aneinander auf das Wohl 
des theuren Vaterlande® und ungezwungen taufchten wir fortab muntere 
Rede. Längſt hatte der mweite Saal fich geleert, ald wir und unter Fräftigem 
Händedruck Lebewohl jagten, der Alte nicht anders, als unter der berzlichiten 
Einladung, ihn gelegentlich an feinem MWohnfig zu befuchen. Jetzt Fannten 
wir feinen Namen. Gr ift noch vor kurzer Zeit oft ald Candidat für eine 
der höchſten Prälatenitellen im Deutfchen Reich genannt worden. — Sch muß 
geitehen, als ich, den frifchen Eindrud dieſes ZTifcherlebniffes in der Seele, 
unter der Veranda den Kaffee jchlürfte, die Augen verloren in der feierlichen 
Majeftät der Jungfrau, da befchli mich die melandholifche Frage: „Warum 
doch ftreiten fich die Menjchen?“ Wohl ſchüttelte ich nach und nad) diefe 
naive Stimmung wieder ab; aber mir biieb dad Gefühl, eine Sedanfeier 
erlebt zu haben, wie ich fie mir nicht fchöner hätte wünfchen Fünnen. Und 
dad danke ich der neutralen Schweiz! — — 

Das Berner Oberland ift von jeher der Brennpunft des ZTouriften- 
verfehrd gemefen. Sein Vorzug, den Wanderer bei verhältnigmäßig geringer 
Anftrengung in die nächſte Berührung mit der ganzen Grofartigfeit der 
Gletſcherwelt gelangen zu lafjen, macht das erflärlich. Darum hat aber au 
fine andere Gegend der Schweiz fo fehr ihre Eriftenz auf den Fremdenbeſuch 
gegründet. Was bliebe von Interlaken, Grindelmald, Yauterbrunnen übrig, 
wenn plößlich diefe Erwerbsquelle verfiegte? Die Ausnutzung derfelben ift 
eine mit raffinirtefter Berechnung betriebene Induſtrie geworden, an welcher 
die ganze Bevölkerung bis in die unterften Schichten theilnimmt. Sogar 
der Vettel, zu welchem die Verfuhung für das blutarme Gebirgsproletariat 
ja nur zu nahe liegt, wird, feitdem die Berner Regierung ftrenge Verbote 
erlafien, durchweg in induftriellen Formen ausgeübt. Während man in Uri 
nod jeden Augenblid von Kindern und halbwüchfigen Mädchen mit koketten 
Blicken und Kußhänden direct um ein Almofen angegangen wird, ift im 


155 


Berner Oberlande das ſehnſüchtige Verlangen nach Feiner Münze regelmäßig 
von dem Angebot einer Gegenleiftung — Alpenroſen- und Edelweißſträußchen, 
Gefang, Echoerzeugung, Deffnen der Gatterthüren auf den Weidealpen u. ſ. m. 
— begleitet. Auch der Geduldigfte wird Momente haben, wo ihm diefe viel- 
geftaltigen Anfehtungen läftig werden; doch fehlt es auch nicht an Bildern, 
deren naiver Komik felbft die galligfte Natur nicht miderftehen wird. Mer 
fönnte z. B. ernft bleiben, wenn auf dem Abhange zwifchen Wengernalp und 
Grindelwald aus einer Hütte urplößlich zwei ehrwürdige Matronen bervor- 
hießen, fich feierlich in Poſitur ftelen und mit heiſerm Contraalt ein Duett 
anftimmen! Etwas höher ald diefe ordinäre MWegelagerung ſteht die Echo— 
induftrie mit Alphornflang und Böllerſchuß. Sie bringt nicht felten höchſt 
überrafhende Effecte hervor. Aber fie fällt bereit? in dad Gebiet der Kunft, 
die Natur zu unterftügen oder gar zu corrigiren, und diefe hat immer ihre 
ſehr bedenklichen Seiten. Am großartigften und zugleich am gefchmadvollften 
und am discreteften hat man fie am Gießbach angewandt. Die abendliche 
Beleuchtung diefes prächtigen Waſſerfalls, wie oft man fie auch gefehen Habe, 
it und bleibt ein Schaufpiel von überwältigender Wirkung. Jene Leute, die 
überall Fritifiren müffen, find natürlih mit dem Anathem „Theatereffekt!” 
zur Hand. Jawohl, es ift ein Theatereffeft, aber einer, den zu fehen ber 
Mühe werth ift. Wenn ich daheim es übers Herz bringe, der magifchen 
Decorationen wegen eine Feerie zu befuchen, weshalb fol ich nicht in der 
Schweiz mit noch viel größerem Vergnügen den Anblick einer Scenerie ge 
nießen, deren erhabene Pracht auch nur entfernt wiederzugeben für unfere 
Theaterdecorationstechnif denn doch eine Unmöglichkeit ift? Wer das Schau 
jpiel am Gießbach feinem vollen äfthetifchen Werthe nach würdigen will, der 
muß das Pendant desfelben, die Beleuchtung ded unteren Neichenbachfalld 
bet Meiringen gefehen haben — eine in jeder Beziehung klägliche Letftung. 
Leider ift aber zu befürdhten, daß es bei diefer einzigen Nachahmung des 
lucrativen Geſchäfts nicht bleiben wird. Ich mette darauf, wenn einmal die 
projectirten Gebirg3bahnen des Oberlandes vollendet find, fo wird den Gäften 
der MWengernalp mit der Zeit noch die SlMumination der Jungfrau zum 
Deijert jervirt werden. In der That, wer kann fagen, was vor der indu- 
ftriellen Speculation der Berner noch ficher ift? Traurige Perfpective! Wenn 
unfere Enkel einmal der alten Mutter Natur ungehindert in da® ehrliche, 
ewig jugendfchöne Geſicht fehauen wollen, werden fie fie fchwerlich im Berner 
Dberlande auffuchen dürfen. — 

Ein hartes Schickſal tft e&, daß den naturverderbenden Fortfchritten der 
Kultur gerade die Krone der ſchweizeriſchen Naturfchönheiten, die hochroman- 
tiſche und zugleich fo wunderbar idylliſche Landſchaft des Vierwaldftätterſees 
zuerft zum Opfer fallen mußte Die Rigibahn ijt bereits das zweite Jahr 





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Im Gange, und wie lange wird's noch dauern, dann fauft der MWeltverkehr 
von Hamburg und DOftende nad) Brindifi dur die ftillen Thäler der Ur- 
fantone! Wie ftiegen ehedem die Fahrgäfte de Dampfboots bei Wäggis fo 
frtedlih and Land und wie gemüthlich zogen dann die Karamanen den Berg 
hinauf! est liegt Wäggis faft verödet, beim Anlegen in Viznau aber ent- 
ſpinnt fh auf dem Boot eine wahre Völkerſchlacht, die fih am Eiſen— 
dahnwagen und im Hotel auf Rigi-Kulm wiederholt. Die Bahn mat 
glänzende Gefchäfte, die MWirthe nicht minder; aber der Freund des echten 
Raturgenuffed wird ſich mit dem Eifenbahnunternehmen niemald recht be- 
freunden Fönnen. Bon den verfchtedenen Punkten der Schweiz, die eine um— 
fafiende Alpenanficht gewähren, ift feiner fo leicht, jo bequem zugänglich, wie 
der Rigi; die abgefagteften Feinde des Bergſteigens Eonnten hier den ver- 
Iodenden Verheißungen ihrer Bädeker nicht wiederftehen und fo hatte der 
Berg das Verdienft, Laufenden und aber Taufenden doch wenigftend einmal 
die Wohlthat jener für den Stoffmwechjel fo fegendreihen Schwißtouren zu 
verſchaffen; heute fteigen die meiften diefer Leute Feine taufend Fuß mehr. 
Und andererfeitd: früher konnte man mit ruhigem Gemwiffen bis zum Nach— 
mittag in Luzern die Entwidelung des Metterd abwarten, gelangte man 
Abends nah Staffel oder Kulm, fo konnte man immer ficher fein, noch ein 
paſſables Unterfommen zu finden; heute ift, wenigſtens an fchönen Tagen, 
niht mehr daran zu denken. Was Einen halbwegs mit der Rigibahn ver- 
föhnen Fann, ift der Gedanke, daß fie wohl manchen förperlih Gebredhlichen 
die Möglichkeit gewährt, ein Schaufpiel zu genießen, deſſen Anblik ihm fonjt 
vielleicht fein Lebtag nicht vergönnt fein würde; aber der fröhliche Wanderer, 
dem der unvergleichliche See fammt feinen Ufern and Herz gemachfen, den es, 
wohin er auch fonft die Schritte Ienke, immer von Neuem an feine lachenden 
Geftade zurüdtieht, er würde es doch faum jemals verfchmerzen, wenn ihm 
eine der fchönften Zugaben diefer zaubervollen Landſchaft, dad hehre Alpen- 
panorama, durch die Meberfluthung mit Eifenbahntouriften ganz geraubt oder 
wenigften® gründlich verdorben würde. Und dag wäre, da auch der Pilatus 
dem Zahnrade auf die Dauer fchmerlich entgehen wird, in der That der Fall, 
wenn nicht glüdlicher Weiſe für Rigi wie Pilatus bereitd glänzender Erſatz 
gefunden wäre. 

Bon al den mechfelnden Perfpectiven, die fid) dem Wanderer bei der 
Fahrt über den Vierwaldftätterfee öffnen, ift keine, die fi mit dem munder- 
lieblihen Thal der Muotta vergleichen könnte. Im Bordergrunde der Hafen- 
ort Brunnen, dahinter ein breiter, faftiger Wiefenteppih, hier und da von 
Maisfeldern durchzogen, mit Nuß- und Obftbäumen befät, meiterhin terraffen- 
förmig auffteigend, die fehimmernden Häufer von Schwyz und Nidenbad) 
und ala Abſchluß die bis zur Höhe von 6000 Fuß ſenkrecht emporfteigenden 


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Teldfoloffe der beiden Mythen. Zumal der höhere der beiden, der fogenannte 
Große Mythen, ift eine der barodften und impofanteften Erſcheinungen der 
Schweiz. Daß der nah allen Seiten freiliegende ſchmale ftumpfe Hügel, mit 
welchem er abfchliegt, eine großartige Augfiht gewähren müſſe, fieht man auf 
den erften Blick; aber bis vor wenigen Jahren galt er unter den Touriften 
für faum oder doc ſehr ſchwer eriteigbar. Inzwiſchen bat der fchmeizerifche 
Alpenflub einen regelvehten Weg hHinaufbahnen lafien und feit diefem 
Sommer hat der Berg begonnen, die mwandernde Menfchheit zu intereffiren. 
Auch ich vermochte, nachdem ich mir den mwunderlichen Gefellen von Brunnen 
aus einige Tage angefehen, der Berfuhung nicht zu widerſtehen. Am Mor: 
gen des 8. September machte ih mih auf den Weg. Es war der Tag 
Marik Geburt. Freundlih lachte die Sonne vom Himmel und feierlicher 
Glockenklang halte durch das gejegnete Thal. Die prächtigen Dörfer Ingen— 
bohl, Ibach und Rickenbach hatte ich buld im Rüden; jebt ging's fteil hin- 
auf, den Weidenalpen zu. Am Saume eined Wäldchens traf ih auf ein 
einſames Bauernhaus. Gin allerliebfte® Blondköpfchen, ein Mädchen von 
4—5 Sahren, lag im Fenſter; raſch hatte es den älteren Bruder herbei. 
gerufen. ch erwartete nicht anders, ald daß fie fchleunigft herbeieilen 
und mich anbetteln würden. Mie war ich befhämt, ald fie ruhig an ihrem 
erhabenen Standorte blieben, fih aber um die Wette bemühten, mich über 
den Weg zu unterrichten! Meberhaupt ift das eine wohlthuende Bemerkung, 
die man im Kanton Schwyz macht: ed wird nicht gebettelt. Auch drängen 
ih die Leute, abgefehen von den Schiffern und Kutfchern in Brunnen, mit 
ihren Dienften nicht auf; die Bevölkerung ift durchweg höflich und gibt auf 
Tragen freundlih Beſcheid. Das Alles hängt ohne Zweifel mit der grö- 
Beren Wohlhabenheit zufammen, mit welcher die Natur diefen Kanton vor 
andern Gebirgdfantonen ausgezeichnet hat. 

Bon Nidenbad bis zur Holzegg, dem Gipfel des von Schwyz nad) Ein» 
fiedeln führenden Paſſes, ift der Weg herzlich fchlecht, meiften® ganz abjcheu- 
liches Geröl. Dennoh murde mir leichter und leichter umd Herz. Im 
berrlichiten Grün breiteten fi die Matten, von allen Seiten tönte das Ge 
läut der Herden, die Hirten biiefen Iuftig das Alphorn. Und das Alles 
durfte ich endlich einmal genießen, ohne daß die audgeftredte Hand eines 
Wegelagererd mir die ganze Freude verdarb! Links zur Seite lag die ger 
waltige Pyramide des Mythen; jet zeigte ſich auch der Zickzackweg, der mir 
das Näthfel entzifferte, wie an der fchroffen Bergwand überhaupt hinaufzu- 
fommen, zugleich mir aber auch zum Bewußtſein brachte, mad es noch zu 
leiften galt. Ich Fam an einer Sennhütte vorbei, wo der Senne gerade die 
friſch gemolkene Milch ausleerte. Mein Durft war groß und nicht geringer 
mein Hunger; nicht umſonſt aber hatte ich im Bädeker gelefen, daß auf der 


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Holzegg ein treffliches MWirthöhaus zu finden. Alſo bezwang ich meine Be— 
gierde. Sehr erfchöpft erreichte ich die Paßhöhe. Das Wirthshaus war da, 
aber die Thüren verfähloffen. Von der Seite der Mythen ber rief eine un- 
fihtbare Stimme: „Sind Ale nah Schwyz zur Kirche.” Nie in meinem 
Reben habe ich mich bitterer enttäufcht gefühlt. Die Zunge klebte mir am 
Gaumen. In diefem BZuftande noch die 1'/, Stunde fteilen Steigen? an 
ſchroffen Abhängen hin, in glühender Sonnenhike! Und wie, wenn der In— 
baber der Hütte auf der Spike ded Mythen etwa auch zur Kirche war! 
Indeß, nad Furzer Raſt ging ich muthig and Werk. Ein präctiger Weg! 
— ſehr fteil allerdings und für leicht zum Schwindel geneigte Perfonen nicht 
ohne Führer rathfam, aber in ganz ungeahnter Weiſe überrafhend. Mit 
jedem Augenblide ermeitert fih der Horizont. Zuerſt tritt der Glärniſch 
hervor, dann die Tödigruppe; fpäter öffnet eine Wendung den Blick nad) 
Nordoſten, der Säntid und die Schwarzmwaldfette werden ſichtbar, big endlich, 
von der Spitze aus betrachtet, die Vogefen, der Jura, die Kette ded Berner 
Dberlanded, die Unterwaldener und Urner Alpen und die Gotithardtgruppe 
die Rundfiht vollenden. Aber e8 dauerte eine gute Weile, ehe ich fomelt 
gedieh. Mehr ald einmal mußte ih mich platt auf den Pfad Iegen, weil 
mir die Knie zu wanfen begannen. Endlih war dad Ziel erreicht. Freudig 
begrüßte mich der mwadere Eidgenofje, der dort oben in dürftiger Bretterbude 
hauſt und fofort hißte er eine große weiße Flagge, damit auch die übrige 
Welt wife, daß es wieder einmal ein Sterblicher der Mühe werth gehalten, 
die fteile Höhe zu erflimmen. Der Wirt) — eigentlich ein fimpler Haus: 
knecht des Hotel Bellevue in Rickenbach, früher in Dienften bei einer 
franzöfifhen Familie, in welder Stellung er während des Kriegd als 
Dolmetfh, reſp. ald Befänftiger der deutfchen Barbaren dienen mußte — 
zeigte das erfreuliche Verftändnig für meine Rage, Dank feinem ſtaunenswerthen 
culinarifhen Gefhik und dem nicht genug zu rühmenden Inhalte feines 
Kelerd war ich in meiner Menfchenwürde foweit reftaurirt, daß ich mich ganz 
in das grandiofe Schaufpiel ringsum verfenken Eonnte. Die Ausfiht des 
Mythen übertrifft nicht nur die des Rigt, fondern auch die des Pilatus. Hat 
der letztere das Berner Oberland näher, jo diefer die Glarner und Grau- 
bündner Alpen; gar weit aber läßt der Mythen feine beiden Rivalen in Be- 
treff des Vordergrundes hinter fich zurüd. Hier kommt ihm feine vollfommene 
Iſolirtheit zu Statten; der fait fenkrecht auffteigende Berg hat auf feinem 
Gipfel nicht Raum für 100 Menſchen. So fohmwebt der Beſchauer förmlich 
in der Luft. Höchft großartig und lieblich zugleich ift befonders ter Blick 
nach der Seite des Vierwaldftätterfeed. Aus einer Höhe von 4000 Fuß ſchaut 
man auf Schwyz hinunter und auf das lachende Geftlde, vom Silberftreifen 
der Muotta durchzogen, dann erglänzt der See von Fluelen bi8 über Buochs 


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hinaus, und hinter ihm erhebt ſich der Seliäberg, der Urirothſtock, der Tiflis 
und die zahlloſe Reihe der ſchneebedeckten Hörner. Ein ſchöneres Bild ift, nicht 
denkbar. Und man darf diefe Pracht, Gott fei Dank! ohne die Sorge ge- 
nießen, daß auch der Mythen der Eifenbahnepidemie zum Opfer fallen könnte. 
Er wird für alle Zeiten dad unanfehtbare Befisthum der leider ftarf zufam- 
mengefchmolzenen Gemeinde derjenigen bleiben, die noch willen, wozu ihnen | 
der liebe Gott gefunde Lungen und Gliedmaßen gegeben hat. Wer den An- 
ſpruch erhebt, zu diefer Gemeinde gerechnet zu werden, der verjäume nicht, bei | 
der erften beiten Gelegenheit den Mythen zu beſteigen; aber, wenn Fatholifcher 
Feiertag ift, verlaffe er fich nicht auf Leckerbiſſen der Holzegg! 






Die Mevue Aniverfelle und die Grenzboten. 


Wir haben in der erften Hälfte diefed Jahres unfere Leſer aufmerffam 
gemacht auf die in Paris und Nantes erfcheinende franzöfiihe Monatsſchrift 
Nevue Univerfelle.e Diefe Erwähnung mar eine entjchieden mwohlmollende, 
wenn wir au damals den Wunfch begründeten, e8 möchte der Leitung diefer 
franzöfifhen Zeitfchrift gefallen, im ihren Gonjeeturen über die deutſche Ge— 
[hichte der Gegenwart weniger Fühnen Gedanken Raum zu geben, ala jenem, 
daß der deutfche Zollverein von Preußen feit Begründung des neuen Reichs 
verfchludt worden fei. — Die Revanche für diefen Artikel, welche und die 
Nedaction der franzöfifhen Collegin im Voraus anzufagen die Güte hatte, 
ift nun erfolgt — in Geftalt der franzöfifchen Ueberfegung des Eſſays unferes 
Mitarbeiterd Scherer „Frankreih im Jahre 1871*,. von welchem aus der 
legte Theil „die Nationalverfammlung“ nicht mit überfegt wurde, vermuthlich 
weil der momentane Souverain Frankreichs das Privilegium genießt, nicht 
Eritifirt werden zu dürfen. — Als Revandhe charakterifirt fich diefe Meber- 
ſetzung — oder foll fie dieß thun — nur dur) die Noten und Verwahrungen 
der Nedaction. — Diefe Zufäbe verdienen gelefen zu werden, „assur&ment 
pas par leur mérite“, wie die franzöfifche Collegin fi ausdrüdt, auch nicht 
aus dem pfychologifchen Intereſſe, welches die Wiedergabe unfere® Artikels 
in der Revue Univerfelle veranlaßte. Sondern wer dort Tieft, wie unfer 
Scherer ohne Weiteres zum Pruffien gemaht und feine Anfiht mit der 
Preußens identifizirt wird, wie der Franzoſe nüchtern eingefteht, daß er feine 
Schandthaten von Bazeille und Chateaudun feinen Siegen von Magenta und 
Malakoff nachſtelle — beide aber offenbar ala Heldenthaten mit anerkennt — 
und dennod den Muth findet, unferm Mitarbeiter Gerechtigkeit und Anftand 
abzufprechen, der wird für jene Gloſſen nichts übrig haben, als ein pfychiatrifches 

B. 


Intereſſe. 





Beranttwortlicher Redakteur: 1 Dr. Hans Blum in Leipzig. 
Berlag von F. 2. Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Legler in Leipzig. 









—* 


@2 XXXIII. Jabrgang. 





e — — — — — — — 





Die ' 
renz;boten. 
3 6 eısriı fi 
für 
»olitik, LSiteratur und Kunſt. 
N® 44. 


Ausgegeben am 30. October 1874. 


Inhalt: 


Seite 
Die Drakel Griehenlande. C. Brud.. » 2 2 2 20. . 161 
Charled Wolfe. Skizze feines Lebens und Dichtens. Bon 
Butsn Saller 175 
Wenjukow's Werk über Inneraſſenn.. 183 
Serbftta e in Schwaben. I. (Gmünd. Lord. Der Hobenftaufen. Die 
. Dwen.) Friedrich Lamperl.. . » . 0... 


Bom deutfchen Reih und Reichſstag. C—r. . . BC ne 


Brenzbotenumfhlag : Literariiche Anzeigen. 

+ + Beilage von der E. F. Winter’fhen PVerlagsbandlung in 
eipzig. 

Riterarifche Beilage von Maufe’3 Verlag (Hermann Dufft) in Jena. 

Literarische Beilage von Garl Flemming in Glogau. 


— —00———— — — 


Leipzig, 1874. 
Friedrih Ludwig Herbig. 
(Fr. Bild. Grunow.) 





rt bei allen Buchhandlungen und Poſtämtern des In: und Auslandes 


Er 


Die Orakel Griechenlands. 


Bon 
C. Brud. 


So lange Menfchen diefe Erde bevölfern und in ihren Herzen das un» 
audtifgbare Sehnen ruht nah Glück, nach vollfommener Befriedigung aller 
Bedürfnifie des feiblihen und geiftigen Lebens, welche die Gegenwart mit 
ihrer Sorge, ihren Kämpfen, ihren unfertigen Unfängen, fo oft nicht gewährt, 
fo lange befteht auch die fragende Hinrichtung des menjhlichen Blickes auf 
die Zukunft, aus deren Schooß das Zufallen des heiteren, glücklichen Looſes 
erhofft wird. Was ift der Baum der Grfenntnig des Guten und Böfen im 
Baradiefedgarten, von dent die ältefte Urkunde des Menfchengefchlechtes er- 
zählt, diefer Baum, deſſen Früchte das erſte Menfchenpaar fo lieblih und 
verlocdend anladhten, weil der Genuß derfelben ug machen und in gott- 
ähnlichen Zuftand erheben follte, was ift er anders, ala ein Beweis dafür, 
dag ſchon die Urahnen unfere® Gefchlechtes fih in der Gegenwart — und 
es mar doch eine Gegenwart paradtefifchen Glückes — nicht befriedigt fühlten, 
fondern noch geheime Wünſche und Fragen an die Zukunft Hatten? Und 
diefe® Wünfchen und Fragen ift geblieben, und wenn auch unter allen 
Bölfern jenes Bemwußtfein lebt, dem Sophokles am Schluffe feine Ajas fo 
flaren Ausdruck giebt, indem er den Chor fingen läßt: 

„Biel fchauet der Menfch und erforſcht fein Geift; 

Doch nimmer, er ſah's denn, dedet er auf, 

Was ruht in dem Schoofe der Zufunft!* 
fo fuht doch immer wieder die begehrliche Menfchenhand den Schleier auf- 
zudeden, der dad Zukunftsbild verhüllt und fort und fort mühet fein Geift 
fih ab, in das verſchloſſene Geheimnig einzudringen. 

Iſt's denn ein völlig undurhdringliches, verfchloffenee Geheimniß ? 
Sinken nit hier und da die einhüllenden Nebel, daß eine helle, Elare Aus— 
ſicht in die Ferne fih uns eröffnet? Daß man durd Kombination und Be 
rechnung einen ziemlich wahrſcheinlichen, ja fait gemiffen Schluß aus der 
Gegenwart auf die Zukunft machen fann, daß z. B. ein erfahrener Staats— 

Grenzboten IV, 1874. 21 


162 


mann, der die Tauſenden verborgenen Fäden der Diplomatie in feiner Hand 
hält, mehr weiß von der zufünftigen Geftaltung des politifchen Lebens, ala 
andere, diejen höheren Regionen ferner ftehende Sterbliche. Oder daß aus 
natürlichen Anzeichen die Witterung des folgenden Tages fich beftimmen 
läßt, ift doch nod) fein Zufunftsblid, und auch da bleibt die Möglichkeit, 
daß ein unbeachteter Factor die ganze Berechnung ala falfch erweilt und ein 
unvorhergefehened Ereigniß der ganzen Sache eine von der erwartenden ganz 
abweichende Wendung giebt. Und wenn du aud glaubft, mit völliger Ge 
wißheit auf das zufünftige Verhalten felbft eines dir nahe Stehenden ſchließen 
zu fönnen, fo wirft du doch oft erfahren müſſen, daß das menfchliche Herz 
ein Faetor ift, mit dem fich ſchwer rechnen läßt, der eben unberechenbar ift. 
Aber von Möglichkeitd- und MWahrfcheinlichkeitsrechnungen ift auch nicht die 
Rede, fondern die Frage jtellt fi) fo: giebt e8 ein Wiffen um die Zukunft, 
welches nicht der Vermittlung durch gegenwärtige Verhältniffe bedarf? Kann 
ein Menfh die zufünftige Geftaltung von Dingen fchauen, deren gegen, 
wärtiger Stand ihm völlig unbefannt ift? Mir fönnen auf diefe Frage nur 
mit einem entjchiedenen „Nein“ antworten und höchſtens das Vorkommen 
von Ahnungen und dunklen Vorgefühlen zugeben, und je größer die Auf- 
klärung und je weiter die Fortfchritte des Geiſtes, defto milliger wird jenes 
„Nein“ zu geben fein. Kreilich fo Iange der Menſch noch in dem Zuftande 
des rohen Naturfindes lebt, welches von den feften, ewigen, wandelloſen Ge 
jegen nicyt3 weiß, nad denen alles natürliche Xeben fich entwickelt, deflen 
Phantaſie das Auffallende, Außerordentliche gleich ala das Wunderbare auf- 
faßt und diefe® Wunderbare liebt und gefliffentlih aufſucht, und deſſen Find- 
liher Sinn alle Erfcheinungen des Lebens, die fein in engen Grenzen fid 
bemwegender Geift nicht erklären Fann, ald unmittelbare, den Gang der Natur 
durchbrechende Einwirkungen höherer Mächte und dämoniſcher Kräfte anfieht, 
fo lange wird auch die natürliche Gonfequenz nicht ausbleiben, nämlich ſolchen 
auffallenden, unerflärten Ereigniſſen einen entſcheidenden Einfluß auf zukünftige 
Begebenheiten zuzufchreiben und in ihnen WVorbedeutungen deſſen zu fehen, 
was noch kommen fol. Ja je näher die Dinge dem Menfchen ftehen, an 
denen fich ſolches Auffälige zeigt, um fo gewiſſer wird in Ießterem das Be 
deutfame und die Zukunft Beftimmende erfannt, fo daß ein befonderes, un- 
gemöhnliched Verhalten von Thieren, ein Traum, ein merfwürdiged Zufammen: 
treffen von mwefentlichen oder unmefentlihen Begebenheiten die bedeutungsvollſten 
Momente für die Auslegung der Zukunft abgeben müfjen. Uber nicht jedem 
Sterblichen, fo urtheilt der Eindliche Glaube, ift es befchieden, ſolche Zeichen 
zu deuten und auf die gegebenen Verhältnifje anzuwenden; jondern die Gott- 
heit wählt fich ihre Organe aus, auf die fie einwirkt, aus denen fie felbit 
fpricht,, durch die fie fih offenbart, und wo dann ein Menfh an Geilt, 


163 


Talent, Klugheit vor Andern bervorragt, wo in fohmierigen, verwidelten 
2ebendverhältnifien ein guter Rath gegeben wird, der den Knoten löſt und 
die Wege ebnet, wo in ſchwärmeriſcher Begeifterung ein Ausſpruch gethan 
wird, durch den Zufünftiges offenbart wird, da ehrt noch heute der Findliche 
Sinn gläubig die Offenbarung der Gottheit und in der menfchlichen Perſön— 
fichkeit, die der Mund derfelben ift, fieht man den Vertrauten, den begnabeten 
Liebling höherer Mächte. 


Auch die griechifche Gefchichte berichtet und vielfach von folhen Männern, 
die fih rühmten, von den Göttern erleuchtet zu fein, und die darum in dem 
höchſten Anfehen ftanden, die größten Ehren genofjen und einen ganz be- 
deutenden Einfluß nicht bloß auf Einzelne, fondern aud auf das öffentliche 
Leben des Volkes und politische Verhältniffe hatten. Man nannte fie Seher. 
Ihre Kunft tft nach Plato eine zweifache, nämlich entweder eine natürliche, 
ungelernte,, infofern fie nicht eined Unterricht? bedarf, auch feine bejtimmten 
Regeln befolgt, fondern aus unmittelbarer göttlicher Einwirkung herrühtt, 
oder eine Fünftlihe, die ein gewiſſes Studium erfordert und erſt durch reife 
Grfahrung und langjährige Beobachtungen angeeignet wird. — Eine natür- 
liche Weiffagungsgabe, Theomantie genannt, war nicht ein in jedem Augen- 
bit gleihfam zur Verfügung ftehendes Gut, fondern brach nur bisweilen 
biisähnlih, aus unmittelbarer dämonifcher Einwirkung herrührend, hervor 
und zwar unter heftigen convulfivifhen Zudungen, in denen fi der von 
dem Dämon Ergriffene wie ein MWahnfinniger geberdete und in einem Zu- 
ande völliger Bemußtlofigkeit bald Worte ausftieß, die man ald Worte der 
Bottheit jelbft anfah, bald durch heftige Geberden den Willen derfelben an- 
deutete. Auf ſolche Weife mweiffagten z. B. die Sibyllen, fagenhafte Weiber, 
deren Drafelfprüdhe bei den Griechen, ganz befonderd aber auch bei den 
Römern *), in dem höchften Anfehen ftanden und deren Zahl gemöhnlich auf 
sehn angegeben wird. Auch Orpheus, der mythifhe Barde Griechenlands, 
fand angebli in vertrautem Umgang mit den Göttern und murde ihrer 
Dffienbarungen gewürdigt, wie er auch dur ihren Beiftand viele Wunder: 
werke, Kranfenheilungen u. |. w. vollbracht haben fol. Ueberhaupt aber 
wurde in den älteften Zeiten jede Begeifterung, jede höhere Begabung, jedes 
tiefere Wiſſen als Ausflug der Gottheit angefehen und mit dem Namen 
Theomantie“ bezeichnet. 

Meit bedeutungsvoller aber, weil allmählich zu einer förmlichen Wiſſen— 
ſchaft ausgebildet, ift jene Art der MWeiffagung, die mir oben eine Fünftliche im 


*) Bekanntlich foll der römifche König Tarquinius Superbus drei Bücher fibyllinifcher 
Beiffagungen von einer unbekannten Alten angefauft haben, nachdem diefelbe erft neun, dann 
nad) Berbrennung von bdreien die andern ſechs, und dann nad weiterer Berbrennung von 
dreien, die legten drei zu demjelben hohen Preiſe angeboten batte. 


164 


Gegenfa zu der natürlihen nannten. Sie fnüpft an irgend melde äußere 
Zeichen an, um aus ihnen auf die Zukunft zu ſchließen, und ed gehörte in der 
That ein nicht geringer Grad von Scharffinn und von Kenntnifjen dazu, um 
allen jenen Zeichen und Zufälligkeiten, die und völlig bedeutungslos erjheinen, 
einen tieferen Sinn und höhere Deutung zu geben. So wurde von jeher ein ganz 
befondereö Gewicht gelegt auf die Lebensart der Vögel, auf ihre Natur, ohne Rüd: 
fiht auf befondere Umstände, unter denen fie erfchienen, fo daß diefer Vogel ald 
ein glücverheißender, jener ald Unglüddbote angefehen wurde; oder auf die 
befonderen Berhältniffe, die ihr Erſcheinen begleiteten, ſodaß einer und derfelbe 
Bogel bald Heil, bald Unheil anzeigen konnte. Adler, Falken, Tauben, 
Schwäne, Hähne, Reiher galten im Allgemeinen ald glücverheigende Vögel; 
dagegen Beier, Habichte, Krähen, Naben (namentlih wenn diefelben z. ®. 
gierig im Kreis herum flatterten), Schwalben, Eulen u. f. w. wurden meiften® 
als Unglüdeboten angefehen. Doch konnten, wie gejagt, die begleitenden 
Umftände auch ein an und für fi ungünftige® Omen zu einem günftigen 
machen und umgekehrt. So mar das Verhalten der Vögel beim Freſſen, die 
Art ihres Fluges, namentlih aber ihr Gefang, der Gegenftand eifriger Be: 
obachtung, und ed bat denn auch niht an Männern gefehlt, welche fi 
rühmten, die Sprache der Vögel zu verftehen, z. B. Apollonius von Tyana, 
Demokritod® u. U. Daß den Vögeln eine ſolche Bedeutung zugefchrieben 
wurde, mag wohl darin feinen Grund haben, daß man glaubte, fie befämen 
durch ihr Wanderleben, durch ihr Umberflattern von einem Ort zum andern, 
mehr von den Dingen der Welt zu fehen und hätten daher von mancdherlei 
befjere Kunde, ald andere Gefchöpfe, die mehr an einen felten Ort gebunden 
feien und deren Geſichtskreis darum ein befchränkterer fei. Auch andere Thiere 
galten in ihrem Verhalten als bedeutungsvoll. Ameiſen follen dem phrygi- 
ſchen Könige Midas, wie er ald Kind in der Wiege lag, Getreideförner in 
den Mund getragen haben, woraus die Wahrfager den Schluß auf zufünf- 
tigen großen Reichthum deöfelben machten. Ein Bienenfhwarm foll dem Plato 
ald Kind Honig auf die Lippen gelegt haben, was auf die Macht der Rede, 
die einft von feinen Lippen fließen werde, gedeutet wurde. Auch Pindar, der 
große Iyrifhe Dichter der Griechen, foll, da er ald Kind audgefegt worden 
war, von Bienen mit Honig ernährt worden fein, in welchem Umftande man 
den Sangeszauber vorgedeutet ſah, mit dem er einft die Herzen entzüden 
werde. Unter anderen Thieren, welche als bedeutfam galten, nennen wir 
noch Heufchreden, Eber, Hafen, Schlangen und Kröten. Für höchſt bedeutfam 
und auf zukünftige Dinge in entjcheidender Weiſe einmwirkend galten ferner 
auch auffallende Naturerfcheinungen. Das Erſcheinen eined Kometen war 
ſchon den Griechen, wie noch heute dem ungebildeten, abergläubigen Bolfe, 
ein Bote furdhtbaren, allgemeinen Unglüds; mit gleicher Angft des Aber: 


165 


glauben® wurden Sonnen» und Mondfinfterniffe betrachtet, weil man ihre 
natürliche Erklärung nicht kannte; deßgleichen ſchloß man aus dem Weſen 
des Windes, aus Blitz, Donner, Erdbeben und anderen Naturerfcheinungen 
bald auf Glück, bald auf Unglüd. Eine große Rolle in der Prophetie der 
alten Griechen fpielten auch die Träume. Nicht jeder Traum aber 
wurde für bedeutfam in Bezug auf zufünftige Ereigniffe gehalten, fondern 
nur unter gewiffen Bedingungen ihm eine ſolche Bedeutung beigemejjen. Er- 
ſchien 3. B. dem Schlafenden im Traume ein Gott, fei ed in eigener oder in 
angenommener Geftalt, um jenem irgend etwas zu offenbaren, fo galt ein 
folder Traum in höchſtem Grade für bedeutfam und die Worte ded Gottes, 
die der Träumende gehört, ald untrügliche, unfehlbare Wahrheit. So be: 
wegte der von Zeus gefandte, in Neſtors Geftalt dem fchlafenden Agamemnon 
erfcheinende Traumgott Ießteren, fofort das Heer zu einer entjcheidenden 
Schlacht gegen die Trojaner zu rüften, da die Worte ded Traumgotted ihm 
Sieg in Ausſicht ftellten. Auch menn im Traum ein zufünftige® Ereigniß 
als im gegenwärtigen Augenblic eintretend gefhaut wurde, fo wurde an das 
einftige Eintreten desfelben mit zmweifellofer Gewißheit geglaubt. Hierher ge- 
hört der Traum Aleranderd, der ihm als feinen zukünftigen Mörder den 
Kaffander bezeichnete. Endlich legte man auch ſolchen Träumen eine tiefere 
Bedeutung bei, in denen fid) das zukünftige Ereignig in fymbolifcher oder 
allegorifcher Form darftellte. Ein folher Traum ängjtigte nah Sophofles 
Elektra die Klytämneftra ; der gemordete Gatte, Agamemnon, erfehien ihr im 
Zraume und bobrte den Herrfherftab, den er in der Hand hielt, in den 
Heerd ded Haufes ein, aus dem dann ein junges, frifches Neid hervorfproßte, 
von dem die ganze Stadt Mytenä befchattet ward. Diefer Traum wird von 
dem Chor fofort auf blutige Rache gedeutet, die in Drefted, Agamemnong 
Sohne, nahe. Auch jener Traum der Hekuba, der Gemahlin des trojaniſchen 
Königs Priamus, aus ihrem Schoofe werde ein Feuerbrand geboren, wurde 
ala allegorifch angefehen und von dem Wahrſager Aeſakos dahin erklärt, daß 
der erwartete Sohn (ed war Paris) dem Reiche den Untergang bereiten werde. 

Aus diefer Art der Weiffagung, die wohl an einzelnen Perfonen, keines— 
wegs aber einen beftimmten Ort gebunden war, entjtanden nun die Drafel, 
deren Eigenthümlichkeit eben darin beruht, daß ihre Weiffagungen nur von 
einem beftimmten Orte aus ergehen und mit diefem Drte in engfter Verbin: 
dung ftehen. Schon von einzelnen Sehern wird und erzählt, daß ihnen nad) 
ihrem Tode ein eigenes Orakel geweiht wurde, 3. B. von Kalchas, deſſen 
Drafel in Daunien auf dem Hügel Drium ſich befand, wo der, welcher feinen 
Kath begehrte, einen ſchwarzen Widder opfern und dann auf der Haut des— 
felben einfchlafen mußte. Die Entſtehungszeit der Orakel verliert fi alfo 
in dem fernften Ulterthum, über dem nur ein mythiſches Dunkel ruht, und 


166 


au in Bezug auf die Beſchaffenheit derfelben find die gefchichtlichen Quellen 
höchſt unfiher, da die alten Schriftfteller theils zu abergläubig find, um 
ein ruhiges, unbefangene® Urtheil über die Orakel zu fällen, theild zu un: 
gläubig, d. h. fo voll des Spottes und der fchärfiten Vitterfeit, daß Fein vor- 
urtheildfreier Standpunft von ihnen zu erwarten if. Wie dem aber aud 
fein mag, fo viel ift ficher, daß die Orakel Inſtitute von höchſter Bedeutung 
für das private, bürgerliche und nationale Leben der Griechen waren, und 
daß fie, wenn fih auch, namentlih in fpäteren Zeiten, viel abfichtliche 
Täuſchung und grober Betrug mit ihnen verband, doch von großem Segen 
geweſen find. 

Schon früher beftand bei den Griechen die Sitte, gewiſſe Gegenden und 
kleinere Plätze einzelnen Göttern ganz befonder® zu mweihen. Städte und 
Ränder ftellten fi unter den befondern Schu einer Gottheit und glaubten 
darum fich ihrer befonderen Huld erfreuen zu dürfen. Auch Haine, Quellen 
u. f. m. wurden öfters einer Gottheit geweiht und diefe lettere dann gerade 
dort bejonderd gegenwärtig gedacht. So wird und ſchon von Herkules (Soph. 
Trach.) erzählt, er Habe auf dem Vorgebirge Kenäon dem Zeus einen grünen 
Hain geweiht; eine Inſel unmeit Lemnos, wo Philofteted den verderblichen 
Biß erhielt, war der Chryfe gemeiht und erhielt von ihr den Namen; ein 
Hain bei Kolonos war den Eumeniden geweiht und wurde als ihr Wohnort 
gefürchtet. Gewöhnlich wurden an ſolchen Stellen der betreffenden Gottheit 
Altäre gebaut und an einigen fpäter auch Tempel, die dann als Sig und 
Heiligthum der Gottheit verehrt wurden und wo diefelbe durch den Mund 
der Wriefter, die fich ihrem Dienfte widmeten, fi offenbart. Auch jene Pro: 
pheten, die wir oben fchilderten, find oft Gründer fpäter fehr berühmter Orakel 
geworden. Sin der ſchwärmeriſchen Richtung ihres Weſens, getrieben bald von 
dem Streben, ungeftört dem Gott, der fie begeifterte, dienen zu können, bald 
freilich auch von dem egoiftifchen Zweck, den Auf einer befonderen Heiligkeit 
zu erlangen und dadurch bei dem Volke eined größeren Einfluſſes ſich zu ver- 
fihern, zogen fich Viele jener Propheten von dem Verkehr mit der Melt zu: 
rü in ein einfames, einfieblerifched Leben. Ein dunkler Hain, wo der Wind 
wie mit geheimnißvollen Götterftimmen durch die Wipfel der Bäume raufäte, 
eine Quelle, deren Gemurmel und Geplätjcher mie Geifterftimmen aus der 
Tiefe Elang, eine abgelegene Felfengrotte, von deren dunflen Wänden Geifter- 
nähe den Eintretenden anftarrte, gähnende Erdfpalten und Klüfte, aus denen 
beraufchende und betäubende Dämpfe aufftiegen, die Nähe der Gottheit an- 
kündigend, furchtbare Einöden, unwirthliche Gebirgäpartien, ſchauerliche 
Thäler, überhaupt Gegenden, die den Charakter des Ungewöhnlichen hatten 
und auf den Menſchen einen erhebenden, großartigen, oder auch ſchreckhaften, 
Furcht und Grauen einflößenden Eindruck machten — das waren die Orte, 


167 


die von jenen griebifchen Ginfiedlern aufgefucht wurden, wo fie nun 
in völliger Abgefchiedenheit lebten, allein beichäftigt, dem Gott zu dienen, 
für defien Organ fie fih hielten. Bald Fnüpfte fih an ihre Perſon 
ein Ruf befonderer Heiligkeit und der Gabe, die Zukunft zu enthüllen und 
denn Fragenden ihre fommenden Schickſale zu prophezeien. Bon nah und 
fern ftrömte nun das gläubige Volk herbei, um in fohmwierigen Lebenslagen 
ih Rath, über Bergangened Klarheit, über Zukünftige Gewißheit zu holen. 
Zahlreihe und koſtbare Gefcyenfe wurden aus Dankbarkeit an den Stufen 
des Altard niedergelegt und allmählich entftanden da, wo fonft Wildniß und 
Einöde war, die herrlichiten Tempelbauten, in deren Hallen ein buntes viel- 
geitaltiged Leben wogte. Der gottbegeifterte Seher, dem ein folcher Tempel 
jein Entftehen verdankte, fand dann in einer oft vielzähligen Priefterzunft, 
die fih dem Dienfte desfelben Gottes mweihte, feine Nachfolger, auf die fich 
diefelbe Gottederleuchtung vererbte. 

Auf folhe Weife werden die fpäter fo großartigen Orafelanftalten 
Griechenlands entitanden fein, und was anfangs mehr der Zufall hervorge- 
rufen hatte, das wurde fpäter in Eluger Berechnung gefliffentlich zu erhalten 
und zu erweitern gefucht und hat in der That einen das ganze private und 
Öffentliche VXeben des Volkes völlig beherrjchenden Einfluß gewonnen. Kein 
Grieche ging an ein irgendwie wichtiged Unternehmen, ohne zuvor dad Orafel 
um feinen Rath zu fragen, in Streitigkeiten wurde feine Schiedsſtimme an- 
gerufen, in Krankheitsfällen ſuchte man bei ihm Heilung; bei öffentlichen 
Wahlen fragte man dort an, auf wen ded Gotted Stimme fiele; Fein Krieg 
wurde erklärt, fein Friede gefchloffen, der nicht durch einen Orakelſpruch feine 
Sanction erhalten hätte, kurz nad) allen Richtungen des Lebens hin erftredte 
fih der Einfluß der Orakel. 

Unleugbar lag in diefem wichtigen Einfluß ein großer Segen. Wer e8 
bört , wie ein Orakelſpruch langjährige Streitigkeiten, die nur zum Nachtheil 
und Verderben beider Parteien mit Zähigfeit und Erbitterung genährt wurden, 
befeitigte; wie vortreffliche Rathſchläge häufig den Fragenden ertheilt wurden ; 
wie nur dur das Anfehen des Drafeld einem Lykurg und Solon möglid) 
wurde, ihre vortrefflihen, das allgemeine Volkswohl wichtig fördernden Ge— 
feggebungen und bürgerlihen Einrichtungen durchzuſetzen, gegen welche fd). 
jonft dad an feinen veralteten Inftitutionen und verjährten VBorurtheilen mit 
Zähigkeit hängende Volk ohne Zweifel aufgelehnt hätte; mie die Drafel der 
Sis und die Freiftatt der Weisheit waren, von wo aus heilfame Kehren, ala 
Götteraudfprüche doppelt hoch gehalten, in das Volk eindrangen: der wird 
von der einfeitigen Geringfhäsung und vornehmen Verachtung diejer ja frei- 
lich mit viel Aberglauben und abfichtlicher Täufchung behafteten nftitute 
zurüdfommen und gebührender Weiſe das Gute anerkennen, das fie für ihre 


168 


Zeit gewirkt haben, und fie für einen wichtigen Factor in der Entwidelungs- 
gefchichte der griechifchen Cultur anfehen. 

Was fie waren, find fie freilih nicht geblieben, und nachdem fie 
ihre Aufgabe erfüllt und fich audgelebt hatten, beginnt auch ihr Verfall. Schon 
frühe mag es vorgefommen fein, daß dieſes oder jened Drafel, diefer oder 
jener Prieſter desfelben anfing, fich für feine Ausfprüche beftechen zu lafien, 
oder durch offenbare Betrügereien die Teichtgläubige Menge zu täufchen. Hier- 
her gehört ſchon das VBeftreben der meiften Orakel, ihren Ausſprüchen eine 
ganz unbeftimmte, vieldeutige Form zu geben, oder hinter Wortfpielen, 
Doppelfinnigkeiten, Zmeideutigfeiten den Mangel an rechter Erfenntniß und 
flarem Blick zu verbergen. Aus fpäterer Zeit werden aber auch ausdrücklich 
einige Fälle berichtet, au8 denen die Verderbtheit und Depravation der Orakel 
zur Genüge hervorgeht. So erzählt Herodot, daß Kleomened, König von 
Sparta, um feinen verhaßten Mitregenten Demaratus zu jürgen, das Del- 
phifche Drafel beftochen habe, die Spartaner auf ihre Anfrage, ob Dema- 
ratus ein Sohn des Arifto ſei, oder ob die vorhandenen Zweifel an der Ehe— 
lichkeit feiner Geburt berechtigt feien, in letzterem Sinne zu entjcheiden, mas 
zur Folge hatte, dag allerdings Demaratus abgefest wurde. Der Leiche des 
Pauſanias, deffen Berrätherei und elendes Ende befannt ift, wurde anfangs 
ein ehrenvolled Begräbniß verfagt; in Folge eines durch Geld erfauften Orafel- 
ſpruchs dagegen wurden feine Gebeine vor dem QTempel, in dem er fein Ende 
gefunden, feierlich beftattet. ine großartige Betrügeret wird und auch von 
Lyſander erzählt, der nämlich beabfichtigte, die ganze Staatdverfaffung feines 
Volkes umzuftürzen, und dazu die Mithülfe des Delphiſchen Orakels durch An- 
wendung feiner Autorität begehrte, die ihm auch völlig gewährt wurde. 

Menn aus diefen Beiſpielen, die fich leicht vermehren ließen, einee- 
theild deutlich hervorgeht, mie tief die Drafel im Kaufe der Zeit gefunfen 
waren, jo muß es andererfeit® um fo mehr Wunder nehmen, ie troßdem 
diefe Anftalten nod Jahrhunderte lang in großem Anſehen ftehen Eonnten, 
und wie e8 Fam, daß nicht längit dem Volke die Augen geöffnet wurden. 
Doch wenn man bedenkt, wie tief abergläubige Borftellungen im Bolfe wur: 
zeln und wie leicht es ift, auch einen einmal ein wenig erfehütterten Glauben 
bei demfelben wieder zu befeftigen ; wie wenig verbreitet damald noch die Bil- 
dung im Wolfe war und einen wie Fleinen Kreis das Licht der Philofophie 
befchten; welch ein Sinterefje die Vornehmen und Hocftehenden hatten, das 
Volk in feinem Aberglauben und auf feiner niedrigen Bildungsſtufe zu er 
halten und den Glauben an die Unfehlbarkeit der Drakelfprüche, die fie felbit 
belachten und verfpotteten, zu nähren; wie endlich auch bei Vielen, die fih 
in einzelnen Fällen von der feilen Beftechlichfeit und Augendienerei der 
Orakel überzeugt hatten, dennoch) eine gewiſſe Pietät und ein gewiſſer Refpect 


169 


vor der Ehrwürdigkeit der Gottedausfprüche noch herrſchte, der natürlich noch 
fi erhöhte und für lange Zeit aufs Neue feft gegründet war, wenn einmal 
ein Spruch zufällig in Erfüllung ging: fo kann e8 und nicht mehr befremden, 
da diefe Drafelanftalten noch in Anſehen und Blüthe ftanden zu einer Zeit, 
da die MWeltgefchichte längſt über fie zur Tagesordnung übergegangen mar. 
Yuf die Dauer freilich Tonnten fie dem Geſte der Zeit, der mehr und mehr 
fh geltend machenden Gelbitändigfeit des Denkens, der meiter fich verbrei- 
temden Aufklärung und Bildung nicht mehr Widerftand leiften und mußten 
jllen, wie Alles fällt, ob's auch noch fo fiher und prunfend dafteht, was 
auf den Sand kindlichen Weſens, thörichten Aberglaubend und menfchlichen 
Gigennuße3 gebaut ift. 

Betrachten wir nun noch in Furzen Zügen die beveutendften Drafelan- 
falten Griechenlands in ihren befondern Eigenthümlichkeiten. 

Eines der älteften Drafel Griechenlands war zu Dodona, einem Orte 
in Epirud. Die Sage über die Entjtehung deöjelben tit folgende. Zwei 
Zauben , welche der Thebe, einer Tochter des Zeus, gehörten und die Gabe 
menjhlicher Sprache hatten, flogen von Theben in Aegypten aus. Die eine 
kam nach Libyen und ftiftete dort dag Ammoniſche Drafel, die andere nad) 
Epirus und ließ fi dort auf einem Eichbaum nieder, von dem aus fie die 
Einwohner, welche Sellen genannt wurden, (Soph. Trach. V. 1139) auf- 
forderte, dem Zeus zu Ehren an eben der Stelle ein Orakel zu ftiften. Da 
nah Strabo die ägyptiichen Priefter behaupteten, daß zwei Priefterinnen ihren 
Gultus nad Libyen und Epirus verpflanzt hätten, und da ferner in der 
Sprache der alten Völker von Epirus dasfelbe Wort Tauben und alte Weiber 
bedeutet, fo wird ed wahrſcheinlich, daß Hier eine Verwechſelung vorliegt und 
der Sinn jener Fabel der ift, daß das Dodonifhe Drafel zuerft durch ägyp- 
tiſche Priefterinnen geftiftet fei, die in dem heiligen Haine bei Dodona ihre 
Beiffagungen ertheilten. Aus legterem Umftande bildete ſich dann die fernere 
Sage, die Eihbäume jenes Haines Fünnten reden, mie denn auch behauptet 
wird, das Schiff der Argonauten, welches aus Eichſtämmen jened Haines 
gezimmert war, habe die Gabe zu reden und zu meilfagen gehabt. Die 
Priefterinnen des Zeus, melde in dem Haine, den fpäter ein Tempel zierte, 
weillagten, fuchten den Willen ihres Gottes auf fehr verſchiedene Weiſe zu 
erforfchen. Bald horchten fie auf das Gefäufel ded Windes, der die Wipfel 
der Eihbäume bewegte, bald auf das Gemurmel der Quelle, die aus dem 
Boden hervorfprudelte, bald auf das Geräufh, das durch das Zufammen- 
Ihlagen mehrerer um den Tempel hängender Fupferner Becken entjtand, bald 
auf die Töne, die eine Figur dadurch hervorbrachte, daß eine aus drei Metall. 
fetten beftehende und mit Metallfnöpfen beſetzte Peitſche, die fie in der Hand 


hielt, wenn fie vom Winde bewegt wurde, an ein daneben u ehernes 
Grenzboten IV, 1874. 


170 


Gefäß ſchlug; bald endlich auch entſchied das Loos, indem Zetteldhen oder 
Würfel aus einer Urne gezogen wurden. Das Dodoniſche Orakel gehörte zu 
den gefeiertſten des Alterthums, was die zahlloſen Weihegeſchenke, die den 
Tempel ſchmückten, bewieſen, bis die Götter nach Strabo's Bericht, der zur 
Zeit des Kaiſers Auguſtus lebte, es verließen. 

Den erſten Rang unter allen nimmt aber unſtreitig ein das Orakel zu 
Delphi in Phoeis am Fuße des Parnaſſos, der ſich Hier in zwei Berg— 
gipfel zertheilte (Soph. Ded. Tyr. V. 458). In der Stadt, die mit ver- 
ichmwenderifcher Pracht gebaut war, befanden fi die herrlichſten Baumerfe 
und Denkmäler der Kunft. Unter allen aber ragte hervor der berühmte, 
herrliche Tempel des Apollo, der hier an der Stätte des alten Orafeld Apollos 
entitanden und von den Gejchenken derer, die fich hier Rath und Licht geholt 
hatten, angefüllt war. Diefem Orakel allein verdankte Delphi aud feinen 
Ruhm und Glanz. In welchem Anſehen dieſer Ort bei allen Völkern ftand, 
geht auch aus dem Umftande hervor, daß er ald der Mittelpunkt der Erde 
angefehen wurde, weßhalb Dichter, z. B. Sophofled im Ded. Tyr. B. 866, 
ihn den Nabel der Erde nennen. Diefe Anfiht gründet fih auf die Fabel, 
Zeus habe einft, um die Mitte der Erde zu beftimmen, zwei Adler, den einen 
von Abend, den andern von Morgen ber, fliegen laffen und diefelben feien 
zufammengetroffen an der Stelle, wo fpäter Delphi ftand. In dem Tempel 
befanden ſich auch Marmorplatten, welche genau die Stelle bezeichneten, die 
man für den Mittelpunft der Erde anſah. 

Die Stadt Delphi hatte Anfangs den Namen Pytho zur Erinnerung 
an den Drachen Pytho, den hier Apollo getödtet hatte. Daher wurde der 
Drt im Tempel, wo eigentlich geweiſſagt wurde, Pythium, die PBriefterin, 
durch deren Mund fi) Apollo offenbarte, Pythia und Apollo felbft Pythius 
genannt. Jenes Pythium war eine tiefe Erdhöhle, aus der fortwährend ein 
mepbitifcher Dampf aufftieg. Ueber diefer Dunfthöhle, um welche herum der 
Boden erhöht war, damit der Dunft den Naheftehenden nicht ſchade, fand 
ein fogenannter Dreifuß, der völlig mit Torbeerzweigen und Kränzen bededt 
war, fo daß der gefährliche Dunft fi nicht nach außen verbreiten fonnte. 
Wie diefer Dreifuß, deffen drei Füße übrigens Apollos Wiffen um Vergangen— 
heit, Gegenwart und Zukunft ſymboliſch andeuten follten, eigentlich befchaffen 
war, läßt fi nicht mit Gewißheit jagen. Bald befchreibt man ihn als ein 
Gefäß, auf dem die Pothia ſaß und durch welches diefer der Dampf in den 
Unterleib flieg, um dann aus ihrem Munde, mit wetffagenden Worten ver- 
bunden, wieder herauszukommen; bald als einen weiten Keffel, in den die 
Pythia hinabtauchte, um durch den auffteigenden Dampf in den Zuftand der 
Betäubung oder Verzücdung verjegt zu werden, der zum MWeiffagen erforderlich 
war; bald als einen mit einer Oeffnung verjehenen Topf, in dem fich kleine 


— 
171 


Steindhen befanden, die durch die aufwärts ftrömende Dunftfäule gefchüttelt 
wurden und aus deren eigenthümlichen Bewegungen die Pythia ihre Weiſſa— 
gungen entnahm; wahrfcheinlich ift e8 aber nur ein einfacher, mit drei Füßen 
verfehener Sit gemwefen, von dem aus die Pythia ihre Weiffagungen gab. 

Anfangs wurde der Dienft der Pythia jedesmal nur von einer einzigen 
Jungfrau verfehen , die -zuerft in jugendlichen, fpäter in reiferem Alter ftehen 
mußte und gewöhnlich nach ihrer Herkunft aus der Umgegend von Delphi 
tammte und den niedrigften Ständen angehörte. Später, als die Frequenz 
des Orakels zunahm und eine Perſon den Dienft nicht mehr bewältigen 
tonnte, wurden immer drei Pythien eingefeßt, die der Neihe nad) die Fune— 
tionen ihres Amtes übten. Bevor die fungirende Pythia den Dreifuß beitieg, 
um des Gottes Dffenbarungen zu empfangen, nahm fie ein Bad in der nahen 
Quelle Kaftalia, ſchmückte fih das Haar mit Lorbeerkränzen und pflüdte 
auch von einem nahe bet der Höhle ftehenden Lorbeerbaume einige Blätter 
ab, die fie verzehrte. Dann zeigte ſich auch fehr bald an ihr die Wirkung 
des Dampfes, der aus der Höhle zu ihr aufftieg. Sie gerieth durch denfelben 
allmählich in einen förmlichen Paroxysmus, ihre Glieder zitterten, ihr An- 
geficht glühte fieberhaft, ihre Augen traten faft aus ihren Höhlen und fun- 
felten unheimlich, kalter Schweiß bededte ihren Körper und Schaum trat aus 
ihrem Munde, faft erftidt von dem betäubenden Dunfte und feftgehalten auf 
ihrem Site von den Händen der Priefter, brach fie endlich In ein förmliches 
Wuthgeheul aus, in dem man nur einzelne abgebrocdhene Worte unterfchied, 
die von den Prieftern forgfältig aufgezeichnet, fpäter in Zufammenhang ge 
draht und den Fragenden ald Antwort des Gotted gegeben wurden. Diefe 
Sprühe ded Drafeld murden gewöhnlich in herametrifchen Verſen ertheilt 
und waren oft doppelfinnig und zmeideutig, ſtanden aber binfichtlih ihrer 
Zuverläffigkeit in höchſtem Anſehen, bis überhaupt mit der zunehmenden 
Aufklärung der Glaube an die Drafel mehr und mehr abnahm. 

Auf der Inſel Delod, einer der Cykladen im ägätfchen Deere, von der 
die Sage erzählt, dag fie einft ein auf dem Meere ſchwimmender, Eahler und 
unfruchtbarer Felſen geweſen fei, aber ſeit Latona bier die Götterfinder 
Apollo und Artemis geboren habe, auf Säulen ruhe, die von den Grund» 
feiten der Erde aufftiegen, befand fich gleichfalld ein gefeiertes Orakel des 
Apollo. Ein mit vielen Bildfäulen nnd Altären geſchmückter Tempel war 
bier dem Apollo erbaut, in welchem ſich auch die berühmte colofjale Statue 
des Gottes befand. In welcher Weiſe bier die Orakel ertheilt wurden, ift 
nicht befannt, doch gehören die Sprüche des Apollo von Delos zu den zu— 
verläffigften und Elarften. Mebrigend wurden diefelben nur im Sommer er: 
tbeilt, da Apollo nad) der Mythe im Winter fi in Lyeien aufbielt, um dort 
auch Orakel zu ertheilen. 


172 


Unmeit Milet ftand der Tempel ded Apollo Didymäus mit dem Drafel 
der Branchiden, welches unter den ältejten Drafeln Griechenlands genannt 
wird und auch noch in den erften Jahrhunderten der chriftlichen Zeitrechnung 
Spuren feine Eriftenz und Wirkfamkeit zeigt. Den Beinamen Didymäus, 
d. h. Smilling , hatte Apollo ald Zwillingsbruder der Urtemid. Die 
Brandiden, eine vornehme Milefifhe Familie, weldhe ala Inhaber des Orakels 
genannt werden, leiten ihren Urfprung ber von einer mythiſchen Perfönlichkeit, 
Namens Branchus, der fih der befonderen Gunft des Apollo zu erfreuen 
hatte und von diefem in feinen Tempel aufgenommen murde mit der 
Beftimmung, daß ihm nad) feinem Tode göttliche Ehre erwieſen werden folle. 
Aus der Geſchichte ded Orakels ift zu merken, daß zur Zeit der Perſerkriege 
der Tempel des Apollo, in dem die Orakel ertheilt wurden, geplündert und 
verbrannt wurde, indem die Priefter, die aus der Familie der Brandhiden 
ftammten, ihn verrätherifcher Weiſe den Feinden überlieferten. Die Milefier 
bauten fpäter den Tempel wieder auf und zwar nach einem fo weit und 
großartig angelegten Projeete, daß er nicht vollendet werden Eonnte. Das 
Drafel wurde vielfach von den Aeoliern und Joniern befragt und erfreute fi 
in der öffentlihen Meinung fogar des erften Ranges nad dem Delphifchen, 
wovon auch die großen Schäte und Koftbarkeiten, die ihm gehörten und von 
der Dankbarkeit der zahlreihen Beſucher herrührten, Beweis find. 

An der Spige ded Priefterperjonald von Didyma ftand der Stephanophorug, 
der bei den Berrichtungen feined Amtes, wie der Name befagt, eine Krone 
trug; die fpecielle Leitung ded Drafeld war das Amt des Propheten, der 
durch das Loos ernannt wurde, über die Verwaltung ded Tempelſchatzes 
waren die Beifiger gefegt, deren Zahl nicht immer gleich gemwefen zu fein 
ſcheint. Was die Drafelceremonten betrifft, jo wird nur berichtet, daß die 
felben ſich an eine Eleine, heilige Quelle Enüpften, die bei Didyma entjprang 
und daß die Weiffagungen in enthufiaftifcher Weiſe ertheilt wurden, nämlich 
jo, daß ein Weib, welches in der erwähnten Quelle die Säume ihres Ge 
wandes und ihre Füße benegte und die aus derjelben auffteigenden Dünfte in 
fi fog, ald Medium der Offenbarung gebraucht wurbe. 

Ein Drafel in Lebadia hatte feinen Namen von einem gewiſſen Tro— 
phonios, der mit feinem Bruder Agamedes ein berühmter Baumeifter war 
und mit demfelben die Apollotempel zu Chryfa und Delphi erbaut haben 
fol. Auch bauten die Brüder einem gewiſſen Hyrieus in Böotien ein Gr 
bäude, worin derfelbe feine Schätze aufbewahren wollte Die verſchmitzten 
Brüder festen einen Stein in die Mauer fo ein, daß ‚er bequem heraus: 
genommen werden Eonnte, und benugten die Deffnung, welche ſpurlos wieder 
verfchloffen werden Fonnte, um bei Nacht einzufteigen und von den Schäßen 
des Hyrieus zu jtehlen. Letzterer ließ, da er die geheimnißvollen Diebereien 


173 


merkte, Schlingen legen, in denen fih Agamedes fing, während Trophonios, 
nahdem er, um nicht verrathen zu werden, feinem Bruder den Kopf ab- 
gefhnitten und in feinem Mantel verborgen hatte, nach Lebadia floh, mo in 
einem Haine ihn die Erde verfhhlungen haben fol. — Wahrſcheinlich aber 
hat er fich felbft eine unterirdifche Höhle zu feinem Verſteck gewählt, fpielte 
hier den Wahrfager und wurde nad feinem Tode unter den Namen Zeus 
Trophonios göttlich verehrt. Uebrigens Fam dieſes neue Drafel erſt durch 
einen Delphiſchen Drafelfpruh in Aufnahme Die Böotier Hatten fih in 
Folge einer großen Dürre an dad Delphifche Drakel um Rath gewandt, er- 
hielten aber von demfelben die MWeifung, den Trophonios in Xebadia aufzu- 
juhen. Lange wurde vergeblich gefucht, bi8 ein Bienenfhwarm den Meg 
und jene Höhle des Trophonios zeigte, wo ſich Spuren von Götternähe 
fanden und ihnen befriedigende Untwort wurde, zugleich mit der Anmweifung, 
wie künftig Trophonios zu verehrten und um Rath zu fragen fei. Später 
wurde hier ein Tempel gegründet. Das eigentliche Drafel befand fi in 
einem Haufe, in welchem eine merkwürdige Höhle war. Bor derfelben war 
ein Borhof, den ein Marmorgeländer umgab; aus vdemfelben trat man in 
eine gewölbte Felfengrotte, und von diefer führte eine enge Schludt in eine 
unter derfelben befindliche unterirdifhe Höhle, welche das dunkle, dumpfe 
Aryton genannt wurde, Sobald der Rathfragende in diefe enge Schludht 
fine Füße hineinzwängte, wurde er plößlicy mit reißender Gewalt wie von 
einem Wirbel erfaßt und in die dunkle Tiefe hinabgezogen. Auf diefelbe 
Beife beförderte die verborgene Mafchinerie denjelben wieder herauf und warf 
ihn im bemußtlofen Zuftande auf den Boden der oberen Feljengrotte nieder. 
Bolte Jemand den Gott um Rath fragen, jo Hatte er zuvor verfchiedene 
Geremonien durchzumachen: ein kaltes Bad in dem nahen Fluſſe Hercyan, 
Enthaltung von Wein und anderen Speifen außer dem Fleiſche der dar: 
gebrachten Dpferthiere, in der legten Naht Opfer eines Widders, deſſen Ein- 
geweide über die Annahme oder Zurücdweifung ded Fragenden entfchieden, 
dann ein legted Bad im Hercyan und ein Trank aus den Quellen Lethe 
ſd. 5. Bergeffenheit, nämlich alled VBergangenen) und Mnemofyne (d. h. Ge 
dächtniß, nämlich für das, was ſich in der Höhle ereignen würde). Erſt nach— 
dem alle diefe Stadien durchgemacht waren, durfte der Fragende und zwar 
ganz allein die Grottenfapelle des Gottes betreten, wo er fein Gebet ver: 
tichtete, um dann durch den engen Schlund in das unterirdiſche Adyton 
hinabzufahren. Hier hörte derfelbe, umgeben von dicker Finfternig und in 
bald bewußtlofem Zuftande liegend, geheimnigvolle Stimmen, oder ſah ge- 
Ipenftifche Erjcheinungen, aus deren Geberden oder Bewegungen die Antwort 
auf feine Frage zu entnehmen war. Sobald er nad) fürzerem oder längerem 
Aufenthalte wieder an das Tageslicht gekommen war, murde er von den 


. 


174 


Prieftern ded Trophonios auf einen Stuhl geführt und gefragt, mas er ge 
hört und gefehen habe. Seine Antworten, in einem Zuftande von Betäubung 
und Geiftedverwirrung gegeben und dictirt in dem Entfeten über das Gräf- 
liche der gehabten Erfeheinungen, galten ald Dffenbarungen des Gottes. 

Die Orakelgrotte des Trophonios ift noch heute unmeit Lebadeia zu 
fehen und fcheint fpäter die Kripte einer chriftlichen Kirche geweſen zu fein, 
deren Ruinen noch jet vorhanden find. 

Bei Pateä in Achaja war ein dem Apollo geweihter Hain und nit 
weit davon ein Tempel der Ceres, vor welchem eine Quelle entjprang, durd) 
welche die Göttin, befonderd mit Bezug auf Krankheiten, Enthüllungen gab. 
Man befragte diefed Orakel, indem man einen Spiegel an einem Faden in 
die Höhlung, aus der die Quelle entfprang, hinab ließ, jedoch fo, daß er nur 
eben die Oberfläche des Waſſers berührte, und dann, nachdem man der Göttin 
geopfert und zu ihr gebetet hatte, die Zeichen und verfchlungenen Linien und 
Figuren beobachtete und zu deuten fuchte, welche ſich in dem heraufgezogenen 
Spiegel zeigten. 

Zu Dropuß in Böotien, wo ein Tempel ftand, der dem Mahrfager 
Amphiaraos geweiht war, war ein Orakel, das von diefem den Namen hatte. 
Wer die Enthüllungen des Gottes begehrte, hatte fich während drei Tagen 
des Meine und am lebten Tage auch aller Speifen zu enthalten, dann 
wurde ein Widder geopfert, in das Fell desfelben gehüllt legte der Fragende 
fih zum Schlafe nieder und erfuhr im Traume ded Gottes Auskunft. Sei— 
nen Tribut für diefelbe mußte er in Geftalt von einigen Münzen in eine 
nahe heilige Quelle werfen. 

In der Nähe von Epidaurus, einer bedeutenden Stadt in Argolie, 
befand fih auf dem Gebirge Arachnäon der berühmte Tempel ded Aesculap, 
der Sahr aus Jahr ein von nah und fern Taufende von Kranken und Ge 
brechlichen herbeilocte, die hier Genefung oder doch Linderung ihrer Leiden zu 
finden hofften. In der Regel wurden denfelben zweckmäßige Arzneimittel bei 
häufiger Bewegung in der frifchen, gefunden Luft der Umgegend und ent: 
Iprechende Diät verfohrieben, in manchen Fällen aber, wo ihre Kunft und 
Wiſſenſchaft nicht ausreichte, gebrauchten die Priefter des Aesculap auch an- 
dere Mittel, um ihre Patienten zu beruhigen. Sie liegen diefelben fid in 
einem großen Saal verfammeln und ermahnten fie, nachdem die für den Tempel 
beftimmten Opfer auf einem Tiſche niedergelegt waren, ſich dem Schlaf hin- 
zugeben und aud) bei etwa entjtehendem Geräuſch fi ganz ftill zu verhalten, 
da Aesculap fich ihnen in Träumen offenbaren werde. Häufig vernahmen 
denn auch die Kranken, wenn der fie begleitende Priefter mit den Opfer 
gefchenken ſich entfernt hatte, Stimmen, welche fie für die Uesculaps hielten, 
der durch diefelben ihnen die Mittel der Heilung angab. 


175 


Auch der ſchon oben erwähnte Orpheus fol in Lesbos aus einer 
Höhle Orakelſprüche ertheilt haben, welche fogar anfingen, den berühmten 
Drafeln Apollos Concurrenz zu machen. 

Endlich notiren wir noch kurz, daß au in Klaros, einem Fleden in 
Jonien, ein berühmter Tempel des Apollo mit einem Drafel fich befand, au 
ein Drafel in Bura, einem Orte in Achaja, erwähnt wird, desgleichen ein 
andered in Thalamiä, einer Stadt in Lakonien. Leber diefelben fehlen 
aber die genaueren Mittheilungen und fo ſcheinen fie nicht die Bedeutung ges 
habt zu haben, deren ſich die anderen, ausführlicher befchriebenen, erfreuen 
durften, die doch auch dahinfinken mußten, überwunden von dem fortfchrei- 
tenden Geifte der Zeit, und nur in ihren Trümmern no an die Zeit ihrer 
Größe erinnern. 


Charles Wolfe. 


Skizze feines Lebens und Dichtens. 
Von Guſtav Haller. 
Schluß). 


Bevor wir uns nun zu Wolfe's übrigen Dichtungen wenden, treten wir 
ver Perſon des Dichters ſelbſt etwas näher. 

Charles Wolfe war der jüngſte Sohn einer angeſehenen iriſchen 
Familie, die zu ihren Vorfahren den bei Quebeck gebliebenen General James 
Wolfe zählte. Er wurde am 14. December 1791 zu Dublin geboren. Sein 
Vater ſtarb früh, und feine Familie zog nach England, wo fie einige Jahre 
vermeilte. Er befuchte, oft Eränfelnd, von 1801—1808 drei Schulanftalten 
in England und zeichnete fich ſchon dort durch poetifche® Talent und feines 
Gefühl für Muſik aus. Im Jahre 1809 bezog er die anglicanifche Univerfität 
in Dublin, und 1814 wurde ihm der Grad eine Baccalaureus ertheilt. Aus 
den nun mit Eifer betriebenen Arbeiten zur Bewerbung um eine Gollegiat- 
elle, die ihm eine geficherte Eriftenz bieten follte, rief ihn die Einladung zu 
einer befreundeten Familie auf Land. Hier waren ed nicht nur die Schön- 
heiten der Natur, die ihm die Rückkehr an den Arbeitstiſch erſchwerten: eine 
Tochter des Haufes hatte fein Herz gefeffelt, und er begegnete feiner Abnei— 
gung von ihrer Seite. MWiederholte Beſuche führten zum freundichaftlichen 
Verkehr mit allen Familiengliedern, — da brachen die Eltern den Umgang 
ab. Allerdings fehlten dem Dichter die Mittel, fich einen Haudftand zu grün. 


176 


den, und feine Ausſichten lagen im weiteſter Ferne. Weber die Mahl eines 
beitimmten Berufes bis dahin ſchwankend, midmete er fi nun dem geiftli- 
hen Stande. November 1817 *) fand feine Ordination ftatt. Ihr folgte 
bald die Uebertragung der Randpfarre zu Ballyelog (Tyrone) im wördlichen 
Irland. Schon wenige Monate fpäter erhielt er die Piarrftelle des nabe- 
gelegenen Kirchipield Donoughmore in der Didcefe Armagh; in dem Haupt: 
dorfe derfelben Gaftle» Caulfield nahm er feinen Wohnſitz. Mit freudigem 
Ernite feste er für die Amtäpflichten im feinem verwilderten und weitaus— 
gedehnten Pfarrfprengel all feine Kräfte ein. Seine Berfon Fam dabei nie 
mals in Betracht. In dem Kleinen Pfarrhaufe herrſchte die vollftändigite 
Bernahläffigung aller Bequemlichkeiten ded Lebende. Die Poefie war ab- 
getban und night minder jeder Gedanfe an eine Heirat. Im Jahre 1820 
wurde der Norden Irlands vom Typhus heimgeſucht. Wolfe's unermüdlicher 
Eifer, den armen Kranken mit Teiblicher und geiftlicher Hilfe beizuftehen, 
untergrub ihm die eigene Gefundheit. Ein anfänglich vernachläffigte® Bruft: 
letden nöthigte ihn bald zu völliger Ruhe. Ortswechſel innerhalb Irlands 
und auch ein Aufenthalt in Bordeaur brachten nur vorübergehend einige 
Hoffnung auf Genefung. Ende November 1822 nahm er einen milderen 
MWinteraufenthalt an der Bat von Corf und ftarb dafelbft am 21. Februar 
1823, im 32. Jahre feines Lebens. 

Sein Bruftbild, „engraved by H. Meyer from a Drawing by J. J. Russell. 
(1826) ift den „Remains“ vorgebeftet. Danach mar er von großer fchlanfer 
Geftalt. Sein Kopf zeigt ein ſchönes, tiefed und Fluges Auge, eine lange, 
ipige, nur wenig gebogene Naje und einen nicht gerade jchönen, ziemlich 
großen Mund, 

Als Geiftlicher verband er mit dem Eifer eined WUpofteld eine vorzügliche 
Begabung für Predigt und Seelforge. Die „Remains“ enthalten (Pag. 213— 
447) fünfzehn „Sermons* von ihm, die ein ſchönes Zeugniß von feiner herz. 
warmen und beredten Predigtweiſe ablegen. 


Sein Freund Ruſſell fehilvert ihn in den „Remains* als eine erregbare 
Feuernatur. Bei Ausbrüchen der Bewunderung, z. B. über ein Meifterftüd 


*) In diefem Jahre fol nah Chambers („Cyclopaedia of English Literature‘) 
„The Burial of Sir John Moore‘ zuerft — in jener irifchen Zeitfhrift — gedrudt fein. In 
den „Remains" fehlt die Jahreszahl. Gedichtet ift es doch wohl unmittelbar oder bald nad 
Erſcheinen des Berichtes im „Edinburgh Annual Register,“ als die Erinnerung an Moore 
noch lebendig war. — Daf Chambers ferner die betrügerifche Aneignung des Gedichtes von 
Seiten eine® fhottifchen Gelehrten in das Jahr 1841 verfegt und hinzufügt, Wolfe's Freunde 
bätten deffen Anrecht verfochten und rebabilitirt, erfheint noch rätbielhafter, da Ruſſel dies in 
den 1826 in zweiter Auflage erfhienenen „Remains“ als bereits abgethan beſpricht. Es ifl 
doch wohl nit anzunehmen, daß auch nach dem Erfcheinen der „Remains“ fich diefelbe Sacht 
zum zweiten Male ereignet bat. 


177 


mie Thomas Campbell's „Hohenlinden“, ein dem „The Burial* verwandtes 
Gedicht, konnte er, oft zum höchlichen Ergögen feiner ruhigern Freunde, in 
die Iebhafteften Gefticulationen gerathen. Beim Xefen oder wenn etwas vor 
feine Seele trat, was feine Phantafie mächtig erregte, fprang er wohl von 
feinem Site auf, den Stuhl zur Seite ſchleudernd; dann fehritt er im Zim- 
mer auf- und nieder, feiner Erregung in wiederholten Ausbrüchen des Ge- 
fühl® und unter den lebhafteften Geberden freien Lauf laſſend. Nicht? brachte 
jolhe Ausbrüche heftiger hervor, ald Muſik. Er war ein feiner Mufikfenner 
und indbefondere ein großer Verehrer Händel’. Vorzüglich glücklich war er 
im Erfafjen des Geiftes und Charakters eines einfachen Liedes oder einer 
Volksmelodie. Diefer Umftand führt und auf die Entftehungsmeife einiger 
feiner [hönften Dichtungen. 

Die Melodie eines fpanifchen Nationalliede® „Viva el Rey Fernando“ 
hatte ihn fo ergriffen, daß er fie fort und fort fang, bis ganz ungefucht bei 
ihm ein englifcher Tert entitand, der ſich der Weife bewundernswerth an- 
ſchließt. Das ift fein „Spanish Song“ (Remains p. 37), den Gisbert Frei- 
hberrBinde* und 2 ouifev. Ploennies“) ind Deutſche übertragen haben. 

Eine andere Melodie, die ihn befonderd ergriff, war die trifche Volks— 
weife „Gramachree*“. Er meinte, e8 wären niemald® Worte gefchrieben, die 
feiner $dee von dem eigenthümlichen Pathos entfprächen, das die ganze Mufif 
durchzöge, allen bisherigen mangele die Individualität de Gefühls. Diefer 
von ihm tief empfundene Mangel eines charakteriftifchen Textes ließ ihm feinen 
ergreifenden Song: If I had thought thou could’st have died“ (Remains 
p. 42) fhreiben, den Karl Elye***) in einem getreuen Abdrude bietet. (Deutſch 
a. a. D. bei Binde ©. 267, beit Ploennied ©. 142.) Hier die Ueberſetzung 
von Binde: 

Ich wein’ um dich, weil ich vergaß, 
Der Menſchen Loos fei dein: 

Wie dacht’ ich, wenn ich bei dir ſaß, 
Du könnteſt fterblich fein! 

Mir kam c8 niemals in den Sinn, 
Daß einft e8 anders wär’, 

Wo du auf immer gingft dahin 
Und lächelteſt nicht mehr. 


*) In: „Rofe und Diſtel. Poefieen aus England und Schottland, übertragen von 
Giebert Freiheren Binde. Zweite vermehrte Auflage. (Weimar 1865)", ©. 265. Dieſes ſchöne 
Buch enthält Wolfe's Gedichte faft fammtlich überfegt und zwar meift in wahren Meifterftüden 
der deutſchen Ueberſetzerkunſt; nur einige Jugendverſuche find unüberfegt geblieben. 

») In: „Engliſche Lyriker des 19. Jahrh., in's Deutfche übertragen von Luiſe von 
Ploennied. (München 1863)" ©, 143. Hierin ſechs Gedichte Wolfe's in lesbarer Uebertragung. 

») in: „Englifher Liederfhag aus britifhen und amerifanifhen Dichten. Mit 
einem biographifchen Berzeichniß der Berfafier von Karl Elze. Yünfte, verbefjerte und ver 
mebrte Auflage. (Halle 1859)", p. 314. Hierin vier Gedichte von Wolfe. 

Örenzboten IV. 1874, 25 


178 


Noch blick ich in dies Angeficht , 
Sein Lächeln zu erfpähn, 
Noch faß' ich den Gedanken nicht, . 
Daß ich es nie fol fehn. 
Dem füßen Worte laufch ich lang, 
Bergeffen haft du’8 nie: — — 
Es ſchweigt dein Mund, num fühl’ ich's bang, 
Ja, du bift todt, Marie! — 


Und bliebeft du mir alfo doch, 
Ganz friedlih und ganz bleich, 
Dein ftilles Antlig küßt' ic) noch, 
An Lächeln einft fo reich. 
Den falten Leib umfaß ich hier, 
So jcheinft du mir noch mein — — 
Jetzt ſchließt das Grab ſich über dir, 
Und jetzt bin ich allein! — 


Ich denke nicht, wo du auch ſei'ſt, 
Vergeſſen haft du mid); 

Ruh findet wohl mein Herz zumeift, — 
Gedenkt es auch an did). 

Doch dich umfloß ein lichter Schein, 
Wie überirdiſch Glück: — 

Den konnte dir fein Traum verleihn, 
Den bringt fein Traum zurüd, 


Die Freunde fragten Wolfe, ob dem Gedichte ein wirkliches Ereigniß zu 
Grunde Tiege. Er antwortete, er hätte die Melodie wieder und wieder ge: 
fungen, bis er in eine Thränenfluth ausgebrochen fet; in diefer Gemüths— 
ſtimmung hätte er das Gedicht gefchaffen. 

Nah der unbekannt gebliebenen Melodie einer ihm befannten Dame 
dichtete er den (Remains p. 44): 


Song. 


Go, forget me — why should sorrow 
O’er that brow a shadow fling? 

Go, forget me — and to-morrow 
Brightly smile and sweetly sing. 

Smile — though I shall not be near thee; 

Sing — though I shall never hear thee. 
May thy soul with pleasure shine, 
Lasting as the gloom of mine. 

Go, forget me, ete. 


179 


Like the Sun, thy presence glowing, 
Clothes the meanest things in light; 

And when thou, like him art going, 
Loveliest objects fade in night. 

All things look’d so bright about thee, 

That they nothing seem without thee; 
By that pure and lucid mind 
Earthly things were too refined. 

Like the Sun, etc. 


Go, thou vision wildly gleaming, 
Sofily on my soul that fell; 

Go, for me no longer beaming — 
Hope and Beauty! fare ye well! 

Go, and all that once delighted 

Take, and leave me all benighted, 
Glory’s burning-generous swell, 
Fancy and the Poet’s shell. 

Go, thou vision, etc. 

Dieſes tief empfundene melodifche LKied ift von Binde (S. 281) und von 
Rouife von Ploennies (S. 147) überſetzt. Vincke's Webertragung iſt ein 
fo glänzendes Zeugniß für die Kunſt dieſes Ueberſetzers in der Wiedergabe 
von Wort, Sinn, Klang und Färbung des Driginald, daß ich mich nicht 
enthalten Eann, diefelbe zur Bergleichung mit dem engliſchen Terte hier einzufügen : 
Seh, vergig mich, daß niht Sorgen 

Trüben deiner Freude Quell; 
Geh, vergiß mich nur, und morgen 
Lächle ſüß und finge hell; 

Lächle, wenn ich auch nicht da bin, 
Singe, wenn ih auch nicht nah bin: 
Deine Seele ſtrahl' in Luft — 

Dunkel iſt's in meiner Bruſt. 


Gleich der Sonn’ erjcheinft du , Kleideft 
Alles rings in lichte Pracht; 
Und fobald du gleich ihr fcheideft, 
Schwindet jeder Glanz in Nacht. 
Allen Tiehft du holden Schimmer , 
Der ift mit dir fort auf immer! 
Und dein Geiſt, fo rein und Far, 
Läuterte was irdiſch war, 


Fort, du Zraumbild! Raſch verſinkſt du, 
Das ſich ftahl in Seel und Ginn. 

Fort! Nicht länger glänzend mintft du: — 
Hoffnung, Schönheit, fahret hin! 


180 


Fort! Und lag mich nahtumfangen, 

Nimm, woran mein Herz gehangen : 
Soldnen Ruhmes leuchtend Ziel, 
Sängerluft und Saitenfpiel! 

Mit Recht ftehen die Dichter, die heut zu Tage Terte für vorhandene 
oder erft zu componirende Melodien — meiſt im Auftrage der Gomponiften — 
Ihreiben, nicht im befonderen Anſehen bei den Kritikern und Literaturfreunden, 
denn ihre Producte tragen faft indgefammt den Stempel der Mache, die im 
beiten Falle als eine geſchickte zu bezeichnen ift. Aber welch ein Unter. 
ſchied zwifchen jenen Fabricaten und diefen drei aus Wolfe's innerftem 
Herzensbedürfnig zu vorhandenen Melodien geichaffenen Liedperlen! — Die 
Engländer find, wenn wir dad evangelifche Kirchenlied in Deutſchland aus: 
nehmen, in diefer Beziehung überhaupt glücklicher geweſen, als mir; id 
errinnere nur an Byron's „Hebrew melodies“ und an Thomas Moore'd 
„Irish melodies“. 

Einen Gegenfaß zu diefen elegiſchen Klängen Wolfe's bildet ein anderes 
Lied vol ernfter Männlichkeit, da® er nad der Rückkehr vom Lande in die 
Mauern des Collegs zu Dublin dichtete; und mit diefem Liede treten wir 
an diejenigen Dichtungen Wolfe's heran, denen ein innere und zugleich 
äußered Selbfterlebniß zu Grunde liegt. Dies Lied ift der wohl irrige Meinungen 
der Freunde über ihn abwehrende Song: „Oh say not that my heart is cold“. 
(Remains p. 99. — Elze p. 215, — ®inde p. 280. — Ploennies p. 140.) 
Hier die Ueberſetzung von Binde: 


D nennt mein Herz nicht todt und falt, 
Das doc fe laut geſchwärmt hat; 
Sagt nit, daß Berg und Strom und Wald 
Es ſchon nicht mehr erwärmt hat; 
Daß mir erlofch im Banne hier 
Der tiefften Negung Funken 
Für liebe Freunde, die mit mir 
Gejauchzt begeiftrungstrunfen ! 


Sol glänzend Bild hab ich entzüct 
Noch oft heraufbeſchworen, 

Und derer, die e8 mitbeglüdt, 
Gedenk ich traumverloren ; 

Die lichte Flur, des Waldes Dom, 
Sie möcht ich mwiederfehen, 

Vom Bergesrand den blauen Strom — 
Und felig jubelnd ftehen. 


Mid hält die Feffel ftarrer Pflicht 
Im Kerler hier gefangen, 


181 


Ihr herbverdroßen Angeficht 

Beftraft mein heiß Verlangen : 
„Was foll dem Sclaven die Natur? 

„Sein Fröhnungstagwerk ftört fie: 
„Des Berges Luft, die weite Flur — 

„Den Freien nur gehört fie!" — 

Aus der Zeit feines Aufenthalte® auf dem Lande im Sreife der Familie, 

an die ihn zarte Bande feffelten, find und in den „Remains“ nur drei Gedichte 
erhalten. Die Strophen „To a Friend“ (Remains p. 113. — Winde p. 282) 


find an den Hausherrn gerichtet; fie enthalten folgende Schilderung der 
Familienglieder (deutfch von Binde): 





D habt ihr denn feinen Heerd geſchaut, 

Und die er vereint zur Stunde fo traut, 
Dann hat eudy entzüdt 

Der heitere Sinn, der den Heerd ihm ſchmückt. 


Die Laune der leichten medenden Yuft 
Vom Herzen kommt fie hier unbewußt, 
Und fie gilt traum mehr, 
Als das Narrengefeufz*) in der Welt umber. 


Und wie dort alle fo munter find, 

ft jedes doch Erin's echtes Kind, 
Eine Geisblattranf' 

An Erin’s Laube, wild und fchlant. 


Die Wolle, wenn fie fi finfter ball, 

Die bringt nicht Troſt für der Stürme Gewalt: 
Mit dem Regenbogen 

Kommt milder Frieden ins Herz gezogen. 


— — — — — — 


Diefe ſechszehn Strophen „To a Friend“, aus denen die mitgetheilten vier 
ein biographifches Intereſſe bieten, enthalten fchöne Stellen; betrachtet man 
fie aber ald Ganzes, fo muß man fich geftehen, daß der Dichter hier nicht jene 
durchfichtige Klarheit des Ausdrucks und die geiftreiche Berfnüpfung der Ueber 
gänge erreiht hat, die in Verbindung mit poetifhem Gehalt foldhen Ge- 
legenheitögedichten den Stempel des Genius aufdrüden. Daöfelbe gilt von 
dem phantaftifchen „A Birth-day Poem* (Remains p. 108. — Binde ©. 284.) 
für die no im Stillen Geliebte, während der „Song“ (Remains p. I11. — 


*) Wohl eine Anfpielung auf den damals graffirenden Weltfchmerz, in den Wolfe und fein 
ländlicher Freundeskreis nicht verfallen war. 


182 


Binde S. 288), der wegen der Charakteriftif der Geliebten auch biographiſch 
intereffant ift, den ſchönſten Xiebesgedichten voll von energiſchem Ausdrude des 
Gefühls beizugefellen ift, welche die englifche Lyrik aufzumeifen hat. Binde 
bat ihn trefflich überſetzt: 


D mein Lieb hat ein Auge vom fanfteften Blau, 
Doch das war es nicht, was mich entzüdt hat: 
Ein glänzendes Tröpflein der Seele darin, 
Das iſt's, was den Sinn mir berüdt hat. 


Wohl mocht ich die Wange, die lieblihe, ſchaun, 
Und vielleicht noch die Flamme beſchwor ich; 
Dod ein fhüchternes Roth trat zitternd hervor — 

Und mein Herz für immer verlor ich. 


Wohl mocht ich vergeffen die Yippe fo roth — 
Doch wie dem Gedanken entrinnen ? 

Und ein fonniges Yächeln verklärte den Mund: 
Das bleibt mir im Herzen tiefinnen! — 


Denk nicht, daß die irdifche jchlanfe Geftalt 
Mich verfolgt und mir überall Stand hält; 

's ift der duftige Geift, der fie ftrahlend belebt, 
Und die Anmuth, was mic, gebannt hält. 


Ich mag nicht hören der Nachtigall Sang, 
Ob auch einft mich befeligt ihr Singen: 

D die Seel’ und der Sinn in dem flüfternden Wort 
Läßt jede Muſik mir verflingen. 


Und Tiebt ich dies Antlig im erjten Moment, 
Wer tadelte wohl mein Belenntnif ? 

Doch bet ich fie an um ihr warm, warn Herz, 
Um des Herzens bezaubernd Berftändniß. 


Außer den befprochenen Gedichten und einigen in einem „Appendix* 
(p. 449—473) gebotenen Aphorismen nebſt englifchen und lateinifhen Werfen 
der Schulzeit enthalten aus der poetiſchen Hinterlaffenfhaft Wolfe's die 
„Remains*“ noch von Binde trefflich überfeste fünf Gedichte und zwei kleine 
poetifchprofaifhe Stüde. Es find das eben Schöpfungen von mittlerem 
Merthe, und e8 genügt, hier zur VBervollitändigung der Charakteriftit Wolfe's 
ald Poet nur hervorzuheben, daß ſich unter den Gedichten noch zwei befinden, 
die Hiftorifche Stoffe mit jugendlihem Pathos behandeln und nicht ohne 
einzelne großartige Züge find, es ift das ein gefrönted Preisgedicht aus der 
Univerfitätszeit (1809) über das gegebene Thema: „Jugurtha incarceratus 


u. — 
—8 
* 
* 
PN 


yitam ingemit relictam* und ein erjter Entwurf eine® größeren Gedicht: 
„Battle of Busaco; Deliverance of Portugal“. 

Und fo wäre ih denn am Beſchluß diefer fkizzenhaften Abhandlung über 
dad Reben und Dichten von Charled Wolfe! Gin einfaches, engbegrenzted 
Erdendafein, einmal dur&blist vom Hoffnungäftrahle der Xiebe und dann — 
dad flarre Machtgebot der Pflicht, die Feſſel des wehmüthigſten Siechthums 
und ein früher Tod! — Und innerhalb diefed Rahmens das Bild eines reich- 
begabten Poeten, der in einer kurzen Spanne Zeit in der pathetifchen Rhap— 
jodie und im elegifchen Tone des Liedes Bedeutendes leiftete und ungefuchte 
Unfterblichfeit erlangte dur) ein Gedicht: „The Burial of Sir John Moore“! 


183 


Denjukows Werk über Innerafien.*) 


Intereſſen. der mannigfaltigften Art haften an den meiten, noch wenig 
befannten Gebietäftredten, welche man unter der Benennung „Gentralafien “ 
zufammenfaßt. Der Hiftorifer meiß, daß hier meift der Tummelplatz zahl- 
teicher mächtiger Völferhorden geweſen, die verderbenbringend dad Herz Europas 
überflutheten; der Geograph kennt diefe Region als eine derjenigen, welche 
noh am mangelhafteſten dargeftellt ift, wo Flüffe, Gebirge und Städte nur 
in unficheren Umrifjen verzeichnet werden können; der Ethnolog erinnert ſich 
der turantfchen Völfergruppe und der damit verfnüpften ſchwankenden Begriffe, 
und der Politiker endlich erwartet hier vielleicht den Zufammenftoß zwiſchen 
der größten See- und der größten Landmacht der Erde. Uber dies ift es 
niht allein, was unmillfürlih unfere Blicke auf Gentralaften lenkt. In 
einem Zeitalter, wo Meer und Land vom Dampfe durhpflügt werden, ver- 
Ihwinden die Entfernungen, und nahe gerückt foheint, was einſtens unerreichbar 
weit war. Schon hat die Eröffnung ded Suez-Canals die Handeldmege nach 
Oſtafien gekürzt, früher oder fpäter wird die Euphratbahn eine Wirklichkeit 
geworden und Indien mit der europätfchen Eulturwelt durch Schtenenftränge 
verbunden fein. Bon Jahr zu Jahr fchreitet der Ausbau des gemaltigen 
ruffifhen Eiſenbahnnetzes vor, und ift einmal die in Angriff genommene 
inte von Sfarama nad) Drenburg vollendet, fo ftehen wir au ſchon am 
Beginne der Eirghififhen Steppe, durch welche in raſcher Frift ruffifche Heer- 

*) Oberſt Wenjulow: Die ruffifch »afiatifchen Grenzlande. Aus dem Ruffifchen übertragen 


von Krahmer, Hauptmann im fönigl. preuß. Großen Generalftabe. Mit zwei Karten. Leipzig, 
Berlag von Fr. Wilb. Grunom. 1874. 


er i 
184 * 


ſtraßen und nad) den islamitiſchen Wunderſtädten Bohära und Samarkand 
führen werden. Dies ift in feiner Weiſe etwa da® Bild einer aufgeregten 
Phantafie, vielmehr geht diefe Heranziehung des entfernten Oſtens ſchon theil- 
weife unter unferen Augen vor ſich, und mad wir foeben angedeutet, wird 
vielleicht in zmei Decennien buchftäblih in Grfüllung gegangen fein. Es be 
greift fi daher, daß die MWiffenfchaft in den legten Jahren auf jene noch fo 
wenig durchforſchten Gebiete ihre Aufmerkſamkeit concentrirt hat, und fi 
bemüht, den Schleier zu lüften, der feit Marco Polo's Zeiten auf den- 
felben ruht. 

Die Erforfhungen in Gentralafien gehen von den Ruſſen und den Eng- 
(ändern, den beiden Rivalen der aftatifchen Welt, gleichzeitig aus. Erftere 
drängen unabläffig und feit langen Jahren nad Süden und Often, und 
haben in der That in der jüngften Vergangenheit ihre Herrfchaft über jene 
Gegenden bedeutend ermeitert; die wiſſenſchaftliche Forſchung folgt dort, fo 
zu fagen, der militäriſchen Action auf dem Fuße, und der Geograph kann 
daher nicht umhin den Gang der Ereigniſſe felbft mit in Betracht zu ziehen. 
Gleichwie aber an die ruffiihen Fahnen die Wiflenfchaft ſich Heftet, und wir 
heute die eroberten Landſchaften im centralen Afien — biöher von der Nacht 
der Jahrhunderte bedeckt — genauer kennen als manche Theile der europäifchen 
Türkei, fo folgt auch unausmeihlic die Cultur dem Giegedzug des ſchwarzen 
Doppelaard. Rußland erfüllt, daran fann der Ethnograph nicht zweifeln, 
eine wahre Gulturmiffion, indem ed auf feine Weife den orientalifchen 
Völkern den europäifchen Ideenkreis vermittelt; mit einem Worte: für Afien 
ift Rußland die Cultur, die Civilifatton. Der unbetheiligte aber muß erfen- 
nen, daß die Ermeiterung der menfhlichen Kenntniffe, dieſes Aufſchließen 
neuer Kreife für das Eulturleben der civilifirten Bölkerfamtilien der befte 
Gewinn fei, den die Menfchheit feit den Zügen des Seſoſtris und ded mafe- 
donifhen Aleranderd aus derartigen Kriegdunternehmungen gezogen hat. 

Wenn ein englifher Staatömann nicht mit Unrecht behauptete, Britan- 
nien fei weit mehr eine aftatifche, denn eine europäiſche Großmacht, fo kann 
man dadfelbe mit Fug und Recht von Rußland fagen, den Staatencolof 
den man den nordifchen zu nennen pflegt, deſſen Gebiet fi) aber bald nahezu 
über alle Zonen der Erde erftredt und an Ausdehnung der halben Mond- 
oberfläche gleihfommt. Seit wenigen Jahrhunderten hat ſich das ungeheuere 
Reich aufgebaut, und feitdem ift Fein Decennium verftrihen, in welchem es 
nicht unaufhaltfam, wenn oft auch unbeadhtet, an feiner Erweiterung mit Er— 
folg gearbeitet hätte. Unter Iwan IV., der von 1533—1584, alfo länger denn 
ein halbes Jahrhundert herrfchte, unterwarf es fich die tatarifchen Chanade 
de8 Südens, mit Ausnahme der Krimm; Kafan, das fchon früher (1487) den 
Czaren zeitweife unterthan ward, erobert ed 1552 nad) langem blutigem 


185 


Kampfe, Aſtrachan im Norden fällt 1554, und 1556 werden die Bafchkiren 
unterworfen, gleichzeitig aber feter Fuß in der Kabarda am Kuban gefaßt. 
Die Kofaken Yermak und Timofejew endlich erfchliegen durch die Entdeckung 
Sibiriend in Iwan's letzten Regierungsjahren ihrem Vaterlande einen neuen 
Gontinent und legen den Grund zu Rußlands afiatifcher Macht; 1587 wird 
Tobolsk gegründet. Im achtzehnten Jahrhundert, 1727, gewinnt Rußland 
durh einen Vertrag mit Perfien die ſchon vier Jahre früher unter Peter dem 
Großen eroberten Provinzen Dagheftän, Schirwän, Ghilän und Mazenderän, 
das heißt die ganze Weſtküſte der Haspi- See, muß fie aber 1734 wieder 
zutückgeben; es find die beiden legteren die einzigen Landſchaften, welche dieſes 
Reih einmal bejefien, verloren und nicht wieder gewonnen; 1813 mußten die 
Perſer Dageftän und Schirmän wieder herausgeben, nachdem bereit® feit 1806 
das wichtige Derbend in den Händen der Rufen war. Gin erneuerter Krieg 
mit Merfien endlich dehnte dad Gebiet des Wiefenftaates über den Araxes 
und bi8 an den Ararat aus und erwarb ihm im Frieden von Turfmantfchay 
1828 die Provinz Arran. Und auch Heute noch hat Rußland fein Streben 
niht aufgegeben, und jeder Tag fieht es fortjchreiten mit Rieſenſchritten im 
Herzen der alten Welt. Rußland fteht nunmehr in Gentralafien. 

Denkende Politiker können, feitdem der Weltverfehr nie geahnte Pro- 
portionen angenommen, feitdem der Dampf die gefalzene See durchpflügt, 
jeitdem Schienenftränge die Ferne nahegerükt, und die Diftanzen zufehend 
verſchwinden, nicht mehr überfehen, von welch unberechenbarer Tragweite die 
Machtentwickelung eined Staates fein muß, der nunmehr der uralten, nad 
Jahrtaufenden zählenden Eultur Chinas ebenfowohl die Hand reicht, wie des 
abendländifchen Europas moderner Givilifation. Wer die dem Wenjukow'ſchen 
Werke beigegebene „Karte der Reichsgrenze zwiſchen Rußland und China“ 
im Maßſtabe von 1:8,500,000 überſchaut, erfennt fofort den meiten Raum, 
auf dem das größte europälfche und größte aftatifche Reich fich berühren. Es 
richt über etwa 60 Grade oder den jechiten Theil des Umfangs unferer Erde! 

Mie Rußland feit den Tagen des Koſaken Jermak, dieſes fibirijchen 
Gortey, allmählich zu feinem ungeheuren Befige gelangte, ſchildert Wenjukow 
in feinem einleitenden Kapitel, wo die allmählichen Grenzerweiterungen ver- 
folgt werden bis auf unfere Tage. Der berühmte ruffifhe Neifende und 
geographifch - militärifche Schriftfteller fchrieb aber gerade als die große Gr- 
pedition gegen Chiwa, das lebte der mwiderfpenftigen Chanate, im Gange war, 
und fo konnte auch die letzte Gebietdermeiterung Rußlands, das Vorſchieben 
feiner Grenzen bis an den Amu, nicht mehr berüdfichtigt werden. Sonft 
aber Liegt in dem Wenjufom’fhen Werke die vollftändigfte 
und zuverläffigfte Arbeit vor, die wir über Gentralafien 


überhaupt befiten, fofern es fih um ein allgemein zufammenfaljendes 
Grenzboten IV, 1874. 24 


186 

Werk handelt. Kein Staatsmann, der in der großen Politik fich bewegt, 
fein Militär, dem die wichtigen Verhältniffe Inneraſiens nahe gehen, Fein 
Geograph und Ethnograph, der das mühevolle Nachſuchen in hunderten von 
Spezialarbeiten (meiften® in ruffifcher Sprache erſchienen) ſich erfparen will, 
fann heute dad Wenjukow'ſche Buch entbehren. Es ift ein Eolofjaler Schat 
darin aufgefpeichert und der Verlagshandlung wie dem Weberfeger, Haupt: 
mann Krahmer, gebürt aufrichtiger Dank, dag fie dasſelbe in deutfcher 
Sprache einem großen Publikum zugängig gemacht haben. Mit diefem Ur- 
theile dürfte jeder Sachkenner übereinjtimmen, zumal die Ueberſetzung den 
Eindrud einer höchſt gewifjenhaften Arbeit macht. Weberfchaut man in den 
Riteraturnachmweijen, die jedem Kapitel angehängt find, die zahlreichen ruſſiſchen 
Schriften, die über Central und Nordaften erſchienen und die einen koloſſalen 
Schatz aufgeipeichert enthalten, dann überfommt und bei unferer Unkenntniß 
der ruffiichen Sprache ein gewiſſes Gefühl der Befhämung Wir fehen den 
Zeitraum immer näher beranrüden, in dem von und verlangt wird, daß mir 
das Ruſſiſche jo gut wie das Englifhe und Franzöſiſche verftehen müffen, die 
Sprache eined Volkes, das 80 Millionen Seelen zählt, eine Sprache, die von 
der Oſtgrenze unfered Reiches bis mieder zu jener der Vereinigten Staaten 
an der Beringsftraße herrſcht. 

Mir geben, nahdem wir auf den allgemeinen Inhalt dieſes unentbehr- 
lichen Nachſchlagewerks hingewieſen, einen Weberblic feines Inhalte. Wenjukow 
geht von Dften nad) Welten an der 10,000 Werſt langen Grenze entlang 
und beginnt mit der Inſel Sfahalin im nördlichen Stillen Ozean, die erft 
neuerdings ganz in ruffifchen Befig übergegangen ift und durch ihren Kohlen: 
reihthum ſich außzeichnet. Wie bei jedem folgenden Kapitel erhalten mir 
eine hiſtoriſche Einleitung, es folgt die mathematifche Geographie und 
Hydrographie, die Topographie, eine Schilderung der Naturprodukte, die 
Ethnographie. Hierbei fei erwähnt, daß eine fehr große ethnographifche 
Karte ald eine befondere Bereicherung dem Werfe beigegeben ift, auf der die 
zahlreichen Völkerſchaften des afiatifchen Rußlands — die Karte führt 21 
Unterfheidungen auf — verzeichnet find. Das 1871 von den Ruſſen er 
worbene Gebiet von Kuldja ift jedoch hierbei noch unberüdfichtigt geblieben. 
Ein militärifcher Ueberblick ſchließt das Kapitel ab. 

Die folgenden Abjchnitte behandeln: die Küftenprovinz der Mandſchurei 
(da8 ſog. Primorskiſche Gebiet); das wichtige Amurland mit feinem Riefen- 
ftrom; die Mandſchurei; Transbaikalien; das Grenzgebiet ded Sfajan- und 
Altaigebirges ; der Dſungariſche (Tſchjungariſche) Abſchnitt, die geographiſch 
am ungenügendften bekannte Gegend; der Tianſchan oder das Himmeld- 
gebirge, welcher das ruffifche Reich von dem neuen Reiche des unternehmenden 
Emir von Kaſchgar trennt; das Grenzgebiet an den drei Chanaten Kofan, 


187 


Bohara und Chima bis zum Wralfee; endlich das Turkmenengebiet in den 
Steppen am Oſtgeſtade des Fafpifchen Meeres. 

MWenn wir hinzufügen, daß zahlreiche aſtronomiſche Ortäbeftimmungen in 
dem Werke mitgetheilt find, daß, fomohl vom militärifchen wie kaufmänniſchen 
Standpunkte aus die Verkehrsmittel und die Straßen beſonders berüdfichtigt 
wurden, daß die Naturprodukte in jedem einzelnen Abſchnitte eingehend er- 
örtert find, jo haben wir wohl genug gefagt, um dies unentbehrliche Werk 
dem Soldaten, Bolitifer und Geographen zu empfehlen. Doppelt willtommen 
und weit brauchbarer wäre e8 aber geworden, wenn demfelben — da ed doch 
meientlich zum Nachſchlagen dient — ein Regifter beigegeben geweſen märe. 
Wir vermiffen dasfelbe ſchmerzlich, umfomehr, da nicht einmal ein Inhalts— 
verzeichni vorhanden ift. 


Herbſttage in Schwaben. 
1. 
Bon Friedrih Kampert. 


Flüchtige Skizzen flüchtiger Wandertag! Man mandert fo fchnell in 
unferer Zeit, felbft wenn dad AZufußgehen der Eifenbabnfahrt fi gefellt. 
Und zu Fuß muß man wandern im Schwabenland, wenn man wahren Ge- 
nuß von feiner einfachen, aber fo überaus lieblichen Schönheit haben will, 
und geht man dann ab und zu, wo's gerade nöthig Ift, zur Eifenbahn zurüd, 
jo kann man in Tagen, wie ich's dem freundlichen Leſer zeigen mill, viel, 
die ganze würtemberger Geographie fat, durchmachen. 

63 war im September, in jenem Monat, wo zwar der Tag Fürzer, 
aber die Quft reiner und der Himmel blauer, ala im ſchwülen, ermattenden 
Hochſommer ift, wo es fih darum allenthalben am gefichertiten gegen 
Wetterftörungen und namentlich mit der meiften Garantie für unverfümmerte 
Bergauäfichten reifen läßt. — Die ſchon dem Untergang fich zuneigende Sonne 
glänzte in den Fenftern des großen Jagdſaales des Weikersheimer Schloſſes. 
68 ift dies Schloß ein Prachtſtück der Renaiffance,; der Epheu fchlingt fich 
am Portal Hinauf, draußen im Garten aber ftehen Heden und Bäume ä la 
Louis XIV. gefchnitten. Unweit des fürftlichden Parkes liegt der Bahnhof. 
Bon Mergentheim Her, der alten Deutfchordensftadt, aus dem Tauberthal 
herauf, fam der Zug. Er trat in ein Eleinered, von hohen Steilrändern um- 
faßtes, das Vorbachthal, ein. Es ging aufwärts. Die Locomotive mühte 
fih ab, Die Dunkelheit eines langen Tunnels bereitete auf die der einbrechen- 


188 


den Nacht vor. Auf dem Bahnhof von Grailsheim brannten jhon die Lich 
ter. Die alterthümlih in die nächtlihen Schatten hineinragende Oberamte: 
ftadt mit ihren Thürmen und ihrer ſteilgedachten Johanniskirche ift eine 
pittoreöfe Bahnitaffage, aber für und diedmal nicht mehr ald das, wenn 
einmal die nun bald vollendete Nürnberger Bahn hier mündet, wird man 
ihr mehr gerecht werden. 

Crailsheim ift Knotenpunkt; man muß Acht gaben, den rechten Zug 
zu finden. Wir waren in dem richtigen, auf der „obern Jartbahn“, alfo 
Ihon aus dem würtembergifchen Yranfen heraus, in dad mir, aus dem 
bayrifhen fommend, bei Weikersheim eingetreten waren. Es ift der Beobach— 
tung werth, wie viel Verfchiedenheit in Rand und Leuten, Sitte und Sprache, 
felbft der äußern Erſcheinung des Bodens, auf einem verhältnigmäßig fo 
kleinen Stüd Erde, wie dad von den ſchwarz-rothen Grenzpfählen umzäunte 
ift, fich offenbart. Ich brauchte nur etwas im Waggon mid umzufchauen 
und umher zu horchen: gleich der Dialekt fondert den würtemberger Franken 
vom Schwaben ab; die Rede des erfteren hört fich meicher, fließender, gegen 
die fchwerfällige, dem Sprecher nody dazu faft mühjelig zu entlodende des 
Schwaben. Auch feine gemwandteren, gefälligeren Umgangsformen machen fi 
jo gut kennbar, wie der Unterfchied der Kleidung. Der niedere breitfrämpige 
Hut, der ſchwarzgraue lange Tuchrock mit der dunklen Manchefterwefte und 
den langen Beinkleidern der Männer, wie die bufhärmligen Spenfer und 
Reif- und Bandhauben der Frauen find ganz andere Erfcheinungen, als wir 
fie bald da fehen werden, wo das deutjche Häubchen auf dem Haupte der 
Yrauen, die Pelzmütze auf dem der Männer fist. 

Ueber den Wiefen und grünen Büfchen des Jartthaled wallten Nebel auf, 
aber Erlkönigs Töchter jpielen nicht an den profaifchen Eifenbahnen. Ellwangen, 
die Hauptftadt ded alten Viengrundes, Station Goldshöfe, wo die Rems— 
thalbahn mich aufnahm, „Aale“, wie jeder halbweg geſchulte Schaffner beim 
ſchwäbiſchen Schilda anftatt des fohriftgemäßen „Aalen“ ruft, — all das 
war endlich vorüber: in Gmünd erreichten wir des erften Neifetages Ziel. Im 
Gafthof zum Rad „ſchwäbelte“ es ſchon ganz ordentlich an der Abendtafel 
um und her. Offiziere, die zu den Herbſtmanövern da waren, rubten fi 
bei der Flafhe aus. Guter rother „Heilbronner” funfelte in dieſer. Man 
fol in Gmünd beffer noch ald anderäwo im Schwabenland das Zehen und 
Subilieren verftehen. Gaudium mundi hat ed drum ehedem geheißen. Zuftinianus 
Kerner hat davon gejungen: 

„Und wenn bald ringsum verhallen 
Bedherklingen, Tanz und Gang, 

Wird zu Gmünd noch immer jchallen 
Selbft aus Trümmern luft'ger Klang. —“ 


189 


Uber noch hat’ mit den Trümmern gute Weile. Denn die gute Stadt 
fieht trog ihres alterthümlichen Weſens noch recht folid und Fräftig aus. 
Nur eine ihrer ſchönen alten Kirchen, die Johanniskirche, war etwas hinfällig 
geworden. Man reftaurirte daran. Nicht immer bringen Reftaurationen 
etwas Gejcheidted zu Wege. Man mengt zu gern dad Moderne in den alten 
Stil. Aber hier ſoll's beffer werden. Man hofft den, namentlih in der 
üppig reihen Ornamentik der Außenfeite merkwürdigen romanifhen Bau in 
möglichiter Unverfehrtheit zu reproduziren. Gmünd hat gewiſſermaßen ein 
Privilegium zu Kirchenbauten. War doch Heinrich Arler, der Schöpfer des 
Mailänder Domes, ein Gmündner Kind. Ob ihn wohl manchmal, wenn er 
vom marmornen Dad ſeines MWundermerked hinüber zu den fernen Alpen 
idaute, ein Heimweh faßte nach dem ſchönen ftillen Thal, in dem jeine 
Baterftadt fo fanft gebettet ruht? Hieß fie vielleiht audy) gaudium mundi, 
weil ihre Lage fo gar herzergögend ift? Sie gehört fhon dem Kernland 
Schwabens an, dem ſchwäbiſchen Hügelland mit feinen weichen und fanften 
GConturen, den üppigen Frucht-, Obſt- und Rebenpflanzungen an Berg und 
Thal. Diefem Boden entwuchfen, wie die alten Herzoge von Schwaben, die 
Staufen, fo au die gegenwärtigen Fürften von Würtemberg. Hier ift aber 
au die Wiege Keppler’d und Schiller's, hier dad Land, da auf mechfelvoller 
Oberfläche jede Individualität fi ausprägt, fei ed die deö Weines, des 
Dbited, der Rinder oder der Menfchen. — Es war claffifche Erde, über der 
die Septemberfonne aufgegangen war. Der Schnellzug hielt in Lorch. Hart 
an der Eifenbahn zieht fi der Weg einen nicht Hohen Berg hinan. Die 
noh immer anfehnlihen Bauten eines alten Kloſters ftehen auf ihm: des 
Denediktinerflofter8 Lorch, — der Hohenftaufengruft. 

Ein Maufoleum des großen deutſchen Kaifergefchlechtes, wie es die 
Habsburger bei den Kapuzinern in Wien, die Oranier in Delft, die Könige 
Franfreih in Saint- Denis, die Hohenzollern im Münfter von Heildbronn 
haben, ift ed nicht. Keiner von den Hohenftaufen,, die die Kaiferkrone ge- 
tragen haben, fchläft in ihm. Wie fie ruhelod dur die Welt gezogen find, 
fie fi dienftbar zu. machen, und dann da und dort das müde Haupt nieder: 
gelegt haben, fo find fie au im Tode verftreut. Einfam, wie da® ganze 
hohe Geſchlecht dafteht, wie heute noch der Berg, der feine Stammburg trug, 
[odgetrennt von den übrigen Bergen der ſchwäbiſchen Alb, daliegt, find fie 
auh begraben. Nur Einer, Philipp, ruht bei den Genoffen gleichen Ranges 
im Katferdom zu Speier. Aber tft auch Feiner der alten bekannten großen 
Hohenftaufennamen auf den Gräbern in Lorch zu lefen, fo verdient doch die 
Heine Kirche den Namen, den wir ihr gegeben. Die Stifter des Klofters, 
Friedrich von Schwaben und feine Gemahlin Agnes waren die Erften, denen 
dad Trauergeleite vom nahen Hohenftaufen herüber hierher gegeben ward 


190 

Und fiebzehnmal bat dann noch das Todtenglödlein des Lorcher Kloſters 
den Edlen ihres Haufes geläutet. Konrad’s I. Gattin und Söhne, Barbaroffa’s 
Mutter und Kinder, Beatrix, Otto's IV. Gemahlin, auf deren Sarg die In— 
ſchrift ſtand: „filia formosa, jam cinis, ante rosa“, find hier gebettet. Aber 
unter all den Namen, die da der Hüter der Todtengruft nennt, Elingt Einer 
am poetifchften aus der alten Zeit herüber: 

„Nascituram Orientis, 

laurus quondam atque palmac 

cum cypressis salutarunt:: 

morituram occidentis 

ilices et quercus almae 

- commoerentes adumbrarunt. 

nobilis Grajorum nata 

eu, quo dura trahunt fata 

sepulturae requiem! 

nec solamine carebis, 

jam cum angelis videbis 

quem planxisti, conjugem ‚* 
hat Victor Scheffel Irenen von Byzanz zur Grabfchrift gefchrieben. Als fie 
von der Reiche ded ermordeten Gatten weg, von Bamberg nad dem Hohen- 
ftaufen geflohen, fand fie bier bet den Todten auch da® Ende ihres Liebes: 
wehs und Herzeleids. Beim Umgraben des Kloftergartend ſtieß man vor 
Jahren auf den goldnen Ring. den fie einft Philipp am Traualtar gegeben. 
Auf einen der alten romanifhen, das Kirchlein ftügenden Pfeiler fieht man 
Beider Bild. Der Roſenſtrauch, der neben Irenen blüht, deutet auf Walter's 
von der Vogelmeide Gruß an fie: „Ros’ äne dorn, ein tube Sunder gallen.“ 
Ahr Grab iſt nicht bezeichnet. Keins ift dad. in forglicher oder beffer für- 
wisiger Abt hat einmal alle Gräber öffnen laſſen und aller Afche in Einen 
großen Sarkophag, der mitten in der Kirche fteht, gefammelt. Da hat fih 
au der Staub der fchönen griechiſchen Katfertochter dem der deutfchen 
Fürften und WFürftenfinder gemiſcht. Aber alt, unverändert, wie ed vordem 
war, ift Alles: der Boden des Kirchleins, die Wölbung des Dachs, die Mfeller 
und die Bilder an ihnen. Durd die Yenfterbogen ſchlingt ſich alter Epheu; 
die hereindringenden Sonnenftrahlen fielen gerade auf Sjrenend Bild. Draußen 
aber vor dem Klofter fteht die alte Rinde, in deren Schatten ſchon alle die 
lebend gewandelt, die da drinnen ſchlafen. Bor Jahren, ala ich einmal vom 
Hohenrechberg hinüber nah Lorch Fam, war noch an dem alten mädhtigen 
Baum Fein Aeſtchen geknickt. Diesmal fand ich ihm gebrochen. Zu derſelben 
Zeit, als der Birnbaum auf dem MWalferfeld zu Grunde ging, fplitterte auch 
von der Hohenftaufenlinde ein Sturm ein beträchtlich Stück ab. Auch die 
Bäume der alten Kaiferzeit mahnten, daß die Zeit erfüllt, daß die Thatkraft 


191 

eined neuen Reichs an die Stelle der Trauer um das alte getreten mar. 
Die Geifter Lorchs zeigten mir die Richtung meined Weiterwegs: vom Grab 
zur Wiege der Hohenftaufen, nad Wäfchenbeuren. Gerade in der Mitte 
zwiſchen Lorch und dem Hohenftaufen Tiegt das Dörfchen. Noch ftehen bie 
Grundmauern ded alten Wäfchenfhlößchene.. Bon ihm flieg ein Friedrich 
von Büren zur Höhe und baute fi auf dem Stwipfen, dem „Stufenberge*, 
in hohes Haus. Kein Stein fteht mehr von ihm. Schon der Bauernfrieg 
ihleuderte die Brandfadel in die Kaiſerburg. Martin Erufius fah 63 Jahre 
ipäter ihre Trümmer, die von ihrer Größe zeugten, und ftimmte die Klage 
an: „lieber Gott, fol eine fo große Herrlichkeit der mächtigften Fürften zu 
emem fo fcheuglichen Anblick gediehen fein? Alles ift verſchwunden, wie ein 
Rauch, Alles Hinmeggeflogen mie ein Vogel. Ein Bauernfhultheiß hat jetzt 
die Schlüffel zu dem Thor, er mäht dad Grad im Schloßhofe, der Hollunder- 
baum wächft da und dort in den Winkeln. In allen Theilen des Schlofjes 
ift fein Bildniß, feine Infchrift, Fein Wappen, feine Farbe mehr. Alles ift 
duch Feuer, Regen oder böfe Zeiten ausgetilgt. Was ein ſchöner Körper 
war, ift jest nur ein Beingerippe.“ Jetzt ift auch das Gerippe verſchwunden. 
Der Bauernſchultheiß hat fein Thor mehr zu verwahren, felbft fein Hollunder- 
baum wächft mehr im Schloßhofe. Denn Thor und Schloßhof felbit find 
nicht mehr vorhanden. So kahl und verlaffen Itegt Fein Berg im deutfchen 
Reh. Der Emporblid an feinem Gipfel Hat im Anfang etwas Finfteres 
und Wildes; der Anfteig ift fteil und mühfam, namentlich von der Seite auß, 
auf der ih Fam, und dazu in der heißen Mittagsftunde. Auch die ift eine 
Geifterftunde, fo gut wie die Mitternacht. Und ein Geifterreigen feltener 
Art ſchwebt um die einfame Höhe her; ein unfagbar großes Stück deutfcher 
Gefhichte baut fich der Erinnerung auf ihr auf. Weit reicht der äußere, 
noch weiter der innere Blick: weit über den blauen Bergrand der Alb, weit 
über das Iachende, blühende, bier zu Füßen gebreitete ſchwäbiſche Hügelland 
geht diefer Hinaus; bis zu den Yluthen des Saleph, die über einem greifen 
Kaijerhaupt zufammenfchlagen, bis zur Wltenburg, wo ein andere dem 
Mörderdolch verfällt, nach Palermod glänzendem Hof, auf Neapeld Markt 
und dad Blutgerüft, von dem des Testen Hohenftaufen blondes Haupt in 
den Sand rollt. 

Machte es gerade die Mittagsftunde oder war die Reifezeit wirklich ſchon 
jo weit vorgefehritten, daß der Wanderer weniger waren: ich war allein auf 
dem einfamen Berg. Die Gegend Tag nit im vollen Sonnenſchein; die 
jerneren Berge, die Ted, der Hohenneuffen, die Ahalm und was man fonft 
von der Alb Hier fieht, erjchienen nicht Far und deutlich, mie man's fonft 
gewohnt, das Stück des alten hereyniſchen Waldes, da® man nordwärts 
gewahrt, ſchaute fogar ganz düfler herüber, aber das alles dünkte mir faft 


192 


natürlich für die ernfte Hoheit, für die Melandholte de verlaffenen Kater: 
bergs. Ich ſchritt abwärts; auf demfelben Pfad vielleiht, den der Rothbart 
ging, wenn er von der Burg zum Dorfkirchlein niederftieg. Das ift das ein- 
zige noch übrige gleichzeitige Zeugniß der großen Vergangenheit. Cine Thür 
tft zugemauert. Es ift diefelbe, durch welche der alte Kaifer aus und einging. 
„Hie transibat Caesar“ lautet die Infchrift über ihm. Sonft iſt das Kirch— 
fein jeden Schmudes baar; allein jene Eine Inſchrift genügt; fie macht uns 
die alte Zeit faft greifbar Iebendig, die Zeit, deren Größe auch durch die der 
Gegenwart nicht gemindert oder getilgt werden Fann. 

Bom Hohenftaufen geht man am beiten nad) Göppingen zur Eifenbabn. 
In des feligen Philipp Schartenmeyer vortrefflihem Heldengediht vom gro 
Ben Kriege gegen Frankreich ift das ſchwarz auf weiß ald wohlgemeinte An- 
merfung zu feinem Chrengedähtnig für den Vorgänger des neuen Kaifers, 
ven alten Rothbart, zu leſen. Aber der anerfennendwerthe Yingerzeig des 
wadern „Präceptors“ war damald noch nicht gedrudt, ich hatte es mir felber 
zu verdanfen, daß ich den rechten Weg nad Göppingen und Plochingen und 
endlich bi8 Abende nah Kirchheim fand. Näher ald vom Hohenftaufen und 
darum überfichtliher lag die Alb vor mir, eine lange gerade, nur von 
wenigen, faum über die Bergfläche fi) emporhebenden Gipfeln unterbrodhne 
Linie. Das erfcheint einförmig, ermüdend. Aber dem vermweilenden Auge 
theilt fich bald jene Linie in eine Menge aneinander gereihter fargförmiger 
Berge, mit welchen bie und da eine Kegelform, felten eine Halbkugel med: 
felt. Auch das dünkt und noch feine befondere Schönheit. Aber da wirft 
die fi neigende Sonne einen Strahl auf die Ferne und auf einmal erhei- 
tert und belebt fi) dad ganze Bild. Die dunkle Farbe des Gebirged wird 
durchſichtiger, der Sonnenfchein gießt eine leichte Röthe darüber, und in ihr 
tritt bißher ungeahnter Wechfel der Form hervor. Reiche, die Höhen meit 
hinauf befleidvende Buchenwälder ſchimmern entgegen, Vertiefungen mannig- 
faltiger Thäler eröffnen fich zmwifchen den mehr und mehr von dem ganzen 
Bergzug abgelöften Maſſen; mie funfelnde Punkte erfcheinen, wo die Vor 
hügel einen Blick durdlaffen, Dörfer und Städte, am Fuße der Berge hin 
und in fie hinein ziehen fih üppige Obftwälder ; die Höhen find mit weißen 
Kalkfeljen, die vom Grün der Wälder fich jetzt deutlich abheben, überfät, und 
auf den vereinzelnten Gipfeln zeigt das ſcheidende Tagesgeftirn vorher unbe- 
merkte Schlöffer und Ruinen. 

Die Alb hat ihre Charakteriftif fo gut und fo prägnant, wie irgend ein 
Gebirgszug im deutjchen Land. 

Sn früher Morgenftunde ftanden wir auf der Ted. Der Weg zu ihr 
hinauf war nicht leicht zu finden. Mähder fohnitten das thaufrifche Grad an 
den Berghalden, aber fie waren fchlechte Wegweiſer. Dazu täufcht der aus 


193 


dem Walde vorftoßende, majjiv zufammengeballte Fels, den man leicht für die 
Grundmauer der Burgruinen hält. Aber an ihn Hinaufzuflimmen würde 
Rebendgefahr bringen. Nur ein enger Waldpfad führt auf die rechte Steige. 
Wir fanden ihn glüdlih. Der Eintritt in den alten Burgraum ift über- 
raſchend, denn es ift ein weiter, geräumiger Plab, den die verfallenen Mau— 
ern umftehen. Die diefe einft erbauten und bewohnten, die Herzoge von 
Tet, hatten vom 12. bis zum 14. Jahrhundert ein anfehnlich Gebiet; dann 
verfielen fie, und die Gefchichte Hat von ihnen nicht® weiter zu ver- 
melden, ald mad das Buch der Könige auch fchreibt: „und fie begruben 
fie in dad Grab ihrer Väter in der Stadt David.“ Die „Stadt David“ 
wäre aber in dem Fall das Stäbchen Omen, in deffen Kirche jene Herzöge 
ihrer Urftänd entgegenfhhlummern, und an das man von der einen Geite 
der Burg niederfieht; — in das reizende Thal, das da ganz unter einem 
liegt, eine verlodende Perſpektive für meitere Wanderung. — Auf der 
anderen Seite der Ruine bietet der Blick ind fernere Neidlinger Thal ein 
ganz anderes Bild: bizarre Kalkiteinformationen, bintereinandergefchobene 
Hügel, dadurch nur wie verftohlen zu Geficht kommende Thalöffnungen und 
in diefen wieder allerlei Burgen mit Ritterromantif und Sagenfpud. Und 
zwiſchen diefen beiden, zur Rechten und Linken der Ted geftellten Landſchafts— 
souliffen war nun ein gutes Stüf offenes Würtemberger Land vor und aud- 
gebreitet, aus dem das Fernrohr des Förſters, der zur Neifezeit auf der Ted 
ab und zugeht, bald dies, bald jenes, biß zum Maufoleum auf dem Rothenberg 
bei Stuttgart, heranzog. Es war ein Glück, daß wir diefen edlen Grünrod 
gerade auf feiner Filtale fanden, fat weniger um feines Fern», ald eined an- 
dern Glaſes willen, dad er mit der dazu gehörigen Weinflafhe in einem 
fühlen Kellerchen verborgen hält und auf Verlangen dem müden Wandrer 
fredenzt. Mit bloßer Gegend fommt man jchleht aus. Aber im guten 
Shwabenland braucht man nicht lang zu hungern oder zu dürften. Gibt's 
fogar in alten Burgtrümmern etwas anderes Trinkbares, als „ſchlecht Waſſer“, 
wie's im Katechismus heißt, fo fehlt's noch weniger auf anderen Wegen und 
Stegen an allerlei troftreihen Zeichen, die fait ohne Ausnahme zu guter 
Herberg weiſen. Sole ward und auch in der Poſt zu Omen. in forellen- 
reiches, lichtklares Flüßchen raufcht durch das Lenninger Thal. Seiner edlen 
Bewohner etliche ftanden wohlbereitet auf unferm Mittagstiſch. Dann gingen 
wir fein Ufer felbft entlang. 


Grenzboten IV. 1874. 25 


194 


Dom deuffhen Heid) und Reichstag. 


Berlin, den 25. Oktober 1874. 


Zum 29. Oktober ift der Neichätag einberufen. Die drei großen Gelee 
über die Bildung der Rechtöorgane und des Verfahrens derjelben, nämlid: 
das Geſetz über die Gerichtöverfafjung, die Civilprozeßordnung und die Straf 
prozefordnung, werden nach allgemeiner Mebereinftimmung mährend dieſer 
Seffion den Reichdtag nur in der Art bejchäftigen, daß letzterer eine Com— 
miffion zur Vorberathung diefer Gefege ernennt und mit der Befugniß aud- 
ftattet, ihre Thätigfeit über die Seffion hinaus zu erftredfen. Denn innerhalb 
einer Seffion und zumal einer kurz bemefjenen, wie die bevoritehende, Tann 
auch nicht einmal die Vorberathung fo umfaffender und dabei vielbeftrittene 
Fragen ordnender Gefee von einer Commiſſion erledigt werden. Damit die 
Commiſſion nah dem Schluß der Seffion fortarbeiten und ihr Ergebniß dem 
Reichstag in einer jpäteren Seffion vorlegen darf, wird ed indeß einer reichs— 
gefeslichen Vollmacht bedürfen. Denn bi8 jest wird auf Seiten ded Reichs— 
tags und der öffentlichen Meinung überwiegend an dem Grundfag der 
fogenannten Discontinuität der Seffionen, als einer nur ausnahmsweiſe zu 
verlaffenden Regel, feitgehalten, obgleich diefer Grundſatz in der Reichsverfaſſung 
nirgend ausgefprochen und nicht einmal eine Anfptelung darauf gemadht ift. 
Man behandelt denfelben jedoch als einen Beftandtheil, um mid) fo auszu— 
drüden, des gemeinen parlamentarifchen Nechted. Auf die richtige Hand— 
habung dieſes Grundfaßes in der deutjchen Neichdverfaffung wird ſich Gelegen- 
heit finden zurüdzufommen, wenn das Vollmachtsgeſetz berathen wird. Da 
leßtered eine zeitraubende Verhandlung kaum herbeiführen wird, jo bleiben 
dem Neichätag ala Hauptgefchäfte der diedmaligen Seffion der Reichshaushalt, 
in welchem zum erftenmal die fpecialifirten Militärausgaben fi finden, und 
das Bankgeſetz. Beide Gegenftände find ohne Zweifel bedeutungsvoll und 
wiederftreitenden Auffafjungen ausgeſetzt. Aber ed wird möglich fein, dieſe 
Arbeiten in der, durch den diesmal unüberfchreitbaren Markitein dee Weihnachts— 
fefte8 kurz bemefjenen Seffion zu beendigen. Daß die Thronrede unerwartet 
noch eine größere Geſetzvorlage ankündigen follte, ift nicht wahrſcheinlich. 

Das deutſche Volk und feine großen regierenden Körperfchaften Eönnen 
diedmal, wie e8 fcheint, in einem ruhigeren Augenblid, als fett lange, an die 
Arbeiten der inneren Wortbildung geben und diefen ihre Aufmerkfamfeit 
widmen. Die Aufmerkſamkeit wird jedoh auf allen Seiten zum großen 
Theile durch eine andere Angelegenheit abforbirt, die allerdingd dem Weiche 
nicht fremd ift. Mir meinen die gegen einen ehemaligen Botjchafter des 
deutfchen Neiches ſchwebende gerichtliche Unterfuhung. Daß in Preußen ein 


195 


Minifter oder ein den Minifterrang gleichitehender Staatsbeamter im Gefängniß 
gehalten worden, it, joviel wir willen, feit dem Sturz des Grafen Danfel- 
mann, ded Minifterö des legten Kurfüriten, der der erſte König wurde, nicht 
vorgefommen. Welch eine Senfationdnachricht für die politifche Welt, für 
ihre Eingeweihten und Laien, für die Spieler auf der StaatdBühne mie 
für die Galerie, als auf den telegraphifchen Drähten die Verhaftung des 
Grafen Harry Arnim am 4. Dftober Europa durdlief! — Wenn in einer 
Zunft ein Meifter auftritt, der wieder einmal den Schlendrian zerreißt und 
die Träger dedfelben in dunfeln Schatten ftellt, fo wird er grimmig geneidet, 
das ift eine alte Erfahrung. Das unzünftige Publitum aber fpaltet fich in 
die zwei feindlichen Chöre, von denen der eine das Ungewöhnliche liebt und 
preift, weil e8 das Ungewöhnliche ift, der andere es anfeindet und anſchwärzt, 
um das Recht und die Macht des Gewöhnlichen geltend zu machen. Als die 
Senfationsnahriht Fam, da rief der Chor der Bemwunderer, deſſen Stimmen 
aber diegmal jehr zeritreut und Schwach erflangen: immer derjelbe gewaltige 
Mann, der bald in der Nähe, bald in der Ferne einen der Feinde zu Boden 
Ihlägt, die ihm unaufhörlich eritehen. Dagegen erhob fi wie ein ver- 
worrenes Gebraufe der Chor des Neided. Er kann feine Selbitändigfeit 
mehr ertragen, weder in der Fremde noch im eigenen Lande, Feine eigene 
Meinung und feinen unabhängigen Mann; dies muß der Anfang oder we— 
nigftend der Vorbote des Anfang? vom Ende fein! Dazu nun die offictöfen 
Anleitungen, die nicht au&bleiben Eonnten, um die erregte, in den abſonder— 
lichten Bermuthungen ſich ergebende öffentlihe Meinung zu orientiren. Diefe 
Anleitungen fuchten die Miene anzunehmen, als wäre der Neichäfanzler gar 
niht im Spiele; was in einem gewilfen Sinne übrigend ganz richtig fein 
wird. Daran aber, daß folhe Dinge im deutfchen Reich vorgehen Eönnen 
unter der lediglich contemplativen Affiitenz des Kanzler, davon würde man 
die öffentliche Meinung mwahrjcheinlicy nicht überzeugen, auch wenn eine folche 
Erſcheinung einmal zur Wahrheit werden folltee Man würde darin höchſtens 
auf andere Weife den Anfang vom Ende erbliden. Und weil man died nicht 
fann, wo man möchte, und für unmöglich hält, wo man ed nicht wünſcht, 
jo begegneten die offiziöfen Belehrungen den ftärkiten Zweifeln und überall 
wenigitend der Annahme, daß in ihmen der Kern der Sache verjchwiegen 
bliebe. | 

Heute find e8 drei Wochen, daß der Graf von feinem Gute in das Ge- 
füngniß der berliner Stadtvoigtei abgeführt murde, das er feitdem mit dem 
Gewahrfam in der Charite vertaufcht hat. Suchen wir dasjenige zufammen- 
zufafien, was in diefer Zeit in hinlänglich glaubwürdiger Geftalt an die 
Deffentlichkeit gefommen ift, um dem Verftändniß des befremdlichen VBorfalles 
fichere Wege zu bahnen. 


196 


Zunähft Hat Graf Arnim ſelbſt verfchiedene Mittheilungen aus dem 
Gefängniß an die Deffentlichfeit gelangen laffen, zwar nicht unter eigenem 
Namen, aber unverkennbar unter feiner beftimmenden Eingebung. Alddann 
hat das unterfuchende Gericht eine Erklärung erlaffen und das Halb amtliche 
Drgan, die Provinzialcorrefpondenz, hat verfchiedene Aeußerungen zur Sache 
gebracht. An dieje Erklärungen nebft den nichtamtlichen offiziöfen Mittheilungen 
werden wir uns halten müflen. 

Beginnen wir mit einer nichtamtlich offiziöfen Mittheilung, welde in 
den letzten Tagen von einigen berliner Blättern gebraht wurde. Danach 
find auf dem Archiv der EFaiferlihen Botfchaft zu Paris eine Reihe von 
AUktenftüden vermißt und um diefelben ift an den bereit? zur Dispofition ge 
ftellten, damals in Carlsbad meilenden vormaligen Botjchafter zu Paris ge 
fchrieben worden. Graf Arnim hat einen Theil der vermißten Aftenftüde 
eingefendet,, einen anderen Theil für fein Privateigenthum erklärt und, wie 
aus früheren offiztöfen Mittheilungen zu ergänzen ift, weil ed von großer 
Bedeutung fcheint, über einen dritten Theil ausgefagt, daß er den Verbleib 
derfelben nicht Eenne. Das auswärtige Amt ded deutſchen Reiches, vertreten 
durch feinen Staatdfekretär, v. Bülow, beharrte auf der, Aushändigung der 
zugegebenermaßen im Beſitz des Grafen befindlichen Aftenftüde, morauf ber 
Graf in dem auswärtigen Amt nicht mehr feine vorgejegte Behörde zu er- 
fennen erklärte und die Entfeheidung über den ftreitigen Befig vielmehr dem 
Kaifer anheim geftellt fehen wollte. Dad auswärtige Amt machte dem 
Grafen bemerflih, daß zwifchen dem auswärtigen Amt und einem feiner 
untergebenen oder untergeben geweſenen Beamten nicht die Entfcheidung des 
Kaiſers durch die untergebene Stellung angerufen werden Fönne Darauf 
fol Graf Arnim gefchrieben haben, er werde den Streitfall felbjt den Ge 
richten unterbreiten. Man follte meinen, logifher Weiſe hätte er nur fagen 
dürfen, er werde erwarten, daß man gegen ihn die Gerichte anrufe, um ihn 
des unrechtmäßigen Beſitzes der Aktenſtücke zu überführen, die er aus der 
Botſchaft zu Paris an fich genommen. Dad auswärtige Amt mandte fi 
nun, fo folgen wir jener offiziöfen Mittheilung weiter, an feinen oberiten 
Chef, den Reichskanzler. Diefer ließ durch den Staatäfekretär an den Kaifer 
berichten. Der Kaifer, die Nothwendigfeit, wie es ſcheint, anerfennend, daß 
der amtliche oder private Charakter der Aktenſtücke feftgeitellt werde, auf 
welche dad auswärtige Amt fowohl ald der ehemalige Botjchafter zu Paris 
den Eigenthumsanſpruch erhoben, und ſich beziehend auf den Wunfch des 
Grafen Arnim auf einen gerichtlichen Ausspruch, entfchied, daß die Angelegen: 
heit den Gerichten zu übergeben fet, mit anderen Worten, daß das auf 
wärtige Amt feinen Anſpruch auf die vorenthaltenen Aktenſtücke bei den 
Gerichten anhängig zu machen habe. 


TIER 


197 


Dies ift feitdem gejchehen. Aber unmöglih kann das auswärtige Amt 
blos geklagt haben auf Herausgabe der vom Grafen Arnim zugegebenermaßen 
einbehaltenen Aktenſtücke. Auf diefe Klage allein hätte das Gericht nie die 
Verhaftung anordnen können. Die Verhaftung ift vielmehr angeordnet im 
Intereffe der Unterfuhung und in demfelben Intereſſe durh das Kammer: 
gericht in zweiter Inſtanz aufrecht erhalten worden gegenüber dem Geſuch 
des Grafen, aud der Haft entlafien zu werden. Es kann alfo nicht nur eine 
Unterfuhung ſchweben über den Charakter der ftreitigen Aktenſtücke, e8 muß 
gleichzeitig auch eine Unterfuchung ſchweben über uneingeftandene Handlungen 
des Grafen. Die Vermuthung ift unabweisbar, daß diefe Handlungen ſich 
beziehen auf den dem Grafen angeblich unbewußten Verbleib eines Theiles 
der in dem Botſchaftsarchiv zu Paris vermißten Aktenſtücke. Iſt diefe Ber: 
muthung über den weiteren Gegenitand der Unterfuchung begründet, fo recht— 
fertigt ſich allerding® die Inhaftnahme und die Fortdauer der Haft voll: 
fommen. Denn außer Haft wäre der Graf gewiß viel leichter im Stande, 
die Spuren ded Verſchwindens der vermißten Aftenftüde zu tilgen, wenn 
anders feine eigene Handlungdweife mit diefem Verſchwinden im Zuſammen— 
bang fteht. — 

Offiziös ift auägefprochen worden, die politifchen und perfönlichen Diffe: 
tenzen zwifchen dem Reichskanzler und dem ihm ehemald untergebenen Bot- 
Ihafter zu Paris hätten mit dem gegenwärtigen Gerichtäverfahren wider den 
Örafen Arnim gar nichts zu thun. Formel ift das ficherlich richtig. Es 
handelt fih um vermißte Aktenſtücke, welche der Graf heraugzugeben theild 
verweigert, theild in ihrem Verbleib nicht zu fennen behauptet. Der jtreitige 
Charakter der innebehaltenen Aftenftücte müßte feitgeitellt, dem unbefannten 
Verbleib der fehlenden Aftenftüde müßte nachgeforfcht werden, auch wenn «8 
nie Differenzen zwifchen dem ehemaligen Botfchafter und feinem leitenden Vor: 
gefegten gegeben hätte. Aber wenn folhe Differenzen nicht geweſen wären, 
hätte der Graf dann wohl amtliche Aktenſtücke einbehalten, Könnte er wohl 
im Verdacht ftehen, dem unbekannten Verbleib vermißter Aktenſtücke nicht 
fremd zu fein? Nicht der formelle, wohl aber der fachliche Urfprung des 
Proceſſes mird doch wohl in den Differenzen zwiſchen dem ehemaligen Bot- 
Ihafter und feinem Chef zu fuchen fein. 

Diefe Differenzen, worin beitanden fie? Der Botfchafter wollte eine 
andere Politik ald der Kanzler ſchon während feiner Thätigkeit als Gejandter 
bei dem päpftlihen Stuhl zur Zeit des vaticanifchen Coneils. Dies bezeugen 
die Vrivatbriefe, welche zu diefer Zeit Graf Arnim mit verfchtedenen Perſonen 
über den Gang des Concils gewechſelt und die fchmerlich ohne feine Mit- 
wirkung, mie er freilich den Anfchein zu wahren gefucht hat, in dem wiener 


198 


Blatt „die Preſſe“ veröffentlicht worden find. Noch ftärfer hat der Graf die 
firchliche Politik des Kanzlerd in feinem an Döllinger gerichteten und für die 
Deffentlichkeit beftimmten, weil durd den Adreſſaten der Deffentlichfeit nicht 
vorenthaltbaren Schreiben gemißbillige. Weit mehr als in Rom hat der 
Graf in Paris eine andere Politit ala die des Kanzlerd zur Geltung zu 
bringen geſucht. Ein heftiger und unliebfamer Meinungstauſch hat in Folge 
defjen ftattgefunden, der Graf wurde nad Conſtantinopel verfegt und fpäter, 
nachdem der Brief an Döllinger erfchienen und durch öffentliche Erklärungen 
ded Grafen zu motiviren gefucht worden, zur Diepofition geftelt. Seitdem 
muß der Graf ald der offene, wie vorher als der heimliche Gegner des Kanzlers 
betrachtet werden. Um fich gegen die Befchuldigungen des Kanzlers vertheidigen 
zu können, behauptet er, eine Reihe Aftenftücde der parifer Botichaft bean- 
ſpruchen zu müſſen. Weil die ohne Spur ihres Verbleibs aus dem Botſchafts— 
archiv verſchwundenen Aftenftücde beftimmt fcheinen, gegen den Kanzler zu 
wirfen, darum laftet auf dem Grafen Arnim der Verdacht, ihrem Verſchwin— 
den nicht fremd zu fein. 


Aus dem Publikum ift vielfältig die Frage laut geworden, warum der 
Graf ſich nicht mit den Abfchriften der Dokumente begnüge, fondern auf dem 
Befig der Originale beharre. Als Waffe aber find Originale wirkfamer, ala 
Abjchriften jemals fein können, möchte der Inhalt noch fo ſprechend erfcheinen 
und die Form felbit eine amtliche Beglaubigung erlangt haben. Abfchriften 
fönnen verleugnet, angezweifelt werden, einjlußreihe Betheiligte können dem 
Zweifel aufrichtig oder fcheinbar Wirkung einräumen. Originale können zwar 
au gefälfht werden, aber es giebt Mittel, die Fälfhungen feitzuftellen. 
Echte Originale erzwingen ſchließlich den Beweis. Für men dieſes Bemeid- 
mittel der Echtheit fo eifrig zu wahren gefucht wird, auf wen es zulegt hat 
wirfen follen, das läßt ſich bis jest nicht jagen. Der Reichskanzler jedenfalls 
ift nicht derjenige, der diefe Originale, der die Bekanntmachung ihres Inhalts 
fürchtet. Graf Arnim glaubte vielleiht, eine Waffe gegen den Kanzler zu 
befiten. Der Kanzler entreißt feinem Gegner diefe Waffe durch ein öffent 
liches Gericht. Läge die Wirkung der Waffe in der Veröffentlihung, jo wäre 
fie dur den Kanzler felbft in ihr Element gebracht. Aber er fcheut diefe 
MWirfung nicht und bekämpft den Gegner, indem er die Unrechtmäßigfeit ded 
Beſitzes der vermeintlichen Waffe and Licht zieht. 


Hören wir nun auch den Grafen Arnim. Gr hat zmei von ihm infpi- 
rirte Aeußerungen der Deffentlichfeit zufommen laſſen. Die erjte davon be 
trifft feine Differenzen mit dem Kanzler, die zweite betrifft den formellen 
Charakter der wider ihn erhobenen Anklage. In der zweiten Yeußerung 
deducirt der Graf aus dem perfönlichen, d. 5. feine Perſon auf das ftärfite 


199 


berührenden Charakter der von ihm einbehaltenen Schriftftüde fein Eigen» 
thumsrecht an den letzteren, obwohl er ihren dienftlichen und amtlichen Cha- 
rafter nicht beftritten zu haben angiebt. Das ift eine Logik, gegen die es 
nicht der Mühe lohnt zu kämpfen. Weiter fagt der Graf, er fei nun einmal 
verfähtedener Anfiht mit dem auswärtigen Amt über das Eigenthumsörecht 
an gewiflen Aktenſtücken. Dad ausmärtige Amt Fönne aber nicht Richter in 
eigener Sache fein. Die Unrufung der Gerichte fei alfo in der Ordnung, 
unverftändlich aber bleibe die ftrafrechtliche Unterfuhung. Der Graf verfchmeigt 
aber oder hat vergeffen, daß er auch um den Verbleib von Aftenftüden befragt 
worden, den er nicht zu Fennen behauptet. Meinte er, mit diefer Behauptung 
fi die Sache abgethan? Was aber die zugeftandenermaßen einbehaltenen 
Aktenſtücke betrifft, jo hätte ein correcter Staatödiener diefelben außliefern 
und dann fein Recht bei den Gerichten verfolgen müffen. Aktenſtücke aber, 
deren amtlichen Charakter der Graf felbjt nicht mehr beftreitet, an einem 
unbefannten, ungenannten Ort zu verbergen, beißt, fih zum Richter in 
eigener Sache machen, heißt die ftrafgerichtlihe Unterſuchung hberbeiziehen. 
Wie kann der Graf behaupten, er habe jene Aftenftüde nicht bei Seite ge- 
haft, er, der ihren Verbleib verborgen hält, obmohl er ihre Anfihnahme 
eingefteht. 

Die andere Kundgebung, melde Graf Arnim in die Deffentlichkeit ge- 
bracht, iſt meit befremdlicher ald die eben erwähnte In einem Bericht, 
welchen er der Boffifchen Zeitung hat zugehen laſſen, erzählt Graf Arnim die 
Geſchichte feiner Miphelligkeiten mit dem Fürſten Bidmard. Er fett den Ur, 
fprung derfelben in den Herbſt 1872, und behauptet, bi8 dahin mit dem 
Reichskanzler im beften Einvernehmen geweſen zu fein. Das ift aber fehr 
fonderbar, da der Graf dur die ſchon erwähnten Mittheilungen an die 
wiener „Preſſe“ die Welt belehrt hat, mie zur Zeit des vatifanifchen Coneils 
feine Anfiht über das Verhalten der deutſchen Politik gegenüber dem bevor- 
ftehbenden Unfehlbarkeitsdogma von derjenigen des Fürſten abwich. Noch 
fonderbarer ift e8, daß Graf Arnim fi die Initiative der nachherigen anti« 
römischen Politik beimißt, die er doch in feinem Schreiben an Döllinger fo 
jehr beflagt hat. Alsdann behauptet der Graf, daß er niemals eine legiti— 
miftifhe oder orleaniftifche Reftauration während feiner Thätigkeit in Parts 
begünftigt habe. Gleich darauf aber erzählt er, daß er in feinen Berichten 
unaufbörlich die Gefahren der Befeftigung der Republik mit ſchwarzen Yar- 
ben gemalt und Sorge getragen hat, feine Bedenken über den Kanzler hin» 
weg an die höchſte Stelle zu bringen. Kann man fich da noch wundern, 
dab der Kanzler den Grafen ala Furzfichtigen und ſchwachmüthigen Politiker, 
aber auch als intriguanten Gegner behandelte? Das Stärkfte indeß, mas 
der Graf in diefer Selbftapologie an ungeſchicktem und verbächtigem Gifer 


200 


feiftet, ift da Folgende. Weil einige Dilettanten der Politif und der Finanz— 
wiffenfhaft die Meinung in Umlauf gebracht haben, die fchnelle Abzahlung 
der Miltarden durch Frankreich habe eigentlich Deutfhland Schaden gebracht, 
fo beeilt fih die Phantafie des Grafen, dem Publikum zu berichten, der 
Träger diefer Phantafie fei von jeher für eine langfame Abzahlung der Milli- 
arden geweſen. Diefelbe Gejchmeidigkeit läßt den Grafen ſich einbilden — 
in MWirflichfeit wäre er troß feined fanguinifchen Urtheild eines folden Vor— 
ſchlags nicht fähig geweſen — er habe vorgefchlagen, Deutſchland folle 
fi das Recht referviren, ohne Kriegderflärung Franfreih bis zum 
Meere zu befegen, wenn die franzöfifche Regierung fi) mit den Zahlungen 
fäumig zeigen ſollte. Es ift fchade, daß der Graf diefen Vorſchlag erft in 
feiner nachträglichen Einbildung gemacht Hat. Hätte er ihn amtlich dem 
Kanzler unterbreitet, fo hätte diefer einen Grund gehabt, ſchon damald die 
Stellung des Grafen zur Diöpofition wegen augenfälliger Unfähigkeit zu 
verlangen. — Den 24. Mai 1873, den Sturz der Präfidentfchaft Thiers, 
übergeht der Graf in feinem Bericht mit völligem Stillſchweigen, und doch 
liegt in diefem Greignig die Hauptankflage gegen den Grafen, daß er die 
Politik des vorgeſetzten Staatsmanns durchkreuzt hat. 

Wenn nachgerade im Ausland wie im Inland die Meinung immer 
mehr Boden gewinnt, der Graf habe geglaubt, die Politik beſſer zu verſtehen 
als ſein Chef, und habe die Anknüpfungen geſucht, um durch Verbreitung 
dieſer Meinung den Fürſten Bismarck zu verdrängen, ſo liefern den nicht— 
eingeweihten Kreiſen die vom Grafen ſelbſt inſpirirten Aeußerungen unzweifel— 
haft Anlaß zur Beſtärkung dieſer Anſicht. 

Laſſen wir aber die außerhalb der Oeffentlichkeit liegenden Vorgänge 
aus dem Spiel. Was konnte wohl Fürſt Bismarck thun, wenn ein Bot— 
ſchafter, der wegen Unzufriedenheit des Chefs zur Dispoſition geſtellt worden, 
wichtige Aktenſtücke an ſich nimmt und auf die Aufforderung zur Heraus— 
gabe kurzweg erwiedert: Ihr habt mir nichts mehr zu ſagen! 

In dieſem Fall, ſo ſcheint uns, bleibt dem leitenden Staatsmann nur 
Eins von beiden übrig. Entweder er muß dem Kaiſer ſagen: Dieſer Bot- 
ſchafter a. D. ift fo mädtig, daß er ungeftraft einen Aft der äußerſten In— 
fubordination begehen kann; ich Fann nicht mehr der erfte Beamte fein, meil 
da® arbeitende Perfonal mir nad Belieben den Gehorfam auffündigt! — 
Wenn der Fürft nicht in der Lage war, fo zu fprechen, fo Fonnte er nur die 
Genehmigung des Kaiferd zum Anrufen der Gerichte gegen einen rebellifchen, 
vielletcht bis zur Gefährdung der Staatsinterefjen rebelliihen Staatsdiener 
verlangen. C—r. 


Berlan von $. 2. Herbig in Leipzig. — Drud von Güthel & Kegler in Leipzig. 




















⁊* 
- 





= XXXIT. Jahrgang. IL Semefter, — 


Die 


renzboten. 


— —— 


Zeitſchrift 


für 
Solitik, Literatur und Kunſt. 


Ne 45. 
Ausgegeben am 6. Nobember 1874. 


— 


Inhalt: 
2 — Seite 
Proben gleichzeitiger Volkslieder über die Schlachten bei Hemming⸗ 
edt (1404 u. 1500). In neuhochdeutſcher Uebertragung 
mitgetbeilt von H. Shmolte. . . 22 2 2 2 20. 201 
Herbfitage in Schwaben. 2. Gohenneuffen. Urach. Eningen. 
Die Achalm. Lichtenftein. Reutlingen. Der Hohenzollern. 
Die Schwarzwaldbäder. Hirfau.) Bon Friedrih Lampert 215 
. uuulete GuR 2 Akte 5 2 5 Eee 229 
Bom deutihen Reiihetag Cr. . 2 2 2 2 20. a 





Grenzbotenumfälag: Literarifche Anzeigen. 
Hierzu eine literarijche Beilage von Friedr. Brandftetter in Leipzig. 


— — 5 


Leipzig, 1874. 


Friedrich Ludwig Herbig. F 
AN 
(Ir. Wild. Grunow.) EIZIN 


m: 
N > 
SR Ar 


* "Hei allen Buchhandlungen und Poſtämtern des In⸗ und Auslandes. 


£ -- 
BD . a 
a. — — 





In Ferd. Dümmler’s Verlagsbuchhandlung 


(Sarrwig und Gofmann) in Berlin erfheint: 


Magazin 


für die 


Literatur des Auslandes, 


5 Begründet 
von 

Joſeph Lehmann. 
Dreiundvierzigfier Jahrgang. 
Wöchentlich 1%, bis 2 Bogen Quatt; Preis viertel- 
jährlih 1 Ihlr. 10 Sgr. 

Dad „Magazin“ ift durch jede Poftanftalt und 

Buchhandlung, au von der Verlagsbuchhandlung 


su beriehen. Cine Probenummer liefert jede, Buchs 
bandlıng unentgeltlich. 


« 
+ 


Die October-Mummern ded „Magazin“ 
enthalten folgende Artikel: 


Dentfhland und das Ausland. Heinrich von 
Sybel's Gefchichte der Revolutiongzeit. — Die 
Natur und Entitebung der Träume. — Zwei Bes 
febrte, von Heinrih Dünger. — Grundzüge der 
Pſychologie. — Wieland und Georg Joachim 
Göſchen. — Ein neuer Band von Honegger’d 
allgemeiner Kulturgefchichte der neueften Zeit. — 
Elfrida von Monte-Salerno. — Deutfche Volks— 
wirtbichaftälehre in Italien. — Herman Grimm's 
Fünfzehn Eſſaye, ein Buch von weltweiter Be— 
deutung. — Jüdische Familienpapiere. — England. 
Our Library Table. Bon H. €. Goldfhmidt. — 
Mar Müller als Mifftoneprediger. — Sir Gil: 
bert Elliot. — Noch einmal der englifche Sen- 
fationsroman. — Henry Beyla (de Stendabl). — 
Sranfreih. Guizot. — George Sand über 
Leichenverbrennung. — Die Ecole alsacienne in 
Paris. — Oeſterreich-Ungaru. Rüdblide und 
Erinnerungen von Hand Kudlid. — Maurus 
Jokai ald Humorifl. — Schweiz. Die Frage 
einer eidgenöffifchen Univerfität. — Schweizer 
Briefe. (Kirchliche). — Studien zur Geſchichte 
der römifchen Kaiferzeit. — Belgien. Alerander 
Sendebien, einer der Mitbegründer der belgijchen 
Monardie. Nah Theodor Juſte. — Urtbetle des 
Auslandes über die Altkatholifen. — Standina- 
bien. Nachlefe zu den dänifchen Lyrikern. Feſt— 
Kantate von Richardt, überjeht von Dr. Hugo 
Gädcke. — Italien. Francis Weys Befchreibung 
von Raum. — Literarifche Briefe aus Mailand. 
Von Ludwig Geiger. I. Mailänder Zeitungen. II. 
Neue Schriften: Flugſchriften, Lieferungswerke 
und Bücher. — Barum die italiänifche Literatur 
in Italien nicht populär ift. Kritifche Briefe von 
Ruggtero. Bonghi. I. IL. — Manzoei'd Jugend. 
— Griechenland. Eine Ode von Valaoritis. — 
Drient. Fragments relatifs à la doctrine des 
Ismaclis — Das indifhe Erbrecht. — Nord: 
Amerifa. Nord-Amerikaniſche Analekten. I. II. 








r 12 


P a 
2 — — 
— 


Die soeben erschienene No. 44 der 


Jenaer Literaturzeitung 


im Auftrage der Universität Jena herau 


gegeben von Anton Klette, 


Jena, Mauke’s Verlag (Hermann Duf 


enthält Besprechungen von: 


M. Funk, J. A. L. Funk: von R. Sti 
F. Oehme, Göttinger Erinnerungen: w 
G. Frank. F. v. Sybel, das Recht des S% 
tes bei Bischofswahlen: von O. Mei: 
F. v. Sybel, das altkatholische Bisthum: % 
O. Mejer. C. J. Eberth, Untersuchung 
aus dem pathologischen Institut zu Zürich: v 


K. Bardeleben. R. Wolff, der de 
Getreides: von O. Brefeld. J yeric 
des Vereins für Erdkunde zu esden:. v 


Alfred Kirchhoff. Zwölf Briefe eines st! 
tischen Ketzers: von J. Walter. L. Noi 
die Entwicklung der Kunst in der Stufenfo) 
der einzelnen Künste: von J. Walt 
J. J. Baumann, sechs Vorträge aus dem & 
biet der praktischen Philosopbie: von J. Walt 
F. Helbig, die Sage vom ewigen Juden, il 
poetische Wandlung und Fortbildung: v 


«A. Schottmüller. H. v. Sybel, die deutse) 


Universitäten, ihre Leistungen und Bedürfui= 
von B. Delbrück. R. Volkmann, Geschic 
und Kritik der Wolf'schen Prolegomena 
Homer: von Moritz Schmidt. H. Fisch 
die Forsehungen über das Nibelungenlied ; 
Karl Lachmann: von H. Paul, 


‚Das November-Heft der „„Deutid 
Blätter‘, begründet von Dr. G. Fülln 
herausgegeben von Dr. E. F. Wynek 
Verlag von Friedr. Andr. Perthes in Gotl 
bringt folgende Auffäge: 


Die Ethik Lao-tſe's mit befonderer ugnal 
auf die bubdhiftifche Moral. Bon Fr 
E. v. Hartmannd Religion der Zufu b 
Braune, Die Statiftif der fittlichen atſot 
und der Gedanke einer Socialethik. Bon mi 


Neapolitaner Pfingften. Bon Kleinpaul. 
| Verlag von Otto Meissner in Hambarg 





Siegelringe. 
ar ET eg ee nina 
Von 


Ferdinand Kürnberger. 
33 Bogen 2 Thaler. 
Kürnberger's Feuilletons führen den Stemp: 
kleiner Meisterwerke, die nicht an Zeit nr. 
Oertlichkeit gebunden sind; sittlicher Erns: 
warmes Interesse für deutsche Grösse un 
deutsches Leben, feine Beobachtung, sicher« 
und klares Urtheil sind ihre Wahrzeich., 
Geistvolle und formgewandte Darstelinn. 
untermischt mit köstlichem Humor, bekuni. 
überall den geschichts- undmenschenkundic- 

tiefen Denker. . 





Proben gleichzeitiger Volkslieder über die Schlachten bei 
| Hemmingſtedt (1404 u. 1500). 
In neuhochdeutſcher Uebertragung mitgetheilt von 9. Schmolfe. 


Ditmarfchen ift ein fchmaler Landftreifen an der Weſtküſte Holfteind, der 
fih, etma 7 Meilen lang und 4 Meilen breit, von der Elbmündung bis „ur 
Eider Hinzieht und größtentheild aus, vom Meere angeſchwemmtem und mit 
Sand vermifchtem, feinem Thonſchlamm, fogenanntem Schlick befteht. In un» 
vordenkflichen Zeiten, ald die Nordfee no ein nur nad Norden geöffneter 
Meeresbufen war, jhüsten hohe natürliche Dünen das tiefer gelegene Hinter- 
land, von denen wir Ueberreſte in den zahlreihen Inſeln und Eilanden er» 
kennen, die von der Rheinmündung bis zur cimbrifchen Halbinfel Hin die 
Küfte umfäumen. Als aber dem unermüdlichen Anprall der atlantifchen 
Hochfluth der Iſthmus zwifchen Dover und Calais plögli wich, und die 
Mafjermaffen unaufbaltfam gegen die dftlihen und füdlichen Geftade fich 
beranmwälzten, da zerbrachen die aus leichtem Sand gefügten Hügelfetten und 
öffneten der Fluth einen Weg ind Land, das nun regelmäßigen, aber be 
fruchtenden Ueberſchwemmungen audgefegt war. Frühzeitig vereinigten ſich 
Hier die Kräfte der Menfchen zu gemeinfamer Arbeit, um den fetten Küften- 
faum dur Fünftliche Deiche zu hüten und geregeltem Anbau zugänglich zu 
machen. Sie zogen hohe Dämme, die ald Verkehrswege dienten, und durch— 
fchnitten dad Land mit zahlreichen Entmäfjerungdgräben, die es für einen 
Fremden fat unzugänglich machten, während fie von den Eingeborenen mit 
ihren Springftangen leicht überfchritten wurden. So war das Ländchen ein 
Geſchenk des Meeres, aber ein abgedrungened, das die peinlichfte Sorgfalt 
und oft die höchſte Kraftanftrengung erforderte, um es vor der nimmerfatten 
Gier des tückiſchen Elemented zu jehüsen, aber die verwandte Mühe auch mit 
überreihem Ertrage belohnte. 

Die Ditmarfen, mit den alten Sachfen, am nächſten aber mit den 
Friefen verwandt, waren ein troßige® und kühnes Gefchleht, ähnlich jenen 
Schweizer Bauern, die zwifchen ihren Bergriefen ſaßen, mie jene zwiſchen 
Deichen und Gräben. Mit den Schweizern haben fie auch die größte Aehn- 

Grenzboten IV. 1874. 26 


— — 


202 


fichfeit in ihren politifhen Schidfalen. Die Hauptmomente ihres Freiheits— 
fampfed fallen in die Zeit nad) der Schlacht bei Sempach und nad den 
Burgunderfriegen. Dazu ift es derfelbe Conflict politifcher Principien, der 
auf beiden Kriegsfhauplägen im Norden und im Süden ded Reichs aus- 
gefochten wird: der Konfliet zwifchen den letzten Reſten nationaler Yreiheit 
und dem aufjtrebenden fürftlihen Abfolutismus. Aber der Kampf der Dit- 
marfen war härter, ihre Stellung tfolirter, die Macht ihrer Gegner furdt- 
barer durch politifche Combinationen, jo daß fie, von Kaifer und Reich preis: 
gegeben wie die Schweizer, nur allzu früh ihrem Schickſal erlagen. 

Seit alten Zeiten gehörte das Land zum Erzftift von Bremen, deſſen 
Dberhoheit aber nur formell anerfannt wurde. Nachdem zu Ende des 
12. Jahrhunderts der Adel vertrieben worden war, bildete ed eine freie 
Bauernrepublif, die fi nach einem eigenen Nechtdcoder, dem ditmarſiſchen 
Randbuhe (zufammengeftellt 1348, gedrudt 1497), von felbft gewählten Be 
amten regieren ließ. Es zerfiel in 4 Vogteien oder Dofften, jede Dofft in 
Kirchſpiele, jedes Kirchfpiel in Dorfſchaften. Die Vögte, Kirchipielbeamten 
und Dorfälteften verwalteten alle gemeinfamen Angelegenheiten, über ihnen 
fanden als Controllbehörde die Achtundvterziger, eine Art Senat, zu dem jede 
Dofft 12 Mitglieder ftellte, zu den großen Landesverſammlungen aber traten 
außer den Achtundvierzigern und den Vögten noch Abgeordnete aus allen 
Dorfichaften zufammen. Das Leben des Ditmarfen verftrih unter harter 
Ürbeit und ftetigem Kampf mit den Elementen der Natur. Tägliche Waffen 
übungen durften nicht fehlen. Mit 14 Jahren trat er zu feiner Ertegerifchen 
Ausbildung in die junge Landwehr. Mit 17 Jahren und 1'/, Monaten 
ward er mündig und in den Berfammlungen der Dorfgenofjen ftimmberechtigt. 
Der Neihthum diefer ftolzen Bauern war ſprichwörtlich und reizte die nächften 
Nachbarn zu häufigen Raubzügen. 

Im Jahre 1402 machte Herzog Erih von Sachſen einen Einfall im 
Ditmarfchen. Die Ditmarfen befhuldigten den Grafen Albrecht von Holſtein, 
einen Sohn Heinrich® ded Eifernen, ihm Vorſchub geleiftet zu haben, und 
forderten Genugthuung. Da erklärte ihnen Albreht mit feinem Bruder 
Gerhart, der Herzog von Schleswig war, den Krieg und begann ihn mit 
plündernden Einfällen. Um einen Stüspunft für ihre Unternehmungen zu 
haben, erbauten die Holfteiner 1403 vor Meldorg, dem Hauptorte von Sübder: 
ditmarfchen, einen feiten Thurm, die Marienburg. Wiederholt verfuchten die 
Bauern, das verhaßte Bollwerk zu zerftören, aber immer vergeblih. In— 
zwifchen ftarb Graf Albrecht auf einem Streifzuge und hinterließ fein Land 
feinem Bruder, der die Feindfeligfeiten unabläffig fortſetzte. Da rief Rolf 
Bodenjohn, einer der Angefehenften im Lande, wie das Volkslied erzählt, die 
Ditmarfen zufammen: 


203 


„Tretet herzu, ihr ftolzen Ditmarſchen! 
Unfern Kummer, den wollen wir rächen. 
Was Hände gebauet haben, 
Das fünnen aud Hände zerbrechen!“ 
Da — die — überlaut: 
er „Wir wollen drum wagen Gut und Blut 
„Das item wir nun — nimmermehre! Und wollen alle drum ſterben, 
Wir wollen drum wagen Hals und Gut Eh' daß der Holſten Uebermuth 
Und wollen das Schloß umkehren!“ So ſollte unſer Land verderben!“ 


Sie machten einen neuen Verſuch, die Zwingburg zu nehmen, wurden 
aber mit Verluſt zurückgeſchlagen; Rolf Bockenſohn fiel mit vielen anderen. 

Deſto beſſer gelang es ihnen im folgenden Jahre. Herzog Gerhart 
unternahm im Sommer 1404 mit einem auserleſenen Heere von Rittern, 
Herren und Knechten einen Einfall von Süden her. Die Holſteiner hauſten 
aufs gräulichſte in den Dörfern, aus denen die Bevölkerung geflohen war, 
und trieben namentlich alles Vieh fort, worin der Hauptreichthum des Landes 
beſtand. Es gab damals nur zwei Wege, um ins Land zu gelangen: der 
eine von Norden her auf Heide, den Hauptort des nördlichen Diſtrietes, der 
andere von Süden über Meldorp auf Hemmingſtedt, beide durch ſogenannte 
Hammen, dichte, jumpfige, von Gräben durchfehnittene Holzungen führend. 
Auf dem Rüdzuge durch die Süderhamme ward das mit Beute beladene 
Heer am 5. Auguft von den rakhedürftenden Ditmarfen überfallen und zum 
Theil niedergemacht, zum Theil in den Sumpf gejagt. Herzog Gerhart fiel 
und mit ihm die Blüthe des fchledwig-holfteinfchen Adels, darunter Heinrich 
von Siggem, ded Herzogs Marfchall, mit zwei Söhnen. Er hatte fih, ala 
er die Schlacht verloren fah, mit dem Banner durchgeſchlagen, aber auf die 
Kunde von dem Tode feine® Herrn wieder in das Kampfgewühl geftürzt. — 
Ueber diefe Schlacht gab es gewiß alte, gleichzeitige Wolkälieder, von denen 
fi aber nur eined und zwar in einer 100 Jahre fpäter fallenden Ueber- 
lieferung erhalten hat. Es bildet den Eingang zu einem umfafjenderen Ge- 
dicht, welches die fpätere Schlacht bei Hemmingftedt zum Gegenftande hat, 
und auf das wir unten mehrfach zurüdfommen werden. Der Dichter des 
letzteren beabfichtigte, mie die Heberfchrift zeigt, die dasſelbe in der beiten, 
einer Berliner Handfchrift führt: 

„Was in hundert Jahren und num ift geſchehn 
In Ditmarfhen: das mag man hier hören und fehn,* — 

offenbar einen größeren epifchen Zufammenhang in feiner Darftellung zu 
umfaffen und Fnüpfte naturgemäß an jenen erften großen Sieg über die 
Randeöfeinde an, indem er ein Älteres Ried dabei benugte, deſſen Weiſe und 


204 


Verdmaß er annahm, wenn au nicht durdhführte. *) 


{ 


Ebenſo erwachte bei 


den Schweizern in der Bedrängniß der Burgunderkriege das Andenken an 
die Heldenthaten von 1386, wie die im Tone der Sempacherlieder gedichteten 
ſpäteren Schlachtgeſänge zeigen.“) Das Lied von der Schlacht in der Süder— 
hamme lautet nach der Meberlieferung des fpätern Dichterd mie folgt: 


„Als man fchrieb taufend vierhundert 
und vier, 

Da nahm in Ditmarjchen ein Herr 
Quartier, 

Des eifernen Heinrich's Sohn, ein Fürft 
groß und reich, 

Herzog Gerhart von Schleswig und Herr 
von Holftein zugleich.“ 


„Fünfzehn Ritter find zufammen geweſen 

Und vierhundert wadre Mannen auserlefen, 

Ohne Bauern und Kriegesfnechte. 

Ihrem Herrn wollten fie Beiftand thun 
nad) Rechte.“ 


„Die Holfteiner griffen männiglich zu, 

Es war Pferd oder Ochſe, Schwein oder Kuh, 

Da ward von allem nichts vergefjen ; 

Bon Kleider alles, was da war; Ge- 
fchmeide ward abgerifjen.“ 


„Der Weg war zu ſchmal und zu enge, 

Sie famen bald in groß ©edränge, 

Niemand konnte dem andern weichen, 

Der größte Haufe blieb, die Armen und 
die Reichen.“ 


„Doch da der Ritter das vernahm, 

Daß fein gnädger Herr nicht nad) ihm kam, 

Ward er ohmemafen bange; 

Er wollt’ ſich lieber todtfchlagen laſſen, 
wenn er wär' gefangen.“ 


„Er hatt! entboten feinen guten Mannen 
allen, 

In Ditmarfchen wollt! er mit einem Heer 
einfallen : 

„Wollet ihr aud) nun alle bei mir bleiben ?* 

Da riefen fie: „Gnädger Herr, mit Gut 
und mit Leben!“ 


„Wie fie num famen ind Land gezogen, 

Die Ditmarfchen find alle raſch geflohen 

Aus dem Wege, wo fie fich fehen ließen; 

Sie famen alle zur Hamme mit ihren 
langen Spießen.“ 


„Da fie wieder in die Hamme kamen, 

Die Ditmarfchen ihrer bald wahrnahmen, 

Mit Armbrüften und mit ihren Spießen 

In großer Grimmigfeit die Borderften 
fie niederftießen.“ 


„Herr Heinrid) von Siggem, ein Ritter gut, 

Der hatte zumal einen freien Muth, 

Er wollte allein nicht berzagen ; 

Das Banner bradt' er dur, da das 
Heer gefchlagen.“ 


„Er ift wieder gefommen zu dem Haufen 
geritten 

Und hat mit feinen zwei Söhnen bie 
zum Tod geftritten. 

So gehört ſich's für einem edlen Mann 
von Ehren, 

Wie er dort hat fein Leben gelafjen für 
feinen Herren.“ 


& *) Die Strophe beſteht aus 3 Kurzzeilen und einer doppelt jo langen Schlußzeile, doch 
ift der urfprüngliche Bau durch Ueberfüllung der Reihen vielfach verdunfelt. 
»*) Bergleiche des Verfaſſers Aufſatz: Die Kämpfe der Schweizer gegen Burgund u, j. w. 


in Rr. 38 der „Orenzboten“. 


3. Quartal 1874 ©. 460. 


205 


„Die Ditmarfhen machten da einen Bund, - „So ift e8 geblieben zehn Jahr in gutem 
Sie legten Marienburg in den Grund, Beltand, 
Sie wollten nirgends mehr Schlöffer leiden, Der eine mocht' befuchen des andern Yand 
Wenn die Holften kämen, daß fie night Im einem guten Frieden wohl gelitten; 
fönnten draus jtreiten.“ Daß fie fo ſtets in Ruhe fähen, das 
war ihr Bitten.” — 


Mit der Friedendliebe der Ditmarfen ſcheint es aber nicht meit her ge 
weien zu fein, doch murden fie aud durch die andauernd bedrohliche Haltung 
der Gegner zur Dffenfive gedrängt. Zehn Jahre fpäter, 1414, fielen fie ind 
Holfteinfhe ein, murden aber zurüdgefchlagen. Ste wiederholten indeß ihre 
Einfälle und fingen 1431 fogar mit Hamburg Fehde an. Als 1434 Feind- 
haft zwifchen den einzelnen Randgemeinden entftand, und fich die Republik 
in zwei Parteien zu fpalten drohte, vermittelten Lübifhe und hamburgifche 
Abgefandte den Frieden, der nun länger ald 40 Sabre dauerte. — Mit dem 
legten Viertel des Jahrhundert? aber zog fih über dem muthigen Völkchen 
ein Ungewitter zufammen, dad an Furchtbarkeit alle frühern Bedrängniffe 
übertraf. 


Seit dem Tode Adolf VIII. (Dezember 1459), mit welchem der Mannes 
Hamm des fchleswig-holfteinichen Haufed ausſtarb, war deſſen Schmiegerfohn, 
König Chriftian I. von Dänemark, gewählter Landesherr von Schleswig und 
Holitein und damit unmittelbarer Nachbar der Ditmarfen. In ihm erwuchs 
dem Rande ein Feind, der durch militärifhe Macht und politifche Verbin- 
dungen gefährlicher war als alle früheren. Chriftian war ein eifriger Partei— 
gänger derjenigen politifchen Richtung, die in Ludwig XI. und Karl dem 
Kühnen damald ihre Hauptvertreter fand, während ihr im Reich befonders 
Markgraf Albreht Achilles und Herzog Albreht von Sahfen folgten. Die 
Beftrebungen diefer Partei, deren Glieder in engen, freundfchaftlihen und 
diplomatifchen Verbindungen ftanden, gingen hauptfählih auf Hebung und 
Erweiterung fürftliher Macht und Unterdrüdung der alten Freiheiten des 
Adeld, der Städte und der Randgemeinden. Im Zufammenhange damit ftand 
8, daß der Kaifer im Sahre 1473 eine Urkunde ausftellte, durch welche Ditmar- 
hen für heimgefallened Reichslehen erklärt und dem Könige von Dänemark 
jugefprochen wurde. Im folgenden Jahre unternahm Chriftian eine Reife 
nah Rom und erreichte bei einer Zuſammenkunft mit Friedrich III. zu 
Rotenburg a. d. Tauber, daß die Graffhaften Holftein und Stormarn nebft 
dem „ihnen incorporirten“ Ditmarfchen zum Herzogthum erhoben und ihm 
aufd neue feierlich zugefichert wurden. Aber die Ditmarfen weigerten fich, 
ihm den Huldigungseid zu leiften, indem fie geltend machten, daß fie an da 
Stift zu Bremen gehörten, und der wanfelmüthige Kaifer erklärte fchließlich, 


206 


er babe von diefem Verhältniß Feine Kenntniß gehabt und hebe nunmehr die 
Belehnung wieder auf. 

Bald darauf ftarb Chriftian I. (1481), und ihm folgte fein ältefter Sohn 
Johann ala König in Dänemark und gemeinfam mit feinem Bruder Friedrich I. 
in den Herzogthümern. Derfelbe machte auf einem Tage zu Itzehoe 1489 
feine Anfprühe auf Ditmarſchen formell geltend, ward aber durch feine 
ſchwediſchen Angelegenheiten verhindert, fie zu verfolgen. 1496 unterwarf er 
Schweden, wo ihm Sten Sture die Krone ftreitig machte, mit Hülfe der ſo— 
genannten „großen“ oder „[chwarzen Garde”, einer Schaar friefifcher, ſächſiſcher 
und anderer Nandäfnechte, die unter ihrem Führer, Junker Thomas Slenz 
oder Slenitz, ſchon in Holland fih gefürchtet gemacht hatten. In die Herzog. 
thümer zurücdgefehrt, verfiherte er ſich zunächſt der Beihülfe jeined Bruders 
Friedrich, der mit den Ditmarfen über Helgoland in Streit gerathen war. 
Darauf legte er auf einem Tage zu Rendsburg 1499 den ditmarfifchen Ab- 
gefandten feine Bedingungen vor: fie follten 15,000 Mark in den Schatz 
zahlen und fi) mit der Errichtung von drei feften Schlöffern einverftanden 
erklären. 

„Das eine follte zu Brunsbüttel ftehn, 
Das andre an der Eiderfähre, 

Das dritte follte zu Meldorg ftehn, 
Da wollte er fein ein Herre.“ 

Da antworteten die Ditmarfen wie vor 100 Jahren, mit dem „über: 
lauten“ Rufe: 

„Das gefhieht nun und nimmermehre! — 
Drum wollen wir wagen Hals und Gut 
Und wollen alle drum fterben, 

Eh’ daf der König von Dänemark 

So follte unfer ſchönes Land verderben!" — 

Die Rendsburger Verhandlungen und die darauf folgenden Rüftungen 
auf beiden Seiten werden in dem oben erwähnten umfangreichen Liede fo be- 
ſchrieben: 

„Der König hat feinen Voten ausgeſandt, „Den Boten empfingen fie mit Hohn und 


Er bat, fie follten ihm gehen in die Hand*) Grimm, en 

Und ſich nicht ftellen jo verdrofien ; Was fie antworteten, dad war ſchlimm: 

Er wollt’ ihnen ein gnädger Herr fein und Sie boten dem gnädgen Herrn für ſeine 
fie bei ihren Privilegien laſſen.“ Kronen, 


Wenn er ſich's wollt‘ genügen laffen, einen 
Scheffel Bohnen.“ 


„Das hätt’ den KönigHanſen fehr verdrofien, Daß er wollte gehorſam machen etliche Lande, 
Cr hätt? mit vielen Herren einen Bund Alles Bolt war ihm willlommen, das 
gefchloffen , man ihm fandte.“ 


*) In die Hand gehen — den Huldigungseid leiſten. 


207 


„Der König ift mit Herzog Friedrich über- „Da nun die Städte dies hatten ver- 


eingefommen, nommen, 

Die oldenburgifchen Herren haben fie mit- Iſt eine große Berfammlung zufammens 
genommen, gelommen, 

Herr Hans von Ahlefelde ward nicht Da haben fie unter manch Anderm ger 
vergefien , ſprochen: 


Ritter und gute Mannen, die alle waren „Thürme, Mauern und Wälle wollen wir 
hoch gejefien.“ - alle feſtmachen.“ 

Unter den Städten, die ed im Gefühl der gemeinfamen Gefahr mit den 
Ditmarfen hielten, waren befonderd Hamburg und Kübel. Mit König 
Johann aber waren außer der ſchleswig-holſteinſchen Ritterſchaft, unter der 
die Herren von Ahlefeld ald alte Feinde der Ditmarfen fi audzeichneten, 
feine olvenburgifchen Bettern, Zuzüge aus Yauenburg, Medlenburg, Pommern, 
Brandenburg, fein Bruder Friedrich und die „große“ oder „ſchwarze Garde”. 
Diefe bildete in einer Stärfe von angeblih 15,000 Mann*) den Kern des 
über 24,000 Mann zählenden Heered und bot durch ihre Kriegsbereitſchaft 
und Gewohnheit des Waffenhandwerfs die befte Bürgfchaft des Gelingens. 
Wie ſehr die verwegene Tapferkeit diefer wilden Schaaren auf der einen 
Seite gefhäst, auf der andern gefürchtet wurde, das zeigt uns ein gleich 
zeitiged Lied, das, im echten Volkston gehalten, durch Lebhaftigkeit und Kraft 
der Darftellung alle ähnlichen übertrifft. Es wird von dem Chroniften, der 
es überliefert (Hand Detlev Ditmarf. Hiftor. Relation, Hdſchr. d. Kieler Uni- 
verfitätäbibl.), troß feines eptfchen Inhalt? als ein Tanzlied bezeichnet und 
lautet in mögkihft getreuer Nachbildung etwa jo: 


„Der König wohl zu dem Herzog ſprach: 
Ad Bruder, herzlieber Bruder, 
‚Ach Bruder, berzliebfter Bruder mein, 
Wie wollen wir das beginnen, 
Daß wir das freie, reiche Ditmarjchenland 
Dhn’ unfern Schaden mögen gewinnen ?* 


„Sobald die Garde diefe Mähre vernahm, 
Sie rüftete fi) mächtig fehre, 

Sie rüftete wohl fünfzehntaufend Mann, 
Der Trommelfchläger der jchlug wohl an, 
Sie zogen über die grüne Heide.“ 


„Dem König gefiel die Rede nicht wohl, 
Er thät bald wieder fprechen: 


„Sobald das Reinhold von Mailand **) 
vernahm 

Mit feinem langen, gelben Barte, 

Da ſprach er: ‚Wollen machen einen 
Boten bereit 

Und ſchicken nad der großen Garde. 

Bill uns die Garde Beiftand thun, 

Ditmarfchen foll bald unfer mwerden.‘ 


„Und da die Garde zum König kam: 
‚Ah König mein lieber Herre, 

Wo liegt denn nun das Ditmarfchenland, 
Im Himmel oder auf fchlichter Erde * 


„8 ift nicht mit Ketten an den Himmel 
gebunden , 
Es liegt wohl unten auf der Erde.“ 


”) Diefe Angabe, die fi in zwei alten Liedern findet, ift entfchieden übertrieben; vielleicht 


bezeichnet fie die Gefammtjumme der Zuzüge. 


Ich kann den Namen nicht weiter nachweifen. 


Iren 


208 


„Der Gardeherr fprah mit Muthe ftark: 
‚Ad König, mein lieber Herre, 

Iſt es nicht gebunden an den Himmel hoch, 
Ditmarschen foll unfer bald werden!“ 


„Er ließen die Trommeln fchlagen alsbald, 

Die Fähnlein, die ließ er fliegen, 

Damit zogen fie einen langen Weg, 

Dis fie das Land zu Gefichte Friegen : 

‚Ah Ländchen tief! Nun bin ich nicht 
weit, 

Du ſollſt nun mein bald werden.‘ 


Im Februar 1500 erfchien der König in Holftein und entſchloß fih 
troß der naffen Jahreszeit zum fofortigen Aufbruh. Am 11., Dienitagd nad 
Scholaſtiea, ward Alverddorp genommen, dad an der Dftmarf ded Nandes 
auf der Geeft liegt, und von da ging's ſüdweſtwärts auf trodenen Geeftwegen 
gegen MWindbergen. Was fliehen Eonnte, floh in die weitlichen Marfchen 
wohin die Königlichen nicht zu folgen vermochten; die ftreitbare Mannſchaft 
aber fammelte fih im Norden des Landes um ihre Banner. Sie aufzufuchen, 
wandte fi der König von MWindbergen nordwärts gegen Meldorp, das nad) 
furzem Gefecht am 13. genommen murde. Die Garde plünderte die Kirchen 
und das Klofter und haufte graufam in der eroberten Stadt, in der eine 
Beſatzung zurücgelafien wurde. Davon fingt da® mehrfach erwähnte größere 
Ried wie folgt: 


„Dranf zeigte fi der König auf der 
Holften Erde 

Mit großer Mannheit zu Fuß umd zu 
Pferde, 

Ausſtreckt er feine Flügel zu beiden Enden, 

Gewappnet von Haupt zu Fuß und an 
den Lenden.“ 


„Die erſte Nacht blieben fie zu Alvers— 
dorp ftehen, 

Da mollte ihnen niemand entgegengehen, 

Der eine lief nad) Süden, der andre nad) 
Norden, 

Denn die Garde wollte fie alle morden. “ 


„Des Donnerftags zogen fie nach Mel- 
dorp unverdroffen, 

Da haben fie fih mit den Ditmarfchen 
geſchoſſen; 

Die Garde die war gar unverzagt, 

Alſo daß die armen Leute von dem Ihren 
wurden gejagt.“ 


„So find fie gezogen in Ditmarſchen um 
verzagt, 

Des Dienftags nad) Scholaftica der reinen 
Magd, 

Mit alfo grogem Schmude ohnemaßen; 

Sie hatten das fo ausgemacht, fie wollten 
niemand leben laſſen.“ 


„Des Mittwochs find fie gen Windbergen 
gezogen, 

Ale, die da waren, find raſch geflohen, 

Ein jeglicher, wohin er fich mochte 
jalvieren ; 

Denn wie follten die armen Bauern 
Krieg führen ?“ 


„Die Kranken, die da nicht laufen konnten, 

Blinde, Bettlägrige, fie jagen oder jtunden, 

Da wurde nichts gefchont, die Mutter 
mit dem Rinde 

Wurde gemordet gleich einem fetten Rinde.” 


no 


209 


„So haben fie Meldorp eingenommen 

Und auch die Kirchen zu ihrem Frommen 
(Nuten) , 

Da haben fie die Hände zu brauchen 
gewußt , 

Was in Kaften und Kiften war, hat 
heraus gemußt.“ 


„Zur Stunde ward der Thurm mit 
einem Zeichen gezieret, 

Einem Kreuze, mit Gold und Perlen 
ausftaffiret ,*) 

Gleich jenem, zu dem Kaifer Conftantin 
einft flehte, 

Daß Gott ihm defto befjer Beijtand thäte.“ 


Bid Ende der Woche blieb der König in Meldorp ftehen, da fein Bruder 


und andere zur größten Vorfiht mahnten. 


Der Meiterweg führte über 


Hemmingftedt nördlich auf Heide und Lunden dur die tiefe Marfh und 
mar ohne landfundigen Führer nicht zu befchreiten, da die Gräben in Folge 
des anhaltenden Regens übergetreten waren. Der Verräther, der fih vom 
König bereit finden ließ, Scheint jener Carſten Holm gewefen zu fein, von 


dem das nachfolgende Lied erzählt: 
Carſten Holm der fam dazu: 
„Mein lieber Herr Hans, wohin geht's nu?” 


„Mein lieber Garten, wartet eine Weile, 
Ich will euch geben das Schloß zu Tiele."**) 


„Denn würden fie meiner hier gewahr, 
Mein Leben hinge an einem Haar.“ 


„Seid morgen früh dort unſre Gäfte, 
Ich will euch geben das allerbefte.“ 


„Und jtedet das ganze Dorf nur an, 
Die Bauern liegen ſtark daran.” 


„Mein Lieber Carften, ich Iob euer Wort 
Id meine, es gehet nun bald fort.“ 


„Mein lieber Herr Hans, id) kann's nicht 
nehmen, 
Muß mid der Bauernart bequemen.“ 


„Aber auf der Heide nicht weit von hier, 
Da mwohnet Peterd Hans mit mir.“ 


„Sch will euch ſchenken Meth und Wein, 
Dann ziehen wir nad) Lunden hinein.“ 


„Und ftedet an das halbe Yand, 
Das übrige geht euch wohl zur Hand.“ 


Das andere Lied meldet nur die Ausfendung des KHundfchafterd und 
feine Gefangennahme durch die Ditmarfen, die von ihm des Königs Abfichten 


erfubren: 


„Des Sonnabendd ward ein Mann 
ausgejandt, 

Der war im Lande wohlbekannt, 

Zu erjpähen den Weg nad Hemmingftedt, 

Und wo es meiter nad) Heide geht.“ 


„O Leben Freunde laßt mich nur leben, 

IH will's euch offen zu erfennen geben, 

Es joll euch allzumal frommen und nügen, 
*) Gemeint ift der Danebrog. 


) Die Tielenburg an der Eider. 
Grengboten IV. 1874. 


„Derjelbige Mann der ward gefangen, 

Sie wollten beides, ihn morden und hangen, 

Griffen ihn bei den Haaren, beim Hals 
und Sinne: 

„Sag' uns, was hat der König im Sinne?“ 


So wahr ihr mir hier mein Leben wollt 
friften.* 


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210 


„Da hat er befannt und geftanden jofort, Heide und Lunden zu nehmen auf einen 
Wie der König und Herzog fic gegeben Tag. 
das Wort, Das ich in Wahrheit euch wohl melden mag.” 
Da bielten die Ditmarfen einen Rath und befchloffen dem König ent: 
gegen zu gehen. Vorher aber beichteten alle ihre Sünden, nahmen das heilige 
Abendmahl und riefen die Hülfe des Himmels an. Ihre Fahne vertrauten 
fie einer Jungfrau aus Hohnwörden, die das Gelübde der Keufchheit gethan 
hatte, und wählten Wolf Iſebrand, einen ihrer Xelteften und Angefeheniten 
im Lande, zum Führer. Diefer rieth ihnen, auf dem Dammmege füdlich vor 
Hemmingftedt eine Schanze aufzumerfen und dort den König zu ermarten: 
„Isbrand, das war ein frommer Mann, „Er gab dem Land eine weiſe Lehr‘ 
Der immer foll in Lobe ftahn. Zu Hemmingftedt vorm Süderthor: 


„Legt euch) ein wenig hier unter den Damm, 
Daß euch hier niemand ſchießen kann.“ 

Sie gruben fih in der Nacht vom Sonntag zu Montag an der fo 
genannten Dufenddümwelämwarf ein und befegten die von Melvorp herführende 
Straße mit Gefhüsen. Am 17. früh bet dunklem, regnichtem Wetter brach 
der König von Meldorp auf. Das Heer näherte fich unter dem Getöfe der 
Drommeten und PBaufen, das bis zum Himmel drang; es war mie der Volks— 
dichter fagt, gleihfam ihr Schwanengefang. Boran zog die Garde, im der 
Mitte die Fußfnehte, dann die Ritter und der Wagentrog. Man wollte 
die Fleine Schaar mit Uebermacht umzingeln und zum Schlagen zwingen; die 
dänifhen Schügen gedachten alle Ditmarfen zu tödten. Aber es war nit 


Und leget die Speere nieder an die Erde, 
Damit fie nicht gefehen werden.” 


möglich die Schladhtordnung zu entfalten, denn: 


„Der Weg war enge, fchlammig und 
dredig, 

Der Deich hoch, der Graben tief und 
ſchlicig, 

Regen, Schnee und Wind war ihnen 
entgegen; 

Da begann ſich bald bei allen die Furcht 
zu regen.“ 


„Mariens Hülf, der werthen Gottes— 
mutter, 

Die ſie erbat bei Jeſu unſerm Bruder, 

Auf ſie allein war ihr Verlaß, 

Sie achteten alle nicht der Feinde Haß.“ 


„Auch haben ſie empfangen alle gemein 
Den Leib Jeſu Chriſti in einer Hoſtie klein, 


— — 


Die Ditmarſen aber 


EEE a die Wege gar wohl 
fannten, 

Beſſer ald die da waren aus fremden 
Landen ; 


Drum hatten fie auch fo viel befjern Muth 
Und tröfteten ſich felber in ihrer Noth.“ 


„Die gewannen fie mit Faften und Beten 

Und andern guten Werken, die fie thäten; 

Daß fie würden befreiet von ihren 
Schmerzen, 

Haben fie gebeichtet von allen ihren Herzen.“ 


Daß ihnen ihr Gott fo viel guädiger fein 
wollte 
Und fie von ihren Feinden erretten follte.“ 


— ⸗— ——e 
“u m 


211 


„Eine reine Jungfrau bei ihnen war, Die führte ihr Banner auf allen Wegen, 
Die brachte da8 Gelübde der Keufchheit dar, Daß fie ihnen möchte behalten Gottes 
Segen.“ 


Als die Garden heranzogen, fingen die Gefchüge der Ditmarfen an zu 
fpielen und beftrichen den Weg. Jene theilten ihre Spige und breiteten fich 
mühſam rechts und link? von der Straße aus, während eine Abtheilung die 
feindlihe Stellung weſtwärts gegen „tor Liet“ hin zu umgehen fuchte. Aber 
in dem weichen, von Gräben durdhfchnittenen Boden konnten weder Mann- 
haft noch Geſchütze fortlommen, und das Waſſer ſchwoll durch Deffnen der 
Schleufen immer verderblicher an. est brachen die Ditmarfen unter Wolf 
Iſebrands Führung hervor und fielen auf gewohnten Terrain mit leichter 
Beweglichkeit die unbehülflihe Maffe an. Die Garde focht ihrem Rufe ent- 
ſprechend und ſchlug den erften Ausfall zurück. Beim zweiten Fam fie ind 
Weichen und verwirrte ih, da die Ritter von hinten nicht Hülfe bringen 
konnten, in einen dichten Knäuel, in welchem die langen Spieße und Pieken 
der Ditmarfen aufs graufamfte mütheten. Junker Thomad ward im Ge- 
tümmel vom Pferde geriffen und, mie es heißt, durch Fußtritte erftict.*) 
Nachdem fie mit der Garde fertig waren, machten fich die grimmigen Feinde 
an die holfteinfchen, friefifhen und dänifchen Fußknechte, mit denen fie leichtere 
Arbeit hatten. Jetzt wandte fi ſchon alles zur Flucht, auch die Ritter ver- 
mochten trotz mannhaften Widerftandes der Niederlage nicht Einhalt zu thun. 
Diefe mußte unter den vorhandenen Umftänden verderblich werden. Mas 
nicht niedergemacht wurde, ertranf in den übergetretenen Gräben oder erftickte 
im Schlamm. Der König felbft und der Herzog entkamen mit Noth, die 
Didenburger Grafen und jener Hand von Ahlefeld fielen tapfer Fämpfend an 
der Spige der Ritterfchaft. Weber eine Meile ging die Verfolgung. Der 
ganze Troß blieb den Siegern ald Beute, dazu die dänifche Fahne, der Heilige 
Danebrog. 

Den Verlauf der Schlacht jhildert ein andered Lied, das angeblich von 
einem Prieſter berrührt,**) folgendermaßen: 
„Die Ditmarfen hatten ihre Büchfen geftelt „Die Garde fam vorgedrungen zur Zeit, 
Sie fhoffen zu ihnen hinaus ins Feld Sie zogen ſich weſtwärts gegen „tor Liet“, 


Mit einem freien Muthe. Sie wollten da8 Gut verderben. 
Deß erſchraken fi die Edlen gar jehr, Sie ſchrien: „Wohlan, ihr ftolzen Bauern, 
Es lamen ihrer fo viel zu Tode.“ Ihr müßt noch alle vor Abend ſterben!“ 


*) So der Ehronift Neocorus; vergl. das unten angef. Lied. 

») Der Ehronift bemerft dazu: auctor fuit presbyter quidam. Priefter waren vielleicht 
öfter die Berfaffer von dergleichen Liedern. So haben wir noch eines über die Schlacht bei 
Hemmingftebt, welches ähnlich wie dad der Berliner Handichr. an die Schlacht von 1404 ans 
nüpft und fih dann im Preife Gotted und des Notbhelfers Chrifti ergeht. Es zeichnet fich 
weniger durch Energie der Darftellung ald durch glatte Verfification aus. Jenes oben erwähnte: 
„der König wohl zu dem Herzog ſprach“ ift gewiß nicht von einem Prieſter. 


212 


Die Ditmarfen aber riefen in diefer Noth: 


„Nun hilf, Maria, du reine Magd, 
Wir loben dich mit ganzem Bertrauen: 
Behalten wir heute die Ueberhand, 
Ein Klofter woll’n wir dir bauen!“ 


„Ein Crucifir hatten fie mitgebracht , 
Davor die Garde fich fehr erichraf; 
In kurzer Stunde Dauer 


„Damit fo liefen fie aus ihrer Hut, 
Recht mie der grimme Löwe thut, 

Dem feine Jungen find genommen, 
Durd; die Hülfe Gottes, des ftarfen Gottes, 
Sind fie über die Garde gefommen.” 


Blieben fiebentaufend von ihnen tobt. | 
Das that Gott durch ditmarfche Bauern.“ | 


Als fie mit der Garde fertig waren: 


„Da riefen die Ditmarfchen in hohem 
Muth: 

‚Wohlan, ihr Helden, es will werden gut, 

Seht jetzt an die Kriegesknechte! 

Holften, riefen und Dänen mwollen wir 

Todtſchlagen alle nad) Rechte.‘ 


„König Hans zu Herzog Friedrich ſprach: 

‚Herr Gott, wie kämen wir in dies Un- 
gemad) ? 

Herr Hans, das thäteft du dir bräuen. 

Behalten die Ditmarfen die Ueberhand, 

Es wird und wahrlich reuen.“ 


„Die Ditmarjhen kamen herzu gedrungen, 
Mit Pielen und Schwertern fie da rungen 
Alle auf einem Heinen Felde. 


„Sie jhlugen da manchen Kriegsmann todt, 

Holften, Friefen, Dänen kamen in große 
Noth, 

Der Adel begann zu meiden. 

Es blieben ihrer fo viel auf dem Plap, 

Sie lagen im Schlid als Leihen.“ 


„Da rief auch einer von Ahlefeld : 
‚Herr König, das ift nicht wohlbeftellt, 
Laßt und nur bald umfehren !‘ 

Sie zogen ſich wieder ein wenig zurüd, 
Da kamen fie ſchon mit ihren Speeren. 


Da ward der Adel niedergejchlagen, 
Das thäten die Ditmarjchen Helden.” 


Der Tod des Junkers Slenz wird, etwas abmeichend von der Angabe 


des Chroniiten, fo erzählt: 


„Er hatte einen Harnifch über den Leib 
gezogen, 

Der ſchien von Golde fo roth; 

Darüber war ein Panzer gefchlagen, 

Darauf thät er fi verlaffen.“ 


„Den Landsmann ein andrer zu Hülfe 
fanı, 

Den Speer wollten fie wiederholen. 

Der Gardherr war ftark, drei hatten 
voll Werk, 


„Indem fo fprang ein Landsmann herzu 

Mit feinem langen Speer; 

Er ftah fo ſtark, daß ein krummer 
Halen ward, 

Der bing in dem Panzer fo ſchwer.“ 


Eh’ fie ihn konnten wiedergemwinnn. 

Sie zogen ihm nieder mit Sattel und 
Roß 

Wohl in den tiefen Graben.“ 


Ein fpäterer, wohl unechter Zufas nennt auch den Namen ded „Lande 
manns“, der den ftarfen Junker vom Pferde rip: 


— 


213 


„Der ung den großen Gardherrn erſchlug, Des hätt der große Reimer von Wimer— 
Das will ich euch wohl fagen, ftedt gethan 
Mit feinen langen, gelben, fraufen Haaren.‘ 

Diefer will auch der Dichter jenes Tanzliedes jein, aus dem die zuleßt 
angeführten Strophen entnommen find. 

Merfwürdig it eine Angabe, die fih in zwei Liedern findet, in dem eben 
genannten und nod) einem andern, ald ob audy der König unter den Gefallenen 
gewefen wäre. Dort heißt e®: 

‚Da ward auch der Holjten König erfchlagen 

Dit feinem ganzen großen Heere. 

Da lag nun fein Pferd, da lag aud 
fein Schwert, 


Dazu die fönigliche Krone. 
Die Krone die fol und Maria tragen 
Zu Alen wohl in dem Dome.“ 


Das andere Lied ſpricht von der Königin: 


„Da das die Königin ward gewahr, ‚Die Ditmarfen haben ihn todt geichlagen, 

Da meinte fie alfo jehre: Wir fonnten ed nicht wehren; 

Seid ihr Knechte nun nad) Haufe ge- Sie tragen feinen Helm, fie führen feinen 
fommen , Schild, 

Bo habt ihr gelaſſen euren Herren ?“ Dazu feine ftolzen Paniere.‘ 


Da diefe Strophen fih faum anders deuten Laffen*), jo müſſen wir an- 
nehmen, daß nad) der Schlacht ein falfched Gerücht von dem Tode ded Könige 
fih verbreitet und im Volksgeſange Aufnahme gefunden hat, ohne daß man 
8 fpäter für nöthig hielt, den Irrthum wieder audzjumerzen. 

Noch während der Schlaht machte ſich die Mannſchaft ded Süderſtrandes 
gegen Meldorp auf, um die Eönigliche Beſatzung dafelbjt aufzuheben: 
Fünfhundert waren in Dieldorp geblieben, „Der Süderftrandmann kam gedrungen 


Denen hatte der König die Macht gegeben, mit Macht, 
Daß fie ihm die Stadt bewahrten. Pieken, Büchſen und Schwerter hatt’ er 
Da fie diefe große Noth vernahmen, mitgebracht, 


Bie ſchnell fie zur Flucht fich fehrten.“ Im Meldorp find fie eingedrungen. 
Da haben fie alles todt gefchlagen, 
Was fie noch haben gefunden.‘ 


„Wären fie zwei Stunden eher gekommen, Den König und den Herzog mit allenı 
Sie hätten’8 gethan zu großem Frommen, Bolt, 
Die ih fürmahr mag jagen: Die hätte man da erfchlagen.” 

Hiernach fcheint es, daß fie die Abficht hatten, dem gefchlagenen Heere 
dei Meldorp den Nückzug zu verlegen, aber zu fpät dazu famen. Dafür fiek 
die fämmtliche Bagage mit vielen Schäen und reihen Worräthen in die 
Dände der Sieger, wovon das Volkslied fpottweife fingt: 


*) Berl. v. Rilieneron zu diefer Strophe, a. a. D. ©. 454, 





214 


„Sie gingen ein wenig zwifchen die Wagen, 
Da fanden fie Gefotten und Gebraten.“ 


„Saget dem König gute Nacht; 
Er hat und gebratene Hühner gebracht.“ 


„Öreift munter zu ihr Lieben Gäfte! 
Das giebt ung König Hans zum Beften.* 


„Seftern waren fie no alle im Glüd, 
Jetzt fteden fie hier in dem Sclid.* 


„Seftern wollten fie noch hoch hinaus, 
Jetzt baden ihnen die Naben die Augen aus,“ — 

Eine Fortfegung des Krieges erſchien nach folher Niederlage kaum mehr 
möglih. Wenn e8 auch der König wohl wünfchte, der Holfteinfche Adel und 
feine übrigen Verbündeten meigerten fi, ein neues Heer aufzubringen. 
Durh Hamburgs und Lübecks Bermittelung fam am 15. Mat ein Friede zu 
Stande, in welchem König Johann feine Anfprühe aufgab und die Selb- 


ftändigfeit der Ditmarfen anerkannte. 
und ſprach mit dem Dichter: 
„Nun ift es geſchehn durch Gottes Gunft; 
Und ftänd e8 noch fo ſchlimm mit uns, 
Ein jedermann foll auf ihn felber vertrau’n, 
So darf ung vor dem Tode nimmer grau’n.“ 


„Wer lann die Gerichte Gottes ermeffen! 

Hätt' erTaud alle Bücher geleſen, 

Wollt’ er auch alle Berge erfteigen, 

Er vermöcht' fie doch nimmer zu be 
ſchreiben! 


Das Volk aber gab Gott die Ehre 


„Auch darf ſich niemand feiner Stärke loben. 
Menn Gott ftredt feine Hand von oben, 
Und trüge er auch Königskrone, 

Er wird zerrieben wie eine Bohne,“ 


„Lobt Gott und Marien, die fitr euch haben 
geftritten, 

Daß ihr dies alles mögt in Frieden be— 
figen, 

Und leget Gott alle Zeit bei die Chr", 

Denn von eurer Macht gefchah e8 nimmer» 
mebr.“ 


Auch waren fie fich der Gefahr bewußt, die ihnen immerwährend noch 
drohte und die faft 60 Jahre fpäter, nach erneutem heldenmüthigen Ringen, 
ihrer Wreiheit ein Ende machen follte. Faſt wie eine Vorahnung dei 
fommenden Unheil® klingt e8 in folgenden Strophen: 


„Wollet euch auch nicht zu jehr überheben, 

Denn durch Mariens Fürbitte oben 

Iſt euch diefe Victoria gejchehen. 

Vielleicht möchtet ihr euch noch wohl ver: 
ſehen.“ 


„Ach Gott, wie wandelbar iſt unſre Zeit! 
Wenn wir Frieden meinen, ſo haben wir 
Streit. 


„Wollet euch auch nicht immer Gelingen 
verſprechen. 

Vielleicht denken jene es noch zu rächen, 

Die nun ſind oder die noch geboren 
werden; 

Das Rad kann ſich auch einmal umlehren. 


Aber wenn du nur unſer Schifflein willſt 
leiten, 

Und wir uns brüderlich lieben zu allen 
Zeiten !" 


215 


Serbfliage in Schwaben. 
2 


(Hobenneuffen. Urach. Eningen. Die Ahalm. Lichtenftein. Reutlingen. 
Der Hohenzollern. Die Schwarzwaldbäder. Hirjau.) 


Bon Friedrih Nampert. 


Es war gut, daß bier und da ein ſchwarzrother MWegzeiger land, daß 
wir von den Kindern, die unter den Bäumen fpielten oder von dem Roftillen, 
kt gerade vor dem Wirthshaus feinen Schoppen trank, die unverfennbaren 
giſchlaute Schwäbischen Idioms hörten, ſonſt hätte ih wirklich glauben 
fönnen, ich manderte nicht zmwifchen gut würtembergifchen Kirfch- und Uepfel- 
bäumen, fondern an den Ufern des Bierwaldftätterfeed zwiſchen Gerjau, 
Brunnen und Bedenrieth, fo wunderbare Aehnlichkeit mit diefem TLieblichen 
Grdenwinfel hat das Lenninger Thal. Das Auge hat gerade fo viel, ald es, 
ohne ſich anzuftrengen, braucht, es faßt immer die Schönheit des ganzen 
Thales mit Einem Blick zufammen: die fanft abfallenden, reich mit Wäldern 
und aus deren Dunkel malerifch vorfcheinenden weißen Kalkfelſen geſchmückten 
Berge hüben und drüben und in der Mitte das Obftbaumbeer, das mit 
zwingender Gewalt den ganzen Thalgrund befegt Hält. Kaum läßt es die 
Ihmale Straße durch, gefchweige, daß es viel anderer Pflanzung Raum giebt. 
Aber die menſchlichen Wohnungen hat es doch nicht ganz verdrängt, nur daß 
diefe fi auch dem malerifchen Charakter des Ganzen willig einordnen und 
jedes Gehöfte uns faft mie eine bäuerliche Villa, von Bäumen und Blumen 
umgrünt und umblüht, erfcheint. Und damit auch die eigentliche Romantik 
zu ihrem Rechte fommt, fo fehlt's auch Hier an Burgen und Ruinen nicht. 
Da ftehen die abgebrochenen Mauern der „Salzburg“ auf dem grünen Hügel 
mitten im Thal, dort det fi der „Räuber* mit Tannendunfel und hier 
wäht eine prächtige Baumgruppe mitten au8 den Trümmern des „Wieland- 
feines” heraus, 

So geht? im Tieblichiten MWechfel ftundenlang fort, bis dad Dorf Gutten— 
berg, überragt von dem mie ein Schwalbenneft am Bergrand hängenden Hof 
Krebftein, den ſüdlichen Thalfhluß bildet. Uber reizender noch als diefeg, 
verbirgt fich auf ſchwellenden Matten, im dichteften Obftbaumverftel, im 
eigentlichſten äußerſten Thalwinkel, der Weiler Schlattjtadt. Die Welt ift 
wieder einmal mit Brettern verfchlagen. Im fühlen Grunde geht ein 
Mühlenrad. Kein weiterer, nur der Rückweg feheint mehr aus ihm möglich. 
Da tönt über und Wagengerafjel? Wo kommt da8 her? Die Zweige der 
nähften Bäume biegen ſich auseinander und erftaunt fehen mir eine breite, 
fühn gebaute Straße, eine „Steig”, wie diefe aus den Thälern zur Albhöhe 


216 


ſich hebenden Chauffeen heißen, den Berg hinan ſich winden. Aber Faum 
find wir ihr gefolgt, fo dünft und wieder, als fei es unmöglih, daß fie an 
der Felswand meiter Elimmen könne. Uber immer findet fie den Ausweg, 
in mädtigen Stüden ift der Berg abgefprengt, tief hinabgehende® Mauer: 
werk ftüßt fie auf der anderen Geite. Immer höher hebt fie fich empor, 
Thon erfcheint und das im Thal Liegende verfchwindend Elein, endlich iſt aud 
das letzte Haus desfelben dem Auge entzogen. Diefed erquidt fih nur nod 
an dem tief gejättigten Grün der Buchen und Tannen, die ihre Wurzeln in 
den jähen Hang gefchlagen haben und deren Spisen dad Straßengelände 
ſaäumen. Anderthalb Stunden waren wir auf diefem Wege, der fich wirklich 
einer Alpenftraße zur Seite ftellen könnte, emporgeftiegen, da endete er oben 
jo überrafchend, wie er angefangen. Wie durch ein Waldthürlein waren wir 
auf die Hochebene herausgetreten; — da war plößlich verſchwunden, wie durch 
ein netdifche® Zauberwort all die Herrlichkeit Hinter und zugefchloffen, die ung 
eben no in Wie und Wald, Baum und Flur umfangen. Und wir hatten 
die Formel vergefjen, die und die Pforte dazu noch einmal hätte öffnen 
fönnen. 

Die ganze Umgebung war verändert. Cine weite Fläche umgab und. 
Die Felder fehienen fteinig und unfrudtbar, eine ftaubige, ſchlechte Straße 
zog langmeilig vor und ber. Kein Baum gab Schatten gegen die immer 
noch warm herabfcheinende Nachmittagsfonne, Fein Menſch begegnete uns. 
Nichts war, auf dem dad Auge hätte befriedigt ausruhen können, höchitens 
das ungefähr eine halbe Stunde noch entfernt vor und liegende Dorf und 
das kleine Wäldchen dahinten gab einen folcyen Ruhepunkt ab. Aehnliches 
fiedt man auf dem Hodplateau der fränkifchen Schweiz. Dort geht man 
aud auf uninterefjanter Fläche, ohne etwas von den Weizen zu ahnen, die 
vieleicht nur wenige Schritte feitwärte, ein paar hundert Fuß tiefer, im den 
Thälern fih jammeln, wo die ganze Signatur der Landſchaft nachzuholen 
ſcheint, was hier oben verfäumt if. Nur ift dort infofern noch etwas mehr 
Abwechslung, ala die Hochebenen der fränkischen Schweiz felfige Hügel be 
decken, die fi fogar an einzelnen Stellen zu höheren Maſſen aufthürmen. 
Hier taucht nur da und dort einmal ein weißer Kalkiteinblod etwas vorlaut 
oder verfhämt am Rand des Gefichtöfelded auf, der der Thalwand angehört, 
die fi dort zum lieblichen Wiefengrund niederjenft. Wie gefagt, jest ging's 
eben fort, gerade auf jened Dorf zu, das Grabenftetten heißt. Ein „Heiden- 
graben“ fol in feiner Nähe fein, eine römische Verſchanzung, die unter den 
Karolingern zur Begrenzung eines Thiergartend gedient haben joll, allein die 
Mittagsfonne hatte und jegliche archäologiſche Stimmung audgetrodnet ; viel- 
mehr verfpürten wir etwas — vgl. V. Scheffel — von der Hildebrand- und 
Hadubrand’ihen Sehnjuht nah einem „Wirthshaus mit Fühlen Bieren“. 


1 





217 


Und wir fanden, was wir fuchten. Cine Schaar junger Mädchen und Kinder 
fa, Hopfen zu blatten, vor dem Haufe Der mwürzige Duft drang zum 
offenen enfter herein. Rang war die Raft nit. Die Sonne war fchon 
tief gefunfen. Aber in wahrhaft blendendem Glanze ftrahlte fie noch um das 
alte Bergſchloß Hohenneuffen, das nach einer halben Stunde vor und 
lag. Allein dies felbit noch zu betreten, dazu war es zu fpät. Nachts foll 
man ſchlummernde Burggeifter nicht weden. Und foldhe treiben gewiß auch 
auf dem Hohenneuffen ihr Wefen, und wenn's der Geift jenes pflichtgetreuen 
Hauptmannd wäre, der, ala auf der Burg noch Garnifon lag, die inhalt: 
Ihwere Meldung machte, auf Höchftdero Feſtung Neuffen ift nichts Neues 
vorgefallen.. „ „Gottlob, wenn nur nichtd Altes eingefallen iſt““, antwortete 
der Herzog. Heut aber fünnte Sein Liebden doch manches eingefallen finden, 
denn, wenn auch Hohenneuffen jest noch das beiterhaltene und ftattlichite 
Bergſchloß ganz MWürtembergs ift, fo find doch auch feine mächtigen Ge- 
mwölbe und Kafematten vom Zahn der Zeit nicht unberührt geblieben. Durch 
Rebengärten ftiegen wir am Abend zum ftillen Städtchen, das am Fuß des 
Schloßberges liegt, hinab, und andern Morgens wieder zur Burg hinan. 
Dann tritt Wald an deren Stelle, und zwar hodhftämmiger, reichbelaubter 
Wald. Er mag fhon fo ſchön und laufchig gemefen fein zu Gottfried von 
Neuffen's Zeit, des ritterlichen Minnefängers, der, wie feine ganze Sippe, der 
Hobenftaufen treuer Freund und Kriegsgenoſſe, fo frühlingswarm und finder- 
froh, bald von Anger, Blüthen, Wald und MWiefe, bald von feiner Frauen 
roſenrothem Mund gefungen hat. Nun haben die Waldvögelein die Mufifanten- 
tolle auf Hohenneuffen übernommen, allein jest natürlih, mo ſchon manch 
toth und gelbes Blatt fih in den Waldſchmuck gemifcht hatte, waren aud) 
fie verftummt. 

Der Blick von Hohenneuffen gleicht dem, über den die andern Albberge 
gebieten. Es muß ja nothmwendig immer diefelbe Landſchaft fein, die das 
Auge überfliegt; nur daß ihm von der einen oder der andern Höhe der oder 
jener Punkt mehr in den Vordergrund gerückt erfcheint oder die verfchieden- 
artige Beleuchtung auch verfchiedene Bilder vorführt. 

Mieder kamen ein paar reizlofe Wegftunden, wir gingen eben wieder auf 
der Hochebene. Nur Hohenneuffen bot einen prächtigen Rüdblid. Als ob 
ihm dieſes Stück Welt ringsum ganz allein gehörte, fo ftol; und gebietend 
lag das alte Schloß da. Dann war es auch verſchwunden. An einem 
Waldfaum hatten und ortöfundige Leute einen fchmalen Pfad mitten ind 
Didicht hinein gezeigt. Er führte jäh abſchüſſig hinab. Allein ed war der 
rechte; denn er brachte und mitten hinein ind ſchönſte und Tieblichite aller 
Albthäler , ind Urachthal, neben dem felbft das Renninger bei Manchem den 
Kürzern ziehen mag. Es vereinigt faft mehr noch als diejes alle Neize der 

Grenzboten IV. 1874. 28 


— 


218 


Albnatur in größter Fülle und Vollſtändigkeit in ſich. Die Buchenwälder 
bedecken wieder feine Berghänge, die Kirſchen-, Zwetſchken-, Aepfel- und Nuß— 
bäume in ungeordneten Schaaren ſeinen Wieſengrund. 

Blendendes Linnen glänzt auf dem Wieſengrund, die altberühmte Uracher 
Bleiche. Die Erms rauſcht zwiſchen durch, forellenreich, wie alle dieſe Bäche. 
Folgt man ihr aufwärts, fo wird das Thal wilder, felfiger, enger; es geht 
wieder der Hochebene, und zwar Münfingen, dem würtembergifchen Sibirien 
zu. Urach dagegen liegt noch in voller, miederum faft füdlicher Pradt. 
Kaum finden wir feine Häufer aus dem Obſtbaumdickicht heraus. Cie zeigen 
zum Theil altertbümliche Formen, hohe Giebel, fpise Dächer, ſchlanke Thürme. 
Auf dem Markte fteht ein prächtiger gothifcher Brunnen, in der Meife des 
Ulmer Fiſchkaſtens. Unweit feiner ſchlingt fih Epheu um ein altes, noch 
halb hölzernes Gebäude. Es iſt Eberhard’, des Grafen im Bart, Schloß. 
Sein Wahlſpruch attempto, d. h. tento, ich wag's und der Palmbaum des 
wallfahrenden Helden ift im Portal farbig eingezeichnet. Urach war fein 
Rieblingsaufenthalt. Im großen, zierlih gemalten Ritterfaal des Schloſſes 
feierte er feine Hochzeit mit einer mantuanifchen Prinzeffin. 14,000 Berfonen 
tafelten dabei und der Wein floß ihnen aus einem Brunnen unmittelbar in 
den Becher. In einem andern Gemach fieht man Eberhard's Brautbett und 
in der Stadtkirche feinen ſchön geſchnitzten Betſtuhl. Des Fürſten Jugend: 
leben war bekanntlich nicht jledenlod. Dad Urach nahe liegende Klofter 
Güterftein mag zu feiner ſpätern Sinnedänderung viel beigetragen haben, 
wenigſtens ftand ihm defjen Prior, „der alte Water“, fehr nahe, und ale die 
Reue ihn nach dem heiligen Grabe trieb, legte er bei jenem fein Teftament 
nieder und empfing Enieend feinen Segen. Auch auf Hohenurachs waldſtille 
Trümmer gehen die Erinnerungen an Eberhard mit hinauf. Doch da find 
fie düfterer Art. Auf diefe Bergveſte hatte er feinen wahnfinnigen Bruder 
Heinrich gelodt, um ihn bi® zu feinem Tod gefangen zu halten. Ein eiferner 
Ring hielt den Unglüdlichen an die Kerkermauer gefchmiedet. Aber doc fiel 
ihm ein Sonnenftrahl in diefe Nacht. Sein treue® Weib war ihm in die 
wilde Bergeinfamfeit gefolgt und gebar ihm dort fogar nod einen Sohn, 
der der Stammvater der jebigen Könige von Mürtemberg geworden. Auf 
Hohenurach mehte lange Zeit Kerferluft. Auch den Dichter Nicodemus Friſchlin 
hatten die „Hofteufel*,, der Adel, eiferfüchtige Mitlehrer und die Fürften- 
diener, „die der Könige lange Hand gebrauchen”, hierher gebracht. Won der 
jäh abfallenden Felſenkante wollte er fih binablaffen und die Freiheit fuchen. 
Das Seil ri, man hob einen jämmerlich zerfchellten Leichnam auf, um ibm 
dann doch ein ehrlich Begräbniß zu geben. 

Bon den Mauern und Wohnräumen, die von all dem Zeugen gemefen, 
fteht wenig mehr, aber die Refte zeugen von einftiger Feftigfeit und Schönheit. 


— — — — 


219 


Reizend iſt der Blick auf das Städtchen im Thal, beſchränkter der in die 
fernere Landſchaft; zwei Bergſäulen ſchließen dieſe gleichſam ab; nur mit 
einem ganz kleinen Abſchnitt, mit dem Schloß Hohenheim und den frucht— 
baren Bergebenen von Stuttgart im Hintergrund, lugt ſie zwiſchen jenen 
herein. Waldeinſamkeit herrſcht auf Hohenurach, auch in ſeiner nächſten 
Umgebung. beim Brühlbach-Waſſerfall. Sein Rauſchen tönt bis zum Schloß 
herauf.” Er iſt der einzige der Alb, Feiner von den vielgenannten, welt: 
berühmten, wie fie in Tyrol, der Schweiz oder fonft „in den Bergen“ zu 
Dugenden ftäuben und ſprühen. Aber es ift immerhin ein anmuthig Bild: 
de „ſchöne Wieſe“, ein ftiller abgefchiedener Waldplatz, an defjen Rand der 
Rafferbogen hervorfpringt und fi über den Zuffitein fenfrecht niedermwirft, 
dihtverfchlungene, ihre Zweige tief herabhängende Bäume, die fi in der 
Haren Fluth fpiegeln und drunten wieder dag ruhige Bächlein, das des ftür- 
miſchen Anlauf und Falles ganz vergeffend, ftil und platt durch dag einfame 
Waldthal meiterfließt. 

Die freundliche Wirthin in der Poſt zu Urach hatte Recht gehabt, ale 
fie und mahnte, wollten wir anders jenen hoch zu rühmenden Gafthof nicht 
zum Nachtquartier machen, mit dem Aufbruch nicht zu fäumen. Noch war 
eben die Sonne, die hohen Stämme vergoldend und durd dad Neb der 
grünen Zmeige glänzende Lichtfäden webend, hinter dem Tannenwald geftan- 
den: da war fie bei unferm Austritt aus ihm ſchon untergegangen. Auch die 
Dämmerung hält an ſolchen Herbitabenden, fo [hön und duftig fie auch find, 
nit lange vor. Es war volle Nacht, ald mir wieder fo eine Treppe gleihfam, 
mie fie die Hochflächen der Alb mit den zwijchen ihren Steilrändern geborgenen 
Thälern verbinden, die „neue Eninger Steige“, hinabftiegen. Aber die Sterne 
leushteten hell und aus dem Thal herauf glänzten die Lichter des größten 
und ſchönſten Dorfes Würtembergd. Das it Eningen. 

Wenn der Eninger Kongreß ftattfindet, d. b. wenn an Safobi und Weib: 
nachten jeden Jahres die das ganze deutſche und außerdeutiche Land durch— 
jiehenden Spitzen-Galanteriewaaren- und ſonſtigen Eninger Krämer auf ein 
paar Tage zur Heimath und zum „Geſchäft“ mit den Reifenden und Agenten 
aus aller Herren Ländern kommen, dann geht's in den faubern, ftattlichen 
Straßen fo lebhaft zu, wie auf einem Stapelplag der großen Welt. Dann 
ta wohl auch im Gaſthof des Heren Bazler etwas lauter und Iebendiger, 
ald wir ed an diefem Abend fanden, wo wir die einzigen „Fremden“ waren. 
‚Een Sie gern Suppe“ bob Herr Bazler an, „eflen Sie gern Forellen, Kar: 
pien, Krebfe?* und fo fuhr er fort, ſich und und dur Fiſch, Fleiſch, Braten, 
Mehlſpeiſen, Obft, Wein und Bier durchzufragen, daß e8 ung ganz feltfam 
u Muth ward ob dieſes Reichthums einer Dorfmwirthähausfpeifefarte. Das 
Näthfel löfte ſich. Herr Bazler hatte, Tags zuvor eine große Hochzeit aud- 


e !. 


220 


gerichtet und da hatten die biedern Schwaben doch noch einige beaux restes 
zu Nug und Frommen bungriger Wanderer übrig gelaffen. 


Zur befjern Würdigung feined Kaffees hatte und unfer vorforglicer 
Wirth, ald er die Lichter in unferm auch mit allem, fonft „auf dem Land“ 
ungewöhnlichen Comfort außgeftatteten Schlafgemach entzündete, einen vor: 
bereitenden Spaziergang auf die Achalm angerathen. Nur in dunklen Um- 
riffen hatten wir ded Nachts den einzeln auffteigenden, fich faft zierlich zu 
ipigenden Berg gejehen. Seine ifolirte Lage macht feine Ausſicht umfafjender 
und eigenartiger, ald die von der Ted und Hohenneuffen. Der Kreis von 
Bergen, der und rings umgiebt, dort die um das Honauer Thal mit dem 
Schwalbennejtchen Kichtenftein im Hintergrund, hier die fagenreichen Pfulinger 
Höhen, und oftwärtd die ganze, bi zum Staufen wie im Reih und Glied 
aufgeftellte Alb, zu Füßen mit dem Dorf Eningen die Städte Reutlingen 
und Pfullingen, in der Ferne dad Tübinger Schloß und die unendliche Weite 
des „Gäus“ bis zum Schwarzwald — dad alled zufammen lohnte reichlich 
den etwas mühlamen Aufſteig. Die Phantafie mag fih dad Schloß auf- 
bauen, defjen Gründer ihm feinen Namen gegeben, al fein Pfeil den Ketten 
des von ihm befiegten Gefchleht3 im Angeficht feines brennenden Haufes zu 
Tode traf und diefer noch zum Allmächtigen einen legten Seufzer empor- 
ſchicken wollte, ihm aber dad Wort auf den Rippen erftarb und nur fein 
Anfang: „Ah allm“ — die Taufe der neu erbauten Burg murde, Seht 
liegt auch diefe fhon wieder in Trümmern, denn der hohe Thurm, der meit- 
bin die Achalm fihtbar und Eenntlih macht, iſt ein Bauwerk neuerer Zeit. 


In Eningen läuteten die Morgengloden, ald wir den Kaffee getrunfen 
hatten und den offenen Wagen beftiegen, in dem Herr Bazler's Geipann und 
das Honauer Thal hinauf an den Fuß des Kichtenftein bringen ſollte. Nur 
an den Fuß, höchſtens vor dad Burgthor, weiter nicht, das hatte man und 
in Eningen gefagt und fagte man und nun auch im Wirthshaus von Ober: 
haufen wieder. Die Frau Herzogin von Urach geborne Prinzeſſin von 
Monaco, die Schloffrau vom Kichtenftein, referirte die gefprächige Yrau 
MWirtbin, fei auf der Burg anmwefend und da merde feiner, auch nicht der 
beftempfohlene und am meiteften herfommende Reiſende hineingelaffen. Mein 
ungläubiges Lächeln fohien die Frau zu verdrießen. „Schie werde fcho jehe“, 
rief fie mir fpöttifh nah, ald ich) den Pfad mwaldein- und bergaufmärts 
einſchlug. 

Wollte doch ſehen, ob das Zauberſchlößchen wirklich jo unnahbar fei. 
Der Bewohner von Lichtenſtein fährt, wenn er Luſt hat, aber dann mit 
Vieren, den Berg hinauf, andere Leute gehen zu Fuß und werden etwas 
warm und müde dabei, denn nicht nach 18, wie höchſt betrügeriſch das Reife 


— 


221 


handbuch ſagte, ſondern erſt nach wohlgezählten 48 Minuten, ſtand ich 
da, wo 

„aus einem tiefen grünen Thal 

Aufſteigt ein Fels als wie ein Strahl, 

Drauf ſchaut das Schlößchen Lichtenſtein 

Vergnüglich in die Welt hinein.“ 

So fingt Guſtav Schwab und Hauff ſchildert in feiner vielbekannten Er— 
zählung, bei der dad Schlößlein Pathenſtelle vertreten: „wie ein koloſſaler 
Münſterthurm fteigt aus dem tiefen Albthal ein fchöner Felfen frei und kühn 
empor. Weitab liegt alles feite Rand, ala hätte ihn der Blitz von der Erde 
weggelpalten, ein Erdbeben ihn loögetrennt, oder eine Wafferfluth vor ur- 
alten Zeiten das wmeichere Erdreih ringdum von feinen feiten Steinmaffen 
abgejpült. Selbft an der Seite von Südweſt, wo er dem übrigen Gebirge 
ih nähert, klafft eine tiefe Spalte binlänglicy weit, um auch den Fühnften 
Sprung einer Gemje unmöglich zu machen, doch nicht fo breit, daß nicht die 
erfinderifche Kunft des Menfchen durch eine Brüde die getrennten Theile ver- 
einigen konnte.“ Aber von alledem ſah ich nichts. Unten im Thal hatte 
ih den „Belfenftrahl*, den „Münſterthurm“ wohl auffteigen fehen, aber nun, 
da ich oben auf dem Plateau war, war er mir rein entſchwunden. ch fand 
nichts, ala ein Jägerhaus, ſchöne Parkanlagen, einen Felfenvorjprung, auf dem 
eine Buͤſte Hauff's, des Hiftoriographen des Kichtenftein, in das Thal hinunter- 
haut. und ein feftverfhloffenede Thor. Hinter dem mußte alfo erft das 
Schlößchen ſtecken, innerhalb diejes erſt die „Spalte zu finden fein, über die 
feine Gemfe hinwegſetzen kann“, aber die auf allen Bildern Kichtenfteind zu 
fehende Zugbrüde hinüberführt. Aber über dem Thor ſtand wirklich flar und 
mit großen Buchftaben zu leſen: „Verbotener Gingang“. Sa, und dazu hatte 
der Verwalter, der drüben im Jägerhaus mit mir gefrühftüdt hatte, gejagt: 
‚Die Frau Herzogin wünſchen ungeftört zu fein.“ Aber eine Niederlage 
meined® Touriftenbemußtfeind, ein unausgefülltes Blatt in meinem Reife 
feuilleton, eine Lücke in diefen Skizzen, konnte auch die ruhebedürftigite 
Herzogin nicht verantworten. Das mußte ihr Elar geworden fein, denn als— 
bald kam der Major Domud, dem ich meine Karte übergeben und der fie 
ſehr bedenklih in Empfang genommen hatte, mit der fehr freundlichen Ein» 
ladung der Burgfrau zum Eintritt und zur flüchtigen Beſichtigung zurüd. 
So war der Bann gebrochen, ich ging durch den mohlgepflegten, blumenreichen 
Borhof, und ftand nun erit vor dem eigentlichen Kichtenftein. Wie ein echtes 
und rechte in die höchften Wipfel einer Eiche gebauted Neft ſchwebt das 
Sch lößchen über der ſchwindelnd tiefen Kluft. Nur ein Genie, wie Heideloff, 
fonnte dad Magniß unternehmen, einer folhen Welfennadel eine ganze, bei 
aller fcheinbaren Kleinheit außerordentlich geräumige Ritterburg reinften Style 


222 


aufzuoceuliren. Lichtenftein hatte bekanntlich einft feine „berühmte“ Zeit, we 
in der Trinfhalle mit ihrem Halbdunfel der gemalten Yenfter, den alten 
Rüftungen und den heitern launigen Trinkſprüchen an den Wänden jo oft 
die Tafelrunde des ſchwäbiſchen Dichterfreife® um den Burgheren, den Sänger 
der „Lieder des Sturms“ verfammelt ſaß. Die gegenwärtigen Bemohner 
fheinen in feinem Contakt mehr mit ihr zu ftehen, fonft würden fie das 
Schlößchen mit feinen vielen Kunſtſchätzen nit fo unnahbar machen. 

Nun war's an der Wirthin von Oberhaufen, ein ungläubig Geficht zu 
machen. Sie konnte es nicht fallen, daß ich „drin“ geweſen. Sie mußte mid 
für was befonders „Vornehmes“ halten, daß ich das möglich gemacht, beeilte 
fih darum, mir meinen Schoppen Wein für zweie anzurechnen und mir tau- 
jendmal vergnügte Neife zu wünſchen. Die mußte fich von felbft finden, wenn 
man ein fo lieblih Thal durchfuhr, wie auch das Irnauer eins ift, rechts 
und linf® von waldigen Almen umlagert, mit drei lachenden Dörfern bejest, 
von wafjerfrifchen Wieſen durchgrünt, von der fprudelnden Echat belebt, im 
Kleinen an dad Yauterbrunner Thal erinnernd. 

Mir kamen über Pfullingen, im Mittelalter ein Afyl für „uffrechten 
redlihen, ungefährlihen Todſchlag“, dann hielten wir in Reutlingen 
Mittag. Der Eindrud der alten Reichsſtadt ift moderner, ald man von ihr 
vermuthen ſollte. Ein drei Tage lang mwüthender Brand hat im Jahre 1726 
das alterthümliche Gepräge etwas zufammengefchmolzen. Auch die prächtige 
Marienkirche brannte damald aus, allein ihre herrlichen gothiſchen Formen 
blieben und nun ift fie diefen entjprechend würdig reftaurirt. Daß ein Kriege 
werfzeug, ein Sturmbof das Modell einer Kirche abgiebt, Eommt wohl felten 
vor. Die Reutlinger haben's zu Wege gebradt. Im Jahr 1247 lag Hein: 
rich Raſpe, der Gegenfönig Konrad's IV., vor der Stadt. Die bedrängten 
Bürger gelobten der Jungfrau Marta ein ſchönes Gotteshaus, wenn fie ein 
Einjehen mit ihnen haben wollte. Ob diefes nun der Fall war oder ob die 
Neutlinger fih doch auch etwas auf ihre eigene Fauſt verließen: der Raſpe 
zog ab und ließ fogar einen mächtigen Sturmbocd vor den Mauern zurüd. 
Den brachten fie nun jubelnd herein und machten ihn fofort zum Maß ihrer 
Votivkirche, fo dag deren Echiff wirklich gerade fo lang wie jener, nämlich 127 
Fuß lang, wurde. Von des Sturmbods Zeiten ber blieb den Reutlingern 
ein Friegerifcher mannhafter Sinn, trogdem fie feit lange denfelben friedlichen 
Beichäftigungen, die heut noch in der Stadt blühen, ald Nothgerberei, Yär- 
berei und dergleichen oblagen. Und fo räumten fie unter den Rittern des 
Grafen Ulrich v. Würtemberg — an 1377 ward — ähnlich auf, wie die 
Schweizer bei Moorgarten gethan. 

„Wie haben da die Gerber fo meifterlich gegerbt, 
Wie haben da die Färber fo purpurroth gefärbt!” 


223 


bat Uhland davon gefungen. Und noch einmal machten fie in Würtemberg 
Rumor. Bei einer einfachen Schlägerei in einem Weinhaufe war der Wür— 
temberger Burgvogt, der In der Stadt fisen durfte, „etwas übel weggekom— 
men“, d. h. erichlagen worden. Die Stadt wollte den Thäter nicht auäliefern, 
jo rüdte Herzog Ulrich mit einem Heer an, grub jener die Brunnen ab und 
hate ihr mit feinen Karthaunen und Handbüchjen hart zu. Die Belagerten 
webrannten ihre Vorftädte, damit fich der Feind in ihnen nicht feitjegen follte, 
dieſer ſchoß wieder die Stadtmauern zufammen, dann aber fror bei ftrengem 
Binter der Stadtgraben zu und der Rath mußte capituliren. Nun legte fi 
der ſchwäbiſche Bund in den Handel und eroberte Reutlingen dem Reiche zu: 
rüd; der Herzog mußte fein Land meiden und 16 Jahre lang ließ der Geift 
des erihlagenen Burgvogts ganz MWürtemberg Feine Ruhe. 

Jetzt fieht Alles, Stadt und Reute eminent friedlih aus und in dem 
Wernerifchen Bruderhaud macht jene fogar auf eine ganz befondere Friedenäftätte 
Anſpruch. Wir haben nicht ohne Bewunderung für die Thatfraft Eines 
Manned, von dem das alled aufgegangen, die mancherlei Anftalten durch— 
wandert, die, ähnlich dem rauhen Haus zu Horn aber praftifcher ala dieſes, 
den Verſuch machen follen, Soctaliamus und Chriftentbum zu verfchmelzen 
und die “dee der Klöfter und Congregationen im Geiſt des Proteftantidmug 
ju regeneriren. Und ein Zweitintereſſantes, wenn freilich” wieder auf ganz 
anderm Gebiet Liegendes, bot und noch Neutlingen: dad pomologiſche In— 
fitut ded Herren v. Qucas, defjen Leiftungen und gemeinnüßigen Einrichtungen 
in ihrer befondern Sphäre in Deutjchland mohl einzig find. Mit großer 
Liebenswürdigkeit führte und der Eigenthümer durch feine weitausgedehnten 
Gartenpflanzungen mit ihren Hunderten von Obftarten, die Lehr- und Hör: 
fäle, die reichhaltigen Sammlungen, und wir jchieden mit hoher Achtung 
auch von diefem Manne, der mit feltener Energie und Befähigung, nur aus 
liebe zur Sache und aus opfermilligem Sinn für dag Gemeinwohl, bier ein 
ganz neue Arbeit» und Erntefeld gefchaffen hat. 

Uber es waren und nur flühtige Stunden für beide Anftalten, um 
derentwillen man nicht an Reutlingen vorüberfahren darf, vergönnt. Wir 
waren wieder an der Eifenbahn und die mußte und an dem Abend noch nad) 
Hehingen bringen. Dad Nedarthal hüllte fih in Dämmerung; ſchon 
Tübingen mar etwas umflort. Die würtembergifche Univerfitätöftadt bat 
nicht die großartige Nage ihrer Schweitern Freiburg und Heidelberg, aber 
lieblich ift fie und anmuthig, und auch viel befungen. Manch Greifen- und 
Mannesauge ruht heut noch mit freudig-wehmüthigem Bli auf dem Städtchen 
zwiſchen Nedar und Ummer, der Stätte fröblicher Jugend. Wir fuhren 
diegmal vorüber ; erft auf dem Rückweg vom Hohenzollern wollten wir Halt 
mahen. Es ging im Nedarthal aufwärts. Wohlhabende Dörfer Tiegen in 


224 


ihm, malerifche Volketracht hat fi noch in diejen erhalten. Wir waren aus 
Mürtemberg heraus, in den hobenzollerifchen Yanden, auf dem Bahnhof von 
Hehingen. Der Gafthof „zur Linde“ liegt gerade am entgegengefesten Ende 
der ehemaligen Hauptitadt der hohenzolleriſchen Lande. Wir hatten fie ganz 
zu durchgehen, bergauf, bergab, mie ihre Straßen laufen. Gut, daß der Mond 
voll und Kar am Himmel ftand. Mit dem Fürſten fcheint die Beleuchtung 
der Reſidenz ausgegangen zu fein. Uber jo fanden wir unjern Weg und im 
Mondenliht ſah ſich manch altes vornehmes Haus vielleicht doppelt ftattlich 
an, raufchten die fehönen Brunnen, an denen die Mädchen plaudernd ftanden, 
und lag auf einmal ein hoher, fpiter Berg dicht vor unfern Augen und auf 
ihm eine herrlich hehre Burg : der Hohenzollern, die Kaiferburg des neuen 
Reichs. 

Ich ſah noch lang hinaus in die Nacht. Der Mond war hinter eine 
Wolke getreten, Lichter ſchienen aus den Burgfenſtern hernieder. Auf dem 
neuen Kaiſerberge war alſo Leben, anders als auf dem einſamen, verlaſſenen 
Hohenſtaufen. — | 

In früher Stunde ftand ich oben auf der Iuftigen Warte. Dur tbau- 
frifche MWiefen, durch herrlichen Buchenwald war ich emporgeftiegen. Das 
NReihäbanner flatterte über mir im Morgenmwind. In der letten Pracht ’dea 
Jahres, im vollen Herbitihmud, Tag das Land ringsumber erſchloſſen. Das 
Stammland der Hohenftaufen liegt huldigend dem Schloß der Hohenzollern 
zu Füßen. Der Bergfranz der Alb umſchlingt die Eine Hälfte des Bildes, 
die andere findet im Schwarzwald ihre fernen Grenzen. „Vom Feld zum 
Meere", das ift der Eingangafprudh über dem Thor der Felt. Wer den 
Grundftein zu ihr gelegt? Die Gejchichte kennt den Namen nicht; die Burg 
jtand ſchon als der erfte urkundlich beglaubigte „Graf von Zollern” Thafjilo, 
um dad Jahr 800 aus der vorhergehenden Sagendämmerung in da® belle 
Licht der Gefchichte tritt. Ob er’d hätte tragen Fünnen, wenn aus dem 
Dunkel des nachbarlichen Eichenheimes eine Belleda getreten wäre und ihm 
mit Prophetenmwort die künftige Gefchichte feined Haufes, deſſen Siegedgang 
„vom Feld zum Meere“ verfündigt hätte? Aber ein Stück vom fpätern 
Zollernthum lag ſchon in den Leuten. Thaſſilo's Sohn Thanko bie ſchon 
für den Kleinen Kreis feiner Zeit, wa8 der, der nun dem Zollernſchild das 
Kaiferwappen angefügt, für die Welt geworden: „ein Schiedsrichter über 
Krieg und Frieden“. Des Thanko's Urenkel, Friedrih I. von Zollern, ſoll 
um 980 dad Stammſchloß der Ahnen erneuert und erweitert haben. Sein 
Enkel Friedrich III, um 1111 Kaifer Heinrich’3 oberiter und geheimfter Rath, 
war ein allgemein beliebter Mann feiner Zeit. Sein Sohn Rudolf U. ent- 
ſchied als muthiger Anhänger der Ghibellinen, die blutige Schlacht auf der 
MWohred (Wöhrd) bei Tübingen (1164). Bon der Zeit an theilte fi der 


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Zollernſche Stamm in zwei Aeſte, wovon der eine in Franken dad Haus 
der Burggrafen von Nürnberg gründete, der andere durch Rudolf's Sohn 
Friedrich IV. die väterlihen Erbgüter in Schwaben erhielt. Die Gefchichte 
erzählt nun mehr von den erfteren, deren zehnter, Friedrich VL, — heuer 
find’8 501 Jahre, daß er geboren wurde —, in den Befit der Mark Branden- 
burg mit der Kurwürde gelangte und der eigentliche Ahnherr derer wurde, 
die ald Könige Preußens die verfallene Stammburg aus den Trümmern 
wieder fo Herrlich auferbaut haben. Unter Friedriy VII. von Zollern, dem 
Dettinger, wie er hieß, war diefe jämmerlich zerftört worden. Mißgeſchick 
hatte den edlen Grafen verfolgt; gegen die Wittwe Graf Eberhard's von 
Bürtemberg, defien Rath er gewefen, hatte er, als er ihr den Dienft auf- 
gefündigt, das trogige Wort gefprodhen: „Kann mich auch ein giftige® 
Weibsbild verſchlingen?“ fie aber ihm drohend erwidert, wie Guftav Schwab 
fingt: 





„Berfchlingen allerweg will ich 

Dein Out, dein Schloß, dein Leben, did! 
Kein feiges Weib, wie du geglaubt, 

Es traf dein Spott ein Fürftenhaupt.‘ 

Er unterlag der Feindin und fein Schloß ward gebroden. Was fein 
Sohn Nielas wieder herftellte, war nur ein kümmerlich Ding. Jetzt aber tft 
der Hohenzollern eine Königsburg, wie fie würdig ift des Geſchlechts, das 
die deutiche Kaiferfrone trägt. Kein anderes Haus hat fie die verlafjene, 
vereinfamte Stätte feiner Ahnen geehrt. Die Hohenftaufen Fonnten freilich 
ihrer Stammburg fih nicht mehr annehmen. Aus den Brettern eines 
Schaffots zimmert man fein Königshaus. Aber fühnend und vergeltend haben 
ihre Erben in der Katferkrone in dem Stammland beider, in der Herrlichkeit 
ihrer Burg auch die vergangene und verſchwundene ded Hohenftaufeng 
mit erneuert. 

Halb Feſtung, Halb Schloß ift die heutige Hohenzollernburg. Mächtige 
Borwerke und VBefeftigungsmauern ftügen den hohen Bau des Iegtern, in 
welhen und der ganze Glanz einer feudalen Burg ded 13. Jahrhundert? 
entgegentritt. Durch einen fchnedenartig auffteigenden Tunnel gelangt man 
aus dem untern in den obern Burghof; der treue Gefelle aller alten Burgen, 
der Epheu, ſchlingt fih auch um diefe neue, in deren Gemächern Fönigliche 
Pracht in Ausftattung und Einrichtung, auch in reichen Gebilden der Kunft, 
fih entfaltet. Die evangelifche und die katholiſche Kirche, welch letztere aus 
der uralten Burgfapelle erbaut tft, ſchließen die beiden Seitenflügel des Schlofjed 
ab. Ihre Glocken läuteten eben den Morgengruß Hin über Wald und Flur. 
Auch von Hechingen tönten gleiche Klänge herauf. Ich überlegte mir, in 
Nähe und Ferne fehauend, mein fernere® Manderziel. Ein Städtchen dort, 

Grenzboten IV. 1974. 29 


226 


ungefähr drei Stunden entfernt, hatte mir der Caftellan als Balingen. ein in 
feiner Nähe emporragended Schloß als Geislingen bezeichnet, Das iſt der 
Wohnſitz des Präfidenten der bayrifhen Abgeordnetenfammer, jegigen Nach— 
folgers des Fürften Hohenlohe im Präfidium des Reichstages, des mannbaf- 
ten Volksvertreters Freiherrn Franz von Stauffenberg. So nahe dachte 
ih mich dem Haufe des Freundes nit. Durfte ih an ihm vorübergehen ? 
Schon um Mittag mar ich dort, mitten in einem der liebenswürdigſten 
Familienfreife, wie fie nur die höchſte Geifted- und Herzensbildung fchaffen 
können, und die Stunden flogen in ernften und heitern Geſprächen dahin. 
Die Sonne ftand ſchon tief, als wir dankbar fchieden und den Wanderftab 
weiter festen. Geidlingen hatte und die Reiſerichtung verändert. Die Zeit 
war mir nur no fnapp gemeflen. Nah Tübingen fonnte ih nicht zurüd. 
Alfo Verzicht darauf und an einer andern Stelle hinab ins Nedarthal wieder, 
bei Sulz, wo der Fluß in tief eingefchnittenem Thale fliegt und fein Rauſchen 
faft troßig und unbändig ob der von den gar fo eng ihn umjchnürenden 
Bergen ihm angethanen Unbill in unfern Schlaf herein Hang. 

Nur eine Station aufmärtd führte und andern Morgens die Bahn 
nad Horb, einem alten, mit Mauern, Thürmen und fchledhten Häufern an 
das linke Ufer hoch hinaufgebauten Neft. Wenn der Schienenweg aud hier 
— und das ift mohl jest ſchon vollends gefchehen — Felſen und Berge 
durchfprengt hat, dann wird man rafcher von Horb in Nagold fein, als dad 
und bejchieden war, die wir das mit ein paar Stunden befchwerlicher Poſt— 
wagenfahrt, bergauf, bergab, erfaufen mußten. Wir famen und auf einmal 
wieder jehr weit ab von der Welt vor. So ein alter Rumpelfaften kann 
ganz antidiluvianifche Stimmungen aus einem herausmartern. Die Poſt zu 
Nagold trug ganz das Gepräge der alten Zeit, wo es nur Woftillong, 
Beichaifen, Reifewagen, Netouren, feilſchende Hauderer, fchläfrige Hausknechte, 
— und vor allem Muße und ruhigen Aufenthalt für ein Prühftüd oder 
Mittagefjen gab. Zmar tft Nagold ſchon Eifenbahnftation, allein der Bahnhof 
liegt von der Stadt etwas entfernt und auf der Hauptftraße, die von hier 
nah Wreudenftadt auf die Höhe des Schmarzwaldes führt, wird noch lange 
der Eilmagen und der Lohnkutſcher, überhaupt das Fuhrwerk feine Allein- 
berrichaft ausüben. Drum ſah's vor der Voft fo erinnerungsfreudig an das, 
wie e8 vordem war, aus. Selbſt fo eine Badeequipage, wie fie da eben für 
die blafje, Eranfe, junge Engländerin zugerichtet wurde, indem Kammerjungfer 
und DBediente Betten, Matragen, Deden, Speiſekörbe u. ſ. m. in ihr auf 
ftapelten, fieht man felten mehr. Ob fie nah Wildbad oder Baden fuhr, 
das erfragten wir nicht, aber das mußten wir, daß!wir felbft in der Nähe der 
hochberühmten Chwarzmaldbäder waren, daß wir gerade fo viel Zeit noch 
herausbefommen Eonnten, wenigftens eins zu befuchen. Bor dem ariftofratifchen 





* 
t 


227 


Wildbad fam uns aber noch ein Fleinered, weniger anſpruchvolles, das lieb» 
liche Teinach. Das war Schwarzmwaldnatur, Schwarzmwaldluft! Deutjchland 
hat herrliche Wälder, aber als der fehönfte ift mir immer der Schwarzwald 
erſchienen. Es war doch Herbit, aber fo frifh wie im Frühling leuchtete 
dieſes MWiefengrün, das den Fußpfad nah Teinach umfäumt. MWürziger 
Duft entftrömte den Tannen, die das enge Thäldyen umrahmen. Dem Kranken, 
der hierher fommt, muß es fehon beim erften Bli auf den ftilen Kurort 
wie eine beftimmte Hoffnung der Genefung überfommen. Alles ift freundlich, 


bequem, zwedentfprechend eingerichtet. Der Kurarzt namentlich, Herr Dr. Wurm, 


ft der beforgte Freund feiner Gäſte. Die Zerftreuungen eined Weltbades 
bietet natürlich Teinach nicht. Seine Natur ift Alles, was es giebt, aber 
Mran hat man genug. 

Wir fliegen nah Zavelftein hinauf, dem kleinſten Städtchen Würtem— 
bergs, das aber einft doch einen eigenen Abgeordneten in den Kandtag 
ſchicken durfte, 

„Rie von Riß und Sprung genöthet 
Ragt fein ſchlanker Römerthurm, 
Wie gegoffen und gelöthet 
Quaderfeſt im Zeitenfturm“ 
eitirte Ich meinem Söhnlein aus dem „Gaudeamus“ Viktor Scheffel’8 und aud: 
„Ruhſam ftand der Ortsbewohner 
Bor dem Haus im Sonntagskleid,“ 
denn Sonntag war's und die biedern Zaveliteiner ftanden wirklich gar ruhſam 
unter ihren Thüren. Es waren andere ‘Typen, ald wir bisher in Schwaben 
gefehen: dunkler Teint, ſchwarze Haare, mehr Rund: ald Langkopf; der 
dunfelblaue Rock mit der auffallend Eurzen Taille und den blanfen Metall: 
nöpfen, der Sonntagdftaat der Männer; der fchmarze, faltenreihe, am 
Mieder mit hellblauen Bändern verzierte der der Frauen. Auch mie andere 
Sprache klangs in unfern Ohren; jene breiten, gedehnten, unausfprechlichen 
Diphthongen macht fein Sterblicher dem Schwarzwälder nad). 

Immer mehr nahm auch die Landſchaft den eigentlihen Schwarzwald: 
barakter an. Nur Ein Dorf auf dem ganzen Weg, Oberreichenbach, aber 
wreinzelte, auf die grünen Matten hingejtreute, in fich abgeſchloſſene Gehöfte. 
In folh hölzernem Blockhaus, aus über einander gelegten Balfen gefügt, 
mit feinem niedern Schindeldach und der Holztäfelung an Dede und Wänden, 
wohnte wahrjcheinlih ſchon der erfte Anfiedler im Schwarzwald. In fol 
abgefchiedenen Gegenden verändert ſich der Menſch und fein Haus menig. 
Ernſt wie diejer ift der Wald, der nun auf beiden Seiten in langen, dichten 
Tannenreiben die Straße begleitete. Stundenlang gings fo fort. Endlich 
jemkte fich der Weg zu wildfchönem, flußdurchrauſchtem Thal. Bahnhoflichter, 


Locomotivpfeifen, alfo zu Ende die Waldftille, wieder Welttreiben in der 
Nähe: Calmbach und in einer halben Stunde Wildbad. Die Saifon neigte 
fih zu Ende, font hätte und wohl da8 äußerft comfortable Hotel Frey nicht 
eine8 feiner fchönften Beletage- Zimmer eingeräumt. Weit ging der Blid aus 
deſſen Fenſtern nicht, nur über den Kurplag, dann aber hemmten ihn ſchon 
die Berge. Bekanntlich hängen diefe förmlich über Wildbad herein. Das 
mag manchem, der zur Kur hierhergefommen, anfangs düfter erfcheinen, aber 
bald gewinnt er diefe Enge, diefed In- und Beleinander von Feld, Wald 
und Fluß lieb. Bon Iesterm fteigt er auf in den tiefdunflen Tannenhain 
und vom Granitblof, der aus uralter Zeit daltegt, fchaut er wieder zur 
lautraufchenden Enz hernieder. Beſchränkt find allerdings? auch die Spajier- 
wege Wildbads, wenigſtens die im Thale, in welchem ja dad Städtchen 
eigentlich nur Eine Hauptitraße ausfindig machen Eonnte, und aufmärtd kann 
nicht jeder der Gäſte Elimmen, denn dad, wofür gerade jene wunderbaren 
Thermen fo heilfräftig find, ift eben bei den Meiften des Bergfteigend Wider- 
ſpiel. Behaglicher, reinlicher, mir möchten jagen ſchon dem äußern Anfehen 
nah fo dem Kurzweck dienend, als mie die zu Wildbad, haben wir noch feine 
Bäder eingerichtet gefunden. Auch für den Gefunden ift’3 eine wahre Molluft, 
in diefe Baffin® niederzufteigen, wo die Quelle unmittelbar aus dem feinen, 
weiten Sand treibt und ſich dad warme Waffer fo wohlig wie ein weiches 
Gewand um den Körper legt. 

Wir meinten, auch und hätte e8 alle Müdigkeit der vergangenen und 
abſchlagsweiſe auch der Fommenden Tage meggenommen, als mir den geftern 
gemachten Weg wenigſtens theilmeife zurüdgingen um bei Calw das Ende der 
gemifchten Reife d. h. der aus Eifenbabnfahrt und Fußmwanderung gemifchten, 
zu erreichen und uns fortan nur noch der erftern zu überlaffen. Für letztere 
aber machten wir in Hirfau den lesten Halt. 

Es giebt genug Klofterruinen in der Welt, aber einzelne von ihnen haben 
ganz befondern architektoniſchen und Tandfchaftlichen Weiz vor den andern 
voraus. Zu diefen gehören Baulinzelle auf der grünen Waldwiefe im Thüringer 
land. Dann, am Fuße der rheinbefpülten Stebenberge, Allerheiligen im Schwarz: 
walddunfel. Dazu gebört auch Hirfau im ftillen Nagoldthale. 

Es war einit der geiltig anregenditen Klöfter eind im ganzen deutjchen 
Rande Ein Bürgermeifter des benachbarten Calw erfühnte fich, einen Strid 
durch einen Gontributtond.- Brief des Kfalzvermwüfterd Melae zu machen; die 
Brandfadel flog dafür in die herrlichen Gebäude, Was von diefen heut 
noch da tft, find Trümmer; aber nicht die Franzofen allein haben diefe auf 
dem Gewiſſen; auch die Mürtemberger Beamten haben fie vernichten helfen. 
Eine noch ganz unverfehrte Kapelle wurde ald Baumaterial abgebrochen, 
Gräber wurden geöffnet, die Denkſteine zerfchlagen und umhergeworfen. “est 


en 


maltet allerding® erhaltende Ordnung unter den Ruinen von Hirſau. Wur 
cherndes Grün hat fich überall zmifchen diefe gedrängt; einem Ulmenzweiglein 
mard’3 vor vielen Jahren zu eng unter dem alten Gemäuer, das ſchob ſich 
duch das Geftein und Geröll und jest wiegt der mächtige Baum feine 
Iuftige Krone hoch über den vier ihn umftehenden audgebrannten Wänden: 

„als ob die nur beftimmt 

den fühnen Wuchs zu fchirmen 

der zu den Wolfen klimmt.“ 

Diefe Ulme, die Uhland befungen, ift das Mahrzeichen Hirfaud. Sie 
ninft und den Abſchiedsgruß zu. Wir haben Calw erreicht; der Bahnzug 
iommt; er fteigt mit und zur Höhe, in großen Windungen nur ift das zu 
meihen; mwürtembergifhe Kifenbahntechnif hat hier Wunderbared geleiftet ; 
aber die würtembergifche Eifenbahnfchuld fih au um eine hübfhe Summe 
vermehrt. immer wieder wird das malerifche Calw im Thale fihtbar; aber 
endlih finft es doch tiefer und tiefer; da Hat die Rocomotive den Scheitel 
des Berges erflommen; fie jagt mit und durch flache, in der Erinnerung 
an die MWaldeinfamfeit der Kloftertrümmer von Hirfau und an das Tannen- 
dunkel ded Schwarzwald weniger anmuthendes Rand, bis fie in den ſchönſten 
Bahnhof des deutfchen Reiche, den von Stuttgart einführt. Das Bild der 
Hauptftadt Mürtembergd würde zu denen paffen, die wir ihrem reichen, 
ſhönen Sand entnommen haben, aber ſchon zu groß vieleicht ift deren Zahl 
geworden. Der Leſer dankt mir vielleicht, daß die „Herbfttage in Schwaben“ 
bier zu Ende gehen. 


Briefe aus der Kaiferfladf. 


Berlin, 1. November. 


Mit dem heutigen Tage hat die Ausftellung der königlichen Akademie 
der Künfte ihr Ende erreicht. Sei es mir geftattet, ihr eine kurze Grabrede 
u halten. Die Auäftellungen der Akademie kehren alle zmei Jahre wieder; 
ihr Zweck ift, gemiffermaßen eine Ueberſicht über zeitgenöffifches Schaffen auf 
Km Gebiete der bildenden Künfte zu geben. Man kann indeß nicht fagen, 
daß diefer Zweck ganz erreicht werde. Zunächſt pflegt das Ausland fich nur 
ſhwach zu betheiligen; ziemlich zahlreich find in diefem Jahre die Italiener, 
Deiterreicher und Belgier vertreten, Franzofen und Holländer dagegen nur 
jpärlih. Auch von der Production in Deutfchland erhalten wir fein er: 


230 


fchöpfendes Bild, mehrere hervorragende Meifter, wie 3. B. Knaus, haben 
in diefem Jahre gar nicht ausgeſtellt. Trotzdem umfaßte der Katalog nidt 
weniger ald 1067 Nummern und man Fann immerhin annehmen, eine Vor: 
ftelung von dem Durchſchnitt der fünftleriichen Leiſtungsfähigkeit der Gegen: 
wart, fo meit Deutfchland in Frage fommt, erhalten zu haben. Der Ge: 
fammteindrud, offen geftanden, war fein befonders erhebender. Hervorragen— 
der Reiftungen waren wenige, man fah viel Mittelgut und entjeglich viel Un- 
bedeutended. Ueppig wuchernd und in den verfchiedenten Formen trat die 
Bortraitmalerei auf, bald ald Portrait ſchlechthin, bald in Verbindung mit 
Landſchafts-, Thier-, Coſtüm-, Genre», ja Hiftorienmalerei. Unter den 
eigentlichen Portraits wurden beſonders die Bilder aus der Faiferlichen Familie 
von Herrn v. Angelt in Wien bewundert. Unftreitig den beiten Platz unter 
denfelben nimmt das Bild des Kronprinzen ein, eine ebenfo Fünftlerifch ſchöne 
wie getreue Darftellung dieſes Typus Fräftiger Männlichkeit. Sehr bemerken: 
werth wegen der vornehmedidcreten Behandlung der Farben und der Wärme 
im Ausdrud auch das Portrait der Kronprinzeffin; nur herrſchte über die 
Mehnlichkeit allgemeiner Zweifel. Am menigiten befriedigt das Bild des 
Kaifere. Wie ganz anders erfcheint die Figur des greifen Helden doch auf 
dem Camphauſen'ſchen Reiterbilde! Allerdings hat Kamphaufen den Kaifer 
gemalt, wie er vor vier Jahren an der Spige des deutfchen Heeres dem Feinde 
entgegenzog. eine Geftalt von unverwüftlicher Frifche und Kraft, während auf 
Angeli's Darftelung wohl das lange Unwohlſein des Kaiſers im vorigen Winter 
unvorthetlhaft eingewirft hat. — Am meiften von allen Bortraititüden aber hat 
fi) das von Guftav Richter gemalte lebensgroße Bildniß der Fürftin Caro— 
lath die Gunft des Publikums erworben. Das Bild war in der That eine 
Perle der diedmaligen Ausftellung. Es zeigt eine Dame von nahezu Elafftiher 
Schönheit, in gejhmadvoll: einfachem weißem Gewande und in ungefünftelt: 
graztöfer Haltung vor dem Kamin fisend, ihr zu Füßen eine prächtige Dogge. 
Die gedämpfte Beleuchtung, von der einen Seite der Feuerfchein des Kamind, 
erhöht noch den eigenthümlichen Netz des Ganzen. Derfelbe Künftler hatte, 
außer einem Bilde Bancroft’3, noch verfchiedene PBortraitgruppen in Genre 
bildform ausgeſtellt. Auf einem diefer Bilder ift feine Gemahlin mit einem 
Kinde auf dem Arm dargeitellt; ein anderes zeigt den Maler felbjt,. wie er 
feinen fehelmifch-lächelnden Buben, das gefüllte Champagnerglas in der Hand, 
zum Fenſter hinaushält — Beides Compofitionen von fo frifhem, lebens— 
wahrem und zugleich fo poefievolem Humor, daß man feine herzliche Freude 
an ihnen haben muß. — mei in der Erfindung höchſt eigenthümliche und 
In der Ausführung fehr bedeutende Portraitgemälde waren von dem Brüffeler 
Alma Tadema ausgeſtellt. Diefelben gehören zur Collection des Palazzo 
Palmieri in Nizza. Das eine ftelt einen antiken Bildhauerladen, das andere 


u 231 


dad Gabinet eine? Kunſtliebhabers, ebenfalld® aus der Zeit des Flaffifchen 
Alterthums, dar. Auf jenem ift der Maler mit feiner Yamilie, auf diefem 
der Eigenthümer portraitirt. Die Perfonen erſcheinen in ftreng antifer Ge— 
wandung, find aber troßdem prächtige, lebensvolle Geftalten. Ueberhaupt, 
was diefen Bildern einen ganz eigenartig en Merth verleiht, ift der Gedanke 
ung das Leben der Alten in menfchliher Weife nahe zu bringen, mit einem 
Worte, antife Genrebilder zu fchaffen. Die Ausführung ift trefflich gelungen. 
— Hiftorifched Genre mit Portraitmalerei vereinigt trafen wir auch in einem 
Bilde unferes U. v. Werner, nur dab es fich Hier nicht um das Wortrait 
ner heute lebenden, fondern um das einer der betreffenden Epoche felbit an- 
gehörenden Perfönlichkeit handelt. Das Bild zeigt Luther auf einem Fami— 
lienfeſte. In einer Villa fit die Keine Tifchgefellihaft beim reichen Mahle, 
duch das Fenſter und die offene Thür fieht man draußen einen Männerchor 
poſtirt, welcher ein Ständchen bringt. Weiterhin liegt die Stadt mit ihren 
Thürmen, ihren Ziegeldächhern und Feltungsmauern. Der Reformator hält 
dad Meinglad in der Hand und Taufcht dem Gefange, getreu feinem Sprude: 
„Wer nicht liebt Mein, Weib und Gefang, der bleibt ein Narr fein Reben 
lang.“ Die energiſche Charafteriftif der Figuren, das urfräftige Behagen, 
welches fi) in dem Ganzen ausprägt, von einem Werner’fchen Bilde noch 
bejonder® rühmen zu wollen, wäre Ueberfluß. 

Daß das Gebiet der eigentlichen Genremalerei heutzutage noch immer 
dad ergiebigfte und rentabelfte ift, hat auch die diesjährige Ausftellung wieder 
gezeigt. Die Zahl der hierher gehörigen Bilder und Bildchen mar Legion 
und es fällt fehr fehwer, aus ihnen die ermähnendmertheften auszuſcheiden. 
Zu den hervorragendften gehörte eine äußerſt drollige und bis in den Fleinften 
Zug dem Leben abgelaufchten Scene unferes gefhästen Künftlerd Paul Meyer- 
beim: „In der MWildenbude.* Auf der Bühne vollführen die Rothhäute 
unter fchaurigem Geheul und entfeglichen Verrenkungen ihre grotedfen Künfte, 
unten fteht, phantaftifch coftümirt und mit prahlerifcher Geberde, der Erplt- 
cator. Mit andächtigem Graufen betrachten die Mädchen und Weiber, mit 
loderndem Enthufiagmus die Buben die wilden Sprünge in gemaltiger 
Sagdhund maht Miene, fih an der Vorftellung activ zu betheiligen, wird 
aber von feinem Heren, einem derben alten Waidmann, mit der grünen 
Pfeife im Munde, nod) rechtzeitig befänftigt. — Mit zwei trefflichen Genre- 
bildern war der Düffeldorfer Künftler Karl Boecker vertreten. Das eine, 
„Am Drehbrett“ betitelt, zeigt einen Jahrmarkt; im Vordergrunde verfuchen 
Bauernfinder mit dem befannten Hazardfpiel ihr Glück. Das Zagen und 
Wagen de drehenden Knaben und die ängftlihe Neugier der umftehenden 
Buben und Mädchen find prächtig getroffen. Auf dem andern Bilde, „Theure 
Hotelrehnung”, ift eine Bauernfamilie in ein elegantes Hotel gerathen. Wie 


fie ſich gütlich gethan, zeigen die Reſte auf dem Tiſche. est kommt der 
Moment, wo für jeden Sterbliden die Gemüthlichfeit aufhört. Das lange 
Geſicht des pater familias, die Verlegenheit der hübſchen Tochter, die Ver— 
blüfftheit de8 Jungen, der fich eben no einen Biffen zu Gemüthe führen 
will, — dad Alles könnte natürlicher und ergöblicher nicht wiedergegeben 
werden. In einem dur Klarheit der Zeichnung und Feinheit der Charak— 
teriftit ausgezeichneten Bilde hat Seyfferth in Weimar das Kartenlegen 
(„Dorforafel*) dargeftelt. — Jagd- und Räubergeſchichten, ftet3 ein beliebtes 
Thema für Genrebilder, durften natürlich auch hier nicht fehlen. Erwähnen 
wir aus der Region der erfteren Grützner's „Sägerlatein“, eine Iuftige Illu— 
ftration , wie „Jagdgeſchichten“ erzählt und aufgenommen werden. Als Re: 
präfentant der Räubergefhichten mag „Der erſchoſſene Wilderer* von Simmler 
dienen. Hoc oben in den Schneebergen, an öder Stelle, liegt der Leichnam. 
(Eben kommen die Dorfleute, ihn zu holen. Die Kinder ded Todten, die 
ihnen voraudgeeilt, ftehen im wilden Sturme unmeit des Vaters, dad Mädchen 
in Graufen und Verzweiflung, der Knabe in finfterem Brüten. — Das 





\ 
4 
! 


Ganze ein düftere®, aber ergreifende® Bild. — Die Nachtjeite des haupt | 


jtädtifchen Lebens entrollt Frig Pauljen in feinem „Kümmelblättchen“. Die 


Scene ift aus dem vollen Leben gegriffen, eine Befchreibung weiter nicht | 


nöthig. — Mehrere Genremaler hatten diedmal ihre Vorliebe für Schufter 
und Schuftermerfitätten bekundet, am ergöglichften der Italiener Orfeo Orfei. 
Heberhaupt zeichneten ſich faſt alle von Stalienern ausgeftellte Genrebilder 
durch deutliche Charafteriftit, Lebendigkeit und Klarheit der Farben aus. 
So befonder® die von Guglielmo Guglielmi. Was wir Deutjchen jedoh an 
ihnen vermiffen, ift da® Gemüth. — An fog. Idyllen war auch diedmal Fein 
Mangel; doch ſcheint ed, als ob fich unfere Maler endlich mehr und mehr 
daran gemöhnten, fie ald überwundenen Standpunkt zu betraditen. Als jehr 
anfprehend mag Robert Beyſchlag's „glüdlihe Mutter“ hervorgehoben 
werden, eine Bäuerin, die ftrahlenden Antlitzes ihr Kind hoch in die Luft 
hält. — Die bei den heutigen Genremalern nur allzu beliebten Rührfcenen 
nahmen auch diemal einen breiten Raum ein. Als das ergreifendfte und 
am wenigflen gefünftelte darf Otto Günther's „Wittwer* genannt werden. 
Ein junger Bauer fehrt eben zurüd vom Grabe feiner Frau. Ueberwältigt 
vom Schmerz ift er vor dad Bett hingefunfen und birgt fein Gefiht in den 
Falten der Vorhänge. Die Alte hinter ihm hält fein blühendes Mind auf 
dem Urme; fie weiß, es ift ihm der einzige Troft, aber doch wagt fie nicht, 
ihn in feinem Sammer zu flören; er muß fih ausweinen! — Ein vortreff- 
liches Bild hatte Carl Schlöffer in Darmftadt ausgeſtellt. Eine alte ver- 
lafjene Wittwe erhält von einem Freunde „Rath in der Noth.“ 

Reihlih war aud eine Abart vertreten, die man am zutreffenditen ala 


ethnographifche reſp. geographifiche Genremalerei bezeichnen könnte. SHervor- 
ragend an coloriftifcher Kraft und Mannichfaltigfeit, wie an dramatifcher 
Lebendigkeit zeigten fich zwei dem italienifchen Volkäleben entnommene Com» 
pofitionen ded Wiener Malers Alois Schöne: „Volkstheater in Chioggia” 
und „Heimkehr der Fiſcher.“ Einer von Mar Michael in Berlin ausgeftellten 
Mädchenſchule im Sabinergebirge* fehlte e8 auch nicht an wirkſamen Zügen. 
E. Young in Münden bot einen „Hochzeitözug im Gebirge”, lauter natur- 
wahre, lebensvolle Geftalten des Hochgebirges, in friſchem, effectvollem Colorit 
dargeſtellt. Mehr in geographifcher, als in ethnographifcher Beziehung 
harakteriftifch ift eine von Hermann Kregichmer in Berlin dargejtellte Scene 
aus dem Spreewald: „Heimfahrt aus der Schule.” Die fröhlichen Kinder» 
gruppen in den Kähnen, der warnende Schulmeifter am Ufer find zwar aud) 
cht anfprechende Momente, was dem Bilde aber fein individuelled Gepräge 
verleiht, ijt eben der eigenthümliche Charakter der Landſchaft. — An Dar- 
tellungen einzelner Volkstypen Titt die Austellung auch feinen Mangel. 
Hervorzuheben ijt ein „Mädchen aus dem Berner Oberlande“ von Emma Ende. 
Gin „Slorentiner Blumenmädchen* von Oscar Begas ift coloriftifh vor- 
trefflich, könnte aber ebenfo gut in Berlin in einem befjeren Zingeltangel ale 
Hebe figuriren. Wohin fi der Geſchmack begabter Maler verirren Fann, 
zeigte Trübner's „Mohr, eine Cigarre haltend.* 

Auch das hiſtoriſche Genrebild war, was wenigftend die Anzahl betrifft, 
hinter den verwandten Branchen nicht zurüdgeblieben. Man wird unter 
diefe Kategorie auch die aus Dichterwerken entlehnten Scenen fubfumiren 
dürfen. In diefer Richtung that fi Karl Beder in Berlin hervor. Ein 
Scene aus „Figaro’d Hochzeit“ und Dlivia und Biola aus Shakeſpeare's 
‚Was ihre wollt“, in dem Moment, ald Dlivia dem vermeintlihen Pagen 
ihr ſchoͤnes Antlig entfchleiert, glänzten durch Reichthum der Farben und 
Anmuth der Darftellung. Das lebtere Bild ift offenbar eine Frucht des 
Gaftfpield der Meininger, die Leiftungen und felbft die Züge der betreffenden 
Künftlerinnen find unverkennbar nachgeahmt. Ein wahres Juwel hat Grüßner 
In Münden aus Scheffeld Effehard entlehnt. Es ift die Scene, wo der 
Mönch Rudimann im tiefen Keller mit der Magd Kerhildis zu liebkoſen be- 
ginnt — ein warnended Erempel, wie die tolle Zeit der Weinlefe auch die 
gejeßteften und frömmften Naturen zu Reihtfüßen macht. — Daß eigentliche 
biftorifche Genre war weitaus am bedeutendften durd ein Bild von Defregger 
in München, das „Ieste Aufgebot im Jahre 1809 in Tirol“ darftellend, re 
präſentirt. Wir befinden und in einem Tyroler Dorfe. Ein Haufen bejahrter 
Männer, voran ein hochbetagter Greiß, ziehen mit ihren Senfen und jonftigen 
Geräthen gegen den Feind. Nicht Verzweiflung und auch nicht rafende Wuth 
jpiegelt fich in ihren Mienen, fondern nur der entjchlofjene — Und 

Grenzboten IV. 1874. 


234 


die gleiche Entſchloſſenheit, der gleiche furchtbare Ernit liegt auf den Gefichtern 
der Weiber, die ihre Männer zur Wertheidigung des häuslihen Herdes 
hinausziehen fehen. Der gemitterftürmifche Himmel und die fahle Beleuchtung 
vollenden die düftere Stimmung des Ganzen. Das Bild zählt unftreitig zu 
den wenigen wirklich hervorragenden Schöpfungen, mit welchen dieſe Aus 
ftelung und befannt madte. Man Fann fich die fittliche Größe jenes hiſto— 
rifhen Vorganges nicht ergreifender und lebenswahrer dargeftellt denken. — 
Gine beachtenswerthe „Scene aud dem Bauernkriege* von Burmeiſter tft 
bereitö bei einer früheren Gelegenheit in diefen Blättern beſprochen worden. 

Die großen Hiftorienbilder der diedmaligen Austellung trugen mie ge 
wöhnlich gar zu fehr den Stempel der Schablone. ine Compofition von 
Albert Baur in Weimar, „Otto I an der Reiche jeined Bruderd Thankmar“ 
vorftellend, ift fauber gearbeitet, zeigt auch eine Reihe charakteriftifcher Köpfe, 
aber das Ganze macht den Eindrud ded hergebrachten Conventionellen. Die 
gleiche Bemandtnig hat ed mit dem Bilde von Faber du Yaur: „Wbreije 
Friedrichs V. von der Pfalz aus Prag nad der Schlaht am Weißen Berge.” 
Mehr eigenthümliches Gepräge trägt das große Bild von Ferdinand Keller 
in Karlsruhe, Nero darftellend, wie er von einer Villa aus den Brand Roms 
betrachtet. Der Gegenfag zwifchen der den Kaifer umgebenden Drgie und 
dem Bilde unfäglichen Elends ift draftifch genug; aber der Erjcheinung des 
Imperators felbft fehlt der, der furdhtbaren Größe ded Moment? entjprechende 
Ausdrud. — Mehr in dad Gebiet der hiftorifchen Genremalerei fpielen zwei 
prächtige Bilder von Camphauſen hinein, da® eine eine drollige Scene aus 
der Schlacht bei Roßbach, das andere die „achten Hufaren bei Waterloo“ 
darftellend. Sie führen und zur Schlachtenmalerei. Diefelbe war auf der 
diedmaligen Ausftellung, in Unbetracht des Umftande®, daß wir und vom 
Ende des legten großen Krieges erft drei Jahre entfernt befinden, nicht gerade 
reichlich vertreten. An der Spitze erfchien Bleibtreu. Sein „Sedan“ zeigt im 
Bordergrunde auf einer Anhöhe den Kronprinzen mit feinem Stabe, in der 
Verne den wogenden Kampf und die brennende Stadt. Dad Ganze ift mitten 
aus der Wirklichkeit gegriffen, die Gruppirung fehr effectvol. Das Gleiche 
gilt von desſelben Maler „Wörth.“ Eine faft peinlich genaue Copie der 
Wirklichkeit ift das im Beſitze des Herzogs von Meiningen befindliche Bild 
„Die 22. infanteriedivifion in der Schlaht bei Sedan“, von Adam in 
Münden. Die Ausführung ift vortrefilih, doch Hat das allzu äÄngftliche 
Veithalten an den mwirklihen Vorgängen die Einheit des Gefammteindrudg 
beeinträchtigt. 

Reihen wir an die moderne Schlachtenmalerei die Darftellung eines alt- 
deutjchen KHriegsbildes an! Die „Walküren“ von Auguft v. Heyden in Berlin 
waren eine der originelliten und gehaltvollften Gompofittonen der ganzen Aus 


235 


felung. Die Schlacht ift gefchlagen, über dag meite Gefilde Hat fich die 
Naht gebreitet; im Hintergrunde lodert die Flamme der zerftörten Bergfeite. 
Da faufen die Töchter Odins auf weißen, feuerfehnaubenden Roſſen dur die 
Rüfte daher, die gefallenen Krieger, deren Leiber am Boden liegen, nad Wal: 
halla zu laden. Es liegt etwas Grauenerregended und doc zugleich ungemein 
Feſſelndes in dem Bilde. Im Stoffe mit ihm verwandt, in der Ausführung 
aber weit verfchieden it die „Rückkehr aus MWalhall* von Bürck in Dresden. 
Hier Fällt der Hauptaccent auf eine ſchlanke Jungfrauengeſtalt, die auf einem 
Kahn in der Bucht eines Sees bet ftiller Mondnacht den Geliebten aus Wal: 
halla zurücdermwartet; das in den Wolfen erfcheinende Reiterbild ift nur müh— 
hm zu erfennen. Bon dem fpecifiih deutfchen Sagenkreiſe angehörenden 
Darftellungen ift Knille's „Tannhäuſer“ wegen feiner coloriftifchen Wirkſam— 
fit hervorzuheben. Das Bild zeigt den Moment, da der Ritter fih aus den 
Banden der Venus losreißt. Am beften ift dem Künftler, in Haltung und 
Ausdruf, die Venus gelungen. — Auch der antifen Mythologie waren ver- 
ihiedene Stoffe entlehnt. Lindenſchmit in Münden hat ein Bild „Venus und 
Adonid“ gemalt, eine Nahahmung der Benetianer des 17. Jahrhunderte. 
Leider kann es nicht als einer der glücklichſten Würfe des gefchästen Künſtlers 
betrachtet werden. Eine „Dryade* von Schau in Weimar ft vortrefflich 
gemalt, nur bleibt er und die Aufklärung des Geheinmifjes fchuldig, warum 
ein beliebiged ſchönes Weib unferer Tage, wenn e3 fi nat in den grünen 
Bald legt, eine Dryade wird. Ueberhaupt ift es auffallend, wie ängftlich 
unfere Maler für ihre Nuditäten nach einem Vorwand fuchen. Auch Hilde 
brand hat ed fo mit einem viel bemunderten Bilde gemacht. Er nannte e8 
‚Am Meereöftrande”; e8 hatte aber weiter feinen Zweck, ald uns eine nadte 
Frauengeftalt zu zeigen. Der menfchliche Körper ift das vollendetite Kunft: 
wert der Schöpfung. Warum foll fi da der Künftler geniren, wenn er ihn 
eben als das vollendetite Kunſtwerk darftellt? 

Bom Gebiete der das menfchliche Leben wiederfpiegelnden Kunſt bleibt 
noch die religiöfe Malerei zu erwähnen. Cie war ſchwach vertreten. Cinige 
Bilder aus dem Reben Chriſti von Plodhorft gehören nicht zu den bedeu- 
tendften Leiftungen dieſes Künftlerd. Feſſelnd durch feine Eigenart ift eine 
„Kreuzigung“ v. E. v. Gebhardt in Düfjeldorf. Gebhardt hat mit der Tra- 
dition vollkommen gebrochen, er will die Geftalten der heiligen Gefchichte ald 
gewöhnliche Menfchen darftellen. Bom Standpunkte der Wahrheit und Na- 
türlichkeit tft dagegen nichts einzuwenden; aber es fragt ſich doch, ob „reli- 
giöfe* Malerei und ftrenger Naturaliamus nicht einander mwiderfprechende Be— 
griffe find. Die fehr realiftiiche Scene, welche das genannte Bild und vor- 
führt, ift genial concipirt, aber wir erhalten den Eindrud einer gräßlichen 
Hinrichtung, durchaus nicht den des „Berföhnungstodes am Kreuze." — — 


Mit außerordentlicher Freigebigkeit hatte die Landſchaftsmalerei die Aus. 
ftellung befcheert. Nur Weniges von diefem Gebiete kann als ganz verfehlt 
bezeichnet werden; die ungeheure Mehrheit der Bilder waren mittelgute 
Reiftungen,, forgfältig und correct ausgeführt, ohne jedoch Hervorragend zu 
fein. Neben den deutichen nahmen wie immer die italienifhen Motive den 
erften Plag ein. An der Spige der zur letzteren Kategorie gehörigen Werke 
ftebt ein Bild von Damald Achenbach. Auch Gurlitt, Krüger, Hertel haben 
Tüchtiges geleiftet. Unter den Darftellern deutfcher, fchmeizerifcher und tyroler 
Gegenden mögen Hummel, v. Kamecke, Ruths und Spangenberg befonders 
hervorgehoben werden. Die Romantik des Meereöftrandes® mar in hervor: 
ragender Weiſe dur Douzette, Scherred, Andreas Achenbah zur Anſchauung 
gebracht. — Auch in der Arcitefturmalerei war Tüchtiges geleiftet. — Nicht 
minder Anerkennenewerthes enthielt die Abtheilung der Aquarellen und 
Kupferftihe. Der Raum verbietet aber, weiter darauf einzugehen. — Als 
Thiermaler verdient Paul Meyerheim mit einigen prächtigen Gremplaren er 
wähnt zu werden. Auch an einer Anzahl recht brav componirter „Stillleben* 
fehlte es nicht. 

Die Skulptur pflegt auf unferen Auaftellungen gegen die Malerei ganz 
zurüdzutreten. Doc enthielt diefe Abtheilung auch diesmal eine Reihe febr 
beachtenäwerther Stücke. ine höchſt geniale Compofition iſt da® Modell 
eines für den Sohn des Dr. Stroudberg beftimmten Grabmonumentd von 
Reinhold Begad. Die reinfte Freude fonnte man an zwei anderen Bild» 
werfen deäfelben Meifters haben: „Merkur und Pſyche“ (Gypsmodell) und 
„Ban und Pſyche“ (vortrefflih in Marmor ausgeführt). Bon fonjtigen ein 
heimifchen Künftlern war eine Reihe tüchtiger Portraitbüften auägeftellt 
Die Staltener glänzten, wie gewöhnlich, mit einer Reihe zterlicher Marmor- 
ftatuetten; doch fommt man immer mehr zu der Erkenntniß, daß hinter der 
anmuthigen Form ihrer Bildwerfe herzlich wenig Geift zu finden ift. 

Und nun genug! Ich bilde mir nicht ein, im Vorſtehenden dem Leſer 
auch nur entfernt ein anfcbauliches, umfaſſendes Bild unferer diesmaligen 
Ausftelung gegeben zu haben; in dem ganzen Rahmen eines einzigen Briefes 
war da& bei der Ueberfülle des Steffs eine Unmöglichkeit. Meine Darftellung 
mußte fih auf eine bloße Andeutung der bier zur Erfcheinung gelangten 
Hauptrichtungen befchränfen. Dem unbetheiligten Lefer wird damit ohnehin 
übrig genug zugemuthet fein. 





237 


Vom deutſchen Reichstag. 


Berlin, den 1. November 1874. 


Die Thronrede hat dem Neichätag eine größere Arbeitsfülle in Ausſicht 
geftellt, ald man erwartete. Zu den drei Gefegen über die Gerichtöverfaffung, 
dad Civilverfahren und das Strafverfahren, fol, wie es feheint, noch in diefer 
Seſſion au die Coneurdordnung vorgelegt werden. Dur dieſes letztere 
Gefe wird fich allerding? die Reichdtagsarbeit nicht vermehren, fondern nur 
Ye Arbeit der zur Vorberathung der Neichäjuftizgefege zu bildenden Com— 
affion, die man ja bevollmädtigen will, ihr Werk einer fpäteren Seffion 
vorzulegen. 

Anders fteht e8 mit den angekündigten Vorlagen über das Heermefen. 
Diefe werden tem parlamentarifhen Fleiß reichlich zu thun geben. Da find 
drei Gefegentwürfe, nämlich: 1) über den Landfturm, 2) über die Gontrole 
vr Beurlaubten, 3) über die Naturalleiftungen für die bewaffnete Macht 
im Frieden. Dazu fommt bei der Berathung der Heeredauspaben die längft 
erwartete Mehrforderung, welche durd; Erhöhung der Matrikularbeiträge auf 
gebracht werden fol. Der Vorſchlag diejer Erhöhung wird unausbleiblich 
dazu führen, den Modus der Aufbringung des Reichsbedarfs principiell zu 
erörtern. Wir werden von Reichseinfommenfteuer und von Tabakſteuer zu 
hören befommen. Sehr interefjante Gegenftände für den Finanzpolitiker, 
und überdem von praftifcher Unvermeidlichkeit, aber nicht zu erledigen in dem 
turzen Raum diefer Seſſion. Die Beſchlußfaſſung über die Heeredausgaben 
wird durch die immerhin nicht zu umgebende Anregung diefer Frage nicht 
on Kürze gewinnen. — Die Borlegung ded Banfnotengefegentwurfd ift mit 
Leftimmtheit erwartet worden und der Reichötag hat feine dringendere Pflicht 
als dieſe Vorlage pofitiv zu erledigen. Dagegen ift wohl die Frage erlaubt, 
od ed nöthig war, das Geſetz über die Ginrichtung des Reichs-Rechnungs— 
befed und das damit im Zufammenhang ftehende Komptabilitätögefeg, deren 
Entwürfe fhon im Frühjahr vorgelegt, aber nicht berathen wurden, bereits 
wiederum Diefer im Verhältniß zu ihrer Dauer überlafteten Herbitjeffion aufzu- 
türden. Die Prüfung der Rechnungslegung über die Jahre 1867—71 erfordert 
hen ein gut Stüd Arbeit, ohne zu den Hauptgegenftänden der Seffton zu ge, 
hören. Zum erften Mal bat der Neichdtag über den Haushalt des Reiche. 
landes Elſaß und Kothringen zu befchliegen. Wenn diefer Haushalt auch 
riht von großem Umfang fein wird, fo dürfte die erfte Erörterung desſelben 
doch zu einer weitläufigen Verhandlung ſich geftalten, weil fie eine gewiffer- 
maßen grundlegende Arbeit if. Der gewichtige Schluß, mit welchem die 
Thronrede auf die auswärtigen Verhältniffe Bezug nimmt, bedarf unferes 


238 


Commentares nit. Da wo man es hören fol, wird man vielleicht beherzigen 
daß ſyſtematiſch fortgefeste Verläumdungen für den Verläumder ihre Gefahren 
haben Eönnen, aud) wenn der Verläumdete ftill Hält. Eines Tages Fann der 
Berläumder, um fich nicht felbit Rügen zu ftrafen, genöthigt fein, die erften 
Schritte auf dem Wege zu thun, den er einfchlagen müßte, wenn er feinen 
Ausftreuungen felbft Glauben ſchenkte. Auf diefem Wege wird er aber dem 
Schwerdte der Bertheidigung ohne Verzug begegnen. — 

In der Arnim’schen Angelegenheit hat die abgelaufene Woche miederum 
einige merfwürdige Incidenzpunkte zum Vorſchein gebracht. Der Graf hat für 
gut befunden, feine Briefmechfel mit dem auswärtigen Amt über die feiner: 
ſeits einbehaltenen Schriftftüde außer an verfchiedene ausländifche Blätter 
an zwei oppofitionelle deutfhe Zeitungen mitzutheilen. Ferner ift der Graf 
auf Grund ärztlihen Zeugniffes, welches die Folgen der Gefängnißhaft für 
feine Gefundheit als nicht wieder gut zu machende bezeichnet, gegen Caution 
aud dem Gefängniß entlaffen worden, nachdem fein diefem Yeugniß voran- 
gegangener Antrag auf Entlaffung aus der Haft in allen drei Inſtanzen 
verworfen war. Wenn die Entlafjung ſchließlich doch erfolgt ift, fo hat 
man, wie glaubwürdig verlautet, den Grund nicht blos in dem auf die neuefte 
ärztliche Unterfuhung baftrten Zeugniß zu fehen, fondern vor allem in dem 
Umftand, dag die Vorunterfuhung gefchloffen und Feine Verdunkelung dei 
Thatbeftandes mehr durch den in Freiheit gefesten Angeklagten zu befürchten 
fteht. 

Diefer Angeklagte thut indeß, was in feinen Kräften iteht, um big zum 
Tage der gerichtlichen Verhandlung die öffentlihe Meinung auf die Noth— 
wendigfeit feiner Verurtheilung vorzubereiten. Welche Verblendung muf 
einen Mann befangen, der im Stande ift, einen ſolchen Briefwechſel der 
Deffentlichkeit zu übergeben, deſſen Inhalt das gerichtliche Urtheil, und nur 
nicht die Verurtheilung, überflüffig madht. Der allgemeine Gang der An- 
gelegenheit, wie er bereit® befannt war, wird hier beftätigt, aber durch be 
deutungsvolle Einzelheiten bereichert. Recapituliren wir noch einmal. 

Im Botſchaftsarchiv zu Paris wird eine erftaunlicd große Lücke in den 
Aftenftücen bemerkt. Man fchreibt an den zur Dispoſition gejtellten Bot: 
ſchafter. Derfelbe fendet vierzehn Erlaffe und Goncepte ein. Damit tft in 
deß die Lücke bet Weitem nicht ausgefüllt. Man fehretbt alfo nochmald an 
den bisherigen Chef der Botſchaft, erinnert ihn an feine Verantwortlichkeit 
und fordert ihn auf, fich über die fehlenden Nummern amtlich zu äußern. 
Und nun verlegt fich diefer bisherige Chef einer der wichtigſten Botſchaften 
auf Einreden und Ausflüchte, die geeignet fein müßten, den audgezeichneten 
Auf der Pflichttreue des preußifchen Beamtenftandes gänzlih zu erjchüttern, 
wenn ſich nicht bald die Bemerkung aufdrängte, daß man einen geiftigen 


Ausnahmezuftand vor fih bat. Graf Arnim meigert fih, eine amtliche 
Yeußerung abzugeben, weil er nicht mehr Beamter fe. Ald ob ein zur 
Diepofition gejtellter und ein aus dem Staatsdienft entlaffener Beamter 
nit gerade darin unterjchieden wären, daß der erftere jeden Augenblick zu 
amtlihen Dienftleiftungen berufen werden kann und folglich den allgemeinen 
Berpflihtungen des Staatödienerd zu genügen hat. Aber felbft der entlaffene 
Staatsdiener ift durch feinen Dienſteid verpflichtet, Hinfichtlich feiner ehe» 
maligen Amtöführung jede erforderliche Auskunft zu geben. Unter fophi- 
fiiher Berufung auf das Neichsbeamtengefeb behauptet der Graf, zur Die- 
zeſition des Kaiferd, nicht aber zu der feiner ehemaligen Oberbehörden zu 
fhn. Als ob der Kaifer durch ein andered Organ, ald da® der Oberbe- 
hörden, mit einzelnen Beamten in Verkehr trete, ald ob der Kaifer bei der 
Ierfügung über einzelne Beamte etwas anderes, ald die Vorfchläge und Be- 
dürfniffe der Oberbehörden zur Richtfhnur nähme! — Sodann ſucht der 
Graf einen Unterjchied aufzuftellen zwijchen dem Entnehmen von Aktenftüden 
und dem VBorenthalten derfelben dadurch, daß man fie nit am gehörigen 
Orte niederlegt: ein Unterfchied, der allzu fein tft. Was aber jeden Leſer 
dieſes Schriftwechfeld, der die altpreußifchen Traditionen liebt und ehrt, 
Hören und Sehen vergehen machen muß, ift die Behauptung ded Grafen, 
daß er nicht verantwortlich fei für die Lücken, die ſich nach feinem Abgang 
im Archiv der ihm unterftellten Botfchaft gefunden haben könnten, felbft 
dann nicht, wenn fie während feiner Amtsführung entftanden wären. Man 
freuzigt fich und fragt fih: ift das der preußifche Beamtenftand, wo fo cas 
wlierement, zu deutſch: fo lüderlih von der Behandlung der Staatddocu- 
mente gefprodhen wird? Das Erftaunen mehrt fich bei den Auslaſſungen des 
Grafen über die einzelnen Nummern der fehlenden Aktenftüce. Da heißt e8 einmal 
um dad andere: „jollte eigentlich bei meinen perſönlichen Akten fein, ift aber 
nit dabei.” Der Herr Botjchafter 5. B. fertigt die Behörde, die er nicht 
mehr als vorgefegte anerkennen will, mit dem Befcheid ab: „gehört Eu 
nicht und Ihr könnt es auch nicht Friegen.” Ein kurzes und leichtes Ver— 
fahren ohne Zweifel, das demofratifche Sympathien verdient, bei dem aber 
tin Staat möglid ift. Das Merkwürdigfte jedoch kommt noch. Cine Reihe 
von Erlafjen, zehn an der Zahl, behandeln die Amtsführung des Botfchafters, 
gegen welche die Erlaſſe Genfuren verhängen und Anklagen ausfpreden. 
dieſe Erlafje erklärt der Graf für fein Privateigenthum, weil fie feine Amts 
führung betreffen. Auf diefe Weife würden allerdings die intereffanteften 
Aktenſtücke ſämmtlicher Geſandtſchaftsarchive Eigenthum der zeitweiligen Chefs. 
Der Graf erläutert dieſen ſeltſamen Anſpruch durch die Behauptung, daß er 
zu feiner Vertheidigung der Anklagedocumente bedürfe. 

Hier fallt plötzlich ein ſcharfes Licht auf das nach dem bisherigen äuße— 





240 


ren Anſchein nicht Leicht erflärliche Benehmen de Grafen. Der Natur 
Sache nad iſt eine vorgejeßte Behörde in Betreff der Dienitleiftungen in 
Regel Unkläger und Richter zugleih; fie weiß am beiten, worüber fie Flagt 
und bedarf nicht des Vorhaltend ihrer eigenen Anklagen. Aber der Graf wollte 
vielmehr diefe Anklage einer dritten Perſon vorhalten, bei der er fi, mit: 
Mebergehung feiner vorgefegten Behörde, vertheidigen wollte Diefe dritte 
Perſon ift Niemand anders, ala des Kaiſers Majeftät. Graf Arnim wollte, 
die gegen ihn erhobenen Anklagen in der Hand, feinen Ankläger anklagen; 
Er ſchreibt an den Staatsfekretär ded auswärtigen Amts: der Reichskanzler 
befhuldige ihn, mit einer der Perſon ded Kaiferd vermandtfchaftlih jo nahe 
als möglich ftehenden Perſon gegen den Neichäfanzler conſpirirt zu haben. 
Es find offenbar diefe, nach halbamtlichen Verficherungen überdied gegen da 
Driginal geänderten Worte, um derentwillen Graf Arnim diefen ganzen 
Schriftwechſel der Deffentlichkeit übergeben hat. Gin beredte® Zeugniß für: 
die Befchaffenheit feines Patriotismus. Wenn der Graf in feinen Zujchriften 
an dag auswärtige Amt mit herausforderndem Trotz feine Gleihgültigkeit 
gegen ein ftrafrechtliches Verfahren ausdrüdt, fo fieht man deutlich: er hat‘ 
darauf gepodht, daß man die Herauögabe folder Dokumente niemals werde‘ 
gerichtlich erzwingen wollen, um den Inhalt nit an die Deffentlichkeit 
kommen zu lafjen. est wo dies dennoch gefchehen ift, trägt der Graf Sorge, 
den Inhalt der von ihm einbehaltenen Dokumente in den großen europäijchen 
Zeitungen zwifchen den Zeilen lesbar zu machen, damit da® Gericht, durd 
etwaigen Ausſchluß der Deffentlichfeit dad Staatäintereffe und hohe Rüd- 
fihten des Anftandes zu wahren, außer Stand gefegt werde. Dieſe letzte 
dur den Grafen bewirkte Beröffentlihung muß den Verdacht erzeugen, da 
er die einbehaltenen Aftenftüde nicht blos einbehalten hat, um fie an ded 
Kaiferd Majeftät zu bringen, wo er die Bekanntſchaft mit dem Inhalt voraus 
fegen mußte, fondern auch noch zu anderweitem Gebraud. — 

Menden wir und für heute zu einem humoriftifchen Zug in diefer trau- 
rigen Gejchichte, traurig durch den Beweis, zu welchem Grad von Pflicht: 
vergeffenheit Größenwahnfinn und Eitelfeit einen Mann vom alten preußifchen 
Adel in hohen Vertrauensämtern führen Eonnten. Der humoriſtiſche Zug 
aber ift folgender. Graf Arnim, erinnert, daß für jeden Beamten zur Did 
pofition eine vorgefeßte Behörde gegeben bleibe, fragt: wer denn die vor: 
gefegte Behörde des in Ruheſtand verfegten Reichskanzlers fei: Die felbft- 
verftändliche Antwort: der aktive Reichskanzler, hat er nicht gefunden, weil 
er fih an die Logik der Krähwinkler auf den Bilderbogen für Kinder hingab. 
Ein ſolcher Mann iſt von dem Ehrgeiz gepeitſcht, den Fürſten Bismarck zu 
erſetzen. Iſt das nicht humoriſtiſch? C—r. 


— — — — 





Verantwortlicher Redakteur: Dr. Hand Blum in Leipzig. 
Berlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Kegler in Leipzig. 





Die 
Grenzsboten. 
Zeitfhrift 

für | 
Solitik, Literatur und Kunfl. 
Ne 46. 


| Ausgegeben am 13. Nopember 1874. 


— — 


Inhalt: 

. Seite 
Hiftorifhe Studien über Don Garlos. I. a Maurenbreder. 241 
Selbftbiographie von Friedrih Bifhbad. . ». .... . 255 
Bilder aud Medlenburg. Aus den Tagen der ⸗— 3. 

j Bon Hugo Öaedde . » 2: 2 200 nen . 264 

Vom deutfchen Reichstag. C—t. » » » 2 2 nn — 219 

Die Challenger-Erpedition. G. . 0... 273 

| Der obligatorifche Unterricht in der frangöfihen BR im oieß⸗ 

herzogthum Luxemburg. N. Steffen 277 


Grenzbotenumſchlag: Literariſche —— 
Hierzu eine literariſche Beilage von Dtto Spam er in Leipzig. 


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Leipzig, 1874. 
Friedrich Qudmwig Herbig. 
(Ir. Wild. Grunow.) 








Dan abonmirt bei allen Buchhandlungen und Poftämtern des In: und Auslandes. 


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HANDLEXIKONE 





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g Qt ineinem Band Auskunft über  W 
HU jeden Gegenstand der menschlichen ® 


\ Kenntnis und euf jede Frage nach u 
einem Namen, Begriff, Fremdwort, Ereig- 


nis, Datum, einer Zahl oder Thatsache X 
v augenblicklichen Bescheit, N 
} 1963 Il. Oktavseiten mit 52,000 Ar- — 
| tikelnund über [VO Karten und Beilagen. w 
Gebunden in 1 Halbfranzband 5 Thlr. ®; 
Vorräthig in allen Buchhandlungen, —3 
Bihliographisches Institnt in Leipzig " 
(vormals Hildburghausen), ” 

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In Ferd. Dümmler's Verlagsbuchhandlung 
arrwitz und Goßmann) in Berlin erfcheint: 


Magazin 


für die 


Kiteratur des Anslandes. 


Begründet 
| von 
Joſeph Lehmann. 
Dreiundvierzigfter Jahrgang. 


Wöcentlih 11%, bie 2 Er Quart; Preis viertels 
jabrlih 1 Thle. 10 Sar. 


Das „Magazin“ ift durch a Poftanftalt und 
Buchhandlung, auch von der Verlagsbuhhandlung 
zu beziehen. Gine Probenummer liefert jede Buch— 
handlung unentgeltlich. 


No. 
Artikel: 


Deutſchland nnd Das Ausland. Für Longfellow 
gegen E. Eckſtein. 649. — SHiftorifhe Porträts 
und Schlahhtenbilder auf der Berliner Kunſtaus— 
ftellung. 651. — Jtalien. Zeitungen des nörd- 
lihen Staliend. Bon Ludwig Geiger. I. 652. — 
England. Der 5. November in England. 655. 
— Nenlateinifhe Literatur. Olympia Fulvia 
Morata. Bon Dr. Herman Müller. L 656. — 
Afien. Indifhe Archäologie. 659. — Heine 
literarifhe Rebue. Sainte-Beuve, Premiers 
Lundis, 660. — Der moderne Diogenes. 661. 
— Leid und Luſt. 661. — Religion und Natur- 
wiffenjchaft. 661. — Petrus de Ebulo, liber ad 
honorem A ti. 662. — Kodmopolitißmus und 
Patriotiämus. 662. — Sprechſaal. Fünfund⸗ 
„pmwanzig Jahre Kaifer. 662. — Höhere Bürger: 
chule in Karleruhe. 663. — Attike Malerei. 663. 


45 des „Magazin“ enthält folgende 


| 
| 


En 





” Die soeben erschienene No. 45 der Je 


Literaturzeitung im Auftrage der Unive: 
J 


ena herausgegeben von Anton Klette, J« 
Mauke’s Verlag (Hermann Dufft) 


‘enthält Besprechungen von: 


C. J. Böttcher, Germania sacra: 
Eb. Schrader. L. Büchner, der Gottesb»; 
von W. Bender. E. Löning, die Verwa) 
des Generalgouvernements im Elsass 
H. A. Zachariä. P. Gautsch v. Fran! 
thurn, die confessionellen Gesetze : 
W. E. Knitschky. J. Amann, zur m: 
nischen Behandlung der Versionen und Fl. 
nen des Uterus, von A. Hempel. H.Roser 
Curven dritter Ordnung: von F, Lindem; 
A. Jentzsch, die geologische und mine: 
gische Literatur des Königreiches Sachsen - 
E. Schmid. Descriptiones terrae san: 
herausgegeben von Titus Tobler: v. K. Por 
L. Mendelssohn, de senati consultis Ro 
norum ab Josepho antiqu. XIII. XIV. rel: 
von W. Grimm. P. Scholz, Erwerbung 
Mark Brandenburg durch Karl IY: 
S. Riezler. Platonis editio Didotiana: : 
H. Sauppe. Thucydidis libri I. II., ed 
A. Schöne: von J. M. Stahl. E. ©. Geh! 
de elocutione Isocrates: von P. Bl: 
W. Hörschelmann, de Dionysii Thraeis ir 
pretibus veteribus: von Moritz Schm 
C. Stephany, de nominum oscorum deelinat: 
cum latinis comparata: von F. Büche 
O. Korn, de codieibus carminum Ovidiano 
ex Ponto datorum Monacensibus: von A. Rie 
C. Tacitus a C. Nipperdeio recognitus: 
A. Dräger. O. Schüssler, de Q. Caurtii | 
eodice Oxoniensi A.: von A. Bussr 
O. Erdmann, Untersuchungen über die Syn 
der Sprache Otfrieds; von BE. Windis: 
W. Begemann, zur Bedeutung des schwacl 
Präteritums der germanischen Sprachen: ı 
E. Sievers. J. Jacob, die Bedeutung 
Führer Dante's in der divina commedia: : 
FE. X. Wegele. H. C. Hilmer, s. je pror 
personn. frangais: von H. Suchier. P,.W. w 
per, sur le conditionnel: von H. Suchi 
G. Klöpper, sur l’emploi du partieipe fran; 
dans la langue ancienne et moderne: ı 
H. Suchier. 


Soeben erfhien und ift in allen Budhba 
lungen vorräthig : 


Induſtrie⸗ 
Handelsgeſchichte 


& erfi 
Sandelsfäjulen, Handelsbefliffiene und 
Greunde des Handels. 


Bon — 
Profeſſor Friedrich Körner 
Eleg. broſch. Preis 1 Thlr..25 Sgt. 
Leipzig, November 1874. 


r 


—. 
* RAY: 


Hiſtoxiſche Hfudien Über Don Garlos. 
1. 


Wie parador es Flingen mag, Antheil und. Intereſſe ded größeren 
Publikum an den wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen der Geſchichtsforſcher iſt 
eine Sache, die ihre zwei Seiten hat. Welcher Hiſtoriker ſollte ſich nicht 
erfreuen und beleben bei dem Gedanken, daß auf ſeine hiſtoriſchen Arbeiten der 
Blick weiterer Kreiſe ſich richtet, — und doch liegt dabei die Gefahr nahe, 
daß Liebhabereien und Vorurtheile derjenigen, welche die Arbeit ſelbſt nicht 
mitmaden, welche aber von ihren Früchten mitgenießen wollen, auf den 
Arbeitenden Einfluß gewinnen! Berührt eine hiftorifche Arbeit ein Gebiet 
oder eine Frage, die von politifhen PBarteiftrömungen erfüllt find, fo pflegt 
fehr ſchnell und fehr Leicht das Urtheil über die hiſtoriſche Arbeit fih nah 
dem Verhältniß ihrer Refultate zu der politifchen oder fonftigen Tendenz 
des Urtheilenden zu beftimmen. Wer 5. B. heute über die Geſchichte des Papft- 
thums Forſchungen anftellt, kann fich täglich da8 Vergnügen verfchaffen, diefe 
erbauliche Erfahrung zu machen. Bielleiht noch bedenklicher geftaltet fich 
dies Verhältniß da, mo poetifche und Afthetifche Reminiscenzen und Sympa- 
thien ihr Wort mitreden. Alle Eritifche Arbeit Hiftorifcher Forſchung bleibt 
ohnmächtig gegenüber den Dichtungen gottbegnadeter Lieblinge der Menfchen. 
Mit unüberwindliher Macht bannt das Dichterwert Geift und Seele der 
Menſchen in eine beftimmte Vorftelung hinein; es läßt fie nicht los und 
zwingt immer wieder diefelbe Vorftellung den Gemüthern auf. 

Wir haben ja recht häufig die Gelegenheit diefe Beobachtungen zu erfahren 
an der Herrfchaft, die Schiller’d Don Carlos noch immer über den hiftorifchen 
Don Carlos ausübt. Wie groß auch die dichteriichen Vorzüge ded Schiller: 
[hen Dramas fein mögen, alle Welt weiß, daß der wirkliche Don Carlos 
ein ganz anderer gemejen als der ideale Jüngling unfere® Dichters. Eben 
wegen diejer Verjchiedenheit der beiden Figuren follte man hoffen dürfen, daß 
fie einander in Ruhe laffen, daß fie friedlich neben einander fortleben Fönnten. 
Uber nein, der rührende und intereffante Infant Schiller’3 läßt den traurigen 
Namendvetter der Gefchichte gar nicht recht auffommen. 

Es bedarf nur einer furzen Bemerkung, um an die biftorifchen Arbeiten 


zu erinnern, melde den Unterſchied zmifchen dem poetifchen und hiftorifchen 
Grenzboten IV. 1874. 31 


242 


Don Garlos feftgeftellt und das Bild des hiftorifchen zu umzeichnen verfucht 
haben. Bekanntlich beruht Schiller's Drama auf einem Hiftorifhen Roman 
de8 17. Jahrhunderts, dem Büchlein des Franzofen Saint-Real Don 
Garlo®, Nouvelle historique 1692. An die hier vorgetragene Erzählung 
glaubt Fein Menſch mehr: in der Zeit, in welcher die öffentlihe Meinung 
von Europa dur die franzöfifche Literatur beherrſcht und von franzöſiſchen 
Abfichten geleitet war, in der e8 den Franzoſen daran lag, gegen die dereinſt 
fo mächtigen Spanier Gegenfag und Abſcheu zu erregen, in jener Zeit 
zimmerte aus einzelnen überlieferten Anekdoten und Zügen Saint-Real die 
befannte Gefchichte zufammen von dem Liebesverhältniß des Prinzen Don 
Carlos zu feiner Stiefmutter, von dem feindlichen Gegenſatz zwiſchen Vater 
und Sohn und von der durch König Philipp herbeigeführten Vernichtung des 
gefangen gefegten Infanten. Nun Hatte aberding® ſchon 1817 der Spanier 
Llorente diefe Ueberlieferung erfhüttert und ihren Widerfpruch gegen authen: 
tifhe Documente gezeigt. Nachher war es das DVerdienft Leopold von 
Ranke's 1829 die mwichtigften und bedeutendften Controveröpunfte dieſes 
Gegenftandes erörtert zu haben, indem er die jpanifche und die antifpanifche 
Literatur einander gegenüberftellte und an ficheren Akten fie beide prüfte (Zur 
Geihichte ded Don Carlos, in den Wiener Jahrbüchern der Literatur, Bd. 46). 
Damit war freilich die Frage felbft immer nod nicht entjchteden ; ed blieben 
noch viele Räthfel übrig. Auch nachdem der Liebesroman aus der Geſchichte 
des Don Carlos getilgt und der prinzipielle Gegenfas des für die Volks— 
rechte begeifterten Prinzen und des tyrannifchen Königs nahezu ausgelöſcht 
war, aud dann blieben immer noch der innere Charakter des Don Carlos, 
die Urſachen feiner Einfperrung und feine Unterganges zu erforjchen. Da 
haben fih nun deutfhe und aufßerdeutfhe Forfher mit diefem Probleme 
befhäftigt — Raumer und Helfferih und Warnkönig, Prescott 
und de Eaftro und Lafuente, Mouy und Gahard — unter allen 
anderen aber ragt das große Werf Gachard's hervor (Don Carlos et 
Philippe II. 1863 in 2 Bänden). Das fpanifche Arhiv von Simankas hat 
Gahard gründlich benust und durchforſcht; außerdem aber noch die Samm- 
lungen in Paris, Wien, Venedig, Florenz, Turin und London zu Rathe 
gezogen. Er bat eine große Fülle von Notizen zufammengetragen, man 
fann fagen, dur ihn ift das hiftorifche Fundament für unfere Kenntniſſe 
und Urtheile dauerhaft. gelegt: eine jede jpätere Erörterung wird vornäm- 
ih mit diefem Materiale Gach ard's zu operiren haben. 

Auf Grund diefer Nachrichten Fonnte man ein Doppeltes für befeitigt 
halten: einmal die dichterifche oder romanhafte Annahme eines Liebesver— 
hältniſſes zwiſchen Stiefmutter und GStieffohn, fodann aber auch die oft 
zur Erklärung ded ganzen Räthſels geäußerte Vermuthung, der fpanifche 





1 Lu 


243 


Prinz fei dem Proteftantismus zugeneigt gemwefen. Es mar außerdem 
der äußere Verlauf des Lebens durch Gachard fichergeitellt, der Beſtand 
der Thatfachen bei der Verhaftung des Prinzen war klar gemacht und dazu 
war noch alles zufammengetragen, was die fpanifchen Staatdmänner, der 
ſpaniſche König felbft und die auswärtigen Diplomaten an feinem Hofe von 
Urtheilen und Motivirungen und Anfichten über den Vorfall ausgefprochen 
hatten. Auf die Frage, mad denn eigentlich die Urfache zur Kataftrophe des 
Prinzen geweſen, mar es jett erft möglich, mit einiger Ausſicht auf Erfolg 
eine Antwort zu verfuhen. Ich bin dur archivaliſche Studien über das 
Zeitalter Philipp's II. auh an died Thema herangeführt worden und habe 
[bon früher den Verſuch gemacht — 1864 in einer Abhandlung über Don 
Carlos in der Hiftortfchen Zeitfchrift, und 1869 in einem Vortrage, der in 
der Virhom-Holzendorf’fhen Sammlung von populären Vorträgen gedruckt 
ift (Heft 90) — mit dem vorhandenen Materiale Gahard’®, dad ich aus 
meinen eigenen archivaliihen Studien noch um einige nit unwichtige Stüde 
vermehren konnte, dies intereffante Problem zu löfen. Mit möglichiter Vor— 
fiht galt es fich nicht in Vermuthungen zu bewegen, die von Andern aufge- 
ftellten Hypotheſen vielmehr an den Aftenftüden zu prüfen und durch eine 
Zergliederung ihres Inhalte dem wirklichen Sachverhalt wenigſtens möglichft 
nahe zu Fommen. In der erften Abhandlung hatte ich ausführlicher den 
Inhalt der Quellen dargelegt und in mehr zurücdhaltender Weiſe die Frage 
nah dem wirklichen Grunde der Kataftrophe des Don Carlo behandelt. 
Nah erneuerter Erwägung der einzelnen Zeugnifje hatte ich fpäter geglaubt 
beftimmter das Refultat formuliren zu dürfen. Sch wies fehr entjchieden die 
auch von Anderen ſchon miderlegte Annahme unerlaubter Beziehungen zu 
feiner Stiefmutter ald Grund ſeines Unglücks ab. Ich konnte mih auch 
davon nicht überzeugt halten, daß der Prinz ein Anhänger freierer, Humanerer, 
liberalerer Tendenzen, ein Gegner der Kirchlich-politifchen Beſtrebungen feines 
Vater? geweſen oder daß er Hinneigung zu proteftantifchen Meinungen 
Irgendwie an den Tag gelegt habe. Dagegen glaubte ih ald Motiv für die 
Befeitigung des Prinzen die bei König Philipp zum Durchbruch gelangte 
Veberzeugung aufftellen zu dürfen, daß Don Carlos nit ein geeigneter 
Nachfolger für fein Werk fein werde, — „ei e8 daß er mehr an dem BVerftand 
und Charakter feine® Sohnes, ſei e8 daß er mehr an dem Glauben und 
Willen deffelben gezmeifelt.“ Mir hatte fich ergeben, daß der Prinz halb 
für verrüdt halb für Kirchen» und ftaatögefährlich angefehen wurde, — „ih 
denke, fein Wefen ift eine Mifchung aus diefen unheilvollen Elementen ge 
weſen,“ fo ſchloß meine Erörterung. 

Died war das Refultat wiederholter Studien und Ermägungen. Das 
Material aber war und ift überhaupt ein doppelte, auf >18 man ſich bei 


244 


diefer Unterfuhung zu ftügen hat: zunächſt find es Berichte diplomatifcher 
Agenten am Mapdrider Hofe, Depefchen der venettanifchen, florentintjchen, 
päpftlichen, franzöfifchen und Hiterreihifchen Gefandten; fodann neben den» 
felben (theilmeife auch in denfelben überliefert) Erklärungen der fpanifchen 
Regierung, fhriftlihe und mündliche Aeußerungen Philipp's und feiner Staat 
männer über den Sohn, mie wir fie ebenſowohl aus den der Kataftrophe 
vorhergehenden jahren 1558—1568 Fennen, als auch aus der Zeit nad 
der Gefangenfegung ded Don Carlos befisen. Man kann ſich nicht über 
allzugroße Deutlichkeit diefer fpanifhen Erklärungen beklagen; ja gerabe da- 
durch ift zum größten Theile die Unficherheit unferer Ergebnifje hervorgeru- 
fen, daß jene Mittheilungen der Regierung mehr mit geheimnigvollen An. 
deutungen, mit Winken und halben Worten ſich begnügen ald ganz und 
rund heraus die Sache felbft bezeichnen. So wie unfer Material bejchaffen, 
mußte ein vorfichtiger und gewiſſenhafter Forfcher ſich hüten ein allzu beut- 
liches Reſultat aufftellen zu wollen; das geheimnigvolle und räthjelhafte der 
Erklärungen in den eriten Quellenausfagen mußte nothwendiger Weiſe auch 
in dem fritifhen Endrefultaltefich mwiederfpiegeln. Begreiflich mag e8 daher fein daf 
mit einem Gefühle nicht voller Befriedigung man die Unterfuchungßalten 
ſchloß. Aber ohne neue Zeugniffe war nad meiner Meinung es wohl 
nicht geftattet, weiter zu gehen in der Aufftellung pofitiver Refultate und An: 
fichten, als ich 1869 in dem gedrudten Vortrage gegangen. 

Freilich wer nun glaubte den poetifchen Don Carlos aus der Gejchichte 
gebannt zu haben, der follte eine Enttäufchung erleben. Dad mag ja wahr 
fein, Gefpenfter weichen nicht vor halben und unentſchiedenen Sprüchen zu 
rück, — nur ein feſtes, deutliches, nicht mißzuverftehehended, nur ein, menn 
ih fo fagen darf, hieb⸗ und ftichfeited Wort fcheucht fie von fremdem Boden 
fort. Ein ſolches zu Sprechen waren wir aber bisher nicht in der Rage. Und 
fomit haben wir neuerding3 einen Wiederbelebungdverfuh des Schiller’fchen 
Don Garlod als des Hiftorifchen gefehen. *) Wenn ich fage, daß derjelbe 
ausgegangen iſt von einem unferer gemiegteften und verdienteften Hiftoriker, 
von Adolf Schmidt in Sena, fo wird Jeder willen, in welchem Sinne 
allein ich die8 Wort von der Wiederbelebung des Schiller/fhen Don Carlos 
gebrauchen darf und gebrauht Habe. Davon Fann feine Rebe fein, daß 
Schmidt mit poetifchen Vorausſetzungen oder mit poetifhen Tendenzen an 
die Frage herangetreten ift, oder daß er auch nur die Eleinfte Anleihe bei 
poetifhen Motivirungen hätte machen wollen, — nein fein Material ift ein 
zig das hiſtoriſche Quellenmaterial, und zwar Fein anderes ald es im Bude 
Gachard's zu Jedermanns Benutzung ausgebreitet liegt, mit ſelbſtverſtändlicher 


æA. Schmidt, Epochen und Kataſtrophen. Berlin, A. Hofmann 1874. (3. Abhand⸗ 
lung: „Don Garlod und Philipp II.“) Vgl. meine Recenfion in der Jenaer Literaturzeitung. 


245 


Hinzunahme der durch mich befchafften Ermeiterungen; feine Arbeit ift unter 
nommen mit vollftändiger Berükfichtigung und Kenntniß der biöherigen Be- 
arbeitungen und Berfuche; feine Abficht ift eine rein Hiftorifhe, ohne jeden 
Nebengevanfen. Aber nichts deftoweniger unterfcheidet ſich der Charafter fet 
nes biftorifhen Don Garlo® nicht gerade fehr viel mehr von demjenigen Bilde, 
dad Schiller idealifirt bat. In der äußeren Geſchichte des Helden weicht 
Schmidt von Gachard und mir kaum mefentlih ab; die Kataftrophe des 18. 
Januar 1568 erzählt er in allem mefentlichen in Uebereinftimmung mit und; 
in der Auffaſſung und Beurtheilung der letzten Periode, jener Zeit zwiſchen 
Sefangenfegung und Tod ded Prinzen (19. Januar bis 24. Juli 1568) 
ſchließt er fich theilmeife meinen früheren Ausführungen an. Alfo nit da— 
tin beruhen die Differenzen. Wohl aber tritt Schmidt bei der Frage über 
den Charakter ded Don Carlos und den Grund feiner Befeitigung dur Kö— 
nig Philipp auf den Boden der früheren, dur die archivalifhe Forſchung 
wie man vielleicht hoffen durfte, befeitigten Auffaffung zurüd. 

Sch mwiederhole, nicht in prinecipielem Widerſpruche, zur Forfhung an 
ſich fondern mit Benusung alles zu Tage geförderten Materialed langt er 
bei diefen Endergebniffen an; gerade indem er die Waffen der Gefchichtäwif- 
Ienihaft, die fie zum Umfturz ded Romanes gebraucht hat, in etwas anderer 
Weife ſchwingt, baut er in engfter Nachbarfchaft beim Romane fein neues 
Gebäude auf. Indem er die Liebedintrigue zwifchen Königin Elifabeth und 
Don Carlos ald eine bloße Erfindung preiögiebt, hält er an der „gegenfeiti- 
gen innigen Herzendneigung,“ an dem „inneren’Seelenanjhluß* der beiden ju- 
gendlichen Gemüther feft. Und den Grund zur Kataftrophe fieht er in der aus 
principiellem Gegenfage entftandenen Entfremdung zwiſchen Water und Sohn, 
in der Auflehnung des Prinzen wider das ganze politifch Kirchliche Syſtem 
feines Vaters. Nicht fomohl ein Charakterfehler oder eine Verfehrtheit in 
Don Garlod wäre ſonach anzunehmen, vielmehr würden ihm ald dem Ber- 
treter freierer Meinungen die Sympathien erleuchteterer Jahrhunderte zufallen 
müſſen; unzweifelhaft hätte der heutige Hiftorifer für den Prinzen gegen den 
Bater, deffen Scheußlichfeit mehr mie einmal der Beratung und dem Ab- 
Iheu der Leſer gekennzeichnet wird, Partei zu nehmen. Nicht unfer Mitleid, 
fondern unfere Bewunderung würde der Prinz verdienen. 

Nun ift mir feinen Augenblif darüber ein Zweifel möglich, welche von 
diefen beiden Charafterfhilderungen, die von Schmidt oder die von mir ge- 
gebene, die Gigenfchaft befist, den gebildeten Lefern in Deutſchland am be 
ften zu gefallen. Ein Hiftorifer wiſſenſchaftlichen Rufes, ein firenger Forſcher 
beiten Namen? giebt unferem Publikum das Recht zurüd, dad einige unlie- 
bendwürdige Kritifafter ihm beftreiten wollten, fi für den ihm in der Dich— 
tung liebgewordenen Infanten als einen gefchichtlich beglaubigten Märtyrer 


246 


und Helden des Fortfchrittes, der Freiheit u. j. mw. zu begeiftern. Wer wird 
fich dieſes Rechtes enthalten oder wieder entäußern wollen? wer wird über- 
haupt fo bösartig fein wollen, died8 Vergnügen zu ſtören? Man darf er: 
warten, daß der von Eritifcher Forfhung neu belebte Heldenjüngling gleich— 
fam im Triumphzuge durch die Spalten der Journale hindurd in die Her- 
zen poefieliebender Menfchen wieder hineingeführt wird ! 

Grade aber weil die Gefahr fo nahe liegt, daß die Grenzpfähle zmifchen 
Geſchichte und Poeſie verpflanzt und die Arbeit forgfamer wiſſenſchaftlicher 
Vorfhung mit Hälfe der dur die neue Aufklärung angenehm angeregten 
Öffentlichen Meinung über den Haufen geworfen werde, gerade deßhalb wird 
es Pflicht fein, da8 größere Publikum, das ſich für die Sache intereffirt, über 
den Sachverhalt felbft und feine Begründung fo ſchnell ald möglich aufzu— 
flären. Mit einem Worte, die Charafteriftit des Don Carlos durh Schmidt, 
jo geiftreich fie angelegt, fo fcharffinnig und fpannend fie vorgetragen und fo 
fritifch begründet fie zu fein feheint, fie ift dennodh unhaltbar uud kann vor 
einer kritiſchen Prüfung ihrer Gründe nicht beftehen. 

Noch mehr. Die etwa eingetretene oder eintretende Erwärmung alter 
oder neuer Don Garlod-Verehrer bin ich in der Rage, ganz unabhängig von 
dem Schmidt'ſchen Buche, durch Darreihung eines erfältenden Sturzbades auf 
die normale Temperatur fofort wieder herabzuftimmen: Don Carlo if 
ſchwachſinnig gemwefen, und die nah und nach feitgeftellte Weberzeu- 
gung dieſes feines geiftigen Mangels tft dad Motiv, weßhalb König Philipp 
ihn bat unfchädlich machen, d. 5. ihn Hat einfperren müffen. Ich bin fo 
glücklich gewefen, bei archivalifchen Studien im Wiener Archiv, die ich in den 
legten Ofterferien angeftellt habe, ein Document zu finden, das biäher dem 
Auge der Porfcher entzogen und das alle bisherigen Zweifel und Unficer- 
beiten und Räthſel im hiſtoriſchen Endurtheile endgültig befeitigt und und 
jegt endlich in den Stand fest, mit Beftimmtheit und Nachdruck zu fprechen. 
Und wie es bei derartigen archivalifchen Studien auf ſchwierigem und jhlüpf- 
rigem Boden öfter geht: hat man erft einmal das auffchließende Wort ge- 
funden, fo gewinnen auch ſchon befannte Dinge und Umftände einen. neuen 
Sinn und eine neue Bedeutung. 

Wir legen hier in möglichfter Kürze den Sachverhalt dar, indem mir 
nur die Differenzpunfte etwas genauer beleuchten. 

Ueber die erfte Jugend des Don Carlos bedarf es nur weniger Worte. 
Am 8. Juli 1545 geboren, hatte er früh feine Mutter verloren und war 
bei der wiederholten Abweſenheit feine® Waterd aus Spanten unter der 
Zeitung feiner Tante Sohanna von Fremden erzogen worden. Was wir aus 
den 13 erften Lebensjahren wiſſen, find abgeriffene Anekdoten, mie fie am 
fpanifchen und am kaiſerlichen Hofe erzählt und von den fremden Geſandten, 


— —— 


247 


beſonders von den Venetianern berichtet wurden. Biel Werth iſt darauf 
nicht zu legen: ein unbändiged wildes Temperament verrathen fie faft alle. 
Nur ein Umftand verdient Beachtung. Ein BVertrauter der habsburgiſchen 
RKaiferfamilie, der 1548 mit Erzherzog Mar nad) Spanien gefommen, Gamiz 
filderte den fünfjährigen Knaben in einem confidentiellen Berichte als 
förperlich gute8 verfprechend, aber von befla genswerther Heftigkeit; er hielt 
8 für einen Fehler, daß der Prinz nicht genug von Männern regiert wurde, 
die ihn zu bändigen wüßten, und ſah nichts gutes voraus, wenn man nicht 
einſchreite.) ALS aus dem fünfjährigen ein dreizehnjähriger geworden, ſprach 
fin eigener Hofmeifter, Honorato Juan, es aus, daß feine Untermeifung 
nicht rechte Früchte trage, daß er bei feiner Erziehung auf Schwierigkeiten 
im Prinzen ftoße, die er nicht überwinden fönne: nur von der perfönlichen 
Nitwirfung ded Vaters hoffte er eine befjere Wendung. Diefe fehr inhalts— 
ſchwere Meldung des Erziehers ift nun freilich in einer Ausdrucksweiſe ab» 
gefaßt, die es abfichtlih umgeht deutlich zu reden: „Philipp werde felbit 
jehen“, damit ift unfere Einfiht heute wenig gefördert. Wir erfahren eben 
nur jo viel, daß Grund zu bedenklicher Auffafjung der Zukunft des Prinzen 
vorhanden war, daß man den abmefenden Vater vorbereitete auf irgend- 
welche unerfreulichen Dinge in Don Carlos, — deutlicher redete man nicht. 
Nun ift hier gleich der Punkt gegeben, in dem allerlei VBermuthungen 
in die Gefchichte Eingang ſich zu erzwingen ſuchen. Was das Mipfallen 
der Erzieher hervorgerufen, was des Vaters Bedenken fofort damals 
erregt hat, das foll nicht? anderes gemefen fein als der Anfang einer prin- 
iipiellen Abmwendung ded Sohnes von dem politifchen und kirchlichen Syfteme 
des Baterd. Entgegen den erwähnten üblen Auffaffungen des Prinzen bringt 
Schmidt eine Anzahl zeitgenöffifher Stimmen herbei, welche gute Hoffnungen 
von dem jungen Prinzen bezeugen. Da möchte ich doch fragen: ift das ein 
mit den Grundfägen kritiſcher Forſchung übereinftimmendes Verfahren, wenn 
ih Berichte von Diplomaten, die in den eingemeihten Hoffreifen leben, und 
wenn ich vertrauliche, nicht für den Markt der Deffentlichkeit beftimmte Er- 
Öffnungen betheiligter Perjönlichkeiten widerlegen oder fchlagen oder bidcredi- 
firen will durch gelegentliche Lobesphraſen von Kiteraten, die gar nicht über 
die Sache beſonders genau unterrichtet find und die vielleicht Hunderte von 
Meilen weit von dem Hofe entfernt figen, über den fie reden; aud das 
Zeugniß des trefflichen Melanchthon, der in feinem Wittenberg den Studen ten 
über das ferne Spanien und die Gerühte aus Spanien gelegentlich etwas 
erzählte, kann in diefer Frage ſchwerlich etwas bemweifen. Was etwa heut- 
zutage ein braver Paſtor oder Schulmetfter in Deutjchland von Hörenfagen 


*) Bericht ded Gamiz an König Ferdinand, vom April 1550, den ich dem Wiener Archive 
entnommen und in der Hiftorifchen Zeitjchrift abgedrudt habe, XXXIL, 233, 


248 


über den lafterhaften Hof Iſabella's II. auftifcht, würde gewiß Niemand in 
Vergleich oder in Gegenſatz ftellen mit einem Berichte Eined unferer Diplo- 
maten über Iſabella, die am fpantfchen Hof beglaubigt gemefen. Aehnlich ift 
bier das Verhältniß der Quellen. 

Nun weiß Echmidt audy allerlei zu fagen über die Voreingenommenheit 
des Vaters gegen den Sohn, über den tiefen Gegenſatz zwiſchen Beiden, den 
er fogar recht dramatifch ausmalt, über den Entfhlug Philipp’ ihn von 
allen Staatsangelegenheiten fern zu halten. Bei allen diefen Ausführungen, 
die fo fpannend und fo interefjant zu Iefen find, Fann man aber doch die 
Frage nicht unterdrüden, woher died alle gewußt wird? mit welchen Quellen: 
ausfagen die einzelnen Angaben belegt werden follen? Und mie feltfam ift diefe ' 
ganze Geſchichte, fobald man ſich nur nicht die Zeitangaben ganz entziehen | 
läßt. Bon melden Perfonen ift die Rede? Bon einem Bater, der, als er 
1559 nad) Spanten heimfehrte, eben 32 Fahre alt geworden — der alfo in 
den Jahren, um die es fich in diefem Augenblid handelt 1559 —1561 in der 
erften Hälfte der Dreißiger ftehbt, und von einem Sohne, der noch nichte 
weiter ald ein Knabe von 14—16 Jahren if. Wir hören aus der möglicit 
fiherften Quelle, d. h. wir hören von dem Erzieher, dem alle Welt die 
größten Lobſprüche ſchenkt (und mit Recht erteilt fie ihm aud Schmidt), daß 
es nicht gut ftehe mit der Entmwidlung ded Knaben, der, wie mir fonft ver | 
nehmen, in diefen Jahren auch vielfach Fränfelte und dahinſiechte. Wo in 
aller Welt redet man in ſolchem Falle von „Gegenfas zwiſchen Vater und 
Sohn“? Sonft pflegt man dies einen unerzogenen oder ungezogenen Jungen 
zu nennen: wenn Einer nichts lernen will oder nichts lernen fann, fo verfugt 
der Erzieher ihm das nöthige beizubringen, ohne Rüdfiht auf die eigenen 
Meinungen des Zöglinge. Das wäre doch eine recht abenteuerliche Pädagogik, 
die einem unerzogenen jungen Manne fo ohne Weiteres dad Recht einräumen 
wollte, in kirchlichen und politifhen Dingen als Vierzehn- bis Sechdzehn: 
jähriger eigene Wege gehen zu wollen. Wer hat fonft ald Entſchuldigung 
für ſchlechte Erziehungsreſultate einen prinzipiellen Gegenfaß des zu Erziehenden 
zum Bater gelten laſſen? Wer hier mit derartigem kommt, verfchtebt un- 
willkürlich das natürlihe Verhältnig der Perfonen zu einander. Mad mir 
bier wiflen, tft nicht® meitere®, ald daß man mit Carlos’ Erziehungdfrüchten 
unzufrieden war. Die äußeren Ehren entzog ihm deßhalb Fein Menſch, bei 
den Staatdactionen trat er auf an der Stelle, wo er hingehörte, und gerne 
hätte man Ihn noch anders befchäftigt, al® es bei dem damaligen Zuſtande 
des Prinzen möglich erfchien. Aber, wendet man ein, Philipp hat ihm nicht 
EhHrenpoften eingeräumt in der Verwaltung der ſpaniſchen Monarchie, mie es 
fonft Sitte war! Das foll dann vom Mißtrauen de Vaters in die ftaatd- 
gefährliche Nidhtung ded Jungen Zeugnig ablegen! Zu dieſen künſtlichen 





— — 


249 

Auskunftdmitteln wird nur der greifen, dem es undenkbar ift, daß allein wegen 
feiner nicht gehörig geförderten Entwidlung und Ausbildung Philipp von 
der Gewohnheit des habsburgiſchen Hauſes abwih. Wie einft Karl V. feinen 
Bruder und feine Schweftern, feine Frau und Kinder, den Sohn mie die 
Töhter und den Neffen, auch in jungen Jahren nominell an die Spiße 
einer Landesverwaltung geſetzt, fo verfuhr auch Philipp, mie befannt, ohne 
jeden Anftand mit feinen beiden Halbgefchrotftern. Auch von der Verwendung 
des Don Carlos war 1559 ſchon die Rede und oft trug man ſich auch troß 
feiner mit den Jahren zunehmenden Charakterverfchlehterung noch wieder mit 
dem Projekte, ihn zu vermerthen bei der politiihen Arbeit der Monarchie; 
nit Mißtrauen In feine Richtung, wohl aber Mißtrauen in feine Fähigkeit 
hat jedesmal die Ausführung gehindert. Freilih, daß Statthalterpoften, an 
Vierzehnjährige oder Sechszehnjährige verliehen, Keine wirkliche Bedeutung 
haben Fönnen und felbft bei Zmanztgjährigen noch nicht viel befagen, liegt 
auf der Hand, aber es wird mie es fcheint gern vergeffen. 

Recht draftifch ift ed ferner, wenn man meint, eine religiöfe Entfremdung 
habe damald ihren Anfang genommen — im vierzehnjährigen Knaben! Man 
kann fi dies zu lebhaften Effektbilde auddenfen. Gezwungen dem Autodafe 
am 21. Mai 1559 beizumohnen, in auffallend unverfchämter Weife genöthigt 
zu einem ide, den Fatholifhen Glauben ſchützen zu wollen, fei es nicht zu 
verwundern, führt Schmidt aus, wenn Carlos zu einem Gegner der Inquiſi— 
tion und der Firchlichen Regierungdmarimen Philipp's heranwuchs. So leitet 
Schmidt von der abjchredenden Einwirkung der Inquifition die Motivirung 
des kirchlichen Gegenfages im Prinzen her. Sch würde der Reste fein, der 
Jemanden das Recht zu fubjektiven Gefühlsäußerungen beftreiten möchte. 
Ebenſo wie ich ſelbſt vor Kurzem eine Erörterung über die Inquiſition an— 
geſtellt habe *), welche eine rein hiſtoriſche und möglichſt objektive Charakteriſtik 
dieſes feltfamen Inftitutes erftrebte ohne Beimifhung irgend welcher apologe- 
tiichen oder polemifchen Abfiht, ebenfo fiher hat Schmidt die vollfte Berech— 
tigung feine entfchiedene fittlihe Entrüftung über die Gräuel der Inquifition 
fund zu geben; er darf verfichert fein, daß bei der heutigen Stimmung der 
Menfchen feine Worte lebhaften Widerhall finden werden. Aber ein Anderes 
darf er niht, — von feiner Gemüthäftimmung einen Salto mortale in die 
Gedankenwelt des fpanijchen Knaben zu machen, das ift ihm nicht geftattet. 
Was er von Barlos’ damals, 1559, erregten Gefühlen, über die man fih nicht 
wundern fönne, erzählt, hat er die Pflicht aus gleichzeitigen Quellen zu be: 
weiſen; und von diefer Pflicht wird ihn das eigene fittlich erregte Pathos 
wider die Gräuel der Inquifition nicht befreien können. Es find aber, mie 


*) Studien und Skizzen zur Gefchichte der Reformationdzeit (Reipzig, F. W. Grunow 1874), 
S. 16—21. 


Grenzboten IV. 1874. 32 


250 


ſchon früher bemerft worden ift, Angaben über den Gindrud jener Vorgänge 
auf Don Carlos nicht vorhanden. 

Was die Kirchliche Haltung ded Prinzen in fpäterer Zeit betrifft, fo habe 
ih in meiner früheren Abhandlung gezeigt, daß irgend welche vplaufibeln 
Beweiſe für eine firhliche Abweichung vom Katholieismus überhaupt meder 
im früheren noch jpäteren Leben vorhanden find, daß alle, was in diejem 
Sinne vielleicht auf den erften Blick verftanden werden könnte, im Hinblid 
auf die ganz ficher bezeugten äußeren Thatfachen aus dem Lebenslaufe des 
Prinzen anders verjtanden werden muß. Das liegt Far audgefprochen vor 
und — die einzelnen Zeugniffe habe ich damals zuerft zufammengeftellt — 
daß Philipp die Beforgnig gehabt hat, fein eventueller Nachfolger merde 
vielleicht nicht der Mann fein, in feinem Sinne feine Rebendaufgabe für die 
Aufrichtung der Fatholifhen Kirche fortzufegen; ja in den Kreiſen der fpa- 
nifhen Staatsmänner gefiel man fi die zugefpiste Phrafe zu wiederholen, 
im Dienfte der Kirche, im Kampfe gegen die Ketzer würde der fpanijche König 
nöthigenfalld des eigenen Sohnes nicht [honen. Und man hatte allen Anlaf 
zu derartigen Vetheuerungen gerade damald, ald der deutiche Habsburger 
Marimilian in dem fehr gegründeten Verdachte des Proteſtantismus ftand 
und ald man alle Mittel aufbot, ihn im Schooße der katholiſchen Kirche zu 
halten oder ihn dorthin zurückzutreiben: gerade im Hinbli auf diefen Apoftaten 
in der Familie erhält jene mehrfach wiederholte Aeußerung der Spanter einen 
fehr prägnanten Sinn.*) Seitdem mir ferner wiſſen, was man 1562 ala 
Grund alles Mißbehagens über Don Carlos bezeichnet hat, bietet fih auf 
für die Worte der Beſorgniß des Vaterd und des Königs über die Zukunft 
des Sohned und des Neiches eine ganz ungezwungene Erklärung: ein ſchwach— 
finniger Prinz, der feine Arbeit fortfegen follte, mußte ficherlich dem Vater 
die größte Unruhe erregen. 

Sm Jahre 1560 trat nun in die Umgebung des Prinzen feine Stief- 
mutter, die junge Königin Elifabeth ein. Eliſabeth war ungefähr gleichalterig 
mit Don Carlos (geboren am 13. April 1545); man hatte 1556 die beiden 
zehnjährigen Kinder verlobt und fie mit einander dereinft zu vermählen die 
Abfiht gehabt. Der neue franzöſiſch-ſpaniſche Krieg feit 1557 hatte diefen 
Pakt felbftverftändlich zerriffen. In den Friedendverhandlungen aber von 
1559 trat Philipp felbft, zum zweiten Male Wittwer, in diefe Abmachungen 
ein, er nahm fie felbft zur Frau. Anfangs 1560 Fam die beinahe funfzehn- 
jährige Jungfrau als Königin nad) Spanien. 

Wir befigen über diefe jugendliche Fürftin eine fehr detaillirte und mit 
eracten Angaben reichlich ausgearbeitete, auf ſehr zuverläſſige zeitgenöſſiſche 


) Bgl. meine Abhandlung zu zur Geſchichte Maximiliau's IL. in dem 32. Bande der Hiflo- 
riſchen Zeitfchrift. 








251 


Quellen vorfihtig und gewiſſenhaft geftügte Biographie aus der Weder de? 
Marquis du Prat.*) Wir vergegenwärtigen und an ihrer Hand aus den 
Gorrefpondenzen des franzöfifchen Gefandten und der franzöfifchen Umgebung 
der jungen Königin ohne Schwierigkeit die betreffenden Verhältniſſe. Da 
tele ih nun heraus, daß Carlos freundlih der Mutter und fie mit Herz- 
ihkeit und Theilnahbme ihm entgegengefommen ift. Wir erfahren fehr 
Veutlih, was für Eliſabeth das Motiv ihres befonderen Intereſſes war: fie 
folte und wollte die Hand des Stieffohnes für ihre eigene jüngere Schweſter 
gewinnen, zu diefem Endzwecke fuchte fie auf ihn einzumirken. In der That, 
jehr einfach und deutlich ift der Sachverhalt, — ein ganz reined Verhältniß. 
Aber ſtandalſüchtige Klatfchen hat es au im 16. Jahrhundert gegeben — 
unfaubere und pifante Erfindungen fanden auch damals ein gern und eifrig 
lauſchendes Publitum. Nun wurde nad) dem Tode ded Don Carlos, dem 
ja fehr bald der Tod der Königin folgte (der, beiläufig, der Behandlung der- 
jelben im Wochenbett durch die fpanifchen Aerzte vieleicht nicht mit Unrecht 
Schuld gegeben wurde) allerlei gezifchelt und ausgetragen, ald ob Philipp 
beiden Borfällen nicht fremd geblieben. Der große Prinz Wilhelm von 
Dranten verfündete offen und ungefcheut in feinem großen Manifefte 1581 
dem erfchredten Guropa diefe Dinge, in jener mit der ganzen Leidenjchaft 
ines unverföhnlichen Haſſes gefchriebenen Brandfchrift gegen feinen jpanifchen 
Gegner: wir fühlen mit gejpanntefter Theilnahme mit diefem wirklich großen 
Tanne, wenn wir auc) nicht jedes feiner in der Leidenſchaft hinausgeworfenen 
Shmähmworte für richtig halten, — wir verftehen jedenfalls die Wuth, die feine 
Feder geführt. Ungefähr zwei Jahrzehnte nachher griff der franzöfifche 
Abenteuerer und Pamphletiſt Brantome diefelben Dinge auf. Brantome 
war jelbft in Madrid am Hofe geweſen; er hatte die Königin Elijabeth ge- 
eben und ebenfo den Infanten. Er miſcht in feiner Schilderung allerlei 
durcheinander, ſelbſt erlebted und nur geleſenes; es fommt vor, daß er fogar 
einzelne Züge aus befannten Novellen bisweilen wieder als felbft erlebteg 
auftiſcht: er will vor allem mit feinen Anekdoten amüfiren, und je ſchlüpfriger 
die Dinge darzuftellen ihm gelungen, deſto behaglicher wird ihm dabet; 
ohne eine Bote ift es ihm ſchwer irgend einen Abſchnitt zu Ende zu bringen. 
Und ein fo befehaffener Autor fol jegt wirklich wieder als Zeuge für ein 
Verhältnig zwifchen Elifabeth und Carlos zugelaffen werden! Es wird nicht 
ju umgeben fein, daß mir uns feine Ausſage etwas genauer anfehen. Er 
berichtet das Folgende: „Eliſabeth fei von wunderbarer Kieblichkeit und 
Schönheit gewefen, in fo hohem Grade daß fie Jeden, der fie fah, bezaubert; 
jo habe Philipp ſich, nachdem er ihr Bild gefehen, in fie verliebt und, dadurch) 





*) Histoire d’Elisabeth de Valois reine d’Espagne par le Marquis du Prat. Paris, 1859. 


vu gr 
252 


erregt, babe er feinem Sohne die Braut geraubt; bei ihrer Ankunft in 
Spanien fet allgemeiner Jubel entjtanden, man fagte, Eliſabeth fet vor 
Anfang der Welt concipirt und in der Abficht Gottes referpirt morden für 
diefen ihren Gemahl. Auh Don Carlos habe fih in fie verliebt; er fei 
eiferfüchtig auf den Vater und voller Zorn gegen ihn geworden, fo fehr daß 
er ihm eines Tages das Unrecht geradezu vorwarf, ſeine Braut ihm geraubt 
zu haben: und dies ſoll, fügt Brantome hinzu, neben anderen Dingen Ur— 
ſache feines Todes geweſen ſein. Die Cavaliere des Hofes hätten nicht gewagt, 
— ſo ſchön war die Königin — ihr Auge zu ihr zu erheben, aus Beforgnif 
fi fonft in fie zu verlieben und dann die Eiferſucht des Königes zu erregen 
und ihr Xeben zu riöfiren. Auch die Mriefter verhielten ſich ebenfo aus 
Furcht der Verſuchung zu erliegen, da ſie ſonſt bei ihrem Anblicke nicht Hert 
und Meiſter geweſen wären über die Gelüſte ihres Fleiſches! ) — jedoch 
die hier excerpirte Stelle wird genügend gezeigt haben, wie Brantome dad 
erbaulihe Thema von der allmächtigen Schönheit der Königin in ſehr wenig 
erbaulicher, dafür aber recht eyniſcher Weiſe behandelt hat. Ich denke, wer 
ſich ein wenig in dieſen Schriftſteller hineingeleſen hat, wird ſich weigern als 
vollgültigen Zeugen für eine in ſolchem Zuſammenhang vorgetragene Sache 
ihn gelten zu laſſen. Außer der Biographie Eliſabeth's verfaßte er auch eine 
Lebensgeſchichte des Don Carlos. Hier kehrt dieſelbe Geſchichte wieder; hier 
aber theilt Brantome auch allerlei anderes noch mit und erklärt ausdrücklich 
eines jeden Urtheiles über den ganzen Handel ſich zu enthalten. 
| Die Bemühungen Clifabeth’8 für ihre Schwefter fanden feinen Anflang. 
In Spanien felbit gab es eine Partei, welche den Prinzen mit feiner Tante, 
der Prinzeffin Johanna, vermählt zu fehen wünfchte. Der fpanifchen Politil 
lag einmal der Gedanke nahe, für ihn eine Verbindung wit der Schotten. 
fönigin Maria Stuart zu ſuchen, — doch fegte died Projekt bei Carlos immer 
eine geroiffe Reiftungsfähigfeit voraus, da ihm ſchwierige politiſche Aufgaben 
gerade in Schottland zufallen mußten. In der Familie war man darauf 
aus, die Bande zwiſchen den deutſchen und ſpaniſchen Habsburgern zu per⸗ 
ſtärken und Carlos mit der deutſchen Prinzeſſin Anna, feiner Baſe, zu verloben. 
Ueber alle diefe Dinge wurde gehandelt und berathen. Philipp hielt die 
Entfheidung in der Schwebe: er mußte erft die Entwidelung feines Sohnes 
abwarten. Die Berhandlungen mit Kaijer Ferdinand find nun unfere vor- 
züglichite Quelle, die und Auffhluß und Einbliet über die Entmidelung und 
Natur des Don Carlos gewährt. Wir haben allen Grund, die durch fie erhal 
tene Information für eine gute und aufrichtige anzufehen: wenn Philipp die 





*) Les gens d’eglise en faisaient tout de mesmes de peur de tentation ne cognais- 
sans assez de forces ct commandement à leur chair pour l’engarder d’en estre tentöe. 
Bol. über Brantome die Pritifchen Bemerkungen Ranke's a a. O. S. 241 f. 


253 


eigene Familie anlügen wollte, was hätte ihm das für Nuten gebracht? 
Man darf nämlich nicht überfehen, daß mie zwifchen den herrſchenden Per- 
jonen, jo auch zwifchen den Rolitikern von Wien und Madrid die allerengten 
Beziehungen walteten: unter Karl V. hatten fie ja alle Einem Herrn und 
Ginem Ziele gedient; und diefer Zuftand wirkte damald noh nad. Der 
Diplomat, der den Kaifer Ferdinand von 1560 bis 1563 in Madrid vertrat, 
Martin de Guzman murde mit dem vollften und rüdhaltlofeften Vertrauen 
von Ferdinand und auch von Philipp beehrt; ihm murde die Wahrheit gefagt, 
und auf feine Didcretion verließ man ſich vollſtändig; er, der Spanier hatte 
in Mabrid Gelegenheit Nachrichten einzuziehen und Urtheile fi zu bilden, 
nie faum ein anderer der fremden Diplomaten. Und durch diefen Guzman 
wurden gerade die Erörterungen über Don Carlos und feine Verlobungsan- 
gelegenheit geführt. Während aber Guzman in Spanien Philipp's Erklärung 
über Don Carlos’ Zukunft herbeizuführen befchäftigt war, hatte Philipps 
Vertreter am Wiener Hofe, der Graf von Luna, eine andere delifate Ange- 
legenheit zu betreiben: Philipp wünfchte einen oder zwei feiner Neffen, unter 
ihnen den älteften, den jungen Erzherzog Rudolf, nah Spanien gefhidt zu 
erhalten, um fie hier gut Eatholifh und gut fpanifch erziehen zu laflen. Das 
war ein Pfand für die Gefinnungsänderung Marimilian’s, für feinen Entſchluß 
beim Katholieismus auszuhalten; es wurde aber zu gleicher Zeit ſchon ein 
Hinweis gegeben auf die Möglichkeit, daß Rudolf der Erbe auch der fpani« 
jhen Krone würde. So ftand ja die Sache: Philipp felbft war nit von 
fefter Gefundheit; aus erfter Ehe hatte er den einen Sohn, Carlos, an deijen 
Succeffionefähigfeit er damals ſchon zweifelte, die zmeite Ehe war Finderlod 
geblieben ; und die dritte Frau, Elifabeth, war noch fehr jung: fie war biäher 
nicht ſchwanger geworden; man beforgte damals noch, daß fie überhaupt un. 
ftuhtbar fein könnte: daraus ergab ſich aber dad eventuelle Erbrecht der 
deutſchen Linie, und Philipp wünfchte aus diefem Grunde unter feinen Augen 
den Neffen aufwachſen zu fehen. *) 

Miederholt war im Jahre 1561 verlangt worden, daß Philipp fih äußere 
darüber, ob Carlos die Erzherzogin Anna heirathen würde. Er hatte immer 
eine beftimmte Antwort vermieden, er hatte die häufige Krankheit des Prinzen 
ald Urfache feiner Zögerung angegeben. In Wien war man damit nicht zu- 
frieden ; man wiederholte die Anfrage in dringlicherem Tone. Da entihloß 
fih Philipp deutlicher zu werden. Im Mär; 1562 erhielt Guzman einen 
Beſcheid, welcher den Mangel an Gefunpheit und die „indisposicion“ des 
Prinzen ald Grund anführte, weshalb man zur Zeit über feine Zukunft noch 





*) Detaillirtere Mittbeilungen, Eitate und Wortlaut der mwichtigeren Aktenftüde findet man 
im 32. Bande der Hiftorifhen Zeitfhriftl. Das entfcheidende Document, das endgültig alle 
Gontroverfen über Don Carlos erledigt, ift ein eigenhändiges Schreiben Guzman's an Fer⸗ 
dinand vom 10. März 1562 a. a. D. ©. 290 f. 


254 


nicht beftimmen könnte. Neben diefer förmlichen Erklärung gab aber Philipp's 
leitender Minifter, der Herzog von Alba, dem Gefandten mündlide Auf: 
fhlüffe, die als fehr vertrauliche und fehr geheime behandelt werden follten: 
danach war Philipp im Principe wohl einverftanden mit der Verlobung zwiſchen 
Carlos und Anna, aber jest hielt er e8 für unmöglich, ſich zu entjcheiden; 
als Grund dafür bezeichnete er „den Mangel an Gefundheit, verbunden mit 
den Mängeln in der Perfönlichkeit des Prinzen, ebenſowohl in Urtheiläfraft 
und Charakter ald im Verftande, der meit zurüdgeblieben ſei hinter dem, mas 
man in feinem Alter zu erwarten pflege**); und Alba fügte hinzu, Philipp 
wünfche, weil er an feinem Sohne verzweifelt — desconfiado de su hijo —, 
grade die Gegenwart feiner Neffen in Spanien; jo würde man die Zeit ge 
winnen, um zu erfahren, ob nicht mit Befferung der Gefunpheit auch dad 
andere fich befjern werde: dann könne man endgültigen Befchluß über die 
Verlobung u. f. w. faffen. 


Diefe wichtige Eröffnung des fpanifhen Königs, die ich erft vor Kurzem 
aus dem Miener Archive enthoben, giebt und nad meinem Ermefjen den 
Schlüſſel zu allen Unklarheiten und Räthſeln. Sie berührt augenfcheinlic 
diefelben Dinge, die einft Honorato Juan 1558 fehon dem Vater gemeldet: 
feitvem hatte Philipp zwei und ein halbes Jahr felbft feinen Sohn beobachtet 
und diefen traurigen Eindrud von ihm gewonnen, Begreiflich finden mir e&, 
daß man noch immer an die Hoffnung ſich feitflammerte, eine Wendung fei 
möglich, begreiflih, daß man deshalb dem Prinzen Gelegenheit gab, fich in 
eigener Thätigfeit zu üben und zu erproben (fogar in den Staatörath lief 
man ihn eintreten und behandelte ihn, den Außerlichen Formen nad, durch— 
aus nicht in ungewöhnlicher Weiſe) — begreiflich freilich, daß man ihn nicht 
in felbftändigen Aemtern befhäftigte, fondern ihn unter den Augen und unter 
Aufficht behielt, begreiflich aber auch, dag man died traurige Mißgeſchick des 
Herrſcherhauſes nicht vor der Welt paradirte, fondern, wenn man es gar nit 
umgehen Eonnte fiy darüber zu äußern, dann mit geheimnißvollen Andeu— 
tungen fi begnügte. Wir dürfen zur Erklärung diefer Geheimnißtäuerei 
wohl daran erinnern, wie zart und wie ſcheu einft die Habsburgifche Familie 
einen andern ähnlichen Fall, die Geiftesfrankheit der Königin Johanna, ſchon 
behandelt hatte: es galt damald gemiffermaßen für eine Schmach. für ein 
möglichſt ſorgfältig zu verdeckendes Unglück, eine Wahnſinnige oder einen 
Schwachſinnigen in feiner Familie zu haben! Aus keinem andern Grunde ver 
mied man es, ſich über diefe Sache offen zu erklären. 

Alerdingd, das Geheimnig ließ fich nicht vollftändig bewahren. Es 

) La falta de salud del principe junta con las que en la persona de su alt. ay, asy 


en juicio y ser como en entendimiento, que queda muy atras de lo que en su edad # 
requiere, 


| |— 
255 


mangelt niht an Anzeichen, daß die fremde Diplomatie in Madrid der Sache 
auf die Spur gekommen ift. Wir begegnen in Gefandtendepeichen wiederholt 
mehr oder weniger verdedten Hinweiſungen; wir erfahren durch diefelben De- 
pefhen, dag auch die Minifter Philipp’3 fi den fremden Botſchaftern gegen- 
über mitunter in einer Weiſe audgelafjen haben, die ähnliche Gedanken in 
ihnen wachrufen mußte. Der vattcanifche Gefandte glaubte fhon 1563 in 
feiner Relazton , alfo in einem Schriftftüde, das in der diplomatifchen und 
höfiſchen Gefelfhaft von ganz Europa befannt werden mußte, von der zeit- 
weifen Geijtegabmefenheit des ſpaniſchen Infanten reden zu dürfen, mit dem 
Zuſatze, daß diefer Zuftand bei ihm um fo bemerfendwerther wäre, als er 
ihn durch erbliche Webertragung von feiner Urgrogmutter überfommen zu 
hıben fchiene. 

Hter aber entjteht die Frage, welchen Glauben wir diefen Mittheilungen 
kr Spanischen Regierung und den durd fie beeinflußten diplomatifchen Be— 
tihten beimeffen können. Schmidt erhebt gegen ihre Glaubwürdigfeit Be— 
denken und Einwendungen, die ihm und vielleiht auch Manchem feiner Leſer 
von Bedeutung erfcheinen. Wir haben ihrer Prüfung unfere Aufmerkjamteit 
demnächſt zugumenden. Wilhelm Maurenbreder. 


Friedrich Fiſchbach's Helbfihiographie.*) 


Brief an einen Kunſtgelehrten. 


Lieber Freund. Ich folge mit einigem Widerſtreben Ihrem wiederholten, 
freundlichen Drängen, Ihnen mitzutheilen, wie ich mich in meinem Fache 
biher herangebildet und bewegt habe. Sie wiſſen mie leicht der Vorwurf 
verfönlicher Eitelkeit und Ueberſchätzung von gewiſſen „Feunden“ verbreitet 
wird, und diefer dürfte mir um fo weniger erfpart werden, ald ja mein Fach 
dad Afchenbrödel der Kunftfamilie und ala Kleinkunft nur die große Baſis 
ft, von der ſich die „ausgezeichneten“ SImdividualitäten der hohen Kunft 
erheben follen. 

Nachſtehende Selbftbiographie war urfprünglih nicht für die Deffentlichkeit beftimmt. 
Sie follte nur Material liefern zu einem biographifchen Artikel. Da fie aber ala lebendige 
Schilderung des Lebendganged eines unferer bedeutendften Ornamentiften, welcher in vielfei« 
tigfter und erfolgreichfter Weife auf die Kunftinduftrie unferer Tage von Einfluß gemwefen ift, 
und noch ift, feiner Beftrebungen und Kunft, feiner Anſchauungen, die in ihrer urfprünglichen 
Form jedoch auch für weitere Kreife von Intereſſe und für unfere Zeit im höchſten Grade 


Harakteriftifch ift, theilen wir fie bier unverfürzt mit. Sie fann manchem jungen Talent ein 
&itftern fein. 


256 


Indeſſen glaube ih, daß auch für das Allgemeine, wenn es im Gegen- 
faße zur herrfhenden Mode erkannt und zum Siege gebracht werden foll, 
energifche Talente nöthig find, deren Kampf für fpätere Zeiten von einiger 
hiſtoriſcher MWichtigfeit fein dürfte, und deren Bildungsweg für die jüngeren 
Fachgenoſſen von Intereſſe it. ine übertriebene Befcheidenheit möchte ich 
mir daher auch nicht vormerfen, da ich gern und offen geftehe, daß ich mehr 
meinem Studium und meiner Beharrlichfeit und einer glüdlichen Begabung 
für chythmifche Formen und Harmonie der Farben, ald einer befonders großen 
Geftaltungsfraft meine Erfolge verdanke. Noch mehr aber verdanfe ich der 
Zeit, in der ich zu wirken berufen bin, denn diefe wandte fi durch die 
Belehrungen bedeutender Literaten wie Falfe ꝛc. und durch den Einfluß der 
Architektur und der Mufeen den Stylbeftrebungen zu und würdigte nach 
und nad eine Fünftlerifche Thätigkeit, die zur allgemeinen Reform abfolut 
die Hauptbedingung iſt. MWelder Arciteft und melder Kunftgelehrte hat 
wohl Luft und Beruf, die erfannten Wahrheiten oder Principien mit den oft - 
ſehr trivialen Mitteln des Kunſthandwerkes praktiſch zu verwirklichen? 
Daran ſcheitert einftmellen fehr viel. — Wir leben in einer fonderbaren 
Kunftepocdhe, in der es fait mehr Schriftiteller über das alte Kunftgewetbe, 
ald produktive Ornamentiften giebt. Es ift wohl das Zeichen der Uebergangs— 
epoche und daher ift das DBeifpiel der „jhaffenden* Künftler von einigem 
Werthe. — Sonft ift ein Edftein im Grunde ja ein gewöhnlicher Stein und 
nur der Platz verjchafft ihm die größere Bedeutung. Mir fommt vor Allem 
zu ftatten, daß die Mafchineninduftrie feit einigen Jahren in die Phafe ein: 
getreten ift, die Trivialttät der Mode zu verlafien, um mit der Handarbeit 
der beten Kunftepochen zu wetteifern. Wenn man bedenkt, daß zu diefer 
Aufgabe der Zeichner zunächſt die Sprache der Drnamentif in faft allen 
Materialien und fait aller Zeiten fludiren muß und nicht minder au die 
technifchen und commerziellen Eigenheiten der Mafchineninduftrie zu würdigen 
hat, fo wird man die intellektuelle Arbeit der Ornamentiften weniger mie 
bisher bei der Gründung von Kunftgemwerbefchulen unterftügen dürfen. Der 
Kohn des Erfolges liegt dafür in der Verbreitung einer Fülle von fchönen 
Drnamenten, die früher nur für einzelne Paläfte und Kirchen beftimmt 
waren, jet aber fozufagen Gemeingut der gebildeten Welt werden. — Hierzu 
ift aber ein Zufammenmirken des Fabrifanten, Händler und Zeichnerd und 
ein Entgegenfommen der Käufer nothwendig. Letztere zählen bei der Mafchinen: 
induftrie nad Tauſenden und "jomit ift wiederum der Erfolg von der ge 
fteigetten Bildung des Geſchmacks der Maſſen abhängig. So hatte ich in 
meinem Kreife zunächft den Einfluß auf Fabrikanten und Händler, dann 
durch Wort und Schrift auf die Maflen zu erreichen, um einen dauernden 
Erfolg mir zu fihern. Es war und ift noch eine Kette mühſeliger Arbeit, 


257 


die nur durch die Lichtblicke des geficherten Erfolges belohnt wird, und fomit 
darf ih fagen, daß wenn fpäter im ficheren Geleife Alles ſich bewegt, und 
Deutihland ganz von Paris fich emancipirt hat, meine Arbeit mehr wie die 
vieler Anderen ein Suchen dieſes ficheren Weges war. 

Meine perfönlichen Erlebniffe find durchaus nicht abenteuerliher Natur 
und nur infofern mohl von Intereſſe ala ich in Berührung mit vielen be- 
Kutenden Männern fam, die mich in meinem Streben mwürdigten und för- 
detten. Doch ich muß hübſch von vorn beginnen. Zunächſt daß ich das 
große Glück hatte, ein Elternpaar zu befißen, da® in feinem idealen Weſen 
von Allen verehrt war, die je in feinen Kreis traten. Mein Vater Peter 
Fiſchbach war Wriedensrichter in Aachen, Wallerfangen und Bensberg und 
farb ald Abgeordneter 1870 in Berlin. Seine religiöfen, politifhen und 
fumoriftifchen Lieder habe ich 1871 mit einem meiner 4 Brüder heraus— 
gegeben. Meine Mutter Catharina Fiſchbach geb. Severin, war eine Schülerin 
von Beter von Gorneliud und -von Kolbe in Düffeldorf und blieb der damald 
dort gepflegten poetifchen Richtung bi® zu ihrem Tode 1872 treu. ihrer 
itealen Auffaffung des Lebens, der Natur, ihrer Begeifterung für die Claſſiker 
und vor Allem ihrem Beifpiel verdanke ich das Befte, was ich bin und leiſte. 
Sind auch ihre Gemälde in Bezug auf realiftifches® Colorit weniger hervor- 
ugend, jo haben fie do eine Reinheit und Kraft in der Darftellung des 
Pealen, die ich höher ſchätzen darf, ala realiftifhe Wahrheit ohne die Weihe 
iner edeln Fünftlerifhen Auffafjung, Im meiner Wohnung habe ih eine 
größere Anzahl diefer Wilder placirt, an die ich von frühefter Jugend gewöhnt 
bin und die mir das Mefen der theuren Mutter in ihrer fünftlertichen 
Sprache gegenwärtig halten. 

Billiger Weife legen wir Alle auf unfere frühefte Entwidelung den 
größten Werth, denn fie tft beftimmend für die fpätere. Ich muß mir jedoch 
verfagen, die erjten Eindrüde an diefer Stelle feftzuhalten, fondern will 
lapidariſch kurz ermähnen, daß ich 1839 in Aachen geboren bin, von 1840 
bis 1844 in Wallerfangen bei Saarlouis und von 1844 bid 1854 in Bens— 
berg bei Göln meine Kinderjahre verlebte, dann in Cöln bis 1859 das Gym- 
nafium bis zur Prima und bis 1862 die Mufterzeichenfchule in Berlin 
beſuchte. 

Auf dem Gymnafium Hatte ich ſchon Vielerlei gezeichnet und in den 
Herbftferien die Düffeldorfer Maler in den Wald bei Bensberg begleitet, um 
Eichen zc. zu zeichnen. Mein Bater folgte dem Rathe des Commerzienrathes 
8. Schöller in Düren, mich Deffinateur werden zu laffen, obgleich ich nur 
ehr dunkel die Bedeutung diefes Worte damals erfannte. In Berlin machte 
I einen ordentlichen Curſus im Zeichnen nad der Antike durh und fam 


dann in die Compofitiondklafje zum Direktor der Anftalt Ban der Syp. — 
Grenzboten IV. 1874. 33 


258 


Wenn ich heute an diefe Lehrjahre zurücdenfe, jo finde ich nur das Gute, 
daß ich mandherlei Naturftudien machen mußte und vor Allem einen gründ- 
lihen Haß gegen die geiftlofe Effekthaſcherei des ſog. Naturalismus einfog. 
Heute die Nofe nah rechts, morgen ein ähnliche® Bouquet mit der Rofe 
nad) Iinfa, dag war dad Alpha und Omega und von Styl oder vernünftiger 
Beachtung des Materialed und Zweckes gar feine Rede. Ich war dur ein 
Kleine Stipendium an diefe Anftalt gefeljelt, die mir um fo gründlicher ver- 
leidet wurde, ald mir dur die freundliche Theilmahme und Belehrung des 
Herrn Profeſſor 8. Rohde die Augen über die Bedeutung der Ornamentif 
und über meine Nebendaufgabe nah und nad aufgingen. Immer mehr trat 
ih in Oppofition gegen den franzöfirten Belgier Ban der Syp, der meine 
Beitrebungen zu unterdrüden fuchte und höhniſch mir 1861 noch fagte, id 
werde fein rechter Drnamentift, weil ih „zu deutſch“ fe. — 

Damals begann ich dad Sammeln der Webeornamente von den Bildern 
der Berliner Gallerie und wurde in Cöln mit dem für die kirchliche Para- 
mentif jo einflugreichen Canonicus Dr. Fr. Bock befannt. 

Die gefammelten Muſter arbeitete ich zunächt für Tapeten und Kirchen: 
ftoffe au, wodurch ih die erjten Honorare von Gebrüder Hildebrand in 
Berlin und Gafaretto in Erefeld erhielt. Diefe benugte ich, um 14 Tage in 
Halberftadt und Quedlinburg die alten Stofffammlungen zu copiren. — 
Der Beſuch des in Defterreich renommirten Tapeten-Decorateurd Fr. Schmidt 
in Berlin, veranlaßte mein Engagement nad Wien und fomit ſchied ich von 
dem mir durch freies Theater und durch Vorlefungen in der Univerfität und 
durch die Mufeen in der Bildung überaus förderlichen Berlin, um meine 
praktiſche Carriere an der Donau zu beginnen. — Welche Wahl blieb wir 
auch übrig, wenn ich nicht nach Paris gehen wollte, welches ich ja in feiner 
Tendenz befämpfte? Die Fabrifanten des Zollverein? hingen von Paris ab 
und waren zu vorfihtig und zu wenig organifirt, um ſich auf eigene Füße 
zu ftellen. Wien mar daher damals für mich das befte Feld, denn dort war 
ein jelbftändiger Geſchmack und eine Anzahl reicher Fabrifanten, die aus 
Ehrgeiz das Beſſere anftrebten. Zunächſt erfannte ich in dem Decorationd 
geihäft von Schmidt u. Sugg das Zufammenmirken der verjchiedenen Induſtrie— 
zmweige, um die Wohnung harmoniſch zu jhmüden. Da jedoh Schmidt eine 
viel zu felbftifche Natur war, um mich anders als einen gewöhnlichen Zeichner 
zu benugen, fo übernahm ich von 1863 bis 1865 die artiftifche Leitung eines 
neuen Decorationdgejhäftes von R. und B. Sieburger. Hier. lernte ich die 
Berhältnifie kennen und benugen, die zwifchen dem Fabrikanten, Händler und 
Rublicum beftehen und Hatte die Aufgabe überall fo einzugreifen, um ein 
gutes Refultat zu erzielen. — Es waren derbe Lehrjahre, in denen ich einige 
taufend Räume in Wien decorirte und täglich oft an 12 Stellen die Arbeiter 


259 

beauffihtigte. Indeſſen führten R. und B. Steburger mit gutem Erfolge 
einige Dutend meiner Mufter in Tapetendruck aus und trat ich mit Giani 
und Ph. Haas u. Söhne in Verbindung, welche in Kirchenftoffen und Teppichen 
meine gefammelten und componirten Ornamente webten. Der fich fteigende 
Erfolg diefer Firmen ift befannt. Nebenbei befuchte ih ſchon 1863 einige 
Vorlefungen von Eitelberger und murde bald nachher in die Enquöte in 
Bezug auf die Sammlungen de 1864 gegründeten Kunftinduftrie - Mufeums 
berufen. Die Bekanntfhaft mit Jacob Falke und den berühmten Architekten 
Schmidt Hanfen und Ferſtel war mir durh den Austauſch der Anfichten 
während meines achtjährigen Aufenthaltes in Wien ungemein fördernd. ch 
murde zum Gorrejpondenten und Zeichner des E. f. Mufeumd für Kunft- 
induftrie ernannt und übernahm ed, die inzwijchen von Bock angefaufte Stoff: 
jammlung zu copiren. Außerdem hatte ich in Cöln, Münden, Nürnberg, 
Salzburg und in Wien meine eigene Sammlung bedeutend vermehrt. Diefe 
wurde jpäter vom Muſeum mit den Copien nad der Bockſſchen Sammlung 
angefauft. — Bon 1865 big 1870 bejchäftigte ich mich lediglich theild mit 
ſolchen archeologifchen Arbeiten und theild mit Compofitionen für die vers 
Ihiedenften Induftriellen und Anftalten. Speziell in Tapeten eroberte ich mir 
nah und nad faft alle Fabrifanten von Defterreihh und Deutfchland. ch 
nenne Speziell Engelhard in Mannheim, Schüt in Wurzen, Herting in Einbed, 
Flammerdheim in Cöln und fpäter Hochftätterd Söhne in Darmftadt. In 
Teppichen war fpeziell Th. Haas u. Söhne meine Kunde bis 1870, da ich 
fpäter auch noch Roßeamp in Springe, Korte u. Cie. in Herford und in um- 
fafenderer Weiſe Geverd u. Schidt in Schmiedeberg Teppich: Mufter compo— 
nirte. Joſ. Dierzer in Linz und Schöller in Düren führten nur wenige 
Nufter aus. 


In Welpwäaaren befchäftigten M. Faber & Cie. mich feit 1865 für ge- 
webte Vorhänge und Spitzendecken, die durchgreifenden Erfolg hatten. Dann 
führten 1868 Brune & Lippelt in Bielefeld eine größere Anzahl Tifchdeden 
in feinftem Damaft nad) meinen Entwürfen aus. Später auch Hille & Ditt: 
rich in Warſchau. Alle diefe Arbeiten Tieferte ich zugleich in der Patrone, da 
in der Vergrößerung und Ausarbeitung die in Stylformen ungeübten Fabrifs- 
jeichner mir jede ftrenge Contur verhuntzten. Diefe Tupfarbeiten für Teppich 
und GStidereigefchäfte veranlaßten mich 1869 mein Album für Stiderei her 
auszugeben, welches bekanntlich in den nächſtfolgenden 5 Jahren vier Eleinere 
Auflagen erlebte. Noch heute ift e8 ohne Goncurrenz, weil es wenige eich. 
ner giebt, melde es verftehen, die claffifchen Stylformen in den geeigneten 
Varben fo audzuarbeiten, ald ob fie in dem quadratifchen Nete gemachfen 
fein. — Es liegt eben die Hauptfache der Compofition in dem Sinne für 


260 


das Allgemeine und Einfach» Elementare, was die Grundlage diefer an und 
für fich befcheldenen aber ungemein verwendbaren Ornamente bildet. 

Jetzt erlangen diefe Ornamente dur die große Druderei von E. Ebner 
in Stuttgart eine audgedehntere Verbreitung als es durch meinen Selbftoer 
lag möglich mar. 

Die Wichtigkeit der Publication der Ideen über die Reform der Kunft: 
induftrie mie der Zeichnungen war mir ſchon von 1864 an Flar, ala ich be, 
gann, die erften Feuilletons in der E. E. Wiener Zeitung über die Tapeten 
decoration zu fohreiben. Ohne diefer Thätigkeit eine fachliche Bedeutung ald 
Schriftſteller beizumefjen, habe ich doch jährlich fowohl in den Fachblättern 
z. B. der Gemwerbehalle, der Wochenſchrift Kunft und Gewerbe und den Blät- 
tern für Kunſtgewerbe von Teirich manchen Beitrag geliefert, mehr aber noch 
der Tageöliteratur Berichte über Ausftelungen und Abhandlungen für Taged- 
fragen gefchrieben, die zum Theil noch in guter Erinnerung find, So war id 
1867 Berichterftatter der Didascalia in Wien und lieferte außerdem der bor- 
tigen Deutichen Zeitung und der Rheiniſchen Zeitung Berichte. Das Studium 
der großen MWeltaußftellungen hat mich nächft den Mufeen wohl am meiften ge: 
fördert. Sie find die Univerfitäten der Kunftinduftrie. 

Die erfte Publication meiner Etoffcopien unter dem Titel „Styliftifche 
Flachornamente“ 1866 murde in der Fortjegung durch A. Morel unterbroden, 
da diefer dad Werk in großem Mapftabe vorlegen wollte. Es war bis 1870 
big zur 70. Tafel meinerfeit fertig, ald der Tod Morel’3 und der deutid- 
franzöfifhe Krieg Alles in Stoden brachte und die Fortfegung in Frage 
ftellte. 1873 holte ich mir die in Unordnung gerathenen Sachen aus Paris 
zurück und liefere nun wohl ununterbrochen dieſes Werf, an dem ich 15 Jahre 
gejammelt habe. Es ift zunächft auf 120 Tafeln Buntdrud in der Auflage 
von 1200 Eremplaren berechnet und fol möglichft billig die beften Stoffor- 
namente vom 8. bis 18. Jahrhundert der heutigen Kunftinduftrie zugänglid 
machen. — Zu beachten ift, daß unfere deutfchen Zuftände mich einftmetlen 
noch zwingen, Sammler, Zeichner, Lithograph und Selbftverleger in „einer“ 
Perſon zu fein und daß es feine beneidendwerthe finanzielle Aufgabe ift, die 
großen Unkoften ſolcher Werke allein zu tragen und fchlieplich noch den Ab: 
ſatz derfelben zu leiten. — 

Ich muß jedoch zurücgreifen und nachholen, dag Zurüdjegungen von 
Seiten der Mufeumddireftion in Wien und ferner der Wunfh, das unge: 
funde Klima Wiend nah einer fehr ſchweren Krankheit meiner Frau (feit 
1868 vermählt) mit einem befferen zu vertaufchen, mich 1870 veranlaßt hat: 
ten, eine mir in Einbed angebotene Stelle anzunehmen. Nach vielem geifti- 
gen Ueberarbeiten war mir die dort durdy den Krieg verurfachte Muße eine 
Wohlthat, denn ich arbeitete den Sommer hindurd meine fachlichen Erfah- 


261 


zungen foftematifch aus. Im Herbfte 1870 übernahm ich dann die Lehrer— 
ftelle an der Eöniglichen Ucademie in Hanau a. M., die mir ſowohl den ent: 
iprehenden längft gewünſchten Wirkungskreis ald auch die Muße zur Fort: 
führung der biöherigen Thätigkeit für die Kunftinduftrie bot. Die Eönigliche 
Academie zählt jest 460 Schüler und 30 Schülerinnen. — — 

Fehlt mir auch die „tägliche” Anregung einer Weltftadt, fo giebt mir 
doch der möchentliche Beſuch Frankfurtd und der jährliche Beſuch einer Welt- 
dadt wie Wien oder Paris genügenden Erfas und habe ich den für den 
haffenden Künftler fo fchwermiegenden Vortheil, daß ich in Hanau Land» 
und Stadtleben vereinige und diejenige Muße finde, die das Befte in und 
wur Reife bringt. 

Immerhin preife ich mich jedoch glücklich, die befte Zeit der großen Bau— 
woche Wiens in Verbindung mit den bahnbredenden großen Männern verlebt 
u haben, und nunmehr die dort zum Siege geführten Ideen auch in den 
Verhältniffen der Heimath einzubürgern. So glüdte es mir denn auch in 
Verbindung mit dem Direktor der hiefigen Academie Hausmann und mehreren 
einfihtövollen Männern Hanaus den hiefigen Kunftinduftrieverein zu gründen 
und zur fchnellen Blüthe zu bringen. 

Andererſeits glüdte mir die Bereinigung einiger Induſtriellen, wie Hoch— 
Hitter's Söhne und 3. Joſt in Darmftadt und Frankfurt, welche in epodhe- 
mahender Weiſe Paris gegenüber die zerlegbare architektoniſch gegliederte 
Iopetendecoration zum Siege brachten. Meine erfte derartige Decoration 
murde 1869 vom Gewerbverein in Wien mit 300 fl. prämiirt und von Schüß 
in Wurzen gedrudt. 

Hatte ih in Wien noch fpeziel für Porzellandecoration durch Email: 
lithographie mit Koch, und Glasdecoration mit H. Ulrih und in Parquetten 
für Gebrüder Leiſtler gearbeitet, fo fügte ich bier noch die Fabrikanten für 
Vederinduftrie 3. B. 3. F. Knipp in Bezug auf Albums, Engelhardt in 
Wiesbaden für Holzverzierungen und %. G. Zimmermann in Hanau für 
Gifenguß, fomwie Naumann und Dandorf in Frankfurt für typographifche 
Randverzierungen und Rampenfchirme in den Kreid meiner Arbeiten für die 
Öroßinduftrie. | 

Ich übernahm ferner die Herausgabe von Nofetten und Eckſtücken für die 
Tapetendecoration und fomit ftehe ich nicht weit vom Ziel, um fagen zu 
dürfen, daß für alle Gegenftände der Wohnungddecoration, welche von der 
Maſchineninduſtrie geliefert werden, die geeigneten Gompofitionen für jegliches 
Material vorhanden find. 

Um diefe Ideen in der Durdführung zu erleichtern und die früheren 
Mufter vor Vergefienheit zu retten, da die Stylmufter von den Händlern 
grade wie Modemufter behandelt werden, alte jährlich den neuen weichen 


262 


follen, verfuchte ich die wichtigſten Sompofitionen zu publiciren. Es erſchienen 
die Beiden Lieferungen ded Albums für Wohnungsdecoration, in denen die 
für Vorhänge und Teppiche gelieferten und ausgeführten Compofitionen mit 
Ungaben der Bezugsquellen publicirt wurden. Die Teppicheompofitionen 
werden in der Folge auch im Buntdruck erfcheinen, fo wie auch die Tapeten: 
borden un. |. w. 

Sn Paris Iernte ich 1867 den Slavonier Felirday fennen, der mit feinen 
nattönalen Teppichen großes Auffehen machte. Als er von mir die Bebeutung 
der Ornamentik für Haudinduftrie erfuhr, ftellte er mir das Material zur 
Publication zur Verfügung und übernahm einen Theil der Unkoſten. So 
entftand das 1872 herausgegebene Werk „Südflavifche Ornamente”, meldet 
in vorzüglichem Drude von Dondorf ausgeführt wurde. Die Minifterien in 
Berlin und Rußland abonnirten, jedoch lehnte das öfterreichifche Miniſterium 
nad dem Gutachten Eitelberger'8 da8 Abonnement ab. Das ungarifche kgl. 
Miniftertum betraute mich 1873 mit der Heraudgabe eines ähnlichen aber 
größeren Werkes, welches 1875 erfiheinen wird. Zu gleicher Zeit ift noch 
ein Borlagemwerk für den elementaren Zeichenunterricht in Arbeit. 

Diefe Aufgaben hätte ich nicht Iöfen Fönnen, wenn ich nicht mir bie 
Hülfe in guten Mitarbeitern auf meinem Atelier verfchafft hätte. 1865 gab 
ih Zeichenunterricht in dem Taubftummeninftitute Wiens und bemerkte dort 
einen talentwollen Jungen von 14 Jahren. Diefer Joh. Redinger ift feit 10 
Jahren mein Gehülfe und hat fih in Allem tüchtig bewährt. 

Der Eontraft im fubjectiven Schaffen und objectiven Genießen und Stu- 
biren ift zu beachten, um täglich ein große® und vielfeitige® Arbeitspenſum 
zu abfolviren. Wichtig ift ferner mit allen befonderen Erjcheinungen der 
Ornament-Publicationen vertraut zu bleiben und die beiten Sachen auf dem 
Meltmarkte zu ftudiren. MWarnen muß man jedoch jeden Zeichner, zu viel 
zu copiren und mehr wie Skizzen zu machen, um die eigene Originalität 
nicht einzubüßen. Nie fol man beim Componiren zu viele Anbaltspunfte 
neben fich legen, fondern diefe erft zur Ausarbeitung in gewiſſen Fällen 
berbeiziehen, wenn der Charakter des Ganzen fhon feititeht. — Nur hierdurd 
retten mir die Originalität und Naivetät der Compofition, und entgehen dem 
Eklektieismus, der in unferer Zeit mehr mie je dur Publicationen genährt 
wird und die halben Talente groß zieht. — 1873 fand ich in Stalien, welches 
ich in feinen michtigften Städten bis Neapel kennen lernte, fehr viele Drna- 
mente, welche von Wiener Coryphäen als eigene Erfindungen in Cours ge 
bracht waren. Spätere Zeiten werden diefe fflavifchen Copien ſcharf tadeln, 
da wir Tedigfich die Aufgabe haben, das Gute der alten Zeit zu ſtudiren, 
um unfer eigenes Empfinden und Erfinden um fo vollfommener und reicher 


zu geſtalten. 


263 


Deshalb fuchte ich auch über die alten Vorbilder hinaus, die ich von 
Stoffen und Bafen ꝛc. fleißig fammelte, möglihft zu deren Vorbildern in ber 
Natur zurückzugreifen. Auf Spaziergängen fammelte ich viele Jahre hindurch 
und heute noch fehöngeformte Blätter und Blumen und verdanfe diefer Be- 
(Häftigung einen ebenfo großen Genuß der Naturfreude ald auch manches 
Drrament, welches heute im Handel verbreitet if. Mein Sprüdhlein: 

Leben und Entfaltung 

Herrſcht in der Natur, 

Rhythmus der Geftaltung 

Zeige die Contur. 
enthält wohl dad Wefentliche, was der Ornamentift beim Studium zu beadhten 
bat, denn bezeichnend genug Fönnen wir nur diejenigen Pflanzen vermerthen, 
melde rhythmiſche und geometrifche Geftaltung erlauben. — Für die rein 
geometrifche Ornamentik fand ich den Schlüffel in der Theorie des Lichtes 
und publicirte diefe Studium unter dem Titel „Einfluß von Licht und 
Farbe auf die Formbildung der Ornamente“ in der Gewerbehalle 1873. 
Indeſſen ift nicht zu überfehen, welche Anzahl bedeutender Kräfte fich in den 
legten Jahren der Pflege der Kunftinduftrie widmen und daß ich diefen meine 
Erfolge zum Theil mit verdanke. Erhalten wir den 1873 in meiner mit 
Zimmermann in Hanau verfaßten Petition angeftrebten Meiſterſchutz, fo 
dürfen wir in einigen Jahren wohl behaupten, daß Deutſchland im artiftifchen 
Bettlampf mit Frankreich einem Siege entgegengeht, der wie in der Malerei 
um jo fiherer und ſchöner iſt, ald er zunächft im Werthe des idealen In— 
haltes und fpäter auch in der techniſchen Ausſtattung der Gegenftände beruht. 
Jedes Bürgerhaus foll eine Stätte der Kunft werden, das iſt die große Auf— 
gabe der Kunftinduftrie und fchäge ich mich glücklich berufen zu fein, diefe 
Aufgabe thatkräftig ihrer Röfung entgegen zu führen. Den Sporn dazu ver- 
danke id) wie ſchon bemerkt, zum Theil meinem franzöfifchen Lehrer Ban der Syp, 
wie ja eine ftarf gebeugte Feder um fo ftärfer emporfchnellt. Prof. Lohde 
in Berlin ift aber in Wahrheit mein Führer im erften Jahre meined Schaffens 
gewefen und dann audy förderte mich) Gropius, während Böttcher's nüchterne 
Theorie mich zwar jehr intereffirte, aber zum Glück nicht zu flarf beſchäftigte, 
da in ihr die Profa des Galculd die Friſche de? Empfindens beeinträchtigt. 

Die kirchliche Richtung von Schmidt, Eſſenwein und Bock führte mid, 
zu vielen gothifchen und romanijchen Entwürfen für Teppiche, Kicchenftoffe 
und Paramenten. Da ich aber ftet? vom ftofflich-decorativen ausging, fo 
fonnten die fchroffen Principien diefer Stylarten mich nicht davon abhalten, 
daß eigene moderne Empfinden mit den alten Motiven zu verfhmelzen. Diefe 
individuelle Berechtigung erkenne ich ebenjo den griechiſchen, römifhen und 
orientalifhen Stylarten gegenüber an und fehe darin die einzig mögliche 


264 


Weiterbildung der alten Stylformen. Im Großen und Ganzen tft dieſes 
das Mefen jeder Renatffance und mithin gehört auch ihr mein Schaffen, 
wenn ed auch anders ift als die ſpeziell italtenifche, franzöfifche oder deutſche 
Renaiffance der früheren Jahrhunderte. Jede Zeit hat ihre eigenen Aufgaben 
und Anſchauungen, die auch in der Kleinkunft zur Geltung fommen müflen. 

Der MWohlftand und die hohe Bildung der Bewohner Frankfurtd und 
der umliegenden Städte laffen mich hoffen, daß bier der Mittelpunkt für 
die Funftinduftrielle Führung Deutſchlands fich bildet, da das verhältnigmäßig 
arme Berlin diefer Aufgabe bisher ſchlecht entſprochen hat. in Eentral- 
Kunftinduftrieverein für Mittelmeftdeutfchland ift angebahnt. 

Nun, lieber Freund, will ich meinen Bericht fchließen und will Ihnen 
und Anderen überlaffen, die Schattenftriche zu zeichnen, die ich in menſchlicher 
Schwachheit und Gigenliebe vergefien habe. Wer fein Ziel feft im Auge be 
hält und nicht viel ablenken will, ftößt wohl oft an den und den an und es 
giebt wohl Biele, die mir dieſes verdadht haben. Darüber muß ih mid 
tröften. — Wäre ich nicht auf der Mittagshöhe des Lebens, nämlich 35 Jahre 
alt, fo machte ich mir eigenhändig ein ordentlich.grufelndes Kreuz auf meinen 
Reichenftein und dächte, ich fei um Mitternacht erwacht und leſe im Monden- 
fein meine etwas lang ausgefponnene Grabſchrift. Diefen Gefallen mödte 
ih jedoch den Franzofen einftweilen nur ungern thun und fomit hoffe id 
noch manches Glas Mein in treuer Freundfchaft mit Ihnen zu leeren und 
dabei an „Allee, was wir lieben“ zu denken. — 

Ihr Kunftgelehrte wollt ja Alles fohriftlih Haben und fomit habe ih 
Ihren Wunſch erfüllt, anftatt Ihnen bei einem Glafe die ganze Kurz- und 
Rangemeile meines Lebens vorzuerzählen. 

Herzlich grüßt Sie 
Ihr 
Hanau 1874. Friedrich Fiſchbach. 


Hilder aus Mecklenburg. 


Aus den Tagen der Bürgergarde IU. 


Bon Hugo Gaedde. 
(Nahdrud verboten.) 


Mit Vergnügen erinnere ich mich noch des Taged, an welchem adt- 
hundert Roſtocker Bürgergardiften mit einem fühnen Handftricy vierundzwanzig 
Schneidergefellen gefangen nahmen. Es geſchah dies in dem großen Jahre 


265 


der Revolution. Eines fchönen Mittags erflang plöglich in den Gafjen ber 
Stadt der Generalmarfh. Es galt der Bürgergarde. Wir Knaben, die juft 
aus der Schule Famen, fahen von allen Seiten die gemaffneten Männer der 
Ordnung eilig daherftürzen. — „est geht's los!“ — Einer rief e8 dem 
Andern zu. Es Hang höchſt gefährlid. — „Hurrah, jest geht's los!“ 
jubelten die Jungen. Wir liefen fpornftreich8 nach dem Drte des Schredeng, 
nah dem „Schütting“ ; fo heißt nämlich die Herberge der Schneidergejellen. 
Da faßen fie, die Vierundzwanzig und einige, oben in den geöffneten Fenitern 
und ließen die Beine zum Fenfter hinaushängen, ſchwenkten ihre volle Flaiche 
und tobten, fangen und fchimpften ausbündig. Und ba, — jest Fam die 
Garde daher, ihrer Achtmalhundert, nun rüdten fie an mit Wehr und Waffen 
und ftürmten den Schneiderfhütting, nahmen die vierundgmanzig betrunfenen 
Schneidergejellen gefangen, faßten fie beim Kragen, führten fie Einen bei 
Einem nah dem Rathhaufe und ftellten eine Menge Wachtpoften vor die 
Thüren des Hauſes. 

Hier auf der geräumigen Diele des Rathhauſes, wurden bis auf Weiteres 
die vierundzwanzig Schneidergefelen in eine Art von hölzernem Pferch, alle 
miteinander eingeſperrt. Das erſchien freilich gegen die Schneiderehre, die 
Infaffen tobten furchtbar und höhnten die Garde und drohten, Einer immer 
noch toller ald der Andere. Es war ein fchredlicher Rumor. Die Bürger: 
wache ftand mie rathlod dabei. Da meinte ein alter Polizeidiener ganz 
pfiffig: „Töv, id will fe woll ftillfriegen.“ — Uber wie? Ganz einfach). 
Der alte Praktikus machte auf der langen Diele des Haufed die beiden fidy 
gegenüberftehenden mächtigen Eingangsthüren auf. Und nun mit einem 
Male, juft wie aus einem Blafebalg, fegte der ſchneidend fharfe Zugwind 
jur einen Thüre hinein und zur andern Thüre mieder hinaus, durch die 
vierundamanzig Schneidergefellen mitten hindurd. Das half. Als ver Zug- 
wind ihnen auf ein Wal fo empfindlich Falt an den Magen fam, hoben fie 
ein Bein um da® andere und fchimpften und fpeftafelten: „Thüren „u! 
Thüren zul Es zieht hier!" — „Sa, töot man“, nidte der alte Volizift, 
„it will je woll ftill Eriegen.“ Und der kalte Zugwind blied mit neuer 
Wuth mitten unter die achtundvierzig Schneiderbeine. Das half! In weniger 
als drei Stunden waren die revolutionären Schneider gehörig durchgefühlt; 
ihre Courage war vermeht. Sie verhielten fi ganz mäuschenſtill. Höflich 
baten fie nun: „Machen Sie doch gefälligft die Thüren zu. Es zieht hier 
ganz infam!“ Verſuchsweiſe ward dann, erft die eine Thüre, hernach auch 
die zweite Thüre wieder gefchloffen. Und rihtig! Das Mittel erichien 
probat. Die Rebellion war zu Ende. Kleinlaut marfchirten die vierund- 
zwanzig Schneidergefellen mit einem Zwangspaß zum Thore hinaus, — Roitod 
war gerettet! 

Grenzboten IV. 1874. 34 


266 


Denn alle die unzufriedenen Gemüther, die HN im Hintergrund nur auf 
den Erfolg der Schneiderrebellion gewartet hatten, verbielten fi hinfort 
ſchweigſam und ruhig, — Danf der guten Fauft der Roftoder Bürgermehr! 

Ein Vierteljahrhundert ift feitden dahin gefhmwunden. Und immer noch 
ſeh' ich fie Tebendig vor Augen diefe harakteriftifchen Figuren der alten 
Bürgergarde. Hier den alten Meifter der Beredſamkeit, das Gewehr hoch 
im Arm und das Käppi tief im Naden, — ein Bild der Berufdtreue, der 
leibhaftige Ernft zur Sache. Mit abgemefjenen Schritten marſchirte er auf 
dem MWadhtpoften vor der Steinthorwahe auf und ab; er kannte feine ſtrengen 
Befehle, namentlih auf die zu Stadt und Markt einfahrenden Bauermagen 
fireng zu vigiliren. Es galt ja die ftädtifche Acciſe! welch ein erhabenes 
Beifpiel der VBürgertugend! Er, der alte Glaffiker, der mit Sophofles und 
Euripides font griehifche Chöre fang, er, der daheim in Gedanken auf hohem 
Kothurn, im griechifchen Gewande dahergefchritten Fam, hier ftand er Schild 
waht als Bürgergardift und vifitirte die Landwagen nah „veracciöbarer‘ 
Butter! 

Und dort wieder dad gerade Gegentheil von dem alten PBrofefjor war 
der junge Advokat R., ein Bild des ſchalkhaften Humors, der jede Gelegen- 
heit wahrnahm, der ehrliebenden Bürgerwehr Eind anzuhängen, er, ein ge 
preßter Mann der Garde, ftreifte mit Humor jeded Mal den Zügel ab, mit 
dem ihn die eiferne Fauſt des Commandeurs zu bändigen fuchte. Unvergeßlich 
ift mir namentlich die nachfolgende Scene. Wieder einmal hatte diefer Luftige 
Gardift allen Befehlen zum Trotz das letzte Exereitium unaufhörlich ge 
ſchwenzt. Der Commandeur hatte befohlen: „J, da fol an dem Menſchen 
doch ein Erempel ftatuirt werden!” und jest rüdte fie an, mit Wehr und 
Maffen, die Ubtheilung beherzter Bürgermwehrmänner, die den hartnädigen 
Cameraden, „wenn es fein muß, mit Gewalt“, zum Exercierplatz abholen 
wollte. Das Detachement marfchirte feierlih die Straße Hinab; es fahte 
Poſto vor dem Haufe des Delinquenten. Die Morgenſonne leuchtete lieblich 
in die Gaſſe. Beim Attentäter aber waren bie Fenfter noch verhangen; 
vermuthlich erfreute er ſich noch eined gefegneten Morgenſchlafes. Der 
fommandirte Lieutenant trat in das Schlafzimmer des Gardiften. Der erhob 
fih verwundert in feinen Betten, wo er mit größter Gemüthsruhe den Befehl 
ſeines Commandanten entgegennahm. Gr nahım äußerft bedächtig zuerft den 
einen Etrumpf zur Hand, dann den andern, und ebenfo langfam zog er die 
Stiefel an, — dem Herrn Lieutenant wurde Zeit und Weile lang. Auch die 
Gameraden draußen zeigten fich bereit? höchſt ungehalten. Der Delinquent 
rief inzwifchen nach der Dienftmagd; er flüfterte ihr heimlich zu: „Eine 
Drofhfe!” — Die Magd eilt von dannen. Nun endlich ift der faumfelige 
Gardiſt mit dem Anzug ins Klare. Er tritt in Uniform auf- die Straße. 


267 

Die Sameraden reihen ſich zur Escorte für den Sträfling, der natürlich ein 
ernſtes Geſicht macht, wie e8 der michtige Augenblick mit fih bringt. Eben 
will der Lieutenant fein: „Marſch!“ ertönen laffen, — da nahet die Drofchke. 
Wie ein Blis fährt der Advofat mit Käppi, Ober: und Untergemehr in die 
Drofchke, ruft: „Nah dem Erercierplag!* und Schlägt die Wagenthüre zu, — 
Alles in einer Secunde, — ſpornſtreichs jagt die Drofchfe davon, — und 
halt! Halt! ale Bürgermehrmänner in vollem Galopp hinterdrein. Sie 
dürfen auf Feinen Fall ihren Arreftanten verlieren. Welch' eine Berufätreue ! 
Sie laufen, daß ihnen der Schweiß von der Stirne rinnt. — 

Mitten hinein in diefed tolle Leben, zmijchen diefe prächtigen Figuren 
mit den feierlich ernten Gefichtern und der Iuftigen Uniform, mitten hinein 
in da® jteif hölzerne Erercitium, in die heitern Scenen der Wachtſtube und 
die Großthaten der Parade, mitten in die ganze närrifche Welt tönte plötzlich 
der Ruf: „Die Bürgermehr ift aufgelöſt!“ So ging aud für Roſtock diefes 
Wort in Erfüllung, das von einer Stadt zur andern, durch ganz Deutſch— 
land gellend dahin flog. 

Die Bürgergarde war aufgelöft; die Gewehre hatten richtig ihren Käufer 
gefunden. Schade, follten die 1000 Infanterieſäbel nun ungenützt verfommen ? 
Und die vielen Patrontaſchen und alle die fchönen Käppis mit dem hohen 
Federbufh? So war ed eigentlich Bin glüdlicher Einfall, wenn Jemand vor: 
hlug, die acht Compagnien Bürgergarde nun einfah ala „Fahnencorps“ 
und „Feuerwehr“ fortbeftehen zu laffen. Und richtig, fo geſchah ed. Wer 
als ſtolzer Bürgergardift ahnungslos Abends zu Bette gegangen war, jtand 
nun auf ein Mal am andern Morgen ald ordinairer Feuermenſch wieder auf. 
Das gab ein allgemeines Lamento. Nein, fo daftehen zu müffen, dicht bei 
der Spritze und vor den Waſſerkufen, in der alten berühmten Uniform ber 
Bürgergarde, und in einen Kreid um dad euer herumzutreten, damit das 
Haus fozufagen mit einer gemiffen Feierlichfeit herunterbrennen könne, nein, 
dad war doch zu viel. Als daher die Fahnencorp® zum erften Male fi 
fammeln follten, waren auf einmal die fämmtlichen Offiziere und Gorporale 
nit zu haben. Mit der Auflöfung der Bürgergarde hielt fih Fein Gardift 
mehr, gefchweige ein Eorporal, Kieutenant, oder gar der Herr Hauptmann zu 
diefem Dienft ald ordinärer Feuermann verpflichtet. 

Erſt eine geftrenge Verordnung des Rathes brachte Ordnung in die neuen 
Dinge. Feder angehende Bürger follte von nun an den Dienft in der Feuer: 
wehr drei volle Jahre hindurch leiften, und feinen Eid ald Bürger in Uni- 
form vor dem Magiftrate der Stadt ſchwören, in derfelben Uniform, die ſchon 
manchen Profeſſor und Juſtizrath als Bürgergardift fo hübfch gekleidet hatte. 
Unglücklicher Weiſe war aber mit der Auflöfung der Bürgerwehr auch die 
vorfihtige Rathsverordnung in die Brüche gegangen, wonach jeder angehende 


268 


Bürger in feiner Uniform ſich vor der Ableiftung des Bürgereides beim Com— 
mandanten der Garde melden und über feine Gquipirung und fein Erereitium 
fi näher ausmeifen mußte. est Fam ein Uebelſtand zur Geltung, der bie 
her Flug vermieden war. Jeder konnte fich für diefen kurzen feierlichen Augen- 
blick der Eidleiftung al® Bürger nunmehr bequem mit der Uniform eines 
guten Freundes außhelfen. So famen merkwürdige Erfcheinungen bei diefem 
feierlichen Moment zu Tage, da nicht jede Uniform einem Jeden angepafit 
war und mancher MWaffenrod zu diefem feterlihen Actu8 von dünnen und 
dicken Freunden gleich gerne angeliehen ward. 

Eine weitere Folge war denn natürlih, daß bei Erercierübungen nur 
ein Heiner Theil der Bürgerwehrmänner in Uniform erfchten und daß die 
Mehrzahl zu Haufe blieb, weil ihnen, dem Einen dad Käppi, dem Andern 
der Waffenrock und dem Dritten vielleicht Beides fehlte. 

Bon den prercitien diefer Handvoll Bürgermehrmänner merden denn 
noch heute höchſt ſpaßhafte Gefchichten erzählt. Ein Feldweibel, welcher früher 
unter dem Militär gedient, hatte die jungen Feuerwehrmänner in dem fchwie 
rigen Grereitium zu unterrichten. Unglüdlicher Weiſe nun litt diefer Feld- 
weibel unaufhörlih an einem fürdhterlichen Durft; dabei war es ein zweites 
Unglüd, daß nicht weit von dem Exercierſchuppen eine Schenkwirthfchaft lag. 
Daher ereignete fih wohl das folgende Manöver. Sobald der Feldweibel 
feine jungen Efeven in Reih und Glied aufgeftellt hatte, begann er fein 
Gommando: „Links um! Marfh;" da aber die Schenfe zur Rechten lag, 
machte das ganze Bataillon auf dad Commando des Weldmweibeld einmüthig 
Rechtsum und marſchirte fpornftreidy®, ohne fich halten zu laffen, zur Thür 
hinaus, direct in dad Schenkhaus hinein. Der alte Feldweibel fuhr natür- 
lich ſcheltend hinterdrein. Er lamentirte: „Kinnings, Kinningd, datt geht 
jo nit! Wenn de Senator fümmt, find wi all verlurene Minfchen!” Und 
wenn dann auf feinen Weheruf das volle ſchäumende Seidel ihm entgegen 
duftete, wiederholte er ſchmerzlich refignirt die Worte: „Kinnings, Kinnings, 
wenn be blos nid kümmt.“ — Freilich wurden hernach einzelne faumfelige, 
undanfbare Bürgerwehrmänner von ihm in fein Taſchenbuch notirt, weil fie 
zu diefen Erereitien nicht erfchienen waren. Sie wurden in Strafe genommen 
und bei wiederholtem Nichterfcheinen vor dad Bericht geladen. Es begegnete 
einem folchen Mebelthäter auch mohl einmal, daß er vom Herrn Senator 
befragt wurde: „Haben Sie eine volftändige Bürgergardiftenuniform?* wo— 
rauf dann wohl mit der größten Geſchwindigkeit von Seiten des beforgten 
Feuerwehrmannes ernfthaft verfihert wurde: „Die Einzelheiten fehlen, das 
Uebrige ift da,“ was der Herr Senator in der Geſchwindigkeit ganz überhört 
haben muß. 

Nicht viel beffer ging es diefem Corps, wenn zu einem entftehenden 


& 


Brande der Trommler die Männer feiner Compagnie zufammenrief. Da 
fehlten auch die Einzelheiten und das Uebrige war da. Namentlich bei einem 
Feuer zur Nachtzeit, wo dann oft ganz feltfame Bürgerwehrmänner, in dem 
alermerfwürdigften Coftüm auftauchten. Wann hernad) das Eleine Häuflein 
der Plichttreuen beim Apell nad) dem Namen aufgerufen wurde, übernahm 
@ wohl die Handvoll erfchienener Wehrmänner mit gutem Humor aus reiner 
Sreundfchaft bei jedem Mann der Compagnielifte zu antworten: Müller? 
‚Hier!“ Fiſcher? „Hierl“ Lehmann? „Hier!“ und fofort ad infinitum. 
Damit war denn allen Bedürfniffen geholfen. — Kein Wunder, daß fid 
diefe Mebelftände von Jahr zu Jahr vergrößerten. Mancher ftile Wunſch 
nad) einer Auflöfung diefer Bürgerwehr wurde öffentlich laut. Auch in den 
Zeitungen erfholl dann und wann ſchon ein heller Klageruf. Freilich ward 
ed dem jungen Bürger nicht möglich, von feinem Dienft ald Bürgermehrmann 
fh zu befreien, wenn er nicht etwa von vorn herein durch feinen Stand 
geſetzlich dieſer Bürde ledig war, oder wenn er nicht juft, wie ein guter 
Freund von mir, ald VBürgerwehrmann feinem Gameraden eine tüchtige Ohr— 
feige applieirte. Er ward wegen diefer Unthat vor das Ehrengericht geladen 
und in feierlicher Seffion Kraft ded Geſetzes für immer aus der Bürgermwehr 
audgeftoßen. Diefer Teste Vorfall muß nicht publif geworden fein, fonft, 
fürchte ih, hätte es vielleicht Ohrfeigen geregnet. 

Endlih ſchlug die Erlöfungdftunde Der Magijtrat der Stadt Roftod 
empfahl die Auflöfung der VBürgerfeuerwehr, und die Bürgerfchaft gab „mit 
Vergnügen“ ihre Zuftimmung. So ward denn endlih am 1. März 1868 
diefed Inſtitut zu Grabe getragen. Man gab der Kriegdfaffe anheim, für 
die „beitmöglichfte Veräußerung der Waffen und Monturen“ Sorge zu tragen. 
Und wieder begann hier dad Schickſal mit feinem Humor mitzufpielen. Die 
ehrlichen alten Waffenröcke, welche die Stadt für die armen Feuerwehrmänner 
dargeliehen hatte, wurden freilich für hundert und einige Thaler glücklich 
verfleigert. Nicht fo die Waffenftüde. Es begann ein großartiges Audbieten 
dieſes beau reste der alten Bürgergarde. Man denfe nur, welches Angebot 
auf diefe Waffen gemacht wurde. Ein Hamburger Handeldmann bot nämlich, 
— hört! hört! — für jeden Säbel eines Dfficierd oder Feldwebels 20 Sgr., 
für jede Trommel 19, Thaler, und für jedes Käppi mit Haarbuſch 21/, Sgr. 
Denkt! für diefe Herrliche Zierde der Bürgergarde, inclufive der goldenen Sonne 
mit dem Vogel Greif darin und inclufive Federbufh zwei und einen halben 
Silbergroſchen! für jede Batrontafche fogar nur Anen Silbergrofchen und drei 
Pfennige. Während der Magiftrat nicht abgeneigt ſchien, für diefen Preis 
die Zierftüde der alten Bürgergarde loszuſchlagen, wollte die Bürgerſchaft 
doch auf diefen großartigen Handel nicht recht eingehen. „Der gebotene 
Preid“, meinten fie bei den bezüglichen Verhandlungen des erwähnten Jahres, 


270 


„fi denn doch zu fpöttifh und deshalb ziehe fie ed vor, diefe Gegenftände 
noch einige Zeit länger auf demjenigen Rager zu halten, auf welchem fie jeht 
fett faft 20 Jahren gelegen haben,“ — wenn anders nicht noch eine Einigung 
zwifchen Rath und Bürgerfchaft dahin erzielt werde, daß diefe Gegenftände 
Öffentlich in einer Auction verfauft würden. ine Einigung über diefen 
Verkauf ift meines Wiſſens noch nicht erzielt, und fo liegen denn die ſchönen 
Sinfanteriefäbel, die Trommeln und Patrontaſchen, die Käppis nicht zu ver 
geffen und die hübfchen Wederbüfche heute und noch einige Zeit länger auf 
demjenigen Lager, „auf welchem fie jest feit fait 20 Jahren gelegen haben.“ 

Nur in einem Punkt freilich bedarf died noch einer Berichtigung. Rath 
und Bürgerfchaft der Stadt Roſtock find nämlich, — mas ich beinahe ver- 
geffen hätte, zu erwähnen, — dahin überein gefommen, 12 Garpiftenfäbel, 
ein Käppi, eine Trommel und eine Patrontaſche der alten Roſtocker Bürger: 
wehr ald Requifitenftüde an das Roſtocker Stadttheater abzugeben. Es wird 
alfo auch in Zukunft noch mit diefen alten Reſten der Bürgergarde Theater 
gefptelt werben. 

Und hierin, meine ih, liegt ein eigener Humor! Dies ift das kleine 
Ende der großen Comödie. 


Bom deuffhen Reichstag. 


Berlin, den 8. November 1874. 


Fünf Sitzungen hat der Reichstag bis jett gehalten. Die erfte am 
Gröffnungdtage betraf die gewöhnlichen Ginleitungsformalien. Die zweite am 
31. Oktober fah die Vornahme der Präfidentenmahl. Daß Herr von Forkenbeck 
die erſte Präſidentenſtelle wiederum übertragen erhielt, war in Folge einer 
feltenen Uebereinftimmung de3 ganzen Haufed. Daß man zur erften Bice 
präfidentenftelle den Freiherrn von Stauffenberg berief, rechtfertigt fi durch 
die Rüdficht auf die füddeutfchen Reichsgenoſſen ſowie durch die Berfönlichkett 
des Erwählten. Daß man die zweite Vicepräfidentenftelle wiederum dem 
fortfchrittlihen Führer Herrn Dr. Hänel übertrug, ift unfere® Erachtens nicht 
zu rechtfertigen. Die Verantwortung diefer Mahl trifft die auafchlaggebende 
nattonalliberale Fraktion. Die erfte Vicepräfidentenftelle war bisher in der 
Perſon des feitdem zum Botjchafter in Parid ernannten Fürſten Hohenlohe 
mit einem Freiconfervativen und Süddeutfchen beſetzt geweſen. Gewiß hatte 


2 271 


die freiconfervative Fraktion wiederum den Anſpruch auf die Stimmen der 
Nationalliberalen für tie Berufung eines Freiconfervativen in das Präfidium 
des Haufe. Konnte ed nicht wieder die erfte Vicepräftdentenftelle fein, fo 
hätte die zweite genügt. Eine Stelle im Präfidium gebührt aber wenigftend 
der Fraktion, die ebenfo nattonal ift, al® die nationalliberale Partei, und 
ve, was ihrer Anzahl abgeht, durch ihre Bedeutung erſetzt. Wenn die national« 
iberale Fraktion unter anderm geltend gemacht hat, die erfte Bicepräfidenten: 
tele gebühre ihr, meil Herr von Forkenbeck als der allgemeine Vertrauens 
mann des Haufed zu betrachten jet, fo iſt died doch ein ſehr unbilliges 
Raifonnement und überdem eine unangenehme Reminidcenz aus der einftigen 
Fraktion Grabom. Wenn eine Fraktion dad Glück hat, daß eines ihrer 
Mitglieder das allgemeine Vertrauen erwirbt, fo fann doch unmöglich in Folge 
defien diefed Mitglied der Ehre verluftig gehen, der befondere Vertrauen® 
mann derjenigen Kraftion zu fein, der er angehören würde, wenn er nicht 
die Präfidialgefchäfte zu leiten hätte Der wirklich durchſchlagende Grund 
für Herren von Stauffenberg konnte nur feine Eigenſchaft als angefehener 
und verdienter Reichsgenoſſe in Süpddeutfchland fein. Daß nun aber die 
freiconferpative Fraktion aud; bei der zweiten Bicepräfidentenftelle nicht be 
üdfihtigt wurde, das hat fchlieglic Doch nur den Grund, das Band mit 
kr Fortſchrittspartei unverfehrt zu erhalten, um ja nicht in Bergeffenheit 
iommen zu lafjen, daß man ein Stüd Oppofition bleiben möchte, daß man 
aus der Oppofittondrolle nur von Fall zu Fall herauätritt, und daß man in 
jedem Augenblick wiederum eine ganze Oppofition werden könnte. Auch eine 
Regierungdpartei darf niemals auf die felbjtändige Prüfung verzichten. Aber 
das iſt etwas anderes, ald das Liebäugeln mit einer principiellen Oppofition. 
Und dünft, dies ewige Vertufchen der Wahrheit, daß die Grundlage der 
nationalliberalen Partei und die Grundlage der Fortfehrittöpartei unerträglich 
und einander entgegengefest find, Fann eined Tages der nationalliberalen 
Partei ſchlimme Früchte bringen. 

Die dritte Reichstagsſitzung fand am zweiten November flat: Es 
dandelte ſich um zahlreiche Fleinere technifche Vorlagen, die bis zum Abſchluß 
der zweiten Berathung gefördert wurden. Die vierte Sigung am 4. Nov. 
brachte außer dritten Berathungen einiger technifchen Vorlagen die erfte Be- 
tatdung eined Gefegentwurfs, betreffend die Einführung der Reichsmünz- 
gefege in Elſaß-Lothringen. Bei diefer Gelegenheit Fam es zu einem Borjpiel 
der umfaffenden Erörterung unferer Münz- und Gelöverhältniffe, welche ſich 
an den Banfgefegentwurf ſ. 3. anfnüpfen muß. Unfere Berichterftattung 
wird diefe große Materie in ihrem richtigen Zufammenhang bei Gelegenheit 
der Berathung des Bankgeſetzes zu beleuchten haben. Wir geben alfo über 
die bisherigen vorläufigen Aeußerungen verjchiedener Reichstagsmitglleder 


272 


hinweg, mit Ausnahme eined einzigen Punktes. Nah den Weußerungen 
der competenteften Reichdtagsmitglieder ſowohl, ald des Bundesbevollmädhtigten 
und preußifhen Finanzminiftere Camphauſen ftellt fih die Handeldbilanz für 
Deutfhland augenblidlih ungünftig und das Abſtrömen der Reichsgold— 
münzen wird dadurd bis zu einem beftimmten Grad eine Nothwendigkeit. 
Es wurde nun gejagt, die Handeläbilang werde und nicht immer ungünftig 
fein und da® Gold werde in befferen Zeiten mwiederfommen. 

Das wird fich hoffentlich bemahrheiten. Woher fommt aber die Gefahr, 
daß eine längere und felbft eine fürzere Abwefenheit der deutfchen Goldmün- 
zen aus dem einheimifchen Verkehr zum dauernden Berluft unſeres Goldes 
führt? Uns dünft, bier liegt die große Schattenfeite einer blo8 nationalen 
Währung auch in denjenigen Geldforten, melde der Beftimmung nicht zu 
entziehen find noch entzogen werden dürfen, dem internationalen Verkehr zu 
dienen. — Die erite Berathung eined Gefezentwurf® über den Markenſchutz 
führte zu dem Beſchluß die Einzelberathung ded Entwurfs im Plenum des 
Haufed ohne Vorberathung dur eine Commiſſion eintreten zu laflen. — 

In der 5. Situng am 5. November ftanden der Gefegentmurf über den 
Randfturm und den Gefegentwurf über die Controle der Beurlaubten zur 
erften Berathung. Beide Entwürfe wurden einer und bderfelben eigend zu 
bildenden Commiffion übermwiefen. — 

Mit derfelben Regelmäßigkeit, wie die großen, zur Arbeit verfammelten 
Reihäkörperfchaften, forgt der in Unterfuhung befindliche, aber haftfrei 
hohe Reichsbeamte für die Inanfpruchnahme der dffentlihen Aufmerfjamteit. 
Und zwar liegt er diefer Sorge lediglich aus eigener nitative ob. Am 4. 
November brachte die Kreuzzeitung wieder eine Veröffentlichung des Grafen 
Harry Arnim in Form eined Privatbriefe® an einen Vetter. Der Graf be 
Ihäftigt fi in diefem Schreiben mit der Auäftreuung, daß er dem Börfen 
fptel nicht fremd geblieben und folhem Spiel Einfluß auf fein Verhalten 
geftattet habe. So lange dergleichen Beſchuldigungen nit vor Gericht durd 
den Öffentlichen Ankläger begründet merden, tft die Ausftreuung gewiß feht 
unreht. Aber mie vertheidigt fi) der Graf? Man muß geftehen, er hat 
die Feder für dieſes Privatfchreiben, das aber augenſcheinlich nur um der 
Beröffentlihung gefchrieben, ungewöhnlich tief in Galle getaucht. Das Schre- 
ben ift demnach pifant genug audgefallen, nur leider hat die Galle alle 
Logik ertränft. Nachdem die Brieffteller erklärt, daß eine „beherzte Abfer- 
tigung“ der Rüge, feinerfeitd in der Preffe unternommen, nicht? beweiſen 
würde, unternimmt er fofort eine ſolche Abfertigung. Dies ift ein rheto- 
rifches Mittel, dad, um wirkfam zu fein, einer feinen Handhabung bedarf. 
Mie fällt nun die „beherzte Ubfertigung“ aus? Der Graf verfichert, das Fleiſch, 
was er für feinen Börfenverdienft Faufen könnte, dürfte er am Charfreitag 


273 


effen , ohne die Faften zu brechen. Eine fehr hübſche Umfchreibung, die fich 
die zahlreiche Schaar profejfioneller Börfenfpieler vielleicht aneignen wird, die 
viel gefpielt und oft gewonnen, aber f&hließlich nicht? behalten Haben. Muß 
man immer was davon tragen, wo man dabei gemwefen iſt? Der Graf fcheint 
es zu glauben. Das wäre eine angenehme Neuerung. Um feine Unſchuld 
am Börfenfpiel, das ihm Keiner nachſagen wird, der etwas auf fich hält, 
bevor der Graf öffentlich überführt ift — meiter ind Licht zu ftellen, werfichert 
der Briefiteller feine Unfenntnig der Worte report, deport u. f. w. ber 
Niemand hatte ihm infinuirt, daß er Agent gemefen. Um das Maaß diefer 
wunderbaren Logik vol zu machen, vermweift der Brieffteller jeden, der auf 
feine Vermögensverhältniſſe neugierig ift, an Herrn Hanfemann. Herr Hanfe- 
mann wird aber doc, wohl jeden ſolchen Neugierigen zur Thür hinauswerfen 
laſſen; und Fann ſchließlich Herr Hanfemann felbft die gefammten Operationen 
jedes Gefchäftsfreundes überfehn? Der Schluß des Briefed ift mit concen= 
trirteer Galle gefchrieben und die geſchickte Bosheit wird an der Stelle, auf 
die fie zielt, hoffentlich die Fünftleriiche Würdigung finden, die fie verdient. 
St e8 aber nicht eine komiſche Behauptung, die Öffentliche Meinung fet in 
ben Händen eines Generalpächtere, wenn man felbft eine erfiedliche Anzahl 
Zeitungen — wir fagen natürlich nicht — „gepachtet”, fondern: — zur 
Verfügung hat? C—r 


Die „Shallenger“- Spedition. 


Die Erforfhung der Meeredtiefen, indbefondere die Keititellung der 
Temperaturverhältniffe und magnetiichen Bedingungen, ſowie die Erfenntniß 
ded Thierlebens in den Tiefen der Dceane bat neuerdingd dur verbefjerte 
Inftrumente eine bemerkenswerthe Förderung erfahren. Allerdings war 
Forbes Irrthum, der den Meereätiefen völlige Dede andichten wollte, dur 
Waliſch's, Heuglin’d u. A. bahnbrehende Unterfuhungen, namentlich 
durch Sondirungen in den tiefiten Einfenfungen des atlantifchen Beckens, 
welhe einen ungemeinen Reihthum an Organismen in diefen Abgründen 
nachwieſen, Tängft widerlegt worden. Immer aber fehlte ed noch an den für 
eine genaue Beobachtung der Erjheinungen in diefen gewaltigen Meerestiefen 
unbedingt nöthigen Hülfämitteln, namentlih an einer gut conftruirten Senf: 
blei und Rothungd-Vorrihtung, endlich an Thermometern, welche den enormen 
Drud großer Waflermaffen auszuhalten und ohne Nachhülfe durch erhebliche 
Gorreeturen den Wärmegehalt der Tiefen anzuzeigen im Stande waren. Den 
legteren Erforderniffen haben Dr. Müller und Cafella durd Herftellung 


von Thermometern, die durch eine Kapfel mit Weingeift vor der ie 
Gtenzboten IV, 1874, 


274 


gefhüst find, im erfreulicher Weife zu entiprechen gewußt; andererſeits bat 
man in England eine Lothleine hergeftellt, die, obwohl fie leichter und halt- 
barer ift und fchneller arbeitet als die früheren Rothe, doch größere Maſſen 
(bis 1500 Pfund ftatt fonft 630 Pfund) in die Höhe zu bringen vermag. 

Mit diefen verbefjerten Inſtrumenten audgerüftet, haben britiſche 
Gelehrte, melde auf Dr. Carpenter's, des befannten Hydrographen der 
Royal Society, VBorfhlag im December 1872 auf dem Erpeditiongjhif 
„Challenger“, Kapitain Nared, von der Rondoner Regierung zur Vor. 
nahme von Tieffedforfhungen im atlantifhen Dcean audgefandt worden find 
und fi gegenwärtig in den auftralifhen Gewäſſern befinden, fo bemerfen?- 
werthe Ergebnifje erzielt, daß wir im Intereſſe unferer Lefer zu handeln 
glauben, wenn wir Näheres über die wichtigeren Beobachtungsreſultate nad 
dem Berichte Prof. Thomſons, des Chefs der wiljenfchaftlichen Erpeditton 
(zu der u. U. Mofely, v. Willemoed-Suhm, 3. Murray und 3. J. Buchanan 
gehören) bier folgen lafjen. 

Der „Challenger trat am 21. December 1872 von Portsmouth aus 
die Fahrt nad Gibraltar an, um von dort aus den Atlantifchen Deean zu 
kreuzen. Mährend diefer erften Durchfreuzung, welche vom 26. Januar 1873 
bi8 zum 16. März 1873 (Ankunft in St. Thomas) ftattfand wurden von 
dem „Challenger“ 22 Tieffeelothungen vorgenommen und 12 Reihen von 
Temperaturmefiungen in den verfchiedenften Tiefen beftimmt, Unterfuchungen, 
welche ein überaus werthvolles Material einerfeits für Feftitellung der Geftalt 
de8 Bodenreliefs des atlantifchen Dceand, andererfeits für die Beſtimmung 
von Sfothermal » Linien und ihre Tracirung innerhalb der verfchiedenen 
Strömungen und Stromgebiete des atlantifhen Oceans lieferten. 

In erfterer Hinficht mag zur Kennzeichnung des Grades unferer früheren 
Auffaffung von der Configuration des Meeredbodend im atlantifchen Dean 
auf die Thatfache hingewieſen werden, daß vor nicht Ianger Bett auf ber 
großen und belebten Weltverkehrsſtraße zwifchen Europa und Nordamerika, 
wo fortwährend Dampfer und Segelfchiffe curfiren, nad den Seefarten 
bald eine 35 Faden tiefe und 320 Seemeilen lange Bank (die Beaufort- oder 
Milne-Bank), bald ein tiefes Koch, bi8 zu 4300 Faden — 25,800 Fuß Tiefe, 
vorhanden fein follte, während an anderen Stellen noch riefigere Tiefen, bid 
zu 6600 Faden, in den Segeldtrectiven und Karten figurirten. Die Mefungen 
des „Challenger“ haben dieſe mythiſchen Phantafiegebtlde aus den 
nautifchen Hülfsmitteln für immer ausgemerzt. Die größte von ihm ge 
fundene Tiefe beträgt nur 3875 Waden, und zwar wurde diefe nicht an den 
fonft als tieffte Einfenkungen angefehenen Stellen, fondern dicht bei den 
Meftindifhen Inſeln, einen Breitengrad nördlid von Anegada, er 
mittelt; zwet andere Abftürze von 5070 und 3700 Faden Tiefe reducirte der 


275 


‚Shallenger“ auf 2700 und 2650 Faden. Während der Meeresboden an der 
europäifchen Weſtküſte, mit einzelnen Ausnahmen z. B. im Golf von Biscaya, 
fh ziemlich allmälig zu dem Tiefferbeden des mittleren Theild des Oceans 
hinabfenkt, ift der Abfturz an den Inſeln des Garaibifhen Meeres 
viel jäher. Nahe bei Cuba, 3 Seemetlen von der Hüfte, wurden 1320, 
milhen Cuba und Haiti 1750 Baden, unfern der Südküſte von Haiti ſogar 
2136 Faden Tiefe gemeffen. Dies hatte jhon Irwing (1870) bei der 
%gung des fubmarinen Kabeld nad den Fleinen Weftindifchen Inſeln ge 
funden; es murden von ihm zwifchen Santa Cruz und Sombrero 1825, 
zwiſchen Santa Lucia und St. Vincent 1346 Faden Tiefe ermittelt. Won 
Jatereſſe wird die Notiz fein, daß dad Loth ded „Challenger“ — in der 
Schwere von 3 Gentnern — bei St. Thomad 1 Stunde 12 Minuten ge: 
brauchte, um in 3900 Faden Tiefe auf dem Boden zu gelangen, während zum 
Hinaufwinden der Leine (ohne Gewichte) 2 Stunden Zeit erforderlich waren. 

Der „Challenger“ durchkreuzte den Atlantifhen Deean im Jahre 1873 
dreimal, und gewann hierbei bereit3 zuverläffige Grundlagen für eine Mapptrung 
der Bodenumriffe de Nordatlantifchen Meeres. Das Bodenrelief des 
leßteren läßt fih graphifch durch die Form eined S, aber umgeändert in ein 
liegended , veranfchaulichen. Dieſes Bild ftellt die Trace ded von der Höhe 
vr Bahama⸗-Inſeln bis nach der Afrikanifchen Weftküfte Hin, zwifchen Canari— 
ſten und Cap Verde-Inſeln, von Weften nad Dften ftreichenden tiefſten 
Kanals dar, der ſich 2500 und mehr Faden tief in den Boden einfenft. 

Zwei andere tiefe Rinnen gehen von Norden nad Süden. Die eine 
sieht fich zmotfchen Madeira und San Miguel an der europäifchen Seite des 
Deeans bi zur Breite des britifchen Nordſee-Kanals und an der amerifanifhen 
Seite zwifchen der Milne und Neufundland» Bank bis zu 480 N. B. hin, 
die andere ftreicht zu beiden Seiten der Bank „Dolphin Rife* (öftlich von 
den Antillen) hin und dehnt fich weſtwärts bis 12 N. B. öſtlich, parallel 
mit der afrifanifchen Küfte, aber bis zum Tiefbecken des füdatlantifchen Oceans 
aus. An diefe Einſenkungen ſchließen fi nördlich und füdlid von den 
Azoren Plateau von 2000 Faden Tiefe. Diefe erftrecden fich oftwärt bie 
zum 520 N. B., weſtwärts bis zum Eingange in die Daviäftraße (Grön: 
land); im Süden der Azoren ftreihen fie öftlih von der Brafilianifchen Küfte 
zwiſchen St. Paul Rocks und dem Giland Fernando Noronha bin, um dann 
weiter ſüdlich ebenfalld in die füdatlantifche Tiefſee Hinüberzuführen. Es 
find died nur die Hauptlinien für Feitftellung des nordatlanttfchen Boden- 
telief®, deren weitere Firirung natürlich fortgefester Mefjungen bedarf; fie 
haben aber die Bahn für diefe weiteren Feſtſtellungen fo wefentlich geebnet, 
daß die vollftändige Mappirung des Bodenreliefs im nordatlantifchen Ocean 
feinen befonderen Schwierigkeiten mehr begegnet. 


276 


Ebenfo beachtenswerth find die Feltftellungen des MWärmegehalted der 
Meeresfhichten. Die auf dem „Challenger“ befindlichen Beobachter gingen 
hierbei in der MWeife zu Werke, daß fie durh 7—10 gleichzeitig in dad Meer 
hinuntergelafjene Thermometer die Temperatur der über einander gelagerten 
Stromſchichten, möglihft bis zu 1500 Faden Tiefe, in ein und derfelben 
Beobachtungéperiode feitzuftellen fuchten. Dabei wurde auch fonft alle Sorg- 
falt beobachtet, welche der Bedeutung der zu erzielenden Refultate entiprechend 
iſt, insbefondere wurden die Fehler eliminirt, welche der Drud des Waſſers ıc. 
in den Inſtrumenten hervorzubringen pflegt. 

Es iſt felbftverftändlich, daß die Temperatur, je näher dem Meeresboden, 
defto tiefer finkt. Die Temperatur der Gemwäfler unter dem Aequator, öſtlich 
von St. Paul Rode, wurde ald normale In allen Schichten angefehen. 
Die Abkühlung wählt hier ziemlich rapid, proportional der Tiefe, dergeftalt, 
daß, während 3. B. an der Oberflähe 78° F. beobachtet wurden, in 60 
Faden Tiefe nur no 61,5 °, in 150 Faden 50°, u. f. w. Wärme fi fan- 
fanden. Die Grenze des Einfluffes der Sonnenftrahlen wurde auf 60-80 
Faden Tiefe feftgeftellt. 

Capitain Nared, der Kommandeur der Corvette „Challenger* hat die fämmt- 
lichen Zemperaturbeobadhtungen der Erpedition für den atlantifchen Deean 
in vier Jſothermal Sectionen zufammengefaßt. Diefelben erftreden 
fih, foweit die Richtung von Weft nah Dft in Betracht fommt, von den 
Bermudas nfeln nah den Azoren, von MWeftindien nad den Canarifchen 
Sinfeln, von Pernambuco über Fernando Noronha bis zum 14049' mw. L. 
v. dr. und von Bahia über Triftan da Cunha nad) dem Kap der guten Hoffnung. 
Auperdem find zwei Fothermal-Sectionen für die Richtung von Nord nad 
Süd, und zwar von 3454’ n. B. bis zu 26015°&.B., feftgeftellt wor 
den. Die erläuternden Tabellen geben die Temperatur der Meeresfchichten 
von 100 zu 100 Faden bis hinab auf den Meeresboden, dergeftalt, daß die 
Iſothermal-Linien verfolgt werden können. Beifpieldweife lauten die Daten 
für 32054’ N. B. 63022 W. L. v. Gr.: 

Oberfläche 60. 110. 350. 400. 450. 520. 680. 750. 870. 1230. 1590. 2360 
Fahrenheit 70° 709 65% 60% 55° 50% 450 40° 390 380 37% 360 35% 
Außerdem ift auf einer graphifchen Skizze durch dunklere oder hellere Farben- 
töne der MWärmegehalt der Meeresfchtchten marfirt worden. 

Es würde die Aufgabe, welche fich diefe Blätter geftellt haben, — ben 
Zweck der Anregung — überfchreiten, wollten wir alle Detaild des inftruc, 
tiven Begleitberiht8 von Mr. Thomfon bier wiedergeben. Erwähnt ſei nur 
noch, daß zwiſchen 60 und 40 n. Breite die Iſothermen des Waſſers durch 
den Einfluß des warmen Golfftrom. Gürteld an der Meftfeite des Atlantic 
in größere Tiefen herabgedrücdt werden. Sit diefer Gürtel überfchritten, fo 


277 


ſteigt das herabgedrüdte Waſſer wieder in die Höhe und die Iſothermen ent- 
ſprechen in ihrer Lage denfelben Schichten, die in der Section 1000 Seemeilen 
füdficher vorgefunden werden. In der Region, wo der Golfftrom gegen 
die Küften Europas trängt, ift wieder eine Alteration der Iſothermen wahr- 
zunehmen. Diefer Strom wird nämlich von den Küſten Europas zurüdge- 
mworfen, dringt ſodann, obwohl er bereitö 15° feiner Temperatur verloren 
hat, mit feinen wärmeren Waſſern in die fälteren Schichten ein und bewirkt 
fo, daß die Sfotberme 459 %., melde etwa dem Gebiete in 550 Faden 
Tiefe angehört, bis auf 700 Faden Hinabgeht, alfo diefe Schichten um etwa 
3 Grad über den Normal-MWärmeftand erhöht. Der Einfluß ded Golfſtroms 
erreicht in der Bai von Bidcaya felbft no die Schichten am Boden, fo daß 
diefe um 1° wärmer find, als in der Normalzone, während das Wafler 5. 2. 
an den nordamerifanifchen Oftküften in den Schichten am Meeredboden um 
2,,° Kälter ift, al® unterm Aequator, Dank dem Einfluffe der Gemäfler des 
in der Tiefe hinftreichenden arktiſchen Stroms. 

Es ergiebt fi aus dieſen Feſtſtellungen die intereffante Thatfache, daß 
zwiſchen Amerika und den Azoren ein ungeheured Warmmwaffer-Refer: 
voir eriftirt, deſſen Flächeninhalt etwa 2 Millionen Quadratmeilen (engl.) 
und deſſen Tiefe 1000 Fuß beträgt, — Mächtigfeitöverhältniffe, welche den 
erheblichen Einfluß dieſes Baffind auf die klimatiſchen Verhältniffe Weft-Eu- 
ropas erflärlich machen. 

Die Baffind des füdatlantifchen Deeans find zum Theil nicht unerheblich 
fülter, ald die entſprechenden Schichten de Nord-Atlantic; immer aber zeigen 
fie noch einen höheren Temperaturftand, al® den der äquatorialen Gemäfler. 

Um 17. December 1873 feste der „Challenger“ feine Reife von der 
Simond- Bai (füdlihften Bai ded Kaplandes) nach Kerguelens-Land fort, 
um auch im indifchen Deean feine Tieffeeforfhungen vorzunehmen, melde die 
gerechte Aufmerkſamkeit der wiffenfchaftlichen Kreife verdienen. 

| G. T. 


— — — —— — — — — 


Der obligatorifhe Ankerricht in der franzöſtſchen 
Sprache im Großherzogkfum Luxemburg. 


Wir Quremburger find nicht in demfelben Falle, wie die Bewohner der 
neuen Reichdlande in Elfaß-Lothringen, wir haben nicht während des legten 
Jahrhunderts zu Frankreich gehört, und dennoch ift bei und der Unterricht 
der franzöfifchen Sprache obligatorifch in den Primärſchulen. Freilich! unfere 
Fransquillons, welche ſchon die Sache wilfen müffen, behaupten ja auch, wir 
feien Franzoſen dur und durch, mit Leib und Seele, und unfere Bauern, 


278 


d. h. unfere Paftöre, wollen ein für allemal nichts von Deutfchland wiſſen. 
Weßhalb indeffen diefe unfere Bauern deutfh ſprechen, und Fein Sterben? 
wörtlein Franzöftfch verftehen, und unfere Baftöre Deutſch in der Kirche lehren 
und predigen, davon verftehen ſolche „Preußen“, wie Unfereins, nichte. Dad 
weiß unfer großer Ethnologe und Ethnograph, Herr A. Fund, beffer. Er 
meint, wir feten zwar ein deutfchiprechender Volksſtamm, aber von franzöfiicher 
Abftammung und von franzöfifchem Weſen und Geifte. Nur vergibt er und 
zu fagen, wie wir, als grundfranzöfifcher Volksſtamm zu unferer altfächfifchen 
Sprade, und zu unfern biederben altdeutſchen Volksſitten, Volksbräuchen 
Volksſagen und Märchen, und VBolfäliedern gekommen find. — — — Das 
„Ruremburger Wort“, das fromme und wahrhaftige Blatt, dem es bei feinem 
eifrigen Fatholifhen Chriſtenthum auf ein biächen weniger Logik nit an 
fommt, will nun auch heute franzöfifh fein mit Haut und Haar, während 
es noch fur; vor 66, wir meinen vor Sadowa, mit Haut und Haaren deutid 
fein wollte. Wie e8 fcheint, hat Sr. Gelahrtheit, Herr A. Fund, das „Wort“ 
feitdem eine Befjeren belehrt. Wielleicht auch hat e8 der „Preuß“ bei Sadowa 
getban, und zwar durch feine Argumenta ad hominem Defterreich gegenüber. 
Weil Defterreich nicht deutfch bleiben wollte, oder durfte, fo mollten ober 
durften es auch feine vielgeliebten Lehrer und Meifter, die Jeſuiten, nicht 
bleiben. ohne fich felbft in den Bann der hl. Kirche zu thun; und — feit 
der Zeit find fie franzöfifch, und wer nicht mit ihnen tft, der — iſt wider fie, 
wie da® Evangelium lehrt. — Früher arbeiteten die Jeſuiten aus allen 
Kräften an der Ausdrottung der franzöfifchen Sprache im Lande, namentlid 
in der Volksſchule. Heute fol die ganze Welt bei und franzöfifch lernen, 
um — mit nah St. Hubert in Belgien, zur fligmatifirten Heiligen von 
Bots d’Haine, nad Lourdes, Paray le Monial, und die taufend andern 
MWunderorte in Frankreich, wallfahrten zu können. Heute ift das Deutjche 
in den Augen unferer frommen Sefuiten Fein Deutfc mehr, nur noch 
„Preußiſch“. 

Noch Heute kommt unſere „Indeépendance“, die gutwillige Wiederkäuerin 
der Enten, die das „Wort“ ſchon zehnmal aufgetiſcht hat, und beweiſt uns 
Luxemburgern, daß wir noch immer die alten Stockfranzoſen ſind, und das 
Franzöſiſche daher in unſern Schulen lernen müßten, fintemal es ſonſt nirgends 
im Lande gefprochen wird, wenigftend nicht comme il faut. Was fol auf, 
mag Herr Joris bei fih denken, aus und werden, wenn nun die „Revande“ 
kommt, und wir Eönnen diefelbe nicht, wie fich diefes ſchickt, auf gutfranzöfiſch 
fetiren? — Wäre das nicht eine Schande für das ganze Land, das jo in 
tieffter Seele franzöfifch ift? — — Und fo hat denn auch die madere „Inde- 
pendance” ganz Recht, wenn fie den Beamten unjerer Eifenbahnverwaltung 
den Tert dafür Iieft, daß fie fo faul im Erlernen des Franzöfifchen feien, in 


279 


einem dur und dur — deutfchen Lande, wo die Regierung, die Kammer, 
die Poft-, Telegraphen-, Steuer- und andere Verwaltungen, nebft allen un» 
feren Fransquillons, das Franzöfifche radbrechen, jo gut, oder beffer, fo ſchlecht 
es gehen will. Was find denn das für deutfche Eifenbahnbeamte, meint die 
„Sndependance”, die da nicht einmal das Franzöſiſche fprechen, es nicht 
einmal lernen wollen, und wäre e8 au) nur den — franzöfifchen Telegraphen- 
formularen zu lieb. Gerade ald ob bei und der Telegraph, der mährend des 
legten Kriege mit allen franzöfifchen Telegraphen und Zeitungen um die 
Wette franzöfifch gelogen, und faft dad Kreuz der Ehrenlegion dafür erhalten 
‚hätte, nun auch noch Deutjch lernen follte, den Beamten unferer beutfchen 
Eifenbahnen zu Liebe. 

Und dann denkt das fchlaue „Wort“, ä part soi, während der ſchönen, 
vielen Bett, wo die Kleinen in den Schulen dad Franzöſiſche — nicht lernen, 
lernen fie doch menigften® auch nicht? andere. Und das ift ſchon ein großer 
Gewinn, wenn auch nur ein negativer — für das Volk nämlich. Alle Welt 
weiß, daß bei unferm gegenwärtigen Regime, wie e8 in unfern Bolfs- 
ſchulen herrſcht, gar nicht die Rede von der Grlernung zmeier fremden 
Sprahen (denn auch das „Preußifche” ift für und Luxemburger heute eine 
fremde Sprache) fein Fann. Dafür ift die vorgefchriebene Schulzeit zu Kurz, 
der Katechismus des Herrn Laurent zu di und zu theologiſch, find die 
Spieltage , Feiertage, Vakanzen und Ferien zu zahlreih. So gar viel mird 
auch in der Schule nicht gewonnen. Ein Glüd noch, daß die Kleinen Rangen 
ihr gute®, biderbe3 Iuremburger Deutſch mährend der Schulzeit nicht ver- 
lernen. Wie fie e8 fonft machen follten, um ſich unter fi und unter den 
Reuten zu verftändigen, ift eine Frage, die wir und nicht zu beantworten ge- 
trauen. Denn von Deutfh und Franzöfifh verjtehen die armen Würmlein 
kaum mehr, wenn fie aus der Schule audtreten, als bet ihrem Eintritt in 
diefelbe. Und doch fagt Herr ludi-magister Philipp, ein treuer Anhänger 
des „Quremburger Wort“ und ein faft ebenfo tüchtiger Echulmeifter, die Er- 
lernung der franzöfifchen Sprache in den Primärfhulen könne nur der Er- 
lernung der deutfchen Sprache Vorſchub leiſten. Wir find mit dem gemiegten 
Pädagogen gänzlich einverftanden, d. h., wo die beiden Sprachen wirklich 
und gründlich gelehrt werden, was indefjen bei und zu Lande, unſers Wifjeng, 
nirgend® gefchieht, nicht einmal in der Schule ded braven Mannes felbft. — 

Doch das ift ja auch Nebenfahe. Nicht um durch die eine Sprache die 
andere zu erlernen, kommen die beiden in dad Schulprogramm, fondern 
vielmehr, damit die eine die andere verdränge, ertödte. Der Schulmeifter foll 
nad allen Seiten die Hände gebunden haben, hier durch den dicken Katechis— 
mus, den er nah $ V. Art. 51 unſers mohllöblichen Schulgeſetzes, auf 
Begehren des Paſtors, und unter feiner Leitung, zu lehren hat; 


280 


bald dur das Franzöfiiche, wodurd er den Kleinen das Deutjche begreifli 
machen fol; bald durch dad Deutfche, welches die Kinder kaum befler ver— 
ftehen, al® dad Franzöfiihe; bald durch die vielen Feier- und Ferientage;— 
bald durch die zahllojen Abwejenheiten der Eleinen Rangen, die während der 
befferen Jahreszeit von ihren bejorgten, liebevollen Eltern zu Haufe behalten 
werden, um bei dem theuren Zucht- und Maſtvieh Wacht zu halten, damit 
demfelben ja beileibe nicyt8 abgehe, und reife und Prämien den Weg ins 
Dorf nicht verfehlen. — 

Unjere hochpatriotiſchen Blätter, die wenigitend ebenfo fromm als 
patriotifh find, ignoriren das Alles nicht. Aber in einem Rande, wie da® 
unfrige, „dem erften Sande der Welt und drüber hinaus“, wie eine biefige 
rhetorifche Größe ſich auszufprechen pflegt, muB alles gut und recht fein per se. 

Und fo wollen wir denn mit Herren ori, dem Strohmann der „m 
dependance Quremburgotje*, und Herrn Breisdorf, dem Dito des „Nuremburger | 
Mort für Wahrheit und Net“, hoffen, daß das Franzöfifche ja noch recht 
lange, zur Erläuterung des Deutſchen (nah Herren Philipp) in unfern Pri— 
märfchulen, nah dem „dien Katechismus“ gelehrt werden müffe, und 
müßten wir auch am Ende unfer fchönes luremburger Deutſch darüber ver« / 
lernen, d. h. gar Feine Sprade zum — Klagen behalten. Reden ift zwar ; 
Silber (wenn man daraus auch Feine Reichsmark ſchlagen Fann), doch Schwei— 
gen tft Gold, wie die Elugen Xeute meinen. Nun denn! Deſto befier, wenn 
wir au noch zu dem Franzöfifchen und „Preußiſchen“ unjerer Mutterſprache 
quitt werden. Wir werden dabei nur um fo reicher. Und wer Gold hat, für 
den liegt am Ende wenig daran, ob er ded Wortes mächtig fet, oder nicht. — 

Freilich gewinnt das Ding, was unjere Bhilojophen und Germanophilen 
Geift nennen, dag Wenigſte dabei. Aber Geift! was ift Geift? Man zeige 
und doch nur Geiſt in unferm Lande! Und für ein ſolches unſichtbares, un- 
greifbared Ding, das nirgend® bei und zu finden tft, fämpfen nur jene Ideo—⸗ 
logen, die unfere Kleinen ſchon mit 12—14 Jahren zu Gelehrten, zu Denfern 
(warum nit gar zu Doktoren?) machen wollen. Sie können nur Unrube 
und Unfrieven im Bolfe ftiften, das ſich bis heute jo gern und willig von 
feinen Vorgeſetzten jeder Art hat leiten lafjen, Wenn das Volk, die großen 
Maffen mit ihrem Loos und ihrem Zuſtand zufrieden find, ob fie „preußifch“ 
ſprechen fönnen oder nicht, mas geht® die unverbefjerlichen Weltverbefferer, 
die thörichten Ideologen u. ſ. w. an? 

Und fo begreift man denn, wie eö bei jo bewandten Umfländen und 
Anfichten, in unfern Schulen ausſehen muß. Biel Schein, fein Wefen; viel 
Geſchwätz, menig Gehalt, eine breite Oberfläche, feine Tiefe; zwei fremde 
Sprachen, und feine eigene; kurz: „Biel Lärm um nichts“. — Und dazu all 
das Rühmen unferer Tagesblätter über die Vorzüglichkeit unferer Schulen, 
unferer Geiftlichfeit, unferer ſchwarzen Schulſchweſtern und ihrer hochgeftellten 
Protektoren , kurz, des ganzen ultramontanen Schwindeld. Und da® unge: 
ſchmälerte Eigenlob, das ſich die Strohmänner diefer Blätter tagtäglich zollen. 

Ich möchte willen, wie e8 in den minder vollfommenen Rändern, und bei 
den uneivilifirteften Nationen zugeht, wenn es hier, bei dem vorzüglichiten, 
dem erften Volk der Welt und darüber hinaus, ſchon fo — ganz nad dem 
Sinne unferer Sefuiten und Frandquillond hergeht. — Der Himmel bewahre 
alle Gebilveten vor einer ſolchen — Kivilifation, — jeden ehrlihen Mann 
und treuen Baterlandöfreund vor dem Segen, den fie ihm bietet. Der muß 
ftarf fein, der ihn trägt, ohne darunter zufammenzubrechen. — 

N. Steffen. 


Berantwortliher Redakteur: Dr. Hans Blum in Reipzig. 
Berlag von $. L. Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Legler in Leipzig. 





Die 





Nan abonnirt bei allen Buchhandlungen u 





Grensboten. 


Beısı Sri 
für 


Politik, SJiterafur und Kunfl. 
Ne: 47. 


Ausgegeben am 20. November 1874. 


Inhalt: 
Seite 


Hiftorifche Studien über Don Carlos. I. Wild. Maurenbrecher. 281 
Zur Gefhichte des Septennatd, 1. Die Gründung. Georg Zelle 293 


Ein ameritanifcher Humorift. (Marf Twain) 9.8. 306 
Vom deutfchen Reihötag.e C—-r. . 2» 2 vn 314 
Briefe aus ber Kalferfladl  £ + + » = 318 


Grenzbotenumſchlag: Literarifche Anzeigen. 


ey — HH do — — — — 


Leipzig, 1874. 
Friedrich Ludwig Herbig. 
(Fr. Bild. Grunow.) 














nd Poftämtern des In= und Auslandes, 


Baedeker’s Handbuch für Italien. 


Ober-Italien bis Livorno, Florenz und Ancona und die Insel Corsica, nebst Reise-Routen 4 
die Schweiz und Oesterreich. Mit 8 Karten und 23 Plänen. 7. neu bearbeitete Auflage 
9 * 


Mittel-Italien und Rom. 
beitete Auflage 1874 


Mit 7 Karten, 2 Plänen und einem Panorama von Rom, 4, neu [ 


- 
— 


Unter-Italien und Sicilien, nebst Ausflügen nach den Liparischen Inseln, Tunis (Cartha 


Malta, Sardinien und Athen. Mit 7 Karten und 8 Plänen. 


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(Harmwig und Goßmann) in Berlin erfcheint: 


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für die 


Kiteratur des Auslandes. 


Begründet 
von 


Joſeph Lehmann. 


Dreiundvierzigfier Jahrgang. 
Wöcentlih 11% bis 2 Bogen Quart; Preis viertel» 
jährlich 1 Thle. 10 Ser. 


Das „Magazin“ ift durch jede Poftanftalt und 
Buchhandlung, auch von der Verlagsbuchhandlung 
zu beziehen. Eine Probenummer liefert jede Buche 
handlung unentgeltlich. 

No. 46 des „Magazin” folgende 
Artikel: 


Deutihland und das Ausland. Moderne Kul— 
turzuftände im Elſaß. (Neue Folge) Noch Lud— 
wig Spa. 665. — Grillparzer ald Archivdirektor. 
667. — Nenlateinifhe Literatur. Dlympia 
Fulvia Morata Bon Dr. Herrmann Müller. II. 
669. — Italien. Zeitungen des nördlichen Ita— 
liend. Bon Ludwig Geiger. IL. 672. — $ranf: 
reih. Guizots Teſtament. 674. — Die Reform 
des höheren Unterrichtsweſens in Frankreich. TIL. 
675. — Polen. Eine polnifche Ueberſetzung der 
Odyſſee. 676. — Drient. A Grammar of the 
Arabie Language. 677, — Kleine literarifde 
Menue. Das öfterreichifche Hochdeutfh. 678. — 
„Am deutjchen Herd.“ 678, — Der Landrichter 
von Bibenhaufen. 678, — Lehrbuch der MWürfel- 
kunſt. 678. 


Im Verlage von Fr. Bild. Grunow in Leipzig 


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Geſchichte 
der deutſchen Literatur 
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5. Auflage. 
gr. 8. Preis 8 Thlr. 15 Ngr. 


enthält 


3 Bände, 


Neue Auflage in Vorbereii 





Die soeben erschienene No, 46 der 


Jenaer Literaturzeitun 


im Auftrage der Universität Jenaher: 


gegeben von Anton Kilette, 


Jena, Mauke’s Verlag (Hermann De 
enthält Besprechungen von: 


H.-Ewald, die Lehre der Bibel von Gott: 
Eb. Schrader. H. Serin, Chronologie des 
bens Jesu: von RB. A. Lipsius, K, v. Au 
Erbenfolge und Verwandtschaftsgliederung« 
den alt-niederdeutschen Rechten; v. ©, St! 
A. Dalcke, das Gesetz über die Enteign 
von Grundeigenthum: ven G. Meyer. | 
scheidungen des Mecklenburgischen 0 
appellationsgerichts zu Rostock : von ©. We 
F. X. Nenmann, die Theuerung der Leb 
mittel: von J. Conrad. E. Richter, Chira 
der Schussverletzungen im Kriege: 
C, Lotzbeck. E. Hallier, Exeursionsbach 
A. Engler. H. Seeger, die Element 
Arithmetik: von G. Frege. M, Venetin 
der Allgeist: von Fritz Schultze. C, Büss 
Theopompea: von E. Wölftfliin. K. Bäcd 
die Aufstände der nnfreien Arbeiter I — 
v. Chr.: von C. Peter. A. L. Ewald, die 
oberung Preussens durch die Deutschen: 
G. Hertzberg. Dantis Alligheriiide monarı 
libri III, edidit C. Witte: von EX, Wer 
J. Baader, Verhandlungen über Thomas 
Absberg und seine Fehden: von H, Ulms 
K. Fischer, Geschichte der auswärtigen Po! 
und Diplomatie im Reformationszeitalter: 
C. Varrentrapp. C. Hostmann, der Un 
friedhof bei Darzau: von J. H. Mü 
H.Ewald, hebräische Sprachlehre: v.R.Schra 
C. H. Vosen, kurze Anleitung zum Erler 
der hebräischen Sprache: von Eb; Schr 
F. C. Seeliger, de Dionysio Halicarn 

Plutarchi in vitis X oratorum austtore: 
F. Blass. A. Dräger, historische Synta 


— = Terache : von BE», Lühl 
. Lueretius Carus, redigirt und erklärt 
E. Bockemüller: von W. ve elm 





M. Tullii Ciceronis orationes ie, ei 
runt A. Eberhard et W. Hirschfelder: 
J, Frey. Die Murbacher H 3 so, mach 
Handschrift herausgegeben von E. = 
E. Steinmeyer. E. Laur, zur Ge * 
französischen Litteratur: Yon &, Gräber. 


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Hiſtoxiſche Hfudien über Don Garlos. 
II. 


Wer ſich die gleichzeitigen und authentiſchen Zeugniſſe über die Jugend 
und Entwickelung des Prinzen Carlos vergegenwärtigt, wer ſich der Ausſagen 
feiner Erzieher, der beſorgnißvollen Worte ſeines Vaters und endlich der ver- 
traulihen Mittheilung von fpanifcher Seite an die nächſten Verwandten er- 
innert — (mie mir fie in dem vorhergehenden Artikel dargelegt haben) — 
dem muß ſich ein ganz andered Bild jenes bemitleidendwerthen fpanifchen Jüng— 
ling® ergeben haben, als es nad der vom Dichter früher vermittelten und 
neuerding® neu porgetragenen Annahme gemwefen fein fol. Faſt unglaublich, 
jedenfalld jehr feltfam muß es erfcheinen, daß überhaupt ein Roman aus den 
gefchilderten Zügen entftehen Eonnte. Der Ausgang ded Prinzen wird allein 
die Erklärung für diefe auffallende Thatſache und bieten. 

Wenn heute der Thronfolger eines großen Staates oder ein Prinz eines 
mächtigen KHönighaufes oder wenn, wie wir e8 fo eben erlebt haben, ein her- 
vorragender Diplomat oder Staatsmann plötzlich ins Gefängniß gefegt wird, 
fo bleiben Erzählungen und Bermuthungen und Erfindungen über die ver- 
baftete Perfönlichkeit und die Urfache der Verhaftung ganz gewiß nicht aus. 
Je feltfamer die Geſchichte ausgeputzt werden Fann, deito größer ift der 
Eindrud und Erfolg, den fie mat, bei dem flaunenden und aufbordhenden 
Publifum. Wenn wir und nun in die Stimmung der öffentlichen Meinung 
jener Zeiten verfegen, tritt un faft auf allen Seiten eine große Entfremdung 
und Übneigung gegen Spanien und den fpanifchen Köntg Philipp II. ent- 
gegen; feine politifchen Widerfacher in Italien und in Frankreich) und in den 
Niederlanden, feine reltgiöfen Gegner in der proteltantifchen Welt beobachteten 
mit Mißtrauen jeden feiner Schritte und nahmen mit behaglicher Genug- 
thuung von jedem Mißgeſchick Notiz, das ihn in feiner Politik oder in feinem 
Haufe betraf. Man kann ſich leicht vorftellen, mie man in diefen Kreiſen 
die Gefangenfegung des Thronfolgerd aufgenommen und in welcher Richtung 
fih fofort die Erflärungäverfuche und Deutungen bet allen diefen Feinden 
Spanien® bewegt haben. Die Feinde Spaniens aber haben damals die öffent- 


liche Meinung Europas gemacht oder beherrfcht; fie haben in der Kiteratur 
Örenzboten IV. 1874. 36 


ar 
282 


fiegreih ihre Tendenzen durchgefegt. Wir Haben ſchon an diefer Stelle auf 
die weitreichende Wirkung bingewiefen, welche die Verläumdungen des Dra- 
nierd gegen Philipp gehabt haben. Aus der von diefen Anregungen auge: 
gangenen Literatur, die alfo vornehmlich von politifchen Tendenzen, mehr 
ald von romanhaften Kiebhabereien ihren Antrieb erhalten, ijt diejenige 
Verſion der Carlod- Gefchichte entitanden, deren fpäterhin ſich die Dichtkunft 
bemädhtigt hat. Wer aber fi einmal in dem Dunftfreis jener Vorftellungen 
und Erzählungen bewegt hat, der Fann ſich nachher nur ſchwer entjchliegen, 
den nüchternen Ausſagen diplomatifcher Berichte oder amtlicher Erklärungen 
Glauben zu ſchenken und feine Lieblingdmeinungen fahren zu Iaffen. 

Auch der neuefte Darfteller de8 Don Carlos, auch Adolf Schmidt 
ift von dem Gefühle politifchen und kirchlichen Gegenſatzes gegen Philipp II. 
von Spanien fehr lebendig erfüllt und bewegt; er läßt Feine Gelegenheit vor: 
beigeben, feine Leſer von bdiefer feiner Gefinnung zu unterrichten: ihm it ed 
durhaus nicht genehm, daß andere Hiftoriker eine weniger leidenſchaftliche 
Auffaffung am Plate halten und es ablehnen, das hiftorifche Urtheil von den 
damaligen Feinden Spaniens ſich vorfagen zu laffen. Doc wie auch immer 
das Urtheil über König Philipp fich dereinft geftalten mag, nachdem man 
ihn fennen zu lernen in der Rage fein wird, — ich behaupte, daß aus dem 
gedruckt vorliegenden Materiale eine ſolche Kenntniß heute nicht möglich ft, 
— mie immer auch dereinft dies fich geftalten mag, ganz ficher wird es nicht 
erlaubt fein, bei der Feitftellung der Thatfachen dem Urtheile über den König 
maßgebenden Einfluß zu gewähren. 

Oder follte fih eine Fälfhung der Thatfachen, eine lügenhafte und ten- 
denziöfe Verdrehung des Thatbeftanded in den und vorliegenden hiſtoriſchen 
Zeugniffen vielleicht dem fpanifchen Könige felbft nachmweifen laffen? Schmidt? 
Meinung fheint dies zu fein. Darum handelt es fih alfo, ob eine folde 
Trübung der Ueberlieferung durch den fpanijchen König fih nach weiſen läft. 

Schmidt ftellt den Ausfagen der Diplomaten und den Erklärungen 
des Hofes feine Fritifche Theorie gegenüber, die ihnen die Glaubmwürdig: 
feit beftreitet und als Xendenzlügen fie erklärt. Er meint, die ita- 
lienifhen Depeichen feien nahezu werthlos, weil fie „abfichtlih auf 
geitreute Hofgerüchte melden, die für den unbefangenen Forfcher den Stempel 
foftematifcher Verdächtigung des Infanten an der Stirn tragen“. ine 
mejentlih größere Glaubwürdigkeit ftehe den franzöſiſchen Berichten 
zur Seite: am glaubwürdigften aber feten die öfterreihifchen Berichte; 
gerade aud den vorliegenden Depeſchen Dietrichftein’d glaubt er ein andere 
Charakterbild heraudfefen zu können, als dasjenige, das den Außftreuungen 
des Hofes entfprungen. Wir dürfen wohl annehmen, grade die Beobachtung, 
daß fih Hier und da günftigere Aeußerungen als die üblichen über Don Carlo? 


283 


in den bezeichneten Depejchen Dietrichftein’d vorfinden, hat Schmidt zu feiner 
Annahme geführt einer fyftematifchen Verläumdung ded Prinzen durch 
feinen ihm feindlih gefinnten Vater. Augenſcheinlich argumentirt er fo, 
wenn einige Beobachter günftig über den Prinzen berichten und urtheilen, fo 
muß dad, was die fpanifche Negierung direft und indirekt und über ihn mit- 
theilt, da es fo viel ungünftiger lautet, Unwahrheiten enthalten; denn die 
Glaubwürdigkeit jener günftig berichtenden ift aus fonftigen Gründen anzu- 
nehmen, fie ift jedenfall® vorzuziehen der Glaubwürdigkeit der Spanier, welche 
Kartei find und melche dad Don Carlos zwar erft fpäter zugefügte aber ſchon 
beabfihtigte Unrecht zu befchönigen Haben. Man fieht, in diefer Fritifchen 
Grundlage ift allerding® Syitem. Zwar, meine ih, wäre immer noch da- 
rüber zu didcutiren, welcher Seite mir zu folgen hätten, wenn ein Wider 
ſpruch zwiſchen den Erklärungen der Megierung und den Berichten der Fran- 
jojen und Defterreicher fich herauäftellen follte. Das Mißtrauen gegen Philipp's 
Yeugerungen wäre doch erſt zu begründen: allein mit der vor jeder Unter- 
fuhung, mie e8 fcheint, als Artom feitftehenden Annahme einer Feindfchaft und 
Berfolgungsfudht des Königs wider feinen Sohn wäre nicht? auszurichten bei 
einem Hiftorifer, der auch für died Ariom um Beweife erfuchen würde; — das 
aber wäre ein nicht lobendwerther Hiftorifer, der etwa aus Höflichkeit oder 
aus eigener Liebhaberei eine foldhe Bitte um Beweiſe unterdrüden mollte! 
Doch wir haben feinen Anlaß, diefe abwägende und vergleichende Unterfuhung 
der Olaubmwürdigfeit hier vorzunehmen, — der eben angenommene Widerſpruch 
ft gar nicht vorhanden. Jene Diplomaten haben ala gewiſſenhafte pflicht— 
treue Leute ihren einheimifchen Regierungen nur das berichtet, was fie am 
Hofe erlebt, was fie dort vom Prinzen gehört; fie haben ihr eigenes Urtheil, 
wie es fich ziemte, nur fehr behutfam und fehr vorfichtig zu formuliren fich 
bemüht: alles aber fteht im Großen und Ganzen in Einklang mit dem, was 
jene von Schmidt fo verworfenen Italiener und was die fpanifchen Minifter 
jelbft gelegentlich erzählt und gefagt haben. 

Es ift gewiß richtig, daß die franzöfifchen Diplomaten am fpanifchen 
Hofe Gelegenheit hatten fi gute Nachrichten zu verfchaffen. Und Königin 
Elifabeth, die ja felbft für Don Carlos ſich zu intereffiren angemiefen war, mag 
dabei ihnen behülflich geweſen fein. Sie erzählen nun einzelne Eleinere Erleb- 
niffe und Vorfälle, fie geben einzelne feiner Aeußerungen wieder, die ihnen 
binterbracht find: — meiftend find es Detail, aus denen fie felbft Feine 
Folgerung auf feinen Charakter ziehen und die auch uns nicht darüber zu 
einem Vrtheile verhelfen. Doch ift Einzelne auch von anderer Natur. So 
3 ®. berichtet der Gefandte im Auguft 1563, daß Ruy Gomez ihm gefagt, 
die Kränklichkeit und der Blödfinn, die man an Don Carlos bemerkt habe 
(Findisposition et I’ imbeeillit& qui se voyait en sa personne), hätten den 


u 
284 


Bater biöher verhindert ihn zu verheirathen, der Gefandte überliefert viefe 
Mittheilung des Minifterd, ohne anzudeuten, daß er eine andre Meinung von 
Garlod habe; hatte er fie, fo war es nöthig fie bier Fund zu geben. 
Im Suni 1564 lefen wir in dem Berichte deffelben Gefandten, daß man in 
Spanien eine Ehe ded Prinzen mit feiner Tante wünſche, im Hinblid auf 
feinen Schwahfinn (ä cause des qualitez assez imb£cilles de luy), der in 
den trefflihen Eigenfchaften der Dame eine Ergänzung finden würde; zu- 
gleich erwähnt derfelbe Bericht, dag der Prinz anfange gegen feinen Vater 
und deilen Befehle widerſpänſtig zu werden. Wie von einer durch ihn 
nicht bezweifelten Thatfache redet alfo auch der Franzofe von dem Schwach— 
finn des Prinzen. Ta, er hatte auch dag Urtheil ſchon niedergefchrieben, da 
Don Earlod’ Eigenjchaften ihn nicht zur Uebernahme ſchwieriger Aufgaben, wie 
etwa in Schottland fie ihm bevorftehen würden, befähigten; ein Urtheil, das 
naher fein Nachfolger in der Gefandtichaft zu beftätigen mehrmals ſich ver- 
anlaßt gefehen. Aus der Xektüre der franzöfifhen Depeichen habe ih nichts 
weniger als den Eindrud gewonnen, daß fie in der Schilderung und im Ur: 
theile über Don Carlos von dem. fonft befannten abweichen. 

Um Madrider Hofe war aber fein Fremder in fo günftiger Rage über 
Carlos fih zu erkundigen, als grade die Öfterreihifchen Gefandten. 
Sch wies neulich ſchon auf ihre Stellung zwifchen den beiden Höfen hin: es 
fom Hinzu, daß ſeit der ernftlihen Behandlung des Eheprojektes durch den 
Miener Hof fie das größte Intereſſe hatten, von dem wirklichen Zuftande 
dedjenigen, den die Erzherzogin heirathen follte, Kenntniß zu erhalten. Wenn 
man bedenkt, wie große VBerantwortlichkeit jeded Wort und jeder Winf des 
Geſandten gerade in diefer Situation haben mußte, wird man fi) eine Vor 
ftelung von der Sorgfalt machen können, mit der fie Erfundigungen ein- 
zogen, von der zaudernden Vorfiht und ſtets nach allen Seiten bin fich um 
ſchauenden Bedenklichkeit, mit der fie ihre Berichte abfaßten, von der Scheu 
ein Urtheil beftimmt auszuſprechen; dann aber wird man aud dad Schwanfen 
in ihrem Urtheile felbit richtig zu veranfchlagen geneigt fein. 

Jener Martin de Guzman, dem man im Mär; 1562 ziemlich unver 
blümt den Sachverhalt eröffnet Hatte, kannte felbjt den Prinzen recht mohl; 
er ſprach fofort mit dem Nachdruck vollfter Meberzeugung eine gut und au 
thentiſch unterrichteten Zeugen ed aus, diefe Gröffnung über Don Garlos 
enthalte nichts erfonnenes, fondern fo jet ed in Wirklichkeit (no es fingido 
sino pasa asy en realidad de verdad); feine eigene Unfiht war, felbit wenn 
Garlod gefunder werden follte, würde die Heirath nicht möglich fein. So 
blieb alfo den deutfchen Verwandten nicht? übrig ald zu warten, ob vielleicht 
eine Aenderung im Weſen des Prinzen eintreten würde. 

Zunächſt erfolgte eine Verfchlimmerung feines körperlichen Zuftandee. 


285 


Im April 1562 that Carlos den unglüdlichen Fall in Alcala, der ihn an 
den Hand des Grabes brachte, fo dag die Rettung vom Tode nur wie ein 
Wunder von den damaligen Menfchen angefehen wurde. Aus Deutfchland 
erfolgte im nächſten Jaͤhre wiederum ein Antrag und ein Gefuh an Philipp, 
fih jest über Carlos' Ehe zu entfcheiden. Cingehende Erörterungen fanden 
darauf am fpanifchen Hofe Statt: es war aud von der fehottiichen Seite 
da8 Projekt der Maria Stuart auf neue angeregt worden. Die Entſchei— 
dung ging dahin, einmal daß wegen der Befchaffenheit ded Prinzen und weil 
die gewünſchten Nefultate ſeines Auftretens in Schottland für die Fatholifche 
Sache nicht zu erwarten wären, die ſchottiſche Möglichkeit fallen zu laſſen fei, 
und daß man wegen der bdeutfchen Ehe durch einen befonderen Gefandten 
König Marimilian-von der zuftimmenden Abfiht Philipp's und von der Be 
ihaffenheit des Prinzen unterrichten follte.*) So erhielt Guzman im No: 
vember 1563 nur einen dilatorifchen Beſcheid; bis in den September 1564 
zog fih Die neue Gefandtfchaft Hin, die aber nicht? neued mitzutheilen: hatte. 
Ueberhaupt verblieb Philipp bei einer Wiederholung feiner früheren Worte; 
er bezog fich auf dad, was er fohon früher gefagt; er bedauerte feine Aen— 
derung conſtatiren zu Eönnen; er vertröftete die öfterreichifhen Werber immer 
nur auf die Zukunft. 

Inzwiſchen waren im Frühjahr 1564 die beiden Erzherzoge in Spanien 
angelangt, begleitet und geführt dur den Freiherrn von Dietridhftein, 
diem es noch beſonders aufgetragen war, die ſchwebende Ehefrage endlich ind 
Reine zu bringen. Gerade in feinen Berichten hat Schmidt Anlaß und Ma: 
tertal gefunden, die höfiſchen Mitteilungen über Carlo der Züge und ſyſte— 
matifhen Verdächtigung zu zeihen. Es wird nöthig fein, daß wir die be- 
treffenden Ausfagen Dietrichftein’d prüfen.**) reili halte ih, um das von 
vornherein zu fagen, für unerlaubt, einzelne Worte aus dem Zufammen- 
hange zu reißen ; man muß die Reihe der Depefchen ganz leſen; man barf 
nit vergeffen, daß derjenige, der ald Empfänger die einzelnen Briefe Lieft, 
die vorhergehenden Briefe ſchon Kennt, ebenfo mie der Schreiber fich deſſen be- 
wußt bleibt, was er felbit ſchon früher gefchrieben hat. Noch ehe Dietrich: 
Rein jelbit den Prinzen gefehen, erfuhr er vielerlei über denfelben; er entwarf 
na diefen Mittheilungen in der Depefche vom 22. April 1564 ein Bild 
von ihm, das wenig erfreuliche Züge verrieth — körperlich mißgeftaltet und 
kränklich, kindiſch und urtheilslos fol er gewefen fein. Nachdem Dietrich: 
Kein darauf ihn felbft geſehen und mit ihm geſprochen, ſah er fich veranlaft 
zu einigen Modifikationen ; „man ftelle feine Fehler größer dar, als fie wir: 





) Died Aktenſtück babe ich 1864 zuerft aus dem Archiv von Simancas publicirt, in der 
diſtoriſchen Zeitfchrift XI. 296. 


N Koch, Quellen zur Gefchichte Mar II. (1860). 


286 


[ic wären ;“ er berichtete nun felbft auch einige günftige Züge. Schmidt nennt 
diefed Schreiben vom 29. Juni einen „fürmlihen Widerruf des früheren“, 
überfieht dabei aber, daß troß der einzelnen Modifikationen und Einfchrän: 
tungen Dietrichftein ausdrüdlich fagt: „ich Fann ihn nicht viel anders bes 
fchreiben, als ich zuvor gethan,“ ein Urtheil, das er am 11. Juli förmlich 
wiederholte. So ift hier gewifjermaffen das Verhältniß: die erfte, anfängliche 
Charakteriftit fchmwebt ihm immer vor Augen ; wiederholt und immer wieder 
bezieht und beruft er ſich auf fie, indem er fie bald im allgemeinen beftätigt, 
bald einzelne Züge in ihr berichtigt und ändert. Man fieht aus den ein- 
gefandten Berichten, die manches unter ſich nicht recht zufammenpafjende De- 
tail ganz objectiv nebeneinander ftellen, die ded Prinzen Zorn und Heftig- 
feit, feinen Stolz und feine Bosheit, feinen Eigenfinn ebenfo ins Licht fiel- 
len, wie fie feine Gotteöfürdhtigfeit, fein Gedächtnig, feine MWahrheitd- und 
Gerechtigkeitäliebe erwähnen, — man erfieht aus diefen alle Einzelzüge forg- 
fältig wiedergebenden Berichten, welhe Mühe Dietrichftein auf feine Bericht: 
erftattung verwendet. Er hebt aus eigener Erfahrung einmal hervor, daß 
Carlos ihn gar nicht fo ungereimted Zeug gefragt habe, als er nad) den vor- 
hergehenden Schilderungen von ihm erwartet hatte. Beſondere Sorgfalt wid- 
mete Dietrichitein der Unterfuhung, ob man mit Grund ihn für impotent 
ausgeben dürfe, mit feltener Ausdauer fommt er wiederholt auf diefen Punkt 
zurück, den er doch zulegt unentfchieden laſſen muß. 

Dietrichftein war einige Male der Anficht, das Weſen des Prinzen mürde 
bei befierer Erziehung nicht fo ſchlimm geworden fein — unmwillfürlich erinnern 
wir und hierbei der beforgten Worte, welche ein anderer Yamtliendiplomat 
1550 über den Fünfjährigen geäußert. Im Sommer und Herbit 1564 er 
zählt er und von Ermahnungen Philipp's an den Sohn, von einem Verſuche 
auf ihn durch Zureden zu wirken; im November meint er eine „Befjerung‘ 
zu bemerfen, doch feßt er wiederum hinzu: „fonft kann ich ihm nicht anders 
depingiren als früher gefchehen ift.* Natürlich bleibt für ihn ein Hauptgegen- 
ftand feinge Erwägungen, den er klar zu ftellen unausgeſetzt fih abmüht — 
er fol erfahren, was Philipp's eigentliche Abficht mit dem Sohne fei, weh. 
halb er zu einem definitiven Entfhluß nit fommen fönne Mir machen 
in feinen Depefchen den ganzen Kreislauf feiner Vermuthungen und Hypo 
thefen mit; da er eine unzmweideutige Antwort aus Philipp nicht herauszu— 
locken vermochte, fah er fih auf Muthmaßungen und Schlußfolgerungen an 
gewiefen. Wir find durch diefe ausführliche Berichterſtattung Dietrichftein’d 
in die Lage verſetzt allen Kleinen Veränderungen des Momentes zu folgen: 
wenn Garlod einmal fich vernünftiger zu betragen fcheint, fteigt ihm die 
Hoffnung höher, daß es doch zur Ehe fommen könnte; geberdet er ſich einmal 
etwas toller oder unbändiger, fo ftellen fi ihm trübe Ahnungen über den 


287 


Ausgang ded ganzen Handel? ein. Soviel halte ich für fiher, daß er vor 
feinem Abgange nah Spanien von jenem Berichte Guzman’d vom 10. März 
1562 nit Kenntniß erhalten, — ja ich glaube es für wahrfcheinlih halten 
zu dürfen, daß nicht einmal Marimilian von feinem Bater vollftändig einge 
mweiht worden iſt. So erklärt es fi, daß Dietrichftein in Madrid zu einem 
feften Urtheile zu gelangen fo außerordentliche Schwierigkeiten hatte; fo er- 
klärt e8 fich auch, daß er in den Berichten — mindeitend ſoweit wir fie 
fennen — fich niemal® auf jene frühere Thatjache bezieht. 

Im Sommer 1565 hörte er von „allerlei Anfechtungen und Nadh- 
denken ‚“ die Carlo feinem Water verurſacht; indem er felbit fich wiederum 
auf feinen früheren Bericht beruft, meinte er die Geſundheit desfelben habe 
ſich gebeffert. Später aber im Detober meldete er wieder eine Verſchlimmerung 
des Buftandes: „bei diefem großen unordentlihen Weſen, das er treibt, ift 
wahrli zu beforgen, daß er nicht werde alt werden.“ Im Mär; 1566 er- 
flärte er wieder einmal, nicht zu wiſſen, weßhalb die Sache fo in die Ränge 
gezogen würde, — er felbit hatte damals wieder neue Hoffnungen für Don 
Carlos gefaßt. Dagegen glaubte er im Auguft 1566 fih dahin aussprechen 
zu können: „jo viel dad Mifterium betrifft, nämlich den Verzug von des 
Prinzen Heirath, könne er nicht anders dies verftehen, ald daß Philipp diefe 
Sache allein um ded Prinzen willen binziehe, nicht allein feiner Geſund— 
heit wegen, — er wäre jetzt ftärker und gefunder — fondern damit er erft 
fein Benehmen befjere und feinen Charakter ändere (ut mores emendet et 
quos ex prava educatione pessimos contraxit cursu temporis amittat et 
conditionem suam mutet). 

Bei der abmartenden Haltung des Königd wurde Dietrichftein oft un- 
geduldig; nicht geringer aber war die unruhige Spannung und Erwartung, 
mit welcher in Wien der Kaifer der Erledigung der Sache entgegen fah. 
Auch Don Carlos, der feinen Sinn felbit auf die Hand der Prinzeffin Anna 
gerichtet, wurde über die Zögerungen des Vaters fehr unluftig und machte 
feinem Unmuthe oft in wenig refpeftvollen Worten Quft. Im Kaufe des 
Jahres 1567 verfinfterte fi) der Horizont zufehends für den Prinzen. Die 
Atmofphäre in Madrid wurde für ihn immer ſchwüler. Schon meinte Dietrich- 
fein (10. März 1567), wenn er feine Eigenfchaften nicht Ändere und jeine 
Affekte nicht beffer beherrfche, würde es nicht gut mit ihm werden. Und Carlos 
jelbft war nun älter geworden; dem Zmeiundzwanzigjährigen Eonnten nicht 
wohl die Ehe und eine angemefjene Ausftattung verfagt werden, falld man 
ihn nicht geradezu für [hmwachfinnig und unfähig offen erklären wollte. Eine 
Anzahl einzelner Borfälle fohienen eine Zunahme feiner Berkehrtheit anzu: 
zeigen. Dietrichftein hielt es für bedenflih, ja auch für fehr fehmierig, ein 
Urtheil über die ganze Sache zu wagen; er meinte wohl (26. April 1567), 


288 


wenn überhaupt no an die Hetrath gedacht werden follte, fo begreife er den 
Aufſchub nicht; er hielt ihn für „ungezogen“ und meinte „er wird fich menig 
verändern“ (18. Mat 1567): er habe viele böfe Eigenfchaften, aber aud viele 
guten; jest habe er den Vorſatz gefaßt feinen fchlechten Gelüften nicht meiter 
nachzuhängen; würde er wirklich nach diefem Vorfat leben, fo könnte er doch 
noch ein andrer werden, ald man gemeint. 

Kurz, ed hat recht lange gedauert, bie der öfterreichifche Diplomat zu 
einer beftimmten Anfiht kommen fonnte. Aber er ift zulest doch zu einer 
folhen gelangt. Gerade weil auch ich diefen hin und hergehenden, die wechjelnden 
Stimmungen präcis zum Ausdruck bringenden Depefchen Dietrichftein’d großen 
Werth beilege, gerade deßhalb wiegt für mich dad Endurtheil fo fehmwer, zu 
welchem er dur alle diefe Erwägungen pro und contra fi hindurch ge 
arbeitet hat, welches alfo wohl erwogen und reiflich überlegt if. Nachdem 
der Schlag gegen Don Garlod am 18. Januar 1568 gefallen, hat er es 
ausführlih und motivirt feinem Souverain auseinandergeſetzt (21. und 22. 
Sanuar 1568). Er fagt: mit Beitimmtbeit könne wohl Niemand die Urſache 
(der Gefangenfegung) wiſſen, wie wohl er glaube, daß aus feinem anfänglich 
erftatteten Bericht über die Eigenſchaft und Gondicion ded Infanten forte 
aus den eigenen Mittheilungen Philipp's der Kaifer fie vermuthen könne. 
Sedermann fei bier der Meinung, daß Philipp dazu gar Hohe und große 
Urſachen habe; feine (Dietrichftein’d) Anficht wäre, daß ded Prinzen eigen- 
finniger Wille, den er nicht mit Vernunft regieren Eonnte, feine Heftigfeit und 
fein Zorn ihn dahin gebracht. Der Botſchafter erinnerte an Philipp's wieder: 
holte Verfiherungen, wegen des jeltfamen Mefend feined® Sohnes die Ehe 
nicht zulafien zu können: er habe oft ihn ermahnt und ihm gedroht, wenn 
er fi nicht ändere und befjere, ihn al8 einen unvernünftigen Menfchen be 
handeln zu müflen. Und den Entſchluß, einzuſchreiten und jest nicht Länger 
mehr duldend zuzufehen, ſchreibt Dietrichftein dem Anfalle des Carlos auf 
Don Juan de Auftria zu. Zuletzt kommt Dietrichſtein auf feine eigene Auf 
fafjung wieder zurüd, daß Don Carlos feltfame Eigenfhaften und 
feltfamed Wefen gezeigt, — wenn man auch mit ihm Mitleidven haben 
fönne, jo müſſe man doch fagen, dat Philipp zu feiner letzten Mafregel 
billige Urfachen gehabt Habe. Und diefen Sat miederholte er am 13. April 
noch einmal: „wer nicht intereffirt oder paffionirt ift, der giebt dem Vater 
Recht, daß er zu feinem Verfahren billige und gerechte Urfachen gehabt 
habe.” 

So lautet das Urtheil, da® der beftunterrichtete der Diplomaten In 
Madrid zu fällen ſich genöthigt gefehen. In der That, auf ihn fich gegen 
Philipp zu berufen, durch feine Mittheilungen die Ausfagen der fpanifchen 
Regierung Lügen zu ftrafen, das ift ein kühnes Unternehmen, das, wie aus 


289 


dem Angeführten hervorgeht, nicht als gelungen betrachtet werden fann. Der 
vornehmlichite Belaftungszeuge, den Schmidt gegen Philipp ind Treffen ge 
führt, legt Schließlich felbft ein Zeugnig ab in Uebereinftimmung und zur 
Bekräftigung desſelben, was er hat widerlegen follen! 

Der deutfhe Kaifer Marimiltan war im Sommer 1567 durch einen 
befonderen Agenten über Carlos’ Beihaffenheit mehr aufgeklärt worden, ale 
früher. Damald wurden, den Aufihub der Ehe zu motiviren, Einzelheiten aus 
Carlos' Leben ihm mitgetheilt; er empfand, wie er fi in einem Briefe an 
Philipp ausdrückte, Schmerz über Philipp's Unzufriedenheit mit dem Sohne; 
er war es zufrieden, daß er im nächſten Jahre den Prinzen kennen lernen 
jolte, dann, fo war man überein gefommen, follte die Zufunft deäfelben 
erwogen und feftgeitellt werden. Auf diefe Eröffnungen durfte man jest, im 
Januar 1568, Bezug nehmen, wenn man Mar die SKataftrophe erklären und 
rechtfertigen wollte. 

Nah der Gefangennahme ded Prinzen, während derfelbe vollitändig 
von der Melt abgefperrt gehalten wurde, während alfo Fein Menſch ſich ſelbſt 
mehr eine Anfiht von ihm verfchaffen Fonnte, war in Madrid Alles voll 
von Gerüchten und Reden und Vermuthungen. Wie in den Berichten der 
anderen Diplomaten finden wir auch in den Depeſchen Dietrichitein’® allerlei 
derartiges verzeichnet. Nun muß man genau unterfcheiden das Urtheil, das 
Vetrichftein ala fein eigene® auf Grund feiner eigenen Wiſſenſchaft gewon— 
nened ausfpricht, und dasjenige, was er nur ald Aeußerung anderer Perſonen 
teferirt. Befonderd mar ed auch das zufünftige Schickſal ded Gefangenen, 
über das man ſich den Kopf zerbrach, und über dad Dietrichftein fremde und 
eigene Muthmaßungen vorzutragen wagt. Bald aber gelangte er zu der 
Veberzeugung, daß von einer Freilaffung wohl nicht mehr die Rede fein 
fönnte (13. April 1568). Er berichtete zu gleicher Zeit, daß man den Beicht— 
vater, einen frommen, hriftlichen Mann zu ihm gelaffen; bet ihm follte der 
gefangene Prinz auch zu Oſtern 1568 gebeichtet und communicirt haben. 

Dies letztere war ein Greigniß, da zu denken gab. Nach Dietrichftein’s 
Anſicht mußte die Thatfache, daß man dem Gefangenen die Dfterbeichte ge— 
ſtattet, zwei Verdachtspunfte von ihm hinwegnehmen: einmal, daß er nicht 
ein guter Katholik geweſen, und zmweitend daß er feiner Sinne beraubt ge= 
weien wäre; man würde alfo, fchließt er, folgern dürfen, daß die Gefangen- 
(haft „allein feiner Eigenfhaft und Gondicion halber“ als eine väterliche 
Zühtigung geſchehen ſei. Er erzählt fein Gefpräh mit dem Beichtvater ; 
derfelbe betheuerte e8 dem Gefandten mit Nahdrud, der Prinz jei immer ein 
guter Katholik geweſen, auch habe er nichts fträfliched gegen die Perſon 
feine? VBaterd unternommen gehabt, er habe allerdings feine Mängel, aber 


diefelben feien mehr durch die allzufreie Erziehung verurfaht und weil er 
Grenzboten IV 37 


290 


„eines unftäten harten Gemüthes und eigenfinnig fei“, ald daß er fonft an 
Vernunft einen Mangel hätte: dephalb hoffte der Beichtvater auch, die jegige 
Strafe würde zur correctio morum ihm dienen (Depefche v. 22. April 1568). 
Wir fehen alfo, der Beichtvater ded Prinzen äußerte fih damald in einem 
meit milderen, weit optimiftifcheren Sinne, ald wir es fonft von den Staats— 
männern und Hofleuten Philipp's und von den fremden Diplomaten gewohnt 
find. Schmidt hat gerade auf diefe Aeußerung großen Werth gelegt; er will 
in ihr eine ganz unbefangene Ausſage fehen, welche die anderen Wartet 
zeugniffe vollftändig aufmwiegen und widerlegen fol. Ich glaube nit, daß 
fie eine foldye Tragweite haben kann. Wenn der Beichtvater es — natürlich 
auf Wunfch des Königed — unternommen hatte, den Prinzen beichten und 
communiciren zu laffen, dann war es für ihn, fobald man ihn danach fragte, 
ein Gebot der Nothwendigfeit die Geiftesftörung feines Beichtkindes abzu- 
ſchwächen und in möglichft geringem Umfange hinzuftellen: wie hätte er 
einem feiner Sinne beraubten Menfchen das Sacrament reichen dürfen! Nach 
meiner Auffaffung läugnet er nur die völlige Vernunftlofigkeit, — Mängel 
im geiftigen Zuftande ded Prinzen giebt er ja felbft zu. Diefe Ausfage ift 
alfo lange nicht durchgreifend genug, um in dem Sinne Schmidt’8 vermerthet 
werden zu Fönnen; fie ift aber ein erfreulicher und mwohlthuender Beweid von 
der Barmherzigkeit und dem Mitgefühl, mit welchen diefer Mönch aus Carlos’ 
Umgebung feinen Schüßling behandelt und betrachtet hat. ntfcheidend für 
mich aber ift es zu beobachten, welchen Einfluß Dietrichftein diefer Aeußerung 
ded von ihm Hochgeachteten Geiftlihen auf fein eigened Urtheil eingeräumt 
bat. Ich finde nicht, daß fie ihn, den genau unterrichteten und fehr gewiſſen⸗ 
haft und vorfichtig feine Meinung formulirenden Diplomaten zu einer Xen- 
derung feine® Gutahhtend bewogen hat. So meinte er kurz nachher, am 
8. Mat 1568, der Kaifer merde jet wohl die Urfachen der Gefangennahme 
fennen, — „daß fie aus feinem Zorn oder Unmillen ded Königs, viel 
weniger zu einer Beftrafung gefcheben, fondern allein zum Nutzen des Prinzen, 
wegen feiner Eigenf&haft und natürlichen Condicion und Gebrechen“; auf eine 
Befferung, fette er hinzu, dürfe man faum noch rechnen. Am 19. Mai endlid 
artheilte er, bei Carlos’ Eigenfhaft, Thun, Weſen und Haltung gebe es 
Niemanden, der nicht feinem Vater ein längeres Leben ald ihm prognofticire, 
außerdem daß er in Wahrheit eine feltfame Etgenfhaft und condicion 
gehabt habe.” Wir find nach allem diefem wohl zu dem Schluffe berechtigt: 
wenn die günftige Ausfage des Beichtvaterd einen fo wohl unterrichteten 
Mann wie Dietrichftein nicht von der Wiederholung feiner früheren Urtheile 
zurücdhalten fonnte, fo dürfen auch wir und in dem Ergebniß unferer Unter 
fuhung durch diefelbe nicht beirren laſſen. 
Veberbliden wir noch einmal die Entwidelung des Prinzen. 


291 


Schon in feiner früheiten Jugend hatte man über feinen Jähzorn und 
Eigenfinn geklagt. Der Heranmwachjende hatte nicht recht Iernen wollen, 
fondern Lehrer und Erzieher große Schwierigkeiten bereitet. Auch der Water 
hatte dann im Jünglinge große Fehler entdedt, Schwächen und Mängel des 
Verftandes, der Urtheildfraft, de Charaktere. Bet allen den vielen Krank: 
heiten, die der Arme zu durchleben hatte, war dies immer unbeilvoller ge: 
worden, beſonders die üblen Eigenſchaften feines Charakters traten mehr und 
mehr hervor. Man hatte verfuht ihn zu beffern; man Hatte ihn einmal 
vom Hofe entfernt leben lafjen, dann aber wieder ihn an den Hof gezogen, 
eine gewiſſe äußere Stellung ihm gemacht und in amtlicher Thätigkeit ihn 
befhäftigt. Alles Hatte nichts geholfen. Die Ausſicht einer Ehe mit einer 
Verwandten hatte die Ungeduld des Schwachfinnigen erregt und, da man ihm 
nicht fchnell zu Willen fein durfte, zu heftigen Ausbrüchen ihn gereizt. Be— 
fanntlih pflegen krankhafte Geifteözuftände allmälig eine Steigerung zu er 
dulden; was anfangs Elein und gering geweſen, entwicelt fih zu größerem 
Umfange und artet zulest in Tobſucht und völlig unzurechnungsfähige Hand» 
lungen aus. So war es auch hier weiter gegangen, bis es auf einen Bunft 
fam, bei dem man einen Entihluß über die Zufunft ded jungen Mannes 
überhaupt faffen mußte. Philipp hatte ſchon feit Jahren die Ueberzeugung 
gewonnen, daß der Erbe ſeines Reiches und feiner Politik nicht diefer ſchwach— 
finnige Menſch fein könne; er ſprach dies zulest unverhohlen aus. Als die 
Scenen immer häufiger wurden, in welchen Don Carlos fih an Perſonen 
des Hofes thätlich zu vergreifen fuchte, — eine ganze Reihe derjelben ift und 
dur die Berichte und Correfpondenzen der Zeit beglaubigt; ein vergebliches 
Bemühen tft ed, wenn Schmidt fich anftrengt, die einzelnen Berichte umzus 
modeln oder mwegzudeuten, damit Fein Anklagematerial gegen Don Carlos 
mehr übrig bleibe, — da endlich wurden Maßregeln gegen ihn berathen. 
Anfangd wurde noch durd eine befondere Gefandtfhaft Kaifer Mar in 
Ausſicht geftellt, erft mit ihm mürde die Sache befprochen werden. Dann ließ 
der Minifter Ruy Gomez Andeutungen fallen bei dem franzöfifhen Gefandten 
(Herbft 1567), daß man eine Einfperrung ded Prinzen vielleiht demnächſt 
verfügen würde, daß man aber erft fehen molle, ob nicht die Königin, deren 
MWocenbett bevorftand, dem Rande einen männlichen Erben fchenfen würde. 
Den letzten Entſchluß, zur Einfperrung zu greifen, fcheint endlich der Plan 
ded Prinzen von Madrid zu entfliehen und dann nod die heftige Scene 
zwifchen ihm und Don Juan hervorgerufen zu haben, bet der beinahe Don 
Carlos den ihm früher fo befreundeten Stiefonfel umgebracht hätte. 

Am 18. Januar 1568 wurde Carlos gefangen genommen und im tief 
ſten Geheimniß jedem Verkehr mit der Außenwelt entzogen. Man hat erzählt, 
daß der König die Abficht gehabt, durch eine befondere Commiſſion die be- 


292 


treffenden Thatfachen und Vorfälle feftitellen und unterfuchen zu lafjen, um 
den Prinzen dann ded Rechtes der Nachfolge für verluftig zu erfären. Es 
fam nicht dazu; ein Spruch murde nicht erlaffen. Carlos erlag feinem na 
türlihen Schidjal. Er erkrankte im Gefängniß und ftarb, wie man jagte, 
am 24. Juli 1568. 

Ueber die Art feine® Zoded wurden Muthmaßungen und Gerüchte fofort 
in Umlauf gefegt. Zwiſchen ihnen eine Entjcheidung zu treffen, wird ein 
gewiſſenhafter Hiftorifer, wie ich früher ſchon ausgeführt habe, Bedenken 
haben müffen: wir willen von dem Prinzen feit dem 18. Januar 1568 ab: 
folut gar nicht? mehr ald dad, mas uns die offiziellen Vertreter der Regie— 
rung erzählen; es fehlt geradezu an der Möglichkeit ihre Angaben zu con 
troliren. Allerdings nimmt Schmidt von diefer, auch von ihm erkannten Be 
ſchaffenheit unfere® Quellenmateriale® neuen Anlaß zu Angriffen gegen die 
fpanifche Regierung; er hält an dem Verdachte, ja an der MWahrfcheinlichkeit 
einer Mordthat feſt. Ich muß died Verfahren für abfolut unzuläffig erklä— 
ren aus den fchon angeführten Gründen. Ob Carlos’ Tod ein natürlicher 
oder ob man der Natur in irgend welcher Weije nachgeholfen, darüber iſt 
nichts zu wiffen und zu jagen. Die Bermuthung eines Verbrechens hier leicht: 
fertig ausfprechen, das hieße felbft ein Verbrechen begehen. Nichtsdeſtoweniger 
darf das gefagt werden, daß König Philipp niemals eine Freilafjung oder 
Heritellung des Sohnes beabfihtigt hat und daß für den Untergang des 
Prinzen die volle Verantwortlichkeit ſomit auf den Vater fällt; er felbft 
bat geglaubt zu der Befeitigung des unfähigen Sohnes nicht allein berechtigt, 
fondern auch verpflichtet zu fein. 

Die Minifter des Königs erhielten gleich) nad) der Gefangennahme des 
Prinzen den Auftrag, den fremden Gefandten in Madrid die nöthigen Auf 
lärungen zu geben. Diefe Ausfagen ftimmen unter ſich überein; fie ftehen im 
Einklang mit allen früheren Erklärungen von fpanifcher Seite; fie ftellen den 
Sachverhalt dar und führen zu dem Urtheile Hin, wie wir fie aus Dietrid 
ftein’8 Berichten kennen gelernt haben: fie motiviren die Kataftrophe mit der 
Beichaffenheit des Prinzen, deſſen Zulaſſung zur Nachfolge auf dem Throne 
nad langen Beobachtungen und vielen Erperimenten fi als unmöglid er 
geben haben fol. 

Philipp felbft richtete über den Vorfall Schreiben an den Papſt, an feine 
Tante, die Königinwittwe von Portugal, an feine Schmefter und feinen 
Schwager in Wien. In allen betont er fehr foharf den Gedanken, daß die 
Mafregel eingegeben fei von der Nüdficht auf das Wohl feined Volkes und 
der heiligen Kirche; er liebt e8 dabei fich auf frühere Mittheilungen über den 
Sohn zu beziehen, welche died Ende ſchon hätten voraudahnen laffen. Seinen 
vertrauten Minifter, den in den Niederlanden abwefenden Herzog von Alba, ver 


RR 


293 


wies er auf die eigenen früheren Erlebniffe und Erfahrungen mit dem Prinzen, 
— mir wiſſen, e8 war Alba gewejen, der 156% jene merfwürdige Mittheilung 
über den Schwachſinn ded Prinzen dem öfterreichifchen Gefandten eröffnet hatte. 

Ale diefe Aeußerungen Philipp’ 3 vom Jahre 1568, über deren ftellen- 
weiſe nicht zu leugnende Undeutlichkeit man biäher fo oft geklagt hat, fie er- 
halten jegt ihr volles Licht und Verſtändniß, feitdem wir jene ausdrückliche 
und unumwundene Erklärung über den Schwachſinn ald den Grund der üb» 
len Entwicklung des Prinzen kennen gelernt haben. 

Sch geftehe, ich Halte ed für abjolut undenkbar, dag wir alle diefe Aus» 
jagen und Erklärungen ala Lügen verwerfen follen, — etwa aus dem Grund, weil 
wir Philipp's II. politifches und kirchliches Syftem von unferem modernen 
Standpunkt aus für ſchädlich und ftaatäverderblih anfehen? Iſt ed wirk- 
Ih ein zu ſtarkes Anfinnen an den Hiftoriker, daß er die Thatjachen der Ge 
ſchichte ſo nehmen ſoll, wie die Hiftorifchen Documente fie zeigen, ohne feinem 
genen Urtheile über vergangene Menfchen und vergangene Thaten Einfluß 
zu geitatten auf die Feſtſtellung des Thatbeitandes felbit? 

Nein, auc bei dem entjchiedenften Gegenfat gegen das politifche und 
firhlihe Syftem Philipp's II. wird ed dem Hiftorifer nicht erlaubt fein, diefen 
ſpaniſchen König zu einem alles menjchlichen Gefühles entkleideten Teufel zu 
mahen: „Gerechtigkeit auch dem Gegner“ ift eine Loſung, von der fich loszu— 
jagen dem Hiftorifer am wenigſten anfteht. 

Wilhelm Maurenbreder. 


Zur Gefdicte des Heptennafs. 
J. 


Die Gründung. 


Die Mehrheit der franzöſiſchen Nationalverſammlung befand ſich nad 
der Veröffentlihung des Chambord'ſchen Schreibend vor einer offenbaren 
Zwangslage. Wie große Opfer fie auch für die Wiederherftellung des König— 
thums zu bringen bereit war, eine bedingungslofe Unterwerfung unter fein 
Machtgebot geftattete ihr weder ihre Neigung noch die Stimmung der Nation, 
die man nicht unberücfichtigt lafjen durfte. Bei den gemäßigten Anhängern 
des Königthums — und die überwogen entjchieden in der Mehrheit der Ver— 
fammlung — hatte e8 von Anfang an feftgeftanden, daß der Graf nur unter 
der Bedingung und Vorausſetzung einer verfafjungsmäßigen von ihm unum— 


294 


mwunden anerkannten Beſchränkung feiner Herrjchergemalt auf den Thron 
feiner Ahnen berufen werden dürfe. Unter diefer Boraudfegung glaubte man 
an der Rückkehr zum erblichen alten Königthum eine Gewähr für die Wieder 
beritellung fefter und geordneter Zuftände fehen zu dürfen. Diefe Stimmung 
war im Lande weit verbreitet und namentlih aus diefer Rückſicht hatten au 
die Drleaniften fi an den Reftaurationdbeftrebungen betheiligt. Ohne Zweifel 
war ihnen der Graf von Chambord Feine eben angenehme Perfönlichkeit, und 
wenn fie ohne Zmifchenregiment die Krone auf dad Haupt des Grafen von 
Paris hätten ſetzen können, fo würden fie jede Vereinbarung mit den An. 
hängern der älteren Linie abgemiefen haben. Da file aber nur im Bunde 
mit diefen die Nationalverfammlung beherrfchten, fo blieb ihnen Nichts übrig, 
ald aus der Noth eine Tugend zu machen, für dad Recht des Tegitimen 
Erben einzutreten und fich für ihren Prinzen, zumal derfelbe, troß aller ehr: 
geizigen Wünfche, der Entjchloffenheit völlig entbehrte, die zur Durchführung 
einer jelbitändigen Rolle gehört, und dabei den Franzoſen eine ganz gleid: 
gültige Perfönlichkeit war, mit der Anmwartfchaft auf den Thron kraft des 
Erbrechts zu begnügen. Diefe Erwägungen hatten ohne Zweifel für den 
Entfhluß aller Orleaniften den Ausſchlag gegeben, und nachdem fie fich einmal 
in das Gebot der Nothwendigfeit gefunden hatten, fonnten ihnen auch die 
Bortheile, die aus der Nüdkehr zu dem Grundfag des reinen Erbrechts ſich 
ergaben, nicht entgehen. Es war doch nicht gering anzufchlagen, wenn dem 
langen Hader der königlichen Parteien durch eine Vereinigung der beiden 
Zinien ein Ende gemacht, wenn den neuen Staatd: und Geſellſchaftszuſtänden 
dadurch, dag man fie unter den Schuß des alten Königthums ftellte und die 
Gegenwart mit den gefchichtlichen durch eine Reihe gewaltfamer Ummälzungen 
zerriffenen Meberlieferungen wieder verknüpfte, eine neue und ftarfe Bürgfchaft 
der Dauer geboten wurde. In diefem Sinne konnte eine Rückkehr zum 
Regitimitätäprincip allen Anhängern des Königthums willlommen fein. Um 
jo entjchtedener aber mußten fie jeden Verdacht zurückweiſen, ald ob fie fih 
zu dem politifchen Syſtem befennten,, welches fich mit dem Banner der Legi— 
timität dedte, ald ob fie den Grundſätzen huldigten, welche von den Iegitimi- 
ftifhen Doctrinären als die einzigen feiten Säulen des Königthums gepriefen 
wurden. Cie hatten, um fich des Beiftandes der Geiftlichfeit zu vergewiſſern, 
der mächtigen und mit fteigendem Selbftvertrauen auftretenden Elerifalen 
Partei die unwürdigſten Zugeftändniffe gemacht; aber zur Herftellung eine? 
auf den Grundfägen ded Syllabus beruhenden Königthums, wie es dem 
engen Geifte des Grafen von Chambord ala Ideal vorſchwebte, eines König. 
thums, das fich für berufen hielt, die äußerften Anfprüche der römiſchen 
Hierarchie durchzuführen und Europa ale Gefeg aufzuzwingen, das die ab- 
folute Macht der altfranzöfifchen Monarchie dem Vatican zur Verfügung zu 


295 


ftellen bereit war: zur SHeritellung eines fo gearteten Königthums konnten 
fih die gemäßigten Elemente der confervativen Partei nicht herbeilaffen. Als 
der Brief ded Grafen von Chambord die Hoffnungen, die man auf ein Ein- 
lenken von feiner Seite geſetzt, zeritört hatte, da galt es bei der großen 
Mehrheit der monarchiſtiſchen Parteien für audgemaht, daß das alte Erb: 
fönigthum, von deſſen Rückkehr man eine Beruhigung der Parteileidenfchaften 
gehofft hatte, da8 die Gegenwart mit den Meberlieferungen der Vergangenheit 
verfnüpfen und harmonifch mit einander verjchmelzen follte, fi ſelbſt den 
Todtenſchein audgeftellt Habe. Man erfannte, daß man feit Monaten einem 
Phantome nachgehaſcht hatte, welches in Rauch und Nebel zerfloß, in dem 
Augenblid, wo man es zu greifen glaubte und mo ed unter der Berührung 
ſeſte Geſtalt und Fleifh und Blut zu gewinnen fehien. 

Die Mehrheit befand fih, als fie zu diefer Erfenntniß gelangt war, in 
einer gefährlichen Lage, Alles ftand für fie auf dem Spiel. Die eifrigiten 
Anhänger ded Grafen von Chambord fahen mit nichten in dem Brief des— 
jelben einen Berzicht und fie waren weit entfernt, ihre Sache verloren zu 
geben. Aber auch fie konnten fih doch nicht verhehlen, daß vorläufig an 
eine Miederherftellung des Königthums nicht zu denken war, und es war ein 
faft Eindifcher Trotz, wenn fie, ftatt ihre Wünfche zu vertagen, ſich fträubten, 
zu einer MWiedervereinigung der Gruppen der Mehrheit ihre Hand zu bieten. 
In diefer Haltung der äußerften Regitimiften Tag eine um fo größere Gefahr, 
da man nur durch raſches und entjchloffened Handeln die Republifaner 
hindern Eonnte die Rage der Dinge zu einem parlamentarifchen Gewaltſtreich 
im Stil vom 24. Mai augzubeuten, Mac Mahon zu ftürzen und die Leitung 
des Staats wiederum in die Hände Thier® zu legen, was unter den ob— 
waltenden Umftänden die Proclamation der fogenannten definitiven Republik 
und die fofortige Auflöfung der Nationalverfammlung zur Folge gehabt 
haben würde. Wieder lagen die Verhältniffe jo, daß dem Entſchloſſenſten 
der Sieg zufallen mußte, und wiederum zeigten fich im entfcheidenden Augen- 
blife die Konfervativen ihren Gegnern an Entſchloſſenheit und Fähigkeit zum 
Handeln überlegen. Die Republikaner hatten ſchlechterdings Nichts gethan, 
um der MWiederherftellung des Königthums ein ernfthafte® Hinderniß in den 
Weg zu feben, fie hatten fi damit begnägt, in allen ihren Parteiverfamm- 
lungen mit ermüdender Confequenz feierlich zu conftatiren, daß das Land der 
Republif ergeben ſei und daß an der republifanifchen Begeifterung der Nation 
die Pläne der Königmacher elend zu Schanden werden würden, während es 
doh jedem unbefangenen Blicke einleuchtend war, daß ein auf Wieder 
berftellung des Königthums gerichteter VBefchluß der Verfammlung im Lande 
nit dem geringften thatfächlihen Widerftand begegnen, fondern höchſtens 
einige ohnmächtige Verwahrungen im Stile der Klubbeſchlüſſe der Linken 


296 


hervorrufen würde. Es mar eine durchaus abgeſchmackte Prahlerei, menn 
die Nepublifaner fidy ein Verdienſt an dem Scheitern der Reftauration zus 
ſchrieben. Nicht die republifanifche Gefinnung des Landes, nicht die Politik 
der Linken brachte die Entwürfe der Yufioniften zu Fall, fondern Tediglich der 
gewiſſenhafte Eigenfinn des ehrlichen aber bejchränften Romantiferd, der fein 
Recht auf die Krone für zu heilig hielt, um dasſelbe dur Anwendung 
irdifcher Mittel, ohne die fi do nun einmal der Weg vom Recht zum 
thatfählichen Beſitz nicht zurücklegen läßt, beflecken und entweihen zu laffen. 
Die einzige Gefahr, die der MWiederherftellung gedroht, hatte in der Eigen- 
thümlichkeit defjen gelegen, den man zum Könige preffen wollte. Man hätte 
nun glauben folen, daß die Republikaner ihre Vorbereitungen für den Fall 
einer Ablehnung der von dem royaliftifchen Ausſchuß geftellten Bedingungen 
von Seiten des Grafen von Chambord treffen würden, um die Augenblide 
der erften Verwirrung zu einer rafchen That zu benußen. In der That aber 
zeigte fih, daß fie auf Nichts vorbereitet waren; fie ließen fi durd ein 
Greigniß, um deſſen Möglichkeit feit Wochen fih alle Erörterungen der 
Preſſe drehten, vollftändig überrafchen; fie ftanden mie betäubt, als der Brief 
des Grafen fie von der furdhtbarften Gefahr befreit hatte. Das Glück hatte 
ihnen freigebig Macht und Herrfchaft geboten, aber an den Unentfchloffenen 
und Ungeſchickten find alle Gaben des Glückes nutzlos verfchmwendet. AL fie 
fih gefammelt Hatten, war es zu fpät. Die Confervativen hatten den Fall 
des Mißlingend während der Verhandlungen mit dem Grafen von Chambord 
niemald aus den Augen gefest; ihre Niederlage traf fie daher nicht unvor 
bereitet. Als fie fahen, daß fie ihren Plan aufgeben mußten, war der Ausweg 
aus der gefährlichen Lage bereit gefunden: die Verlängerung der Vollmachten 
des Marfhalld Mac Mahon bot fih als einziged Nettungsmittel, und in 
dem rafchen Ergreifen desfelben bewährte die Mehrheit diefelbe Entjchloffenheit 
und Energie, die ihr in dem Kampf gegen Herren Thierd den Sieg ver 
ſchafft Hatte. 

Uber freilich, fobald es ſich um die Einzelheiten der Vollmachtsverlängerung 
handelte, gingen die Anfichten der verfchiedenen Gruppen weit audeinander, 
und bis zum Augenblicke der Entſcheidung blieb e8 durchaus zweifelhaft, ob 
e3 gelingen würde, eine Mehrheit auf eine beitimmte Formel zu vereinigen. 
Man mußte fehr wohl, dag Mac Mahon fi mit der einfachen Erklärung, 
daß er die biöher ausgeübte Gewalt zunächſt ohne Beftimmung einer gemiflen 
Zeitdauer unter den alten Bedingungen weiter führen follte, niht würde zu 
frieden ſtellen laſſen. Für den Marfchall, der fich des Vortheild, der für 
feine Stellung aus der allgemeinen Verwirrung hervorging, fehr wohl bewußt 
war, hatte die einfache Verlängerung des Status quo gar feinen Werth. 
Wie gering man auch über feine politifchen Fähigkeiten denken mochte, er 


ui Du 


297 


befaß jedenfalls Selbftgefühl genug, um den entſchiedenſten Widerwillen gegen 
die Zumuthung zu empfinden, noch länger der Mehrheit ald Schildwache zu 
dienen. Er hatte die Beftrebungen der Noyaliften in Feiner Weiſe gehindert 
und ihnen durch feine faft apathifche Haltung den beiten Dienft geleiftet, der 
ihnen überhaupt von feiner Seite geleiftet werden Fonnte. Als aber die kö— 
niglihen Parteien, nachdem ihre Hoffnung traurigen Schiffbruch gelitten 
hatte, wieder zu ihm ihre Zuflucht nahmen, da meigerte er fih, ald Aus: 
funftömittel fih gebrauchen zu laſſen. Er forderte nicht weniger, ald eine 
von der Berfammlung thatſächlich unabhängige Stellung: die Ausdehnung 
feiner Gewalt auf zehn Jahre und die Ausftattung mit Gefegen , die ihn in 
den Stand festen, die ihm übertragene Gewalt auch wirkſam auszuüben. 
Während die Verfammlung vorausfihtlich bald auf dem Punkt der Zerrüttung 
und Ohnmacht ankommen mußte, wo ihre Auflöfung unvermeidlih war, 
wollte er fih feine Macht auf eine lange Reihe von Jahren verlängern 
laſſen. Mochte die fouveräne Verſammlung für fi immerhin das Recht auf 
eine unbegrenzte Lebensdauer in Anſpruch nehmen, da® war bei ihrer zu- 
nehmenden Zerfegung, bei der erſchreckenden Unfruchtbarkeit ihrer Thätigfeit, 
ein fehr mwerthlofed Recht; und menn dem Marſchall verfaffungsmäßig eine 
beftimmte nicht allzu kurz bemefjene Dauer feiner Macht zugefihert wurde, fo 
hieß das nichts andres, als feine Vollmachten über die vorausſichtliche 
Lebensdauer der fouveränen Berfammlung hinaus verlängern. Berfallung?- 
mäßig blieb ja die Berfammlung der Souverän; wenn fie aber die Mandats— 
dauer ihres Beauftragten von ihrer eigenen Eriftenz unabhängig machte, fo 
ftellte fie felbit ihre eigene Macht vor der feinigen in Schatten , ja fie forderte 
den Präfidenten zu einem, fei ed offenen und gemwaltfamen, ſei es verfteckten 
Staatäftreich förmlich heraus. So lange der Präfident mußte, daß die Auf- 
löfung der Verſammlung auch feiner Macht ein Ziel fehte, lag ed, wenn er 
niht unbedingt feiner Wiederwahl dur eine neue Verfammlung fiher mar 
in feinem Intereſſe, die Sache der Verſailler Volksvertreter als feine eigene 
zu betrachten, fie vor den verderblichen Folgen ihrer eigenen Schwäche zu 
ſchützen und Alles aufzubieten, um die Auflöfung der Berfammlung fo lange 
als möglich hinaus zu ſchieben. Einen Conflikt Hervorzurufen, wäre in diefem 
Falle ein politifher Selbftmord oder die offene Ankündigung eine® gemalt: 
famen Staatäftreih® gewefen. Ganz anders, wenn der Präfidentengemwalt 
das Recht gemährleiftet war, die Berfammlung zu überleben und fie gemifjer- 
maßen zu beerben, oder über ihr Erbe zu verfügen. Brad unter diejen 
Umftänden zmifchen dem Präfidenten und der Verſammlung ein ernfted Ber 
würfnig aus, fo wurde ihm offenbar die Verſuchung nahe gelegt, die DBer- 
fammlung zu den thörichtften Maßregeln zu verloden, keineswegs aber fie 


vor den Folgen ihrer Thorheit zu ſchützen. Sein Vortheil war es, konnte 
Örenzboten IV, 1874. 38 


298 


es mwenigften® unter Umftänden fein, wenn die Verſammlung in der Gunft 
der öffentlihen Meinung tiefer und immer tiefer ſank, wenn fie fortfubr, 
wie bisher von den Grundlagen ihrer Macht einen Stein nad dem andern 
abzutragen. Died waren Bedenken der ernfteften Art, denen fi die Mehr 
heit unmöglich verſchließen konnte; e8 Tam ihr unendlich ſchwer an, den 
Marſchall in eine thatfählich fat unabhängige Stellung zu verfegen, aus der 
er, ohne Anwendung irgend einer Gewaltmaßregel, machen Fonnte, was er 
wollte, und bie jedenfalld an Bedeutung und Macht in dem Maße zunehmen 
mußte, als das Anfehn der Verfammlung abnahm. Aber man hatte eben 
nit mehr freie Hand; an den Gedanken einer einfachen Vollmachts⸗ 
verlängerung unter den biöherigen Bedingungen hatte man fih bereitd ge 
mwöhnt, man hatte fie ſchon mährend der Verhandlungen mit dem Grafen 
Chambord für den Fall des Scheitern® derfelben als letztes Rettungämittel 
ind Auge gefaßt, und man fah fehr wohl ein, daß man fi den von Mac 
Mahon geftellten Bedingungen unterwerfen, oder auf jeden Widerftand gegen 
die Republifaner verzichten müßte. immerhin mochte jede Partei fich vor: 
behalten, zu gelegener Zeit auf ihre Pläne zurüdzufommen, für den Yugen- 
bit galt eg, Mac Mahon am Ruder zu erhalten, mie bitter e8 auch mar, 
fih Bedingungen ftellen zu laffen von einem Manne, dem man die höchfte 
Gewalt nur anvertraut hatte, weil man überzeugt war, er werde fie ſtets nur 
ald gefügiges Werkzeug feiner Auftraggeber ausüben. Diefe Nachgiebigkeit 
war zur Nothwendigfeit geworden, und die fohüchternen Verſuche, fich der- 
jelben zu entziehn, ftellten nur die Schwäche der Parteien in? grellfte Licht. 

Diefem Schiefal verfielen vor Allem die Orleantften. Ganz behaglich 
war ihnen die Unterordnung unter den Grafen Chambord mit Aufopferung 
ihrer felbftftändigen Anſprüche niemals gewefen. Was Wunder, wenn ihnen 
jetst der Eluge Einfall kam, die allgemeine Auflöfung zu einem orleaniftifcen 
Handftreih audzubeuten ? Sie befchloffen alfo in -einer Parteiverfammlung, 
einem ihrer Prinzen die Generalftatthalterfchaft de Königreih® anzubieten. 
Daß man zu diefer Stellung meder das Haupt noch das befähigte Mitglied 
der Familie, fondern den wenig bedeutenden Yoinville auserſah, zeugte von 
der Unficherheit und dem geringen Selbftvertrauen der Eläglichen Planmacher, 
deren Furchtſamkeit und Unentichloffenheit ganz ihrer Begehrlichkeit gleichkam. 
MWahrfheinlih war man durchaus nicht überraſcht, als Joinville, der denn 
doch zu Hug war, fi auf ein jo hoffnungsloſes Abenteuer einzulaffen, durd 
feine vertrauten Freunde erflären ließ, er könne auf kein derartiges Anerbieten 
eingehn, da feine Verbindlichkeiten gegen feinen Better, die durch deffen Brief 
keineswegs gelöft feien, ihm jedes felbftändige Auftreten verböten. Dieſe Ab— 
weiſung ernüchterte die Drleaniften volllommen, und fie würden fich jest 
felbft eine Tebenslängliche Verlängerung der Vollmacht Mac Mahon's haben 


299 


gefallen laſſen. Sie waren von diefem Augenblid an die eifrigiten Anhänger 
Mac Mahon’s, der, mo er fich öffentlich zeigte, tet? von einem Gefolge von 
Prinzen und Freunden des Haufes Orleans umgeben war. Ohne jeden Halt 
in der öffentlichen Meinung, fahen fie fich zu völliger Nichtigkeit verdammt, 
wenn fie fih nicht auf die Regierung flügen Fonnten. Sie entfchloffen fich, 
weil ihnen zunähft nicht? Andres übrig blieb, die Rolle der gouvernementalen 
Partei zu übernehmen, um fih von Mac Mahon und Broglie, den fie ganz 
ald den Ihrigen betrachteten, über Bord halten zu laffen. 

Nicht fo Leicht und auch nicht vorbehaltlos ergaben fich die eifrigen Legi— 
timiften in ihr Schikfal. Von der Nothmendigkeit einer Verlängerung der 
Vollmachten waren auch fie allerding® überzeugt; aber fie waren durchaus 
nicht geneigt, zuzugeben, daß die Verfammlung irgend einen Beſchluß faffen 
fönne, der fie in ihrer Allmacht befchränfen und alfo hindern könnte, zu 
jeder ihr gelegen fcheinenden Zeit auf den gefcheiterten Verſuch zurüdzufommen 
und das Königthum miederherzuftellen. Bis diefer Augenblick einträte, mußte 
Mac Mahon, das fahen fie fehr wohl ein, am Ruder erhalten merden. 
Man mochte auch immerhin feine Amtsgewalt auf eine längere Reihe von 
Jahren ausdehnen: dad war auch in ihren Augen ein treffliche® Schugmittel 
gegen die Entwürfe der Republikaner, Bonapartiften, Orleaniften, die ihnen 
allmählich verhaßter, ald alle anderen Parteien wurden; aber die Entfagung, 
die fie von den anderen forderten, auch fich jelbft aufzuerlegen, lag keineswegs 
in ihrer Abfiht. Sollte ed gelingen, früher oder fpäter eine Stimmen» 
mehrheit für den König zufammenzubringen, fo war nad ihrer Anficht 
Mac Mahon felbftverftändlich verpflichtet, fofort feine Gewalt an den recht— 
mäßigen Herrfcher abzutreten. Spätere Enthüllungen zeigen, daß Broglie 
bei diefer Gelegenheit eine ziemlich zmeideutige Rolle gefpielt und ſich über 
die Tragmeite der Verlängerung der Gemwalten den Anhängern Chambord's 
gegenüber gang im eimer ihren Anfchauungen entſprechenden Weife geäußert 
hat. Wie weit die Aeußerungen Broglie'd auf den Entſchluß der Legitimiſten 
von Einfluß waren, läßt ſich trog mehrfacher Enthüllungen noch nicht mit 
Sicherheit beurtheilen: aber gleichviel ob fie fi hintere Licht haben führen 
laffen, oder ob fie eben nur dem Zwang der Berhältniffe nachgaben: im 
entjheidenden Augenblicke begnügten fie fi, indem fie für die Verlängerung 
der Vollmacht ftimmten, ihren Standpunkt und ihr Gemiffen mit der nicht2- 
fagenden Erklärung zu wahren, daß fie daran feithielten, die Monarchie als 
die natürliche Berfaffung Frankreichs anzufehen. Zwiſchen diefer matten 
Erklärung und der entjchieden feindlihen Haltung der Kegitimiften be» 
fand ein offenkundiger Widerſpruch; indeffen war die Regierung felbft auf 
die Oppofition von Seiten diefer Partei von Anfang an gefaßt geweſen, da 
ihre Preſſe unausgeſetzt den Sat verfoht, daß die Nationalverfammlung fi 


300 


ihrer fouveränen Machtvolllommenheit nur nad Gründung einer definitiven 
Regierung entäußern könne, und daß fie bi8 zur Gonftituirung einer foldhen 
befugt fet, jeden ihrer Befchlüffe zurücdzunehmen, womit natürlich einer Ber: 
längerung der Vollmachten auf eine beftimmte Zeit jede ernfte Bedeutung 
abgefprohen wurde. In Gonfequenz diefer Anficht Hätten die Legitimiften 
eigentlich fämmtlich gegen die Vollmachtenverlängerung ftimmen müffen, denn 
eine Verlängerung auf beftimmte Zeit mit dem fei ed audgefprocdhen, fei ed 
unaudgefprochenen Vorbehalt ded Widerrufs war ein Widerfinn und eine Rüge, 
durch welche die Iegitimiftifhe Partei im Voraus ihrer Oppofition die Spite 
abbrach, indem fie ihre Sache durch Halbheit und Zweideutigfeit entwürbdigte. 

Zunächſt ließ die Regierung indeſſen die Commentare der Tegitimiftifchen 
Blätter auf ſich beruhn; denn fie konnte der legitimiftifchen Stimme um fo 
weniger entbehren, da die Bonapartiften der dee der Vollmachtsverlängerung 
gegenüber ſich unerwartet fpröde verhielten. Die Eugen Führer diefer Partei 
waren allerding3 meit davon entfernt, die Confervativen wegen des Streiches, 
den fie ihren Verbündeten vom 24. Mai dur ihren Reſtaurationsverſuch 
gefpielt Hatten, geradezu in Stih zu laſſen. Dur Gefühldregungen ließ 
fih Herr Rouber überhaupt nicht beftimmen; jeder feiner Schritte war wohl 
berechnet und fein Anfehen war groß genug, um die Heißfporne der Partei, 
die durch ihre Prahlerei und ihr wüſtes Toben ſich in oft läftiger Weiſe be 
merkbar machten, wenigftend von unbefonnenen Handlungen zurüdzubal: 
ten. Rouber nun erkannte fofort die Vortheile, aber auch die Schwierigkeiten 
der Rage: es galt, die einen gründlich audzubeuten, durch die andern geſchickt 
fih hindurchzuwinden. In gewiſſer Beziehung lagen die Dinge ähnlich wie 
im Mat, infofern die Confervativen alle Urfache hatten, fich des Beiftandes 
der Bonapartiften zu verfichern; infofern Tagen fie wieder anders, als die 
Bonapartiften durch ihre Principien gehindert waren, unbedingt der Politik 
fih anzufchließen, über melde die Regierung mit der Mafje der conferva- 
tiven Partei fi entweder ſchon geeinigt hatte, oder mwenigftend im Begriff 
ftand, fich zu einigen. Das Recht, auf lange Zeit, über die Dauer ihres eignen 
Daſeins Hinaus, über die höchfte Gewalt zu verfügen und diefelbe mit ver- 
faſſungsmäßigen Befugniffen audzurüften, Eonnten fie ihrem oberften Grund: 
fate gemäß der Verfammlung gar nicht zugeftehn. ine foldhe Entſcheidung 
fonnte nur das Volk in feinen Urverfammlungen treffen. In ihren Anfichten 
über die Befugniffe der gegenwärtigen VBerfammlung flimmte fie alfo im 
Weſentlichen mit der eigentlichen Linken überein, und da merfwürdiger Weife 
auch die Mlebicitivee bei einem Theile diefer Partei Anklang fand, fo 
ihien es im Augenblid faft, ald ob ein Bündniß zmifchen Republifanern 
und Bonapartiften zu Stande fommen werde. Indeſſen erklärte fich die 
Mehrzahl der Republikaner doc entfchieden gegen eine Bolksabftimmung im 


301 


bonapartiftiihen Stile, und was die Bonapartiften felbft betrifft, fo waren 
die Verſuche einer Annäherung an die Linke ſchwerlich ernft gemeint. Um die 
MWiederherftellung des Königthums zu hindern, wären fie allerding3 wohl 
bereit geweſen, ſich mit allen Parteien zu verbünden, die entfchloffen waren, 
den Plänen der Royaliften den äußerften, wenn es fein mußte, gewaltfamen 
Widerftand entgegenzufegen; aber an diefer Entfchloffenheit hatte e8 eben den 
Republifanern in den Augenbliden, wo nur ein Eräftige® Handeln die Roya- 
liften in der Verwirklichung ihrer Pläne hindern zu können fohien, durchaus 
gefehlt. Jetzt, wo die Reftauration gefcheitert war, wo die Royaliften fürs 
erfte unbedingt auf ihre Hoffnungen verzichten mußten, fahen die Bonapar- 
tiften ihre gefährlichften Feinde wieder in den Republifanern, die fie nur in 
Gemeinfhaft mit den übrigen Gruppen der confervativen Partei bekämpfen 
fonnten. Mit erneuter Zuverfiht ftellten fie ihren alten Sat auf, daß es 
ih in dem Entfheidungdfampfe um die Zukunft Frankreichs um Republif 
und Kaiſerthum handele, und die Republikaner, wie ſchwer ihnen auch das 
Geftändnig der Furcht vor dem fo oft mit verächtlichen Worten zu den Todten 
gemorfenen Cäſarismus wurde, fonnten doch nicht umhin, die Richtigkeit ihres 
Satzes zu befräftigen. Verhandlungen zwifchen den beiden Parteien fanden 
allerdings ftatt; aber bei dem gegenfeitigen Mißtrauen Eonnten fie zu feinem 
Ergebnig führen. Die Bonapartiften lehnten e8 ab, bei der Präfidentenwahl 
für Grevy zu flimmen, die Mehrzahl der Republikaner verwarf das Plebiseit. 

‚Hatten die Bonapartiften ihrem Zufammenhang mit der confervativen 
Partei von Neuem Ausdrud gegeben, fo waren fie andrerſeits, mie ſchon 
bemerkt, doch ſchon durch die Verhältniffe auf eine gefonderte Stellung inner- 
halb derfelben angemiefen. Einen Wechfel in der höchſten Staatögemalt 
fonnten fie natürlich nicht wünfchen. Mac Mahon betrachteten fie Halb und 
halb ala einen der Ihrigen, und ihn zu flürzen, um Thiers wieder and 
Ruder zu bringen, lag durchaus nicht in ihrer Abficht. Andrerſeits aber 
mochten fie durh eine Abftimmung zu feinen Gunften ihm gegenüber feine 
moralifche Verpflichtung eingehn; es lag ihnen vielmehr daran, für alle Fälle 
freie Hand zu behalten. Zunächſt waren fie auf eine abwartende Haltung 
angemwiefen, und auf welche Weiſe die widerſpruchsvollen Forderungen, melde 
ihre eigenthümliche Rage an fie ftellte, mit einander zu vereinigen wären, da- 
rüber mußten fie fchlieglih nach dem Verlauf der parlamentarifhhen Berhand- 
lungen im letzten Augenblide ihre Entfcheidung treffen. 

Auh die Republikaner konnten, nachdem fie den erften Augenblid der 
Verwirrung ohne jeden Verſuch die Macht an fich zu reißen, hatten vorüber: 
geben Tafjen, gegen eine Verlängerung der Vollmachten Mac Mahon’d nichts 
einwenden. Ihre Bemühungen, noch vor der Entiheidung der Proroga: 
tiondfrage den Herzog von Broglie zu ftürzen, fcheiterten befonderd an dem 





— 
302 


MWiderftande Mac Mahon’s, deſſen Politik auf die Wiederherftellung der alten 
Mehrheit abzielte, und der einer Verfchiebung des Schwerpunkts der Ber: 
fammlung in das linfe Centrum um fo entfchiedener abgeneigt war, da er 
mit Recht fürdhtete, in diefem alle ein Werkzeug feines gefährlichiten Geg- 
ners Thiers zu werden. Den Kampf um die Macht fahen die Republifaner 
fih alfo genöthigt zu vertagen, und es blieb ihnen ſomit Nichts übrig, ale 
der Verſuch, für das Zugeftändniß der Vollmashtenverlängerung die fürmliche 
Anerkennung und Organifation der Republik durchzufegen und im Yugen- 
blick ſchienen fih in der That die Ausfichten für diefen Verſuch nicht ganz 
ungünftig zu geftalten. 

Am 4. November hatte, da die Regierung in diefer Angelegenheit der 
Berfammlung die Initiative überlaffen wollte, Changarnier feinen Antrag 
geftellt, deffen erfter Artikel die Verlängerung der Vollmachten des Marſchalls 
auf 10 Jahre forderte. Nach dem Artikel 2 follte er diefelben nach den gegen 
wärtigen Bedingungen ausüben, fo lange fie nicht durch conftitutionelle Ge 
fege verändert fein würden. Zur Berathung diefer Gefege ſollte nach Artikel 3 
ein Ausfhuß von 30 Mitgliedern in öffentlicher Sitzung und durch Liſten— 
ferutintum (nicht von den Abtheilungen) ernannt werden. Sofort ftellte der 
Bonapartift Echaſſeriaur den Gegenantrag, am 4. Januar 1874 eine allge 
meine Abftimmung über Kaiſerthum, Republif, Königtfum zu veranftalten; 
legterer Antrag wurde ebenfo wie der Vorſchlag Dufaure’s, beide Anträge der 
Commiſſion zur Prüfung der conftitutionellen Gefete zu überweifen, abgelehnt, 
und befhlofien, zur Vorberathung ded Antrags Changarnier’ö eine befondere 
Kommiffion zu ernennen. 

Die Rechte glaubte fich ded Sieges ficher, hatte dabei aber nicht bedadt, 
daß die Wahl eines Ausſchuſſes durch die Ubtheilungen oft zu den auffallend 
ften und überrafchendften Ergebniffen führt. So auch diedmal: von dem 15 
Mitgliedern des Ausſchuſſes gehörten 8 der republifanifchen Partei, 7 der 
Rechten an. 

Selbftverftändlich war die Verfammlung in feiner Weiſe an die Befchlüffe, 
welche der Ausſchuß etwa fallen würde, gebunden. Nichtödeftomweniger fah 
die Linke in diefem. Wahlergebniß einen bedeutenden Erfolg. Der moraliſche 
Eindruf des Ereignifjed auf die ſchwankenden Mitglieder der Verfammlung 
war groß; was aber eben fo wichtig war, auch die Regierung mußte mit 
den Republifanern rechnen. Die Commiffion mar das rechtmäßige Organ 
der Kammer; ihre Beichlüffe waren unter allen Umftänden von Wichtigkeit; 
die Regierung mußte fuchen, einen für fie annehmbaren Commiſſionsbeſchluß 
herbeizuführen, fie mußte unterhandeln, und dad war für die Republikaner ein 
unſchätzbarer Vortheil ; fie Eonnten als legitime Macht auftreten, mad ihnen 
lange nicht vergönnt gemwejen war. 


Indeffen zeigte fi bald, daß die Verhandlungen zwiſchen der Regierung 
und der Gommiffion nicht zum Biele führen würden. Die Mehrheit ver 
Commiſſion, deren Führung Caſimir Perrier übernommen hatte, beftand da- 
rauf, daß die Abftimmung über die Verlängerung der Vollmachten und die 
conftitutionellen Gefege gleichzeitig vorgenommen würden, d. 5. fie wollte die 
Präfidentfchaft als organifchen Beftandtheil in eine republikaniſche Verfaſſung 
einfügen, während Mac Mahon unbedingt die Trennung beider Fragen ver- 
langte: die Verlängerung der Vollmachten ganz unabhängig von den confti- 
tutionellen Gefegen, deren Nothwendigfeit auch er erkannte, die aber, wie er 
die Sache auffaßte, nicht die Republif begründen, fondern nur die Befugniſſe 
der Erecutivgewalt regeln und Träftigen follten. Dad war dad grade Gegen- 
theil von dem, was die Mehrheit des Ausſchuſſes durchzuſetzen wünſchte, und 
an diefem grundfäglichen Gegenſatz mußten natürlich alle Bereinbarungdver- 
ſuche ſcheitern. 

Je klarer fich dies herausſtellte, um fo mehr war die Regierung darauf 
angewieſen, mit der Rechten fi vollftändig zu verſtändigen. Dazu bedurfte 
es aber von Seiten Mac Mahon's eined Zugeftändniffes in Betreff der Zeit, 
für welche feine Vollmacht zu verlängern wäre, da an den 10 Jahren nicht 
bloß die Republikaner und Bonapartiften, fondern auch die NRoyaliften in 
überwiegender Mehrheit Anlaß nahmen. Am 17. November erlieg Mac Mahon 
eine Botfchaft, in welcher er erklärte: Frankreich würde einer Staatögewalt 
kin Berftändnig abgewinnen können, deren Dauer man ſchon in ihrem 
Beginn Vorbehalten unterwürfe, durch welche diefelbe von dem conftitutionellen 
Geſetze abhängig gemacht würde. Dadurch würde in wenigen Tagen wieder 
in Frage geftellt werden, was man heute befchliegen würde. In biefem 
Hauptpunkte alfo blieb Mac’ Mahon feſt, und erkannte die8 um fo ficherer, 
da er hierin au auf die Zuftimmung der Bonapartiften rechnen konnte. 
In der Zeitfrage gab er dagegen nad und erklärte, fich mit einer Ver— 
längerung feiner Amtögewalt auf 7 Jahre begnügen zu Eönnen. 

Damit war die Brüde der Verftändigung mit dem Ausfchuffe abgebrochen 
worden. Die Mehrheit des Ausſchuſſes ſchlug vor, die Ubftimmung über die 
Verlängerung der Gemalten und über die conftitutionellen Geſetze gleichzeitig 
und zufammen vorzunehmen, die Minorität ftellte durch den Abgeordneten 
Depeyre diefem Vorſchlag den in einigen Punkten modifiecirten Antrag 
Changarnier’3 (u. a. war der Titel „Präfident der Republik“ in den Geſetzes⸗ 
vorſchlag aufgenommen worden) entgegn. Nach Iebhafter Debatte, in der 
die Bonapartiften ihren Standpunkt dur die Forderung der allgemeinen 
Abſtimmung wahrten (Rouher felbft ergriff bei diefer Gelegenheit das Wort), 
wurde der Antrag Depeyre in allen feinen Thetlen mit bedeutender Stimmen: 
mebrheit angenommen. Bon der Linken war der Verſuch gemacht worden, 


J F 


304 


wenigſtens den Sturz des verhaßten Broglie herbeizuführen. Aber auch dieſer 
Verſuch ſcheiterte. Allerdings reichte das Miniſterium, wie ſich unter den 
obwaltenden Umſtänden von ſelbſt verſtand, ſeine Entlaſſung ein; aber Broglie 
wurde mit der Neconftruction des neuen Septennatsecabinets beauftragt. 
Und in der That lag für Mac Mahon gar fein Grund vor, fi von einem 
Minifter zu trennen, der von feiner Kunft, jeder Sache zu dienen, 
ohne fih und feinen Chef zu compromittiren, während der Fuſionsperiode 
die glänzendften Bemeife abgelegt, der nad) Veröffentlichung des Chambord— 
hen Briefe raſch fih in die neue Rage gefunden und fie beherrſcht, der 
durch feine Gefchielichkeit e8 durchgefegt hatte, daß dem Marſchall feine Boll 
machten unter von ihm felbft geforderten Bedingungen d. 5. fo gut wie be 
dingungslos, verlängert wurden. Dazu Fam, daß am 24. November die 
Berfammlung Herren von Broglie ein glänzendes Vertrauensvotum ertheilte, 
indem fie mit 364 gegen 314 Stimmen über eine die Nichteinberufung der 
Wahleollegien behufs Vornahme der Erfäswahlen betreffende Interpellation 
Leon Say's, auf melde die Oppofition große Hoffnungen gefettt hatte, zur 
Tagesordnung überging. So war alfo Broglie vorläufig durchaus der 
Mann der Situation, er benuste die Gelegenheit, um fich des ungefchidten 
Beuld zu entledigen; außerdem fchieden die Legitimiſten de la Bouillerie, 
Batbie, Ernoul aus. Broglie felbft übernahm mit der Vicepräfidentfchaft des 
Rathes das Innere, der Herzog von Decazed das Aeußere; die übrigen Mit: 
glieder der reconftruirten Gabinet3 waren: Fourtou: Unterriht; Deffeilligny: 
Handel; Larey: öffentliche Arbeiten; Depeyre: Juſtiz; Magne: Finanzen; 
du Baratl: Krieg; Dampierre D’Hornoy: Marine. Die beiden bonapartiftifcen 
Minifter waren alſo geblieben und der Unterrichtäminifter Fourtou ftand 
den Bonapartiften menigftend fehr nahe. Charakteriftifh für das neue 
Gabinet war das Burüdtreten des entſchieden Iegitimiftifchen Elements, 
welches durch die unaudgefegten heftigen Angriffe der Tegitimiftifchen Blätter 
gegen das Septennat vollflommen motivirt war. Daß Broglie dad Porte 
feuille de Innern übernommen hatte, fonnte ald Beweis gelten, daß die 
Regierung entſchloſſen war, alle ihre Gegner mit Anwendung der äußerſten, 
ihr zu Gebote ftehenden Mittel zu bekämpfen. 

Der Grund zu einer fiebenjährigen Dictatur war gelegt. Da fi in- 
defien der rechtmäßige Souverän, die Nationalverfammlung, doch nicht ganz 
bet Seite fhieben ließ, fo war man darauf angemiefen, die Dietatur unter 
parlamentarifhen Formen zu verfteden und zu biefem Zwecke die Wieder 
berftellung der alten Mehrheit in Angriff zu nehmen. Wo es galt, den 
Republifanern Widerftand zu leiften, Hatte ſich diefelbe auch bereitö wieder 
zufammengefunden; aber außer dem Haß gegen die Republikaner gab es fein 
gemeinfame® Band für die confervativen Gruppen. Died zeigte fich bei den 


305 


Wahlen für die Dreißigercommiffion. Alle Gruppen der Mehrheit waren 
einverftanden, die Republifaner von der Theilnahme an der Commiffton mo- 
möglich ganz audzufchliegen. Aber nahdem etwa die Hälfte der Mitglieder 
ernannt war, gerieth die Wahl völlig ind Stoden, da die Mehrheit über die 
Frage, nach welchem Verhältniſſe die Zahl der Mitglieder unter die einzelnen 
Gruppen zu vertheilen fet, völlig auseinanderftel. Sitzung auf Situng folgte, 
ohne daß es gelang das MWahlgefhäft zu Ende zu führen. Als man endlich 
28 Mitglieder ernannt hatte, — darunter einige menige Republifaner — 
drohte die ganze Wahloperation zu ſcheitern; die Linke und ein Theil der 
Regitimiften enthielt fi der Abftimmung, und in Folge davon wurde nicht 
mehr die zur Wahl nöthige Anzahl der Stimmen (die abfolute Majorität der 
Verfammlung) abgegeben. Man mußte fi entſchließen, mit der Rinfen zu 
verhandeln, und derfelben die letzten zwei Stimmen (Cazanne vom linken 
Centrum und Vacherot von der Linken) zu bemwilligen. 

Eine feſte Majorität gab es alfo in diefem Augenblid nicht. Die 
äußerfte Rechte fchien zu ſyſtematiſcher Oppofition entfchlofjen, die Bonapartiften 
fanden ihren Vortheil dabei, fich in Feiner Weife zu binden, fondern ganz 
nad den Umftänden zu handeln. Die Drleaniften waren die einzigen, die 
fih dem Septennat ohne audgefprochenen Vorbehalt anfhloffen, aber auch 
fie nicht ohne Hintergedanfen. Ihr ganzes Trachten ging dahin, für den 
Herzog von Aumale, der eben dabei war, fich in dem Bazaine'ſchen Procefie 
RKorbeeren ganz eigenthümlicher Art zu pflüden, eine Stellung ausfindig zu 
machen, die Ihm die Unmartfhaft auf Mac Mahon's Stelle gäbe. 

Die Ausfihten für Bildung einer gefhloffenen feptennaltftiihen Partei 
waren alfo von Anfang an fehr gering. Aber grade diefe Zerrüttung der 
Rarteiverhältniffe konnte, gefchictt benust, für Mac Mahon ein Machtmittel 
werden. Vermochte er nicht, ſich auf die Mehrheit zu ftügen, fo hörte auch 
feine Verpflihtung gegen die Mehrheit auf. Ye ziellofer die Parteifämpfe 
fi geftalteten, um fo höher ftieg in Frankreich das Bedürfniß nach einer 
farfen Regierung. Konnte Mac Mahon eine folche, fet es ohne die Nattos 
nalverfammlung, fet es felbft im Gegenfat zu ihr, begründen, fo war er ber 
Herr der Situation. Dazu bedurfte es Feiner hohen ſtaatsmänniſchen Bega- 
bung, nur einer gewiffen ausharrenden Zähigfeit in der Behauptung des ein- 
genommenen Platzes. Diefe Zähigkeit fchrieb man dem Marfchall in Er- 
innerung an fein befanntes Wort: „j’y suis et j'y reste* zu. Hatte er den 
feften Willen, auf feinem Poſten zu beharren, fo ließ ſich für den Augenblid 
nicht abfehn, wer es wagen und vermögen follte, ihn von demfelben zu ver- 
drängen. ®eorg Zelle. 


Grenzboten IV. 1871. 39 


306 


sin amerikanifder Humorxiſt. 
(Markt Twain.) 


Markt Twain ift den Leſern der Grenzboten ein alter Bekannter. Im 
Sommer 1873 braten diefe Blätter unter dem Titel „Ein Beſuch auf den 
Sandwichsinſeln“ eine Reihe feiner vorzüglichen humoriftifchen Reiſeberichte.) 
Heute liegt und die angenehme Pfliht ob, eine Auswahl feiner Schriften in 
deutfcher Meberfegung bei unfern Xefern einzuführen. Es ift dieß der zweite 
Band, der bei F. W. Grunow erfiheinenden „ Amerifanifhen Humo- 
riften“*), eine Sammlung, deren erften Band wir vor Kurzem rühmend 
zu erwähnen Gelegenheit hatten.***) 

So liegen’ denn bis jetzt aus diefem Verlage Meberjegungen von Bret 
Harte, Thomas Bailey Aldrih und Markt Twain vor, die alle den gleid 
gewandten Meberfeger verrathen. Der dritte Band der Serie „Amerikaniſche 
Humoriften* foll die berühmte „Geſchichte vom ſchlimmen Jungen“ von The: 
mad Bailey Aldrich enthalten, der vierte und mit Mar Adeler's „Fern vom 
Weltgetümmel“ befannt machen. Wenn diefe Sammlung vollftändig erjchienen 
ift, wird vielleicht die Gelegenheit fich bieten, diefe amerikanischen Humoriſten 
und Dichter unter einander zu vergleichen. Für heute enthalten wir und dei 
Verſuchs diefer Arbeit. Mark Twain fpricht fo fehr für fich felbft, daß er 
der Empfehlung und Charafterifirung beim Leſer durchaus nicht bedarf, um 
verftanden und herzlich willkommen geheißen zu werden. Es Fann völlig ge 
nügen, wenn hier gejagt wird, daß die neueften Schriften Mark Twain’d — 
die hier noch nicht überſetzt find — darauf hindeuten, daß diefer Schriftfteller 
mehr und mehr die politifche Satire als feine vorzüglicfte Domäne cultivirt, 
Sein im vorigen Jahre erfehienener Roman The gildedage (das vergoldete Zeit: 
alter) ift die graufamfte Berfiflage der öffentlichen Zuftände oder beſſer Mipftände 
der Vereinigten Staaten, die ſich denken läßt. Und der Erfolg, den diefe Fühne 
That gehabt hat, dürfte den Dichter um fo mehr beftimmen in feiner Spe 
zialität fortzuarbeiten, als bekanntlich in den letzten Jahren eine fehr mäch— 
tige Oppofition der ehrlichen Leute der Union, unter der Führung unfres 
einftigen Landsmannes, des Senator Karl Schurz ſich regt, um die Gorruption, 
die fih drüben in alle öffentlichen Verhältniffe, in die Verwaltung und Ge 
feßgebung der Gemeinde, der Partikularſtaats- und der Bundedangelegenheiten, 
ja felbft in die Juſtiz, im meiteften Umfange eingenijtet hat, aus dem Sattel 

*) Grenzboten 1873 III. ©. 25. 56. 100. 140. (Heft 27—30). 
**) Amerifanifche Humoriften. 2. Band. Jim Smiley's berühmter Springfrofeh und dergl. 
wunbderliche Käuze mehr. Im GSilberlande Nevada von Mark Twain. Ins Deutfche über 


tragen von Moritz Buſch. Leipzig, F. W. Grunow. 1874. 
*9) Grenzboten 1874, IV. ©. 92. 


307 


zu heben. Die jüngften amerifanifhen Wahlen find ein Beweis für die 
Stärke diefer Oppofition. Leute, die lange drüben gelebt haben, ftellen ent- 
Ihieden in Abrede, daß den Sieg bei den letzten Wahlen die „Demokraten“ 
davongetragen hätten, d. h. jene politifche Partei, welche im Seceffiondfrtege 
niedergemorfen, und bei und Deutfchen in der Pegel ald die „reactionaire* 
angefehen wurde. Bielmehr hat die Oppofition der ehrlichen Leute gegen 
die Sorruption jener Verwaltung, die Grant's populären Namen und feine 
Duldfamfeit gegen politifche Parteigenofjen mißbrauchte, den Sieg davonge- 
tragen, und nun die Majorität im Congrefje, eine an Majorität ftreifende 
Minderheit im Senat erlangt. So mird' das letzte Wahlergebniß von der 
amerifantfchen Preſſe aller Farben beurtheilt. Eine fpätere Zeit erft wird 
darüber richten, welchen Antheil an diefer tiefen Wandlung, deren fruchtbare 
und bedeutfame Folgen jest noch nicht einmal überfehen werden können, jener 
kecke Humorift hat, der die faulen Zuftände feined Baterlandes mit dem 
ſchärfften Spotte ſchoönungslos geielte und dadurch vorläufig alle Lacher auf 
feine Seite brachte, bis dann der Ernſt des politifhen Wirkens in Verfamm- 
lungen, Flugfhriften und Preßartikeln die Oppofition der ehrlichen Leute in 
dadfelbe Lager zog. 


Diefe mächtige Begabung Mark Twain's für politifche Satire tritt in 
der vorliegenden Auswahl feiner Schriften für denjenigen, der feine fpäteren 
Sachen gelefen hat, allerdings ſchon in recht merflicher Deutlichkeit hervor, 
und unfere Leſer follen davon fpäter einige ſchmackhafte Proben erhalten. 
Aber im Ganzen iſt hier der Humor noch Selbſtzweck; oder wenn man will 
nothmwendige natürliche Folge der entfprechenden Weltanſchauung des Dichters. 
Wir werden in den im nädhiten Hefte zufammenzuftellenden Auszügen aus 
Markt Twain's Beobachtungen und Abenteuern auf einer Meberlandreife von 
St. Joſeph bis Nevada und im Silberlande felbit, nachmweifen, welch gottbe- 
gnadete Fülle von Humor ihm innewohnt, wie er felbjt die trübfeligften 
wüfteften Einöden der Erde, die thierifchen Sammergeftalten, welche fie be— 
völfern, die menfchlichen und thierifchen Ueberrefte, welche in der brennenden 
Sonne aus dem tiefen Haidefand hervorragen und ded Nachts phosphores- 
cirend Teuchten wie matte Mondicheinftrahlen, — wie er all das mit unfterb- 
licher Heiterfeit der Seele zu betrachten und zu fohildern weiß. Und diefe 
fröhliche Lebensanſchauung verläßt ihn auch nicht, wenn er felbft vielleicht 
denkt oder fich vornimmt, befonders ſcharf und boshaft zu fehreiben. Ich meine, 
felbft die Opfer feiner Späße müffen mit ihm lachen. Und nur Wenige wird 
ed geben, denen ein Pfeil im Fleifche zurückbleibt, den Markt Twain hinein: 
trieb. Und diefe Auserwählten haben es jedenfalls reichlich verdient und felbft 
für amerifanifche Gewohnheiten übertoll getrieben. Aber daß der Pfeil eine 


308 


ehrliche gerade glatte Spite hatte und völlig giftfrei ift, müſſen ſicherlich auch 
fie zugeben. — 

Die Kleinen Erzählungen Mark Twain's, welche diefer Band vereinigt, 
haben eigentlich alle einen fatirtfhen Anflug. Sie geißeln alle, eine jede in ihrer 
Weiſe, ein yankee'ſches Nationallafter: die übertriebene Wettluft; die mweitver- 
breitete VBervolllommnung in der Begabung für das Rügen, gegen melde 
Mündhaufen ald armfeliger ABE-Lügner erfcheint; die Neigung feiner 
Landsleute für fenfationelle Stoffe; das allgemeine Behagen, mit dem drüben 
Mordgeſchichten in ihren abfchredendften Detaild niedergefchrieben und gelefen 
werden; die Schattenfeiten der „Rady“.Erziehung und dergleihen mehr. Aber 
diefe Moral der Gefhichte tritt vor dem leuchtenden wärmenden Humor ded 
Dichter fo volftändig zurüd, daß man bei der Lectüre niemal® durch eine 
zu enge Fühlung mit der Tendenz durchfröftelt wird. Einige Beifpiele mögen 
ftatt weiterer Bemerkungen folgen. 

Die erfte Erzählung, „Jim Smiley's berühmter Springfroſch“ ſchildert 
ung die Symptome und den üblichen Verlauf der Wettkrankheit. Sim Smiley 
ift der vom MWettteufel Befeffene. Er mettete auf Alle nur Mögliche, kaum 
wurde was erwähnt, jo erbot er fich, darauf zu wetten, dafür oder dagegen, 
es war ihm Alles eind: auf MPferderennen, Hunde, Kaben- und Habnen- 
kämpfe. Wenn zwei Vögel auf einem Zaune faßen, fo bot er eine Wette 
an, welcher zulegt megfliegen würde. Dder wenn ein Gottesdienft unter 
freiem Himmel mit mehreren Predigern abgehalten wurde, fo mar er regel 
mäßig von der Partie, um auf den Paſtor Walker zu mwetten,.den er für 
den beften Ermahner hier herum hielt... . Es war ihm Allee Wurft, wenn 
er nur wetten Eonnte, der Hölenkerl. Paſtor Walkers Frau lag einmal eine 
gute Weile todfranf darnieder, und es ſchien, ald ob man fie nicht durd- 
bringen würde. Da kommt er eined Morgens herein, und Smiley fragt, 
wie's ihr gehen thut, und der Paſtor jagt, es ginge erheblich beffer. Gott 
fei Dank für feine unendliche Barmherzigkeit — und ed machte fich fo gut 
mit ihr, daß fie, wenn die Vorfehung ihren Segen dazu gäbe, wohl nod 
wieder gefund werden würde — und mad fagt da diefer Smiley, ohne fid 
lange zu befinnen? „Na, gut, ich riäfire dritthalb Dollar, daß fie nicht 
wieder wird, Punctum!“ 

Jim Smiley hielt fi) aber auch verfchtedene Haudthiere, welche ihn in 
die Rage verfegten, die Bedürfniſſe feines MWettgenied nicht dem geiftlofen 
Zufall preidzugeben. Da war die „Funfzehn: Minuten: Mähre“, fein Wett: 
pferd, welches in jedem Nennen durch verzweifelte Hegen und Strampeln 
Huften, Niefen, Naſenſchnauben und Staubaufwirbeln immer eine Kopflänge 
eher am Ziel anlangte ald jedes andere Pferd. Da mar Andrew Jackſon 
feine Kleine Bulldogge, der er viel Geld verdanfte. Denn fie hatte eine eigen 


thümliche Taktik, jeden andern Köter im Kampf unterzufriegen., Sie ließ fi 
erft abwalfen und herumzerren, beißen, zwei bis dreimal über die Schulter 
hmeißen von feinem Gegner, bis fie — auf einmal den andern Hund beim 
Gelenke feined Hinterbeines Friegte und dran hängen blieb mie angefroren. 
„Er kaute nicht, verftehen Ste wohl, fondern biß fi nur feft und hing dran, bie 
fie den Schwamm in die Höhe warfen, und wenn ed ein Jahr gedauert hätte. 
Smiley gewann mit diefem Hunde immer, bid er einmal auf ihn gegen 
einen andern wetten that, der feine Hinterbeine hatte, weil fie ihm von einer 
Kreisſäge abgefchnitten worden waren, und als die Geſchichte Tange genug 
gedauert hatte und das Geld alle gejest war, und Andrew Jackſon feinen 
Leibbiß thun wollte, da fah er im Augenblid, wie er betrogen war, und wie 
ihn der andere Hund, fo zu fagen, in der Klemme hatte, und fo verlor er 
die Courage und gab fich feine Mühe mehr, zu gewinnen und wurde zuletzt 
garftig abgeführt. Er warf Smiley einen Blick zu, wie wenn er fagen wollte, 
fein Herz wäre gebrochen, und er wäre Schuld daran, da er ihm einen Hund 
gegenüber geftellt hätte, der feine Hinterbeine nicht hätte, an die er fich halten 
könnte, was doc das wäre, worauf er fich beim Losgehen hauptfächlich ver: 
laffen thäte. Und dann hinkte er ein Stüd fort, legte ſich nieder und flarb. 
63 war ein guter Hund, diefer Andrew Jackſon, und er mürde fi einen 
Namen gemacht haben, wenn er leben geblieben wäre, denn dad Zeug dazu 
hatte er und Genie au — ich weiß das, obfchon er Feine Gelegenheit nicht 
gehabt Hat, davon zu fprechen. Es macht mich immer traurig, wenn ih an 
diefe feine lebte Bataille denke, und an die Art, wie fie ablief. 

Das munderbarfte Thier aber, da8 Jim Smiley zu Wettfiegen ab- 
gerichtet Hatte, und das feine ganze Erziehung ausfchlieglich feinen pädagogi- 
hen Zalenten verdankte, war ein Froſch. Er that an die drei Monate lang 
nichts, als daß er in feinem Hinterhofe faß und diefem Froſche das Hüpfen 
lernte. Na und ob er’ ihm lernen that! Er gab ihm einen Eleinen Schubs 
binten, und in der nächſten Minute ſah man, daß der Frofch wie ein Pfann- 
kuchen in der Luft wirbelte, einen Purzelbaum oder, wenn er richtig aus. 
geholt hatte, ein paar ſchlug und dann ganz ordentlich wieder auf die Beine 
fam mie eine Kate. Er richtete ihn fo auf den Fliegenfang ab und erercirte 
ihn fo fleißig darauf ein, daß er jedesmal feine Fliege wegſchnappte, fobald 
er eine vor ſich ſah. Smiley fagte, Alled was ein Frofh brauchen thäte, 
dad wäre Erziehung, dann Fönnte er faft Alles fertig Eriegen, und ich glaube 
ihm. Cie haben in Ihrem Leben feinen Froſch nicht gefehen, der fo befcheiden 
und geradezu gewefen wäre. Und wenn ſich's um den Weitfprung auf einer 
Fläche handelte, fo fam er mit einem Sabe viel weiter als fonft ein Vieh 
von feiner Sippfchaft, dad man fehen konnte. Weitfprung auf ebnem Boden, 
dag war feine Hauptforce, und wenn es dazu fam, fo feste Smiley Geld 





310 & 


auf ihn, fo lange er einen rothen Gent in der Taſche hatte Smiley war 
fürchterlich ftolz auf feinen Frofh, und er hatte Recht damit; denn Leute, 
die gereift hatten und überall gewefen waren, die fagten, daß er über alle 
Fröſche ginge, die ihnen vor die Augen gefommen wären. Nun vermahrte 
Smiley feinen Springfrofch in einem Eleinen Käfig aus Stäbchen, aus dem 
er ihn mitunter herausholte und zu einer Wette auffordertee Nun Fommt 
ibm da einmal ein Burſche — er war fremd bier im Nager — über den 
Meg, fieht den Käfig und fagt: „Ei was mag wohl das bier fein, was 
Sie in dem Käfig haben ?* Und Smiley fagt, wie wenn er fih nichts draus 
machen thäte: „Na e8 könnte ein Papagei fein oder am Ende ein Kanarien- 
vogel — aber nichts damit, 's ift blos ein Froſch.“ — Und der Burſch nahm 
ihn in die Hand, befah ſich ihn genau, drehte ihn bald nach diefer Seite um 
und bald nad) jener und fagte: „Hm, richtig. Na, wozu ift der wohl gut?" 
„se nun,“ fagte Smiley leichthin und gelaffen, „er ift gut genug für eind, 
fol’ ich meinen — er fpringt weiter mie irgend ein Froſch in Calaveras 
County.“ Der Burfhe nahm den Käfig noch einmal, betrachtete fich ihn 
wieder lange und forgfältig, und gab ihn dann Smiley zurüd, indem er 
fehr entjchieden fagte: „Na, ich fehe an diefem Frofche nichts, was beſſer 
wäre ald bei andern Fröfchen.“ — „Mag fchon fein,“ fagte Smiley. „Mag 
fein, daß Sie fih auf Fröſche verftehen, mag fein, daß Sie nichts davon ver- 
ftehen, vielleicht, daß Sie Erfahrungen haben, vielleicht, daß Sie nur ein Laie 
in dem Wache find. Sei dem, wie ihm wolle, id) habe meine Meinung in 
der Sache, und ich wette vierzig Dollars darauf, daß er meiter fpringen Fann 
als irgend ein Froſch in Salaverad County.“ — Der Burſche überlegte fichs 
eine Weile, dann fagte er traurig: „Sa, ich bin hier fremd und habe feinen 
Froſch, aber wenn ich einen hätte, fo wollte ich wohl mit Ihnen wetten.“ 
Und dann fagte Smiley: „Schon gut, fhon gut — wenn Sie meinen Käfig 
eine Minute halten wollen, fo will ich hingehen und Ihnen einen Froſch 
holen.“ Und fo nahm der Burfhe den Käfig und legte feine vierzig Dollars 
neben Smiley'n feine hin und fette fich hin, um zu warten. — So faß er 
eine gute Meile da und fann und grübelte vor ſich hin, bis er's Hatte; da 
nahm er den Frofch heraus und fperrte ihm das Maul auseinander und 
füllte ihm mit einem Theelöffel den Bauch vol Wachtelſchrot. Er ftopfte 
ihn voll, faft bis an den Hals, und feste ihn dann auf die Erde Smiley 
war dermeile nad) dem Sumpfe gegangen und mwatete im Schlamme herum, 
lange Zeit, und endlich erwifchte er einen Froſch und brachte ihn herzu und 
gab ihn dem Burſchen und fagte: „Na, wenn Sie jet parat find, fo fegen 
Sie ihn neben Daniel'n hin, feine Borderpfoten ganz in derfelben Linie wie 
Daniel'n feine, und ich werde das Signal geben.” Dann fagte er: „Eins 
— zwei — drei — hopps!“ und er und der Burſche gaben den Fröfchen 


„m 


311 
hinten einen Tipp®, und der neue Froſch hüpfte fort. Aber Daniel that 
einen Seufzer und bob die Schultern — Jo — wie 'n Franzofe — aber 's 
half nichts, er Fonnte fi nicht rippeln noch rappeln, er faß fo feit mie ein 
Ambos, und er war nicht mehr im Stande, fi zu regen, als wenn er mit 
einem Anker feitgefettet wäre. Smiley war fehr überrafht davon und fehr 
böfe darüber, aber er hatte natürlich Feine Ahnung, an was es lag. — Der 
Burfche nahm das Geld und machte, daß er fort Fam, und ald er zur Thür 
hinaus ging, zeigte er mit feinem Daumen über feine Schulter — fehen Sie, 
jo — nad) Daniel’'n hin und fagte wieder fehr entfchieden: „Nein, ich fehe 
an diefem Frofche nichts, was beffer wäre ald bei andern Fröſchen.“ Smiley, 
der ftand da und fragte fih am Kopfe und ſah nieder auf Daniel, eine 
lange Zeit, und zuleßt fagte er: „Möchte doch willen, warum in aller‘ ‘Welt 
diefer Froſch den Kürzeren gezogen hat — ich möchte miljen, ob 'was mit 
ihm los ift — er fieht mir fo vollgefadt aus.“ Und er Eriegte Daniel'n 
beim Kragen und hob ihn in die Höhe und fagte: „Ei der Teufel, da will 
ih doch gleich gehenkt fein, wenn der nicht feine fünf Pfund wiegen thut!“ 
Damit drehte er ihn fo, daß der Kopf nad unten hing, und da famen mohl 
zwei Handvoll Schrot heraudgefollert. Und jet kriegte er's weg, wie die 
Sache ftand, und wurde ganz toll und thöricht. Er feste feinen Froſch hin 


' und rannte dem Burfchen nach, ermifchte ihn aber nicht.“ 


Die amerikaniſchen Exemplare der Familie Münchhauſen fchreiten zahlreich 
durch dieſes Buh Mark Twain's. Da tft der „alte Admiral” (der unfern 
Leſern ſchon aus der Reiſe nach den Sandwichsinſeln befannt ift), der jeden 
Keim eined Zmeifeld an feinen gefchichtlihen Wahrheiten mit einer Verſchwen— 
dung von Zorn und Flüchen niederfämpft, welche ihn zum unbeftrittenen 
und alleinigen Befiger der Gefellichafts- Kajüte machen, fo oft er e3 für an— 
gemeſſen findet, feine gefchichtlihen Abhandlungen aus dem Geceffiondkriege 
loszulaſſen, bis er endlich mit feinen eigenen Waffen mundtodt für immer ge- 
macht wird. Dann ift bier „Marfig, der Lügner“, der in feinem Fade 
vielleicht den höchften Preis verdient, und bei Allem, was um ihn gefprochen 
ift, feine berühmte Wahrheitäliebe kaum länger zügeln fann, und immer da, 
wo man ihn am menigften erwartet, mit einer fabelhaften Gejchichte heraus- 
plast, für deren Wahrheit er ftet3 höchſt glaubwürdige Perfonen, am liebſten 
aus der Gefellichaft felbit, an die er fi wendet, aufruft. Das ift feine 
Spezialität. Er erzählt 3. B. von einem Kamin, den er befeffen, und „der 
fo qualmte, daß der Rauch darin ſich förmlich in Kuchen verwandelte und 
dag ih ihm mit der Spishade heraudhauen mußte. Sie mögen darüber 
lachen, meine Herren, aber der High Sheriff Hat einen Klumpen davon, den 
Ih vor feinen Augen Iosgebrodhen habe, und fo haben Ste e8 vollfommen 
leicht, wenn Sie bingehen und die Sache prüfen wollen.“ Zwei Wochen 


—M 
— =) 


fpäter überfällt er eine andere Geſellſchaft mit der Erzählung von dem Nat: 
matat-Baum auf der Inſel Unalaſchka, See von Kamtſchatka, der nicht einen 
Zoll meniger, als 415 Fuß unten am Stamme bat. Der alte Gapitain 
Saltmardh in der Geſellſchaft wird von ihm als Zeuge aufgerufen. Der aber 
erwidert entrüftet: „Ach, mein Junge, da haft Du Deinen Anker abgerifien, 
Du haft die Kette zu ftraff angezogen. Du verfprachft, mir diefen Riefen- 
ferl von einem Baume zu zeigen, und ich ging mit Dir durch das verflud- 
tefte Walddickicht mehr ala elf Meilen, um ihn aufzuftöbern; aber der Baum, 
den Du mir zulegt wieſeſt, war nicht dicker ald ein Bierfaß, und Du weißt 
das felber recht gut, Markiß.“ Markiß: „Nun höre eins den Menſchen 
reden! Natürlih war der Baum fo dünn ‚geworben, aber habe ich's Dir 
denn nicht erklärt, wie? Antworte mir: hab’ ich, oder hab’ ich nicht? Sagte 
ih Dir nicht, ich wollte, Du hätteft ihn fehen follen, wie ich ihn zuerft fah. 
Als Du auf Deinen Karren ftiegft und mir allerhand garftige Namen an- 
bingft und fagteft, ich hätte Dich elf Meilen herumgeſchleppt, um Dir zulest 
ein winzige® Stämmchen, einen wahren Schößling zu zeigen — habe ich Dir 
da nicht erklärt, wie die Walfifchfahrer in den nördlichen Meeren fi Länger 
als fiebenundzmwanzig Jahre ihr Holz von ihm geholt? Und glaubte ic 
denn — hol's der Teufel! — der Baum würde ewig ausreichen? Ich ber 
greife nicht, wie Du auf diefe Art die Dinge verfchweigen und den Berfuh 
machen Fannft, einen Menfchen zu beleidigen, der Dir in feinem Reben nichts 
zu Leide gethan hat.“ Dann, kaum zehn Tage fpäter läßt Markiß die Ge 
Thichte von feiner Stute Margarethe folgen, die achtzehn Meilen lang mit 
feinem Buggymägelchen, auf dem er felbit faß, immer dreißig oder vierzig 
Yards vor dem furchtbarſten Sturm berlief, den Markiß In feinem Reben 
ſah, ohne daß der Sturm die Stute einholen konnte oder ein Tropfen Regen 
aus der Sturmmolfe fie hätte erreichen Fönnen. „Aber allerding® mein Hund 
hatte zu ſchwimmen dur den Molfenbrud den ganzen Weg lang.“ Kaum 
vierzehn Tage fpäter liefert Markiß das nach feiner Erfahrung klaffiſchſte 
Belfpiel für Knauferet. John James Godfrey wurde von der Hay-Blofjom- 
Geſellſchaft in Californien für. gemiffe Sprengungen verwendet. Auf einmal 
fliegt ex mit feiner Brechſtange in die Ruft, fo hoch bis er gar micht mehr 
gefehen wird, und fällt dann nach einiger Zeit genau wieder auf die Stelle 
herab, wo er vorhin arbeitete. „Er war nicht länger als ſechzehn Minuten 
in der Quft abmwefend geweſen, und doch z0g ihm jene Geſellſchaft von 
Knauſern fo viel von feinem Lohne ab, als die verlorene Zeit betrug.” 
Diefen Rebendgewohnhetten entſpricht Markiß' Ende. Er hat fich eines 
Morgens gehangen und einen Zettel an feine Bruft befeftigt, auf meldem 
er feinen Selbftmord atteftirtt. Grund genug für die Jury fowohl an feinem 
Tode, ald an der Freimilligkett desfelben zu zweifeln, da die nie wankende 


313 


Beharrlichkeit ded Charakters dieſes Herrn Markiß während der leiten dreißig 
Jahre fi als gemaltiged und unzerſtörbares Zeugniß dafür erhöbe, daß jede 
Behauptung, die er aufzuftellen beliebe, die Berechtigung und den Anfprud 
darauf habe, fofort und ohne weitere Frage und Prüfung ald Rüge an- 
gefehen zu werden.“ „Und fo ftand der Sarg in dem tropifchen Klima von 
Lahaina fieben Tage lang offen, dann aber gab ihn felbft die gefegliebende 
Jury auf.“ Im „Silberland Nevada“ begegnen wir felbftverftändlich noch 
einer Reihe von Menfchen, die in Bezug auf Wahrheitäliebe genau fo ver- 
anlagt find, wie diefer felige Marfip. 

Die ungewöhnlichen Hindernifje, welche der anglo-amerikanifhe Gefhmad 
von feinen Nomanhelden überwunden zu fehen wünſcht, ehe fie fich Friegen, 
find von Mark Twain meifterhaft gehäuft in der kurzen Geſchichte „Aurelta’s 
unglüdlicher Bräutigam“. Diefer Unglüdjelige geht nämlih in der Zeit 
zwifchen Berlobung und Hochzeit förmlich in die Brüche. Zuerſt entftellen. 
ihn Boden. Dann bricht er, in die Betrachtung eines Nuftballond vertieft, 
ein Bein, das ihm oberhalb des Knied abgenommen werden muß. Dann 
folgt der eine Arm durch zu frühes Losgehen einer Kanone bei der eier 
de8 vierten Juli; drei Wochen fpäter reißt ihm eine Krämpelmaſchine den 
andern aud. „Stück für Stüd verließ Aurelia's Geliebter die Braut und fie 
empfand, daß er in diefem unfeligen Reductionsproce& doch nicht ewig aus— 
reichen Eonnte . . . fie bedauerte faft, wie Börfenmänner, welche Papiere feit- 
halten und dabei verlieren, daß fie ihn nicht gleich genommen habe, bevor er 
eine fo beunruhigende Entwerthung erlitten.” Er verliert aber außerdem 
noch ein Auge, fein andered Bein und feinen Scalp. Das ift allmählich, 
jufammengerechnet fo viel geworden, daß die Frage ernithaft ventilirt wird, 
ob es fich der Mühe lohne, den. Reſt zu heirathen. Aber Twain räth der 
zweifelnden Braut entfchieden dazu. Das Verlorene kann durch Fünftliche 
Gliedmaßen erfegt werden. „Es will mir nicht ſcheinen, Aurelia, daß damit 
viel gewagt würde, weil, wenn er bet feiner hölifchen Neigung verharrt, fich 
jedesmal Schaden und Abbruch zu thun, wo er eine gute Gelegenheit dazu 
gewahr wird, fo muß fein nächſter Verſuch mit ihm ein Ende machen und 
dann find Sie fein heraus. .. Es würde auf Seiten Ihres Caruthers ein 
glüdlicher Einfall gewefen fein, wenn er mit feinem Halfe angefangen und 
den zuerft gebrochen hätte; da er's indeffen für paffend gehalten hat, eine an- 
dere Politik zu verfolgen und fi fo lange als möglich audzufpinnen, fo 
denke ich nicht, dag wir ihn darüber fchelten dürfen, wenn ed ihm Vergnügen 
gemacht hat.” — 

Bon diefem padenden Humor find alle die andern kleinen Erzählungen 
diefed Bandes durchdrungen. Doch der Raum geftattet nicht, davon mehr 


im Auszuge mitzutheilen. Mark Twain's Talent offenbart ſich aber doch am 
Örenzboten IV. 1874 40 


314 


reichften und fchönften in den Reiſe- und Lebensbildern aus dem „Silberland 
Nevada”. Hier fleigt neben dem Humoriſten auch der Dichter, der Schilderer 
Mark Twain auf den Gipfel feiner Bedeutung, und deßhalb werden wir 
diefe Bilder im nächſten Hefte eingehender unferen Leſern vorführen. 

98. 


Dom deuffden Keihstag. 


Berlin, den 15. November 1874. 


In der fechiten Sitzung des Reichſtags am 9. November ftand der Reichs— 
haushalt für 1875 zur erften Berathung. Die Verhandlung ward vom Prä- 
. fiventen Delbrüd mit einer Ueberſicht über die Finanzlage auch des Taufenden 
Jahres eröffnet. Die Mittheilungen über das Taufende Jahr Eonnten in 
ziemlicher Vollitändigfeit gegeben werden, weil die Budgetberathung zum erften 
Mal am Schluffe des Berathungsjahres ftattfindet. Herr Eugen Richter nahm 
au diegmal den gewohnten Pla als erfter Kritiker des Reichshaushaltes 
ein. Wenn wir fagen ala erfter Kritiker, fo meinen mir zunächſt, als erfter 
der Zeit nah. Da ein gewiller Scharfblid und eine gewiſſe Geläufigfeit in 
der Behandlung von Winanzgegenftänden Herrn Richter nicht abzuſprechen 
find und da ihm ambererfeit3 eine apologetifche Behandlung der Regierung? 
vorlage allezeit höchſt fern Itegt, fo hat fein Auftreten den VBortheil, daß 
man fogleich überfieht, melde Angriffspunkte, fcheinbare oder wirkliche, eine 
Vorlage etwa darbietet. Bei der diedmaligen Kritif des Reichshaushaltes 
hatte ber finanzfundige Abgeordnete fi) zwei Angriffpunfte hervorgefudt. 
Er fand einmal die Angabe der Militatrauggaben nicht fpectaltfirt genug. 
Er tadelte, daß die Gehälter und Röhnungen der Truppentheile nur ſumma— 
riſch angegeben feien. Er verlangte die vollftändige Mittheilung der einzelnen 
Poſten, aus denen bei jedem Zruppentheil die Abſchlußziffer fih zufammen- 
fest. Wir müſſen den Leſer aufmerkjam machen, daß hinter diefer Erinnerung 
nicht etwa die Peinlichkeit calculatorifcher Gemiffenhaftigfeit oder Pedanterie 
zu ſuchen iſt, fondern eine politifche Tendenz von beträchtlicher Tragmeite. 
Das in diefem Frühjahr vereinbarte Reichs-Militairgeſetz hat für das Reichs— 
heer die Zahl und Befchaffenheit der Truppentheile ſowie der dazu gehörigen 
Beamten feitgeftelt. Danach fann über den Betrag der Gehälter und Löh— 
nungen bei den verjchiedenen Truppentheilen im Ganzen fein Zweifel fein und 
bie Kriegäverwaltung darf fi) berechtigt halten, die Beiträge für jede Ab- 
theilung nur im Ganzen in den Haußhalt aufzunehmen. Aber es ift ja felbft- 
veritändlih, daß bald hier bald dort einmal eine Stelle mehr, d. 5. über den 


315 


geſetzlichen Etat, einmal weniger, alfo unter dem gefeglihen Etat, durch die 
wechſelnden Bedürfniſſe einer fo großen Verwaltung aktuell befest if. Nun 
ergiebt fi die Frage, ob die Kriegdverwaltung dem Geſetz genügt, wenn 
fie fih im Ganzen an den vorbezeichneten Rahmen hält, oder ob fie für 
alle Abweichungen im Einzelnen, auch wenn diefelben das gefammte Ergebnif 
nicht verändern, der Genehmigung des Reichstags bedarf. Es iſt Far, daß 
die Natur der Sache eine beftimmte Reihe folder Abänderungen in jedem 
Verwaltungsjahre unvermetdlih mit fih bringt. Wollte man den ganzen 
großen Etat der Berfonal- Ausgaben des Heered, der alljährlih gewiſſen 
Schwankungen nothmwendig unterworfen ift, für jedes Jahr bis in die Fleinfte 
Einzelbeit dur Verhandlung und Bereinbarung mit dem Reichdtage regu- 
Iiren, fo hieße das nicht? andered, ald dem Reichstag die Heeredverwaltung 
in die Hand geben. Damit hätte die Stetigfeit der Kriegäverfaffung troß 
des Reichs-Militairgeſetzes ein Ende und bald auch die MWehrhaftigfeit der 
deutfchen Nation. Vielleicht begreift dies fogar Herr Richter. Wielleicht be» 
anſprucht er die Herrfchaft über die Heeredverwaltung für den Reichstag nur 
im Prinzip, zu dem Behuf, die Regierung vom Reichätag abhängig zu machen 
unter dem Vorbehalt, einer Verwaltung, die diefer Abhängigkeit gehörig 
Rechnung trägt, den unentbehrlichen Spielraum fo lange zu gewähren, ala 
die Berfonen der Verwaltungsvorftände dem Reichstag gefallen. Es ift ein 
fehr befanntes Ziel, auf welches Herr Richter auch Hier hinfteuert, und wir 
haben die Erfprießlichkeit desſelben augenfcheinlich nicht zu erörtern. 

Der zmeite Angriffspunft, den Herr Richter audgefucht, betraf die Ueber- 
Ihüffe des Iaufenden Jahres. Der Kritifer wollte diejelben bereits für die 
Dedürfniffe des jetzt zu berathenden nädhftjährigen Haushalte in Einnahme 
geftellt wiffen. Er wollte, daß man über die Heberfchüffe verfüge, noch ehe 
fie vorhanden find. Denn fo lange die Jahresrechnung nicht abgeſchloſſen, 
Eönnem die Ergebniffe nur auf Wahrfcheinlichkeit beruhen. Der Kritiker ver- 
folgt mit diefer zweiten Forderung dasſelbe Biel, wie bet der erften. ine 
Finanzverwaltung, welche über ihre Ueberſchüſſe verfügt, noch ehe fie diefelben 
eingebracht hat, welche die Anfchläge ihrer Einnahmen eher zu hoch, als zu 
niedrig zu machen genöthigt wird, muß jedes Jahr in die Lage fommen, 
außerordentliche Dedungsmittel vom Reichstag zu erbitten. Sie muß fehr 
befliſſen ſein, ſich die Gunst des Reichstages durch jede denkbare Nachgiebigkeit 
zu erhalten, um nicht entweder peinlichen Verantwortungen ausgeſetzt zu ſein, 
oder durch Verabſäumung nothwendiger Ausgaben gegen das eigene Gewiſſen 
zu handeln. Der ſichere und ſtetige Gang der Verwaltung wird unter allen 
Umſtänden gehemmt werden und die bekannte Verbindung von verſchwenderiſchem 
Schlendrian und koſtſpieliger Verſäumniß eintreten, die wir anderwärts als 
Folge der parlamentariſchen Allmacht über das Finanzgebiet in Blüthe ſehen. 


316 


Noch eine dritte wichtige Frage trat bei diefer erften Berathung des 
Reichshaushaltes wiederum hervor. Die Frage nämlich nach der Aufbringung 
des Reichsbedarfs, fomweit derfelbe aus den dem Reich bis jetzt zugemiefenen 
ungenügenden Einnahmen nicht gededt ift, durch die Matrifular- Beiträge. 
Diefe Matrifular- Beiträge bilden fi mehr und mehr zu einer wunden Stelle 
der Neihäfinanzen aus. Durch die Befchwerde, welche ihre Aufbringung den 
Einzelftaaten verurfacht, rufen fie den Widerftand gegen audgiebige Leiftungen 
der Reichsfinanzen erft im Bundedrath und dann im Reichstag bei den 
Vertretern aus den Cinzelftaaten hervor. Es mag mehr ald ein Mitglied 
des Reichstags geben, welches durchaus nicht die Gedanken des Herrn Richter 
über die richtige Stellung der Finanzverwaltung dem Parlament gegenüber 
theilt, und welches dennoch für eine prinzipiell unzuläffige Befchränfung der 
Neichd - Finanzverwaltung zu flimmen gedrängt wird, um die Laſten der 
Heimathlandſchaft nicht über die Erträglichkeit anwachlen zu laffen. Die Be 
feitigung der Matrikular» Beiträge durch Vermehrung der eigenen Finanz 
quellen des Reiches wird bereits zu einer drängenden Frage. Die Beibehaltung 
der Matrikular-Beiträge läßt fich eigentlich nur no denken von dem Stand- 
punkte eine® ungeduldigen Unitarierd, der den Ginzelftaaten die Griftenz 
fobald als möglich verleiden möchte, oder eines Reichsfeindes, der die centri- 
fugale Tendenz der Einzelftaaten angefacht fehen möchte. Die richtige Ver— 
theilung der Einnahmequellen zmifchen dem Reich und den Einzelftaaten ift 
ein fohroterige® aber dankbares Problem unferer nächften Entwickelung. — 
Die beiden von Herrn Richter angeregten Fragen follen, wie es fcheint, ihre 
grundfägliche Erledigung durch das Gefeg über die Verwaltung der Ausgaben 
und Einnahmen des Reiches finden. Ob die Vereinbarung fchon in diefer 
Seffion gelingt, fteht dahin. Das Ergebniß der erften Berathung des Haud- 
haltes war, daß das den ganzen Haushalt zufammenfaflende Geſetz, die 
Heeredaußgaben und die Matrikular- Beiträge der Budget» Commiffion zur 
Vorberathung überwiefen murden. Die anderen Theile des Haushaltes 
werden im Reichstag ohne Kommiffiondvorbereitung,, wie es bereit? üblich 
geworden, auf Grund von Referaten von Mitgliedern, die für das Neferat 
über gewiffe Gruppen vom Präftdenten ernannt find, berathen werben. 

Die fiebente Sisung mit ihren gelegentlich) der dritten Berathung über 
die Einführung der Reichsmünzgeſetze in Elfaß-Rothringen erhobenen Klagen 
über bte dortige Verdrängung der Franken ; mit ihrer zmeiten Berathung ded 
Markenſchutzgeſetzes und einiger Eleineren technifchen Vorlagen übergehen wir. 
Ebenfo die achte Sitzung. Der in diefer Sigung befhloffene neue Paragraph 
der Gefchäftdordnung, welcher die Behandlung der Ueberfichten über die vom 
Bundedrath gefaßten Entſchließungen auf Initiative Beſchlüſſe des Reichstags 
regelt, Kann befprochen werden, wenn er zur praftiichen Anwendung fommt. 


317 


Auch die neunte Situng betraf nur techniſche Vorlagen. Darunter 
rechnen wir das allerding® wichtige Geſetz über die Naturalleiftungen für die 
bewaffnete Macht im Frieden und die Genehmigung der Verordnung über 
die Gefchäftsfprache der Gerichte in den unmittelbaren Reichälanden. Die 
zehnte Sigung behandelte dad Markenſchutzgeſetz im Testen Stadium und 
ebenfo die Verordnung über die Geſchäftsſprache der Gerichte Die erfte 
Berathung des Geſetzentwurfs über die Steuerfreiheit des Reichseinkommens 
wurde noch nicht beendigt. — 

Die Unterfuhung gegen den Grafen Arnim hat zu einer neuen Inhaft— 
nahme des Grafen am 13. November geführt, die auf ärztliche Intervention 
zu einer polizeilichen Interntrung im Palais feiner Schwiegermutter geworden 
ft, Wie zuverläffig verlautet, hat der Graf Dokumente der pariſer Botfchaft, 
deren Verbleib er anfänglich nicht zu kennen behauptete, dem Gericht aus 
freien Stüden zugeftellt mit der Angabe, daß er die Dokumente unerwartet 
bei fi gefunden habe. Durch diefe Procedur ft der Verdacht beftärft 
worden, daß der Graf von diefen Dokumenten einen ftaatsgefährlichen Ge 
brauch gemacht, obwohl er bei Beginn der Unterfuhung mit der größten 
Heftigkeit in Abrede ftellte, daß er aus den von ihm einbehaltenen Staat?- 
papieren jemald etwas habe an die Deffentlichkeit bringen wollen. Unterdeß 
hat der Graf auch Sorge getragen, daß fein Organ, die „Wiener Preffe“, 
einen Brief vom 11. Mai d. J. veröffentlicht, den Herr v. Döllinger an den 
Grafen gefchrieben. Herr v. Döllinger erklärt darin, er habe die ihm von 
dem Grafen wegen früherer Mißſchätzung gegebene Ehrenerklärung feinerzeit 
nur deöhalb veröffentlicht, um die Autorfhaft des Grafen für ein gewiſſes 
Memorandum, das ebenfalld in der „Preſſe“ veröffentlicht worden, durch das 
Selbftzeugniß des Autors feftzuftellen. Herr v. Döllinger möge und nicht 
übel nehmen, daß mir diefe Rechtfertigung etwas lahm finden. Die Echtheit 
jened Memorandum ging in diefem Fall genügend daraus hervor, daß Graf 
Arnim gegen die ihm bei der Veröffentlihung pofitiv beigelegte Autorjchaft 
nit remonftrirt hatte. Wenn Herr v. Döllinger da8 betreffende Memoran- 
dum für ein „Meifterftüd ſtaatsmänniſcher Einfiht und Vorausſicht“ erklärt, 
jo möge er und nochmals nicht verübeln, wenn wir bei aller Achtung vor 
feiner auggebreiteten Gelehrfamfeit ihn für gänzlich incompetent in der poli« 
tiichen Prarid halten. Jenes Memorandum war das dilettantifche Produkt 
eined überall dilettantifchen Kopfes. Der höchſte Grad, den der Dilettantid- 
mus erreichen kann, tft, wenn er in harmlofer Eitelkeit dem unverföhnlichen 
Feinde die Goncepte corrigirt, damit der Feind fich nit ſchade und mit 
denen im Frieden bleibe, denen zu fehaden fein gebieterifches Lebensbedürfniß it. 

0-1. 


Briefe ans der Kaiferfiadt. 


Berlin, 15. November. 


„Schwere Zeiten!” Wo wäre diefer Seufzer heut nicht am der Tage 
ordnung! Man braucht nicht erft die ultramontanen eremiaden über die 
diocletiantfche Chriftenwerfolgung oder die foctaldemofratifchen Verwünfchungen 
der völfervernichtenden modernen Productionameife zu hören, noch aud die 
Klagen der Wiener und fonftigen Journale über die lettres de cachet des 
Berliner Stadtgerichts — jeder Schufterjunge weiß von der allgemeinen 
Mifere zu erzählen, jedes Stubenmädel, dem die außeretatmäßigen Silberlinge 
dermalen weit feltener und mit viel geringerem Wohlwollen in die Hand ge 
drückt werden, als mweiland zur Zeit des floritenden Gründerthums. Dennoch 
hat das öffentliche Leben Berlins durchaus nicht den Anſtrich des Darbend 
und der Gelähmtheit. Im Allgemeinen hat der „große Krach“ bei und mehr 
die Wirkung eines heilfamen Schred3, als die der direeten Zerftörung gehabt. 
Was er wirklich vernichtet hat, ift im öffentlichen Intereſſe kaum zu beflagen. 
Weß Geiftes Kinder die Hauptperfonen jener fchmwindelhaften Unternehmungen 
waren, bat ja eine Reihe von riminalverhandlungen gezeigt. Nicht un 
möglich, daß die ſchlimmſten der Mebelthäter ungepeitfcht von der Ruthe ded 
Strafgeriht3 davongefommen find. Aber wenigſtens aus der tonangebenden 
Stellung, welche fie im öffentlichen Leben einnahmen, find fie zurüdgedrängt. 
Jenes praffende Geldprogenthbum, welches mit feiner geiftigen Rohheit den 
ſchönen Beruf des Reichthums für die Pflege des höherer Kulturlebend in 
widerlichfter Weife parodirte, an die Stelle eines Afthetifch-geläuterten Luxus 
die gefehmadlofefte Prahlerei und Meberladenheit fette, in der Muſik, der 
dramatiſchen und der bildenden Kunft ausfchließlich die grobfinnliche Richtung 
begünftigte — jene Mißbildung ift in unferer Gefelfhaft, wenn nicht für 
immer befeitigt, jo wenigſtens gründlich Tahnt gelegt. Auch der unvermeld- 
liche Schweif der Gründerbarone, jene jugendlichen Employés der über Naht 
aufgefhoffenen Banken und Actiengefellichaften, zum großen Theil fade Geden, 
fitten« und bildungdlofe Pflaftertreter, die efelhaftefte Sorte von „jeunesse 
dorde* — aud das faubere Völkchen ift bis auf wenige Reſte hinweggefegt. 
Und fo hat unfer öffentliches Geſellſchaftsleben in der That ein erheblid 
gefündere® Ausfehen gewonnen. 

Kein Zweifel tft freilich, daß die große Krife neben unbeftreitbar ſegens⸗— 
reichen auch eine gemeinfhädliche Wirkung. ausgeübt Hat und noch audübt, 
dag fie im Gefchäftäleben eine andauernde Stodung erzeugt, und daß fie 
mande auf urfprünglich folider Baſis beruhende Schöpfung mit ind Ber 
derben geriffen hat. Die allmähliche Befeitigung dieſer Mebelftände nach Maß— 


2 319 


gabe der fortfchreitenden Genefung des volfawirthfchaftlichen Organidmus und 
ded miederfehrenden Vertrauens kann indeß nicht ausbleiben. Es ift Fein Ge- 
heimniß, daß die Qurusinduftrie noch immer ſchwer zu leiden bat; doch wird 
man fi kaum irren, wenn man in ihren Abfasverhältnifien gegen das Vor— 
jahr eine erhebliche Befjerung zu bemerken glaubt. So wird es auch mit 
manchen fonftigen Unternehmungen gehen, nachdem fie dad Wegefeuer durch» 
gemaht und die romantifhen Zuthaten der Schwindelepodhe abgeſchüttelt ha- 
ben. Unter den Berliner Gründungen wäre eine ſolche günftige Wendung 
am erften der in diefen Briefen bereit? vor Jahresfriſt beklagten Meftendco- 
lonte zu wünfchen. Unter den verfchiedenen Villenanfiedelungen, welche ſich 
In neuerer Zeit um die Hauptftadt gruppiert haben, ift das „MWeftend“ auf 
der Anhöhe hinter Charlottenburg unftreitig die anziehendfte, fomweit von 
landfhaftlichen Reizen in Berlind unmittelbarer Umgebung überhaupt die Rede 
fein kann. Die Quiftorp’sche Actiengefelfhaft, welche dort ihr Weſen getrie- 
ben, ſchickt fih eben an, endlich einmal zu liquidiren. Es ift aber faum denk— 
bar, daß der Kolonie nicht in anderer Form mieder auf die Beine geholfen 
werden follte. Auf die Ausführung der riefenhaften Prachtbauten, deren 
Ruinen feit Jahr und Tag fo melandholifh ind Land hineinſtarren, wird 
freilich wohl verzichtet werden müffen. 

Ein ähnliches Schickſal, wie den Quiſtorp'ſchen Schöpfungen, wurde im 
vorigen Winter einer in Charlottenburg unternommenen großartigen An— 
lage auf Aetien prophezeit. Ullein, Fürft Putbus hat mit derfelben mehr 
Glück gehabt, ald mit der Nordbahn. Die „Flora“ mit ihrem Palmen— 
garten — ich habe ihrer im Frühjahr unmittelbar nad ihrer Eröffnung Er- 
wähnung gethan — hat fi bemährt und es ift jest ausgemachte Sache, daß fie 
auch im Winter ein wirkſamer Anztehungspunft bleiben wird. Der wundervolle, 
Rofenflor, der noch bis tief in den Oktober hinein den Eintretenden begrüßte, 
ft nun freilih dahin, die glänzenden Yarbeneffecte der mit feinem Fünftle- 
riſchem Geſchmacke arrangirten Blumenteppiche find erlofhen, um fo über- 
tajhender und wohlthuender aber ift der Eindrud der immergrünen Tropen» 
welt. Seit der Eröffnung hat fi die Vegetation des Palmenhauſes außer— 
ordentlich reich entwidelt. Tauſend Kleinigkeiten find da zum Vorſchein ge- 
fommen, immer Neued entdeckt das forfchende Auge, es ift eine Welt voll 
Ipriegenden Lebens und unendliher Mannichfaltigkeit. Nichts anziehender 
aber ala der Blick aus dem großen Concertfaale durch das riefige Glasportal 
in das Palmenhaus. Es giebt feinen feltfameren Contraft, ald den unge 
heueren, in taufendfältigem Kichtglang ſchimmernden, mit folider Pracht aus- 
geftatteten, von fröhlichen Weiſen wiederhallenden Raum und daneben im 
Schatten der Dämmerung diefen ftillen Hain mit den Gebilden einer fremden 
Welt. Es ift Feine Frage, unter jenen Orten, die der Bewohner der Haupt- 








320 = 


ftadt auffuht, um die Laſt des Dafeind mit neubelebendem Genuß zu 
tauſchen, gebührt der „Flora“ einer der erften Plätze. r. 
Daß übrigend an diefen Orten und Gelegenheiten Berlin feinen Man 
leidet, ift befannt. Die Satfon hat diedmal von vornherein mit vollen Ham 
den gefpendet. Daß Heer der Theater wetteifert mit einander um den Prei@ 
die Concerte jagen fi förmlich und — last not least — die beiden glänzeme 
den Circus, mit denen wir fett vorigem Jahre beſchenkt find — früher hatt 
Nenz das Feld allein —, haben diesmal ihre Hallen einen vollen Mond 
früher geöffnet ala ſonſt. Das Hauptinterefje concentrirt fih, wie immer 
auf die Leiſtungen der dramatifchen Mufe. a 
Das Föntglihe Schaufpielhaus hat bereits drei größere Novitäten gebracht, 
außer Hebbel’8 „Heroded und Marianne“, was fofort wieder vom Repertoir ver 
ſchwand, „Alte Schweden“ von Brachvogel und „Ein Erfolg“ von Raul Lindau 
Das legtere Stüd ift, infolge einer äußerft rührigen Reclame, mit einer gewiſſen 
Spannung erwartet worden. ch bin biöher durd eine Verfettung midrige 
Umftände verhindert gewefen, es zu fehen, verfpare alfo feine Befprebung auf 
einen der nächſten Briefe. Brachvogel's „Alte Schweden“ kündigen fih als ein 
Schaufpiel an; in Wahrheit find fie nicht? als eine dramatifirte Novelle 
Diefe Novelle ift eine Epifode — aus dem Reben des alten Derfflingen 
Dad Stück zerfällt in zwei Theile. Der erfte behandelt Derfflinger' 
Mebertritt von Schweden zu Brandenburg, der zweite Derfflinger's Braußs 
fahrt. Um den Plural „alte Schweden“ zu rechtfertigen, wird noch Görtzke 
mit vorgeführt; er ift indeß nur Nebenfigur. Dem Dichter hat offenbaz 
die Abſicht vorgefchwebt, ala die t’efere dee feined Dramad die aufs 
fteigende Macht Brandenburg zur Anſchauung zu bringen. Verſchiedent 
Aeußerungen Derfflinger’d am Unfange und dann die Schlußfcene, in weldye 
der Große Kurfürit den Gefandten Frankreichs, Schwedend und Polens über 
feine Eünftige Politik ziemlich unverblümt die Meinung fagt, laflen darübeg 
feinen Zweifel. Diefe Idee hat auch die Einheit des Stüdes herftellen ſollen 
Das tft jedoch nicht gelungen. Die hohe Politik fteht völlig unvermiſcht 
neben den übrigen, durch und durch anefootenhaften Beitandtheilen. r 
Auch abgejehen von der politifhen Einkleidung entbehrt das Stüd 
durchaus der Einheit und Geſchloſſenheit; es tft eine mehr oder weniger will« 
fürliche Aneinanderreihung einzelner Scenen. Unter dem dramatifchen Gefichti 
punfte betrachtet iſt es aljo entjchieden al® verfehlt zu bezeichnen. Dennoch 
wird es jedem harmloſen Tcheaterbefucher einen genußreichen Abend ver 
ſchaffen. Es geht ein unmiderftehlicher Hauch frifhen Humord und unge 
fünftelter Gemüthlichkeit durch das Ganze. Dabei find die Scenen unt 
Perjonen mit feinem Hiftorifchem Gefühl getreu aus ihrer Zeit herausgebildetä 
der alte Derfflinger zumal, bier allerding® noch in den Vierzigen, iſt leib 
baftig aus dem Holze ded dreißigjährigen Krieges gejchnigt. Die biderbe 
rt, wie er heute mit den Kandöfnechten, morgen mit dem Kurfürften, übers 
morgen mit dem geliebten Mädchen redet — die Sprache dabei das ergößs 
lichte Kaudermälih von der Welt — muß ihm jedes Herz gewinnen. Auch 
feine nahmalige Braut Katharina v. Schappelow und deren Bonne Euphrofym 
Gramzow find trefflich gezeichnet, für unfer moderned Empfinden allerding; 
etwas ſehr refolut, aber hiftorifh wahrfcheinlih. Die Scenen, in welches 
diefe drei Perfonen zuſammenwirken, find der Glanzpunft des Ganzen. Ur 
fie voll zur Geltung zu bringen, aus den Geftalten des Dichterd „etwas F 
maden“, dazu gehören freilich drei fo vorzügliche Kräfte, wie wir fie U 
Herrn Berndal, Fräulein Kepler und unferer unübertrefflihen komiſchen Alten 
Frau Frieb-Blumauer befigen. 


Berantwortlicher Redakteur: Dr. Hand Blum in Leipzig. 
Derlag von F. 2. Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Regler in Leipzig. 


































Gerenzboten. 


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Ausgegeben am 27. Nonember 1874. 


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mann, Stuttgart. Fr. Brudmann, Münden u. Berlin. 
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Leipzig, 1874. 
Friedrih Ludwig Herbig. 
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Dreiundpvierzigfter Jahrgang. 
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47 des „Magazin“ enthält folgende 


dertage in Italien. 681. — Mdolf Schmidt. 
Epochen und Kataftrophen. 681. — Frankreich. 
Der Todtentanz in der Kirche des S. 8. Innocents | 
zu Paris. 682, Italien. Der öffentliche | 
Unterricht in Italien. 683. Spanien. Zur! 
Spanifchen Romanzen »Poefie. Bon Adolf Laun. 
I. 685. Nord: Amerika. Die Negerfrage 
688. Afrita. Bei den Niam-Niam und 
Monbuttus. 689. — Auſtralien. Gnglande | 
neuefte Annerion. 690. — S#leine literariſche 
Nevue. Cliah: Lothringen unter deutjcher Ber: 
twaltung. 693. — Die Reform des Zolltarifes. 
693. — Sprechſaal. Profeffor Homeyer. 693. 
Dnorato Decioni über die fiterarifeße let: 
694. Ein römischer 


— — — 


— 


— — ⸗— —— nz 


tanten im alten Rom. 
Gel, 


- 


Deutſchland und das Ausland. Deutihe Wan- | 


Die soeben erschienene No, 47 der 


Jenaer Literaturzeitung 


im Auftrage der Universität Jena heraus- 
gegeben von Anton Klette, 
Jena, Mauke’s Verlag (Hermann Duft‘ 


enthält Besprechungen von: 


' E. Riehm, Handwörterbuch des biblische‘ 
' Alterthums: von. Siegfried. H. N. A. Jen 
| sen, Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte: 
' von W. Gass. F. Ablfeld, Bruder Berthold‘ 
von G. Graue. D. Harries, der Altkatholie= 
mus: von F, Nippold. M. v. Buri, über Ca»- 
salität: von K. Binding. Th. Gimmerthal, da 
Eigenthum: von K. Czyhlarz. H. Hardonin, 
sur la contrainte par corps: von A, Rivien 
W. Filehne, über das Cheyne- Stokes'sche 
Athmungsphänomen: von H. Senator. H. Y, 
Stockfleth, Handbuch der thierärztlichen Cbi- 
rurgie: von F. A. Zürn. R. Bonsels, zur Ans 
Iyse des Arsen: von E. Reichardt. A. Hoch 
heim, über die Differentialcurven der Kal 
schnitte: von F. Lindemann. F. F. Tacket, 
Hochalpenstudien: von E. Schmidt. E, Pie 
derer, Empirismus und Skepsis in D. Hans‘ 
Philosophie: C. Sigwart. P. de Ebulo, liber 
ad honorem Augusti, herausgegeben von E, 
Winkelmann: von W. Arndt. H. v. Zwieli 
neck-Südenhorst, Zeitungen und Flugschriftes 
aus dem 17. Jahrhundert: von G. Droysen 
Derselbe, Christian d. Andere v. Anhalt: von 
demselben. N. Wecklein, der Areopag u. d 
Epheten: von R. Schüll. L. Lange, de ephr 
tarım Atheniensium nomine: von dems. Dir 
selbe, die Epheten und der Areopag: voö 
dems. A. Philippi, der Areopag und die Ephe 
ten: von dems. Derselbe, der Athen. Volk 
beschluss v. 409/8 von dems. Derselbe, da 
Amnestiegesetz des Solon: von dems. C,F. We 
ber, de Messallae qui dieitur libro de progeni 
Augusti, edidit J. Caeaar: von E, Bachrent 
H. v. Friesen, Altengland u. W. Shakspere: 
v. R. Wülcker. J. Ostendorf, Volksschule, 
|  Bürgerschule und höhere Schule: von C„Peter. 
Derselbe, die Conferenz. zur‘ Berathung übe 
' das höhere Schulwesen in Preussen : von deu 
selben. Derselbe, unser höheres Schulwesen 
von demselben. M. Wohlrab, Gymnäsiun I 
Gegenwart: von demselben. E. Loew, Ü" 
Stellung der Schule zur Naturwissensehaft: vo 
demselben, 7 








Im Verlage von * A. Herbig in Berlin erehke: 
Dr. O. Michaelis, volkswirth- 
schaftl. Schriften, Zwei Bande Pr 


* jeder 3 Til: 
22%, Sgr. Inhalt: I. Eisenb —* 
krisis von 1857. II. Von der — ad 


anleihen. Theorethisches, Bankfragen, './, 







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rar 


Zur Geſchichte des Hepfennafs. 
1 


Das Maireögefeh und die Stellung der Parteien. 


Die Anforderungen, welche von Seiten der Regierung an die Thätigfeit 
ded zur Vorberathung der conftitutionelen Gefege ernannten Ausſchuſſes 
geftellt wurden, waren nicht gerade unbejcheiden. Der Gefammtorganiamud 
ded Staated war ja aus den Stürmen des Kriegäjahres im Ganzen unge 
ſchädigt hervorgegangen. Die alte Berwaltungsmafchine arbeitete in der Art 
wie unter dem Kaiſerthum; zur Befeitigung der von Gambetta und Genoffen 
eingefegten republicanifch gefinnten Staatöbeamten und zu ihrer Erfegung 
durch Barteigenofien der confervativen Mehrheit bedurfte ed Feiner neuen Ge- 
fege; da gefammte Präfecten- und Unterpräfeetenperfonal war ganz von der 
Gnade der Regierung abhängig, die jeden mißliebigen Beamten ohne Weiteres 
feiner Stelle entfegen Fonnte. Wenn die Regierung biöher von diefem Rechte 
einen mäßigen Gebraudh gemacht hatte, fo Hatte died nicht in ihrer Scheu 
vor durchgreifenden Maßregeln feinen Grund, fondern lediglich in dem Mangel 
an Berfönlichkeiten, die zur Uebernahme der höheren Verwaltungsämter ge 
eignet waren. Bon den Beamten ded Julikönigthums waren nur noch ver- 
einzelte Ueberbleibjel vorhanden, die Nepublif von 1848 hatte zu Eurzen 
Beftand gehabt, um ein Beamtenthum heranzubilden, abgefehen davon, daß 
eine republicanifche Vergangenheit die fchlechtefte Empfehlung in den Augen 
der Regierung war. Die wirklich fähigen und im Dienfte erprobten Beamten 
hatten ihre Schule unter dem SKaifertbum gemacht, und waren in über: 
wiegender Mehrzahl der Sache, der fie lange gedient hatten, ergeben geblieben. 
Auf diefe Männer zurüdzugreifen, hatte natürlich für die Regierung in der 
Zeit, wo fie im Fahrwaſſer der Noyaliften fegelte, ernfte Bedenken. Ohnehin 
war troß aller Maßregelungen von Seiten der Septembermänner in allen 
Zweigen der Beamtenhierarhie — Thiers war viel zu fehr Verwaltungdmann, 
um e3 über das Herz zu bringen, unte den erprobten Kräften aufzuräumen 
— dad bonapartiftifche Element noch immer fo ftarf vertreten, und machte 
fi durch einen zähen verſteckten MWiderftand der Regierung oft fo läftig, daß 
ihr der Gedanke an eine Vermehrung desfelben im höchſten er zuwider 

Grenzboten IV. 1874. 


32 


war. Zu einem durchgreifenden allgemeinen Beamtenmwechfel hatte fich daher 
die Regierung Mac Mahon's bisher ebenfomenig entſchließen können, als 
Thiers feiner Zeit. Mit der Einfegung des Septennat3 und der Hebernahme 
des Minifteriums des Innern durch Broglie änderte ſich died. Seit der 
Niederlage der Royaliften war ein großer Theil der Bedenken, die gegen die 
Verſtärkung ded bonapartiftifhen Element? im Beamtenperfonal vorgelegen 
hatten, fortgefallen. ine unerfreulihe Nothwendigkeit blieb e8 immerhin, 
die Iocale Verwaltung den Anhängern des geftürzten Negimed anzuvertrauen, 
deren provagandiftifchen Eifer man hinreichend Fannte, aber es war eben, 
wenn man anders die Regierungsmaſchine mit voller Kraft gegen die republi» 
canifche Agitation arbeiten laffen wollte, eine Nothmendigkeit, der Broglie 
fi unterzog. Den Kampf gegen die Republicaner betrachtete er als feine 
nächſte und mwichtigfte Aufgabe, und für diefen Kampf Eonnte er der Unter- 
ftüßung de3 alten Beamtenthumd gar nicht entbehren. Straffed Zufammen- 
faffen der Staatögewalt, dad war die Loſung im Regierungslager; ob man 
damit diefer oder jener befonderen Gruppe der Mehrheit in die Hände ar 
beitete, darauf konnte die Negierung in der Rage, in der fie ſich befand, in 
einem Augenblid, wo ed galt, die Grundlage der aus dem Schiffbrud der 
fufioniftifchen Beſtrebungen geretteten Gewalt Mac Mahon's zu befeitigen, 
feine NRüdficht nehmen. 

Wie Schon angedeutet, bedurfte die Regierung, um die Verwaltung im 
Gange zu halten, Feiner durchgreifenden organifchen Geſetzgebung. Es war 
in diefer Beziehung genügend, wenn fie fi dad Recht der Ernennung der 
Maires, welches man in den Honigmonaten des Decentraliſationsſchwindels — 
denn etwas Andres, ald Schwindel und Humbug find die Verſuche der Frans 
zofen auf dem Gebiete der Selbftverwaltung niemals geweſen — den Gemeinden 
übertragen hatte, zurückgeben Tieß. Im Mebrigen befchränften fi die Wünſche 
der Regierung darauf, dem Marfchall in einer zweiten Kammer eine Art von 
Senat, ein Gegengewicht gegen die Nationalverfammlung zu fchaffen und 
dur eine Modification des Wahlgefees diejenigen Elemente, in denen man 
die Hauptftüge des Radicaliamus zu fehen glaubte, von der Betheiligung an 
den nächſten Wahlen auszufchließen. 

Die Dreißigereommiffion nahm denn auch alabald ihre Arbeiten in An- 
griff und feßte vorläufig zwei Tage in der Woche für ihre Berathungen feft. 
Aber es zeigte fich fehr bald, daß Monate darüber vergehen würden, bis fie 
auh nur über einen der ihr zur Berathung vorliegenden Gegenftände einen 
Beſchluß faßte; ja ihre Hülflofigkeit und DVerlegenheit war fo groß, daß bie 
Anſicht wohl gerechtfertigt erjcheinen Eonnte, fie werde überhaupt Nichts zu 
Stande bringen. Welchen Gegenftand follte fie zuerft in Angriff nehmen? 
Der Regierung war offenbar an dem Wahlgeſetze am meiften gelegen. Nun 


323 


befand fi) unter den zahllofen von der Nationalverfammlung eingefeßten 
Gommiffionen, die feit zwei Jahren Ind Faß der Danaiden fchöpften, bereits 
eine Commiffion, welche mit der Vorberathung eines Wahlgeſetzes betraut 
war, ohne ihre Aufgabe mefentlich gefördert zu haben. Sollte diefe Com— 
miffion neben dem Dreigigerausfhuß ihre verdienftliche Thätigkeit fortfegen ? 
Dad erfchien den Herren denn doch als eine allzugroße Verſchwendung ihrer 
Kraft und Eoftbaren Zeit. Sie wünfchten daher ihre Arbeit einzuftellen und 
die Nationalverfammlung erfannte die Gerechtigkeit ihred Wunfches an und 
beauftragte fie, alle ihre Vorſchläge als ſchätzbares Material der Dreißiger— 
commiffion mitzutheilen. Gefördert wurden indeſſen die Arbeiten der Dreipiger 
durch diefe Meberweifung keineswegs; Vorfchläge gab es fat fo viel, als 
Mitglieder da waren. Uber je mehr Anträge, defto fehwerer die Wahl. Und 
nun folte man ſich noch mit fremden Gedanken befafen, fie fichten und die- 
eutiren! Man kam nicht von der Stelle. Das allgemeine Stimmredt galt 
für facrofankt; es follte unangetaftet bleiben. Zugleich aber follte e8 im con- 
ferwativen Sinne regulirt werden. War died Problem überhaupt lösbar? 
Republicaner und Bonapartijten waren in diefem Punkte gleich empfindlich; 
fie fchwuren beide nicht höher, ald auf das allgemeine Stimmredt. Das 
war ein bedenklicher Umftand für die royaliftiich gefinnten Abgeordneten. 
Man mochte der öffentlihen Meinung Vieles bieten, aber jeder Verſuch, dem 
Sande ein Recht zu entziehen oder auch nur zu verfürzen, dad nun einmal 
ald Palladium der Freiheit, als nationalfte® Grundreht galt, erfchlen ge- 
fährlich. 

Doc überlaffen wir vorläufig die Dreigiger ihren Verlegenheiten und 
ihrer unfruchtbaren Gefchäftigfeit. Im Grunde befümmerte man fi zunächſt 
um ihre Arbeiten außerordentlich) wenig. Auch die Regierung hatte es mit 
den Verfaſſungsgeſetzen durchaus nicht eilig und fie war weit davon entfernt, 
dem Ausſchuß feine Arbeit durch eine kräftige Snitiative zu erleichtern. Das 
Wahlgefe lag ihr zwar fehr am Herzen, aber bis zu allgemeinen Neuwahlen 
fonnten vielleicht noch Sabre vergehen und fo fonnte man ſich denn noch 
immer einige Zeit gedulden; jedenfalld gehörte da8 MWahlgefeg nicht zu den- 
jenigen Gefegen, von denen fich eine unmittelbare Beſſerung der Lage hoffen 
ließ. Mac Mahon und feinen Miniftern fam e8 vor Allen darauf an, die 
Verwaltungdorgane völlig und unbedingt in Händen zu haben. Das 
Mairesgeſetz war alſo für den Augenblid für fie bei weitem wichtiger, als 
alle Verfaſſungs- und Wahlgefete. Die Berfaffungsgefege follten dazu dienen, 
der Dictatur eine gewiſſe regelmäßige Form zu geben und fie in den Stand 
zu fegen, ihren gehäffigen Charakter zu verſtecken; dad Mairesgefeg war bes 
fimmt, eine der Grundfäulen der Dictatur zu werden; die eine diefer Grund» 
fäulen, die Armee, war dem Marfchall fiher ; die zweite Säule war ſchwankend, 


324 


fo lange die Mehrzahl der Communalbeamten, wie e8 damals der Fall war, 
der republicanifchen Partei angehörte. Hier raſch Wandel zu fchaffen, erfehien 
der Regierung von ihrem Standpunft aus mit Recht als eine Lebensfrage 
erften Ranges. 

Ein wie großes Gewicht der Herzog von Broglie diefer Angelegenheit 
beimaß, geht daraus hervor, daß er das Septennat mit der Vorlage feines 
Mairesgeſetzes (28. September) gleihfam einweihte. Der Entwurf beftimmte: 
bis zur Beſchlußfaſſung über die organifchen und Gemeindegefege werden die 
Maired und Adjunften in den Hauptitädten der Departementd, Arrondiſſe⸗ 
ments und Gantone von dem Präfidenten der Republik, in den übrigen Gr 
meinden von dem Präfecten ernannt; in den Departements und Arrondiffements- 
hauptjtädten üben die Präfeeten und Unterpräfeeten die Befugniß eines Polijzei— 
präfidenten aus, in den übrigen Gemeinden die Maires unter Aufficht der 
Präfeeten und Unterpräfecten; ein befonderes Verwaltungdreglement wird für 
die Etädte und Gemeinden, je nad) ihrer Bevölkerung, die Organifirung dee 
Bolizeiperfonal® näher beftimmt, alle Polizetinfpeftoren und Agenten werden 
vom Präfeeten ernannt und abgefegt; die Polizeiausgaben fallen den Ge— 
meinden zur Raft; wenn ein Gemeinderath die erforderlichen Mittel gar nicht 
oder nicht im ausreichenden Maße bewilligt, fo wird der nöthige Beitrag von 
Amtswegen in dad Budget der Gemeinde eingetragen. 

Es läßt fih gar. nicht in Abrede ftellen, daß diefer Entwurf den fran- 
zöfifchen Anfchauungen und Vermaltungdmarimen vollftändig entſprach. Man 
hatte im Jahre 1871 aus Eiferfuht gegen Parts viel von der Autonomie der 
Gemeinden gefhmwast, die Nationalverfammlung hatte auh die Ernennung 
der Maired durch die Gemeinderäthe befchloffen und nur auf Thiers ent- 
ſchiedene Erflärung, das hieße der Regierung die Mittel entziehen, die Ord— 
nung aufrecht zu halten, diefen Beſchluß dahin modificirt, daß in allen Städten 
von mehr ald 20,000 Einwohnern, ſowie in allen Departementd- und Arron 
diſſementshauptſtädten die Maired vorläufig von der Regierung ernannt 
werden follten (14. April 1871). Der damalige Beſchluß war ein Beweis von 
der unglaublichen Leichtfertigkeit und Ungründlichfeit gemefen, mit der diefe 
ganze Angelegenheit von den Gefekgebern Franfreich® behandelt wurde. Eine 
logifche Gefeggebung würde zuerft die Befugniffe der Gemeinden abgegrenzt 
und dann erft über die Ernennung der Gemeindebeamten Beftimmungen ge 
troffen haben. Die Folge des Beichluffes, in dem die Vorliebe des Franzoſen 
für den Formalismus des Wahlweſens einen bezeichnenden Ausdrud fand, mar 
denn auch die geweſen, daß die Gemeindeverwaltung überall in Zerrüttung 
gerieth und daß die Mahlen zu bloßen politifchen Barteidemonftrationen 
wurden, bei denen man auf die perfünliche Befähigung ded Kandidaten nicht 
das geringfte Gewicht legte, fondern nur danach) fragte, ob er Monarchiſt 


325 


oder Republicaner fe. Dadurch wurde denn den Conſervativen, die fich 
überall von ihren Gegnern überflügelt fahen, die Decentraliſationsſchwärmerei 
gründlich verleidet. Die Commiffion, welche mit den Vorarbeiten für die 
Reorganifation der lokalen Verwaltung beauftragt wurde, war mit dem viel» 
verfprechenden Namen Decentralifationdceommiffion beehrt; ihre Tendenz ent- 
ſprach aber ihrem Namen in feiner Weife. Uebrigens theilte fie dad Schickſal 
aller Ausſchüſſe: fie Fam mit ihren Arbeiten nicht von der Stelle. Dem 
Herzog von Broglie blieb daher Nichts übrig, ala felbft die Initiative zu 
ergreifen , um menigftend die Frage, welche für die Negierung augenblicklich 
die größte Wichtigkeit hatte, die Mairedernennung, rafch zur Entjcheidung zu 
bringen. 

Daß fein Entwurf von vielen Seiten Anfechtung fand, war begreiflich 
genug. Im Grunde dachten zmar alle Parteien über diefe Frage genau eben 
jo wie die Negierung, und es wäre lächerlih, zu glauben, daß Gambetta, 
wenn er wieder einmal and Ruder gelangen follte, den Gemeinden die Wahl 
ihrer Beamten überlaffen würde. Aber er befand fi nicht am Ruder, und 
deshalb hatte er, wie alle Republicaner nicht das Intereſſe der Regierung zu 
färken, fondern ihre Bewegungen zu hemmen und lähmen. Se Elarer die Re— 
rublicaner erkannten, daß fie nicht im Stande fein würden, den Kampf um 
die Staatdreform durch einen Gewaltftreich zur Entfcheidung zu bringen, um 
jo eifriger waren fie bemüht, die Machtmittel der Negierung im Einzelnen 
zu ſchwächen, vor allem aber die einflußreiche Stellung, melche ihnen dag 
Mairedgefeg von 1870 in der örtlichen Verwaltung geichaffen hatte, gegen 
jeden Angriff nah Kräften zu vertheidigen. Aehnlich ftellten fich die Legiti— 
miften zu dem neuen Gefege. Sie übten in einigen Gegenden ded Landes 
im Verein mit ihren geiftlichen Bundesgenoſſen in der That einen nicht un- 
bedeutenden Einfluß auf die ländliche Bevölkerung, jedenfall® einen größeren, 
als ihre orleaniftifchen Nebenbuhler, denen es trog aller Anftrengungen nicht 
gelingen wollte, in irgend einer Volksſchicht Boden zu gewinnen. Sie hatten 
daher von Anfang an eine große Begeifterung für Selbftverwaltung und 
Gemeindefreiheit zur Schau getragen, die allerding®, fo lange fie Theil an der 
Macht hatten, nicht über große Worte Hinausging; jest aber, wo eine Re 
gierung an der Spite ded Staates ftand, die fie in Verdacht hatten, daß fie 
ganz von orleaniftiichen Antrieben beherrſcht werde, trieb fie die Eiferfucht, 
Ihrer Schwärmeret für die wahre Freiheit in einer entjchloffenen That Luft 
ju machen. Die Urtheile der legitimiftifchen Blätter, denen fi, mie immer 
in der damaligen Zeit die Organe der Herifalen Wartet anfchloffen, lauteten 
daher fo ungünftig wie möglich über das Gefe des Herzogs von Broglie. Die 
„Union“, das Hauptorgan des Frohsdorfer Hofes, fchüttete die volle Schale 
ihtes Bornes über die gemäßigte Nechte aus. Nichts, erklärte fie, ift jo ge 


326 


fährlich, wie eine doctrinäre Politif, (EI war ein ganz gefchidter Kunſtgriff, 
deffen fih auch die Republicaner bedienten, die Orleaniftifhen Barteihäupter 
mit dem feit Guizot's Verwaltung in Verruf gelommenen Namen der Doc: 
trinäre zu bezeichnen.) Die Anhänger derfelben hätten fi angemaßt, vom 
Könige Garantien zu verlangen, und heute fähen fich diefelben Männer ge 
nöthigt, dem blinden Abfolutismus in die Hände zu arbeiten. Der leßtere 
Ausfall war veritändlih genug: die Union wollte damit andeuten, daß aud 
der Regierungspolitik fchlieglih nur die Bonapartiften Nutzen ziehen würden. 
„Sie fuhhen, fagte fie von den Männern der gemäßigten Nechten einige Tage 
fpäter, einen Herrfcher und wenden dem Könige den Rüden. Wir fchlagen 
ihnen vor, fi) unter einem Scepter zu fammeln, und fie fuchen Büttel... 
e8 giebt einen Grad des BVerfalld, wo man fi) nur noch mit der Knecht— 
Schaft befreunden Fann.“ Noch fohärfer ging mit der Regierung die legiti- 
miſtiſche Provincialpreffe ind Gericht, die, weil man in Paris wegen der Voll 
machten der Militärbehörden fich einer gewiffen Vorficht befleißigen mußte, 
grade zu den rückſichtsloſeſten Kundgebungen benugt wurde. So fohrieb die 
„Siperance du Peuple“: „Herr Graf von Chambord war den edlen Hergögen 
(Broglie und Decazed), die jest Frankreich regieren, nicht liberal genug und 
jest fchlagen fie Gefege vor, die wir drafonifch nennen können. . . . Dem 
neuen Miniftertum gegenüber haben unfere Freunde nur eind zu thun: die 
Herren Herzöge zu flürzen, den loyalen Soldaten, der an ber Spise fteht, 
feinen Berdienften nach reſpektirend.“ Leider befand ſich nur der loyale Sol: 
dat grade jet im vollften Einverftändnig mit feinen Miniftern, die mehr und 
mehr anfingen, ald Organ Mac Mahon’s fih zu fühlen und augenfcheinlid 
darauf bedacht waren, eine eigenthümliche von jedem befonderen Parteipro- 
gramme abfehende feptennaliftifche Politik zur Geltung zu bringen. 
Größeren Beifall ala bei den Nepublicanern und Legitimiften fand das 
Mairesgeſetz bei den Bonapartiften, die in demfelben eine Rückkehr zu den 
Principien des Kaiſerthums fahen und nur wegen der Handhabung desfelben 
beforgt waren. Die Bonapartiften, als die einzig wirklich praftifchen Polis 
tifer, faßten überall mit ficherem Takt die Perfonalfrage ind Auge. Das 
von ihrem Standpunkte aus vortreffliche Gefeß hatte in ihrer Schätung doch 
nur geringen Werth, wenn feine Durhführung und Handhabung nicht zuver 
läffigen Perfönlichkeiten anvertraut war. So erklärte der „Pays“, das ftreit- 
barfte der imperialiftifchen Blätter, das Geſetz für theoretifch ganz vortreff- 
ih; fo lange aber das Perſonal der Präfecten fo bunt zufammengefest fei, 
liegen fih die fchlimmften Yolgen von denfelben befürchten. Yuerft muß die 
Regierung für zuverläffige Präfeeten forgen, da® mar das ceterum censeo 
aller Artikel der bonapartiftifchen Blätter, die mit unermübdlicher Zähigkeit 
die Negterung zu Reinigung des Beamtenflandes drängten. Bor allem der 


327 


‚Bays* betrieb das Denunciationdgefhäft mit einer eyniſchen Unverfchämt: 
heit. Man könnte es auffallend finden, daß fie einen Miniiter, der ihnen 
doch jo verdächtig war, wie Broglie, zu firengen Maßregeln in der PBerfonen- 
frage drängten. Ihre Haltung erklärt ſich indeflen ganz einfach aus dem 
Umftand, daß fie mußten, Broglie werde bei jeder größern „Präfecten- 
bewegung * feine Zuflucht zu den alten Fatferlihen Beamten nehmen 
müffen, weil in den übrigen confervativen Gruppen das tüchtig gefchulte 
Beamtenthum faft gänzlich fehlte. Hierin lag ja gerade ein Hauptgrund der 
Unentbehrlihkeit und Unfehlbarkeit der Bonapartiften, und diefem Umſtand 
verdanken fie ed nicht am wenigiten, daß fie nach und nach immer entjchiedener 
ald die Vorkämpfer der confervativen Parteien den Republicanern gegenüber 
in den Vordergrund traten. Uebrigens bedurfte e8 für den Herzog von Broglie 
nit erjt der Ermahnung zur firengen Handhabung der Beamtendigciplin den 
Bräfeeten gegenüber: noch im Laufe des Decemberd wurden 18 neue Präfecten 
und zahlreiche Unterpräfeeten ernannt, wobei die Bonapartijten natürlich nicht 
zu kurz kamen. 

Daß das orleaniflifche rechte Centrum und die gemäßigte Rechte Nichts 
einzuwenden hatten, war felbftverftändlih. Die Drleaniften betrachteten fich 
ald die eigentliche Regierungspartei, oder benahmen ſich doch menigitend ala 
folhe, und daher mußten fie einem Gefete, welches darauf berechnet war, 
die Macht der Regierung zu verftärfen, freudig ihre Zuſtimmung geben. Be 
denken grundfäglicher Art lagen diefer Partei fern. Den abjolutiftifchen Be— 
ftrebungen der reinen Legitimiſten hatten fie allerdingd während des Fuſions— 
dramas MWiderftand entgegengefegt, weil fie von der Undurhführbarkeit der 
Pläne des Grafen von Chambord überzeugt waren und nicht Luſt hatten, fi) 
für eine Donquidhotterie aufzuopfern; ganz abgefehen davon, daß für fie die 
Aufrehterhaltung der parlamentarifchen Regierung unter dem legitimen König 
gradezu eine Lebensfrage war, da fie nur in einer einflußreichen Kammer 
einen Schuß gegen die Fanatiker des ancien régime zu finden hoffen durfte, 
die in den orleaniftifchen Verbündeten einen nothwendigen, aber läftigen An: 
bang jahen, deffen man fi fofort zu entledigen haben würde, fobald er 
feinen Dienft geleiftet. In der gegenwärtigen Lage aber gab es für fie durch— 
aus Fein Bedenken, die Negierung in allen ihren Plänen zu unterjtügen. 
Hätten fie dabei den Schein des Liberalismus wahren können, deſto 
beſſer. Ließ fich der Kiberaliamus mit dem Macmahoniämud nicht ver 
einigen, fo entſchieden fie fi ohne allen Serupel für den letzteren. Auf— 
richtige Anhänger Mac Mahon's waren fie natürlich nicht, und dafür wur— 
den fie au von Mac Mahon nicht gehalten, der immer deutlicher zu erfen- 
nen gab, daß er nicht die Abſicht habe, ſich als Werkzeug irgend einer Par— 
tet gebrauchen zu laſſen. Dies entging aud den Orleaniften nicht; aber Durch 


328 


diefe Wahrnehmung Tiefen fie fih in der Verfolgung ihrer verfchlungenen, 
ränfevollen Politik durchaus nicht beirren. Ihren alten Plan, den Herzog 
von Aumale zum Generaliffimus ernennen zu laffen, oder ihm die Präfident: 
ſchaft des Senats mit der Anmwartfchaft auf die Präfidentfchaft der Republit 
zu fihern, nahmen fie mit erneutem Eifer auf. Viellelcht ließ fich die Prä- 
fidentfchaft der Republik in eine Statthalterfchaft ded Königreich® verwandeln. 
Uebrigens beftand — das ift ein Punkt, der meift überfehen wird — ſchon damald 
zwar nicht ein foharfer Gegenfaß, aber doch ein nach und nad) immer deutlicher fid 
geftaltender Unterfchied zwifchen den eigentlichen Orleaniſten und den YAumaliften. 
Diefer Unterfchied war fehon in der Fühlen Haltung hervorgetreten, die Aumale 
und feine Freunde während der Fuſionsbewegung einnahmen, in der Zurüdhal: 
tung, mit welcher diefer Prinz, während die übrigen Mitglieder und vor Allem 
das Haupt des Haufes felbit mwetteifernd dem Grafen von Chambord ihre Huldi- 
gungen darbrachten, eine gefonderte Stellung behauptete, wie man allgemein, und 
gewiß mit Recht annahm, um für den Fall einer Niederlage der königlichen Bar: 
teien fich die Möglichkeit offen zu halten, unter Umftänden auch eine felbftändige 
Rolle zu fpielen. Die Art und Weife, wie er von feinen Freunden in den Bor: 
dergrund gefchoben wurde, und wie er felbft die Augen der Menge auf fich zu 
lenken fuchte, mußte für dag Selbftgefühl ded Grafen von Paris in hohem Grade 
verlegend fein. War der Graf von Paris wirklich den Verlofungen des Ehr— 
geizes unzugänglich, oder war feine vornehme fteife Zurüdhaltung, die viel: 
fach den Eindrud der Stumpfheit und Unbehülflichkeitt machte, nur eine 
Maske, unter der er herrſchſüchtige Pläne barg, geduldig des Augenblidd 
barrend, der ihm geftatten würde, mit feiner Perſon für feine Anſprüche einzu- 
treten? Man mußte ed nicht. Man beacdhtete ihn kaum, während jeder Schritt 
des Herzogd von YAumale von den Parteien mit Sorgfalt überwacht wurde. — 

Daß Aumale nicht ala Thronbewerber auftrat, dag feine Anhänger fih 
vielmehr damit begnügten, Mittel und Wege ausfindig zu machen, um ihn 
zum eriten Würdenträger der Nepublif zu erheben, war ein Zugeftändnig an 
die Rage der Dinge, denen man fich nicht entziehen Tonnte, wenn man nicht 
ganz darauf verzichten wollte, ihn eine Rolle fpielen zu laflen. Die Zeit der 
unmittelbaren Throncandidaturen war mit dem Briefe ded Grafen von Cham: 
bord fürs erfte zum Abfchluß gebracht worden. Das Königthum ſchien nur 
auf einem Ummege wiederhergeftellt werden zu Fönnen; die höchite Gewalt der 
Nepublit mußte einem Prinzen in die Hände gefpielt werden. Damit hätte 
die Republik ſich felbft banferott erklärt. Ein Prinz als Präfident konnte 
der Natur der Dinge nad) nur der Vorläufer eines Königs fein. Ob Aumale 
ala Vräfident zu feiner eigenen Herrſchaft oder zu der feines Neffen den Grund 
zu legen haben würde, darüber gingen auch unter feinen nächſten Freunden 
wahrſcheinlich die Unfichten noch auseinander. Zunächſt fam e3 darauf an, 


dad Volk daran zu gewöhnen, ihn als den berufenen Nachfolger Mac Ma- 
bon’s anzufehen. Dad Weitere mußte man der Entwidelung der Dinge 
überlaffen. " 

An Rührigkeit in der Verfolgung ihred Zieles liegen es Aumale’3 intri- 
gante Freunde nicht fehlen. Zuerſt jollte der Vorſitz in dem widrigen 
Bazaine’ihen Tendenzproceh die Augen der Nation auf ihn Ienfen und ihn 
als militärifches Genie erften Ranges ausweiſen. Diefer Verfuh, Aumale 
zum großen Manne zu ſtempeln, fcheiterte indeflen jo ſchmählich, wie er es 
bei feiner Abgefchmacktheit verdiente. Der Proceß war eingeleitet worden, um 
der nationalen Eitelkeit eine Art von trauriger Genugthuung zu verfchaffen. 
Die Verurtheilung wurde von allen Parteien mit Ausnahme der Eaiferlichen 
gefordert, und die Befriedigung war daher groß, ald das Urtheil gejprochen 
war, welches die VBerfehuldung Aller auf ein Haupt lud; wenn man aber 
gehofft Hatte, daß dem Vorſitzenden des Kriegsgerichts aus der Leitung des 
Proceſſes und dem Urtheilöfpruch eine dauernde Ropularität erwachſen werde, 
jo hatte man den Takt und das Anftandegefühl der Franzofen denn doch 
allzu gering anſchlagen. Eine tiefere und dauernde Wirkung hatte der Proceß 
überhaupt nicht hervorgebracht. Er hatte den Parteien Stoff zu gegenfeitigen 
Anjhuldigungen geboten; er hatte den Haß der Bonapartiften gegen die 
Männer des Septemberd von Neuem zu heller Flamme angefacht; er hatte 
die ganze Kriegführung der Franzofen ind jchlechtefte Licht geftellt, die Mehr: 
zahl ihrer höheren Befehlshaber uud nicht am wenigſten Mac Mahon jelbft, 
compromittirt. Aber die Eindrücke hafteten nicht lange. Die Sorge und 
Intrigue des Augenblicks nahmen die Parteien bald wieder in Anſpruch, und 
bald war Bazatne ein vergefener Mann, bi8 er durch feine Flucht ſich den 
Franzoſen wieder ind Gedächtniß zurückrief. 

Nach dem Proceß begab der Herzog von Aumale ſich nach Befancon, 
um, wie die orleaniftifchen Blätter täglich verfündeten, an feinem Armeecorps 
fein außerordentliche3 militärifches Organifationdtalent zu bewähren und feine 
Truppen zu einem Mufter- und Elitecorps audjubilden. In Beſançon 
unterließ er es nicht, als Prinz mit fürftlicher Herablafjung und Liebens— 
würdigfeit aufzutreten. Sodann ſprach man in geheimnißvollem Ton bald 
von einem wichtigen Auftrage, mit dem er in Betreff der Befeftigungen von 
Belfort betraut war, bald wurde das Gerücht in Umlauf gejegt, daß für 
ihn eine ganz beſonders hervorragende Stellung, ein vom Kriegsminiſterium 
faft ganz unabhängiges Generaliffimat, ind Auge gefaßt fei: eine Stellung, 
in der er als militärifcher College vielmehr neben als unter Mac Mahon 
fungiren follte. Die Einzelheiten diefer und ähnlicher Pläne murden mit 
großer Ernfthaftigkeit erörtert, obwohl die Urheber diefer Fabeln ſelbſt jehr 
wohl mußten, daß Mac Mahon viel zu eiferfüchtig an feiner en fefthielt, 

Grenaboten IV. 1874, 


330 


um fih einen Beigeordneten und Auffeher gefallen zu laſſen und fein ftärfftes 
Mactmittel, die Armee, einem ehrgeizigen Nebenbuhler zur Verfügung zu 
ftellen, einem Mann, deffen unermübdliches Jagen nad) Popularität, auch einen 
minder argmöhnijhen Machthaber, ald Mac Mahon e8 war, mit Mißtrauen 
erfüllt haben würde. Dazu hatte fih Mac Mahon die fiebenjährige Präfident- 
Ihaft nicht übertragen laffen, um nun fofort die Rolle des orleaniftifchen 
Mad zu fpielen: war e8 doch im hohen Grade zweifelhaft, ob er überhaupt 
nur Eympathien für die jüngere Linie empfand. Mac Mahon tft ein ziemlich 
unbehülflicher, bequemer Staatsmann und daher leicht der Gefahr audgefekt, 
ſchlau und verborgen angelegten Plänen eines Eugen und geſchäftskundigen 
Rathgebers auch wider Willen zu dienen: aber dagegen empörte fich fein 
Selbftgefühl, das in dem Maaße wuchs, ald die allgemeine Berrüttung und 
Schwäche der Partei zunahm, denn doch ganz entfchieden, daß er fich ald 
Bevollmächtigten und Werkzeug der Drleand gebrauchen lafjen follte Die 
zudringlichen Bewerbungen der Prinzen mochten feiner Eitelkeit fchmeicheln; 
er ließ fie fich gern gefallen, war aber meit entfernt, ſich der Familie ober 
der Partei zu befonderem Danke verpflichtet zu fühlen. 

Auh auf die Öffentliche Meinung machten die Bielgefchäftigkett des 
Herzogs und die Neclamen feiner Anhänger einen nicht weniger ald günftigen 
Eindruck. Wäre der Herzog in feinem Militärbezirk verblieben, hätte er ſich 
ganz und ausſchließlich feinen militärifchen Pflichten bingegeben, fo würde 
died ohne Zweifel achtungsvolle Anerkennung gefunden haben. Aber durch 
fein offenfundige® Streben, feine militärifche Stellung und Thätigkeit nur als 
Hebel für politiſche Zwecke zu benugen, verdarb er Allee Kaum hatte er 
mit großem Geräufch fein Gommando übernommen, fo vernahm man, daß 
er wieder in Paris erjchienen ſei, natürlich, wie die republicanifchen. und 
bonapartiftiichen Blätter fpöttelten, um ſich den Pariſern zu zeigen, die fih 
indefjen viel weniger um ihn kümmerten, al® feinen Freunden lieb war. 
Selbſt der von den orleaniftifchen Blättern zur Schau getragene maaßlofe 
Chauvinismus vermochte nicht, die Gleichgültigfeit der Franzoſen zu befiegen. 
Im Volke war der Orleanismus todt. Die orleaniftifhe Tradition war in 
den 25 Jahren, die feit Ludwig Philipp's Entthronung verflofen waren, 
vollfommen verlöfht. Es gab eine mächtige orleaniftifhe Kammerfraftion, 
aber Feine orleaniftifche Partei im Lande: ein widerſpruchsvolles Verhältniß, 
wie es in gleiher Schroffheit in der Gefchichte vielleicht ohne Beifpiel ift. 

So entwidelte ſich immer beftimmter eine doppelte, vielfach in einander 
übergreifende Strömung in dem Barteifampfe. Den Republicanern, deren 
Fractionen feit Thierd’ Sturz einen leidlihen Waffenftillftand unter einander 
aufrecht erhielten, ftanden die Gonfervativen gegenüber; aber innerhalb diefer 
PBarteigruppen, die auf den Namen einer einheitlichen Partei längſt feinen 


331 


Anfpruch mehr machen Fonnten, nahm der Gegenfaß zwiſchen Orleaniſten und 
Bonapartiften eine immer drohendere Geftalt und einen immer bitterern 
Charakter an. Es war das gemilfermaßen ein Kampf um die Hegemonie 
innerhalb der confervativen Partei, auf melde die Orleaniften wegen ihrer 
fummarlfchen Ueberlegenheit und ihrer ftarfen Vertretung in der Negierung 
Anfprud erhoben, während die Bonapartiften mit kecker Zuverficht behaupteten, 
daß fie allein im Stande wären, den Nepublicanern im Lande dad Gegen- 
gewicht zu halten und daß namentlich bei den Wahlen die Confervativen nur 
unter bonapartiftifcher Führung und unter Anwendung der bonapartiftifchen 
Wahltaktif auf Erfolg rechnen könnten, Die fämmtlichen neuen Erfagmwahlen 
haben bewiefen, daß dies Feine leere Prahlerei war: damals jedoch fträubten 
die übrigen Parteien fi) no, die Richtigkeit der bonapartiftifhen Behaup- 
tung anzuerkennen. Die Ahnung, daß in den Bonapartiften die Republik 
ihre einzigen gefährlihen Gegner zu fehen habe, regte fich allerdings überall; 
aber einen Klaren Einbli in die ganze Größe der drohenden Gefahr gewann 
man exft einige Monate ſpäter. Es mußte indeffen auf diefen Punkt hier 
ſchon nahdrüdlich Hingewiefen werden, mell in der That das Ringen der 
Bonapartiften um die Hegemonie in der confervativen Barteigruppe, befonderd 
im Gegenfat zu den Orleaniften, den eigentlichen Inhalt der Gefhichte des 
Septennat3 ausmacht. 

Diefe widerftrebenden Elemente zu einer Septennatöpartei zu vereinigen 
und zufammenzuhalten, das war eine Aufgabe, an der auh Mac Mahon’d 
zähes Phlegma und Broglie's Gewandtheit foheitern mußte. Broglie wurde 
von den Drleaniften als einer der Ihrigen angefehen und deshalb von den 
Regitimiften und Bonapartiften mit großem Mißtrauen beobachtet. Ob das 
Vertrauen der Einen und der Argmohn der Andern ganz gerechtfertigt war, 
ift aber doch zweifelhaft. Broglie hatte feinen Vortheil dabei gefehen, ſich 
Mac Mahon zur Verfügung zu ftellen und war ſchwerlich geneigt, Intriguen 
zu begünftigen, die, wenn fie zum Ziele geführt hätten, doch ſchließlich auch 
feine Stellung in Frage geftellt haben würden. Bon Haufe aus mar er 
allerdings eifriger, dabei ziemlich ſtark klerikal gefärbter Orleaniſt. Aber er 
war auch wetterfundig genug, um zu jehen, daß gegenwärtig die orleaniitijche 
Sache troß der ftarken parlamentarifchen Stellung der Partei nicht befonderd 
günftig ftand, und daß es für ihn ein Gebot der Klugheit fet, fich nicht zu 
eng mit ihr zu verbünden. Für einen Staatdmann, der fich für alle Fälle 
möglich erhalten wollte, war es offenbar das Sicherfte, fich Feiner Partei 
ganz hinzugeben, und gegen jede Zumuthung mit dem Schild des Septennats 
fih zu deden. Broglie war vor allen andern Staatämännern geeignet, die 
Drleaniften beim Septenntum feftzubalten , aber da8 Septennium zum Werk— 
jeug der Orleans zu machen, war damals ſchwerlich noch feine Abficht. 


332 


Mochte nah Ablauf der fieben Jahre ein Orleans den Thron befteigen, darin 
ſah auch er wohl die günftigfte definitive Löſung der großen Kriſis, in der 
Frankreich fih befand; aber an den fieben Jahren wollte er fo wenig rütteln 
laffen wie Mac Mahon felbft. 

Unter ſolchen Umjtänden Fonnte e8 ihm natürlich nicht erwünſcht 
fein, daß die Orleaniften fih ihm ald einzige, menigftens jcheinbar unbe 
dingte Anhänger des Septennats boten. Aber feine Bemühungen, die übrigen 
Gruppen der Rechten an fich zu ziehen, erwiefen ſich als fruchtlos. Das ein: 
zige Band, welches fie in Eritifchen Augenbliden zufammenphielt, war die Furt 
vor den Nepublicanern, befonders vor denen des linken Centrums, die in ihrer 
harakteriftiichen Weife fih an den Marſchall drängten, um fich ihm als ficherfte 
Stüße feiner Macht zu empfehlen. Daß Mac Mahon feine Neigung empfand, 
fi) mit diefer ganz unzuverläffigen Partei einzulaffen, machte feinem politifhen 
Takte durchaus Feine Schande. Er mußte recht wohl, daß ein Minifterium 
Cafimir Perrier unvermeidlich, felbft wider Willen, Thiers den Weg zur 
Präſidentſchaft bahnen mußte und der Selbfterhaltungstrieb ftählte ihn daher 
gegen alle Berfuhungen. Nichtödeftomeniger mußten die Confervativen in den 
unermiürdlichen Umtrieben der gemäßigten Republifaner eine beftändige Drohung 
und eine Mahnung fehen, wenigftens in der Abwehr zufammenzuhalten. 

Das hieß aber der Nefignation der Parteien allzuviel zumutben. Dad 
Mairesgeſetz, auf welches die Regierung einen fo außerordentlich großen Werth 
legte, brachte die Nebellion im confervativen Lager zum Ausbruch, ftellte 
aber auch zugleich die Schwäche der Frondeurs in ein fo helles Kicht, daß 
Broglie neu geftärkt aus der Krife hervorging, die ihn hatte ftürzen follen. 

Am 8. Januar 1874 ftand das Maireögefes auf der Tagedordnung der 
Nationalverfammlung. Man wußte, daß die Regierung die fehleunige Votirung 
ded Gefeged verlange. Nichtödeftoweniger wurde mit 268 gegen 228 Stimmen 
beichloffen, dasſelbe bi8 nach der Diecuffion über dad Gemeindegefeg zu ver 
tagen. Darüber herrſchte natürlich großer Jubel im republicanifchen Lager, 
aber um fo größerer Schreefen unter den Gonjervativen. Selbit diejenigen, 
welche aus übler Laune gegen Broglie geftimmt hatten, wurden von Sorge 
über die Folgen ihrer Abjtimmung ergriffen. Kaum hatte man vernommen, 
dag Broglie entfchloffen fei, zurücdzutreten, jo faßten die Confervativen den 
Beihluß, ihre Unbotmäßigkeit und Nachläjfigfeit — denn der ungünftige 
Ausfall der Abſtimmung war zum Theil durch die Abwefenheit einer großen 
Unzahl conjervativer Ubgeordneter verfchuldet worden — durch ein Vertrauen? 
votum und die Zurüdnahme des Votums vom 8. wieder gut zu machen. 
Diefem Beweife von Reue und Hingebung konnte Herr von Broglie natür- 
lich nicht miderftehen. Alle Abwefenden wurden dur den Telegraphen zur 
Nückehr aufgefordert. Am 12. Januar wurde mit 379 gegen 321 Stimmen 


u 


Broglie das verabredete Vertrauensvotum ertheilt, der Beſchluß am 8. zurüd- 
genommen und am 20. erfolgte die Annahme des Mairesgeſetzes. 

Dad mar ein glänzender Erfolg für Broglie und dad Septennat, aber 
eine furdhtbare Niederlage für die Nationalverfammlung. Eine wirkliche Stütze 
konnte die Regierung nicht länger in ihr fuchen, aber fie gewann zugleich die 
Ueberzeugung, daß fie diefelbe nicht zu fürchten brauche. Von diefem Augen» 
blide Fonnte Mac Mahon einem Konflikt mit einer gewiſſen Zuverficht ent- 
gegenfehn: er hatte den thatfächlichen Beweis geltefert, daß er ſtärker fei, ald 
die Nationalverfammlung : das Votum vom 12. Januar wurde allgemein als 
eine Etappe auf dem Wege zur Militärdietatur angefehn. 

Georg Zelle. 


Im Hilberland Nevada. 
Nah Markt Twain.*) 


Mark Twain's Reife von St. Louis nah dem Silberland Nevada fällt 
ungefähr in da® Jahr 1857 oder 1858. Es gab damald noch Feine Eifen- 
bahn nah dem Stillen Meere. Der Weg von St. Louis nah St. Joſeph 
mußte an Bord eined Raddampfers den Miffourifluß aufwärtd gemacht 
werden und erforderte fech® Tage. Bon St. Zofeph bi8 Carſon City ging's 
mit der Weberlanppoft fahrplanmäpig in neunzehn bi® zwanzig Tagen; doc) 
wurde die Reife auch häufig in fünfzehn bie fechäzehn gemadt. Marf Twain 
begleitete auf diefer Reife feinen älteren Bruder ald Brivatfecretait. Der 
Bruder war zum Gecretair der Vereinigten Staaten im Territorium Nevada 
ernannt worden. Mark Twain war damald — mie aud Andeutungen in 
Ipäteren Kapiteln zu ſchließen iſt — noch fehr jugendlih, kaum conftrmirt, 
wie wir bei und fagen würden. Um fo erftaunlicher ift die wunderbar fcharfe 
und richtige Beobachtungsgabe, die außerordentliche Anlage für die Wahr: 
nebmung der heitern Seite der Dinge und Ereigniffe, welche ihm damals 
Ihon eigen war. Denn wenn auch die Niederfchrift und Ausarbeitung diefer 
Neifeerlebniffe nach feinen eigenen Angaben erft zehn bis zmölf Jahre fpäter 
erfolgte, fo konnte Twain überall da, wo er nicht eingeftandener Maßen 
phantafirt und übertreibt — und das ift die feltene Ausnahme —, fondern 
wo er wirkliche Dinge fchildert, diefe früher in feiner Seele aufgenommenen 


*) Vergl. Grenzboten IV. 1874. ©. 306, Amerifanifche Humoriften, 2. Band, F. W. 
Grunow 1874, 


er 
334 


Borftellungsreihen, nad einem befannten pfychologifchen Geſetze, dem ſich 
Niemand entziehen kann, günftigften Falled nur in derfelben Deutlichkeit und 
Friſche reproduziren," wie zehn oder zwölf Jahre früher die Wirklichkeit fie 
auf der Bildfläche feiner Seele wiederfpiegelte. Und da diefe hier vorliegenden 
Neproductionen feiner Nelfenbenteuer und feiner Erlebniffe und Beobachtungen 
im Silberland Nevada mit feltener Klarheit und Treue, fprudelndem Humor 
und häufig mit ergreifender Poefie erfüllt find, fo find mir vollfommen be, 
rechtigt zu fagen, daß Marf Twain die beiten Borzüge feines Talentes bereits 
in fehr jungen Jahren beſeſſen hat. 

Unternommen wurde diefe Reife von Mark Twain nah einer Bor 
bereitung von höchiten® zwei Stunden. Biel Einpaden war nicht nöthig, da 
die Paffagiere der Meberlandpoft von der Grenze Miffourid bi8 Nevada nur 
25 Pfund Gepäd pro Mann mitnehmen durften. Auch nur drei Monate 
wollte der junge Abenteurer im Silberlande abmefend fein — „es fiel mir 
nicht im Traume ein, länger zu bleiben als diefe Zeit. Ach gedachte, Alles 
zu fehen was neu und feltfam war, und dann raſch nach Haufe zu eilen 
und wieder and Gefchäft zu gehen. Ich dachte wenig daran, daß ich das 
Ende diefer dreimonatlichen Vergnügungdtour erft nach Ablauf von fieben 
ungewöhnlich langen Jahren zu fehen befommen würde!“ 

In St. Joſeph fehon mußte Abfchied genommen werden von den Fracks 
und Glacéhandſchuhen. Dagegen bewaffnete man fih bis an die Zähne. 
So wurde Kanſas durchfahren; wellenförmig bob und fenkte fih das Erd» 
reich. Maisfelder und Mettland mwechfelten mit einander. Aber bald follte 
diefe See auf trodnem Boden ihren mwellenfürmigen Charafter verlieren und 
fi fiebenhundert Meilen fo eben mie eine Stubendiele hinftreden. — „Unfre 
Kutſche war ein großer, unaufbörlich fchaufelnder und ſchwankender Kaften 
von der mächtigften Art — eine gewaltige Wiege auf Rädern. Sie wurde 
von ſechs hübjchen Pferden gezogen und an der Seite des Poſtillons faß der 
„Sondueteur“ , der gefegmäßige Oberfte der Gefellfhaft,; denn es mar feine 
Aufgabe, für die Briefpoft, das Gepäd, das Eilgut und die Paſſagiere Sorge 
zu tragen. Wir drei waren auf diefer Tour die einzigen Paſſagiere. Wir 
faßen auf dem Rückſitz inwendig. So ziemlich Alles, was von der Kutjde 
no übrig war, war voll von Poſtſäcken; denn wir hatten die zurüctgebliebnen 
Poſten von drei Tagen bei und. So nahe unfern Knien, daß fie diefelben 
faft berührte, erhob ſich bis zur Ueberdachung eine ſenkrechte Wand von 
Roftfachen. Ein großer Haufen davon war mit Riemen auf dem Dadhe felt- 
geihnallt, und fowohl die vordere ala die hintere Schooßfelle war voll von 
ihnen. Wir hatten fiebenhundertzwanzig Pfund davon bei und, mie ber 
Poſtillon ſagte — „ein Bischen für Brigham und Carfon und Frieco*), 

*) Volksthümlich für San Francisco. 


335 


aber da8 Meifte für die Indianer, die hölltih unbequem werden, menn fie 
nit immer 'was zu leſen Eriegen.“ „Das munderte und, da er aber gleich 
darauf das Geſicht wie in einem fürchterlichen Krampfe verzog und audfah, 
ald ob ein erdbebenhaftes Kachen bei ihm im Anzuge wäre, merften wir, 
dag feine Meußerung ein Spaß hatte fein follen und die Bedeutung gehabt 
hatte, daß wir den größten Theil unfrer Boftfachen irgendwo auf den Ebnen 
abladen und den Indianern oder ſonſtwem, der Verlangen darnach trüge, 
überlafjen würden. — Wir mwechfelten alle zehn Meilen die Pferde und flogen 
Iuftig über die harte, ebne Straße dahin. Jedesmal, wenn die Kutfche Halt 
machte, fprangen wir heraus und ftredten unfere Beine, und fo fand und 
die Nacht noch Iebendig und unermüdet.“ 

In der folgenden Nacht zeigte ſich's dann deutlih, was der Konducteur 
gemeint hatte, ald er von der für die Indianer bejtimmten Lectüre fprad. 
löslich follte ein fabelhafted Ding entzmei fein, nämlih der „Schwung: 
riemen“ der Kutſche und zwar nur von dem übernatürlichen Gewicht der 
Brieffäce, die man nun fohon drei Tagereifen meit gefchleppt hatte. „Grade 
an diefer Stelle“ fagte der Conducteur, „ift der Ort, wohin die Zeitungsſäcke 
adrejfirt find, die für die Indianer ausgeladen werden follten, um fie ruhig 
zu erhalten. Es ift ein wahres Glüf,; denn wir haben es fo verdammt 
dunkel, daß ich unverfehend dran vorbeigefahren fein würde, wenn der 
Shmwungriemen nicht gerifjen wäre.“ Alle traten hinzu und halfen die Poſt— 
füde herausholen. Als Alles heraus war bildete es eine große Pyramide 
neben der Straße. Nun wurde ed im Innern ded Wagens bequem. Auf 
Anordnung ded Conducteurd wurden die Boftpadete bis zur halben Höhe 
des Wageninnern aufgeftapelt, die Site heruntergeflappt und fo ein prächtiges 
ebened Bett gewonnen. „E38 war jest die Morgendämmerung eingetreten 
und als wir unfre eingefchlafenen Beine ihrer vollen Länge nach auf den 
Poſtſäcken audftredten und durch die Fenfter über die weite grüne Raſen— 
einöde, die in Fühlen, pulverraudartigen Nebel gekleidet war, hinfchauten, wo 
am öftlichen Horizont die Sonne erwartet wurde, nahm unfer vollfommenes 
Wohlbehagen die Form einer ruhigen und befriedigten Ekitafe an. Die Poſt 
wirbelte weiter in rafhem Gange, der Ruftzug ließ die Vorhänge flattern 
und hob und in erheiterndfter Weiſe die Rockſchöße auf, die Wiege ſchwankte 
und fchaufelte prächtig, da8 Trappeln der Pferdehufe, das Knallen der Peitſche 
des Poſtillons und fein „Hü, Huſſa!“ waren Mufif, der vorüberfegende Erd- 
boden und die walzenden Bäume fchienen und beim Vorbeifaufen ein ſtummes 
Hurrah zugurufen und dann zu erfchlaffen und und mit ntereffe oder Neid 
oder fonft etwas nachzubliden, und als wir fo dalagen und die Pfeife des 
Friedens rauchten und al’ diefe Pracht mit den Jahren mühfellgen Stadt- 
leben® , die ihr worausgegangen waren, verglichen, fühlten wir, daß ed nur 





ein vollftändige® und ganz befriedigende? Wohlbefinden in der Welt gab, 
und daß wir dies gefunden hatten.“ 

So erreichten fie die Grenzen von Nebraska, 180 Meilen von St. Joſeph. 
Die Gegend ift eine Einöde, das einzige Thier, dad man trifft, das „Eſele— 
Kaninchen“, die einzige Pflanze der „Salbei-Bufh*, der mie ein verzmergter 
Eihbaum überall in der meiten Sandwüfte feine Wurzeln treibt, und dem 
hierher verfchlagenen Wanderer Alles in Allem ift: ihm als Wegweiſer dient, 
Teuerung und Holz zu warmen Mahlzeiten bietet, nur nicht die Mahlzeit ſelbſt. 
Denn nur Efel und Kameele vermögen auch Salbei zu verzehren wie Alles 
andere, Diefe Behauptung giebt Mark Twain Anlaß zu einer köſtlichen 
Abſchweifung. „In Syrien“, fagt er, „an den Quellen ded Jordan nahm 
einft ein Kameel meinen Ueberrod, während die Zelte aufgefchlagen murden, 
und unterfuchte ihn über und über mit Eritifchem Auge und mit fovtel In 
terefje, ald ob ihm die dee vorſchwebte, ſich eben fo einen machen zu laflen, 
und dann, nachdem es fertig damit war, fih ihn als Kleidungdftüd einzu: 
prägen, begann e8, ihn als ein Stüd Nahrung zu betrachten. Es ftellte 
feinen Fuß auf ihn und pflüdte mit feinen Zähnen den einen Aermel ab, 
faute und Faute an ihm herum und nahm ihn allmählich zu fih, und bie 
ganze Zeit über öffnete und fchloß es feine Augen in einer Urt religiöfer 
Verzückung, als ob es niemals in feinem Leben etwas fo Gutes gejchmedt 
hätte ald einen Ueberrock. Dann ſchmatzte e8 ein paar Mal mit den Rippen 
und reichte nach dem andern Wermel. Hierauf verfuchte es zunächſt den 
Sammetfragen und lächelte dazu ein fo zufriedenes Lächeln, daß Elar zu fehen 
war, es betrachtete den als den zarteften Theil am eimem Ueberrod. Darnach 
verſchwanden in feinem Maule die Schöße in Geſellſchaft einiger Zünd— 
hütchen, etlicher Stüde Huftenzudfer und eines Klumpen Feigen-Pafta aus 
Konftantinopel. Und dann fiel meine Zeitungseorrefpondenz heraus und & 
verfuchte ed auch damit — Briefe im Manufertpt, die ich für die Blätter in 
der Heimath gefchrieben hatte. Aber jest war ed auf gefährlichem Boden. 
Es ftieß in diefen Documenten auf ſolides Wiffen, welches ihm ziemlih 
ſchwer im Magen lag, und gelegentlich verfpeiite eö einen Wis, über den «8 
fich vor Lachen fchüttelte, bi ihm die Zähne wadlig wurden. Die Sade 
fing an, gefährlich für mein Kameel zu werden, aber es hielt mit gutem 
Muth und hoffnungsvoll feft, was es ergriffen hatte, bis es zuleßt über 
Behauptungen zu ftolpern begann, die felbft ein Kameel nicht ungeftraft 
verfchluden fann. Es begann zu würgen und nad Luft zu fchnappen, die 
Augen traten ihm aus dem Kopfe, feine Vorderbeine fpreisten fih, und in 
etwa einer Biertelminute fiel es um, fo fteif wie die Schnitbanf eines 
BZimmermannd, und farb nach einem unbefchreiblich ſchweren Todeskampfe. 
Ih ging hin und zog ihm das Manufeript aus dem Maule und fand, daß 





337 


dad empfindfame Thier an einer der fanfteften und mildeften thatfächlichen 
Behauptungen erſtickt war, die ich je einem vertrauensvollen Publikum vor- 
gelegt habe.“ 

Zu einer der brillanteften Schilderungen giebt aber Mark Twain die erfte — 
und ſpäter fortgefeßte Befanntfchaft mit dem Prairiewolf, Cayote, Veranlaſſung. 
„Der Cayote“ fagt er „ift ein langes, ſchmächtiges, Frank und trübfelig aus» 
ſehendes Gerippe, über das eine graue Wolfshaut. gefpannt ift, ein leidlich 
buſchiger Schwanz, der allezeit mit einem verzweifelten Ausdrud von Noth 
und Elend niederhängt, ein ängftliches, tüdifche® Auge und ein langes ſcharf— 
geſchnittenes Gefiht mit ein wenig audeinanderftehenden Lippen, welche die 
Zähne fehen Iafjen. Ueber das ganze Thier geht ein Ausdrud wie Schleichen 
und fih Duden. Der Cayote ift eine Iebende, athmende Allegorie der Noth. 
Er ift ftet? hungrig. Er iſt ſtets arm, hat nie Glück und nirgends Freunde. 
Die niedrigften Gefchöpfe verachten ihn, und felbft die Flöhe würden ihn ver- 
laffen, wenn ein Belocipede käme, auf das fie fich fegen könnten. Er ift fo 
muthlos und feig, daß jogar, während feine hervortretenden Zähne eine Drohung 
fein wollen, das übrige Gefiht dafür um Verzeihung bittet. Und wie garftig 
er audfieht, woie.räudig, rippendürr und -grobhaarig, wie verwimmert! Wenn 
er und fieht, fo hebt er ein wenig die Lippe und läßt feine Zähne biiten, 
dann dreht er fi ein wenig aus der Richtung, die er verfolgt hat, ſenkt den 
Kopf ein biächen und fchlägt mit leifem Fuß einen langgeſtreckten Trab durch die 
Salbei-Büfche ein, wobet er von Zeit zu Zeit einen Blick nach und über die 
Schulter wirft, bis er ungefähr fo weit entfernt ift, daß man ihn nicht leicht 
mit dem Piſtol erreichen kann. Dann hält er inne, betrachtet und und über- 
legt fih die Sache. Darauf trabt er wieder fünfzig Schritt weiter — dann 
nochmals fünfzig Schritt, worauf er wieder ſtill fteht. Zuletzt miſcht ſich die 
graue Farbe feines dahingleitenden Körperd mit dem Grau der Salbet-Büfche 
und er verjchwindet. — Dies Alles gefchteht, wenn mir feine Demonftration 
gegen ihn machen. Aber wenn wir das thun, fo entmwidelt er ein lebhafteres 
Intereffe an feiner Abreife, elektrifirt augenblidlich feine Werfen und bringt 
ein ſolches Stüf Grund und Boden zwifchen fi und und unfere Waffe, 
dag wir, während mir den Hahn geſpannt haben, ſchon fehen, daß wir eine 
Miniebühfe brauchen, daß wir, während wir ihn In der Schußlinie Haben, 
eine gezogene Kanone bedürfen, und daß wir, während wir ihn auf dem 
Korne haben, und fagen müſſen, daß nichts ald ein ungewöhnlich Tanggezadter 
Blisftrahl ihm da, wo er jest iſt, etwas anhaben könnte. Aber wenn man 
einen fohnellfüßigen Hund auf ihn losläßt, fo wird man ebenfo viel Vergnügen 
davon haben, vorzüglih, wenn e8 ein Hund ift, der eine gute Meinung von 
fi hat und fo erzogen fit, daß er denkt, er weiß einigermaßen, was Geſchwin⸗ 


digkeit ift. Der Cayote geht dann mit fanftem Schwung in u. feinen 
Grenzboten IV. 1874, 


Sn — 
338 


täuſchenden Trab über und ſendet immer nach einem Weilchen ein trugvolles 
Lächeln über feine Schulter, welches diefen Hund mit Zuverficht und meltlichem 
Ehrgeiz erfüllt und bewirkt, daß er feinen Kopf noch tiefer nach dem Boden 
fenft und feinen Hald noch mehr nad vorn ſtreckt und noch grimmiger Feucht 
und feinen Schwanz noch gerader hinausftehen läßt und feine wüthenden Beine 
mit noch wilderer Naferei bewegt und eine immer breitere, höhere und didere 
Molke von Müftenfand aufmwühlt, die hinter ihm raucht und feine lange Spur 
quer über die ebne Fläche bezeichnet. Und in diefer ganzen Zeit ift der Hund 
nur kurze zwanzig Schritt hinter dem Cayote, und wenn es das Heil feiner 
Seele gälte, er begreift nicht, mad es it, daß er ihm nicht merklich näher 
fommen fann, und er fängt an, ärgerlich zu werden, und ed macht ihn toller 
und immer toller, fehen zu müſſen, mie der Cayote fanft hingleitet und nie 
mals Feucht oder ſchwitzt oder zu lächeln aufhört. Immer hitiger und bisiger 
wird er, wenn er fiebt, wie fchmachvoll er von einem volllommen Fremden 
hinters Licht geführt worden und was für ein unedler Schwindel diejer lang- 
geſtreckte, rubige, leifetretende Trab if. Und nun merkt er zunächft, daß er 
erfchöpft zu werden anfängt, und daß der Cayote feine Geſchwindigkeit zu ver- 
mindern hat, wenn er ihn nicht davon laufen foll, und jet wird diefer Stadt- 
hund ernftlich toll, und er fängt an, ſich aufs Weußerfte anzuftrengen, zu 
weinen uhd zu fluchen, den Sand mit feinen Pfoten noch höher empor zu 
werfen und dem Cayote mit concentrirter und verzmeifelter Energie nachzu— 
jagen. Diefe Anftrengung bringt ihn ſechs Fuß hinter den dahingleitenden 
Feind und zwei Meilen von feinen Freunden weg. Und nun, in dem Augen: 
blide, wo eine milde neue Hoffnung fein Seficht erhellt, dreht fich der Cayote 
um und lächelt ihm noch einmal freundlich zu, wobei ein Etwas in feiner 
Miene Liegt, das zu fagen foheint: „Na, ich werde mich wohl von Dir lo 
reißen müſſen, mein Junge — Geſchäft ift Gefchäft, und es geht nicht, daß 
ih den ganzen Tag auf diefe Art mit Narrenspoffen vertrödle* — und ſo— 
fort hört man ein Saufen und das plötzliche Hindurchfahren eined Tangen 
Krachs durch die Atmoiphäre, und fiehe da, jener Hund ift einfam und allein 
mitten in einer unermeßlichen Einöde. Es ſchwimmt ihm vor den Augen. 
Er bleibt ftehen und fieht fi um, Hettert auf den nächſten Sandhügel und 
haut in die Ferne, fchüttelt nachdenklih den Kopf und kehrt dann, ohne 
ein Wort zu fagen, um und jagt nad) feiner Gefelfchaft zurüd, wo er eine 
demüthige Stellung unter dem hinterften Wagen einnimmt, ſich unausfpredlid 
gemein vorkommt, beſchämt ausſieht und feinen Schwanz eine halbe Woche 
auf halbem Mafte trägt. Und wenn ein Jahr nachher etwa wieder ein großed 
Gelärm und Gefchrei nad) einem Cayote lo8bricht, wirft diefer Hund nur einen 
gelafinen Bli nach diefer Richrung und bemerkt offenbar zu ſich: „Sch glaube, 
ih mag nichts wieder von der Paſtete.“ 


339 


Mir haben, um diefe Naturfchilderungen im Zufammenhang vorzutragen, 
den Gang der Reiferoute für einen Augenblick verlaffen. Schon bei der erften 
Frühſtücksſtation der Wildnig hatten unfere Reifenden reichlich Gelegenheit 
wahrzunehmen, daß fie „die Staaten“ längſt hinter fih Hatten, und in die An— 
fünge oder Außerften Ausläufer menfchlicher Kultur fi) vorgewagt hatten. 
„Die Stationdgebäude waren lange niedrige Hütten von ſchmutzfarbenen, an 
der Sonne gedörrten Ziegeln, die ohne Mörtel aufeinander gelegt waren. 
Scheunen, Ställe für 12 bis 15 Pferde und ein Speifezimmer für Paffagiere 
in einer Hütte machten das innere aud. Um dur die Thür zu kommen, 
mußte man ſich büden. An der Stelle des Fenfterd war ein vieredfiged Koch 
in die Wand gefchnitten, aber fein Glas darin. E3 gab feinen Ofen, aber 
die Feuerftelle diente für alle nothwendigen Zwecke. Es gab feine Simfe, 
Tellerbretter oder Cloſets. An der Thür der Höhle des Stationswirthes 
fand außen ein blechernes Waſchbecken auf dem Boden. Daneben befand 
fih ein Eimer mit Waffer und ein Stüd gelbe Riegelfeife, und von der Dach— 
traufe hing ein rauhes blaumollne® Hemd und deutete an, daß man fich bier 
abtrodnen konnte — aber es war des Stationdwirthed Privathandtuh, und 
nur zwei Perfonen von der ganzen Gefellihaft durften wagen, fich feiner zu 
bedienen: der Poftilon und der Conducteur. Der Iettere wollte das nicht 
aus Schieklichfeitägefühl, der erftere wollte e8 nicht, weil e8 ihm nicht beliebte, 
die Anerbietungen eines Stuttonswirthed zu ermuthigen. Bon dem Spiegel- 
rahmen hing an einem Bindfaden die Hälfte eine? Kammes herab — aber 
wenn ich die Wahl hätte, diefen Patriarchen zu ſchildern oder zu fterben, fo 
glaube ich, ich mürde mir gleich ein paar Särge beftellen.“ Diefen Berhält- 
niffen entfprach natürlich auch das Frühſtück, welches der Wüſtenwirth auf- 
tifchte, „Er fäbelte für jeden Mann ein Stück Sped ab, aber nur erfahrene 
alte Kunden machten fih daran, es zu eſſen; denn es war condemnirter 
Armee-Speck, mit dem die Vereinigten Staaten nicht einmal ihre Soldaten 
In den Grenzfort® füttern wollten, und die Voftgefelihaft billig gekauft 
hatte, um ihre Paſſagiere und Dienftleute damit zu nähren. Es ift möglich, 
dag wir diefen condemnirten Soldaten «Sped weiter draußen auf den Ebnen 
ald in der Station, in die ich ihn verlege, angetroffen haben, aber ange 
troffen Haben wir ihn, dem läßt fich nicht widerftreiten. Dann ſchenkte er 
und ein Getränf ein, welches er „Stumgullion“ nannte, und es tft fchmer, 
fih vorzuftellen, daß er nicht Infpirirt war, als er e8 benannte Er gab 
allerdings vor, Thee zu fein, aber es war zu viel Schüffelfpüliht, Sand 
und alte Speckſchwarte drin, ala daß der intelligente Neifende ſich hätte 
täufchen laſſen. Er hatte feinen Zuder, feine Mil, ja nicht einmal einen 
Löffel, um jene Ingredientien damit umgurühren. Wir fonnten weder das 
Brot noch den Speck effen, noch den „Slumgullion“ trinken.“ Er koftete aber 


340 


auch ungenofien einen Dollar pro Mann. Diefe Scene giebt Twain natürlich 
Gelegenheit, die damalige Mühfal feiner Reife in Vergleich zu ſetzen zu einer 
heutigen Eifenbahnfahrt „quer über den Continent“. 

Alles deutet darauf Hin, daß unfere Geſellſchaft fi dem Ziel der Tangen 
Reife nähert. Längſt find die fech3 flinfen Pferde des Poſtwagens mit eben- 
foviel noch rafcheren Maulthieren vertaufht. Bon Julesburg an drehten fid 
zwei Drittel der Unterhaltung zwifchen PBoftillonen und Gonducteuren um 
einen Menſchen Namens Slade, der ald Typus für jene wenigen Ausermähl: 
ten gelten kann, die unter einer Bevölferung von „Desperados“ die Herculed 
arbeit verrichten, einen Schimmer von Rechtéordnung zu erhalten, und der deß— 
halb ringsum wie ein Halbgott verehrt und mit peinlichem Grauen angebetet 
wird; denn nur dur Menfchenopfer Fonnte er hier den Anfang friedlicher 
Zuftände begründen; nur durch Menfchenopfer feine Autorität erhalten. Sehe 
undzwanzig Nebenälichter hat er ausgeblaſen, ehe er zu diefer Stufe des all. 
gemeinen Vertrauens ſich auffhmwang, auf welcher Twain ihm begegnet. Und 
er verläßt Slade glücklichermeife auch in einem Zuftande, in dem er blos für 
fehdundzwanzig ausgeputzte Lebenslichter Nechenfchaft zu geben hatte. ber 
freilich dabet bemendete es nicht und Stade war meit davon entfernt, fid 
gegen dad Ende feiner Raufbahn zu einer Aufnahme unter die Olympier vor: 
zubereiten. Er zog vor, ſich den Trunk anzugewöhnen, und in diefem Zu- 
ftande fo gräulich zu toben und gemeingefährlichen Landzwang zu üben, daß 
dem geheimen Bigilanz-Comite fhlieglich nicht übrig blieb, als den Wetter 
der Gefelihaft a. D. an einem Balken aufzuhängen. Indeſſen gerade der 
Realismus und die Naturwahrheit, mit der Slade gezeichnet it, macht ihn 
zu einem der bedeutfamften Charaktere, denen wir auf diefer Reife begegnen. 
Er erinnert ung lebhaft an Bret Harte's werthvolle Strolche. 

Twain nähert fi dem Herzen der Felfengebirge, dem Südpaß, der Un- 
geficht® des ewigen Schneed der nordamerikaniſchen Alpen überfhritten wird. 
Der volle Ernft, den die Ahnung der Emigfeit, der Begriff unermeßlicher 
Fernen erzeugt, tritt ihm bier auf die Rippen. „Und jest endlich waren wir 
richtig in dem berühmten Südpaffe und rollten luſtig über der gemeinen 
Melt hin. Wir befanden uns auf der höchften Stelle der großen Kette der 
Telfengebirge, nad der wir Tag und Nacht emporgeflettert, geduldig, unab- 
läffig emporgeflettert waren, und um und waren Bergfönige verfammelt, die 
zehn, zwölf, felbft dreizehntaufend Fuß Hoch waren — ftolze alte Burſche, 
die fi) büden müßten, wenn fie den Mount Washington im Zwielicht ſehen 
wollten. Wir waren in einer folchen Iuftigen Höhe über den dahinfriechenden 
Bevölferungen der Erde, daß es, wenn die und die Ausficht fperrenden Weld 
hörner zur Seite wichen, dann und wann ſchien, als Fönnten wir ringsum 
weit in die Ferne fehen und den ganzen großen Erdball betradhten, mie er 


341 


fih mit feinen Nebelbildern von Bergen, Seen und Kontinenten durch dag 
Geheimnig de fommerlichen Dunftes Hinftredte. An einer Stelle konnte 
man unter fih auf eine Welt immer Fleiner werdender Felshörner und 
Schluchten bliden, die hinab und nad einer verfchmimmenden Ebne mit einem . 
Faden darin, der eine Straße war, und Federbüfcheln, die Bäume waren, 
binführten, — ein hübſches Bild, mie es fo im Sonnenschein fihltef; aber 
ein dunkles Etwas fchlich ſich darüber und verbüfterte feine Züge tiefer und 
Immer tiefer mit dem finftern Blick eines heranziehenden Gewitter, und jetzt, 
während fein Nebel oder Schatten die Mittagshelle unfered® hohen Stand: 
orted unterbrach, fonnte man beobachten, wie da unten der Sturm losbrach, 
und ſehen, wie die Blite von Gipfel zu Gipfel hüpften und der Strichregen 
an den Wänden der Bergfchluchten hinzog, und den Donner rollen, krachen 
und brüllen hören. Wir rollten Iuftig weiter, und alsbald kamen wir auf 
dem eigentlichen Gipfel an eine Quelle, deren Wafjer durch zwei Mündungen 
abfloß und nach zmei verfchiedenen Richtungen weiter ftrömte. Der Conducteur 
fagte, daß einer der Bäche, auf die wir binfahen, juft eine Neife weſtwärts 
nah dem Buſen von Californien nnd dem Stillen Meere anträte, die durch 
Hunderte, ja Taufende von Meilen wüſter Einöden führte. Er fagte, daß 
der andere feine Heimath unter den Schneegipfeln verließe, um eine ähnliche 
Reife, aber nad Dften, zu maden, und wir wußten, daß lange, nachdem wir 
das fimple Bächlein vergeffen, e8 immer noch feinen mühfeligen Weg an den 
Gebirgsflanfen hinunter und auf dem Grunde von Schluhten und zmifchen 
den Ufern des Mellowftone fuchen werde, daß es ſich allmählich mit dem breiten 
Mifouri verbinden und durch unbekannte Ehnen und Wüſten und durdh nie 
beſuchte Wildniſſe fließen, dann eine lange und unrubige Pilgerfahrt zwiſchen 
verfunfenen Baumftämmen, Wradd und Sandbänfen machen, in den Miffiifippi 
einmünden, die Werften von Saint Louis befpülen und immer weiter jtrömen 
würde, über Untiefen und durch felfige Canäle, dann durch endlofe Ketten 
grundlofer und weiter Einbuchtungen, die mit ununterbrocdhenen Wäldern 
eingefaßt find, dann durch geheimnißvolle Seitenwege und verborgene Durch— 
ginge zwifchen waldigen Inſeln, dann wieder durch Reihenfolgen von Ein- 
buchtungen, die aber jest ftatt der düftern Wälder Einfaffungen von glän- 
jendem Zuderrohr haben, dann an Neuorleand vorüber und noch anderen 
Ketten von Einbuhtungen — und zulegt nad zwei langen Monaten voll 
täglicher und nächtlicher Erfchöpfung und Aufregung, voll Vergnügen, Aben- 
teuern und furdhtbarer Gefahr, von vertrocdneten Kehlen audgetrunfen, von 
Pumpen entleert, von Verdunſtung betroffen zu werden, in den Golf fließen 
und zu feiner Ruhe eingehen werde am Bufen der tropifchen See, um niemals 
die heimifchen Schneegipfel wieder zu ſehen oder zu bedauern, daß es fie ver- 
laſſen. Ich befrachtete ein Blatt mit einer nur gedachten Botſchaft an die 


312 


Freunde daheim und ließ e8 in den Bach fallen. Ich klebte feine Poſtmarke 
darauf, und fo blieb es, ald nicht frei gemacht, irgendwo unbefördert.“ 

Bet den eingehenden Mittheilungen über den Staat, die Propheten und 

den Glauben der Mormonen, welche die Grenzboten (1872, IV. Quartal) 
gebracht haben, Könnte ed überflüffig erfcheinen, mit Mark Twain in ver 

Salzftadt zu verweilen, dem erften Orte, an dem er feit St. Joſeph mehr 
tägigen Aufenthalt nahm. Allein jene Abhandlungen in diefen Blättern 
waren ernft und gravitätifch — ſoweit das bei dem Stoffe überhaupt mög. 
lih war. Mark Twain dagegen ift Faum irgendwo fo luſtig aufgelegt auf 
feiner weiten Reife, als in der Heimath „der Heiligen vom jüngſten Tage, 
der Burg der Propheten, der Hauptftadt des einzigen abfoluten Alleinherr: 
ſchers in Amerifa — der Großen Salzfee-Stadt.* „Died war für und nad 
allen Richtungen und Beziehungen ein Märchenland, ein Land voll Zauber, 
voll Kobolde und fchauerlichen Geheimniffen. Wir empfanden eine Neugier, die 
jede® Kind hätte fragen mögen, wie viel Mütter e8 habe, und ob es fie alle 
einzeln aufzählen könne, und es ging und immer durch und durd), wenn fid 
an einem Wohnhauſe, während wir vorübergingen, die Thür öffnete oder ſchloß 

"und ung einen Bli auf menſchliche Köpfe, Rüden und Schultern thun ließ; 
denn wir fehnten und fehr nach einer ordentlichen und genügenden Betrachtung 

einer Mormonenfamilie in ihrer ganzen umfaffenden Reichlichfeit, und geordnet 
nad) den concentrifhen Ringen ihres häuslichen Kreiſes. Die Stadt liegt am 
Rande einer ebnen Fläche von der Ausdehnung des Staated Connecticut und 
duckt fi) an den Boden unter einer fi Frümmenden Wand mächtiger Berge, 
deren Häupter fi unter den Wolfen verbergen, und deren Schultern den 
ganzen Sommer hindurch Nefte des Winterfchnees tragen. Bon einer diefer 
ſchwindelerregenden Höhen zmölf oder fünfzehn Meilen davon gefehen, wird 
die große Salzfee- Stadt matter und immer Eleiner, bis fie an ein Kinder 
ſpielzeug Dörfchen erinnert, da8 unter dem majeftätifchen Schutze der hinef- 
fhen Mauer ruht. Auf einigen diefer Berge im Südmeften hatte es zwei: 
Wochen lang jeden Tag geregnet, aber in der Stadt war Fein Tropfen ge 
fallen. Und an heißen Tagen gegen Ende ded Frühlingd und in den erften 
Wochen des Herbites Fonnten die Bürger aufhören, fih Kühlung zuzufächeln 
und zu murren, und ausgehen und fich dur Hinfchauen auf einen glorreichen 
Schneefturm abkühlen, der in den Bergen rumorte. Ste konnten es in diejen 
Sahreszeiten jeden Tag aus der Werne genießen, obſchon in ihren Straßen 
oder fonftwo in ihrer Nähe fein Schnee fiel. Die Salzfee-Stadt war gejund 

— eine über die Maßen gefunde Stadt. Sie erklärten, es gäbe nur einen 
einzigen Arzt am Orte und er würde regelmäßig jede Woche zur Verantwor- 
tung gezogen, meil er „Eeine erkennbaren Subfiftenzmittel habe’. Sie geben 
einem am Salzfee immer gute, folide Wahrheit zu genießen und gutes Maß 


343 


und guted Gewicht gleichermaßen. Sehr oft, wenn man eine von ihren leid). 
teften,, Iuftigiten Alltagsbehauptungen zu wägen wünſchte, würde man eine 
Heumage nöthig haben.“ 

Der Mittelpunkt unfred Intereſſes bietet natürlich der Beſuch bei dem 
Mormonenfönig Brigham Joung. Sie gingen dorthin zur Staatövifite, nach. 
dem fie weiße Hemden angezogen. „Er fchien ein ruhiger, freundlicher, behä- 
biger, würdiger, fich felbit in der Gewalt habender alter Herr von fünfund- 
fünfzig oder fechzig Jahren zu fein und hatte in feinem Auge eine janfte 
pPfiffigkeit, die wahrfcheinlih dorthin gehörte. Er war fehr einfach gekleidet 
und nahm, als wir eintraten, gerade feinen Strohhut ab. Er plauderte mit 
unferm Secretär und gemwiflen Regierungsbeamten, die mit und gefommen 
waren, über Utah und die Indianer und Nevada und über allgemeine ameri- 
fanifhe Angelegenheiten und Fragen. Uber niemald zollte er mir irgend 
welche Aufmerkjamkeit, trogdem ich verfchiedene Verſuche machte, „ihn über 
die Politik der Bundesregierung und feine hohmüthige Stellung ihr gegen: 
über auszuholen.“ Ich dachte, einige von den Sachen, die ich vorbracdhte, 
wären ziemlich ſchön. Er aber blickte fih nur in weit auseinander liegenden 
Zwiſchenpauſen nach mir um, etwa fo, wie ich eine wohlmollende alte Kae 
fh umbliden gefehen habe, um zu erfahren, welches Kästchen fih mit ihrem 
Schwanze zu ſchaffen gemacht habe. Bald verfank ich in entrüftetes Schweigen 
und blieb jo bis zu Ende fiten, heiß und roth und verwünfchte ihn in meinem 
Herzen als einen unmifienden Wilden. Über er war ruhig. Seine Unterhal- 
tung mit jenen Herren floß fo fanft und friedlih und mufifalifch Hin wie ein 
Sommerbächlein. Als die Audienz beendigt war und wir und aus feiner Ge: 
genwart zurüdzogen, legte er mir die Hand auf den Kopf, ftrahlte auf mich 
hernieder, ald ob er mich bewunderte, und fagte zu meinem Bruder: „Ab 
— vermuthlih Ihr Kind! Knabe oder Mädchen ?" — Es folgen dann einige 
Beifpiele von der unumſchränkten Macht diefes Königs. 

Mark Twain’3 Aufenthalt in der Ealzfeeftadt betrug nur zwei Tage, 
„und fo hatten wir feine Zeit, um die gebräuchliche Unterfuchung bet reffö der 
Wirkungen der VBielmeiberei anzuftellen und die üblichen ftatiftifchen Notizen 
und Schlüffe zufammen zu friegen, die man beifammen haben muß, wenn 
man die Aufmerkfamfeit der Nation nochmals auf diefe Angelegenheit lenken 
will. Ich Hatte den Willen, es zu thun. Mit der fprudelnden Selbft- 
genügfamkeit der Jugend war ich begierig, mich kopfüber hineinzuftürzen und 
bier eine große Reform ins Leben zu rufen — bis ich die mormonijchen 
Weiber ſah. Dann fühlte ich mich gerührt. Mein Herz war klüger ald mein 
Kopf. Es erwärmte ſich für diefe armen, linfifhen, ungewöhnlich häßlichen 
Geihöpfe, und als ich mich abmwendete, um die großherzige Thräne, die mir 
ind Auge getreten war, zu verbergen, fagte ih: „Nein, der Mann, welcher 


' 
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8* * 
7 


344 


eine von ihnen heirathet, hat eine That chriſtlicher Barmherzigkeit vollbracht, 
die ihm ein Anrecht auf den freundlichen Belfal der Menjchheit, nicht auf 
ihren harten Tadel verleiht — und der Mann, der fechzig von ihnen heirathet, 
bat eine That freigebigfter Großherzigkeit verrichtet, fo erhaben, daß die 
Völker in feiner Gegenwart unbededten Hauptes daftehen und ihn fehmeigend 
verehren follten. Das Nächftinterefjante iit, fich zu den Heiden zu feben und 
ihnen zuzubören, wenn fie über Vielweiberei fprechen, und wie irgend ein 
diebäuchtger alter Frofh von einem Welteften oder Bifchof ein Mädchen 
heirathet — fie gern hat und ihre Schweiter heirathet — die gern hat und 
eine zweite Schwefter heirathet — die gern hat und eine Andere zur Frau 
nimmt — die gern hat und ihre Mutter heiratet — die gern hat und ihren 
Bater, ihren Großvater, ihren Urgroßvater heirathet und dann hungrig 
zurüdfommt und um mehr bittet. Und mie dann da® fohnippifche junge 
Ding von elf Jahren vielleicht fein Lieblingsweib wird und ihre eigne ehr 
würdige alte Großmutter in ihres gemeinjchaftlichen Eheherrn Werthſchätzung 
eine Stufe tiefer nah D 4 binftehen und in der Küche zu fchlafen haben 
wird. Und wie diefed fürdhterliche Leben, dieſes Zufammenfteden von Mutter 
und Töchtern in ein einziged faules Neft und SHöherftellung einer jungen 
Tochter ihrer eignen Mutter gegenüber Dinge find, denen fich die Mormonen: 
weiber unterwerfen, weil ihre Religion ihnen lehrt, daß je mehr Frauen ein 
Mann auf Erden hat, und je mehr Kinder er aufzieht, defto höher die Stelle 
fein wird, die fie alle mit einander in der zufünftigen Welt einnehmen merden 
— deſto höher und vielleicht deito wärmer, obwohl fie darüber nicht® zu fagen 
ſcheinen. Nach diefen unfern hetdnifchen Freunden enthält Brigham Young’ 
Harem zwanzig oder dreißig Frauen. Sie fagten, daß einige davon alt ge 
worden und aus dem activen Dienfte getreten, aber gut einlogirt und verforgt 
feien im — „Hühnerhaufe“, wie fie fih ausdrüdten, im Römwenhaufe, mie die 
Mormonen es feltfamer Weiſe nannten. Bei jeder Frau befanden ſich ihre 
Kinder, fünfzig alle zufammen. Das Haus war volllommen ruhig und 
ordentlih, wenn die Kinder ftill waren. Sie alle nahmen ihre Mahlzeiten 
in einem einzigen Zimmer ein, und man fagte, das wäre ein recht glückliches 
und gemüthliches Bild. Niemand von und fand Gelegenheit, mit Herrn 
Moung zu fpeifen, aber ein Heide Namens Johnſon behauptete, im Löwen— 
hauſe gefrühftüdt zu haben. Er gab und eine verrüdte Schilderung vom 
„Berlefen der Präfenzlifte” nebjt andern Präliminarien, und von dem Ge 
meßel, welches erfolgte, ald die Buchweizenkuchen hereinfamen. Aber er ver: 
ſchönerte ein biächen zu viel. Er fagte, daß Herr Young ihm verjchiedene 
geicheidte Aeußerungen von feinem „Zweijährigen“ mitgetheilt und dabei mit 
einigem Stolze bemerkt habe, daß derfelbe einer der fleifigften Mitarbeiter in 
diefem Face für eine der öftlichen Wochenſchriften geweſen, und dann habe 


345 


er ihm ein® von den Zuderpüppchen zeigen wollen, dad die letzte hübſche 
Aeußerung gethan, es aber nicht herausfinden können. Er fuchte unter 
den Gefihtern der Kinder herum, Fonnte aber nicht entſcheiden, welched das 
rechte war. Endlich gab er es mit einem Seufzer auf und fagte: „Sch 
dachte, ich würde das Eleine Ferkel wieder erkennen, aber fiehe da, ih kann 
nicht.“ Herr Johnſon fagte ferner, Herr Young habe bemerkt, das Leben ſei 
doch ein trauriges, ein recht trauriged Ding, „weil die Freude über eine neue 
Hetrath, die man einginge, fo leicht dur) das ungelegen kommende Begräbnip 
einer weniger neuen Braut verdorben würde!“ 

Auch die Statiftif der Ausgaben de3 Young'ſchen Haushaltes ift bier 
zum Gegenjtand einiger Abhandlungen gemacht worden. Wir erfahren — 
Iheinbar aus des großen Propheten eignem Munde — daß die Ausftattung 
der Frauen Young's mit je einer Bufennadel fofort auf 2500 Dollars zu 
ſtehen komme und die Beichenfung der hundert und zehn Kinder Young's 
beiläufig mit je einer Blechpfeife fofort einen unerträglichen Lärm erzeugt. 
„Und denken Sie nur an die Wäfcherrehnung — verzeihen Sie diefe Thränen 
— neunhundertvierundachtzig Stüde die Woche! Nein, mein Herr, fo was 
wie Sparen giebt es in einer Familie, wie meine ift, nit. Sehen Sie, nur 
der einzige Artikel Wiegen — denken Sie 'mal daran. Und Wurmkuchen! 
Und Syrup zum Befänftigen! Und Ringe beim Zahnen! Und Bapa-Uhren 
zum Spielen für die Kleinen! Und Dinge, um an den Möbeln damit 
herumzukratzen! Und Streihhölzchen, die fie eſſen können und Stüde Glas, 
mit denen fie fich fohneiden können! Das Kapitel Glas allein fchon würde, 
wie ich zu fagen wage, hinreihen, um Ihre Familie zu erhalten“ — Die 
Breife in Utah find allgemein ſehr hoch. Unter einem Bierteldollar ift 
eigentlich nicht? zu haben, um diefen Preis Fonnte man gerade eine Thon- 
pieife befommen, oder eine Cigarre, oder eine Pfirfiche, oder ein Talglicht, oder 
eine Zeitung, oder den Barbier oder einen Heinen heidnifchen Schnaps, um ſich 
die Hühneraugen damit einzureiben oder Unverdaulichkeit zu hemmen. Ein 
junger Mifchling mit einer Gefichtöfarbe wie eine gelbe Nübe, fragte mid, 
ob er mir die Stiefel pugen ſollte. Es war am SalzfeerHaufe den Morgen 
nah unfrer Ankunft. Ich fagte ja, und er pubte ſie. Dann händigte ich 
ihm mit der wohlmwollenden Miene einer Berfon, die Reichthum und Glüd: 
jeligkeit auf Armuth und Leiden folgen läßt, ein filberned Fünfcent-Stüd ein. 
Die gelbe Rübe nahm es, wie mir vorfam, mit unterdrüdter Rührung und 
legte es ehrerbietig In die Mitte ihrer breiten Hand. Dann begann fie ed 
zu betrachten, ungefähr wie ein Naturforfcher ein Müdenohr auf dem meiten 
Felde ſeines Mikroskops betrachtet. Mehrere Leute vom Gebirge, Fuhrleute, 
Voftillone und dergleichen traten heran, bildeten mit und eine Gruppe und 


machten ſich an die Unterfuchung des Geldſtücks mit jener —— Gleich— 
Grenzboten IV. 1874. 





346 


gültigfeit gegen alle Förmlichkeiten, welche den Bahnbrecher der Gultur im 
Weiten harakterifirt. Bald darauf händigte mir die gelbe Rübe das Fünf. 
cent-Stüd wieder ein und fagte mir, ich follte doch mein Geld Tieber in 
meinem Portemonnaie als in meiner Seele mit mir herumtragen, dann würde 
es nicht fo zufammenfchrumpfen.“ 

(Schluß folgt.) 


Die ſächſtſche Yolitik, 


Dresden, 22. November. 


Der Artikel: „Ein Beitrag zur Geſchichte der jähfifhen Po— 
litik“, den die Preußifchen Jahrbücher von Treitfhfe in ihrem November 
heft bringen, wird nicht verfehlen, diesſeits und jenfeit® der grünmeißen Grenz 
pfähle ein gewiſſes Auffehen zu erregen. Hier, in der ſächſiſchen Hauptitadt, 
bat er natürlich die Kreife, auf welde er feine grellen Schlaglichter wirft, 
fehr empfindlich berührt. Die nächte Frage war nad dem Berfafler. Des 
beißenden Inhalts wegen, könnte man auf den Heraudgeber der Jahrbücher 
ſelbſt, Heinrich von Treitſchke, vathen, diefen „entarteten Sohn“ Sachſens, 
der den biefigen maßgebenten Perfönlichkeiten ſchon fo viel Schmerz umd 
Aerger bereitet hat; allein es ift nicht Treitſchke's Stil, und der Auffag ent- 
hält Manches, was Treitſchke richtiger Hiftorifch feitgeftellt haben würde, 
Manded, was ihm, dem fo lange fchon fo gut wie aus Sachſen Erilitten, 
faum fo vertraut fein Fann, wie es dem Verfaffer zu fein feheint. Die Wiener 
Deutfhe Zeitung, welche den Artifel aldbald eingehend beiprach, glaubt zu 
wiſſen, er rühre von einem den ſächſiſchen Regierungskreiſen naheftehenden, 
wenn nicht zugehörigen, zugleich im die Geheimniffe des Hofes eingemeihten 
Manne ber, einem Bürgerlichen, einem Reichstreuen und in diefer doppelten 
Beziehung durch den Gang ver ſächſiſchen Politik tief Verbitterten. 

Das Rebtere merkt man allerdings aus jeder Zelle des Artikels. Auch 
das läßt fich herausfühlen, dag der Verfaffer fich viel in jenen obern Schich— 
ten bewegt, wohl auch manchen Blic hinter die Couliffen gethan hat, wogegen 
es wieder frappirt, wie er in der Auffaſſung mander thatfächlichen Vorgänge 
des öffentlichen LXeben® in Sachſen weniger fiher, zum Theil fogar übel be 
richtet erfcheint. Aber auch feine Kenntnig von der geheimen Gejchichte des 
Hofs, des Beamtenthums ift nicht immer ganz zuverläffig, ftüst fi bie 
weilen wohl mehr auf unfichere on dit’s ale, wie es fcheint, auf eignes Hören 


347 


und Sehen. Durch Alles diefed wird jede Vermuthung wegen der Autorſchaft 
des Artikels außerordentlich erſchwert, abgeſehen davon, daß es überhaupt in 
Sachſen unter den den Hof- und Regierungskreiſen Naheftehenden nur wenig 
Vürgerliche giebt, noch weniger Solche, die auf einem fo ausgeprägt anti- 
particulariftifchen Standpunkte, wie der Verfaſſer dieſes Artikels, ftehen möch— 
ten. Und unter diefen wenigen, wer wäre da, der Neigung, Talent und — 
Muth hätte, einen folchen Artikel in ein hierort3 fo verrufenes Blatt mie 
Treitſchke's Jahrbücher zu fchreiben ! 

Doch laſſen mir diefes Näthfel der Verfafferfchaft und wenden wir und 
zu dem Inhalte des Artikel! Der Verfaffer meint: die Politik der fächfifchen 
Regierung müffe dem räthfelhaft vorfommen, der das Uebergewicht der Ariftos 
kratie im ſächſiſchen Staatöleben nicht Fenne Mir fcheint, er legt hierauf zu 
jehr den Accent: der Adel ift in allen deutichen Rändern herrfchfüchtig und 
er ift überall da übermächtig, wo die Negierungen aus einem oder anderm 
Grunde es verfchmähen, ſich auf die liberalen Elemente im Volke, welche 
durchſchnittlich im Bürgertum vorwiegen, zu ftügen. Das Beſteeben, die 
Stellung der fähfifchen Ariftofratie als eine erceptionelle darzuftellen, verleitet 
den Berfafjer zu mancher Einfeitigkeit. So wenn er den Religionswechſel eines 
Schönburger Grafen gemwillermaßen als eine Deferenz gegen das Fatholijche 
Herrſcherhaus darftellt. Die Schönburger find fo wenig eine® der „der Dis 
naftie naheftehenden Adelshäuſer“, dag vielmehr, wegen der Brätenfion der 
Chönburger auf eine Urt von Halbjouveränität, zwifchen ihnen und der 
Krone Sachſen eine Spannung befteht, die»eben jetzt nahezu in offenen 
Kampf ausgebrochen it. 

Wichtiger und größtentheild auch zutreffender ift, was der Verfaffer über 
die einzelnen Perfönlichkeiten jagt, die in der fächfifchen Politik in den letzten 
Jahrzehnten eine Rolle gefptelt haben, beztehentlich noch fpielen. Bor Allem 
der Freiherr von Beuſt ift trefflich gezeichnet. Zu feiner für Sachfen fo ver- 
bängnigvollen Wirkſamkeit möchte ich zwei Züge nachtragen, die beim Ber 
faffer fehlen. Der letztere erklärt die lange Verzögerung des Separatfriedeng 
zwiſchen Preußen und Sachen im Jahre 1866 aus angeblichen Bemühungen 
der preußifchen Diplomatie, die ſächſiſche Dynaftte zu einer Aufgabe ihrer 
Rechte auf das Land, fei es gegen Geldentſchädigung, fei e8 durch einen Terri- 
tortaltaufh , zu vermögen. Ich glaube beffer unterrichtet zu fein, wenn ich 
fage: jene Verzögerung war weſentlich die Schuld des Herren von Beuft, der 
bis aufd Aeußerfte dem König Johann anlag, Feine oder fo wenig ald möglich 
Gonceffionen in Bezug auf die Einfügung Sachſens in den Norddeutfchen Bund 
zu maden. Daher die entjchiedene Meigerung des preußifchen Kabinets mit 
diefem Minifter länger zu unterhandeln, — der zwingende Grund zu Beuft’s 
Rücktritt — für welchen der VBerfaffer feinerfeitö Feine Erklärung giebt. Eine 


318 


andere Einwirkung Beuſt's auf die fächfifchen Verhältniffe, die ich allerdings 
nicht ganz fo pofitiv conftatiren fann, wie jene, aber aus Gründen hödhfter 
MWahrfcheinlichkeit anzunehmen mich für befugt halte, datirt aus neueſter Zeit. 
Ganz kurz vor dem Schluffe des Landtags im Frühjahr d. 3. war Herr von 
Beuft in Dresden, präfentirte fih auch auf der diplomatifchen Tribüne jeder 
der beiden Kammern. Gerade damald brachten unfre beiden offiziöfen Blätter, 
dad Dresdner Journal und die Leipziger Zettung Artikel, welche darauf be— 
rechnet waren, in die neugefchloffene Allianz der drei Nordmächte einen Keil 
hineinzutreiben, befonderd aber Mißtrauen zwiſchen dem deutfchen Reich einer» 
ſeits, Defterreih und Rußland andrerfeit3 zu ſäen. Ich möchte meinen Kopf 
vermwetten, daß diefe Artikel dem perfönlichen Einfluß Beuſt's auf die beiden 
Nedactionen zu verdanfen, weil beiden nod) immer Günftlinge Beuſt's vor- 
ftehen. Ebendamals erfchien auch, wie man fich erinnert, jener auffehenerregende 
Artikel in der Augkburger Allgemeinen Zeitung, melcher Defterreih gegen 
Rußland und Deutfchland argmöhnifch machen follte, ein Artikel, den man 
allgemein, wenn auch natürlich nur indirect, auf Herrn v. Beuft zurüdführte. Der 
Artikel in der Leipziger Zeitung verrieth außerdem feinen Urfprung dadurch, 
daß er die Vorficht der ci-devant Beuft’jchen Regierung über Defterreih in 
Bezug auf deffen Stellung zu Deutfchland und Rußland rühmte, dagegen auf die 
Undraffy’iche Aera einen tiefen Schatten fallen ließ. Beide Urtifel wurden bald 
darauf in denfelben Blättern in möglichit unauffälliger Weife durch andere 
in entgegengefestem Sinne ftillfchweigend zurüdgenommen oder desavouirt. 
Man hat fi) — das iſt bezeichnend für unfer officielles Preßregime — von 
dem abgefesten ehemaligen Minifter ‚oder feinen Gefchöpfen ein Kukuksei ins 
Neſt Iegen laſſen, welches man jetzt fich beeilte hinaudzumerfen, bevor die gefähr- 
lihe Brut ausfröche, die Faun zu vermeidende Rüge aus Berlin wegen einer 
fo groben Kreuzung der Politit der Reichsregierung. 

Die Porträtd der dermaligen Mintiter find im Ganzen gut gezeichnet, 
ebenfo die der beiden Führer unferer hocdheonfervativen und hochkirchlichen 
Partei, der Herren v. Zehmen und v. Erdmannddorf. Dagegen halte ich 


das Urtheil, welches der Verfaſſer über die beftimmenden Momente der ſäch- 


fifchen Politif im Allgemeinen, der aufs Reich bezüglichen im Befonderen 
fällt, für mancher Berichtigung bedürftig. Hier iſt allernächft ein Moment 
außer Acht gelaffen, welches gleichwohl m. E. einen fehr mwefentlihen Antheil 
an dem Ganzen der ſächſiſchen Politik hat. Ich meine die traditionelle 
Anſchauung der maßgebenden Kreife in Sachſen von der gänzlichen Unwirf- 
ſamkeit ftändifcher Abftimmungen für den Beitand des Minifteriumd. Diefe 
Anſchauung ift fo feitgemurzelt, fie wird fo zweifellos vom ganzen Beamten- 
thum in allen feinen Verzweigungen getheilt, au vom Bürgerthum ſtill— 
ſchweigend anerfannt und geduldet, daß, mer etwa bei einer brennenden 


Zn en 2 — 


349 


Frage in den Kammern von einem möglichen Rüdtritt des Minifteriums oder 
eined einzelnen Minifterd reden wollte, nahezu für nicht recht bei Sinnen, 
allermindeftend aber für einen fehr fonderbaren Schwärmer angefehen werden 
würde. Nur die Ariftofratie hat bisweilen verfucht, einen Minifter zu ftürzen, 
Indeg wentger durch ein Kammervotum, ald durch eine beiher gehende Agita- 
tion gegen den von ihr Verfehmten im focialen Verkehr mit den hödhft- 
geftellten Perfonen am Hofe. Mit Rindenau, dem allzu liberal und bürgerlich 
gefinnten Minifter, gelang ihr dies im Jahre 1844 wirklich. Beim Landtage 
1871/73 machte fie einen folhen Sturmlauf gegen den Minifter des Innern 
von Noſtiz-Wallwitz, — nicht wie der Verfaſſer erzählt, bei Anlaß ber 
„Berfaffungsrevifion“, vielmehr bei den Organifationdgefegen. Diedmal mif- 
glüdte e8, weil die liberale Mehrheit der II. Kammer zu dem von der Ariſto— 
fratie angefochtenen Minifter hielt und felbft mit einigen Opfern an ihren 
liberalen Wünfchen auf ein AZuftandefommen des Organiſationswerkes hin- 
drängte, fo daß die adlichen Frondeurs, wollten fie nicht ihre Hintergedanken 
gänzlich verrathen, wohl oder übel auf ein Compromiß eingehen mußten. 
Aber wie gefagt, die Ariftofratie würde es nicht unnatürlih finden, wenn 
einmal der oder jener aus den Reihen der Ihrigen gleich dem Cincinnatus 
vom Pfluge mweggeholt und auf einen Minifterftuhl gefegt würde, und wäre 
es auch ein vormaliger Cavalerielieutenant ohne gelehrte Bildung. Auch die 
Büreaufratie würde fih, wenn ſchon murrend, darein finden. Dagegen an 
ein jog. parlamentarijcheg Miniſterium aus der Mitte des Bürgerthume, dem 
die liberale Partei ausschließlich entjtammt “(einen liberalen Adel giebt es 
in Sachſen leider nicht), auch nur zu denken, erfcheint ſowohl der Ariftokratie 
vie der Büreaufratie ald unerhört, als einfach lächerlich. Die kurze Zeit, 
wo das Prinecip der parlamentarifchen Regierung auch in Sachſen factifch 
galt (vom 16. Mär; 1848 bis 30. April 1849), war zu kurz, um jene 
Tradition zu erfchüttern; auch muß man geftehen, daß das Märzminifterium 
die Probe einer auf politifchen Parteigrundſätzen, nicht auf büreaufratifcher 
Schulung fußenden Regierung nicht allemege glänzend beftand. 

Die ſächſiſche Regierung rechnet fi) daher auch zu Feiner Partei und 
nimmt es fehr übel, wenn man ihr eine beftimmte Barteiftellung anmeift; 
fie fteht „über den Parteien‘. Das hindert nit, daß fie die eine Partet 
(die confervative) mit allen ihren büreaufratifhen Mitteln bei den Wahlen 
unterftüst oder doch unterftügen läßt, die andere (die liberale oder die national— 
Iiberale) mit allem Eifer, unter Umftänden „bi8 aufs Meſſer“ befämpft — 
nichtsdeſtoweniger ift und bleibt fie parteilo®, gleichfam politifch geſchlechtslos, 
fie ift nicht8 ala eben „Regierung“. Und daher macht es Ihr nichts aus, 
wenn au die grundfäglich zu ihr haltende Partei, oder wenn fie felbit ge- 
Ihlagen wird — fie läßt die feindlichen Mächte tief unter ſich grollend 


350 


einander befämpfen ; fie felbft fteht hoch über diefem Kampfe und regiert fort, 
als märe nicht? geichehen. Das iſt eine der fonderbarften „berechtigten 
Eigenthümlichkeiten“ Sachſens, an der man feithält, obfchon faft in allen 
conftitutionellen deutjchen Staaten, neuerdings fogar in Preußen, das Princip 
parlamentarifcher Regierung immer mehr zum Durchbruch gelangt tft. 

Um fo mehr tritt natürlih in Sachſen die Perſon und der perfönlice 
Mille des Monarchen in den Vordergrund. Und doch auch wieder nidt. 
Denn eine zmeite ſächſiſche Tradition ift die, daß der König möglichit menig 
die politifchen Handlungen und Entfchliegungen feiner Regierung zu beein 
fluffen fcheine. Won den Monarchen Baiernd, MWürtembergd, auch von dem 
greifen König Wilhelm hört man öfters, ziemlich präci® und verbürgt, melde 
Stellung fie zu der oder jener Frage der inneren Politik einnehmen: in 
Sachſen giebt und gab es faſt allezeit darüber bloße Vermuthungen. Der 
Berfaffer glaubt nun die politifche Gefinnung und Haltung des gegenwärtigen 
Monarchen Sachſens, König, Albert, indbefondere in nationalen Fragen fehr 
genau zu wiſſen und präcifiren zu können. Wllein gerade in dieſem Punkte 
gehen mir gegen feine Aufitelungen mancherlei Bedenken bei. Zuerſt fehlen 
einige Züge zu dem Bilde, die gerade fehr wichtig find, und die der Verfafler, 
der fi fo großer Intimität mit allem am Hofe Vorgehenden rühmt, nicht 
hätte weglaffen follen. Der Verfaſſer erwähnt die Hinneigung des jüngeren 
Zweiges der königlichen Familie zu einem ftrengen Katboliciamus, die Bathen- 
Schaft de Papſtes bei dem jüngften Prinzen u. f. w. Allein über die Gegen: 
ftelung de3 Königs zu diefen Tendenzen geht er zu raſch hinweg. Er vergißt 
anzuführen, daß König Albert feiner Zeit fih über jene Pathenſchaft ala 
wenig opportun, nicht eben zuftimmend geäußert hat; daß er mit einem der 
wenigen fretfinnigeren Fatholifchen Hoftheologen gern verkehrt; daß er perfönlich, 
wie man fagt, in fehr entfchiedener Weife, den Rücktritt eined anderen Hof- 
prediger®, der das „Fatholifche Kirchenblatt für Sachſen“ redigirte, von diefer 
Stellung betrieb, ald genanntes Blatt fih zum Kämpen der Unbotmäßigfeit 
der römtfchen Kirche gegen den Staat machte, daß endlih nur König Albert’8 
perfönlidiem Einfluß es zuzufchreiben war, wenn am Sedantage d. %. der 
apoftolifche Vicar in Sachſen, Biſchof Forwerk, troß der fanatifhen Ab- 
mahnungen des mächtigen Kirchenfürften Ketteler, in der Fatholifchen Hofkirche 
hier das Nationalfeſt feierlich mit beging. *) 

Ebenfo hat der Verfaſſer unterlaffen, de3 damaligen Kronprinzen Albert 
Berhalten bei dem Kampfe um die Drganifationdgefege (die er überhaupt 
zum Theil unrichtig darftellt) zu erwähnen. Und doch mar diefes Verhalten 
nicht weniger ald den Plänen der Ariftofratie günftig, im Gegentheil 
geradezu demonftrativ gegen letztere, und es hat, wie damals wenigſtens hier 


) Das hatten auch die „Pr. Jahrb. hervorgehoben, D. Red, 


> 


351 


die allgemeine Anſicht war, weſentlich dazu beigetragen, diefe Pläne zu ver: 
eiteln und die ſchon ihres Triumphes fcheinbar ficheren Führer der hoch— 
confervativen Partei zum Nüdzug zu nöthigen. Eben diejed thatjächliche 
Verhalten des Prinzen bei der erwähnten Gelegenheit fcheint mir aber auch 
jened on dit zu widerlegen, welches der Verfaſſer anführt und welches aller: 
dings feiner Zeit hier cireulirte: König Albert — damald noch Kronprinz — 
habe im Minifterrathe darauf gedrungen, daß die Regierung mit Hülfe von 
$ 92 der Berfafjung betreffd des Schulgefeges die Volkskammer majorifire und 
fi feft auf die L Kammer flüge, weil, wie er gefagt babe, fonft die in der 
U. Rammer vorherrſchende liberale Partei nicht? iligered® zu thun haben 
werde, als Sachen in Preußen aufgehen zu laflen.“ — Über wenn der 
Prinz diefe Beſorgniß wirklich gehegt hätte, jo hätte er nicht dazu beitragen 
dürfen, bei den fo wichtigen Organifationdgefegen den MWiderftand der I. 
Kammer zu brechen, der liberalen Partei und dem in diefer Sache mit ihr 
gehenden Minifter v. Noftiz den Sieg zu verfchaffen. 

Der Berfaffer des Artikels geht fo meit, zu fagen: von jener rücfläufigen 
Mendung der fächfifchen Regierungspolitik im Frühjahr 1873 datite eigentlich 
die Regierung König Albert's, obſchon er formell diefelbe erft im November 
ded Jahres, nach feines Vaters Tode, angetreten. Das heißt: jene rücdläufige 
Politik mit allen ihren Confequenzen fet dad Werk des damaligen Kron— 
prinzen, jebigen Königs; er fei das eigentliche Agens diefer Politik; die 
Minifter hätten fih nur feinem Einfluffe und feinem Andringen gefügt, in- 
dem fie von der eine Zeit lang betretenen liberäleren Bahn plößlic in die 
gerade entgegengeſetzte einlenkten. 

Das ift eine gewagte Behauptung, die nicht ohne die triftigften, thatfäch- 
lichen Beweiſe ausgeſprochen werden folltee Conſervativ oder liberal, — ein 
König kann Beides fein. Beides hat feine Berechtigung ald grundfägliche 
Veberzeugung eines Einzelnen oder einer Partei. Allein wenn in einem Sande 
die liberale Strömung vorherrſcht, — und das ift in Sachſen ohne Zweifel 
der Fall, — wenn außerdem in einer Zeitperiode die liberale Strömung vor- 
herrſcht, — und das Ift in der Gegenwart ebenfo zmeifello8 der Fall, — dann 
wäre eine grundfägliche Gegenftellung wider diefe Strömung auf Seiten ded 
Monarchen, alfo des oberften entfcheidenden Willens im Lande eine verhäng- 
nigvolle Thatjache, ein Confliet, au8 dem es nicht, wie bei der bloßen Gegen- 
ftellung eine® Minifteriums, einen Ausweg gäbe. 

Ich weiß, daß in manchen politifhen Kreifen Berlins die Anficht getheilt 
wird: die fächfiichen Minifter müßten fo fprechen und handeln, wie fie thun, 
„um fich zu halten.” Immerhin eine ſchlechte Entſchuldigung für conftitutio- 
nelle Minifter, denen die eigene verantwortliche Meberzeugung allein oberjte 
Norm ihres Handels fein müßte. 


352 


Über ich frage wieder, womit beglaubigt man diefe peffimiftifche Anſicht 
von den fächhfifchen Dingen? Denn peffimiftifh muß ich fie nennen, weil 
fie eben feinen Ausweg aus einer für jeden Staat überaus mißlichen und be 
denklihen Lage, einem Zwieſpalt zwifchen Regierenden und Regierten zeigt. 

Der Berfaffer Fann für feine Behauptung oder Vermuthung nur feine 
angebliche Kenntniß von dem Charakter ded Königs Albert anführen, allen: 
falls nad) defjen focialen Berührungen mit Berfonen, die freilich nicht zu den 
Freunden liberaler Ideen gehören mögen. Deffentliche, notoriſche Kundgebun— 
gen oder Handlungen ded Königs in diefer Richtung nennt er nit. Be 
ftimmende Einwirkungen ded König? auf Aete der Gefehgebung oder Ber- 
waltung im entgegengefeßten, d. h. liberalen Sinne find mir auch nicht be 
fannt. — Das liegt im Gange des conftitutionellen Regierungdapparates; 
Kundgebungen aber allerdings einige, und fehr marfante, So jenes fchmeidel- 
hafte Rob, welches König Albert aldbald nach feiner Thronbefteigung der 
Reipziger Glückwunſchdeputation in Bezug auf die rührige und gedeihliche 
Selbftverwaltung ihrer Stadt fpendete und welche damals Hier in der Reſi— 
denz fo üßel vermerkt wurde; ferner die fichtlich behagliche Weife, womit der 
König, allen Berichten zu Folge, bei feiner bald darauf ftattgefundenen län: 
gern Anweſenheit in Leipzig fi dafelbit gegeben und geäußert hat. Leipzig 
aber ift für Sachſen wohl eigentlich der Brennpunkt der liberalen und außer 
dem der nationalen Bewegung. Auch das tft nicht unbemerkt geblieben und 
hat in gewiſſen Hof- und Beamtenkreifen manches Kopfihütteln erregt, daß 
der König — troß der bi8 zum „Kampf auf Meſſer“ gefpannten Situation 
zwifchen feinem Minifterium und den National-Riberalen — felbft mit nam- 
haften Wortführern diejer leteren auf dem Parquet ſeines Hofed nach mie vor 
in freundlicher und ungezwungener Welfe verkehrt hat. Bei dem offenen jeder 
Berftellung entfchieden fremden Wefen König Ulbert’3, welches auch der Ber- 
faffer jenes Artikels hervorhebt, wäre aber dies kaum vereinbar mit einer prin- 
zipiell antipodifchen Stellung des Königs zu den liberalen Zeitideen und deren 
Trägern. j 

Noch bedenklicher Elingt, was im jenem Wrtifel von des neuen Königs 
Stellung zum Reihe gefagt it. Wäre dies begründet, dann allerdings er 
hielt ein Wort, da8 Miniſter von Noftiz in Teidenfchaftlicher Hite in der 
Kammer ſprach, eine verhängnißgvolle Wahrheit. Aber nein und aber nein! 
Daß es eine Partei, oder, ſage ich lieber, eine Coterie in Sachfen geben mag, 
die fo denkt, will ich nicht bezweifeln; auch nicht, daß diefe Coterie ihren 
feinen Groll gern mit der Autorität jenes höchſten Namens bewaffnen möchte. 
Zu beklagen hat man vielleicht, daß folche Verfuche nicht energifcher, often- 
fibler zurückgeſtoßen und dahin, wohin fie gehören, verwiefen werden. Aber 
das ift auch Alles. 


353 


Klärung der Situation — das iſt's, was und noth thut. Nach innen 
und mehr noch gegenüber dem Reiche. Wielleiht hat der Verfaffer jenes Ar- 
tifel3 dies bezweckt und dazu freilich fehr draftiiche Mittel angewendet. Wenn 
der Urtifel die Folge hat, daß man rechten Ortes einfieht, wie hohe Zeit es 
ift, eine ſolche Klärung herbeizuführen, dann können felbft die Mebertreibungen 
deöfelben fih für Sachſen heilfam ermeifen. 

K. F. 


Vom deutſchen Reichskag. 


Berlin, den 15. November 1874. 


In ſeiner elften Sitzung, der erſten der abgelaufenen Woche iſt der 
Reichstag in die Berathung des Bankgeſetz -Entwurfes eingetreten und hat 
die erſte Leſung desſelben in drei denkwürdigen Sitzungen zu Ende gebracht. 
Denkwürdig dürfen dieſe Sitzungen heißen, denn ihre Verhandlungen gehören 
zu den beſten Leiſtungen, welche deutſche Parlamente in ihren glücklichſten 
Tagen bisher aufzuweiſen haben. Die vorparlamentariſche Geſchichte des 
Bankgeſetz-Entwurfes wollen wir nur in größter Kürze andeuten. Man weiß, 
wie in Folge der ftaatlichen Zerfplitterung unter der Bundesverfaffung von 
1815 Deutfhland mit privilegirten Banken überſchwemmt worden ift. Diefes 
Unmwefen, früher wenig bemerkbar, fteigerte fih unter dem Einfluß des merk: 
würdigen Verkehrsaufſchwungs der fünfziger Zahre. Das Wort „Gründer“ 
hat zwar erft feit dem Jahre 1872 einen üblen Klang befommen. Die erften 
Gründer waren aber die Regterungen der deutjchen Kleinftaaten in den fünf- 
jiger Jahren, Ihren Bankmonopolen — die allerdings nur auf das Gebtet 
der privilegirenden Regierung lauteten, die aber das große deutfche Wirth. 
ſchaftsgebiet den privilegirten Bank-nftituten als Jagdrevier erfchloffen, weil 
die bereit3 in taufend Adern ftrömende Einheit diefed Gebieted nicht mwillfür- 
ih an einer einzelnen Stelle zu unterbinden war — jenen Bankmonopolen 
alfo verdanken wir die Entwerthung des Geldes, oder, was dasfelbe ift, die 
Steigerung der Waarenpreife, und zahllofe andere Uebelftände. Man hat 
von Seiten der Vertheidiger des ausgearteten Bankweſens in Abrede ftellen 
wollen, daß jene Mebelftände von dem Zuftand unfered Bankweſens überhaupt, 
gefhmweige denn zum größten Theile herrühren. Gerade fo hat man den Moor- 
rauch lange Zeit nicht vom Moorbrennen, fondern von zerſetzten Gemittern 
und wer weiß noch welchen fabelhaften Dingen herleiten wollen. Weber die 


Einwirkung des Bankweſens auf die Cireulationdmittel find nun aber jeht 
Grenzboten IV. 1874, 45 


354 


durch die Bertreter der Reichsregierung beglaubigte Thatfachen, Zahlen von 
unanfehtbarer Beweiskraft vorgelegt worden, welche hoffentlich allen myſtiſchen 
Schwindel über die Haupturfache unferer wirthichaftlichen Krankheit befeitigen. 
Diefer Gewinn der erften Leſung des Banfgefeges dünft uns allein ſchon ein 
unfhäsbarer. Kehren mir aber zur Vorgefchichte des Entwurfes zurüd. 

Dem Uebel der großen Bank Inftitute, von Heinen Staaten privile⸗ 
girt, ſuchten Preußen und nach ihm andere Bundesſtaaten durch Verbote der 
Banknoten des deutſchen Auslandes zu ſteuern: Verbote, die aus dem oben 
berührten Grunde über kurz oder lang immer wieder unwirkſam werden mußten. 
Eine der letzten geſetzgeberiſchen Thaten des norddeutſchen Bundes war das 
Verbot der Ertheilung neuer Bankprivilegien bis zum Ende des Jahres 1874, 
ein Verbot, welches das deutfche Neid vom norddeutihen Bund übernahm 
und auf fein ermeitertes Gebiet erftredtte. In den politifch ebenfo troftlofen, 
als an wirthſchaftlichem Aufſchwung reichen fünfziger Jahren empfahl die 
deutſche Mancheſterſchule — ein Name, den wir als Ehrennamen betrachten, 
wenn auch dieſe Schule, ſo wenig als irgend eine andere, das Verſtändniß 
ihres Faches erſchöpft hat — als Heilmittel gegen das damals ſchon als 
höchſt gefährlich erkannte Uebel des gleichzeitig monopolifirten und doch höchſt 
irrationell zerfplitterten Bankweſens die allgemeine Bankfreiheit. Bis auf 
wenige unerfchütterliche Adepten, deren nambaftefter wohl Herr Eugen Richter 
jein möchte, ift man von dem Glauben an die Univerfalmedizin der individu- 
ellen Bewegungäfreiheit gerade für dag Bankweſen am meiften zurüdgefommen. 
Die Gründe dürfen wir heute nit erwähnen, um nicht diesmal zu lang zu 
werden. Abgefehen von der Frage nach der nothwendigen Einwirkung deö 
Staated auf das Bankweſen bat ſich in Deutſchland eine Anfiht mehr und 
mehr Bahn gebrodhen, al® deren erfter Vorfechter Profeſſor Tellkampf zu 
Breslau lange Zeit allein ſtand, welche das Weſen der Zettelbank im Grunde 
beſeitigen will. Danach ſoll es nur noch Banknoten mit voller Deckung durch 
das Edelmetall der landesgeſetzlichen Währung geben. Solche Noten find, 
wie man richtig hervorgehoben bat, feine Banknoten, fondern Depofitenfcheine. 
Diefer Anficht fteht jedoch die entgegengefeßte ältere, zwar nicht mehr in Allein- 
herrſchaft, aber nod in eifrig verfochtener Geltung gegenüber, welche in den 
Banknoten das mohlthätige Mittel fieht, dem Verkehr wohlfeiles Geld und 
durch) dasſelbe beftändig wachfende Flügel zu geben. 

Mitten in diefen Kampf der Theorie, der zugleich ein Kampf materieller 
Intereſſen von vielfacher Geſtalt und allerbeträchtlichftem Umfang ift, fällt 
nun die Aufgabe des deutfchen Reiches, das Syſtem einer einheitlichen Bank. 
politif zum erftenmal zu ergreifen und durchzuführen, nicht etwa auf einer 
tabula rasa, fondern auf dem Boden eines im üppigften und zuglei 
irrationellſten Wachsthum ftehenden Bankweſens. Dazu kommt aber noch, 


355 


daß das Syſtem einer neuen Bankpolitif begründet werden muß im Augen- 
blick eines Währungswechſels, der allezeit für eine der ſchwierigſten Maß— 
tegelm gegolten hat. Die Gefichtöpunfte der deutjchen Bankpolitit müffen 
in Folge davon beeinflußt fein durch eine doppelte unabmweisbare Aufgabe: 
erſtens durch die Aufgabe, den Vollzug des Währungsmechfeld zu unterftüsen, 
und zmeitend durch die eng damit zufammenhängende, aber doc) jelbitändige 
und in eine weite Zukunft fich erſtreckende Aufgabe, die in Deutichland an- 
genommene Goldwährung bei der eigenthümlichen Lage des deutfchen Reiches 
in einer Uebergangsperiode des europäifchen Verfehrd, und namentlich der 
Münz und Währungs: Verhältniffe zu ſchützen. 

Die Löſung einer fo vielgeftaltigen und dabei jo folgenreichen und ver- 
antwortlihen Aufgabe wurde mit ebenfo allgemeiner Spannung erwartet, 
ald fie allgemein für unauffchiebbar erfannt wurde. Die Hauptfragen, auf 
welche fih die Spannung richtete, waren: 1) Wie ift um die Monopole der 
Territorialbanfen herum zu fommen? 2) Wie fol e8 mit der Ausgabe uns 
gededter Noten gehalten werden? 3) Sit, abgefehen von der Rechtäfrage 
der territorialen Monopole, eine Gentralifation des Bankweſens wünſchens— 
werth? 

Als nun in dieſem Sommer, wie man ſagt, etwas vorzeitig, der Geſetz— 
entwurf veröffentlicht wurde, welchen das Reichskanzleramt dem Bundesrath 
zu unterbreiten gedachte, da war das erſte aber äußerſt raſch vorübergehende 
Gefühl das einer gewiſſen Enttäuſchung. Jemehr man aber den Entwurf 
ſtudirte, trat an die Stelle des erſten weniger, als man erwartet hatte, groß— 
artigen Eindrude, ein Gefühl der Bewunderung für ein Werk wahrhaft 
ingentöfen Scharffinned. Denn die fo umfaffende Aufgabe eined deutfchen 
Bankgeſetzes ſchien hier gelöft, die Hinderniffe unfhädlich gemacht und doc 
nit zermalmt, was eine unverhältnigmäßige Anftrengung erfordert und 
vieleicht eine verhängnigvoll nachblutende Wunde zurüdgelaffen haben würde. 
Die unbefchränkte Ausdehnung der Notenaudgabe war in Schranken gehalten 
duch Auflegung einer fünfprocentigen Steuer auf jede ungededte Note über 
einen gemiffen Gefammtbetrag diefer Noten hinaus, Dabei war das Privt- 
legium unbefhränfter Notenausgabe, wie es gemwilfen Banken zugefichert, 
nicht angetaftet. Anftatt des territorialen Bankprivilegium®, bei welchem die 
Dperationen der einzelnen Bank nur mißbräudlic die territorialen Grenzen 
überfohreiten konnten, erhielt jede Bank den gefeglichen Umlauf ihrer Noten 
im ganzen Neich zugefichert, wenn fie ſich zur Unterwerfung unter gewiſſe 
Normativbedingungen verftand, mworunter die Ginlöfung ihrer Noten an den 
Hauptplägen des deutfchen Verkehrs und der Austaufch derjelben Noten gegen 
die der andern, den reichägefeglichen Normen ſich unterwerfenden Banfen fi 
befand. Auf diefe Weife war ohne Gentralifation der Bankinſtitute die ein- 


356 


heitliche deutfche Banknote nahezu hergeſtellt. Denjenigen Banfen, melde 
die reichägefeglichen Normen nicht annehmen wollten, wurde die ernfthafte 
Beihränfung auf das Gebiet ihres Privilegtumd auferlegt, und diefe Drohung 
fhien fo gemwichtig, daß man als ihre Wirkung die allgemeine Unterwerfung 
der Banken unter die Reichsnormen erwarten durfte, auch unter die ein. 
greifendfte derfelben, wodurd die Bank einwilligen mußte, daß ihre Befugnif 
zur Ausgabe von Banknoten am 1. Januar 1886 durch Beſchluß der Landes 
regterung oder des Bundesraths mit einjähriger Kündigungäfrift ohne irgend 
welche Entihädigung aufgehoben werden könne. Durch) diefe letztere Beftim- 
mung war ohne irgend eine Gewalt nach Ablauf einer zehnjährigen Periode 
der Boden für jede angemefjene Neugeftaltung des ee feitend des 
Reiches völlig frei. 


Die Einwände, melde fich gegen diefen Entwurf doch erhoben, nachdem 
derfelbe eine Zeitläng ald der denkbar beite Ausweg aus den gegebenen 
Schwierigkeiten angefehen worden, betrafen bauptjächlich zwei Punkte Die 
Anhänger der alten Banktheorte, wonach die Banfen das Mittel zur Speifung 
des Verkehrs mit mohlfeilem Gelde find, tadelten die zu große Beſchränkung 
der Ausgabe ungededter Noten, welche in der fünfprocentigen Befteuerung der 
jenigen Noten liege, welche über den contingentirten Betrag audgegeben werden 
würden. Man ging jo weit, ald Wolge der plöslichen Beſchränkung der 
wohlfeilen Cirkulationdmittel eine allgemeine Handelskriſis zu prophezeien: 
Andere Einwände beftritten die Möglichkeit der Beſchränkung derjenigen 
Banken auf das Gebiet ihres Privilegiums, welche die Annahme der Reichs— 
normen verweigern würden. Diefe Einredner vergaßen aber, daß das Reich 
denn doch andere Mittel hat, das Verbot gewiſſer Banknoten durchzuführen, 
als früher die Einzelftaaten, und namentlich vergaßen die Einredner, daß dad 
Reich bei genügender Fürforge für die Speifung des Verkehrs mit mohl 
acereditirten Banknoten das Publikum zur Einfhließung der wilden Bank— 
noten zum wirkfamen Bundesgenofjen gewonnen haben würde. Die Wirkungs— 
lofigfeit der früheren Banfnotenverbote lag in der Unzugänglichkeit des 
Publikums für jene Verbote, und diefe Unzugänglichkeit lag wiederum in 
der Berlegenheit um geeignete Zahlungsmittel. Das würde jest ganz 
anders fein. 


Nah der Aufnahme, welche der Bankgefegentwurf des Reichskanzleramts 
in der Preſſe, in der gutachtlichen Yeußerung von Gorporationen und com 
petenten Privatperfonen gefunden, nad der Zuftimmung in allen wefentlichen 
Thellen, die er im Bundesrath erhalten, durfte man erwarten, daß die Kritik 
ded Entwurf im Reichstag ſich weſentlich um den Gegenfag der älteren und 
neueren Bankanſicht bewegen, fchließlich aber die im Entwurf vertretene, 


357 


wenn auch nicht zu allen Confequenzen gelangte neuere Anſicht den Sieg 
behalten werde. 

Das ift nun ganz anders gefommen. Eine der erften Stimmen nämlich, 
die fih ausführlicher über den Entwurf vernehmen ließ, die ded Abgeordneten 
Sonnemann, hatte dem Entwurf vor allem die Nichtfehaffung einer Reichs— 
bank zum Vorwurf gemacht. Anfangs fand diefer Vorwurf wenig Zuſtim— 
mung, denn man fagte fich: eine Reichsbank fett die Befettigung der beitehenden 
Bankprivilegien voraus, welche ohne einen halben Gewaltftreih nicht möglich 
ift, und doch noch ſchwere Entfhädigungsfummen verfchlingen würde. Herr 
Sonnemann behauptete aber, eine ſolche Befeitigung fei gar nicht nöthig. die 
Reichsbank könne durch die Wucht ihrer Stellung und ihrer Mittel die Ein- 
Ihränfung der Lokalbanken auf das mohlthätige Maß herbeiführen, troß aller 
Privilegien der letzteren. Diefe Anficht, die ficherlih großen Bedenken unter- 
liegt und welche jedenfalld den Weg der richtigen Normirung des lofalen 
Bankweſens als einen erft zu findenden noch nicht zeigt, hat gleichwohl den 
Beifall der maßgebenden Fraktionen im Reichstag gefunden, hat die drei 
tägigen Verhandlungen der erften Leſung beherrſcht und die größte Ausficht 
gewonnen, jchließlich die Majorität zu erhalten. Zwei Motive fcheinen diefe 
Stimmung hauptfächlich hervorgebracht zu haben. Das eine, hochpatriotifcher 
und erfreulicyer Natur: daß man um jeden Preid auf dem fo vitalen Gebiet 
des Bankweſens eine Reichöinftitution haben will; das andere, etwas weniger 
Ideal, mehr menfchlich, wenn man bei diefem Wort, wie man zu thun pflegt, 
vorzugsweiſe an die menfchlihe Schwäche denkt: der Argwohn, die preußifche 
Regierung wolle den Nusen ihres großen und bewährten Banfinftituteg, 
eined Inſtitutes, welchem bet der neuen Negelung des Bankweſens der 
Lömwenantheil zufallen werde, für fi behalten. Man erkennt fogleih, daß 
wir bier dad Gebiet der eigenthümlichen Zumuthungen betreten, welche das 
Reich und feine Freunde an Preußen zu ftellen gewohnt find. Preußen wird 
durchaus nicht behandelt wie jeder andere Bundeäftaat; wo ed auf Opfer 
für das Reich ankommt, foll e8 das Zehnfache leiften. Man fagt wohl, das 
Reich ſei nur ein anderer Name für Preußen, was Preußen dem Reich opfere, 
opfere es fich felbft in vervollflommneter Metamorphoje. ntipricht dieſe 
Meinung aber dem thatfächlichen Lauf, mie ihn die Dinge genommen haben 
und nehmen werden? Weil e3 fo fein Eönnte, darum ift es nod 
nicht fo. 

Halten wir ung an die vorliegende Frage Was verlangt man? Die 
Aufhebung der deutſchen Territortalbanfen hielte man für wünfchenswerth, 
man ſcheut fich aber vor dem Stück Terroridmud, das dazu gehören würde. 
Alſo die Territorialbanten follen beftehen bleiben. Auch die preußifhe? O 
bewahre, die preußifche Bank würde eine Reichsbank unmöglich machen, die 


358 


preußifche Bank, und nur fie allein, muß der Reichsbank nicht nur Plas 
machen, fondern zum Opfer fallen. Was feinem Territorialftaat angemuthet 
wird, findet man dem preußifchen Staat gegenüber ganz in der Ordnung. — 
Auch uns find Reihäfreundihaft und Preußenthum niemald entgegengefest, 
wenn beide den rechten Weg wandeln. Wir haben und deshalb über die 
Erklärung des preußifhen Finanzminiſters im Reichstag lebhaft gefreut, daß 
Preußen das Opfer feiner Bank dem Reiche gegen billige Entſchädigung zu 
bringen bereit fei, Preußen allein von fümmtlichen Bundesstaaten. Der preufifche 
Finangminifter gab diefe Erklärung wiederholt und beitimmt, jedoch ohne zu 
vor der Kritik des Bankgefegentwurfes entgegengetreten zu fein. Er jagte u. a. 
anz richtig: „Die Reichsbank, wie fie allein möglich iſt, wenigstens für den 
lugenblid, nämlich nicht eine Gentralbant mit ausfchließendem Monopol, fon 
dern eine größte Banf unter Fleineren, eine erfte unter ihresgleichen, ift in 
der preußifchen Bank im mefentlichen bereit8 vorhanden. Die Yorderung der 
Reichsbank läuft auf einen Namen, auf eine Umtaufe hinaus.“ — Der ein 
zige Unterfchied der neuen Reichsbank, welcher dem Finanzminiſter bemerklich 
gemacht werden Fonnte, bejteht in der unmittelbaren Ausdehnung der Ge 
fchäfte derfelben über da® ganze Reich. Unter melden Bedingungen nun die 
Ummandlung der preußiſchen Banf in eine Reichsbank ftattfinden, unter 
welchen Bedingungen die Territorialbanfen neben der Reichsbank beiteben, 
in welche Grenzen die Ausgabe der ungededten Noten bei der Reichsbank 
und bei den ZTerritorialbanfen eingefchlofjen werden ſoll, dag Alles find noch 
offene Fragen, zu deren förderlicher Vorbereitung allfeitig die Ernennung 
einer Commiffion als zwedmäßig erfannt wurde. 

Nun aber geftaltete ſich der Schluß der auf einer des Reichstages fo 
würdigen Höhe geführten Verhandlung leider zu einem Faſtnachtsſpiel, dad 
glüclicherweife den Eindruck der Hauptverhandlung nicht beeinträchtigen fann. 
Der Abgeordnete Lasker hatte nämlich in Verbindung mit einigen Mitglie 
dern der nationalliberalen und confervativen Fraktionen eine an fich aller 
dings nicht nothwendige Motivirung für den Beſchluß einer Commiſſions— 
wahl in Form eincd Antrags eingebracht. Danach jollte die Commiſſions— 
wahl ftattfinden in Erwägung, daß der vorliegende Geſetzentwurf (eventuell) 
durh Aufnahme einer Reichsbank zu ergänzen fei und daß die us 
Beitimmungen am beiten durch Vorberathung in einer Commiſſion zu finden, 
Der Antrag war in formaler Hinficht überflüffig, weil ein Beſchluß die au 
drücliche Feſtſtellung der Motive in der Kegel nicht bedarf. Aber der Ans 
trag war andererjeit? vom Gtandpunft der Geſchäftsordnung vollfommen 
zuläſſig. Wem das angegebene Motiv nicht behagte, der mochte dagegen 
ftimmen und nachher immer noch für eine Commiſſionswahl ohne Bezeichnung 
der Motive votiren. Da kam nun Herr Windthorſt, der alle Zeit gewandte, 
mit einem artigen Sophisma, deffen Ungrund fo leicht zu erfennen, daß man 
dem Urheber nicht zürnen Eonnte. Herrn Windthorit und feinen Freunden 
behagt, wie männiglicy befannt, das Reich nicht, und jede neue Reichsinſtitu— 
tion verurfacht ihm Befchwerden, die er mit befanntem Humor erträgt, aber 
nah Art launiger Patienten befrittelt und bejtichelt. So berief fi denn 
Herr Windthorft gegen den Antrag von Lasker und Genofjen auf die Ge- 
ſchäftsordnung, welche die Einbringung von Abänderungsvorſchlägen bei der 
eriten Leſung eines Gefeges verbietet. Wo waren denn aber Abänderung 
vorfchläge® Iſt es nicht die unbedingte Pflicht jeder Commiffion, den Um— 
fang der ganzen, in das zu berathende Geſetz einjchlagenden Frage zu erörtern 
und zu prüfen? Konnte ed etwas Unverfänglicheres geben, als den Ausfprud: 
in dieſes Geſetz fchlägt die Reichsbankfrage ein, und weil die Vorprüfung dier 


359 


fer Frage am beiten in einer Commiſſion zu bewirken it, wählen wir eine 
Commiffion! Die Commiffion war unter allen Umftänden verpflichtet, die 
Reihäbankfrage zu prüfen, mit oder ohne ausdrüdlichen Auftrag ded Reichstags. 
Hielt es der Reichstag für gut, dad Motiv der Commiſſionswahl in diefem Fall 
feftzuftellen, fo war dies die unverfänglichite Sache von der Welt. Die Commiifion 
mußte die Reichsbankfrage prüfen, aber fie war und blieb völlig frei in der Be— 
bandlung derjelben bei dem von ihr vorzuberathenden Gefegentwurf. So war 
die ſonnenklare Lage des Antrags, und wenn ein Meijter der Geichäfte wie 
Forckenbeck kein Bedenken bei dem Antrag gefunden, fo hätte auch ein blödes 
Auge das Licht vorausſetzen können, das ihm noch nicht leuchtete. Der Neich- 
H, hätte Herrn Windthorſt und feine Freunde bet ihrem Humoriftifchen 

andver mit lächelnder Miene überftimmen follen. Aber in den Reihen ver 
Fraktionen, aus melden der Lasker'ſche Antrag hervorgegangen, erhielt Herr 
MWindthorft Ueberläufer, die ihn auf einen Augenblick zum Führer der Ma— 
jorität de3 Reichsſtags machten. Was waren das für Leberläufer, etwa Defer- 
teure der Neichäfahne? D nein, fondern echte deutfche Pedanten, ſchwer— 
fällige Denker vom Abgrund tiefer Confufion, Wer kennt nicht Herrn Georg 
Befeler von der Paulskirche und von der erften Zeit der preußiichen Kammern 
ber? Ein Name von mannichfachem Verdienit, am berühmteften aber dadurd), 
daß er jededmal zur ungelegenften Zeit über feine eignen Füße ftolpernd, die 
eigne Partei in Verwirrung gebradt. Kaum ift Herr Befeler wieder im 
Reichstag, fo fchlägt er nach alter Gemohnheit wieder fein unförmliches Rad 
zum allgemeinen Entſetzen und Gelächter. Der Dann war wirflid von der 
Verlegung der Geichäftsordnung überzeugt, er ſprach von einer Handlungs— 
weife in fraudem ‚legis und beinah von einer Sünde wider den heiligen Geift. 
— Ein hübſcher Wis der altgriechiichen Sophiſtik ift fehr erheiternd ing 
Plattdeutjche überfegt worden. Ein fchlauer und biederer Landmann mird 
von einem Vorübergehenden gefragt: ift der Hund fin Vater? Nach den 
mannichfaltigiten Anftrengungen des Geifted antwortet der Pfiffikus gereizt: 
ne, id bin dem Hund fin Bater! In diefen Gemütbhäzuftand muß man fi 
verfegen, um die Rede des Herren Befeler zu begreifen, der die Fehler der 
Zugenden feines niederfächfiihen Stammes hat. Aber wie die Verwirrung 
jene Randmannd etwas Anſteckendes hat, fo die Verwirrung des Herrn Befeler. 
Er führte Herrn Windthorft durd einige Mitbefangene eine kleine Majorität 
u. Der Präfident v. Forckenbeck fand es jedoch außer dem Spaß, in einem 
fonnenflaren Falle durch die Majorität der Unfenntnif der Geſchäftsordnung 
überführt zu werden, und legte fein Amt nieder. Die Art, nie Herr Windthorit 
ih zum Fürfprecher der durch einftimmige Akklamation zu bewirfenden Wieder: 
wahl des verehrten Mannes machte, zeigte ihn als galant homme, der wohl 
zu unterfcheiden weiß, wo der Scherz aufhören muß, und der erite ijt, die 
Folgen eines Scherzes, fobald fie unbequem werden wollen, mit gefälliger und 
fiherer Gewandtheit abzuwenden. Herr Befeler aber hat fo tragifch geendet 
wie begonnen, und die nationalliberale Fraktion verlaffen, nachdem er in 
derfelben einige Vorwürfe hören müffen. 

Damit wollen wir für heute unfern Bericht fchließen und die Sikung 
vom 21. November, die ihre intereflanten Zwifchenfälle hatte, dem nächiten 
Briefe aufiparen, damit der diegmalige nicht zu lang werde. q 

—T. 


360 


Behnahtsbüherfhan. 


Die Rundſchau dieſes Jahres über die Bücher, welche fih dazu drama, 
den Kleinen zur Weihnacht geſchenkt zu werden, dürfen wir wohl mit’yugr 
und Recht beginnen mit der Monatäfhrift „Deutfhe Jugend“ (Berlag 
von Alphons Dürr in Leipzig) herausgegeben von Julius Lohmeye 
unter künſtleriſcher Leitung von Oscar Pletſch. Vier Bände dieſer Jugend 
ſchrift — die unſtreitig unter allen periodiſchen Schriften für die Kinderwelt 
weitaus den erften Rang einnimmt — liegen nun abgejchloffen vor und. Bon 
fünften Bande find zwei Hefte erjchienen. Wenn man den inhalt der „Deut 
ſchen Jugend” von Unfang bis zu Ende durchmuftert, fo darf man freubig | 
fagen: fie ift fih immer treu geblieben; derfelbe Ernſt, derfelbe Gefhmad, Die 
felbe Vollendung vom erften Heft bis zum letten x. Es gewährt die reinfle 
Freude, wenn man fieht, wie bier bedeutende Schriftfteller und hervorragende $ 
Künftler, unter der Anregung und Leitung des feinfühligen Heraudgeberd, 
wetteifern, um in Wort und Bild die fchönfte Sugendzeitfchrift, die wir bee 
figen, immer auf derjelben Höhe des Strebens und Vollbringens zu halten“ 
Und ebenso erfreulich ift die Wahrnehmung, daß ein Verleger fich findet, bee 
für das ideale Biel diefed Unternehmen? das rühmlichſte Verſtändniß zeigt, 
und dasfelbe aufs freigebigfte unterftügt. Wir find überzeugt: bei allem Bel 
fall der Mrefje und der Fachmänner, den dieß Unternehmen von Anfang am! 
gefunden hat, tft doch, vom gefcäftlichen Standpunkt geiprochen, lange Zeit ı 
mit Schaden gearbeitet worden. Neuerdings bat diefe Uneigennügigfeit im I 
Intereſſe der großen Aufgabe, welche die „Deutfche Jugend“ ſich ftellt: „auf | 
Geſchmack und Gemüth der Tugend veredelnd zu wirken, ihren vaterländiſchen 
Sinn zu beleben und ein finniges Anſchauen der heimifchen Natur anzuregen“ 
eine bedeutfame Ermunterung erfahren. Das Preußiſche Kultusminifteriume! 
hat die Anjchaffung diefea Werkes, dad Abonnement auf dasfelbe, allen Jugend⸗ 
bibliothefen 2c. warm empfohlen. Wir an unferm Theil, thun unfere Pflicht, - 
Indem wir dem deutjchen Bürgerthbum diefe Jugendſchrift abermald dringend 
empfehlen. Glücklicherweiſe hält jest faft jede Familie des deutſchen Mittels 
ftande® zu ihrer Unterhaltung und Belehrung wenigſtens eine Zeitſchrift 
Aber leider ift ed ebenfo wahr, daß dabei — und zwar aub dann, wenn 
über die Wahl des zweiten oder dritten Blatte8 berathen wird, da® man 
fortan halten fol, — faft ausſchließlich das Unterhaltungd- und Lerninter eſſe 
der Erwachſenen in Frage kommt, der Leſe- und Anfchauungstrieb des Kindes 
dagegen mit einem gelegentlich geſchenkten Bilder- oder Leſebuch abgefundem - 
wird, das die „Herren Eltern“ obendrein felten angejehen haben, ehe es dem 
Kinde in die Hand gegeben wird, deſſen Werth fie aljo metften® nad dem 
Urtheile Anderer kennen. Jede Familie unferer Mittelftände, die Kinder beſitzt, 
und vier Thaler jährlich für Leſe- oder Bilderbücher auszugeben hat, folte 
fih Elar machen, daß diefe Ausgabe nicht in die Rubrik der einmaligen außer 
ordentlichen Ausgaben des Budgets, fondern in diejenige der fortdauernden 
ordentlihen Ausgaben einzuftellen, d. h. dad Abonnement auf eine folide ' 
Augendzeitfchrift dem Kinde und den Eltern bei weitem förderlicher ift, ala die: 
Unterwerfung unter den Zufall, der in Wahrheit bisher die Bibliothef der 
Kinder zufammenftellte. Die „deutfche Jugend“ namentlich bietet durch die 
Perſon ihres Leiters wie ihrer Mitarbeiter die volle Gewähr dafür, dag In— 
halt, Form und Ausführung der Stoffe, die fie bietet, mit vollendetem Ger 
ſchmack, und nad einem feiten heilfamen Plane gewählt wird. 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Gans Blum in Leipzig. 
Berlag von F. 2. Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Legler in Leipzig. 
















































— — 











— 
— ñttez 


2XXXIL. Jahrgang. 


















1 Die 


Grenzboten. 


Zeitſchrift 
| für 

| Solitik, Siteratur und Kunfl. 
| N: 49, 


| Ausgegeben am 4. December 1874. 


| — 


| j Inhalt: 


N N 361 
| Im Silberland Nevada, re Twain (Schluß) . . 367 
m. 


| PBlaubdereien aus London. Alfred Blum. . . ..... 376 
{ Briefe aus ber Kaiferftadt. . . oo oo on 383 
Dom beutfden Keichstag. Cr... oo... 0... 389 
Weihbnahtöbühefhan. . ... 2... no 2... 395 


| Srenzbotenumfälag: Piterarifche Anzeigen. 
Hierzu zwei literarifche Beilagen. 


RB OR nn. 





Leipzig, 1874. 
Friedrich Ludwig Herbig. 







Man abonnirt bei allen Buhhandlungen und Pofäntern Ded Ins — 


Die soeben erschienene No, 48 der Jenaer 
Literaturzeitung, im Auftrage der Universität 
Jena herausgegeben von Anton Klette, Jena‘, 

Mauke's Verlag (Hermann Dufft) 
enthält Besprechungen von: 

A. Ritschl, die christliche Lehre von der Recht- 
fertigung und Versöhnung: von W. Bender. F. 
Brandes, der Kanzler Krell: 6. Graue. W. Ende- 
mann, Studien in der romanisch-kanonistischen 
Wirthschafts- und Rechtslehre: von R. v.Stin- 
tzing. A. Wolf, Lucas Geizkofler: von Th. Muther. 
Rudolf Vircher, die Fortschritte der Kriegsheil- 
kunde: von W. Leube. W. Roth und R. Lex, 
Handbuch der Militair-Gesundheitspflege: von 
0. Lotzbeck. Reinigung und Entwässerung Ber- 
lins: von E. Reichardt. M. Willkomm et J. Lange, 
prodomus florae Hispanicae: von A. Engler. 
A. Schaubach, die deutschen Alpen: von B. 
Schmid. W. Baklisch, Rousseau’s Pädagogik: von 
0. Peter. M. F. Essellen, d. Varian. Schlacht- 
feld: von J. Schnelder. B. Simson, Jahrbücher, 
des fränkischen Reichs unter Ludwig dem From- 
men: von (. Meyer v. Knonau. Alfred d’Arneth 
et A. Geflroy, Marie-Antoinette: von M. Phi- 
Iippson. L. Adam, de l’'harmonie des voylles 
dans les langues ouralo-altaiques: von 0. Bötb- 
lingk. H. Rönsch, Itala und Vulgata: von 
V. Schmits. 

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698. — Defterreih. Aus dem vieljungiam 
Defterreih. 699. — Spanien. Zur fpantjihe 
Romanzenpoefie. Bon Adolf Zaun. II. 700. 
England. Gobden. 703. — Ytalien. Die 2 
bliothefen von Pavia und Gremona. 70. 
Nußland. Die ruffiihe Revue. 705. — 
reih. Zwei Bluetten. 708. — Kleine liter 
riſche Renue. Tagebücher von Friedrich me 
Gent. I. von Ludmilla Wffing. 708, 
„Frauenliebe“, Roman von Karl Bertom. 
— Rom amerifanifhen Bücdhermarfte. 709, — 
Das Reale und Sdeale ald weltbewegende Kıü 
709. — Spredfaal. Sibungäberichte ber & 
ſellſchaft für Gefhichte und Alterthumskunde 
Oſtſeeprovinzen Rußlands aus dem Jahre 18 
710. — Der Berein für deutſche Kiteratur,w 
Oſenbrüggens Schweizerbuch. 710. 





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Wilhelm Roſcher's Geſchichte der Mafional-Dekonomik 
in Deutfhland. 


Im Staatöreht und in der Gejehgebung tft überall jene Streitfrage 
längft entfchieden, die beim Uebergang aus der abfoluten Monardie in die 
conftitutionelle Staatsordnung die Gemüther zu bewegen pflegt: wer über 
die höchſten Beamten ded Staated Controle üben, wer über die höchiten 
Richter urtheilen fol, In der Willenfhaft wird fie niemals ganz zu löſen 
fein — am wenigften durch ftarre unbeugfame Formeln, wie deren das öffent. 
lihe Recht bedarf, um allen Staatöbürgern gegenüber mit gleicher Macht und 
in gleihem Sinne fih zu behaupten. In allen Wiſſenſchaften tft im Gegen- 
theil die Formel der Controle und des Urtheild, mit welcher die vornehmiten 
Vertreter des ftolzen Reiches der Geifter zu meſſen find, fo mwandelbar wie 
die Entmwidelung und Geſchichte der Menfhen und wie die individuelle 
Leiſtungsfähigkeit insbeſondere. Ja, in jeder Wiſſenſchaft und Kunft hat es 
einige wenige bevorzugte Geifter gegeben, für die e8 unter den Zeitgenoſſen 
feinen Richter, feinen Oberen gab; leitende, führende Geifter, welche erft durch 
die vereinte Arbeit der Beiten, die Fommende Sahrhunderte hervorbrachten, 
völlig verftanden, richtig beurtheilt, bisweilen erreicht, mandhmal wohl au 
überholt worden find. Aber unter den Zeitgenoffen, wie gefagt, iſt jenen 
höchſten Würdenträgern der Wiffenfhaft und Kunſt felten ein ebenbürtiger 
Kritiker , ein competenter Richter erwachfen. Daß ihren Werfen auch von 
Zeitgenoffen Rob gejpendet, Tadel zu Theil geworden ift, fol nicht in Ab— 
rede geftellt werden — Tadel insbeſondere ift felten einem Sterblichen erfpart 
worden. Denn weit mehr ift unfere Natur dazu geeignet, die Schwächen 
der Mitftrebenden zu erfennen, ald ihre Vorzüge. Und jene großen Geifter 
haben vielleicht mirklih au8 den lobenden und tadelnden Stimmen der Beit- 
genofjen mefentliche Förderung empfangen für ihr hohes Streben. Aber 
fiherlich bei weitem mehr durch die Kebendigkeit des eignen Pflichtgefühlg, 
durch die Hoheit der Auffaffung ihres Lebensberufes, ald dur den Maßſtab 
der Kritik, die an ihnen geübt wurde. — 

In mannichfacher Hinficht ruft das neuefte Wer!) Wilhelm Roſcher's 


*) ‚Geſchichte der National - Defonomif in Deutfchland" von Wilhelm Roſcher. 
München 1874. R. Oldenbourg. 


Grenzboten IV. 1874. 46 


“ — — 


ze 


dieſe Betrachtungen wach. Der Lehrer der Nationalökonomie an der größten 
Hochſchule Deutſchlands, an der er bald feit einem Menfchenalter gewirkt und 
den größten Theil der jüngeren Gelehrten unferer Tage herangezogen hat, 
er, der hervorragendite Vertreter jener volkswirthſchaftlichen Schule, melde in 
engfter Verbindung mit der hiſtoriſchen Wiſſenſchaft die Wirthſchaft, die 
Wirthſchaftslehre und Mirthichaftäpolitif in praftifcher wie theoretifcher 
Hinfiht unter den deutſchen Fachgelehrten vertritt: er ift ficherlich der com 
petentefte Beurtheiler der Gefchichte und Literatur der Nationalökonomik, die 
für und moderne Menſchen hauptſächlich in Betracht fommt, d. h. der wirt: 
ihaftlihen Entmwidelung und Kiteratur feit dem Ausgang ded Mittelalters, 
jeit Beginn der Neformationgzeit. Er ift e8 in demjelben Maße auch für 
die wirthichaftliche Entwidelung und Literatur der antiken Welt, des Mittel: 
alters; aber über jene entfernteren Epochen der menſchlichen Gefelfchaft hat 
er bei anderen Gelegenheiten Licht verbreitet. Das vorliegende Werk ift der 
neueren Zeit gewidmet; es bildet den vierzehnten Band der „Sefchichte der 
Wiſſenſchaften in Deutfchland“, welche die biftoriihe Kommiffion bei der 
Königl. Akademie der Wiſſenſchaften in München herausgiebt, durch Unter- 
ftüsung derjenigen Mittel, welche der edle Vater ded Königs von Bayern, 
Mar IL, zur Verfügung ftellte. Es mag daher geftattet fein, auch bier 
lediglich zu unterfuchen, in wie hohem Grade Wilhelm Nofcher befähigt er 
Icheint, die Gefchichte der modernen National» Defonomik zu fehreiben. 
In feinem vorlegten bedeutenden Effay, „der Socialismus und feine 
Gönner“, hat Heinrih von Treitſchke Gelegenheit gehabt, die fcheinbar 
ftupende Gelehrfamkeit von Karl Marx, die in dem Evangelium feiner Nach— 
beter auf dem Kontinent, in jeinem dickbäuchigen Werke „das Kapital“ 
niedergelegt ift, zu vergleichen mit der Gelehrſamkeit Wilhelm Roſcher's. 
ALS jener Eſſay gefchrieben wurde, wußte der Verfaffer ficherlih nicht, daR 
Rofcher in Begriff ſtehe, feit vielen Jahren wieder einmal mit einem großen 
Buche aus feiner Feder die Welt zu befchenken, mit einem Buche, auf deijen 
Erfcheinen folange ſchon gehofft war, deſſen Drudlegung aber die unabläffige 
gelehrte Arbeit, die nimmermüde Pflichtitrenge des Verfaſſers immer verzögert 
hatte. Dem Eſſay de3 geiftwollen Hiftoriferd und Publieiſten tft diejed Bud 
faft auf dem Fuße gefolgt, und ed entſpricht fo vollftändig den Worten 
Treitſchke's, daß man fein Urtheil über Nofcher ohne Weiteres als Motto 
auf das Buch fegen könnte. „Man mag an Karl Mare’ Buche über das 
Kapital die große Belefenheit bewundern und den Talmudifteniharffinn im 
Zerfpalten und Berfafern der Begriffe — das Cine, was den Gelehrten 
macht, fehlt ihm doch gänzlich: das wiljenfchaftliche Gewiſſen. Hier ift Feine 
Spur von der Befcheidenheit des Forſchers, der im Bemwußtfein des Nicht: 
willen? an feinen Stoff berantritt, um unbefangen zu lernen; was bemiefen 


363 


werden fol, fteht für Mare von Haus aus fe. Man vergleiche Wilhelm 
Roſcher's unendlich reichere Gelehrfamfeit und die behutfame forgfältige An- 
wendung dieſes Wiſſens mit dem brutalen Fanatismus, der in Marr’ 
Buche einen ungeheueren Stoff zufammenträgt, um einen einzigen falfchen 
Grundgedanken zu erhärten — und der ganze Abftand zwiſchen dem Ge: 
iehrten und dem Nabulijten tritt und vor Augen.“ Roſcher ſelbſt drüdt die 
Aufgabe ſeines Werkes befcheiden aus mit den Morten des Sfofrates: 
„ra srakcıa zawos dıskeldelv, val regt ToV vewor yeysrnusvav apyalos 
elneiv.“ Cr begrenzt feine Arbeit auf Darlegung der Gefchichte der deutjchen 
Volkswirthſchaftslehre von den Tagen der Humaniften bi auf die Gegen- 
wart, und dennody hat Rofcher über diefen fcheinbar engen Stoff ſechsund— 
ſechszig Drucdbogen gefchrieben, von denen weit über die Hälfte in Petitſatz 
vorliegt! Allerdings iſt nicht jede Rückficht auf die volkswirthſchaftliche 
Praxis dabei audgefchloffen, und kann es nicht fein; denn die Theorien der 
Nationalölonomie, ihre Dogmen und die Gefchichte ihrer Dogmen verfteht 
nur Derjenige, welcher die Wirklichkeit Fennt, der diefe Theorien und Dogmen 
entnommen find. Indeſſen in dem Sinne hat doch NRofcher fih auf die Ge 
Ihichte der Volkswirthſchaftslehre befchränft, daß er felbft da, wo er auf die 
volkswirthſchaftlichen Theorien rein praftiicher Staatsmwirthe, wie etwa Luther's 
— fomeit er in die praftifch-wirtbfchaftliche Bewegung feiner Tage mit Rede 
und Schrift eintrat — oder ded großen Kurfürften, Friedrich's des Großen 
und ſeines Vaters, Joſephs IL. u. f. m., eingeht, vorzugsweiſe fi) mit den 
Anfihten und Grundfägen diefer Theorien — mit ihrer Anknüpfung an 
frühere, gleichzeitige, nachfolgende Theoretifer oder mit ihrer Entwidelung im 
Leben ihrer Träger ſelbſt befchäftigt, dagegen die Frage nur ftreift, ob und 
wie diefe Theorien verwirklicht wurden, welche Erfolge fie erzielten, welche 
Thaten ihres Urhebers fie im Gefolge hatten, welche Scidfale fie ihm zu— 
zogen. Indeſſen auch fo begrenzt, ift die Aufgabe die Nofcher fich ftellte und 
die er nach jahrelangen Studien in diefem Werfe in muftergültiger Weiſe 
gelöft Hat, eine der größten, an die eine einzelne Menfchenkraft fit) wagen 
kann. Welche Fülle vieljeitigfter Kenntniffe und Gaben feste das Unter- 
nehmen voraus: dem Leſer in Hiftorifcher Entwidelung darzuftellen, mas 
jederzeit die geiftigen Führer deutfcher Volkswirthſchaft in wiffenfchaftlicher 
Weife über den Gegenftand ihres Berufes gedacht haben. Es bedarf nicht 
der Ausführung, daß diefer Verfuch nicht gewagt und noch viel weniger gelöft 
werden Fonnte ohne die genaue Kenntniß aller der Hunderte von Schriften, 
welhe hier in ihren Hauptzügen wiedergegeben find, ohne die intime Ver— 
trautheit mit dem Nebendgang, der Rebensftellung, den Strebungen und Er- 
folgen der Verfaſſer. Und was mehr ald das Alles tft: der Verſuch konnte 
nicht gewagt und ausgeführt werden ohne die Elare Ueberſicht über die ge- 


364 


heimnißvollen Fäden, welche eine der hier entwicelten nationalöfonomijchen 
Theorien und Ideen an die andere Enüpfen, eine Wirthſchaftsepoche an die 
andere, Daß heißt mit anderen Worten: der Verfaſſer mußte die gefammte 
Gntwidelung des öfonomijchen Wiffend und Strebend vom Ausgange des 
Mittelalterd bis auf unfere Tage, in ihren größten und kleinſten Vertretern 
mit beherrfhendem Blicke umfaffen, ehe er an diefe Aufgabe ging, und das 
vorliegende Werk zeigt, daß er diefe ungewöhnlichen Bedingungen in ſich 
vereinigte. Darum iſt diefed Buch auch im Grunde ein weit größerer Schaf 
für unfere Nationalliteratur, als der befcheidene Titel und der bejcheidene 
Berfafler verrathen mögen. Jeder, der die Wichtigkeit der Volkswirthſchaft 
für das nationale Volksleben überhaupt erfennt, jeder der weiß, wie in 
Mirklichkeit Feine andere Function des Völkerlebens fo fehr international 
angelegt ift, fo fehr Einwirkungen von außerhalb der Landesgrenzen unter 
worfen und zu foldhen über die Volksgrenzen hinaus fähig ift, als die Theorie 
und praftifche Entmwidelung der Staatswirthſchaft — der wird auch erkennen, 
daß in diefem Werke nicht blos für unfer Volk, fondern für alle Völker, die 
mit uns feit Ausgang des Mittelalterd geiftig und wirthichaftlich im Verkehr 
geftanden — das will fagen fo gut wie für die ganze Menfchheit — ſowohl 
in biftorifcher als in nationalöfonomifher Hinfiht ein ungewöhnlich bedeut- 
famer Erfolg errungen tft. 

In unferer gelehrten Kiteratur läßt fich das neuefte Werf Roſcher's wohl 
nur einem andern ganz vergleichen an ebenbürtigem Werthe: Robert von 
Mohl's Geſchichte und Kiteratur der Staatswiſſenſchaften. Weiter ift in diefem 
der biftorifche Rahmen gefpannt, als bei Roſcher. Ins unendliche ſcheint der 
Blick Mohl's zu fchmweifen unter den Völkern der Erde. Und dennoch, wer 
in Kürze Rechenſchaft geben follte von dem Anhalt des Föftlichen Buches, der 
würde wohl nicht fehl gehen, wenn er fagte: er habe daraus Fingerzeige er: 
halten für die wunderbaren Accorde, welche zu harmoniſcher Stimmung die 
Kulturftaaten Europas bewegten feit Luther's und Machiavelli's Tagen bie 
In unfere Zeit. Auch bei Mohl bietet den höchſten Werth die durch feine um: 
faffende Forſchung vermittelte Erfenntniß, wie die vornehmften politifchen 
Denker Europas befruchtend auf einander wirkten, wie fie immer reiner und 
untadeliger die Rechte und Pflichten des modernen Staates conftruiren und 
wie bedeutfam vor allen Dingen das deutfche Staats: und Pflichtbewußtſein 
von dem Beifpiel und der Lehre der englifchen Staatdmänner und Staatk 
rehtälchrer gehoben wird. Und der nämliche Brundgedanfe verleiht auf 
Roſcher's Merk den höchſten Werth. 

Bon den vornehmften literarifchen Vertretern unfred Volkes wird unfer 
Zeitalter fo oft, und wir meinen im Ganzen nicht mit Unrecht, als die Epoche 
ded lebten Entſcheidungskampfes zwifchen den romanischen und germanifchen 


365 


Anfprühen auf die Weltherrfchaft bezeichnet — fo 5. B. noch von Herman 
Grimm in feinem berühmten Efjay über Franfreih und Voltaire. Und in 
der That, felten ift der nationale Gegenfat und Haß zwiſchen den Angehös 
rigen der beiden Racen fo tief, nachhaltig und unverföhnlich zu Tage getreten, 
als in der Zeit, in der wir leben. Und doch ift der wirthichaftliche Verkehr, 
die gegenfeitige materielle und geiftige Einwirkung in Fragen der internatio» 
nalen Wirthſchaft zmijchen Germanen und Romanen faum jemals reger ge: 
weien, als in diefen Tagen, in denen über die Weltherrfchaft der einen oder 
andern Bölferfamilie, zu glorreicher Erhebung der einen, zu unerträglicher 
Demüthigung der andern, der unerbittlihe Würfel fallen fol! Das fcheint 
fat unglaublich; Manchem vielleicht als neuer untrüglicdher Beweis für die 
materialiſtiſche Verkommenheit des Beitalterd: daß man handelt und feilfcht 
und? am Andern zu gewinnen ftrebt, während man indgeheim die feharfe 
Waffe zückt und ihm unrühmlichen Verderb finnt. Aber wir mögen und 
tröften: unfere Zeit ift in diefer Hinficht nicht fehlechter und nicht beffer ge 
worden, ald die Menfchheit von jeher gemwefen. Ja, es ift fogar ein Anzeichen 
aufftrebender Eräftiger Kultur, wenn die politifche Entzweiung der Bölfer 
immer weniger Störungen im internationalen Verkehr hervorruft, und das 
conjervative Intereſſe an der Erhaltung der guten Mirthichaft&beziehungen 
der Völker darf fo lange als ein durchaus achtbared und erfreuliches gelten, 
ald die höheren nationalen Intereſſen, welche die Staaten in Feindſchaft 
fegen, nicht unter jenem leiden, die Staatöpolitif nicht der Wirthſchafts- oder 
Handelspolitif untergeordnet wird. Diefed Verhältnig hat namentlih auch 
in den leten fünf Jahrhunderten beitanden. Kaum zu zählen find die frie— 
densbrecherifchen Anfälle, die Deutfchland in diefer Zeit von Franfreich er- 
fahren‘, noch viel zahlreicher die Schlachten und Kriege, in denen deutfche 
Waffen gegen fpanifche, franzöfifche, italienifche und felbft englifche kämpften. 
Und dennoch hat in diefer friedlofen Zeit der wirthichaftliche Verkehr der 
freitenden Nationen, namentlich aber der internationale geiftige Einfluß der 
volkswirthſchaftlichen Denker felten ganz aufgehört, und ift zu Zeiten fogar ein 
ganz außerordentlicher und beftimmender geweſen, auch dann, wenn nach langen 
Kriegen noch tiefe Feindfchaft unter den Völkern fi erhalten hatte. So zwiſchen 
Frankreich und Deutfchland zur Zeit Colbert's, deſſen Theorien damals ja als 
abfolute Heildwahrheit der Staatsmwirthfchaft galten. So zwifchen England, 
Sranfreih und Deutfchland in den Tagen Adam Smith's, deſſen großartige 
moderne Ideen fich den ganzen Gontinent eroberten, als das Feltland unter 
tapoleon’8 eiferner Fauft feufzte und England zum Feind Aller erklärt und 
mit der Continentalfperre betroffen war. 

Es bedarf kaum der Verfiherung, daß diefed internationale Wirken der 
Seifter und Ideen bei Wilhelm Rofcher die eingehendfte, Elarfte und verftänd- 


366 





nißreichite Darlegung gefunden hat. „Die germanifchen und romanijchen 
Völker hängen fo taufendfach miteinander zufammen“, jagt er, daß ihre meiften 
(ntwidelungen gemeinfame find, welche nur bei dem einen Wolfe früher, 
ſtärker, glücklicher durchgeführt werden, als bei dem andern. Go liegt denn 
auch der Schwerpunkt der volkswirthſchaftlichen Doctrin während der beinahe 
fünf Sahrhunderte, die wir zu durchwandern haben, nur in wenigen kurzen 
Menfchenaltern innerhalb Deutfchlands ſelbſt. Wir müſſen deßhalb, um 
unfern Gegenstand wirklich zu verftehen, immer auch die Literatur desjenigen 
fremden Volkes berüdjichtigen, in welchem jemweilig der Schwerpunft Tiegt: 
alfo bald die italienifche, ganz befonder® aber die engliſche.“ So wird fein 
Buh in demfelben Sinne, wie die Gefchichte und Literatur. der Staatäswiſſen— 
haften Mohl's auch zu einem gemeinfamen Schaf aller der Völker werden, deren 
wirthichaftliche Theorien darin dargelegt find. Denn Fein und befanntes Bud 
enthält fie im wirklich hiftorifchen Sinne vollftändiger und klarer als dieſes. 
Selbftverftändfih wäre der Umfang des Buches unendlich geworden und hätte 
deffen ganzer Plan feine concinne Deutlichkeit verloren, wenn der Verfafler, 
der die Gefchichte der deutfchen Nationalöfonomik fchreiben wollte, ſich etwa 
veranlaßt gefehen hätte, bei jedem fremden Autor, den er erwähnen muß, nun 
auch die wirthichaftlichen Doctrinen der Nation auf» und abwärts zu ver 
folgen; oder diejenigen, die über die Männer wie Colbert, Hume, Steuart, 
Ad. Smith noch gar nicht? wiſſen, von Grund aus über diefelben zu befehren. 
Daß died Roſcher's Abſicht nicht gemefen ift, auch nicht fein Fonnte, erklärt 
er felbft beitimmt in feiner Borrede. Aber um fo fürderlicher nur ift die 
fnappe, Elare und — wir wiederholen mit Abficht das Wort, die echt hiſto— 
ifche Darlegung der Theorien diejer großen Denker, die nur den Zweck ver: 
folgt, im Studium der deutfchen Nationalöfonomif mit gef&hichtlicher Präcifion 
den Leſer zu orientiren. Daß Roſcher die Hiftorifhe Würdigung der außer 
deutfhen Nationalöfonomit mit der größten Gerechtigkeit übt, geht daraus 
hervor, daß er bei unbefangener gefchichtlicher Vergleichung aller volkswirthſchaft⸗ 
lihen Hauptliteraturen zu dem — feinen Hörern und Schülern freilich längft 
befannten — Ergebniß auch bier gelangt, „daß zwar die englifche auf 
unferm Gebiete ähnlich hervorragt, wie etwa auf dem Gebiete der neueren 
Kunftgefhichte die Malerei der Staltener; daß aber die Nationalöfonomik der 
Deutfchen im Ganzen Hinter der franzöfifchen und italienischen durchaus nicht 
zurückſteht.“ 

Es kann unmöglich Zweck — Zeilen ſein, im Einzelnen zu verfolgen, 
in welch großem Sinne Roſcher dieſe Aufgabe gelöſt hat. Eine Arbeit, die 
dieſes Ziel ſich ſteckte, müßte nahezu ſo umfangreich ausfallen, wie das Buch 
ſelbſt — und — was die Hauptſache iſt — es giebt wenig Leute in Deutſch— 
land, und der Verfaſſer rechnet ſich keineswegs zu ihnen, die der Aufgabe 


367 


gewachfen wären, Roſcher auf diefem Gebiete zu Fritifiren. Dagegen wird fi 
bald die Gelegenheit bieten, an einem einzelnen wirthfchaftlichen Gedanfenkreig, 
fagen wir 5. B. der foctaldemofratifchen Doctrin, in der Zeitperiode, die Roſcher's 
Merk umfaßt, auch einem weiteren Xeferfreiß zu zeigen, welche Fülle von 
Anregung, Belehrung und Earer Drientirung Jeder aus diefem bedeutenden 
Buche ſchöpfen kann. 


H. B. 


Im Hilberland Nevada. 
Nach Mark Twain. 
(Schluß.) 


„Wir näherten und“ erzählt Mark Twain, „den Ende unſerer langen 
Reife. Es war der Morgen des zwanzigiten Tages. Um Mittag follten 
wir Garfon City, die Hauptftadt des Territoriums Nevada, erreihen. Wir 
waren nicht froh, fondern betrübt. Es war eine ſchöne Vergnügungäreife 
gewefen, wir Hatten ung jeden Tag reichlih mit Wundern genährt, wir 
waren jest an das Leben in der Poſt gut gewöhnt und liebten es fehr, und 
jo war der Gedanke, daß es damit nun aufhören und man fich niederlaffen 
jolte, um ein langmellige® Leben in einem Landſtädtchen zu beginnen, nicht 
angenehm, fondern im Gegentheil niederfchlagend. Aeußerlich war unfre neue 
Heimath eine Wüfte, eingefchloffen von öden, mit Schnee befleiveten Bergen. 
Es gab Feinen Pflanzenwuchs, ausgenommen die endlofen Salbei »Büfche 
und Fettholzſträucher. Die ganze Natur war grau davon. Wir gingen wie 
ein Pflug tief durch den Alkaliftaub, der fich in dichten Wolken erhob und 
wie Rauch von einem brennenden Haufe fi über die Ebne hinwälzte. Wir 
famen an und ftiegen aus, und die Poſt ging weiter. Carfon City war eine 
Holzitadt, die Zahl ihrer Einwohner betrug zweitaufend. Die Hauptftraße 
beitand aus vier oder fünf Neihen von Eleinen weißen Bretterhäufern, die zu 
hoch waren, um fich darauf zu fesen, aber nicht zu hoch für verjchiedene an— 
dere Abfichten; in der That, Faum hoch genug. Sie waren Seite an Seite 
dicht an einander gebaut, wie wenn es in der mächtigen Ebene an Raum 
mangelte. Das Trottoir bildeten Bretter, die mehr oder minder locder waren 
und Luſt zum Klappern zeigten, wenn man darauf ging. In der Mitte der 
Stadt, den Läden gegenüber, war die allen Städten jenſeits der Felfengebirge 
angeborne „Plaza“, ein großer, nicht umfriedeter ebener Raum, der in ber 


368 


Mitte einen Freiheitsbaum hatte und ſehr nüslich zu Auctionen, Pferde 
verfäufen und Bolfdverfammlungen, ſowie für Fuhrleute zum Rageraufichlagen 
war. Mir wurden in der Boftftation und auf dem Wege vom Hotel zum 
Gouverneur verfohiedenen Bürgern vorgejtelt — unter andern einem Herr 
Harrid, der zu Pferde war. Er begann etwas zu fagen, unterbrach fich aber 
mit der Bemerfung: „Ih muß Sie für eine Minute um Entfchuldigung 
bitten. Dort ift der Zeuge, welcher beſchworen hat, daß ich die von Gali- 
fornien fommende Poſt berauben geholfen — eine unverfhämte Einmiſchung, 
mein Herr, denn ih bin mit dem Menfchen gar nicht befannt.* Darauf 
ritt er hinüber und machte ihm Vorwürfe mit einem fechäläufigen Revolver, 
und der Fremde entjehuldigte fi mit einem zweiten. Als die Biftolen geleert 
waren, nahm der Fremde feine Arbeit (er flicte fich feine Peitſchenſchnur) 
wieder zur Hand, und Herr Harris ritt mit einem höflichen Kopfniden, das 
Gefiht heimwärts gerichtet, vorüber. Er hatte eine Kugel durch einen feiner 
Qungenflügel und verfchiedene in feine Hüften befommen, und aus diefen 
Wunden ftrömten kleine Blutbächlein, die über die Seiten des Pferdes riefelten 
und das Thier ganz malerifch ausfehen ließen. Niemals fah ich fpäter Harris 
nad jemand ſchießen, wo ed mir nicht jenen erften Tag in Carſon Eity ins 
Gedächtniß rief. Died war alle, was wir diefen Tag fahen; denn es war 
jest zwei Uhr, und nad Landesſitte begann nun der tägliche „Wasbhoe— 
Zephyr“ (Washoe ift ein beliebter Spisname für Nevada) zu mehen. Eine 
hochſchwebende Staubwehe von der Größe der Vereinigten Staaten Fam mit 
ihm, und die Hauptjtadt von Nevada verſchwand vor unfern Blicken. Indeß 
gab es doch mancherlei zu fehen, was nicht ganz ohne ntereffe für Neu- 
eingetroffne war. Denn die riefige Staubwolfe war dicht betüpfelt mit 
Dingen, die der obern Luft fremd find, mit lebendigen und todten Dingen, 
die zwifchen den fid) dahinwälzenden Staubmwolfen hierhin und dorthin 
flatterten, gingen und famen, erſchienen und verfhmwanden — mit Hüten, 
Hühnern und Sonnenfhirmen, die hoch oben am Himmel hinfegelten, mit 
Deden, Blehfchildern, Salbei-Geftrüpp und Schindeln, die ein wenig tiefer 
binflogen, mit Abſtreich bretern und Büffelröcken noch tiefer, mit Schaufeln 
und Kohlenkaften in der nächſten Luftſchicht, Glasthüren, Katzen und Eleinen 
Kindern in der folgenden, zerriffnen Holzhöfen, leichten Buggy-Wagen und 
Schubfarren in der dann nad unten folgenden, und zuleßt, nur dreißig oder 
vierzig Yuß über dem Erdboden, ging ein wirbelnder Sturm audwandernder 
Dächer und leerer Bauftellen hin. Es war wirklich etwas dabei zu fehen. 
Ich hätte aber mehr fehen können, wenn ich den Staub hätte hindern Fönnen, 
mir in die Augen zu fliegen.“ 

Die Wohnung Mark Twain's In Carfon Eity verrieth natürlich deutlich, 
daß er fih auf einem weit vorgefchobenen Poſten der Kultur befand. Die 


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369 


Zwiſchenwände der einzelnen Zimmer z. B. bejtanden lediglich aus einer Art 
groben Baummollenzeuged® aus alten Mehlfäden u. dergl. gefertigt. „Ge— 
legentlich verfchönerte die befjere Klaffe ihre Leinwand auch dadurch, daß fie 
Holzfhnitte aus Harper’ Wochenſchrift darauf Elebte. In vielen Fällen 
ſchwangen ſich die Reichen und Gebildeten zu Spudnäpfen und andern Be: 
meifen eined Gefallen? an Pracht und Luxus empor Wir hatten einen 
Teppih und ein Mafchbeden von echtem Steingut. Wolgli wurden wir 
von den andern Inſaſſen des Ranchs rückſichtslos gehaßt. Als wir gar noch 
einen bemalten Fenſtervorhang von Wachsleinwand Hinzufügten, riskirten wir 
einfach unfer Reben. Um Blutvergießen zu verhüten, zog ich hinauf und 
ſchlug mein Quartier bei den titellofen Plebejern in einer der vierzehn ſchmalen 
Bettitellen aus Fichtenholz auf, die in zwei langen Reihen in dem einzigen 
Zimmer ftanden, welche das zweite Stodwerf enthielt. Die Vierzehn waren 
eine Iuftige Gefellfehaft. Sie hießen im Volksmunde die „Iriſche Brigade”, 
obwohl fih unter der ganzen Umgebung des Gouverneurd nur vier oder 
fünf Srländer befanden. Die gutmüthige Ercellenz war fehr verdrießlich über 
das Gerede, das feine Keibgarde hervorrief, vorzüglih, als ſich das Gerücht 
verbreitete, fie wären bezahlte Meuchelmörder, die er fich mitgebradht, um, 
wenn ed nothmwendig wäre, die Zahl der demofratifh Stimmenden in der 
Stille zu vermindern.” Der Gouverneur fuchte diefe „Brigade“, die bei ihm 
in Koft und Logis lebte, fo nüslich wie möglich zu verwenden, und ſchlug 
ihnen beifpieläweife vor., eine Eiſenbahn über die Sierra Nevada zu bauen, 
ein Gedanke, der mit heroifcher Begeifterung von den Vierzehn aufgegriffen 
wird, ohne indefjen vorläufig etwas anderes einzubringen, ald erhöhten 
Appetit, Staub, Müdigkeit, Fußkrankheit und eine fehr anfehnlihe Sammlung 
von Taranteln, welche im Schlafzimmer in‘ bevedten Weingläfern verwahrt 
wurden. „Wir hatten von ihnen eine wahre Menagerie, die auf den Simfen 
in der Stube hin aufgeftellt war. Einige diefer Spinnen Fonnten mit ihren 
haarigen, mudfulöfen Beinen über eine gewöhnliche Untertaffe hinwegſpannen, 
und wenn ihr Gefühl verlegt oder ihre Würde beleidigt wurde, ſahen fie aus 
wie die ruchlofeften Hallunfen, welche die Thierwelt hervorzubringen vermag. 
Wenn ihre gläfernen Gefängniffe auch noch fo leife berührt wurden, waren 
fie im Augenbli auf den Beinen und Fampfbereit. Steif und ſtolz? In 
der That, fie pflegten dann einen Strohhalm aufzuheben und fich damit die 
Zähne zu ftochern wie ein Congreßmitglied. Nun wehte wie gewöhnlich auch 
in der erften Nacht nach der Rückkehr der Brigade ein müthender Zephyr, 
und um Mitternacht wurde dad Dach eined benachbarten Stalled fortgeweht 
und eine Ede deffelben fuhr krachend durch die Seite unfered Rande. 8 
folgte ein gleichzeitige Erwachen, eine geräufchvolle Mufterung der Brigade 
im Dunkeln und ein allgemeines Stolpern und UebereinanderBurzeln in dem 
Grenzboten IV. 1874, 47 


u. 


370 


ſchmalen Gange zwifchen den Bettreifen. Mitten in dem Getümmel fprang 
Bob H. aus einem gefunden Schlafe auf und ftieß mit feinem Kopfe einen 
Sims herunter. Augenblicklich fehrie er: „Reißt aus, Jungen, die Taranteln 
find los!“ Glüdlicherweife waren die Taranteln aber ebenſo erpicht auf ihr 
Mohlergehen, mie die aufgefchredten Schläfer und zogen es daher vor, jo raſch 
wie möglich die Tangentbehrte Freiheit aufzufuchen. 

Inzwiſchen ift Mark Twain „Beamter der Regierung, WPrivatjecretair 
Sr. Majeftät ded Secretaird geworden, aber ed gab noch nicht Schreiberei 
genug für und Beide“ und fo ließ fih das Bummeln erjt recht verantworten. 
Diefer beneidendwerthen Beichäftigungslofigkeit verdanfen wir eine der erha- 
benften Schilderungen ded Buches. Twain und fein Freund Johnny haben 
viel von der wunderbaren Schönheit des Sees Tahoe gehört, eines wilden 
Bergfeed, hoch oben in der Wildniß himmelanftrebender, fchneegefrönter Berge, 
von unvergleichlich klarem Waſſer, weitab von allen menſchlichen Kulturftätten. 
Drei oder vier Mitglieder der Brigade waren dagemwefen, hatten etwas Wald: 
land an den Ufern für ſich abgegrenzt und in ihrem Lager eine Quantität 
Lebensmittel aufgehäuft. Sie erreichen den See nach der mühfehligiten Wan- 
derung und überfahren ihn mit Anftrengung in einem Heinen Kahn, welcher 
der Brigade gehörte. „EI war ein Föftliches Abendbrot, warmes Brot, ge 
bratener Speck und ſchwarzer Kaffee. Es mar aud) eine köſtliche Ginfamkeit, 
in der wir waren. Drei Meilen entfernt lag eine Sägemühle mit einigen 
Arbeitern, aber über den ganzen Umkreis ded Sees waren feine fünfzehn 
andere menſchliche Weſen zerftreut. Als die Dunkelheit herabſank, und die 
Sterne hervortraten und den großen Waflerfpiegel mit Juwelen bejetsten, 
ſchmauchten wir beſchaulich unjere Pfeifen in der feierlichen Stille und ver: 
gaßen unfere Sorgen und Schmerzen. Zu rechter Zeit breiteten wir unfere 
Deden über den warmen Sand zwifchen zwei Felsſtücken und verfielen bald 
in Schlaf. Wenn e8 irgend ein Leben giebt, welches glüdlicyer ift, als das 
Leben, welches wir die nächften zwei oder drei Wochen in unferm Waldrand 
führten, fo muß es eine Sorte Leben fein, von der ich nichts in Büchern ge 
lefen und nicht in Perſon erfahren habe. Wir fahen während der Zeit außer 
ung felbit fein lebendes Weſen und hörten Feine anderen Töne, als diejenigen, 


welche der Wind und die Wellen hören liegen, das Seufzen der Fichten und 


dann und wann den fernen Donner einer Zamwine Der Wald um und war 
dicht und Fühl, der molfenlofe Himmel über uns ftrahlte vom Sonnenfcein, 
der breite See vor und war je nad) der Stimmung der Natur Elar wie Glas, 
oder vom Lufthauch Ieicht gefräufelt, oder ſchwarz und vom Sturme aufge 
jagt, und die ihn im Kreife überragenden Bergkuppeln, mit Wäldern beflei- 
det, durch Bergrutſche benarbt, durch Schluchten und Thäler gefpalten und 
mit Hauben funfelnden Schnee bedeckt, umrahmten paſſend das edle Bild 


l 
| 


am 
371 


und vollendeten dasſelbe. Der Augenblik war ſtets bezaubernd, entzüdend, 
verzücdend. Dad Auge wurde Tag und Naht, in ruhiger Zeit oder Sturm 
nie müde, zu fohauen. Es litt nur an einem Kummer, und der war, daß 
es nicht immer fchauen Fonnte, fondern fich bisweilen zum Schlafe ſchließen 
mußte. * Bei diefem feligen Leben gehen indeffen bald die Lebensmittel zu 
Ende, neue werden aus dem Lager geholt, Hungrig und müde wird die neue 
Heimath erreicht und fofort ein Kochfeuer im Freien gemadht. Mark Twain 
eilt nach dem Boote, die Bratpfanne zu holen. Während ich dabet mar, 
hörte ich einen Schrei von Johnny, und ala ich aufblicte, fah ich, dag mein 
Feuer über die Gegend hingaloppirte. Johnny befand fich jenſeits desfelben 
und mußte durch die Flammen laufen, um das Seeufer zu gewinnen, und 
dann ftanden wir hülflos da und beobachteten die Verwüftung. Der Boden 
war mit einem dicken Teppich trodner Fichtennadeln belegt, und das Feuer 
ließ fie auf die erfte Berührung aufflammen, ald wenn fie Schießpulver 
wären. Es war wunderbar zu fehen, mit welcher grimmen Haft die hohe 
Flammenfäule ſich fortbewegte. Mein KHaffeetopf mar verloren und alles 
Andere mit ihm. In anderthalb Minuten ergriff e8 einen dicht gewachfenen 
Buſch trodnen Manzanita-Geſträuchs von ſechs bis acht Fuß Höhe, und jest 
wurde dad Brüllen, Ruffen und Praffeln geradezu fürchterlich. Wir wurden 
dur die durchdringende Hite nach dem Boote getrieben, und dort blieben 
wir wie durch Zauber feitgehalten. Innerhalb einer halben Stunde war Alles 
vor ung ein rafender, Mlendender Flammenſtrom. Es brannte an den benach— 
barten Hügelfämmen empor, überftieg fie und verſchwand in den jenfeitigen 
Schluchten, Fam plößlih aus ferneren und höheren Bergrüden wieder zum 
Vorſchein, verbreitete eine großartigere Erleuchtung und tauchte wieder unter. 
Dann flammte es wieder auf, höher und immer höher am Gebirgdhang, 
jandte Feuerftröme wie Plänflerfetten hierhin und dorthin aus, die fih dann 
mit ihren Farmoifinrothen Spiralen zmifchen fernen Wällen, Rippen und 
Schlünden hinfchlängelten, bis, fo weit dad Auge reichte, die hochragenden 
Gebirgsfronten gleichfam mit einem verfchlungenen Netzwerk von rothen Rava- 
bächen überzogen waren. Weithin über dem Waſſer waren die Feldhörner 
und Bergkuppeln mit grellem rothem Glanz beleuchtet, und dad Firmament 
droben war der Widerfchein einer Hölle. Feder Zug diefes Schaufpield wieder: 
holte fi in dem glühenden Spiegel des Sees. Beide Bilder waren erhaben, 
beite fchön, aber das im Eee hatte eine verwirrende tiefe Farbenpracht, welche 
das Auge bezauberte und es ftärfer feffelte. Vier lange Stunden ſaßen wir 
in und verfunfen und regungslos da. Wir dachten an Fein Abendeffen und 
empfanden Feine Grmüdung. Aber um elf Uhr hatte der Brand fich über die 
Stellen hinaus verbreitet, bis zu denen unfre Augen reichten, und jetzt legte 
ſich allmählich das Dunkel über die Landſchaft.“ 


Ye 


372 


Damit war dem Leben am See Tahoe ein Ende gefegt. Twain Eehrte 
nad Garfon City zurück und erhandelte dort glücklich in einer Auction „den 
echten merikfanifchen Stöpfel“, ein Pferd, das beffer boden konnte wie irgend 
ein andere in den Vereinigten Staaten. Twain konnte feinen Jubel über 
den Kauf Faum zurüdbalten und bradte dad Geſchöpf, nachdem es fein 
Diner eingenommen, auf die Plaza. „Gewiſſe Bürger hielten e8 am Kopfe 
und andere am Schwanze, während ich aufitieg. Sobald ich aufitieg, ftellte 
der Stöpfel alle feine Füfe auf eine Stelle zufammen, fenkte feinen Rüden, 
mwölbte ihn dann plößlich und fchleuderte mich drei bis vier Fuß gradaus in 
die Luft. Sch Fam ebenfo gerade wieder herunter in den Sattel, flog augen: 
brieklich wieder empor, kam beinahe auf den Sattelfnopf herunter, ſchoß aber: 
mald empor und fam auf den Hals ded Gaules zu fien — alles das im 
Berlaufe von drei oder vier Secunden. Dann ftieg er auf und ftand faft 
Ferzengerade auf den Hinterbeinen, und ich rutjchte, indem ich mich verzweifelt 
an feinen magern Hals anflammerte, in den Sattel zurüd und blieb fiten. 
Gr fam wieder auf alle Viere zu ftehen, aber fofort hob er die Hinterbeine, 
fhlug boshaft nah dem Himmel aud und ftand auf feinen WVorderbeinen. 
Und jest fam er wieder nieder und begann das urfprüngliche Erereitium, mid 
empor fliegen zu laffen, von Neuem. Als ich das dritte Mal emporfhof, 
hörte ich einen Fremden fagen: „DO, Fann der boden!” Selbſtverſtändlich iſt 
das Gefühl, diefen Gaul zu befiten, fehr bald Fein angenehmes mehr. „Ich 
gab Fein Lebenszeichen, aber ih nahm mir vor, wenn das Reichenbegängnik 
des Bruderd des Auctionatord während meine? Aufenthalt® im Xerritorium 
ftattfinden follte, alle andern Erholungen zu verfhieben und ihm beizumohnen.“ 
Das Pferd war nicht einmal zu verleihen, geſchweige denn zu vermiethen oder 
zu verfaufen, dagegen fraß daß Thier eine Tonne Heu für 225 Dollars in 
ſechs Wochen und würde hundert Tonnen gefreffen haben, wenn man’d ihm 
zugelafien hätte „Diefen felben Tag noch gab ich den echten mertkanifchen 
Stöpfel einem vorüberziehenden Auswanderer aus Arkanſas, den das Glüd 
mir in die Hände fpielte. Wenn die8 jemals feinen Augen begegnet, fo mird 
er fich zmeifeldohne der Schenkung erinnern.“ 

Die nun folgende Schilderung der Einwirkung der Regierung der Ver- 
einigten Staaten auf das entlegene Silberland Nevada ift wirklich klaſſiſch 
zu nennen. Wir entnehmen ihr das Folgende: „Die Leute waren froh, 
eine gejetlich geordnete Regierung zu haben, freuten ſich aber nicht befonders, 
daß man Fremden von entlegenen Staaten Gewalt über fie verliehen, ein Ge 
fühl, welches natürlich genug war. Sie dachten, die Beamten hätten aus 
ihrer eignen Mitte gewählt werden follen, unter hervorragenden Bürgern, 
die fih ein Recht aaf ſolche Beförderung erworben hätten, und mit der Be- 
völferung gleich fühlten und ebenfo gründlich befannt wären mit dem, was 


373 , 


dad Territorium bedürfe. Ste hatten ohne Zweifel Necht, die Sache fo anzu: 
jehen. Die neuen Beamten waren „Auswanderer“, und das verlieh fein 
Anrecht auf irgend jemandes Liebe oder Bewunderung. Die neue Regierung 
wurde mit beträchtlicher Kälte aufgenommen. Sie drängte fih nicht nur von 
fremd ber auf, fondern war arm. Sie war nicht einmal werth, daß man 
fie rupfte, nur die geringfte Sorte der Streber nach Aemtchen fand das. 
Jedermann mußte, daß der Congreß nur zmwanzigtaufend Dollars in Staats— 
noten jährlich zu ihrem Unterhalt ausgefegt hatte — ungefähr fo viel Geld, 
um ein Quarz» Bochwerf einen Monat in Betrieb zu erhalten. Und jeder: 
mann mußte ferner, daß das Geld für das erfte Jahr noch in Washington 
war, und daß die Herfchaffung desfelben ein langmwieriger und ſchwieriger 
Proceß fein würde. Carſon City war zu feindfelig und zu Flug, um dem 
importirten Wickelkinde mit irgendwelcher unfcidlicher Haft ein Conto zu 
eröffnen. Es liegt etwad Halb Ernftes halb Spadhaftes In den Kämpfen, 
mit denen eine neugeborne Territorial-Regierung fich in diefer Welt geltend 
zu machen ſucht. Die unfrige hatte dabei eine fchmere Zeit durchzumachen. 
Die Organifche Acte und die „Inftructionen" vom Staatd- Departement be- 
fahlen, daß eine Gefebgebung in der und der Zeit gemählt und daß ihre 
Situngen an dem und dem Tage eröffnet merden follten. Es war leicht, 
Öefeggeber zu befommen, felbft für drei Dollar den Tag, obwohl Koft und 
Wohnung fünfthalb Dollars Eofteten ; denn Auszeichnung hat ihren Reiz in 
Nevada ganz fo wie anderdmo, und es gab eine Menge patriotifcher Seelen 
ohne Beſchäftigung. Aber eine Halle für die Geſetzgebung zu befchaffen, war 
eine ganz und gar andere Sache. Carſon Eity Iehnte höflich ab, einen Saal 
miethfret Herzugeben oder der Megierung einen auf Gredit zu überlafjen. 
Aber ald Curry von der Schwierigkeit hörte, trat er einfam und allein vor, 
nahm das Staatäfchiff auf die Schultern, hob es über die Barre und machte 
8 wieder flott. ch meine den „Alten Curry“, den „Alten Abe Curry.“ 
Wäre er nicht gemefen, fo hätte die Gefeggebung ihre Situngen in der Wüſte 
abhalten müffen. Er bot fein großes fteinerne® Gebäude dicht neben der 
Stadtgrenze miethfrei an, und es wurde gern genommen. Dann baute er 
eine Pferdebahn von der Stadt nad) dem Kapitol und beförderte die Gefet- 
geber gratid. Gr lieferte ferner fichtene Bänke und Stühle für diefelbe und 
bededlte die Dielen mit reinen Eägefpähnen, die Teppih und Spudnapf zu: 
gleih vertraten. Ohne Curry wäre die Regierung in den Windeln gejtorben- 
Der Secretär beichaffte eine Zmifchenwand von Sadleinwand, um den Senat 
vom Abgeordnetenhaufe zu trennen, aber obwohl diefelbe nur drei Dollars 
und vierzig Cents Eoftete, mweigerten die Vereinigten Staaten fi, dafür 
Zahlung zu leiften. Als man fie daran erinnerte, daß die „Snftructionen “ 
die Zahlung einer reichlihen Miethe für eine Geſetzgebungshalle geftatteten, 


374 
0 


und daß dieſes Geld dem Vaterlande durch die Großmuth des Herrn Curry 
erſpart worden ſei, ſagten die Vereinigten Staaten, daß dies die Sache nicht 
ändere, und daß die drei Dollars vierzig Gent? von den achtzehnhundert 
Dollars Gehalt, die dem Secretär audgeworfen worden, in Abzug gebradt 
werden würden — was denn auch geſchah!“ Derfelben meifen Sparſamkeit 
begegnete der Seeretär in Betreff der von ihm eingefandten Drudrehnung 
für den der „Snftruction* gemäß ausgeführten Drud der Sitzungsberichte 
de8 Abgeordnetenhaufe® von Nevada. Die Papierdollar® der Regierung 
ftanden in Nevada damald genau auf vierzig Cents, ftatt auf Hundert. 
Um den Preid, den die Regierung vorjchrieb, war Drud und Papier ſchlechter— 
dings nur dann zu haben, wenn man Golddollars zahlte. Die „Inſtrue— 
tionen“ befahlen dem Gecretär, einen von der Regierung ausgegebenen Papier: 
dollar ald einem jeden andern von der Regierung audgegebenen Dollar glei 
zu betrachten. infolge deilen wurde der Drucd der Berichte nicht fortgefett. 
Darauf ertheilten die Vereinigten Etaaten dem Secretär eine große Rüge 
wegen Nichtbeachtung der „Snftructionen” und verwarnten ihn für den Fall, 
daß er Feine beiferen Wege wandelte. Deshalb ließ er Einiges druden, 
fandte die Rechnung mit einer volftändigen Auseinanderſetzung der hoben 
PBreife im Territorium nah Washington und lenkte die Aufmerkſamkeit auf 
einen gedrudten Marktberiht, worin man bemerken werde, daß fogar Heu 
mit zmweihundertundfünfztg Dollars die Tonne bezahlt werde. Die Vereinigten 
Staaten antworteten damit, daß fie den Betrag diefer Drudfachen von dem 
Gehalte des unglüdlichen Secretärd abzogen, und bemerften außerdem mit 
würdevollem Ernft, daß er in feinen „Snftructionen“ nichts finden würde, 
was von ihm verlangte, er folle Heu kaufen. Nichts in der Welt ift mit fo 
undurdhdringlicher Dunkelheit umbüllt ala der Verftand eines Controlleurs 
im Schatamt der Bereinigten Staaten. Selbit die Feuerflammen des Jenſeits 
fönnten da hinein nur ein mattfladerndes® Aufglimmen werfen. In den 
Tagen, von denen ich fpreche, Fonnte man ihm nie begreiflich machen, wie 
es fam, daß zmwanzigtaufend Dollard in Nevada, mo alle Bedürfniffe in 
enormem Preife ftanden, nicht fo weit reichten wie in den anderen Territorien, 
wo außerordentlihe MWohlfeilheit die Negel war. Er war ein Beamter, der 
immer nur auf die Heinen Ausgaben fein Augenmerk richtete. Wie ich vorher 
bemerkte, benußte der Secretär fein Schlafzimmer ald Bureau, und er bered- 
mete den Bereinigten Staaten feine Miethe, obſchon feine „Sinftructionen” 
diefelbe vorgefehen hatten und er ſich das mit Recht hätte zu Nutze machen 
fönnen (was ich mit mehr als blisfchneller Fertigkeit gethan Haben würde, 
wenn ich felbft Secretär geweſen wäre). Aber die Vereinigten Staaten zollten 
diefer Hingebung an ihr Intereſſe niemals Beifall. In der That, ich denke, 
mein Vaterland ſchämte fi, einen jo unvorforglichen Menſchen in feinem 


375 


Dienfte zu haben. Jene „Inftructionen® (wir pflegten ala geiftige Turn- 
übung jeden Morgen ein Kapitel und jeden Sabbath in der Sonntagsſchule 
ein paar Kapitel daraus zu leſen; denn fie behandelten alle möglichen Dinge 
unter der Sonne und enthielten neben anderm ftatiftifchen Material au 
viele ſchätzbare Sachen religtöfer Natur), jene „Snftructionen® alfo befahlen, 
daß den Mitgliedern der Gefeßgebung Federmeſſer, Briefcouvertd, Federn und 
Schreibpapter geliefert werde. So Faufte der Secretär diefe Sachen und ver 
theilte fie, die Meſſer Fofteten dad Stüd drei Dollard. Es war eins zu viel, 
und der Seeretär gab es dem Schreiber des Abgeordnetenhaufes. Die Ver: 
einigten Staaten fagten, der Schreiber des Haufes fei fein „Mitglied“, und 
jogen wie gewöhnlich jene drei Dollard vom Gehalte des Secretärd ab. — 
Weiße Leute verlangten für das Kleinmachen einer Ladung Brennholz drei 
oder vier Dollard. Der Secretär war jharfblidend genug, um einzufehen, 
dag die Vereinigten Staaten niemals einen folchen Preis zahlen würden, und 
jo ließ er fih von einem Indianer eine Ladung Bureauholz für anderthalb 
Dollars Eleinfägen. Er machte die üblihe Empfangsbefcheinigung zuredt, 
aber unterzeichnete fie mit feinem Namen, fondern fügte einfach eine Notiz 
hinzu, welche erklärte, dab ein Indianer die Urbeit verrichtet und zwar in 
jehr geſchickter und zufriedenftellender Weiſe verrichtet habe, aber die Empfang?» 
beicheinigung aus Mangel an Kenntnig in der erforderlihen Richtung nicht 
unterzeichnen könne. Der Seeretär hatte diefe anderthalb Dollard aus feiner 
Tafche zu bezahlen. Er dachte, die Vereinigten Staaten würden ſowohl feine 
Sparfamkeit als feine Ehrlichkeit bewundern, daß er die Arbeit für den 
halben Preis befommen, und daß er Feines angeblichen Indianer Unterfchrift 
unter die Empfangsbefcheinigung gefegt habe, allein die Bereinigten Staaten 
ſahen e8 nicht in dem Lichte an. Die Vereinigten Staaten waren zu fehr 
gewöhnt, AnderthalbDollar-Diebe in allerhand Hffentlichen Aemtern zu be- 
ſchäftigen, um feine Erklärung der Empfangsbeſcheinigung für irgendiie 
thatfächlich begründet zu erachten. Aber das nächſte Mal, wo der Indianer 
Holz für und fägte, lehrte ich ihm, am Ende der Empfangsbefcheinigung ein 
Kreuz machen — es fah wie ein Kreuz aus, das ein ganzed Jahr lang be: 
trunfen gemwefen war — und dann „bezeugte* ich ed, und e8 wurde ganz in 
der Drdnung befunden. Die Vereinigten Staaten fagten nie ein Wort. Ich 
bedauerte, die Empfangsbefcheinigung nicht über taufend Ladungen Holz aus— 
geftellt zu haben, ftatt über nur eine. Die Regierung meined Baterlandes 
fKilt die ehrliche Einfalt aus und ftreichelt die geriebne Schurfenhaftigkeit, 
und ich denfe, ich würde mich zu einem recht geſchickten Spisbuben entwidelt 
‚haben. wenn ich ein oder zwei Jahre im Staatödienfte verblieben wäre.“ 

E3 mag genug fein an diefen Auszügen aus der bedeutendften Er- 
zählung Mark Twain's In der Grunom’fhen Ausgabe „Amerikaniſcher 


376 — 


Humoriſten“. Hoffentlich, reizen dieſe gedrängten Bilder den Leſer, den 
übrigen, mindeſtens ebenſo intereſſanten Theil, welcher die Abenteuer des 
Verfaſſers als Silbergräber und Redaeteur darſtellt, im Werke ſelbſt zu ver— 
folgen. Daß die Kunſt des Ueberſetzers das engliſche Original völlig ver— 
geſſen läßt, uns das liebenswürdige Buch wirklich heimiſch macht, dafür 
ſprechen die vorſtehenden Auszüge zu ſehr für ſich ſelbſt, als daß noch ein 
Wort nöthig wäre. Zum Schluſſe nur ein Wort noch an die Leſer — 
unter den Habitue® der Grenzboten find ed nicht viele — die nah Mark 
Twain vielleicht im Converfationslericon fuchen, und dort nur das übliche 
Bacat finden, welches der Elaffifch gebildete Deutfche da zwifchen den Zeilen 
lieft, wo er vieles fieht, da8 nicht da if. Mark Twain ift ein Pſeudonym, 
„Markt Twain“ ift ein Kootjenruf bei Lothauswerfen auf dem Miffifippt. 
Der Berfaffer diefer köſtlichen Humoresfen trägt den bürgerlichen Namen 
Samuel Clemens und lebt in Hartford (Connecticut), Er iſt wirklich und 
leibhaftig fieben Jahre im Silberland Nevada herumgeftrihen ala Mineur 
und Redacteur und hat jchlieglich mit feiner Feder bei meitem mehr Gold 
gefchaufelt ald mit dem Grabſcheit. Vor wenigen Jahren noch hat er, troß 
der ungewöhnlichen Beliebtheit feiner Werke, öffentlihe Borlefungen aus 
feinen Sachen gehalten. est thut er diefed nicht mehr. Er mag jet mit 
dem biedern Kutjcher in Benedix' „Dienftboten“ fagen: „jegt iſt es genug, 
Chriſtiane.“ Und wir gönnen ed ihm von Herzen. 


LVlandereien aus London. 


Wohl felten hat fih die englifhe Metropole eined fo ausgezeichneten 
Herbfted zu erfreuen gehabt, mie diefes Jahr, denn troß ded Novembers, von 
dem es ſchon in fo manden englifchen Leſebüchern heißt: „there are fogs at 
London“ ſcheint die Sonne wenn auch nicht allzu warm, fo doch freundlid 
auf die unermepliche Stadt mit ihren herrlichen grünen Parks, ihrer jo reich 
belebten Themfe, ihrem Labyrinth von Straßen und über- und unterirdifchen 
Eifenbahnen, daß e8 den Fremden um fo angenehmer berührt, ala er es jetzt 
am wenigſten erwartet und gehofft hatte. Nur die City iſt in eine artig graue 
Molke gehüllt, die nur auf Stunden zuweilen etwas fich zertheilt, aber nie 
ganz verfchmwindet, aus der aber die Paulskirche mit ihrer ſchönen Kuppel um 
jo majeftätifcher herausragt. In London ift e8 noch nit Winter, kaum 
Spätherbft und da iſt e8 denn auch fein Wunder, daß die fehönen Straßen 
des MWeftend und die daranftoßenden Parks von einheimifchen und fremden 


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Spaziergängern ftarg belebt find, die ihre Augen an den fo mannichfaltigen 
Erzeugniffen von Kunft und Induſtrie, die in den glänzenden Schaufenftern 
ausgeftellt find, oder an dem fohönen ewigen Grün der englifchen Raſen und 
Parks meiden. 

Beſonders der 9. November hatte Alt und Jung aus den Häufern auf 
die Straßen gelodt. Diefer Tag ift befanntlich der Anfang der jeweilig 
einjährigen Amtsdauer des Lordmayor, und nad althergebraditer Sitte zieht 
der neuerwählte Bürgermeifter in feierlichem Aufzuge dur die Hauptitraßen 
der City und von Weſtend. Obgleih nun der Zug felbit durchaus nicht 
ala ſehr ſehenswerth bezeichnet werden kann, — denn er befteht mit Aus 
nahme einiger weniger, allerdings prächtiger und des reichen Londons wür— 
diger Staatswagen, aus ganz gewöhnlichen Equtpagen, einigen Milttair- 
mufifhören, einer Unmaffe von Fahnen der Londoner Corporationen und 
den ganzen Zug einfaffenden Hufaren; — fo läßt ſich doch fein Londoner 
nehmen , feinen neuen geftrengen Herrn ſchon am erften Tage feiner Amts— 
dauer von Angefiht zu Angeficht Fennen zu lernen, mobei er dann auch, wenn 
nöthig, die erforderlichen Ausftellungen in Form von harmlofen Witen gleich 
an die richtigfte Adreffe befördert. Der einmal auf diefe Weife in der löb— 
lichſten Abfiht unterbrochene Arbeitdtag wird dann im meiteren Verlaufe 
gleich zum richtigen Volksfeſt und befonder8 Abends ergeht ſich das Volk in 
den feitlich illuminirten Straßen bis fpät in die Nacht hinein mit harmlofen 
aber darum um fo ergößlicheren Scherzen. Man möchte denken, es wäre 
plögiih Faſching geworden, die zahlreichen Schaaren, die Kasperletheater, 
fonftige improvifirte Schauftellungen und ohrenzerreißende Concerte, natürlich 
alles auf offener Straße — vereinigen fih um die Illuſion möglichſt vollſtän— 
dig zu machen. 

Und das Alles in Rondon, in der Hauptftabt dedjenigen Volkes, das 
fonft als kalt und egoiftifch berechnend verſchrien ift, in der Hauptitadt des 
„Krämer: Bolked*? MWahrlih, wer Gelegenheit hatte, Engländer auf ihren 
Sommervergnügungdreifen auf dem Gontinent zu beobachten, wo fie ja be 
fannter Maßen nicht® weniger ald Frohfinn und harmloſe Heiterkeit, ge— 
Ihmweige denn etwa Liebenswürdigkeit zur Schau tragen, und fie dann wieder 
in England felbft, außerhalb der Gefchäfte, bei ihren Vergnügungen, oder 
gar bei Volkäfeften fieht, der kann ſich ob des Unterſchiedes nicht genug 
wundern. Aber wie England überhaupt das Rand der Contrafte ift, jo zeigt 
fi die auch hier wieder. Im Gefchäft, befonderd dem Fremden gegenüber, 
und in der Fremde iſt der Engländer egoiftifh und kalt, aber ebenjo wie er 
in feinen vier Wänden voll Gemüth ift, wie da das eigene Heim feine tiefe 
Seele zum Durchbruch kommen läßt, fo kann aud nur in der Heimath die 


Volksſeele ſich zeigen. 
Grenzboten IV. 1874. 48 


378 | 


Der Engländer in der Fremde und der in der Heimath find zmei ganz 
verfähtedene Perfonen. Dazu kommt noch, daß befonderd unter den Ber: 
gnügungdreifenden auf dem Gontinent fich fehr viel — Ausſchuß befindet; 
e8 ift diefe Bemerkung ſchon fehr oft in Deutſchland gemacht worden und 
e8 fcheint faft, als, ob bier Geift und Körper Hand in Hand gingen, denn 
auch von den viel gerühmten englifchen Schönheiten ift auf dem Continent 
wenig zu fehen, während hier zu Lande defto mehr und zwar ohne die ewige 
blaffe Geſichtsfarbe. 

Wenn London fchon zu gewöhnlichen Zeiten mit feinen fo überaus be 
lebten Straßen und Brüden auf den Fremden und befonder® auf denjenigen, 
der niemald früher in wirklich großen Städten gelebt hat, einen übermwäl- 
tigenden Eindrud macht, wenn er fi kaum in den anfcheinend regellofen 
Tumult wagt, aus Furt, er möchte buchftäblich darin umkommen, fo ift | 
natürlih zu Zeiten, mo Alles fih auf den Straßen nah Schaugeprängen 
drängt und zudem nod der an fidh ſchon lebhafte Wagenverfehr aus den 
großen Hauptftraßen in die Eleinen Seiten« und Nebenftraßen verdrängt ift 
und fih da mühfam durchwindet, der erfte Eindrucd ein noch betäubenderer. 
Man wird beflommen, man fürdhtet irgend welches Unglüd vor feinen Augen 
fih ereignen zu fehen. 

Aber nichts von alledem, es hat nur den Schein, ald ob irgend ein 
tückiſches Geſchick den Menfchen zu ereilen Taure, die Verwirrung, der Tumult, 
Alles löſt und Härt fi in wenig Minuten, es wickelt fi Alles mit einer 
eigenartigen Ruhe und doch verhältnigmäßiger Geſchwindigkeit ab. Es ilt 
harakteriftifch für London, daß die niedern Stände zu ſolchen Straßenauf: 
zügen oft mit Kind und Kegel ziehen, daß man im dichteften Gedränge Kleine 
Kinder, die noch auf den Armen getragen werden, und zwar nicht nur ver- 
einzelt fieht, und daß alle diefe Eleinen Weltbürger, wenn auch häufig fchrei- 
end, doch fiher und ohne Schaden wieder nad) Haufe fommen. 

Was ift dad Geheimniß diefer fo eigenthümlichen, fo beruhigenden Er- 
ſcheinung? Halten etwa einzig und allein die Taufende von Policemen, die 
in den Straßen aufgeftellt find, die Ordnung aufreht? Gewiß tragen fie 
fehr viel dazu bei, aber fie allein find e8 nicht, fondern die Gefammtheit des 
Volkes ift ed, welches eine Ehre darein ſetzt, womöglich ohne irgend melde 
Bolizeihülfe die ſchwierigſten Verhältnifje zu Elären. Wenn wirklich einmal 
ein Ruhe⸗- und Drdnungäftörer fich bemerflich machen will und ein Pollceman 
einfchreitet, fo unterftüst das Publitum, wenn irgend nothmendig, denfelben 
bereitwilltgft, aber es tft förmlich unangenehm überrafcht darüber, daß ed 
überhaupt hat fo weit fommen können. 

Gelbft an Pläten, wo fünf, ſechs ja fieben Straßen fich treffen, Eommen 
Stodungen und Sperrungen fehr felten vor, man hört feine fohreienden und 


Pe 


379 


fi zanfenden Yubrleute, die fih um den Vorrang ftreiten und damit mehr 
Zeit und Lunge vergeuden, ald die ganze Sache werth if. Jeder Wagen 
wartet bis die Reihe an ihm iſt; ein einfacher Wink des Schutzmanns genügt, 
um den Verkehr zu regeln, und indem fi ein Jeder bemüht, die Ordnung 
nach Möglichkeit aufrecht zu erhalten und dabei etwaigen Bolizeianordnungen 
unbedingt Folge leiftet, gelangt auch ein Feder am fehnelliten und ficheriten 
zu feinem Biel, 

Welch wohlthuenden Contraſt bilden foldhe Zuftände gegen die unferer 
lieben deutſchen Hauptſtadt Berlin. 

Mer jemald Gelegenheit hatte fih in Berlin ſowohl zu gewöhnlichen 
Zeiten, als befonders zur Zeit von Feſtlichkeiten aufzuhalten, der wird be- 
merft haben, daß an befonder® lebhaften Punkten der Stadt die zahlreich 
zu Roß und zu Fuß aufgeftellte Polizei faum im Stande ift, den Verkehr 
in Ordnung zu erhalten. Die Wagen fahren häufig durch einander, fo daß 
fie fich verwirren, die Kutfcher fuchen ihr Recht ihres Gleichen gegenüber, 
häufig von der Peitſche in der Hand Gebrauch machend, zu bemeifen, und 
wenn bei feierlihen Aufzügen die Polizei für diefelben Pla machen will und 
etwaige vorlaute Straßenjungens zurecht weiſt, fo wird fie bei der Ausübung 
diefe® ihres nothmwendigen Amted von dem anmefenden Bublitum aufs Gröbſte 
durch widerwärtiges Gefchrei verhöhnt. Wo überhaupt irgendwo in Berlin 
die Polizei auf öffentlicher Straße einfcreitet und dafür, daß das häufig ge 
nug vorfommt, forgt ſchon das fi auf den Straßen bewegende Publikum, 
giebt es eine fehr große Anzahl von Perfonen, die gegen die Polizei Partei 
ergreifen, mag diefelbe noch fo fehr in ihrem Rechte fein. Man mag mir 
vielleicht entgegenhalten, daß das Alles nur vom Pöbel gethan werde und 
ich will das bereitwilligft zugeben, aber dann muß ich einen erftaunlich großen 
Theil der Einwohnerzahl zum Pöbel rechnen, Kreiſe, die man fonft nicht 
dazu zu zählen pflegt. Man wird mir vielleicht erwidern, daß die Polizei 
felbft eine fehr große Schuld an diefen Zuftänden trage, weil ihre niedern 
Drgane vielfach) aus rohen, ungebildeten Leuten beftänden, die da8 Publikum 
nicht richtig zu behandeln wüßten. Auch daran mag viel Wahres fein, aber 
jedenfalls ift diefe confequente Widerfeglichkeit gegen alle Anordnungen der 
Polizei, die duch fo viel Schichten der Berliner Bevölkerung geht, am aller- 
mwenigften dazu angethan, die Polizei und ihre untern Organe zu befjern. 

Es wäre wohl eine würdige Aufgabe derjenigen Berliner Preſſe, die vor: 
zugsweiſe von den niederen Ständen gelefen wird, dad Volk dahin zu erziehen, 
daß die oben angebeuteten, der deutfchen Hauptftadt fo unwürdigen Zuftände, 
fich beffern und mildern. Ye mehr das Publitum feinen Widerftand abftreift, 
um fo mehr wird fich auch die Polizei bemühen, höflich zu fein; wenn aber 
ein großer Theil der ebengenannten Preffe mit Vorliebe nur die etwaigen 





380 


’ 
Mifgriffe der Polizei erzählt, ohne gleichzeitig etwaige Parteinahme gegen 
polizeiliche® Einfchreiten, das fi auf offener Straße nothwendig machte, mit 
derfelben Strenge und Schärfe zu rügen, felbft auf die Gefahr Hin, dadurch 
einige Abonnenten zu verlieren, fo ift das nicht geeignet, auf die Polizei 
beſſernd und fördernd einzumirfen. 

Ich mollte von London berichten und bin dabei nach Berlin gekommen, 
es ift aber auch zu naheliegend, die hiefigen Zuftände mit denen unferer 
Hauptitadt zu vergleihen, um daraus nah Möglichkeit für und Nutzen zu 
ziehen. In jedem Deutfchen, der feine Hauptftadt lieb hat, muß der Wunſch 
rege werden, wenn er die hiefigen Berhältnifie kennen lernt, von bdenfelben 
möglichft viel für Deutfhland nusbar zu machen und da find es vor allen 
Dingen die Verfehräverhältniffe, die bier mwohlthuend in die Augen fallen. 

Trogdem der Berliner Straßenverkehr bet weitem nicht fo bedeutend ift, 
wie der biefige, troßdem die Berliner Straßen größtentheil® breiter find wie 
die hiefigen, macht fich der betäubende Straßenverkehr in Berlin an vielen 
Punkten in viel unangenehmerer Weife bemerkbar ald bier, und es ift das 
ganz gewiß dem oben gerügten Verhalten der Berliner felbft zuzufchreiben. 
Alle die Vorfhriften, die zur Regelung eines fo immenfen Verkehrs nothwen— 
dig find, werden hier überall ftreng befolgt, auch da mo Feine Schugleute 
aufgeftellt find ; in Berlin dagegen felbft da Faum und überall da, wo feine 
Bolizei ift, mit Vorliebe übertreten. Hier ift jeder von dem Gefühl durchdrun— 
gen, daß er allen gefeglihen und polizeilichen Anordnungen unbedingte Folge 
leiften muß, er weiß, daß er dabei am Beften fährt und fo ſucht auch auf der 
andern Seite die Polizei mit rühmlihem Eifer darnad ihre Maafregeln und 
Anordnungen immer forgfältiger, richtiger und praftifcher zu treffen. Man ift 
ſich gegenfeitig bemußt, dag man nicht nur Rechte fondern au Pflichten hat, 
und in diefer Beziehung können wir Deutfchen noch fehr viel von den Eng— 
ländern lernen. Die englifehen Zuftände find in diefer Hinficht beinahe ideale 
zu nennen, wenigftend werden wir fie, beſonders in Berlin nie erreichen, weil 
die Bevölkerung eine zu verfchiedene if, der Berliner wird nie von feinem 
Iharfen beißenden Spott laſſen Fönnen, der fo leicht zu gegenfeitiger Berbiffen- 
heit führt und fehr begreiflicher Weife nur die Mißgriffe der Behörden fieht. 
Man könnte übrigend nad) dem oben Gefagten vielleiht glauben, daß in 
London die Polizei niemals gegeißelt, niemald ins Bereich des KNächerlichen 
gezogen würde und da diefe Anficht eine falfche wäre, fo will ich bier aus— 
drücklich erwähnen, daß beinahe in jeder Poſſe ein Policemen ala Eomifche 
Figur erfeheint. Der Spott ift aber fehr harmlofer Natur und befteht in der 
Regel darin, daß die Polizeigewalt von Leuten, die die Londoner Verhältniffe 
nicht Eennen, zur Schlihtung von Streit und Unordnung angerufen wird, bei 
ihrem Erſcheinen aber alles fchon wieder in ſchönſter Ordnung findet. Die Ge 


381 


ſellſchaft Hat fich felbft geholfen, fo daß zu allgemeiner Heiterkeit die Polizei 
als überflüffig wieder abziehen muß. Es ift das echt charafteriftifch für die 
hiefigen Anfhauungen. Wenn auch keineswegs die Schlußfolgerung, daß die 
Polizei überflüffig ſei, richtig ift und auch ernftlich nicht geglaubt wird, fo ha— 
ben in Bofjen derartige Mebertreibungen doc gewiß ihre volle Berechtigung, 
und der Kern der Sache ift der, daß die Gefelichaft, mie ſchon Eingangs 
bemerkt, eine Ehre darein fest, ernftlihe Unordnungen überhaupt nicht auf- 
fommen zu laffen. 

Daß eine derartige Selbftverherrlihung auf der Bühne nichts meniger 
ala Schön und nachahmenswerth ift, verfteht ſich von felbit, ich führe fie auch 
durhaus nicht etwa als empfehlenäwerth an, fondern eben nur als Beleg 
für das allerdings fehr nachahmenäwerthe Beftreben aller Rondoner Bevöl- 
ferungäf&ichten, etwaige Ruheftörer von vorn herein in ihre Schranken zurüd- 
zuweiſen. 

Es iſt auch nicht dieſes Beſtreben allein, das die ſo wunderbare Rege— 
lung des immenſen Straßenverkehrs bewirkt, ſondern ed kommt noch eine 
Reihe von anſcheinend unbedeutenden Kleinigkeiten dazu, die, alle vereint, 
mächtig dazu beitragen, und von denen ich hier einige anführen mil. Man 
findet bier fehr häufig, gerade an den belebteften Punkten, fo z. B. bet der 
Kreuzung von Fleet-Street, Lodgate Hill und Farringdon Street in der City, 
daß in Mitten der Straßen große Badcandelaber, Pyramiden oder dergleichen 
mehr errichtet find, die alles Fuhrwerk viel wirkſamer zwingen die vorgefchrie- 
benen Wege zu machen, ald die etwa in Berlin zu demfelben Zmed in Mit— 
ten der Straßen aufgeftellten berittenen Schugleute, die wirklich um dieſen 
ihren Poſten nicht zu beneiden find. Es wäre ſchon aus humanen Rück 
fihten diefe Einrichtung fehr empfehlendwerth und menn vielleicht auch die 
erfte Anlage theuer, fo wäre doc) die Unterhaltung gewiß billiger. An manchen 
andern Orten hat man denfelben Zweck dadurch erreicht, daß man die Droſch— 
fenhaltepläße nicht an die Seiten, fondern in die Mitte der Straße gelegt 
bat. Derartige fefte Gegenftände laffen fi nicht fo leicht umgehen wie 
Menfhen, felbft wenn vdiefelben beritten find. Es führt das dann 
naturgemäß zu einer andern Einrichtung, die nicht minder empfehlenämerth 
ift, nämlich zu der, daß nicht nur das Pflafter an den Seiten der Straßen 
von derfelben Güte ift, wie in der Mitte, fondern fogar fehr oft beffer, ja 
daß ſich dafelbft oft Bahnen für fehr ſchweres Fuhrwerk befinden, wie 3. B. 
auf der Kondon Bridge. Es wird dadurch naturgemäß die Breite der Straße 
in viel umfafjenderer Weiſe ausgenutzt, als 3. B. in Berlin, wo troß der brei- 
teften Straßen fehr häufig nur ein fohmaler Streifen in der Mitte fih in 
fahrbarem Zuftand befindet, während der Reſt der Straße für Fußgänger und 
Wagen gleih unpaffirbar ift. Hoffentlich wird in Berlin durch die jest im 


382 


Bau begriffene Ganalijation aud hierin eine Wendung zum Beffern eintreten, 
Indem bei Bejeitigung der Rinnfteine die Straße wirklich im ihrer ganzen 
Breite als folche hergeftellt wird. 

Freilich Eoften derartige Anlagen, wie überhaupt Straßenpflafter, weldes 
nach Londoner Begriffen gut fein fol, fehr viel Geld und wir können uns 
leider in diefer Hinficht mit London noch lange nicht meffen. Aber immerhin 
könnte in diefer Hinfiht in Berlin, forte andern deutfchen Städten bedeuten? 
mehr gefchehen, als es der Fall ift, denn die Städte haben doch von der fo 
außerordentlihen Zunahme von Handel, Snduftrie und Einwohnerzahl, wenn 
diefelben auch manche Unannehmlichkeit im Gefolge haben mögen, ihre 
immenfen Vortheile und es ift daher nur recht und billig, wenn der Verkehr 
von ihnen Gegenleiftungen verlangt. 

Ebenfo traurig, wie mit den Straßen tft e8 in unfern deutfchen Grof- 
ftädten auch mit den fih auf denfelben bewegenden öffentlichen Fuhrwerken 
beftellt, wenn man fie mit den hiefigen Caps, Handſomes und mie hier die 
Droſchken fonft noch heißen mögen, vergleicht. Man findet Hier durchweg 
gute Wagen, gute Pferde und freundliche Kutfcher und diefe 3 vorzüglichen 
Dinge find allen deutfchen Städten aufd dringendfte zur Nahahmung zu 
empfehlen. Wenn die Drofchfenbefizer für die Preife, die jett in Deutfchland 
üblih find, nicht? Beſſeres liefern können, fo mögen fie mehr fordern, jeden- 
falls aber müßten im Intereſſe des Publitumd größere Schnelligkeit und 
bequemere Wagen gefordert werden. Wer billig fahren will, kann fich dei 
Dmnibus bedienen, wer fchnell fahren will, Fann dafür bezahlen, muß aber 
dann auch die Garantie haben, daß er wirklich gut bedient wird und dieſe 
Garantie hat man in Deutichland beinahe in feiner größeren Stadt. Wer 
dazu verdammt ift, von einer Berliner Droſchke II. Claſſe, oder 3. B. auf 
einer Leipziger Drofchke auf ſchlechtem Pflafter Gebrauch machen zu müffen 
und, wenn er nicht fehr frühzeitig aufbricht, dazu noch zu fpät auf den 
Bahnhof Fommt, auf der andern Seite aber mieder Gelegenheit hat, Rondoner 
Droſchken zu benugen, der wird den ganzen mwohlthätigen Gegenfas tief 
empfinden. Es tft eigenthümlih, daß in Dentfhland, mo z. B. für bie 
Bequemlichkeit ded Publikums auf den Eifenbahnen fo bedeutend mehr ge 
hieht wie in England und das Publikum über engliihe Waggons ein ent- 
fetsliche8 Gefchret erheben würde, der Sinn für fehnelle und /bequeme Fahrt 
von der Wohnung nah dem Bahnhofe beinahe gänzlich fehlt. In London 
ſucht ein Seder, der zur Bahn muß, den Weg dahin in möglichft Eurzer Zeit 
zurüdzulegen; es kommt im Bergleih zum Billetpreis der Preid der Droſchke 
auch kaum in Betracht, befonderd nicht in Deutfchland bei unfern meiten 
Entfernungen, und troßdem haben wir gerade in Deutſchland fo über alle 
Maaßen ſchlechte Straßenfuhrwerke, daß man wirklich nicht weiß, mas bei 


383 


unangenehmere Theil einer längeren Reife tft, das mehrftündige Eifenbahn- 
fahren, oder das doch nur Furze Drofchfenfahren. Bei kurzen Reifen von 
nur 3—4 ftündiger Dauer tft ficherlich das letztere der Fall. So bin ih auf 
die Eifenbahn und ihre Verbindungen mit den Straßen gefommen und über 
diefen Theil des Londoner Verkehrs gedenfe ich ein ander Mal zu berichten. 

Alfred Blum. 


Briefe aus der Kaiferfladt. 


Berlin, 29. November. 


Diesmal aljo den Lindau'ſchen „Erfolg“! Wie gefagt, das Etüd hat 
in der Preſſe großen Lärm gemacht, vorher viel Reclame, nachher viel Ent- 
rüftung — Beides unverdienterweife. Es ift, rein objectiv beurtheilt, eins 
der harmloſeſten Ruftipiele von der Welt. Gegenüber der mehr ala zmeifel- 
haften Atmofphäre, die in deöfelben Verfaſſers „Diana“ herrſcht, oder viel» 
mehr herrſchte — denn fie gehört längft zu den Todten —, iſt hier eine 
erfreuliche Wendung zum Beflern zu conitatiren. An vielen Stellen wird man 
lebhaft an Benedir erinnert. Freilich ift auch der „Erfolg“ noch weit davon 
entfernt, Dasjenige zu fein, ald was ihn der Dichter felbft bezeichnet: ein 
Stüf wahren Lebens. Die meiften der bier angeführten Situationen find 
in der Gejellfchaftsfphäre, in welche fie Lindau verlegt, mehr oder weniger 
unmöglid. Immerhin ift die Unmwahrfcheinlichkeit nicht fo auffallend, um 
den Eindrud ded Ganzen zu ftören und fo kann es bei den höchſt befcheidenen 
Anforderungen, welche das Publifum an die heutige Luſtſpieldichtung ftellt, 
nicht Wunder nehmen, wenn der Erfolg wirklich „Erfolg“ gehabt hat. 

Einer ftrengen Prüfung freilich Hält das Stüd feinen Augenblid Stand. 
Die Fabel iſt fehr dürftig, die Handlung im Ganzen ziemlich eintönig. Ein 
Journalift, Fritz Marlow, hat ein Luſtſpiel, betitelt „Ein Erfolg“, gefchrieben ; 
es fol demnähft zur Aufführung gelangen. Zu gleicher Zeit wird Marlow 
von feinem Freunde Klaus zum Heirathen gedrängt. ‘Der legtere hat feine 
Goufine Eva für ihn in petto. Klaus „befieht“ fich diefelbe; fie macht Eindrud 
aufihn. Er verräth feinen Freunden, daß er ein Mittel habe, dem fein junges 
Mädchen mwiderftehen könne: erft fage er der zu Gemwinnenden: „Sie find ein 
ganz eigenthümliches Fleines Mädchen” ; dann ſchenke er ihr eine Roſe; fchließ- 
li declamire er das Eichendorf'ſche Gedicht: „Die Welt ruht fill im Hafen.“ 
Ein Intrigant, Baron Fabro, hinterbringt diefe Frivolität der Kleinen Eva; 


= 


384 


fie geräth außer ſich über ſolch bodenlofe Schlechtigkeit des Mannes, für den 
fie „fo ſehr geihwärmt“. Da eben fommt Marlow. Er beginnt die An- 
wendung feines unfehlbaren Mitteld und nun kennt Eva's Zorn Feine Grenzen 
mehr. Gr zieht befhämt von dannen und fie zerfließt in Thränen. Am andern 
Tag Aufführung des Stücks. ine bezahlte Oppofitton Hat die beiden erſten 
Acte nahezu zu Falle gebracht. Eben hat der dritte Act begonnen. Eva, 
die mit ihrer Mutter im Theater ift, kann das traurige Schidjal Marlow's 
nicht mehr mit anfehen, er „thut ihr gar zu leid“; fie bleibt allein im 
Foyer zurück. Da flürzt der Dichter heraus, ganz in Verzweiflung. Nun 
eine lange Bemitleidungd- und Ermuthigungdfeene, die mit der unvermeid- 
lihen Liebeserklärung abjchliegt, während drinnen im Theater der dritte Act 
felbftverftändlich den entſchiedenſten Erfolg davonträgt. Damit endet auch der 
dritte Act des Lindau'ſchen Stücks. Der vierte ift nur noch dazu da, dad 
Hochgefühl des gefeierten Dichterd zu veranfchaulichen und der heimlichen 
Verlobung aus dem Foyer die conventionelle Sanction zu geben. Das ift 
der Kern der Fabel; eine Reihe von Anfäben, die fih um ihn gruppiren, 
ift ohne organifhen Zufammenhang mit ihm. 

Der Schwerpunkt ded Ganzen fällt in die Scenen zwifchen Marlow und 
Eva. Sie find au die natürlichiten und anfprechendften des ganzen Stüdee. 
Wie die Badfifchnaturen ſtets Lindau's Force geweſen find, fo tft ihm 
auch bier wieder der Charakter der Eva am beften gelungen. Biel zu ber 
gewinnenden Wirkung deöfelben trägt freilich das unübertreffliche Spiel der 
Fräu Hedwig Niemann-NRaabe bei, welche mit diefer Rolle ein hoffentlich recht 
langes Gaftfpiel an der Eönigl. Bühne begonnen hat. Neben der Eva ift 
deren Mutter, ein dichtender Blauftrumpf, doch eine gutherzige Frau, am 
meiften mit individuellem Leben ausgeftattet. Was der Dichter an der Figur 
etwa noch verfäumt hat, weiß die geniale Kunſt der Yrieb-Blumauer hinzu 
zufügen. Der Held des Stückes dagegen, Fri Marlow, ftreift bereit? 
ftarf and Schablonenhafte Die übrigen Perſonen find entweder nur 
ſtizzenhaft angedeutet, oder man weiß fchlechterding® nicht, mad man 
in diefem Rahmen mit ihnen anfangen fol. So die Figur ded Baron Fabre, 
Wer er tft, woher er fommt und wohin er geht, warum er von einen tödt- 
tihen Haß gegen Marlom befeelt tft — darüber, kurz über Alles, was ihn 
eigentlich als nothwendigen Beftandtheil des Ganzen Fennzeichnen fönnte, 
bleiben wir vollftändig im Dunkeln. Er fol das böfe Prinzip darftellen, 
„einen Theil von jener Kraft, die ftet? das Böſe will und ſtets das Gute 
ſchafft.“ Die Aufgabe erfüllt er; warum er fie aber grade in diefer beftimm- 
ten conereten Geftalt erfüllt, darüber bleibt er und jede Rechenſchaft fhuldig. 

Der Dialog tft lebendig, die Sprache theilmeife edel und fchmwungvoll, 
theilmeife aber auch entfeglich falopp. Wo Lindau den Ton der ungezwungenen 


385 


Umgangsſprache anfchlägt , ift er ftetö in Gefahr, platt zu merben. Das 
gleiche Schickſal hat fein Wit; derfelbe ift fortwährend hart an der Grenze 
des Kalauerd, wenn er diefelbe, was aud vorkommt, nicht vollend® über- 
ſchreitet. 

Alles in Allem iſt das Stück, wie geſagt, harmlos und menig bedeutend. 
Die Abſicht des Dichters iſt allerdings eine nichts weniger als harmloſe 
geweſen; den Erfolg des „Erfolges“ aber hat er lediglich dem Umſtande zu 
verdanken, daß das große Publikum von dieſer Abſicht nichts merkt. Die 
Abhandlung, welche eine Freundin Marlow's im Theaterfoyer über den Un— 
verſtand und die Haßſeligkeit der Kritik, und die larmoyanten Stoßſeufzer 
welche Marlow ſelbſt in gleicher Richtung zum Beſten giebt, werden von der 
Majorität des Auditoriums geduldig mit in den Kauf genommen, ohne daß 
man ſich etwas Beſonderes dabei denkt. Die Berliner Kritik indeß ift nicht 
ſo gutmüthig geweſen. Sie hat überall perſönliche Anſpielungen gewittert 
und darüber gewaltigen Lärm geſchlagen. Herr Lindau verſichert nun freilich, 
daß er an perſönliche Anſpielungen gar nicht gedacht habe. Dann bleibt aber 
zum mindeſten auffallend, daß ſeine guten Freunde Wochen lang vor der 
erſten Aufführung die detaillirteſten Andeutungen über die in dem Stück per— 
fiflirten Perſönlichkeiten gemacht haben und daß der Autor in der That einer 
diefer Perfönlichkeiten den Wortlaut verfchiedener Sätze aus der Kritik eines 
biefigen Schriftfteller8 über feine „Diana” in den Mund gelegt hat. Für den 
nur halbwegs Kundigen Tann fein Zmeifel fein, daß Lindau fi mit dem ' 
‚Erfolg* an feinen Tadlern rächen mollte. Daß die Eönigliche Bühne fich 
auf diefe MWeife zum Mittel für des Dichterd Privatzwecke bergab, ift immer: 
hin ein ſtarkes Stück. Bielleiht mag die Bühnenleitung von vornherein der 
Meberzeugung geweſen fein, daß das Publikum diefe Seite des Stücks mehr 
oder weniger überfehen werde. Uber es ift dem königlichen Schaufpielhaufe 
nicht erfpart geblieben, am Abend der erften Aufführung der Tummelplag 
eined größeren Skandals gemefen zu fein. Hoffentlich ift man in Zukunft 
etwas forgfältiger darauf bedacht, den der wahren Kunſt gewidmeten Tempel 
vor folder Entweihung zu bewahren. 

Unter den Eleineren Bühnen fei heute in erfter Linie des Reſidenztheaters 
gedacht. Dasſelbe Hat im Laufe des Sommers eine höchſt vortheilhafte Ver— 
jüngung feiner Räume vorgenommen und zählt jest, was gefchmadvolle 
Eleganz der Ausſtattung anlangt, zu den erften Etablifjement3 der Haupt- 
ſtadt. Was die fehaufpielerifchen Reiftungen betrifft, fo gehören diefelben 
au in der gegenwärtigen Satfon mit zu dem Beften, was und außerhalb 
der Föniglichen Bühne geboten wird. Es kann freilich bedauert werden, daß 
biefe Reiftungsfähigkeit faft ausſchließlich an das franzöfifche Senfationgdrama 
verſchwendet wird, aus welchem das Mefivenztheater fich ſeit Jahren eine 

Grenzboten IV. 1874. 49 





386 


Specialität gebildet hat. Zwar hat ed wiederholt den Anlauf genommen, in 
andere Bahnen einzulenken, fo auch jett wieder bei feiner Neueröffnung, aber 
ftet8 ohne Glück. Unter diefen Umftänden wird man denn freilich nichts 
dagegen einwenden fönnen, wenn diefe Bühne auch jebt wieder ihre Haupt: 
aufgabe in der Pflege des genannten Pariſer Genred erblickt. In dieſer 
Richtung hat fie und foeben mit ded jüngeren Dumas „Monfieur Alphonſe“ 
befannt gemacht. Das Stüd gehört zu der Gattung der Ehebruchsdramen, 
aber es tjt eine ganz befondere Spielart derfelben. Ein biederer Schiffe: 
capitän in bereits vorgerüdten Jahren, Herr Montaiglin, befitt eine reizend:, 
noch ziemlich junge Frau, Raymonde, und einen noch dito Freund, Detave. 
Der Letztere befleigigt fich eined wenig erfreulichen Lebenswandels, tft aufer 
dem im Begriff, fich mit einer gefellfchaftlich und geiitig tief unter ihm ſtehenden 
Frau, einer Reftaurateuröwittme und ehemaligen Köhin von nicht ganz 
zmweifellofer Vergangenheit aber fehr anfehnlichem Vermögen, Madame Guichard, 
zu verheirathen. Alle Gegenvorftellungen Montaiglin's jind vergebene. Um 
feinen Plan auszuführen, muß Oetave aber noch einen Gegenftand aus dem 
Wege fchaffen. Er hat eine Tochter. Angeblich um fie vor der Guidard 
ficherzuftellen, bittet er den Finderlofen Montaiglin, fie in feinem Haufe auf 
zunehmen. Das elfjährige Kind wird gebracht. E83 ift, wie fich bald genug 
beraugftellt, die Tochter von Montaiglin’d Frau. Die migtrauifche Guichard 
hat Witterung von dem Kinde befommen, fie rückt friſchweg in das Haus 
des Gapitäng, zwingt Oetave in der demüthigenften Weife zum Geftändnik 
und verlangt dann, daß man das Kind ihr gebe. Detave fagt zu, nad 
Ablauf einiger Stunden foll die Kleine geholt werden. Begreiflih der 
Schreden der wahren Mutter, als ihr diefe Kunde fommt. Sie vergißt ſich 
in ihrem Schmerze und — ihr Mann hat Alles errathen. Folgt nun bie 
befannte Scene der verzweifelten Selbitanflage und, da die Unglüdlice 
natürlich nur das „Opfer eines ſchmählichen Verraths“ geweſen, der groß 
müthigen Berzeifung. Bon nun an vereinigted Vorgehen des Chepaaret 
Montaiglin. Der Notar wird gerufen, Montaiglin erkennt die Eleine Adrienne 
als feine Tochter an und der elende Detave wird gezwungen, als Zeuge zu 
unterfchreiben.. Nun erfcheint Madame Guichard, die ſich inzwiſchen ald 
Adriennens Mutter in das Givilftandsregifter hat eintragen laſſen. Man 
begreift ihre VBerwunderung über das vorliegende fait accompli. ber fie 
will nicht glauben, daß Detave ſich nur einen Scherz gemacht, ala er ihr 
zugeftand, Adriennens Vater zu fein. Und richtig, durch eine Lift kommt 
fie hinter den vollen wahren Sachverhalt. Nun ein gemaltiged Donnermetter 
über den fauberen Herrn Dctave, oder, wie er fi in dem Haufe, wo fein 
Kind erzogen wurde, nennen ließ, Monſieur Alphonfe, der ſchließlich ala der: 
felbe impertinente Lump abzieht, ala welcher er fich das ganze Stüd über 


387 


gezeigt; darauf unter den Zurücbleibenden gegenfeitige Schmeichelei über 
braven Charakter und endlich Auflöfung in allgemeinem Wohlgefallen. Das 
mwenigftend wird der Dichter wohl beabfihtigt haben, dem deutfchen Gefchmad 
aber kann er Wohlgefallen und Befriedigung unmöglich einflößen. Das Stüd 
ift für unfer Empfinden von Anfang bi zu Ende aus den peinlichiten 
Situationen zufammengefegt. Gradezu mwiderlich wirft e8, daß und die Kleine 
Adrienne ald Metiterin in der Verftellung vorgeführt wird. Ste kennt ihre 
Mama und liebt fie aufs innigfte, verräth dies Geheimniß In Gegenwart 
Anderer aber mit feiner Silbe und feiner Miene. Ueber den fittlichen Werth 
des Stüdd noch ein Wort zu fagen, ift überflüffig. Die technifche Mache 
entfpriht dem, was man von einem gemandten Bühnenfchriftfteller von 
Dumad’ Schlage erwartet. Der larmoyante Ton, welcher hie und da einzu: 
reißen droht, wird durch das burledfe Eingreifen der Guichard immer noch 
rechtzeitig verdrängt. Gefpielt wird das Stüd im Refidenztheater recht brav 
und mit großer Sorgfalt. Für die Rolle der Adrienne hat man fih fogar 
eigend ein recht talentvolled Mädchen vom Wiener Karltheater verichrieben. 

Ein anderes franzöfifches Stück bat und neuerdings das MWallnertheater 
vorgeführt, eine Poſſe von Gundinet, betitelt „Die Bureaufraten von Paris.“ 
Das Stück ift nad) zwei oder drei Miederholungen vom Repertoir verfchmwunden, 
bat alfo einen eclatanten Mißerfolg gehabt, troß der vortrefflihen Charakter 
figur, welche der Director der Bühne, Herr Lebrun, aus der Nolle des 
Picaud de la Picaudidre gefhaffen hatte Der Grund der ablehnenden 
Haltung unferes Publikums Tiegt nicht allein in der Breite der Handlung, 
fondern mehr vielleicht noch in der gründlichen Verfchtedenheit der Anfchauungen 
und Gewohnheiten. Iſt doch an der gleichen Klippe ſchon fo manche Wiener 
Poſſe bei und gefcheitert! 

Uebrigens Hat fih das Mallnertheater raſch von der Schlappe erholt. 
In der vorlegten Woche ift es mit zwei Novitäten vorgegangen, die beide den 
Beifall verdienen, welchen fie gleich Anfangs geerntet haben. Die erfte, 
„Die Berfuherin“ von G. v. Mofer, tft eine einactige gefällige Kleinigkeit. 
Weniger harmlos ift die andere, ein dreiactiges „Originalluſtſpiel“ von 
J. 8. v. Schweißer, betitelt „Die Darminianer.” Im Grunde hat der 
Darwinismus mit dem Stücke weiter nicht? zu fchaffen, als daß er von einer 
Berfon, einem Profeffor, wirklich befannt, von einer anderen, einem Allerwelts- 
entrepreneur, ald geeignetes Object zu fehwindelhafter Ausbeutung betrachtet, 
von allen übrigen aber gehaft wird. Das Gro8 der Handlung befteht in 
der Schilderung, wie ein um eine vornehme Dame fich bewerbender Baron 
dur die Erinnerung an feine galanten Abenteuer in allerlei verzweifelte 
Situationen verfeßt wird, in welche er auch feinen zufünftigen Schwager, den 
Profeſſor, verwickelt. Es mag dem ehemaligen Soctaliftenführer Schweiger 


wg 
388 


ein verdienftliches Werk fcheinen, den „demoralifirenden Einfluß der höheren 
Stände” zu geißeln. Schade nur, daß er fihhtlic mit immer größerem Be 
hagen fchildert, je bedenklicher die Yage wird. Im Mebrigen ift Schweiger 
Meifter in der Situationskomik, und fo find auch feine „Darwinianer“ recht 
amüfant. Nur dürfen fie nicht „Quftfpiel* genannt werden, denn fie find 
eine Boffe. 

Biel Anziehungäfraft hat in legter Zeit das Stadttheater bewährt. In 
Laube's „Böfe Zungen” begeifterte Frl. Veneta, in Benedix' „Afchenbrödel” 
Frl. Both dad Auditorium. Hauptmagnet aber war und ift noch das Gaft- 
fpiel des Herrn Emmerich Robert. In diefem Schaufpieler haben wir einen 
durch und durch genialen Künftler vor und. Alle Achtung vor ſolch einem 
Hamlet! Wie viele verfchiedene Hamlettypen find bereits über die Bühne 
gegangen! Die Einen haben aus der Rolle einen fyftematifchen Peffimiften, 
die Andern einen haarjpaltenden Dialektifer gemadt. Emmerich Robert ift 
frei von jeder Schablone, mit erftaunlich feinem pſychologiſchen Verſtändniß 
modelirt er den ſchwankenden, zerrütteten Charakter des Dänenprinzen nad 
den wechfelnden Eindrüden und giebt fo eine zwar realiftifche, aber durchweg, 
auch in den Momenten höchſten Affeet®, von ſchönem Ebenmaß getragene 
Kunftleiftung von erfchütternder Wahrheit. Nicht minder bedeutend iſt fein 
Humbert in Ponſard's „Der verliebte Löwe.“ Da iſt Alles aufs Keinite 
ausgearbeitet, ohne jedoch einen Augenblid den Eindrud des Gefünftelten zu 
machen. Möglich, daß diefe Ausarbeitung hie und da der frifchen Unmittelbar 
feit einigen Eintrag thut. Als Humbert in dem ebengenannten Stücke, wie 
als Uriel Acofta, hat Robert Momente, wo fi) und died Gefühl aufdrängt. 
Aber wir nehmen diefen Eeinen Mangel gern in den Kauf, mwenn er die 
Bedingung ift für die plaftifch-vollendete Ausgeſtaltung der Charaktere. Als 
Held in dem Gutzkow'ſchen Trauerſpiel zeigte der Künftler in der Scene mit 
der alten Efther, die durch Frl. Veneta vortrefflich gegeben wurde, eine Tragik 
von unmiderftehlicher Gewalt. Es ift bedauerlich, ja faft unbegreiflih, daß 
unfere Hofbühne, der Herr Robert vor einigen Jahren angehörte, eine folde 
Kraft nicht zu halten wußte. Möge fie jett menigften® beftrebt fein, fie 
wiederzugemwinnen | X. X- 


389 


Vom deulſchen Reichskag. 


Berlin, den 29. November 1874. 


Die fünfzehnte Sitzung des Reichsſtags am 21. November war unge— 
wöhnlich reich an intereſſanten Zwiſchenfällen. Die bedeutungsvollen Aeuße— 
rungen nämlich, welche aus mehr als Einem gewichtigen Munde, auch aus 
dem gewichtigſten, der im Reichstag ſpricht, mad ganz verſchiedenen Rich— 
tungen fielen, kamen mehr oder weniger gelegentlich zum Vorſchein und nicht 
durch den gebotenen Zuſammenhang der Debatte. Inſofern waren es 
Zwiſchenfälle. 

Nach einer unbedeutenden Interpellation eines Mitgliedes aus den neuen 
Reichslanden über die Behandlung zweier Franzoſen, verfocht der Abgeord— 
nete Haſſelmann den Sonnemann'ſchen Antrag — der Antragſteller ſchien 
abweſend zu ſein — auf Unterbrechung des gegen zwei ſocial-demokratiſche 
Mitglieder eingeleiteten Strafverfahrens während der Seſſionsdauer. Der 
Reichstag erhob einer conſtanten Gewohnheit gemäß den Antrag zum Beſchluß. 

Nun folgte ein Ahnlicher und doch fehr verfchtedener Antrag des Abge— 
ordneten Liebknecht. Der Antragfteller verlangte die Unterbrehung der Straf: 
haft für drei verurtheilte Reichstagsmitglieder aus der focial» demofratifchen 
Partei. Die Reichäverfaffung fehreibt bekanntlich im dritten Abſatz des Ar- 
titel 31 vor, daß jedes Strafverfahren gegen ein Reichstagsmitglied, jede 
Unterfuhung®» und jede Eivilhaft gegen ein ſolches für die Dauer der Sef- 
fon auf Wunſch des Reichstags aufgehoben werden muß. Ausgeſchloſſen 
aber it, mie man flieht, die Strafhaft von denjenigen gerichtlichen Freiheité— 
Beſchränkungen, welche der Reichstag für die Dauer feiner eignen Arbeiten 
von feinen Mitgliedern nehmen kann. Der Liebfnecht’fche Antrag konnte und 
follte alfo nur darauf gerichtet fein, daß der Reichstag den Reichskanzler er- 
juhen möge, auf die Beurlaubung der verurtheilten Abgeordneten hinzumirfen. 
Unſeres Erachtens ift die NeichBregierung gar nicht competent, einen Verur— 
theilten, der eine Strafhaft verbüßt, ihrerfeitd aus dem Gefängniß zu beur- 
lauben. Hierzu Fann, wenn überhaupt Jemand, höchſtens das Gericht com- 
petent fein. Was aber nicht innerhalb der Competenz der Reichsregierung liegt, 
dazu kann auch niemand competent fein, diefelbe aufzufordern. Unſeres Erach— 
ten® hätte die Vorfrage geftellt werden müffen, ob der Liebfnecht’fche Antrag 
verbandlungäfähig fei. Wir Können e8 fonft erleben, daß der Herr Abgeordnete 
beantragt, der Neichdtag möge die Nevolution decrefiren, oder einen ähnlichen 
Cynismus. Denn auf anderes ift hierbei nicht abgefehen, als durch eyniſche 
Beleidigungen in Nachahmung der Rolle Marat's den Reichstag aufzuhalten, in 
feinen Arbeiten zu ftören und herabzumürdigen. Daß er Marat mit Erfolg nad): 


390 


eifert, bewies der Antragfteller unter anderm, als er erklärte, er fei der Leite, 
auf die Wahrheit des Satzes zu verzichten, man dürfe einen politifchen Gegner 
‚unfhädlih machen, todtfchießen u. f. w., mit andern Worten, daß der Meudel- 
mord, gut ausgeführt, ein angemeffened und bequemes Mittel fei. Das 
plumpe Sophisma, durch welches die Socialdemofraten ihren Läftereien einen 
Schein von Begründung zu geben ſuchen, ift immer dasſelbe. Sie ftellen 
ohne weiteres die beftehende Staatdordnung und die Vertheidigung derfelben 
ald den Gewaltterrorismus einer vom Glück begünftigten Claſſe dar. Weil 
es ihnen um eine Nevolution zu thun ift und nur um die Revolution, ohne 
feften Glauben an das, mad aus der Revolution hervorgehen fol, darum 
behaupten fie lügenhafter Weife, daß ihnen die Reform auf dem Wege all 
mählicher Umbildung der praftifchen Verhältniffe und theoretifcher Bekehrung 
der maßgebenden Gemwalten verfchloffen fei. 

Wie zu erwarten war, konnte Herr MWindthorft, der mit Liebknecht den 
Haß gegen dad Reih, wenn auch nicht den foctaldemofratifhen Haß gegen 
die beftehende Geſellſchaft, theilt, fich nicht verfagen, das Waſſer, das ihm 
der Socialdemofrat auf die Mühle getragen, zum Schwung feined Rades zu 
benugen. Nachdem er gegen die Berftörung der Geſellſchaft die unerläßlichen 
Berwahrungen eingelegt, nachdem er ala erfahrener Juriſt auch die formelle 
Unzuläffigfeit des Liebknecht'ſchen Antrages anzuerfennen nicht umhin gekonnt, 
ließ er feinerfeit3 die Sophismen tanzen, die feinem dafür gefhulten Kopf fo 
leicht entfpringen. Da hieß es, es fet unflug, die Soctaldemofraten im 
Reichstag nicht zu Worte fommen zu laffen. Nun erbitten wir die Antwort 
jeded Verftändigen, was die Soctaldemofraten bindert im Reichstag zu Worte 
zu fommen. Sol man fie ungeftraft Verbrechen begeben laffen, damit dem 
Reichstag Fein Tropfen diefer Weisheit entgehe? Hatte Herr Windtborft an 
der ftundenlangen Rede ded Abgeordneten Liebknecht nicht genug? Berlangt 
ihn wirklih fo fehr nad den DOffenbarungen der Herren Hafenclever, Bebel 
und Moſt? „S' ift nur mein Spaß gemefen“, glaubt der Zuhörer zu ver 
nehmen, wenn er hört, mie Herr Windthorft die Anerfennung, daß der 
Neihdtag eine Strafhaft nicht aufheben Fönne, zu dem Uebergang benußt, 
wie wünſchenswerth eine ſolche Befugniß fet, meil die Strafhaft in unfern 
Tagen fo häufig geworden. Herr Windthorſt zielt auf die zur Strafhaft 
gebrachten Bischöfe, er zielt auf den der Sache der Bifchöfe freundlichen Bot- 
ſchafter, über dem eine befannte Griminalunterfuhung ſchwebt. Den Haupt- 
zweck hatte der welftfch »Elerifale Abgeordnete mit diefen burleäfen Inveetiven 
erreicht, den Reichskanzler zur Ergreifung des Wortes aufzuregen. Die Ul- 
tramontanen, wenigſtens ein Theil von ihnen, halten diefe Kampfweiſe für 
ein diätetifches Mittel, „einen Gegner unfhädli zu machen“, was ber Abge— 
ordnete Liebknecht für ein Grundrecht erklärt, Seitdem der verftorbene von 


391 


Mallinfrodt fich diefer Arbeit nicht mehr unterziehen kann, dispenſirt Herr 
Windthorſt den diätetifchen — beinah hätten wir einen zwar parlamentarifchen, 
aber doch allzu deutlihen Ausdruck angewendet; wir fagen alfo die diätetifche 
Behandlung. 

Der Reichäfanzler zeigte auf? neue, daß er veriteht, einem erboften 
Gegner die Waffe in der Hand umzufehren. Er that e8 mit dem einfachen 
Hinweis, daß die häufige VBerhängung der Strafhaft nicht an der Strenge 
des Geſetzes, fondern an der häufigen Uebertretung desſelben liegt; daß für 
die häufige Uebertretung des Geſetzes die hochſtehenden Beifpiele derer ver: 
antwortlich zu machen find, die vorzugsweiſe auf die Achtung vor dem Geſetz 
halten follten, außerdem aber die Befchaffenheit des Jugendunterrichtes bei 
der Art, wie die Staatdauffiht über denfelben in den letzten 25 Jahren ge 
ordnet war. Der Reichskanzler ſchloß mit der ftarf ironiſchen Wendung, daß 
er thun merde, was er Fönne, um den inhaftirten Abgeordneten die Freiheit 
zu verjchaffen, denn Reden wie die der Herren Haffelmann und Liebknecht 
feien außerordentlich lehrreih und hätten lange gefehlt. 

Es trat nunmehr Lasker der Unermüdliche, auf, um an die Liebfnecht- 
ſchen und Windthorftihen Reden allerlei Bemerkungen über den Strafprozeh 
zu fnüpfen, wie er gegenwärtig gehandhabt wird. Es waren diefe Be- 
merfungen Vorwegnahmen der Debatte über den Entwurf der Strafprozeß- 
ordnung, welche deghalb erjt bei diefer Debatte zu berüdjichtigen find. Der 
Liebfnechtiche Antrag rief aber noch Herren Auguft Reichenfperger auf den 
Rednerftand. Der Medner berief fich gegen die Ausführung des Reichskanzlers, 
daß aus der häufigen Uebertretung des Geſetzes die häufige Verhängung der 
Strafhaft folge, wieder einmal auf das Fatholifche Gewiffen. Der Reichs— 
fanzler entgegnete fofort, daß wenn die Befolgung der Gefege vom Gewiſſen 
abhängen folle, dad Gewiſſen jeded Deutfchen die gleiche Berechtigung haben 
müſſe; ein ſocial-demokratiſches Gewiſſen diefelbe Berechtigung wie ein Eleri- 
faled. Herr Auguft Reichenfperger nahm diefen fcharfen Hieb fehr empfindlich 
auf. Er wollte feine Partei durchaus nit auf gleiche Linie mit den Social- 
demofraten ftellen laffen, ohne jedoch eine fchlagende Abwehr zu finden. Die 
reichsfeindliche Preſſe hat fich aber der Aeußerung des Fürften Bismarck fofort 
wieder bemächtigt zu neuen Diatriben und UAnfchuldigungen, daß der Staat, 
wie ihn Fürft Bismarck verfteht, auch das Gewiffen reguliren wolle Die 
Wahrheit it, dag ein Conflict zwifchen Staat und Gewifjen nur eintreten 
fann, wenn entweder der Staat oder dad Gemiffen in die Sphäre ded an— 
deren übergreifen. Welche Erfcheinungen folgen, wenn die äußere Gewalt die 
Sklaverei des Gewiſſens erzwingen will, davon hat die römische Kirche die 
klaſſiſchen und abfchredendften Beifpiele der ſchaudernden Grinnerung aller 
Zeiten binterlaffen. Welche Erſcheinungen folgen, wenn da® Gewiſſen von 





392 


fi aus die äußere Sphäre der Staatögewalt Ienfen und zum unmittelbaren 
Drgan feiner Anforderungen maden will, davon mag die Schreckenszeit der 
franzöfifhen Revolution ala Eaffifches Beiſpiel gelten. Das individuelle 
Gewiffen hat dem Staat gegenüber nur das Recht, die Abfaffung der Geſetze, 
fo viel e8 vermag, zu beeinfluffen, dann aber diefelben zu befolgen und, wenn 
e8 died nicht zu dürfen glaubt, den Staat zu verlaffen, nicht aber das Bei- 
fpiel der Auflehnung zu geben. Die Staatspfliht der Schonung des Ge: 
wiffend aber ift eine unbedingte nur infoweit, als der Staat unter feinen 
Umftänden Meinungen, fondern nur Handlungen gebieten und erzwingen darf. 

Es folgten Kleinere Anträge und Borlagen, welche an die Gefchäfte- 
orduungs-Commiſſion und an die Budgetcommiffion vermwiefen wurden. Den 
Schluß der Sisung bildete die erfte Leſung einer Regierungsvorlage, ber 
treffend die Steuerfreiheit de Neichdeinfommend. Diefe Vorlage, ſowie an- 
dere ähnliche Beftimmungen über die Steuerfreiheit der Reichsbeamten in den 
Gemeinden u. f. w. würden gar nicht nöthig fein, wenn wir zu einer ratio- 
nellen Bertheilung der Steuerquellen zwifchen Gemeinde, Drtd-, Kreid- und 
Provinzial«Gemeinde-Einzelitaat und Reich bereit3 gelangt wären. 

Die natürlihe Cinnahmequelle der Gemeinden ift die Grund- und 
Gebäudefteuer und von diefer follten unfere® Erachtens auch die öffentlichen 
Gebäude der Einzelftaaten und des Reihe nicht ausgenommen fein, ſchon 
darum nicht, damit Einzelftaat und Reich In den wichtigiten Gemeinden eine 
unmittelbare Mitwirfung nicht entbehren, wie fie die Folge der Steuer 
entrihtung fein muß. Da wir in Deutſchland den Gemeinden die richtige 
Steuerquelle noch nicht übermiefen haben, fo verfuchen diefe ihre fteuerfordernde 
Hand auf Alles zu legen, worauf fie Fein Recht haben, fogar auf Poſt und 
Telegraphie. Diefer Zuftand macht Vorlagen wie die erwähnte unvermeidlich. 
Statt der Palliativmittel jollte man aber ernftlih an die einzige durch— 
greifende und gefunde Abhülfe denken. — 

Sin feiner 16. Sisung am 24. November trat der Reichstag in die erfte 
Berathung der drei großen Juſtizgeſetze über die Gerichtäverfaffung, die 
Strafprozegordnung und die Civilprozeßordnung. Die Gefeßentwürfe follten 
in der eben aufgeführten Ordnung zur Leſung fommen, und fo ift es aud 
gefhehen. Der Reihdtag war jedoch übereingefommen, daß bei der erften 
Leſung des Gefeged über die Gerichtöverfaffung die Redner fich gleichzeitig 
über alle drei Gefegentwürfe verbreiten dürften. Daher geftaltete fich diefe 
erite Refung zu einer Generaldiscuffion über die deutfche Juſtizreform Im 
Ganzen, foweit fie bis jet dem Reichstag vorliegt. Diefe Generaldiecuffion 
nahm zwei Sigungen in Anſpruch, die erfte Leſung der beiden anderen Gefete 
je eine. 

Die Generaldiscuffion bei Gelegenheit des erften Geſetzes, obwohl bie 


393 


drei Gefegentwürfe umfaffend, führte indeß nicht gerade zur Hervorkehrung 
eined einheitlichen Gedanken? der ganzen Reform. Die Nedner wandten fi 
bald dem einen bald dem andern Geſetz mit ihren Bemerkungen zu. Wir 
thun dephalb am Belten, den Diecuffiondftoff nicht nach den Sitzungen, 
fondern nad den drei Geſetzen einzutheilen, um welche er fih fammelte. 

Trob des etwas fporadifchen Charakters ift auch die viertägige Ver— 
handlung über die Yuftizreform des deutjchen Neichdtages durchaus würdig 
gewefen, würdig eined großen Volkes, dem das feltene Glück zu Theil wird, 
ein tiefe® langentbehrte® Bedürfnig feined nationalen Lebens in gereifter 
Stunde mit gereifter Kraft löfen zu dürfen. 

Das formelle Ergebniß der drei erften Lefungen war die Wahl einer 
Commiffion von 28 Mitgliedern zur gemeinfchaftlichen Worberathbung der 
drei Entwürfe. Am Schluß der erjten Refung des dritten Geſetzes wurde ein 
Antrag des Abgeordneten Lasker zum Beſchluß erhoben, die Bereitwilligfeit 
des Reichstags audzufprechen, einem Geſetz zuzuftimmen, welches die zur Vor— 
berathung der drei uftizgefege ernannte Commiffion ermächtigen würde, ihre 
Berathungen über die Dauer der gegenwärtigen Seffion zu erftreden, und 
welches den Reichstag ermächtigen würde, dad Refultat feiner jest gewählten 
Commiſſion während einer folgenden Seffion der gegenwärtigen Legislatur— 
periode in Berathung zu ziehen. Vom Tiſch des Bundesrathes erfolgte jo- 
gleih die Zufage der Vorlegung eines ſolchen Geſetzes, und der Antrag 
Lasker ward einftimmig angenommen. 

Wir wenden und nun zu der Würdigung, welche jeded der drei Juſtiz— 
gefege bei der erften Leſung im Reichstag erfuhr. Zuerſt dad Gerichts. 
verfaſſungsgeſetz. Bekanntlich enthält die in Betracht Fommende Vorlage 
nicht eine vollftändige Gerichtöverfaflung, fondern nur Normen für die Or 
gane der ftreitigen Gerichtäbarfeit, und auch diefe Normen nicht vollitändig. 
Man Fann ed nicht tadeln, daß die Neichdgefeggebung vermeidet, in die ver, 
waltende Thätigfeit der Juſtiz z. B. in Vormundfchaftd-, Grundbuchmefen ıc. 
einzugreifen. Ebenſo mag die Regelung der freiwilligen Gerichtäbarfeit den 
Ginzelftaaten überlafjen bleiben. Die einheitliche Regelung der Organe der 
ftreitigen Gerichtsbarkeit ſollte aber durchgreifend erfolgen, und daß dies nicht 
gefhehen, ward mit Recht in dem vorgelegten Entwurf ald ein ſchwerer 
Mangel hervorgehoben. Der preußifche Zuftizminifter, welcher diefen Geſetz— 
entwurf mit einem Einleltungsvortrag befürmwortete, berief fih, um die Un. 
vollſtändigkeit des Entwurfs, deren Tadel er vorausſah, zu entfchuldigen, auf 
den Wortlaut der Reichsverfaſſung. Man erinnert fih, daß im Mai 1872 
die Abgeordneten Lasker und Miquel im Reichstag einen Antrag einbrachten 
und durcbfesten, auf Erweiterung der No. 13 ded Artikel 4 der Reich? 


verfaffung. In diefer No. 13 war urfprünglih auf dem Rechtögebiet al? 
Grenzboten IV. 1874, "50 


394 


Gegenftand der Neichägefeßgebung bezeichnet: das Obligationenreht, Straf 
recht, Handeld- und Wechſelrecht und das gerichtliche Verfahren. Die beiden 
Antragfteller verlangten die Ausdehnung der Meichdgefeggebung auf das ge 
fammte bürgerlihe Recht einfchließlih der Gerichtäverfaffung Die Worte 
„einfchließlich der Gerichtsverfaſſung“ ließen fie jedoch im Kaufe der Berathung 
unglüclicher Weife fallen, weil fie nach ihrer Erklärung nicht der Fuftizhopeit 
der Einzelftaaten zu nahe treten wollten und weil — der zweite Grund ver- 
trägt fich fchlecht mit dem erften — aus der Einheit des Gerichtöverfahrene 
die Einheit der Gerichtäverfaffung, ſoweit ald nöthig, folge. Die Wahrheit 
ift, daß aus der Einheit des Gerichtäverfahrend die Einheit der Berfaffung 
wenigſtens für die ganze ftreitige Gerichtöbarkfeit folgt. Der Bundesrath hat 
aber diefe nothmwendige Folgerung nicht gezogen, weil die particulariftifche 
Strömung in ihm zu ftarf war. Der Reichstag aber macht die unerwünſchte 
Erfahrung, wie peinlich die Folgen unzeitiger Schwäche find. Dem Ubgeord- 
neten Radfer wurde in diefen Briefen bei der damaligen Cinbringung des 
Antrages ein festina lente zugerufen, dem ſich die Nedaction der Grenzboten 
nicht anſchloß. Wir wünſchten in der That, der damalige Sieg wäre nicht 
mit dem Dpfer der Preidgebung ded halben Objected erfauft worden. Der 
Particularismus im Bundesrath ftände heute vieleicht fchmärher da, menn 
die Ermweiterung der No. 13 noch gar nicht unternommen wäre, al® jetzt, wo 
fie in einem weſentlichen Punkte mißglüdt ift. Wie dem fet, es giebt Feine 
ernftere Pflicht der patriotifchen Prefe, ald den Abgeordneten Lasker und die 
Gleichdenkenden im Reichstag darin zu unterftügen, daß die einheitliche Dr- 
ganifatton der ftreitigen Gerichtöbarfeit Feine halbe Maßregel bleibe. ine 
folhe halbe Mafregel würde für die deutſche Nation um juriftifch zu reden 
nicht nur ein große® lucrum cessans, fondern auch ein große® damnum 
emergens bedeuten. Die neue DOrganifation will jeden Deutfchen zmingen, 
bei jedem deutſchen Richter Recht zu nehmen, und doch foll der deutfche 
Nichter in ſoviel verfchiedene Specie® zerfallen, in 25—26, al es deutſche 
Bundedftaaten giebt, denn die Bedingungen der richterlichen Raufbahn follen 
nad mie vor von den Einzelftaaten geregelt werden. Das iſt wider die 
Natur der Dinge und wider dad Nechtögefühl. Soll die deutſche Nation 
da8 lange Zeit unerreihbar geglaubte Glück einer einheitlichen nationalen 
Rechtsbildung erleben, fo gehört ald Träger und Schüßer diefer Rechtsbildung 
zu derjelben die große, einheitliche Körperfchaft eines gleichartig organifirten 
Richterſtandes. Wie fein Recht, ſchwebt das deutfche Reich in der Yuft, wenn 
es nicht auf einheitlichen Berufäftänden ruht, deren es bis jest nur Einen, 
noch nicht. einmal durchgreifend einheitlich organtfirten, befitt, nämlid das 
Heer. Das Clvilreichsbeamtenthum ift bis jetzt noch ein viel zu ſchwacher 
Körper. Wie ſegensreich aber in jeder Nation ein anſehnlicher Richterſtand 


395 


ald moralifh mächtige, unzerfplitterte Körperfchaft für die Feſtigkeit und die 
fittlihe Beſchränkung aller Lebenszuſtände wirkt, das beftätigt die Gefchichte, 
wie es aus der Natur der Sache fih ergiebt. Wir dürfen die Gelegenheit 
nicht verfäumen, von der wir nicht wiſſen, wenn fie wiederfehrt, diefed Gut 
in feinen Grundlagen jegt zu erringen. Zunächſt wird für dieſes Ziel die 
Reichstagsecommiſſion das Ihrige zu thun haben. Die öffentlihe Meinung 
wird ihrer Zeit da8 hoffentlich für die Einheit der Gerichtsverfaſſung günftige 
Werk der Commijfion zu unterftügen und den Neichdtag zu feiner Annahme 
zu ermuthigen haben, damit die particulariftifche Strömung im Bundesrath 
in diefer Angelegenheit von höchſter Bedeutung zum Weichen gebracht 
wird. — 

Die Charakteriftit der Verhandlungen über die beiden Ordnungen de? 
Strafprozefjed® und des Givilprozefied bei der eriten Leſung müſſen dem 
nächften Briefe aufgefpart bleiben, welchen die Sitzungen der nächſten Woche, 
da es nicht immer fo fortgehen Fann mit den Verhandlungen von Gegen: 
fänden erften Ranges, den nöthigen Raum zur Nahholung laffen merden. 

C—r. 


Weihnachlsbücherſchau. 


Sm Verlage von Alphons Dürrin Reipzig erfcheint auch dieſes Jahr 
eine jener wohlbefannten liebenswürdigen Weihnachtögaben von Däcar Pletſch 
(mit Reimen von Franz Bonn), die von Alt und Jung mit gleihem Be- 
bagen gefchaut und gelefen werden. „Neſthäkchen“ heißt Oëcar Pletſch's 
neuefter Bildercyelus von 16 Blättern. Der Titel Eönnte melandolifh an- 
gelegte Naturen mit ähnlichen düftern Ahnungen erfüllen, wie fie zuläffig 
erfcheinen, wenn Jemand feine „Sefammelten Werke“ herausgiebt: dann darf 
man wohl annehmen, der Mann fchafft nicht? mehr Hinzu. Und fo fünnte 
man denfen, wenn Pletſch ſchon bis zum „Nefthäfchen“ gefommen tft, fo 
wird fein Griffel nichts mehr zu thun finden, wenn das Kleinjte flügge ge 
worden und der Kinderftube den Rüden gekehrt hat. Unbegründete Furt! 
Keines diefer ſechszehn Blätter fieht nach Uebermüdung oder Greifenhaftigfeit 
aus. Keines tft bier etwa untergebracht, wie ungelefene Broducte von Schrift: 
ftellern in gefammelte Werke untergebracht werden, um damit zu räumen, 
Vielmehr bekundet jedes diefer Blätter die alte Frifche und Freude des Schaffeng, 
die Oscar Pletſch's erfte Zeichnungen zu Reichenau's unvergänglichem 
Idyll deutfhen Familienleben? „Aus unfern vier Wänden“ (Reipzig 
F. W. Grunow) berühmt machten. 


Aus Reihenau’d Weder bietet allerdings der Grunow'ſche Berlag 
diefed Jahr Feine Novität. Es ift früher ſchon einmal darauf hingedeutet 
worden, wie ſchwer und langfam diefer Dichter fchafft, wie felten ihn die 
Mufe mit jener mwolfenlofen Heiterkeit grüßt, die in allen feinen Sachen ſich 
offenbart. Und wozu auch wiederum etwas Neue? aus feiner Feder, da bie 
alten Geſchichten „Aus unfern vier Wänden“, „Liebesgeſchichten“, „Am 
eigenen Herd“ und fo lebendig und innig anmuthen, als feien fie heut erft 
der deutjchen Heimftätte abgelaufht. Wozu etwas Neued, da diefe vor 
längerer und kürzerer Zeit gefchriebenen Idyllen alle die gleiche Zugkraft bis 
heute bewahrt haben und ftet3 bewahren werden, fo lange deutfche Kinder auf- 
wachſen, deutfche Liebe fih offenbart und Häuſer gründet. 

Dagegen bringt der Verleger Reichenau’s, F. W. Grunow in Reipzig, 
auf den diefjährigen Meihnachtsbüchermarft eine Novität, welche in jeder 
Hinfiht das beite Lob und die meitefte Aufmerkfamfeit verdient, nämlich 
Goethe's Erzählungen für erwachſene Mädchen, gefammelt von 
F. Siegfried, mit ſechs Tondrudkbildern nad Zeichnungen von K. Kögler 
und H. Merte. Kaum ein pädagogifches Problem ift fo ſchwer zu löfen, als 
die Frage, welche Lectüre erwachfenen Mädchen vorzugsweiſe zu empfehlen 
jet. Hierzu Goethe's Erzählungen auszuerwählen, iſt fiherlich ein Unterneh: 
men, welches der freudigften Zuftimmung werth ift und den jungen Damen 
bet ihrem Eintritt in die Reihen der Erwachſenen den reichiten Segen bringen 
mird. Mit feinem Sinn und kluger Berechnung iſt aus des Altmeifterd 
Werfen der erzählende Stoff ausgewählt worden, der diefer Stufe der meib- 
lihen Jugend am meiften entſpricht. So wird bei Zeiten den jungen Mäd— 
hen Sinn für unvergleichliche Reinheit und Hoheit Goethe’iher Sprache ge 
weckt merden. 

MWenn wir die Schriften leſen, die, zur Zeit der Goethe'ſchen Alleinherr- 
ſchaft im Weiche der Geifter, Sr. Maj. allertreuefte Oppofition verfaßte, 
3. B. des liebengwürdigen ungelenfen Schwaben Wilhelm Hauff's „Memoiren 
des Satan“, „aus der Leihbibliothek“ u. f. w., fo ftoßen wir auf zahlreiche 
Zeugniffe für die merkwürdige Erfcheinung, dag Walter Scott lange Jahre 
hindurch das „gebildete“ deutiche Publikum bei meitem mehr intereffirte, als 
ſelbſt der deutfche Dichterfürft. Gerade diejenigen, welche am meiften Ironie 
vorräthig hatten für den ſchottiſchen Dichter, wie Wilhelm Hauff, vermochten 
fih am wenigſten dem Einfluß desfelben zu entziehen. Die fhönfte Dichtung 
Hauff's, „Richtenftein“, tit durchaus vom Geifte Walter Scott’8 durchdrungen. 
Seine fonft fo freundliche Novelle „das Bild des Kaiſers“ geht für die rege 
nationale Empfindung unfrer Tage weit hinaus über die bedenklichfte Seite 
der Walter Scott’ihen Stoffe: Hauff feiert im „Bild des Kaiſers“ die heroi- 
Ihe Geftalt des Schirmheren ded Rheinbundes fo unverfroren, daß und 


397 


Deutihen von heute ganz feltfam zu Muthe wird. Auch Walter Scott's 
Romane ftellten zum großen Theile das particulare Selbftgefühl der ſchottiſchen 
Hohlande in bewußten, vortheilhaften, dem britifchen Stolze empfindlichen 
Gegenfag zum nivellirenden Unitarismus des dreieinigen Königreiches. Und 
felbft wenn fo ausfchlieglich nationale Helden gefetert werden, wie Richard 
Löwenherz im „Ivanhoe“, läßt der Dichter die wärmſten Gefühle feines 
Herzend in das Dunfel leuchten, in dem die vergangene Herrlichfeit der Angel« 
fahfen fih vor dem herrfchenden Gefchlechte der Normannen bergen muß. 
Aber das alles find berechtigte Stufen der Entwicelung einer Volks- und 
Staatdgemeinfhaft. Den LRandesverrath der Kleinen Kronen gegen dad 
nationale Staatöbemwuhtfein, den Bund mit dem Erbfeind aus dynafti- 
ſchem Intereſſe, Hat Walter Scott nie gefeiert. Seine Schriften tragen 
im Gegentheil, trog aller Vorliebe für die fchottifchen Eigenthümlichfeiten 
der Volföfeele, einen ausgeprägt national» englifhen Charakter, und es ift 
fein Zufall, daß der vornehmfte Dichter der Marf Brandenburg und der 
Geſchichte des Werdens und Ringens des märfifchen Volkes und Fürften- 
hauſes, daß Willibald Alexis, ſeinen erſten Roman, im Geiſt und Geſchmack 
der Waverley-⸗Romane zu ſchreiben verſuchte. Wir Modernen aber ſchätzen 
Walter Scott's Schriften, beſonders ſeitdem und durch deutſche Forſchung 
ſein perſönliches Lebensbild in den jüngſten Jahren ſo menſchlich nahe gerückt 
worden iſt, um ſo höher, je mehr wir erkennen, wie fern er ſich hielt von 
den Verirrungen feiner Zeitrichtung, wie er die Phantaſiefülle und den Farben⸗ 
reihthum der Romantik vereinigt mit proteftantifher Zucht und hiſtoriſcher 
Pflihtftrenge, und wie die reine Feufche Seele des Dichter in allen jeinen 
Geftalten und Erzählungen treu fich fpiegelt. Diefer Hohe Werth der Walter 
Scott’fhen Romane gerade für das Jünglings- und Sungfrauenalter hat 
den befannten Leiter de „Daheim“ Robert Koenig und die Verleger des 
„Daheim“, Velhagen u. Klafing (Bielefeld und Leipzig), veranlaßt, 
Walter Scott’3 [hönfte Romane heraugzugeben, in neuer Heberfegung 
von Robert Koenig. Bis jest ift „Der Talisman“, „Quentin Durward“ 
und „Ivanhoe“ in diefer fehr ftattlichen Ausgabe erfchtenen. Die Ueberjegung 
ift treu und fehr lesbar und zeichnet fich vortheilhaft aus vor der großen 
Mehrzahl der deutſchen Walter-Scott-Ausgaben. Die gefhmadvollen Bilder 
von Grotjohann, von denen acht jedem Bande beigegeben find, gereichen diefer 
Iplendiden Ausgabe zu befonderer Zierde. Weberhaupt verdienen die Bücher, 
mit denen die Berlagsbuhhandlung Velhagen und Klafing den 
Weihnachtsmarkt betritt, da8 wärmfte Rob: in der Tendenz, die ihnen allen 
inne wohnt, wie in der reinen und oft fünftlerifchen Form, in der fie und 
vor Augen treten. Kaum eine andere deutſche Verlagshandlung bringt eine 
folhe Fülle guter und ſchöner Bücher allen Altersftufen der Jugend zum 


398 


Chriftfeit entgegen, wie die Verleger ded Daheim. Für junge erwachſene 
Mädchen bieten die drei Büchlein von Clementine Helm: Princeßchen 
Eva, dad Kränzchen, Frau Theodore, feinfinnige feffelnde Lectüre. 
Die Reihenfolge, in der hier die drei Bücher genannt find, deutet zugleid 
die Stufenfolge der Jahre an, für melde diefe Schriften beftimmt find. 
Princeßchen Eva wird für jüngere Mädchen, etwa bie zu vierzehn Jahren, 
befonder8 geeignet fein. Das Kränzchen, das in der jebt vorliegenden zweiten 
Ausgabe namentlih durch die hübſchen SMuftrationen von Eugen Klünſch 
eine mefentliche Bereicherung erfahren hat, ift dem „Badfifhalter" aus der 
Seele gefchrieben. Und „Frau Theodore* werden aud junge Frauen noch 
gern und mit Nugen leſen. Jünglinge und Snaben dagegen finden in 
diefem Verlag einen reichen Schatz von Unterhaltung und Belehrung an 
gejammelt. Dem ſchönen Streben der Verlagdhandlung, durch ihren Jugend 
ſchriften-Verlag in unferer männlichen Jugend patriotiſchen Sinn, pietätvolle 
Würdigung der Helden unfere® Volkes und feiner Großthaten zu erziehen, 
find drei neue gute Bücher für das reifere Knabenalter entfprungen: Kaiſer 
Wilhelm der Siegreihe von Wilhelm Petſch (mit 12 XTonbildern 
von Lüders u. A.) Helmuth Graf Moltfe von Wilhelm Petſch (mit 
8 Tonbildern von Fris Schulz) und Generalvon Werder von D. Höder. 
Diefe drei Novitäten fchließen fih in würdigfter Weiſe den patriotifchen 
ASugendichriften früherer Jahre von Wilhelm Petih an: „Der eiferne Prinz 
(Friedrich Karl), „Unfer Fritz', „des deutfchen Knaben Friedrih Wilhelm 
Schulze Fahrten und Abenteuer im Kriege gegen Frankreich” und der jchönen 
vaterländifchen Erzählung Robert Koenig’d „der alte Nettenbeck“, die wir 
bereit® früher in d. BI. rühmend erwähnt haben. „Nobert des Schiff 
jungen Fahrten und Abenteuer auf der deutſchen Handels und 
Kriegäflotte* von Mar Biſchoff mit acht Zonbildern von C. Dffterdinger 
bildet einen pafjenden Vebergang von den patriotifchen Jugendwerken des 
Klafing’fhen Verlagd zu jener ebenfo gediegenen Sammlung von Jugend 
ſchriften desfelben Verlags, welche den Zweck verfolgen, die Jugend über ferne 
Ränder und Völker in der Gefchichte der Entdeckungen zu belehren. Diefe Samm- 
lung ſteht weit über ähnlichen Unternehmungen anderer Bücherhandlungen. 

Namen wie Richard Andree, Theodor Vogel, Reinhard Zöllner u. U 
haben die Bearbeitung diefer geographifch-ethnographifhen Sammlung über 
nommen. Die Tonbilder und Karten find nicht etwa, mie dieß in einer 
großen Bücherfabrik Deutſchlands üblich ift, alten Glied entnommen, die 
feit Sahren und theilmeife Jahrzehnten, durch alle möglichen iluftrirten 
Bücher gelaufen find, fondern die Bilder find von H. Merte nach den beften 
wiffenfhaftlihen Aufnahmen Fünftlerifch gezeichnet, die Karten- in ber 
geogr. lithogr. Anftalt von Velhagen und Klaſing mit wifjenfchaftlicher 


Strenge gefertigt. So find Werke zu Stande gefommen, welche der freudigſten 
Empfehlung, auch für die reiffte Alteröflaffe unferer Jugend würdig find. 
Rihard Andree z. B. hat in dem Buche „Die deutfhen Nordpol- 
fahrer“ einen authentifchen Auszug aus den compendiöfen Fachwerken der 
deutſchen Nordpolerpeditionen von 1868— 72 geliefert, der auch genauen 
Kennern der lesteren die Originale, bis auf die ftreng miljenfchaftlichen Ab— 
bandlungen diefer Werke, erfegen kann. Und die Sluftrationen und Karten 
befleigigen fich (bi8 auf unbedeutende Unrichtigkeiten) genau der Anlehnung 
an die ſchönen Vorbilder der offiziellen Ausgaben. Mit Hiftorifcher Treue 
und dennoh mit lebhafter und feflelnder Darftellungsgabe führt und 
Theodor Bogelin dad Zeitalter der Entdedungen (v. 1440—1540), 
In die Gefchichte der großen Seefahrten und Entdedungen der Spanter und 
Portugieſen und die Schidfale ihrer vornehmften Führer, während zwölf Ton- 
bilder und eine Karte dem Anfchauungdunterricht dienen. Der ſchwarze 
Erdtheil endlih und feine Erforfcher erfreuen ſich einer durchaus ſach— 
verftändigen, auch Erwachſene jehr befriedigenden Charakterifirung und Wür- 
digung durh Reinhard Zöllner. Die großen Entdelungdfahrten von 
Speke, Grant, Baker, Livingſtone, Vogel, Nachtigall, Rohlfs, Barth, Overweg, 
Heuglin, Steudner, Künzelbach, Munzinger, von Beurmann, Anderſſon, Krapff, 
der Tinne u. U. find hier in gerechter und quellenmäßiger Weiſe mitgetheilt. 
Die Illuſtrationen find gleichfalls ſämmtlich offiziellen Reiſewerken von 
Innerafrifa entnommen ; die beigegebene Karte ift, neben der in Flemming’s 
Verlag in Glogau erfchienenen, die befte, die eriftirt, und bis auf die aller- 
neuefte Zeit fortgeführt. 

Mährend fo der Berlag von Belhagen & Klafing für die Bedürfniffe 
der reifen Jugend in bedeutfamer Weiſe geforgt hat, ift dad Kindesalter 
feinegmeg® leer ausgegangen. Im Gegentheil wird jedes Eleine Herz; höher 
ſchlagen, wenn es der Herrlichkeiten anfichtig wird, die Gottlob Ditt- 
mar's Kinderluft (in zweiter fehr vermehrter Auflage) und vor Allem 
Robert Reinick's Märchen-, Nieder, und Geſchichten buch (gleich- 
falls in zweiter vermehrter Auflage) ihm bieten. Ueber das letztere Buch 
haben wir bereit vor zwei Jahren und mit warmer Anerkennung ausge— 
proben. Xert und Bild metteifern miteinander, dem Kinderherzen das 
Shönfte und Beſte entgegenzutragen. Cine ferngefunde Lebensfreude durch— 
dringt jede Zeile ded Dichters, jede Linie des Bildners; mer mit Kindern 
diefed Buch gelefen, gefchaut und genofien hat, wird von den Kleinen immer 
‚no einmal Reinick“ Hören, und durch die eigne Empfindung dazu geftimmt 
werden, in Eindlicher Freude fi) mit zu freuen. — 

Faſt ausfhlieglih für das Eindliche Alter find die Novitäten beftimmt, 
mit denen diefed Jahr Carl Flemming's Berlag in Glogau den Weih— 


400 


nachtsbüchermarkt betritt. Für die reifere Jugend find allerdings auch einige‘; 
der fchönen Gaben da, die wir alljährlich aus diefem Verlage zu erhalten - 
gewohnt find: der reich illuftrirte und gehaltvolle zwanzigfte Band des 
Töhter-Albumd von Thefla von Gumpert, „Bunte Farben,‘ 
Erzählungen für die reifere Jugend“ von R. Koch, mit ſechs Bildern von; 
Reopold Venus, „Zehn Thüren“ von Julie Ruhfopf, mit vier Bil. 
dern von Venus, u. a. Bücher. Aber vornehmlich die jüngere Kinderwelt iſt 
bier reich bedacht. In erfter Linie erinnern wir an dad im vorigen Jahre 
eingehender befprodhene Märchenbuch von Godin, welches die geſammte 
Preſſe, auch die pädagogiiche, als eines der unftreitig beiten, ſorgfältigſt aus— 
gewählten und am geſchmackvollſten ausgeſtatteten Märchenbücher allgemein 

anerkannt hat. Es darf jedes Jahr als neue Erſcheinung begrüßt werden, 
denn es veraltet nicht. Dann folgen Gulliver's Reifen in zweiter Aufe- 
lage, unter dem Titel: „Seltfame Abenteuer unter Zwergen und Riefen* von 
Ferdinand Schmidt bearbeitet, mit vier Illuſtrationen von H. Steljner, 

dann „Daheim“, Erzählungen für die Jugend von Emma Bunjen, 
mit ſechs Bildern von R. Reineweber, „Unter dem Chriftbaum“, 
Barabeln, Erzählungen und Märchen von Lena Fäſi, mit vier Bildern von 
B. Mühlig, alles ſehr empfehlenswerthe Schriften für das Eleinere Volk, 
Diefen reihen fih an: Kinderfherz für's Kinderherz, Xieder und 
Reime von Rouife Thalheim in zweiter Auflage — ein herziged Bilder 

und Merkbüclein für die erften Semefter, in denen die Kleinen Memorie«-‘ 
übungen anftellen; und der neunzehnte Band von Herzblätthens Zeit— 
vertreib von Thefla von Gumbert mit ebenfo reihem und gediegenem 
Inhalt in Wort und Bild, wie feine achtzehn Vorgänger. Die Bilder find vom. 
H. Bürfner, U. Diethe, K. Fröhlich, B. Mühlig, 2. Venus u. A.; die Fan 
bendrude namentlich — in denen der Flemming'ſche Verlag überhaupt Borzügr 
liches leiſtet — meift von Fünftlerifher Vollendung. — Unter all diefen Schriften” 
für das jüngere Kindesalter ftellen wir aber am höchften das foeben in zweiter 

Auflage erjhienene „Roggenkörnlein, ein Büchlein für Heine Kinder vom) 
F. und 9. Jähde, mit (farbigen) Biltern von Reopold Venus Die 
eroige Poeſie, das unerforjhliche Geheimniß, die in der Entwidelung bed r 
Samenkornes zur Frucht, zur Reife, zum Abfterben, zur Erneuerung desſelben 3 
Kreilaufes, liegen, find von finnigen Menfchen mit befonderer Aufmerkſam— 

feit beobachtet und erfaßt worden, folange e8 Menfchengeihichte giebt. DIE” 
wunderbare Entwidelung und Verwandlung des Roggenkorns zum Brode if 
bier in vorzüglichiter Weife: in jedem Kinde faßlichen Verfen, und in wirklich 
vortrefilihen Bildern dem kindlichen Verftändnig nahe gebracht. Und,k ie 
äußere Ausftattung entjpricht durhaus dem werthvollen Kern des Dudyeks r 


-— — 





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Verantwortlicher Redakteur: Dr. Hans Blum in Reipzig. 
Derlag von F. 2, Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Legler in Beil 











TEEN (ey 
Mer XXX Jahrgang. 
— RE — — 


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un 7 





Die 


Grenzboten. 


Zeitſchrift 
für 


»Folitik, Literatur und Kunſt. 





No 50. 


Ausgegeben am 11. December 1874. 





3us 211: 
Seite 


Zur Gefhichte des Eeptennats. III. Grfolglofe Arbeiten der 
Dreifiger-Gommiffion. Schluß der Winterfeffion. ©. Zelle 401 


Plaudereien aus Sondon. 2. Alfred Blum . . .... 414 
. „Un Die Grde* von Eduard Hildebrandt und „Malerifche Reife: 
ziele“ von Eugen Krüger. . . Emma 421 


Dom deuten Reihstag. CT. 2 2 2 2220000002426 
. Weihnachtsbücherſchau. Er Eee 


Grenzbotenumfhlag: Literariſche Anzeigen. 
Hierzu drei literarifche Beilagen. 


2 


Leipzig, 1874. 
Friedrich Ludwig Herbig. 
(Fr. Wild. Grunow.) 





2 irt bei allen Buhhandlungen und Poftämtern des In: und Auslandes. 





1 








Bei Otto Meissner in Hamburg ist eben 


erschienen: 


OSIRIS. 


Weltgesetze inder Erdgeschichte. 
Von 
C. RADENHAUSEN. 


Verfasser der „ISIS* 
Erster Band, erste Hälfte. 
23 Bogen gr. S", 1 Thir. 15 Sgr. 
Das Werk enthält den Versuch einer aus- 


führlichen Kosmogenie auf Grund der Wissen- 


schaft der Gegenwart. Es soll seinen besondren 
Werth haben im Darstellen und Begründen der 
durchgehenden Bezüge, welche die kleinsten und 
niedersten Stufen der Welt durch Zwischenrei- 
hen mit der höchsten erkennbaren verbinden. 


Verlag von Otto Meissner in Hamburg. 


Wetterstudien 


zur Benutzung der täglichen Witterungs- 
berichte. 


Von N. Houffmeier. 
Preis 12 Sgr. 








im Verlage von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig 


it erſchienen: 
Unſere Arbeiter der Neuzeit. 


Skizzen ans der Arbeiterwelt 


Friedrich Büder. 
Mit 13 Sluftrationen von Lüders, Löffler und Zoller. 
Gart. Preis 1 Thlr. 24 Nar. 


l 





!Zur Geihihte Franfreihs! 
Soeben erfhienen 2 — olle Buchhandlungen zu 
ezieben : 

3. J. Honegger, Brof. in Zürih. Kritiſche Ge— 
fchichte der franzöfifhen Gultureinflüffe in den 

legten Jahrhunderten. 
Inhalt. Geift und Gang der Geſchichte. — Ari. 
Reigen der fronzöfiihen Macht bis auf Ludwig XIV. berat 
Die franzöſiſche Weltmachtſtellung auf ihrer Söbe 
—5 XIV. — bie zur Scheide der Jahrbunderte. — 
Politiſcher Verfall des Staates, Herrihoft der revotutie 
nairen Literatur, — en eit der — XIV. x. 
400 Seiten. gr. 5. Preis tr. = 7 MW Bi. 
Frrüber erichienen : 
Rarl illebraud, Frankreich umd die Frauzoſen in ne 2 
BHaͤlfte des XIX. Johrh. un. und Erfahrungen 
umgearb. u. vermebrte Aufl. 8. Thir. =5 M. 
©. Eugenheim, Aufläge und 325535 — ut 
iranzöfifhen Geſchichte. d. 11, Thlr. — 4 M ®. 
Berlad von Aobert Sppenheim in — 


BSD” Auf jeden Schreibtisch gehört 


MEYERS 
HANDLEXIKON 


Gibt ineinem Band Auskunft über 
jeden Gegenstand der menschlichen 
Kenntnis und auf jede Frage nach 
einem Namen, Begriff, Fremdwort, Ereig- 
nis, Datum, einer Zahl oder Thatsauche 
augenblicklichen Bescheid, 
1968 kl. Oktavseiten mit 52,000 — 
tikeln und über 100 Karten und B: 

Gebunden in 1 Halbfranzband 5 Thlr. 

Vorräthig in allen Buchhandlungen. 

Bibliographisches Institut in Leipzig 


(vormals Hildburghausen). 


— — 


SEITE ER EEE 












Ein in ————— — 


In Ferd. Dümmler's Verlagsbuchhandlung (Harrwitz und Goßmann) in Berlin iſt ſoeben 


Fuiſe, Königin von Preußen. 


Von Friedrich Adami. 


erſchienen: 


Siebente vermehrte Auflage. 
Unterſchrift. 


Mit dem Bildniß der Königin und einem Facſimile 
8. eleg. geb. 1 Thlr. 15 Sgr., 


der — 


in engl. Einband 2 Thlt. 


Die erite Ausgabe fam aus der Feder der frau v. Berg, der Freundin und Ge 


der Monarcbin. 


Dem Perf. war es vergönnt, neue Briefe der Königin , uxhermiiieie 
blätter aus dem Lebensbuche der föniglihen Dulderin“ 


mitzutheilen. 


Diefe neue Auflage ift wiederum jorgfaltiq durchgearbeitet, durch mannichfaltige gui 
ſentlich bereichert und ihrer eleganten Aus ſtattung wegen, welche durch ein dem Buche vo 


ſchönes Bildniß der 


Königin aus deren jüngeren Jahren, das die Anmuth ihrer 


ſonders alüdlich zum Ausdrud bringt, noch erböbt wird, namentlich zu Feſtgeſchenken we 





\t 


Zur Geſchichte des Heptennats. 
II. 


Erfolglofe Arbeiten der Dreißiger-Commiffton. Schluß der. 
Winterfeffion. 


Nachdem durch die Annahme de3 Mairesgeſetzes der dringendften An- 
forderung des Herzogs von Broglie Genüge geleiftet war, mandte fidh die 
Aufmerkfamkeit der Regierung wie der Parteien wieder den Arbeiten des 
Dreißigeraugsfchuffes zu, dem eine Aufgabe geftellt war, die derfelbe beim 
beften Willen nicht zu löfen vermochte. Er follte den Entwurf einer Ber: 
faffung liefern, und mußte doch nicht, auf welche Grundlage er diefe Ver— 
faſſung ftellen follte. Der gegenwärtige Zuftand war vollkommen unregels- 
mäßig, halb Anarchie, Halb Gewaltherrſchaft. Die Souveränität war von 
Recht? wegen und dem Namen nah in den Händen einer Berfammlung 
concentrirt, die ſich Tängft nicht mehr als Vertreterin der öffentlichen Meinung 
anfehen fonnten. Und da die Nationalverfammlung ihre Souveränität doc 
nur im QAuftrage des Volks, des alleinigen höchſten Souveräns, feit dem 
Sturze de Faiferlihen Regimes, ausübte, fo mußte die Stellung der Ber» 
fammlung von dem Augenblik an gefährdet fein, wo fih ein Gegenſatz 
zwifchen ihren und den im Volke herrſchenden Anfchauungen unzweideutig 
herausſtellte. Daß diefer Gegenfas vorhanden ſei, war die beftändig wieder⸗ 
holte Behauptung der NRepublifaner und auch der Bonapartiften und alle 
Erfagmwahlen, auf die wir noch an einer anderen Stelle zurüdfommen werden, 
bewiefen ja in der That, daß dad Königthum, deffen Wiederherftellung doc 
noch immer das höchſte Ziel der parlamentarifhen Mehrheit war, im Volke 
allen Boden verloren hatte. Die entjchiedenen Republifaner hatten denn 
daher auch von Anfang diefer Verſammlung jede conftitutrende Befugniß ab- 
gefprochen, ihre ungefäumte Auflöfung und die Wahl einer conftituirenden 
Berfammlung gefordert. Die gemäßigten, fogenannten confervativen Republi- 
faner waren im PBrincip im Grunde mit jenen ganz einverftanden, fcheuten 
fi aber doch, die Confequenzen des Princips zu ziehen, weil fie fürchteten, 
dag aus Neuwahlen eine radicale Berfammlung bervorgehe nn der Ber- 

©renzboten IV. 1874, 


402 


faffung ein ultrademofratiiche8 Gepräge aufdrüden mürde, während das Ideal 
der confervativen Republikaner, die fih um Thiers geichaart hatten und ihn 
ald Führer verehrten, eine parlamentarifche Republif war, welche genügende 
Bürgfchaften gegen die von den NRadicalen angeftrebte Alleinherrfchaft der 
Demokratie böte. Denn mochte aud in Frankreich jede Partei es für noth- 
wendig halten, mit Worten fi zum demofratifchen Princip zu befennen: in 
der That beftand doch zmwifchen den verfchiedenen Claſſen der Gefellihaft ein 
eben fo ſchroffer Gegenſatz, mie zur Zeit des Julikönigthums; ja, die noch 
frifche Erinnerung an den mit Mühe unterdrüdten Communeaufftand trug 
nur dazu bei, den Claſſenhaß zu immer höherer Erbitterung zu fteigern; 
und wie fehr man fi auch bemühte, die focialen Reidenfchaften zu verhüllen: 
daß unter der trügerifchen Aſche die Gluthen des Hafjes fortglimmten, ohne 
dag es Fünftlicher Mittel bedurfte, um fie zu fohüren, dad mußte man auf 
der einen, wie auf der anderen Seite. War doch der Schreden, mit dem 
einige Wahlerfolge der Madicalen die befigenden Claſſen erfüllt Hatten, eine 
der treibenden Urfahhen zu Thierd’ Sturz geworden. Dur diefe Erfahrung 
belehrt, waren die Radicalen vorfichtiger geworden, und ihre Zurüdhaltung 
ſchien die befigenden Glaffen einigermaßen berubigt zu haben; fobald fie aber 
bei irgend einer Gelegenheit von den Gemäßigten fih trennten und ihre 
Farbe zeigten, wurde es offenbar, daß die Beruhigung nur fehr oberflächlich 
gewefen war; e8 bedurfte nur eines handgreiflichen Hinmweijed auf das Dafein 
der Radicalen, um von Neuem Schreden und Sorge in den der Ruhe be- 
dürftigen Kreifen der Bevölkerung zu erweden. Hinter den ſtaatsrechtlichen 
und Berfafjungsfragen, welche im Grunde nur die Politiker erhigten, Tauerte 
drohend die fociale Frage, um welche die Bevölkerung fi gruppirt. Zus 
weilen trat, trotz aller Vorficht, felbft in der Nationalverfammlung, der 
Claſſengegenſatz ſchroff zu Tage, fo gelegentlich der Steuerdebatte, die mit 
großer Keidenfchaftlichkeit geführt wurde. Die Yinanznotb war groß; vor 
Allem die Militärverwaltung nahm ungeheuere Summen in Anfpruh und 
fonnte dabei doch dem Friegerifchen Eifer der Verfammlung Faum genug 
thun; ja es fam vor, daß die Regierung Mehraudgaben, weldhe von befon- 
ders eifrigen Mitgliedern, wie Gambetta, gefordert wurden, aus finanziellen 
Nüdfihten ausdrüdlich zurückweifen mußte. Leon Say wünſchte eine augen» 
blickliche Erfparnig durch Herabminderung der Schuldenamortijationdquote 
um 50 Millionen zu erzielen; aber fein hierauf bezüglicher Antrag wurde 
den Wünſchen ded Finanzminifterd entfprechend abgelehnt. Als einziges 
Mittel zur Befriedigung der an den Staat geftellten Anſprüche bot fi alfe 
nur die Einführung neuer und die Erhöhung älterer, und zwar weit über- 
wiegend indirefter Steuern dar, da, wie wir ſchon an einer anderen Stelle 
ausgeführt haben, eine einigermaßen erhebliche Einfommenfteuer in Frankreich 


403 


als entfchieden foctaliftifche oder mwenigften® dem Socialismus in die Hände 
arbeitende Einrichtung gilt. Die Aufgabe Magne's war unter diefen Um— 
ftänden fehr ſchwierig: um nicht eine Claſſe ausfchlieglih zu belaften, mußte 
er ein höchſt verwickeltes, die verfchiedenartigften Gegenftände des Verbrauchs 
und des Erwerbs treffendes Syftem von Steuern vorfhlagen. Die Folge 
davon war aber, daß von allen Seiten Lärm gefchlagen wurde, daß bald 
der Aderbau, bald Handel und Induſtrie über übermäßige Belaftung Klage 
erhoben: Hatte doch auch Thierd ſchon ähnliche Erfahrungen machen müſſen. 
Die einzige finanzielle Macht, die auf Magne's Seite ftand und ihm aller 
dings eine überaus ftarfe Stüße gewährte, war die Börfe, melde vor Allem 
eine glüdlihe Erfüllung der eingegangenen BVerbindlichfeiten von dem Staate 
forderte und in diefer Beziehung zu Magne's Energie und gutem Willen ein 
faft unbegrenztes Vertrauen hatte. Bei Gelegenheit der Steuertabelle nun 
fam es vor, daß Magne fich über den engherzigen Eigenmuth der Snduftriellen 
und Kaufleute beſchwerte, die nur darauf bedacht wären, alle Raften von 
ihren Schultern abzumälzen. Dies Wort wirkte wie ein Feuer, das in eine 
Bulvertonne geworfen wird, das Signal zu einem Claſſenkampfe war gegeben. 
Lockroy von der äußerſten Linken benutzte die Gelegenheit, um einen heftigen 
Angriff gegen die Gapitaliften, Rentiers und Grundbefiger zu richten, dem 
Dufaure, als Vertreter des Bürgerthums, mit einem eben fo heftigen Ausfall 
gegen die Dummen, Faulen und Neidifhen und einer Kobrede auf den 
Patriotismus und die einfichtövolle Uneigennüsigfeit der Neichen erwiderte. 
Die Organe der Linken felbft bemühten fih, durh Desavouirung Lockroy's 
den peinlihen Eindruck, den feine Worte auf die wohlhabenden Claffen ge= 
macht hatten, abzufchwächen. Aber dad Wort war einmal geſprochen, und 
feine Mißbilligung desfelben Eonnte hindern, daß e8 als unmillfürlicher Aus: 
bruch eines glühenden Haſſes, der für die Zukunft die furchtbarften Stürme 
in Ausficht ftellte, aufgefaßt wurde. Was hatte man zu erwarten, wenn die 
Partei, ala deren MWortführer Lockroy aufgetreten war, einſt and Ruder 
füme? Ihr Generalftab und ein großer Theil ihrer bewaffneten Macht be- 
fand fih auf den Bagnod und in Neucaledonien: würde aber ein Negiment 
der gemäßigten Linken dem Verlangen nad Umneftie und BZurüdberufung 
der Verbannten auf die Dauer MWiderftand leiten können ? 

Das unter folchen Berhältnifien die gemäßigten Republikaner einen Sieg - 
ihrer radicalen Bundesgenoffen fait eben jo fürdhteten, wie die Pläne ihrer 
monarhifchen Gegner ift erklärlich genug: und daher wünſchten fie Nichts 
fehnliher,, ald daß es der gegenwärtigen Verfammlung gelingen möge, die 
Republik mit folhen Inftitutionen audzuftatten, die eine ſichere Schugwehr 
gegen das Andringen der revolutionären Elemente böten. Die Frage, ob die 
radicale Partei in verfaffungsmäsigen Beftimmungen ein Hinderniß für die 


404 


Berfolgung ihrer Pläne fehen würde, Ite man dabei ganz außer Acht. Man 
möge nur die Republik conftituiren, die Regierung mit parlamentarifchen 
Einrihtungen umgeben, dann werde Vertrauen und innerer Frieden zurüd- 
fehren. Es war das eine thörichte Hoffnung, aber begreiflich ift es immerhin, 
dag man fie hegen fonnte, daß man troß aller traurigen Erfahrungen an 
dem Vertrauen auf die Kraft der Inſtitutionen fefthielt. Denn mer diefe 
Hoffnung aufgab, dem blieb ja nur die Zuflucht zu der ftarfen perfönlichen 
Negierung des Kaiſerthums übrig: des Kaiſerthums, dem man fchmeigend 
gegrollt hatte, fo lange e8 beftand, und das man für Frankreichs Unglüd 
verantwortlich machte, nachdem es gefallen war. 

Ueber die verfafjungsmäßigen Bürgfchaften würde fich zwiſchen den con 
ftitutionellen Republifanern und den gemäßigten Monardiften, die ja derfelben 
politiihen Schule angehörten, wohl eine Berftändigung haben erzielen Laffen, 
mwenn die Oberhauptäfrage fie nicht getrennt hätte. Hier lag doch die un. 
überwindlihe Schwierigkeit, an deren Ueberwindung die Dreifigercommiffion 
fi) vergebens zerarbeitete, da8 Problem, das fih um fo unlösbarer erwies, 
je eifriger man nad) einer Löſung ſuchte. Man Iebte in einem jeder Organi- 
fation entbehrenden Zuftande, den man Republif nannte und nennen mußte, 
eben meil es nicht die Monarchie war. Jetzt follte man diefen Zuftand or 
ganifiren. Dazu maren die Republikaner, wenigften® die gemäßigten, bereit, 
und die radicalen würden fich fehr gern gefügt haben. Man war bereit, die 
Herrihaft Mac Mahon's auf fieben Jahre anzuerkennen, aber ausdrüdlid 
ala eine republifantihe Gewalt. Die Republikaner hatten beit der Gründung 
ded Septennats deshalb ihre Zuftimmung von der Bedingung abhängig ge 
macht, daß die Gonftituirung der Republif der Vollmachtenverlängerung 
vorangehen müſſe. Mit diefen Vorlagen waren fie nicht durchgedrungen, 
das Septennat war gegründet, war die einzige ſtaatsrechtlich feitftehende, von 
der Frage nah den Verfafjungsgefegen ganz unabhängige Thatfache ge 
worden: fie hatten diefe Thatfache anerkannt, forderten aber jetzt, daß bei der 
Berathung und Beſchlußfaſſung über die Verfaſſungsgeſetze die Republik aus 
drücklich als verfaffunggmäßige Staatdform mit einem auf fieben Jahre ge 
wählten Präfidenten an der Spite anerkannt werde. Die Gegner der Republif 
faßten dagegen das Septennat, fo weit fie e8 überhaupt als unantaftbar ans 
- erfannt, als eine ganz befondere, keineswegs principtell republifanifche Inſti— 
tution auf, als eine Inftitution, die nicht die Republik begründen, fondern 
die Monarchie vorbereiten ſolle. Aber auch unter den Monardiften ſelbſt 
errichten verfchiedene Anfichten. Abgeſehen von denjenigen, welche die bindende 
Kraft des Beichluffed vom 20. November überhaupt in Frage ftellten, wollten 
einige das Septennat ald ein rein perfönliches Regiment organifiren, andere 
wollten ihm infofern einen unperfönlichen Charakter geben, als fie in bie 


405 


Verfaffungägefege eine Beſtimmung aufgenommen zu fehen mwünfchten, welche 
die Uebertragung der Vollmachten Mac Mahon's für den Fall feine? Nüd- 
tritts, ſeines Todes oder des Ablaufs feiner fiebenjährigen Präfidentfchaft 
regelte. Diefen Standpunkt nahmen die Drleaniften ein, meil fie als mäch— 
ttgfte parlamentarifche Partei überzeugt waren, daß es ihnen mit Hülfe eines 
aus Mitgliedern ihrer Partei zufammengefegten Senates gelingen werde, den 
Herzog von Aumale die Nachfolge zu fichern: während die Bonapartiften 
darauf beitanden, dag Mac Mahon’d Nachfolger nur von dem Volke felbit 
ernannt werden Fönnte. 


Die Republikaner Hatten bei diefem chaotifhen Gewirr der verjchieden- 
artigften Abfihten und Anfichten den Vortheil, daß fie mit einem bereit3 in 
feinen Grundzügen auögearbeiteten Berfaffungsdentwurfe in die Schranken 
treten Fonnten. Denn die Dufaure’fchen Entwürfe, die der Verfammlung vor 
der verhängnigvollen Kataftrophe im Mat ded vorigen Jahres vorgelegt 
waren, galten den confervativen Republifanern, von einigen durch die Ber- 
bältnifje bedingten Abänderungen im Einzelnen abgefehen, als volllommenited 
deal der Berfaffung einer Republik, wie fie diefelbe fich dachten. Nach diefem Ent- 
wurf follte neben die aus 500 Mitgliedern beftehende Repräfentantenfammer 
mit fünfjährigem Mandat ein Senat aus 250 Mitgliedern beftehend, treten, 
gewählt durch das allgemeine Stimmrecht, aber aus beftimmten Kategorien; 
eine weitere Beſchränkung war, daß die Mitglieder das dreißigfte Lebensjahr 
überfchritten haben follten, während für die Wählbarfeit zur Abgeordneten: 
fammer nur ein Alter von 25 Jahren erfordert wurde. Das Mandat der 
Senatoren follte zehnjährig fein, alle zwei Jahre follte ein Fünftel aus- 
[heiden. Der Präfident follte auf 5 Jahre durch ein aus dem Senat, der 
Repräfentantenfammer und je drei Delegaten der Generalräthe erwählt werden 
und dad Recht zur Auflöfung der Repräfentantenfammer unter Zuftimmung 
des Senated haben. Diefen Dufaure’fhen Entwurf faßten in feinen mefent- 
lichen Beftimmungen die NRepublifaner auch jett noch ind Auge, wenn es fi 
um die Conftituirung der Republik handelte, während ihn alle Fraktionen 
der confervativen Wartet einftimmig für völlig unannehmbar erflärten. Schon 
der eine Umftand, daß in dem Entwurfe die Präfidentenwürde als eine 
bleibende, regelmäßige Inſtitution organifirt wurde, genügte zur VBerurtheilung 
der ganzen Vorlage. Auch ein aus dem allgemeinen Wahlrecht hervor» 
gegangener Senat entſprach weder den Wünfchen der Mehrheit, noch denen 
der Regierung, die für fich felbft einen hervorragenden Antheil an der 
Bildung der höchften politifhen Körperfchaft forderte. in dritter Mangel 
ded Entwurf war vom Standpunkt der Confervativen mit Ausnahme der 
Bonapartiften die unbefchränkte Anerkennung des allgemeinen Stimmredhts, 


406 


an defien Modification oder „Moralifirung” man nun fehon feit einigen 
Jahren, jedoch ohne den geringiten Erfolg, arbeitete. 

Man hat die Mehrzahl häufig beichuldigt, daß es ihr an dem guten 
Willen fehlte, dem beftehenden Zustande durch Herftelung einiger organiſcher 
Einrichtungen eine fefte Form und die Bürgfehaft einer gewiſſen Dauer zu 
geben. Diefer Vorwurf war indeffen niht ganz gerecht. in der Zeit freilich, 
wo die monarchiſchen Parteien fi der Hoffnung auf eine unmittelbar bevor 
ftehende MWiederheritellung des Königthums hingaben, dachten fie nicht daran, 
einen Zuftand zu organifiren, dem man ja gerade ein raſches Ende bereiten 
wollte. Auch unterliegt es feinem Zweifel, daß zu der Erbitterung der Con- 
fervativen gegen Thiers, welche die Kataftrophe- vom 24. Mat herbetführte, 
das Berlangen, einer Berathung der conftitutionellen Gefege aus dem Wege 
zu geben, mwefentlich mit beigetragen hatte. Aber damald war die Mehrheit 
doch nicht fomohl über die Zumuthung überhaupt, dem Proviſorium eine 
gewiſſe Feſtigkeit zu geben, erbittert gewefen, als vielmehr über jene beftimmten 
Geſetze, welche Thierd der Nationalverfammlung aufdrängen wollte. Hätten 
fi die Dufaure’fchen Gefege ald proviforiich angekündigt, hätten fie in Feiner 
Meife der Zukunft vorgegriffen, fo würde man fich diefelben mit einiger 
Mopdification ohne Bedenken haben gefallen laffen. Aber ein Geſetz über die 
Präfidentenwahl mußte von allen monardifchen Parteien zurückgewieſen 
werden. Während der Fufiondbeftrebungen rubten natürlich alle auf Ber 
fallungsfragen bezüglichen Arbeiten. Nach der Verlängerung der Vollmachten 
Mac Mahon's lag es aber augenfcheinlich im Intereſſe der Gonfervativen 
felbft , die Drganifationsarbeit ernftlih und nicht etwa bloß zum Schein in 
die Hand zu nehmen. Man hatte Mac Mahon eine Stellung eingeräumt, 
die ihn thatfächlih aus einem Beamten in einen Herrfcher mit ganz un 
beftimmten und darum unbefchränften Vollmachten verwandelte. Begrenzen 
fonnte man feine Macht nur durch organifche Geſetze. Mac Mahon forderte 
diefelben in Folge ded natürlichen Triebes jeder Negierung, ſich mit Inſti— 
tutionen zu umgeben, die, wenn fie ihr gewiffe Schranken ziehen, ihr doch 
andererfeitd den Charakter der Negelmäßigfeit und damit eine moralifche 
Sicherheit verleihen, deren auch die Eräftigfte Dietatur entbehrt. Indeſſen 
Mac Mahon Eonnte der conftitutionellen Gefege im Nothfall immer ent: 
behren. Die Majorität bedurfte ihrer aber um fo dringender, weil fie fid 
vor einer Vergewaltigung durch die neben ihr emporgefommene , ihr bereits 
überlegene Macht und durch eine, wenn auch nur auf die Dauer von 7 Jahren 
berechnete Organifation der Staatdgewalten, durch eine feite Regelung ihrer 
Beziehungen zu einander ſchützen konnten. Wenn die Legitimiften und z. Th. 
auch die Bonapartiften einer Organifation des Septennats abgeneigt waren, 
jo hatte das einfach in Ihrer theils entſchieden feindlichen, theild zmeideutigen 


407 


und abmartenden Haltung dem Septennat gegenüber feinen Grund; ein 
Theil der Bonapartiiten wünfchte auch wohl, in der Hoffnung, Mac Mahon 
völlig für die Faiferlihe Sache gewinnen zu können, thn in einer möglichft 
unabhängigen, von allen conftitutionellen Schranken freien Stellung zu fehen. 
Die große Mehrzahl der Gonfervativen aber hatte alle Urfache, den Wünfchen 
Mac Mahon’8 nah Organifirung des Proviſoriums bereitwillig entgegen- 
zulommen, und zwar möglichft rafch, denn wer Eonnte wiffen, ob Mac Mahon 
nit mit der Beit zu der Einfiht gelangen merde, daß gerade die Negellofig- 
feit der öffentlichen AZuftände ihn zum Schiedörichter über die Zukunft des 
Landes machen müſſe? Einen befonderen Grund zur Befchleunigung der 
Drganifationdarbeiten, der ſich allerdings nicht ganz unummunden ausfprechen 
ließ, hatten die Orleaniſten: fie waren die einzige Partei, die auf parlamen- 
tariſchem Wege an das Ziel ihrer Wünfche zu gelangen hofften, fie bedurften 
daher der conftituttonellen Geſetze ald Mittel, um die geplante orleaniftifche 
Reftauration vorzubereiten und einzuleiten. 


An dem guten Willen, das Septennat zu organifiren, wie der ftehende 
Ausdrud war, gebrach es alfo der überwiegenden Mehrheit der Gonfervativen 
nicht, fondern nur an der Fähigkeit. Auch die Regitimiften und Bonapartiften 
würden fich fhließlich zur Mitarbeit an den Verfaſſungsgeſetzen haben bereit 
finden lafjen, wenn alle Gruppen der Mehrheit fi) auf neutralem Boden 
zufammengefunden hätten. Die Regierung fagte zwar: das Septennat ift 
der neutrale Boden, in der That aber war und blieb das Septennat der 
Ausgangspunkt für alle möglichen Sonderbeftrebungen. Es war eben un— 
möglich, eine Verfaſſung zu erfinnen, die in Feiner Weiſe der Zukunft vor: 
gegriffen hätte. Bei der Zufammenfesung des Senats, bet den Beftimmungen 
über die Uebertragung der Gemalten handelte es fih, von den Republikanern, 
um die man fi) damald wenig fümmerte, abgejehen, doch vorzugsweiſe um 
die dynaftifche Frag. Man mochte bei irgend einem diefe Punkte be- 
treffenden Vorſchlag die Tendenz auf? Sorgfältigfte verhüllen, in diejen 
Dingen befaßen die rivalifirenden Parteien einen durch ein fehr gerechtfertigtes 
Miptrauen zur höchſten Volltommenheit ausgebildeten Scharfblid, der alle 
Hüllen, hinter denen der Gegner feine Gedanken und Abfichten zu verfteden 
ſuchte, durchdrang. Der Waffenftillftand, auf dem die Eriftenz der Majorität 
berußte, war zu loder und zu wenig aufrihtig, um auf die Probe einer 
Verfaſſungsdebatte geftellt werden zu können. 

Unter diefen Umftänden war es nicht zu verwundern, wenn der Aus— 
ſchuß, troß allen Fleißes und guten Willend nicht von der Stelle Fam. Um 
die Arbeiten zu theilen und zu befchleunigen, hatte man einen Nebenausſchuß 
von 9 Mitgliedern ernannt, und demjelben den Auftrag ertheilt, die Organi— 


fatton der öffentlichen Gewalten in Erwägung zu ziehen, während ber 
Dreißigerausfhuß felbit fih an dem Wahlgeſetze abarbeitete. Aber ftatt 
Rath zu ertheilen, brachte e8 die Neunercommiffton nur dazu, Fragen aufzu— 
werfen, über melde die Gefammtcommiffion zu entfcheiden hätte. Dad 
„Auäftionnär“ der Neuner deutete eine Löſung und Entfcheidung nicht einmal 
an, ed gab nur ein abjchredendes Bild der Schwierigfeiten, mit welchen man 
zu kämpfen hatte. Melchen Titel fol der Staatächef führen? fol ein Vic 
präfident ernannt werden? Dann eine Anzahl Fragen nach der Zufammen 
fegung und den Befugnifjen des Senats, dem Auflöſungsrecht des Präſt 
denten u. f. w. u. f. w. Alles Fragen, die hundertmal erörtert waren, und 
dur deren ſyſtematiſche Zufammenftellung die Berathungen der Commiffion, 
die nicht nach Problemen, fondern nah Köfungen Verlangen trug, nicht im 
geringften gefördert wurden. 

Der parlamentarijhen Initiative darf auch unter den günftigften Um: 
ftänden, wenn eine nicht nur im Verneinen und im Widerftande, fondern au 
in ihren Bielen einige Mehrheit vorhanden ift, nicht zu viel zugemuthet wer: 
den. Große Verfammlungen, gefeßgeberifhe Körperfchaften bedürfen der Lei: 
tung, und diefe Leitung können nicht einige Parteiführer, fondern muß die 
Regierung übernehmen. Berfäumt fie diefe Pflicht, fo verliert fie die Her 
haft über ihre Anhänger, und diefe, im Gefühl der Nathlofigkeit und Hülf 
lofigfeit, büßen den Zufammenhang unter einander und mit der Regierung 
ein; die Mehrheit nutzt ſich ab, zerfällt, hört auf, eine Stütze der Regie 
rung zu fein. In mie viel höherem Grade werden aber diefe Uebelftände 
hervortreten müffen, wenn die fich felbft überlafjene Mehrheit nur eine ſchein— 
bare, wenn als einziges einigended Band nur der Haß gegen einen gemein- 
famen Feind vorhanden ift. In diefer Rage aber befand fich die Mehrheit 
der franzöfifchen Nattonalverfammlung. Ste follte conftituiren und zerfiel in 
Gruppen, deren jede ein anderes Ziel vor Augen hatte. Natürlich Fam der 
Ausſchuß, in dem alle Gegenfäse der Verſammlung vertreten waren, nicht 
von der Stelle; dabei drängte die Regierung, vielleiht mehr no, um ihren 
Eifer zu zeigen, ald in dem aufrichtigen Wunfche, die Verfaſſungsarbeit 
raſch zum Abſchluß zu bringen. Wenigſtens konnte fie fehr wohl wiſſen, 
daß alle Drängen vergeblih fein mußte, fo lange fie den Ausſchuß ſich 
felbft überließ, und daß das einzige Mittel feine Arbeiten zu befchleunigen, 
fih in der fachlichen Keitung der Verfammlung bot. Mit einem Worte: 
Wollte die Regierung rafcher zum Ziele fommen, fo mußte fie felbft die Ent- 
würfe audarbeiten und der Verfammlung, refp. dem Ausſchuß zur Berathung 
vorlegen. Der Erfolg einer ſolchen Maßregel wäre natürlich immerhin im 
hoben Grabe zweifelhaft geweſen; ohne diefelbe mußten aber die Arbeiten ded 
Ausſchuſſes unzweifelhaft erfolglo8 bleiben. Jede Initiative in der Ber- 





409 


faffungäfrage Iehnte die Negierung aber ab, unter dem Vorwand rückſichts— 
vollfter Wahrung der Privilegien der fouveränen Verfammlung, der in der 
eonititutionellen Frage das erſte Wort gebühre, in der That aber, weil fie 
fi vor einer Maßregel ſcheute, die, wenn fie nicht den Beifall der Mehrheit 
gefunden hätte, die Stellung des Miniſteriums in hohem Grade compromit- 
tirt haben würde. jeder fuchte dem Andern mit der Initiative auch die Ver: 
antwortung zuzufchteben, und gerade dieſer Mangel an Gelbftbemußtfein 
und moralifhem Muth mar eind der ſchlimmſten Symptome der Erſchlaffung 
des öffentlichen Geiftee. 

Bon Zeit zu Zeit ſah fih Herr von Broglie allerding® gendthigt, im 
der Dreißtgercommiffton zu erjcheinen, zur Eile zu mahnen und einzelne An» 
deutungen über die Wünfche der Regierung zu geben, die aber viel zu unbe 
fimmt waren, um den unglüdlihen Mitgliedern des Ausſchuſſes als Reitftern 
zu dienen. Es war dem Ausfhuß wenig damit geholfen, wenn der Minifter 
gelegentlich erklärte, ein Oberhaus nad dem Entwurfe des Herrn Dufaure 
würde nod) radicaler ausfallen, ald die zweite Kammer ; wenn er ganz allge 
mein andeutete, er werde es vorziehen, daß der Senat theils von der Regie 
rung, theils von den Generalräthen, gelehrten Körperfchaften u. f. w., er- 
nannt werde, wenn die Negierung über die gefährlichite aller Fragen, die 
Vebertragung der Gewalten Hin und wieder ein dunkles Näthfelmort verneh— 
men ließ. Beſonders dringlid waren Broglie's Mahnungen, die Berathung 
des Wahlgeſetzes zu befchleunigen, und in der That hatte er alle Urfache, 
über das bedächtige und bis zur Pedanterie gründliche Verfahren des Aus- 
ſchuſſes ungehalten zu fein. Zwei und zwanzig Sigungen hatte man bereits 
mit der Prüfung aller denkbaren Wahlſyſteme hingebracht, ohne daß irgend 
eins Gnade vor den Augen der firengen Kritiker gefunden hätte. Neue An— 
träge, 3. B. von Racombie, vermehrten nur die Verlegenheiten, unter dem 
vielen Guten das Beſte zu wählen. Nun erjchien eine? Tages Broglie im 
Ausſchuß, nicht nur eine beftimmte Anficht zu Außern, nicht nur ein sic volo, 
sic jubeo zu ſprechen, fondern um alle biöher gemachten Vorſchläge zu Eriti» 
firen und die Sache von allen Seiten zu beleuchten, was der Ausſchuß felbft 
ſchon wochenlang gethan hatte. Außer den Radicalen waren fo ziemlich alle 
Parteien von der Vermerflichfeit des Liſtenſerutinismus überzeugt, natürlich 
auch Herr von Broglie. Nichtsdeftoweniger fiel e8 ihm durchaus nicht ein, 
fh wentgftend über diefen Punkt Elar auszufprechen, vielmehr trieb er die 
Dbjectivität und Unparteilichkeit fo weit, den Nachtheilen des Syſtems ge 
wilfenhaft die Vorthetle gegenüber zu ftellen. Als er im Kaufe ded Februars 
wieder einmal den Ausſchuß zur Eile trieb, forderte ihn Tallon endlich auf, 
doc jelbft den Entwurf eines Wahlgeſetzes einzubringen, was Broglie indeſſen 


unbedingt ablehnte. 
Örenzboten IV. 1874, 52 


410 


Nach endlofen Debatten brachte man endlich einen Entwurf zu Stande, 
der mancherlei Befchränfungen in Bezug auf Dauer des Mohnfites, Alter, 
Incompatibilät enthielt, die grade wett genug gingen, um den Entwurf un 
populär zu machen, aber nicht weit genug, um fi von demfelben einen gro, 
Ben Einfluß auf die Wahlen verfprechen zu können. Aber unmittelbar nad 
Einbringung der Vorlage wurde (24. März) ein Antrag angenommen, die 
Situngen der Berfammlung vom 28. März bis 12. Mat zu vertagen, wo 
mit alfo auch die Beſchlußfaſſung über das einzige Geſetz, welches die Com— 
miſſion zu Stande gebracht, bis ind Unabfehbare verfchoben wurde. Zugleich 
gelangte ein Antrag der Regierung zur Annahme, nad welchem die Wahlen 
der Municipalräthe, die gefeglich vor dem 30. April ftattfinden mußten, bis 
nad dem Zuftandefommen des Wahlgeſetzes vertagt wurden. 

Dad alſo war das Ergebnif der Seffion in Betreff der Verfaſſungs— 
frage: ein mühfam zu Stande gebrachter Gefegentwurf, deſſen Schickſal noch 
im hoben Grade zweifelhaft war, der Röfung der eigentlich conftitutionelen 
Fragen war man aber noch nicht um einen Schritt näher gekommen, ja man 
begab ſich mit der feften Ueberzeugung in die Ferien, daß man am Schlufe 
der nächſten Seſſion noch auf derjelben Stelle ftehen werde, wie gegenmärtig. 
Der Gedanke, im Laufe ded Sommers die Entfcheidung herbeizuführen, Eonnte 
bereit3 am Schluß der Winterfeffion ald aufgegeben gelten. 

Wenn die Regierung den conftitutionellen Fragen gegenüber fich ftetd 
mit großer Zurüdhaltung geäußert hatte, fo war fie um fo mehr bemüht, 
zu zeigen, daß fie die VBollmachtöverlängerung ald unmiderruflich anfehn und 
jeden Verſuch, diefelbe in Frage zu ftellen, als ein Attentat gegen den Nas 
tionalwillen zurückweiſen und ahnden werde. Gleich bei Veröffentlichung dee 
Mairesgeſetzes im Januar hatte Broglie ein Rundſchreiben an die Präfekten 
gerichtet, in welchem die verfaſſungsmäßige Reichsbeſtändigkeit ded Septennatd 
nahdrüdlih betont und die Präfekten angemwiefen wurden, die Regierung 
Mac Mahon's im Intereſſe der von ihr vertretenen moralifchen Ordnung aufs 
Entfchiedenfte zu unterftügen und bei der Beitätigung, reſp. Entlaffung der 
bisher im Amte befindlichen Maires — durch das neue Gefeg waren die 
Vollmachten jämmtlicher Maired erlofchen — vorzüglich ihre Stellung dem 
Septennat gegenüber ind Auge zu faflen. Die Republikaner waren mit diefem 
Erlaß, wenngleich ihnen die in Ausficht geftellte Maßregelung aller repu- 
blifanifchen Maires höchſt anftößig war, doch, da er den Nopaliften alle 
Hoffnung abzufchneiden ſchien, nicht ganz unzufrieden, und beabfichtigten den 
Herzog von Broglie durch eine Interpellation zu einer entfchiedenen Erklärung 
in ähnlichem Sinne von der Tribüne zu veranlaflen. Die Interpellation wurde 
indeſſen bi in den März hinein verfchoben, und dann von Broglie in einer 
halb ausweichenden Weife beantwortet, die Niemand ganz befriedigte, aber 





vr 


411 


auch nach Feiner Seite hin eine entfchiedene Blöße bot. Sehr entrüftet waren 
über das NRundfchreiben dagegen die Regitimiften, denen Broglie in feiner 
doppelgängigen Weife vor der Abſtimmung über das Gefeg nad ihrer, von 
der andern Seite jedoch beftrittenen Behauptung erklärt haben follte, daß das 
Septennat fein Dogma fei. Bollfommen befriedigt Sprachen fich, ihrer allge 
meinen Haltung gegenüber dem Septennat entſprechend, nur die Orleaniften. 
aus, die Broglie Alles verziehen, fo lange fie ihn als ihr Werkzeug glaubten 
anfehben zu fönnen. Einen noch bedeutendern Eindrud machte e8, daß Mac 
Mahon felbft in einer Unterredung mit dem Präfidenten des Handeldtribunale 
In Paris feine Vermunderung darüber ausſprach, daß man in Betreff der 
Stabilität der Regierung fich Befürchtungen Hingeben könne und dann hinzu: 
fügte: die Nationalverfammlung hat mir die Erecutivgewalt auf 7 Jahre 
anvertraut und als Chef der vollziehenden Gewalt werde ich während dieſes 
Zeitraumd dafür Sorge tragen, daß diefer Beichluß der Nationalverfammlung 
aufrecht erhalten wird. 

Das war ein ftolzed Wort. Die Parteien fühlten, daß fie fich einen Ge- 
bieter gegeben hatten, daß die Gewalt von dem rechtmäßigen Souverän auf 
den Delegirten der Nationalverfammlung übergegangen war. Dad mar 
eine Thatfache, mit der jede Wartet, die nicht wie die Regitimiften, ausſchließ— 
lid den Eingebungen des Verdruſſes und der Retdenfchaft folgte, rechnen 
mußten. Selbft die Bonapartiften, mie ſehr mit ihren Hoffnungen aud ihr 
Hohmuth gewachſen war, fahen ein, daß ihr Vortheil es erheifchte, fih mit 
dem Septennat auf möglichft guten Fuß zu ftellen, troß Broglie und den 
Drleaniften, die jede Gelegenheit benusten, um mit ihrem Mac-Mahonigmud 
- Staat zu machen. Ein bonapartiftifche® Provincialblatt, das fi unehrer- 
bietig über da® gegenmärtige Syſtem audgefprochen hatte, erhielt von Rouher 
eine Zufchrift, in welcher der Führer der Bonapartiften erklärte, man müſſe 
das Septennat refpectiren, denn dasſelbe fet der Ausdruck des Willend der 
Nation und laſſe doch die Zukunft offen. Zu bedauern fei nur, daß Mac 
Mahon in feiner Unparteilichkeit nicht beffer gegen Eleinliche Intrigue ge 
[hüst werde. Das Septennat fei ein Waffenftilftand und dürfe von der 
Partei nicht ald eine Art von Schirm gemißbraucht werden, hinter den man 
fi erft verſteckt, um ehrgeljige Pläne zu fehmieden, Eine directe Berufung 
an den Willen der Nation ſei erforderlich, um alles durch den Aufitand vom 
4. September 1870 herbeigeführte Unheil wieder gut zu machen. Wenn der 
Tag diefer Berufung gefommen ſei, werde fich zeigen, daß e8 nur zwei Formen 
für die Regierung Frankreichs gebe: die Republik oder das Katferthum. 

Diefe Erklärung für das Septennat war allerdings außerordentlich ver- 
claufulirt, aber fie enthielt doch immer eine Anerkennung, die für Mac 
Mahon fehr werthvoll war, namentlich auch deshalb, weil felbft ein bedingter 


412 


Anſchluß der Bonapartiften ihm eine freiere Stellung den Täftigen und com- 
promittirenden Zudringlichkeiten der Drleaniften gegenüber gab. Innerlich 
ftand er den Drleaniften doc zu fern, um nicht die Rolle, die fie ihm auf: 
nöthigen wollten, als eine Demüthigung zu empfinden und ed mußte ihm 
daher fehr willkommen fein, wenn orleaniftifcher Einfluß dem bonapartifttichen 
dad Gegengewicht hielt. Und vor Allem: Mac Mahon bedurfte außer der 
parlamentarifchen Unterftügung, welche ihm die Drleaniften boten, auch eine 
Stütze im Volke felbft, und diefe fand er, wenn er ſich nicht den Republi- 
fanern in die Arme werfen wollte, nur in den Bonapartiften, deren Behaup- 
tung, daß fie allein von allen confervativen Parteien im Stande feien, in 
den Volkskreiſen felbft dem Radicalismus MWiderftand zu leiften, noch im Laufe 
der Seffion dur einen MWahlerfolg, dem erften feit langer Zeit, dem fich in- 
deſſen bald weitere Triumphe anreiben follten, eine Beftätigung fand. 

Seit dem 2. Juli 1871 bis zum Ende des Jahres 1873 hatten im 
Ganzen 138 Wahlen zur Nationalverfammlung ftattgefunden, von denen 
nur 20 zu Gunften der monardhifchen Partei, 118 zu Gunften der Republi- 
kaner auögefallen waren. Befondere bonapartiftifche Kandidaturen waren nur 
ganz vereinzelt und fchüchtern aufgetaucht; die Bonapartiften fahen fehr wohl 
ein, daß ihre Zeit noch nicht gefommen war, und waren zu Hug, um fid 
dur Niederlagen zu compromittiren. Sie agitirten im Stillen mit glänzen 
dem Erfolge in den Maflen und warteten geduldig die Zeit ab, wo fie es 
auf eine Kraftprobe ankommen Iaffen Eonnten. Beſonders troftlod war an 
diefen Wahlergebniffen für die Monarchiften der Umftand, daß fich in ihnen 
ein ſtetiges Machfen der republifanifchen Strömung ausſprach. Bei den 
Wahlen vom 2. Juli 1872 hatten fie von 42 Abgeordneten noch 10 ihrer 
Candidaten durchgefest, am 7. Sanuar von 17 noch 5, von da bi zum 
11. Mat 1873 bei allen Erfagmwahlen überhaupt nur nod 5. Aus den Wah- 
fen vom 12. October, 16. November und 14. December 1873 waren 10 Re 
publifaner und nicht ein einziger Monarchiſt hervorgegangen. Einen um fo 
größeren Eindruf machte es, als bei den Erfagmwahlen vom 8. ebruar, 
während im Departement Haute Saone der monardiitifhe Candidat dem 
Nadicalen Heriffon unterlag, im Departement Pas de Calaid der Bonapartift 
Send mit 70,997 gegen 67,474 Stimmen über feinen republifanifchen Gegner 
den Sieg davon trug. Für die Bedeutung diefed unerwarteten Erfolges ſprach 
der Aerger und die Niedergefchlagenheit der Drleaniften und Republifaner 
noch mehr, als der Jubel der Sieger. Bet den nächſten Wahlen (am 1. März) 
unterlag zwar ihr Gandidat dem Republikaner Lepelit in Vienne, aber mit 
verhältnigmäßig geringer Minorität. Als einen großen Erfolg Fonnten fie 
ed aber betradhten, daß die Regitimiften und die Megierung ſelbſt ſich ge 
nötbigt gefehen hatten, eine offen bonapartiftifhe Candidatur zu unterflügen, 


413 


zum großen Verdruß der Orleaniften, die immer mehr den Muth verloren, 
bei den Wahlen ihre Farben zu befennen. An demfelben Tage wurde in 
Vauclufe Ledru-Rollin gewählt, ein Ereignif, welches von den Confervativen 
und vor Allem von den Bonapartiften ganz in der Art ausgebeutet wurde, 
wie im Mai des vorigen Jahres die Wahl Baradot’2. 


Zu einer großartigen imperialiftifhen Demonftration geftaltete fich die 
Volljährigkeitäfeier ded jungen Prinzen in Chiflehurfl. Dem Eindrud der- 
jelben thaten die Maßregeln, melche die Negierung ergriff, um alle Beamte 
von der Huldigungsreiſe zurüdzuhbalten, durchaus feinen Abbruch, eben fo 
wenig, wie der offene Bruch ded Prinzen Napoleon mit dem Chiffehurfter 
Hofe: der Prinz war bei allen Parteien zu fehr in Mißeredit gerathen, als 
daß der Fatjerlihen Partei aus feinem Abfall irgend ein Nachtheil hätte er- 
wachſen Fönnen. 


Mit ungetheilter Befriedigung konnte Mac Mahon am Schluß der 
Seffion auf den erften Abfchnitt feined Septennats keineswegs zurüdbliden. 
Seine Beziehungen zu den Legitimiften waren entfchieden feindfelig. Mit dem 
Clerus ftand die Regierung auf fehr gefpanntem Fuße, ſeit fie fih, um Recla- 
mationen von Seiten der auswärtigen Diplomatie vorzubeugen, genöthigt ge- 
jehen hatte, einigen Bifchöfen, welche fih in ihren Hirtenbriefen die unfin- 
nigſten Ausfälle gegen Deutfchland und Italien erlaubt und dadurch der zu— 
rücdhaltenden und vorfichtigen Politik des Herzogs von Decazed die größten 
Hinderniffe in den Weg gelegt hatten, zu einer befonnenen Haltung zu mahnen, 
und das Hauptorgan der Ultramontanen, den „Univerd“, auf zmei Monate 
zu fuspendiren. Die Drleaniften waren eigennüßige, und, ſoweit e8 fi) darum 
handelte, dem Septennat im Rande Anhänger zu werben, viel mehr fchädliche 
als nüsliche Bundesgenoffen. Die Republikaner waren wohl bereit, fih Mac 
Mahon anzufcließen, aber um einen Preis den diefer zu zahlen weder Willens 
noch im Stande war. Auch die Bonapartiften ftellten Bedingungen, die Mac 
Mahon menigften® nicht ausdrüdlich annehmen fonnte. Der erfte Verſuch, 
die gefammte Majorität zu einer Septennatöpartei zu verfchmelzen, war als 
völlig mißlungen zu betrachten. Allerdingd war die Regierung entjchloffen, 
fi dadurch von meitern Verſuchen nicht abjchreden zu laffen; aber die Aus: 
fihten auf Erfolg waren äußerft gering. 


Die eine Thatfache ftand jedoch feit, daß, wie unſicher auch Mac Mahon’d 
parlamentarifche Stellung war, er doch die wirkliche Macht in Händen hatte, 
und daß in demfelben Maße, wie dies Allen offenbar wurde, die Macht der 
Nationalverfammlung abnahm. Hier liegen offenbar die Keime eines Fünftigen 
Confliktes. Mit Sorge ſah man daher von allen Seiten der nächſten Seffion 
entgegen. Bofitive Ergebnifje erwartete Niemand von derfelben: man war 





414 


zufrieden, daß man nur hoffen durfte, daß ein Zufammenftoß werde vermie 
den werden; die Nationalverfammlung war fat fomeit gekommen, daß fie, 
feit fie am 12. Januar bei Gelegenheit der Debatte über das Mairesgeſetz 
die Waffen geftredt Hatte, in ihrer Schwäche und Unfähigkeit die einzige 
Bürgſchaft für ihre Eriftenz fah. 

Georg Zelle. 


Slandereien aus London. 
2. 


Während fi der Engländer mit Stolz rühmt, der Individualität und 
Driginalität ded Einzelnen freien Spielraum zu laffen und nichts fo fehr 
verabfcheut, ald äußeren Zwang, felbft wenn derfelbe aus den beften Abfichten 
entfpringt, fo folgt er andererfeit3 doch beinahe ſklaviſch den jemetligen Rich— 
tungen der Mode und hält mit einer Zähigkeit, die wirklich oft einer befferen 
Sache werth wäre, an alten Einrichtungen und Gebräuchen feit, die zwar 
im Allgemeinen manches Gute haben mögen, aber gerade den Einzelnen mit 
dem allerfchlimmiten Zwang belegen. 

Mer erinnert fih nicht noch der Meetings, die allerwärtd® in England 
vor wenigen Monaten gehalten wurden, um der beutfchen Regierung und 
dem deutfchen Volke Sympathiebezeugungen zu dem Kampfe mit Rom zu 
überfenden? Und nun, da die Gonfequenzen dieſes Kampfes immer mehr 
und fehärfer hervortreten, da die Negierung gezwungen ift, gegen Rebellen, 
theilmeife unter Anwendung von äußerer Gewalt, einzufchreiten, nun nehmen 
hervorragende Organe der Preffe mehr oder minder offen für diefe Rebellen 
Partei und beinahe dte ganze englifche Preſſe zieht in einer oft geradezu 
gehäffigen Weife gegen die deutjche Regierung und die nationalgefinnte Preſſe 
los, wo es fih um den Fall Arnim handelt. 

Damald war e8 Mode, Deutfchland zu huldigen, jest ift das Gegentheil 
der Fall, damald war Gladſtone's antiultramontane Richtung am Ruder und 
jetzt haben fi die Engländer durch die patriotifchen Briefe einiger hervor— 
ragenden Katholifen Sand in die Augen ftreuen laffen und können nidt 
begreifen, warum wir Deutfchen nicht desgleichen thun. Die englijche Prefie, 
die fih foviel auf ihre Unabhängigkeit zu Gute thut, iſt jedenfalla fehr ab» 
hängig von der öffentlichen Meinung und es ift wohl außer Frage, daß es 
befier ift, einer einmal al® gut erkannten Regierung treu, eventuell auch gegen 
die Öffentlihe Meinung, zu folgen, als ſtets den Mantel nad dem Winde 


415 


ber ſchon in der Bibel, auf die der Engländer doch fonft fo viel gibt, fo 
treffend harakterifirten Volksſtimme zu drehen. 


Doch der Leſer verzeihe diefe politifchen Betrachtungen, die fi mir im 
Anflug an den Eingang des Briefed unmwillfürlih aufdrängten, ohne beab- 
fihtigt zu fein. Ich wollte weit harmlofere Dinge berühren und zwar zu— 
nächft einige über die befannte, um nicht zu fagen berüchtigte, engliſche 
Sonntagäfeier bemerken. 

Ueberall auf dem Continent ift der Sonntag nicht allein ein Tag der 
Ruhe und Erholung, fondern vor allen Dingen ein Tag der Quft und des 
Vergnügen, dem fich befonders die mittleren und niederen Stände voll hin— 
geben. Daß dabet dann fehr häufig von Erholung nicht viel die Rede ift 
und Ausſchreitungen mancherlei Art vorkommen, liegt in der Natur der 
Sade. Außerdem aber ift der Sonntag auf dem Feitland für eine große 
Maſſe von Kaufleuten und Beamten nit nur Fein Ruhetag, fondern die- 
jelben müflen gerade mit verboppelter Anftrengung ihre Gefhäfte und Ob— 
liegenheiten beforgen und es liegt meiner Anficht nad) ein bedeutender, aber 
auch der einzige Vorzug der englifchen vor der Feitländifchen Sonntagäfeier 
darin, daß died bier nicht der Fall ift, fondern Sedermann wirklich feinen 
vollen Ruhetag hat. Es ift gewiß viel werth, wenn der Familienvater mit 
Beftimmtheit darauf rechnen fann, am Sonntag fih ganz feiner Familie 
hingeben zu können, wenn der Kaufmann unbeforgt darauf, etwa feine 
Kundſchaft an einen feiner Goncurrenten zu verlieren, feine volle Sonntags- 
ruhe genießen kann, weil er weiß, daß alle feine Concurrenten deßgleichen 
tbun, wenn der vielgeplagte Schaffner durch das Ausfallen der Güterzüge 
feinen freien Sonntag hat. In dieſer Hinfiht ift die englifhe Einrichtung 
nachahmenswerth, aber gewiß in feiner andern, denn alle fonft damit in 
Verbindung ftehenden Gebräuche find fo unerträglich Täftig, daß eben ein auf 
feine althergebrachten Einrichtungen ftolzer Engländer dazu gehört, um ſich 
den Schein zu geben, ihrer froh zu werden, denn daß er fie felbit im Ernſte 
lobenswerth finde, möchte ich ſtark bezmeifeln. An fchönen Tagen ift es 
noch einigermaßen erträglih, indem menigften® die reizenden Umgebungen 
Londons für manche fonftige Entbehrung entjhädigen können. Da fieht 
man denn auch Alt und Jung per Omnibus, Dampfihiff oder Eifenbahn 
binausftrömen, fehr häufig das Gebetbud in der Hand und, mie der Eng- 
länder an Werktagen während der Fahrt feine Zeitung lieft, fo lieft er am 
Sonntag im Coupé feinen Pfalm oder fein heiliged Lied, was denn oft zu 
ergöglichen Bildern führt. Es Hat wirklich den Anfchein, ald ob ein be— 
ſtimmtes Quantum getftlichen Stoffe verarbeitet werden müßte und es tft 
nur gut, daß der Rofomotivführer und das fonftige Zugperfonal davon ent» 


416 


bunden zu fein feheinen, fonft könnten fi) fehr leicht die Fomifchen Scenen 
in tragifche verwandeln. 

Man denke ſich aber eine Stadt von nahezu 4 Millionen Einwohnern 
an einem trüben Regentage in die fonntägliche Langeweile gehüllt. Alle Läden, 
ja felbft die Reftaurationen, mit Ausnahme der Conditoreien und einer höhern 
Sorte von Branntweinläden find gefchloffen. Die unzähligen Maſſen aller 
derer, die weder Familie noch einen fonftigen gefelligen Kreis haben, in dem 
fie verfehren Eönnen, deren Heim ſich auf eine düftere Schlafitelle befchränft, 
find auf die Straße, und was fi in und an derſelben darbietet angemiefen. 
Ste ziehen, Männer und Weiber, von früh bis Abends von einer Branntwein- 
fneipe in die Undere, gehen zwiſchen durch einmal aus purer Langeweile In 
die Kirche und find fehließlich froh, wenn der Tag zu Ende ift. Keine Kunft- 
fammlung ift geöffnet, die ihnen Belehrung böte, Fein Concert, Fein Theater 
gewährt ihnen Zerftreuung, ein derartiger Tag ift troftlod öde. Wie anders 
ift ein Eonntag in Deutfchland mit feinen frohen Feften und den fröhlichen 
Gefihtern, mit unferen Mujeen, unferen Kunftfchulen und zoologifchen und 
botaniſchen Gärten, die nicht nur geöffnet, fondern auch befucht, und zwar 
vorzugsweiſe von den niedern Ständen befucht find und in denen fi) oft ein 
heiteres vergnügted Treiben entfaltet. Wahrlich ein deutfcher Sonntag iſt 
einem englifchen unendlich vorzuziehen, felbft mit allen feinen Ausſchreitungen 
und zwar dadurch, daß er dem Volk Gelegenheit giebt, fich edlen Bergnügungen 
hinzugeben, wird er, troß des ſchwächern Kirchenbeſuchs, auch auf eine würdi« 
gere Meife gefeiert ala in England. | 

Kurz vor 6 Uhr Abends, bevor die Speifehäufer geöffnet werden um die 
Hungernden aufzunehmen und zu fättigen, fammeln fih vor deren Thüren 
Gruppen von Herren und Damen, Fremden und Einheimifchen an, die fehn 
ſüchtig auf das Deffnen harren, wie e8 fonft wohl häufig vor den Caſſen der 
Theater zu fehen iſt. Da kann man alle Sprachen der Erde hören, mander 
traute heimatliche Laut ſchlägt an das Ohr, und während allerdings die Meiften 
die Verwünfchungen über die englifche Sonntagäfeier hübſch bet fich behalten, 
macht ſich manchmal diefer oder jener Luft und nicht am feltenften find «8 
deutfhe Zungen, die ſich da vernehmen lafjen. 

Da mir gerade vor einem Speifehaus ftehen, fei es geftattet, auch einen 
Blick hinein zu merfen. In allen Londoner Reftaurationen, au in den 
weniger feinen, herrſcht eine fehr wohlthuende Reinlichkeit, die verbunden mit 
andern vortheilhaften Einrichtungen fehr mwefentlich dazu beiträgt, daß man 
ftet3 mit Appetit ift und trinft. Man mag über die englifche Küche denken, 
wie man will, — und über den Gefhmad läßt fich ja bekanntlich nicht ſtreiten 
— fo wird man doch zugeben müffen, daß man nicht nur überall ausgezeichnete? 
Fleiſch findet, fondern daß vor allen Dingen auch die Art und Weiſe der 


417 


Zutheilung der Speifen an den Gaft fehr nachahmenswerth iſt. Vor den 
Augen eines jeden Gaſtes wird von dem großen fchönen Braten, die auf 
Heinen Rolltiſchchen dur die Spetfefäle gefahren und in Metallgefäßen 
wohl zugedeckt warm gehalten werden, durch die Zufchneider, ganz nad) den 
Wünſchen der Speijenden der Teller mit faftigen Stüden belegt. Ebenſo ge- 
f&hieht e8 mit den Gemüfen, die ftetd zum Braten gegelfen werden, und der 
Suppe, und wenn die beiden letgenannten Gerichte auch zu den ſchwächſten 
Seiten der Engländer gehören, fo ändert das nicht? an der Thatjache, daß 
man überall in London fehr preißwürdig fpeift. Die anfcheinend hohen 
Wirthſchafts-Preiſe reduciren fich fofort, wenn man die Höhe fämmtlicher 
Rebendmittelmarktpreife bedenkt. So Eoftet 3. B. ein Pfund Rindfleifh 12—14 
Sgr.; die Kartoffeln, en gros auf dem Bahnhof der Great Nothern Bahn, 
dem Haupt-Kartoffelmarfte Londons, pro Tonne (20 Gentner) 30 Thlr. und 
mehr und da alle andern Preiſe, höchftens die für Fifh ausgenommen, in 
demfelben Verhältniſſe höher find als die deutſchen, fo erfcheinen fchlieglich die 
Preife der fertigen Speifen, die nicht mefentlich höher find als z. B. die Ber- 
liner, befonder8 auch in Anbetracht der ausgezeichneten Qualität, eher niedrig 
ala hoch. Es zeigt fich auch hier wieder der echt germanifche Zug, der über: 
al in England ſcharf ausgeprägt ift, während er leider in Deutfchland viel- 
fach durch den Teidigen franzöfifchen Einfluß verdrängt wurde, daß der Kern 
dad mefentliche jeder Sache ift und Reellität in jeder Hinficht auch eines hohen 
Preiſes werth ift. 

Wohl in keinem Falle tritt der eben ausgeſprochene Satz ſo offen zu Tage 
als bei Betrachtung des nebſt der Nahrung wichtigſten menſchlichen Lebens— 
bedürfniſſes, der Wohnung. 

Man findet nirgends einen größern Contraſt zwiſchen dem äußern und 
innern Anſehen als bei engliſchen Wohnhäuſern und zwar iſt derſelbe durch 
folgende Umſtände bedingt. Während auf dem Continent in den großen 
Städten und vor allen in Berlin nicht nur ein Nebeneinander-, ſonder vor 
allen Dingen auch ein Uebereinanderwohnen ſtattfindet, welches leider ſchon 
mit dem Kellergeſchoß beginnt und erſt im Dachgeſchoß ſein Ende erreicht, 
gehört es in London und andern engliſchen Städten zu den größten Selten— 
heiten, daß in einem Haufe überhaupt mehr ala eine Familie wohnt. Der 
Engländer ftrebt danach, in feiner Wohnung möglichft nah Außen Hin ganz 
abgefchlofien und allein zu fein und aus diefem Streben entjpringt nicht nur 
die Einrichtung der Häufer felbft, fondern auch die Geftaltung ganzer Stadt- 
theile, ja fogar ganzer Städte. Ueberall da, mo der Verkehr den Werth 
der Läden und Gefhäftslofale und dadurch auch den Werth des Grund uud 
Bodens, der Häufer, in die Höhe treibt, nimmt die Zahl der Wohnungen 


' und ber Bewohner in unverhältnigmäßiger Weife ab. Sobald e Haus In 
Grenzboten IV, 1874, 


— 


418 e 


feinen untern Theilen zu Geſchäftszwecken benutzt wird, fühlt ſich der Eng— 
länder in demſelben beunruhigt, er ſtrebt danach, ein ruhigeres Heim zu 
ſuchen und ſo macht es ſich ſehr ſchnell, daß ganze Straßen vollſtändig zu 
Geſchäftsſtraßen werden, die früher Wohnungszwecken dienten. Nicht nur in 
der City, ſondern auch in den verkehrsreichen Theilen des Weſtend nimmt 
die Bevölkerung ſtetig ab und in demſelben Verhältniß ſteigen die Büreaux 
und Expeditionen in die höhern Stockwerke. So trennt ſich die Stadt, abge- 
ſehen von der Eity, die nur Gefhäftäftadt ift, fireng in Wohnungsftragen 
und «Bezirke und foldhe, die Gefhäftäzmweden dienen. In den lebtern und 
vorzüglich in der City fieht man denn auch dem entfprechend ftattliche Ge- 
bäude gediegenfter Ausführung, mit Marmor und polirtem Granit, von der 
Macht und dem Reichthum der Handeläheren beredted Zeugniß ablegen. 
Durch die Schaufenfter und Erpeditionen audgedehnter Großhandlungen bes 
dingt, für die eine Trennung in verfchiedene Stockwerke im höchſten Grade 
unbequem wäre, zeigt fih dort überall eine mehr und mehr um fich greifende 
Ausdehnung in die Breite, fehr häufig werden mehrere Häufer niedergeriffen 
um fie zu einem vereinigt wieder neu erftehen zu laffen. 


Ganz anders verhält es ſich dagegen mit den eigentlichen Wohnhäufern. 
Da, mie gejagt, jede Familie ihr eigened Haus haben will und doch diefes 
Haus nur eine Wohnung, fehr oft von befcheidener Ausdehnung, bei theu- 
rem Grund und Boden, enthalten fol, fo folgt naturgemäß, daß die Käufer 
möglihft fchmale Fronten erhalten, während nah Möglichkeit die Höhe 
zur Unterbringung der Wohnräume benugt wird. Weniger wie 2 Fenſter 
Front pro Haus habe ich nicht gejehen, weniger läßt ſich auch nicht gut 
berftellen, aber die Zahl diefer Häufer ift fehr groß und jedenfalld viel bedeu- 
tender ala die Zahl der Häufer mit 4 Feniter Front, ja fogar wohl größer 
als die Zahl derjenigen mit 3, doch will ich das nicht beftimmt behaupten. | 

Diefe Einrihtung hat unftreitig ihre guten Seiten, denn fie verhindert 
ein allzu intenfives Ausnutzen ded Bauplatzes mit nichtsnutzigen Miethäfafer- 
nen, die der Erbauer, felbft wenn er fie errichten wollte, den hiefigen Sitten 
gemäß, überhaupt nicht vermiethen Könnte. Die abfolute Unmöglichkeit, die 
Häufer ſchmaler zu maden als ein Zimmer Breite hat, und die Größe der 
Wohnung, fegen den Dimenfionen des Haufe ganz bejtimmte Grenzen; höher 
ald 3 Stockwerke find fie fehr felten; und wenn man binzu rechnet, daß es, 
Danf der ausgezeichneten Communifationdmittel Londons, ganz gleichgültig 
tft, in welcher Gegend der Stadt oder deren Umgebung bi8 Sydenham und 
Richmond hin man wohnt, fo findet man eine Erklärung für diefe billigen 
MWohnungdmiethen. Unfere deutſchen Miethen, die befonders in Berlin oft 
ein Drittel und mehr des ganzen Einfommens verfchlingen, find eine fo große. 


419 


Galamität geworden, daß das Studium der Londoner in diefer Hinficht ges 
wiß viel gefündern Verhältniſſe, fehr zu empfehlen ift. 

Während nun diefe Wohnungen im Innern mit allen möglichen Be 
quemlichkeiten aufs reichlichite ausgeftattet find, und bei diefer Ausftattung 
mit allem Zubehör in wirklichen Wohnungsgegenden bei 5—6 Zimmern für 
300 — 400 Thaler zu haben find, fo bieten fie dafür im Aeußern einen ger 
radezu ärmlichen Anblid dar. Man denke fih ganze Straßen derartiger 
Ihmaler Häufer, die der größern Billigkeit wegen eins wie das andere voll, 
ftändig gleich, förmlich fabrifmäßig hergeftellt worden find und in ihrem ein« 
fahen glatten Ziegelrohbau ohne Verzierungen, ohne Hauptgefims, ja fogar 
ohne Fenfterverfleidungen fi dem Beſchauer darbieten. Man vermuthet nicht 
in denfelben allen Comfort der reichen MWeltftadt zu finden, die folideften 
Möbel, bei denen freilih oft die Eleganz fehlt, die feinften Teppiche und 
reichten Vorhänge. Man möchte unwillfürlih aus der Straße eilen, weil 
man ihres ärmlichen Eindruds wegen glaubt, in ſchlechte Stadtviertel gerathen 
zu fein, wenn nicht die vornehme Ruhe dafür zeugte, daß man fich do 
in guter Gefelfchaft befinde und die unanfehnliche Hülle doc einen guten 
und foliden Kern einfchließen müſſe. 

In neuerer Zeit hat man vielfach derartige Häufergruppen zu ‚einem 
Ganzen zufammenzufafien gefucht, wenigften® im Yeußern, indem man ſymme— 
trifche Rifalite, gemeinfchaftliche Gtebel, durchgehende Gefimfe und dergl. mehr 
anbrachte, aber alle derartigen Verfuche, den äußern Eindrud zu beffern, werden 
fo lange mißlingen, al® das einzelne Haus nicht mehr Yrontbreite hat, und 
da hierzu Feine Ausfiht vorhanden ift, fo müffen die Londoner wohl über- 
haupt darauf verzichten ihre Wohnhäufer zu arhitectonifcher Wirkung kommen 
zu laſſen. 

Da es in Rondon althergebradhte Sitte ift, die Häufer auf 7, 14 oder 
21 Jahre zu miethen und in letterem Halle, der jehr häufig ift, der Miether 
die Verpflichtung übernimmt, alle Reparaturen auszuführen, auch den Anftrich 
des Hauſes ale 7 Jahre erneuern zu laſſen, fo kann es bei einer der oben 
erwähnten einheitlichen Fagaden fehr leicht vorfommen, daß der eine Theil 
nach einer Reihe von Jahren in ganz anderer Farbe prangt, ala ein anderer, 
felbft wenn die einzelnen Häufer nicht dur Veräußerung an andere Eigen- 
thümer übergehen folten, was doc auch möglich ift. Derartige Fälle find 
denn auch ſchon mehrfach zu beobachten und wenn nun gar die Grenze nur 
einen Kleinen Theil eined Giebelfelde® abjchneidet, oder mitten durch eine 
Nifche geht, fo ift der hervorgebrachte Anblid ein fo entjeglicher, ein fo ur- 
fomifcher, daß man ala erniter Menſch nur wünfchen kann, daß die Häufer, 
jedes für fi, in ihrer nadten Einfachheit verbleiben mögen, daß man in diefer 
Beziehung nit in die Fußtapfen Wiens trete, wo derartige Häuferzufammen- 


ers 


420 


faffungen, der vollftändtg andern Verhältniffe wegen, gewiß ebenjo beredhtigt 
find, als in London unberechtigt. 

Die Trennung der Wohnung in 2, 3 und mehr Stodwerfe, die fich hier 
überall zeigt, hat aber gewiß auch ihre großen Nachtheile und Unbequemlich— 
keiten. Es ift wahr, man ift innerhalb feiner Wohnung ganz unbeachtet, 


fommt mit Niemandem in Berührung, den man nicht fehen will und vor - 


allen Dingen wird dem Geklatſche der Dienftboten auf die wirkſamſte Weife 
vorgebeugt, dafür hat man aber immerwährend Trepp auf, Trepp ab zu 
fteigen; und wenn man fi auch das Haus fo eintheilen Fann, daß man am 
Tage möglihft nur in einem Stodwerfe bleibt, fo bin ich doch feit über 
zeugt, daß unferen deutfchen Hausfrauen, die glücklicher Weiſe felbft überall 
im Hauje nachjehen, diefe Zuftände nicht recht behagen würden. 

Ich glaube auch, daß fich die Galamitäten, die ſich in unferen Groß 
ftädten in dem Namen Wohnungsnoth zufammenfaflen, auch ohne Einführung 
von Londoner Wohnhäufern, die von fo vielen Seiten angepriefen worden find, 
befettigen lafjen, wenn wir die nächiten Umgebungen der Städte derart mit 
den Berfehrömittelpunften in Verbindung bringen, daß der Geſchäftsmann 
nicht gezwungen ift, in der Stadt zu wohnen. 

Sebt muß der Gefchäftämann und der Handwerker, Dank der entjeglich 
mangelhaften Gommunifationen innerhalb und außerhalb der Städte, im 
Innern diefer felbft wohnen, wenn er nicht feine Foftbarfte Zeit verlieren 
will. Jetzt muß der arme Tagelöhner in elenden Kellern oder Dachftuben 
wohnen. So wie wir aber zwifchen dem Innern der Städte und den länd: 
lihen Umgebungen Eifenbahnverbindungen haben werden, wie fie jebt für 
Berlin und Hamburg geplant und theilmeife in Ausführung find, wird auf 
die ganze Wohnungsnoth mit ihren Schreden verfehwunden fein, auch ohne 
daß wir zu dem Wohnungshaus Englands unfere Zufluht nehmen, 
welches ich für deutfche Verhältniffe für unbequem und unpraftifch halte 
Menn wir dereinft auch fo reich find, daß fich jede Familie foviel Dienft- 
boten halten Fann, daß die Hausfrau nur noch zu befehlen braucht, dann 
könnten wir es vielleicht thun, aber ich glaube nicht, daß das engliſche 
Syftem jemald in Deutfchland Eingang und Anklang finden wird. Wenn 
fi unfere großen Städte mehr nach außen hin ausdehnen, dann werden auf 
vielfach Stockwerke, die jekt in mehrere Wohnungen getheilt find, nur zu einer 
benugt werden, die Wohnungen werden überhaupt geräumiger werden. Darin 
liegt aber der Schwerpunkt der ganzen Frage, daß unfere Wohnungen, durch 
die Wohnungsnoth auf ein ungebührlihes Maaß eingefchränkt worden find, 
und daß es dringend geboten ift, fie menfchenwürdiger, geräumiger zu machen. 
Ob eine Wohnung von 6 Zimmern in 3 Stodwerfen vertheilt, oder in einem 
vereinigt Aft, ift gewiß für die Bequemlichkeit nicht gleichgültig, ich ziehe die 


Ä 


421 


[este Anordnung entfchteden vor, fobald die Wohnung ſich dur eine 
Thüre vollftändig abjchliegen läßt, und das zu erreichen, ift überall nicht 
ſchwer. Während jet die Außerlich fo unfsheinbaren, ja geradezu häßlichen 
Londoner Häufer im Innern aufs vortrefflichfte eingerichtet find, zeigt ſich in 
den deutjchen Großftädten leider oft da® gerade Gegentheil: auf das Aeußere 
wird viel gegeben, während das Innere vernadläffigt wird. Sicher ift alfo 
bis jeßt das englifche Verfahren beffer, weil folider und reeller; aber hoffentlich 
haben die traurigen Zeiten unferer beſchränkten MWohnungsverhältniffe am 
längiten gedauert und wenn wir unfere Häufer im Innern erft vollfommen 
maden, dann find mir den Engländern überlegen, denn dad äußere Haus 
welches ficherlich nicht vernachläffigt werden darf, fann bei unferm Wohnung? 
ſyſtem, felbft beim einfachften Miethshaus architeetonifh und äſthetiſch aus— 
gebildet werden, während das beim englijchen Haus mit 2 Fenftern Front eine 
reine Unmöglichkeit tft. — Ferner hat das continentale Syftem, welches fich 
übrigend aud in Schottland ftarf verbreitet findet — woraus hervorgeht, daß 
fi) auch der Britte damit befreunden kann — außer den angeführten Vorzügen 
auch noch das für fich, daß dabei eine viel beffere Ausnutzung ded Grund 
und Bodens ermöglicht wird. Setzt geht diefelbe zu weit; ſowie aber auf 
dem Gontinent diejenigen Verkehrserleichterungen gefchaffen fein werden, die 
in englifchen Städten ſchon längere Zeit beftehen, fo wird ſich das ganz von 
felbit reguliren, und man müßte annehmen, daß fchließlich vermöge der 
beſſern Bodenaudnugung die continentalen Stockwerkswohnungen ſchließlich 
billiger werden müßten als die englifchen Hausmwohnungen. 

Hoffentlich erreichen wir diefen Zuftand recht bald; hoffentlich bieten alle 
Behörden, vor allen Dingen die ftädtifchen Alles auf, um Zuſtänden ein 
Ende zu bereiten, die beinahe troftlos fcheinen und einen mefentlichen Antheil 
an allen den Erſcheinungen haben, die die befitenden Claſſen der großen 
Städte jest fo oft mit Schrecken und mit ficherlich übertriebenen Beſorgniſſen 
erfüllen. Alfred Blum. 


„Um die srde“ von Sduard Hildebrandt und „Reiſe— 
ziele“ von Fugen Krüger. 


Der Berlag von R. Wagner in Berlin hat in den letten Jahren durd) 
die Heraudgabe der Aquarelle von Eduard Hildebrandt, melde der 
leider fo früh verftorbene Künftler auf feiner letzten Reife um die Erde auf- 


422 


genommen, die berechtigte Aufmerkfamfeit aller Kunftkenner und Kunftfreunde 
auf fich gezogen. 

Diefed großartige Unternehmen liegt nun abgeſchloſſen vor und. Unter 
den dreihundert Aquarellen Hildebrandt'8, die er als legte Ernte von der letzten 
großen Reife feines Lebens heimgebracdht, hatte R. Wagner zur Vervielfältigung 
von Anfang an, um die Sammlung nicht zu Eoftfpielig zu machen, nur vier: 
unddreißig der vorzüglichften Blätter ausgewählt, die nun alle in treueftem, 
herrlichſtem Chromo - Facfimile vollendet vorliegen. Die erften ſechs diefer 
Bilder hat der Künftler felbft no geiehen. Gr gab kurz vor feinem 
Hingang feine Freude darüber in den allbefannten Worten zu erfennen: „die 
mir vorliegenden ſechs Chromo», Facfimiled meiner Aquarelle „die Reife um 
die Erde* find mit wunderbarer Treue und einem bei technifchen Verviel⸗ 
fältigungen diefer Urt feltenen Fünftlerifchen Verftändniffe nach meinen Drigi- 
nalen gefertigt.“ Und die letzten vier Blätter diefer Sammlung find erft in 
diefen Tagen ausgegeben worden. Es hat alfo mehr als ein halbes Jahr— 
zehnt gedauert, bi diefe verhältnigmäßig kleine Anzahl von Blättern den 
Schöpfungen des Meifter8 nachgebildet war. Und daß hier das alte deutide 
Sprüchwort fi) bewahrheitet hat: was lange währt, wird gut, das beweiſt 
die ſtets wachſende Theilnahme der beiten Kreife des Publikums, die ftetd 
ſtärker verlangte und immer erneute Auflage des koſtbaren Werkes. Wenn man 
fo oft leider im Rechte iſt, davor zu warnen, daß die erhöhte Kaufluſt des 
Publikums den Beweis liefere für die Vortrefflichkeit der Waare: fo erfennt 
man mit doppelter Freude hier die Neinheit des Geſchmackes der Käufer an, 
die Bortrefflichkeit der Leiftung, den Erfolg einer für den Heraudgeber und 
feine . Mitarbeiter gleich rühmlichen Unternehmung. 

Man geht nicht zu weit, zu fagen: fo neu und erhaben Hildebrandt's 
Aquarelle.waren in der Zeit, da er zum erften Mal mit feiner Kunft die tropiſch 
Farbengluth und Zonfülle in Wafferfarben miedergab, fo unerreicht er in den 
höchſten Reiftungen feiner Kunft geblieben: fo neu und großartig und unver 
gleihlich It das Meifterftück deutfcher Kunftinduftrie, das diefe Blätter dar- 
ſtellen. Wenn die Griechen den höchſten Ruhm des bildenden Künftlerd in 
der vollendeten Täufchung fanden, die das Werk des erften Mleifterd fogar 
auf die Sinne des nächſtſtrebenden Genoffen hervorbrachte, fo haben diefe Er- 
zeugniffe des deutjchen Farbendruds jogar die der alten Welt denkbar höchſte 
Grenze der Fünftlerifchen Production überfhritten. Denn nicht nur einer der 
erften Kunftfenner Berlins begehrte, die gedrucdten Kopien als Driginale 
zu Kaufen; der Meifter felbft verwechfelte aus geringer Entfernung die Nach— 
bildung mit dem Erzeugniffe ſeines Pinſels. Diefe vollendete Nachahmung 
ift denn aber freifich auch ebenfo fehr da8 Product mirklicher Kunſt, ald einer 
aufs äußerſte gefteigerten Technik und Mafchineninduftrie. Schon bei der 





423 


bloßen Nachzeichnung der Originale mit Qupe und Mikroskop find wirkliche Künftfer 
thätig gewefen. Jede Platte mußte in Form und Linie der Bilder aufs Haar 
mit den Vorbildern übereinftimmen. Damit war aber erft der Umrif, der 
wefenlofe Schatten des Driginald gewonnen. Die Hauptarbeit biteb erft noch 
zu thun: Die Facfimilirung der meifterhaften Farbengebung Hildebrandt’fcher 
Aquarelle, das Abftimmen der Töne, die Vereinigung der höchſten Weichheit 
in den Nüancen mit der entfehiedenften Ausprägung des Charakteriftifchen in 
Kinie, Ton und Empfindung, im ZTotaleindrud wie im geringfügigften De 
tal. Um das zu erreichen, waren endlofe Grperimente nöthig, die von den 
hochverdienten Keitern diefer Chromo-Facfimiled, den Herren Steinfopf und 
2oeillot und den von ihnen beſchäftigten Künftlern und zugezogenen Sach— 
verftändigen mit feiner Empfindung unternommen und mit größter Pflicht: 
ftrenge zu einem gebeihlichen Ende geführt wurden. Selbſt die todte Mafchine 
erhielt unter diefen verftändigen Händen Leben. Noch in dem Stadium der 
Arbeit, in dem ihr feheinbar allein den Reſt zu thun oblag, wurde ihr. bald 
ftärferer, bald geringerer Druck gegeben, um in der Copie felbft die Ausfchwen- 
fung des Pinfeld, die weichen oder energifchen Spuren des Qupfpinfels, die 
kräftige oder leifere Führung des Waſchſchwamms, die das Original verrieth, 
nachzuahmen. 

Noch in friſcher Erinnerung ſteht uns die Zeit, wo Hildebrandt's Aqua- 
telle zum erften Male zur Kenntnig des Publikums gelangten, und alle 
Kennerfreife der Hauptftadt in zwei feindliche Lager fpalteten, die für und 
gegen die Malart des Künſtlers leidenfchaftlih Partei nahmen. Es liegt und 
daher jehr fern, die Gegner der Hildebrandt’ihen Malmeife und Technik etwa 
für ſchlechthin unverftändig oder die von der „Reife um die Erde“ heimge- 
braten Aquarellen für abfolut tadellos, für das in der Waflerfarbenlandichaftd« 
malerei in allen Beziehungen Unerreichte hinzuftellen. Im Gegentheil: es joll 
bereitwillig zugeftanden werden, daß Hildebrandt auch Aufgaben bier zu löſen 
ſuchte, an denen er gefcheitert ift, weil das Aquarell nie ihnen gewachſen 
fein fann; daß nur wenige diefer Blätter ald ganz vollendete Staffeleibilder 
gelten können, dagegen viele anderen feiner Aquarelle von der Reife um die 
Erde, trog aller vom Künftler darauf gewandten Mühe und Arbeit den 
Eindrud des Skizzenhaften und Flüchtigen machen, während z. B. die Eleine, 
jest in Privatbefig befindlihe Sammlung feiner auf einer früheren Reiſe 
aufgenommenenen Aquarelle von Madeira eine Durcdharbeitung und Bollen- 
dung aufmeift, von der felbft Karl Werner's fleipigfte Detailmaleret in 
Schatten geftellt wird. 

Über troß diefer Schwächen — die übrigens nur dem edelften Schaffene- 
drang entjprungen find, der einen großen Künftler befeelen kann — ftehen 
die Aquarelle Hildebrandt's durchaus auf der höchſten Höhe, welche diefe Kunft 


424 


in der Landſchaftsmalerei bisher erreicht bat. In den meiften dieſer Blätter 
hat Hildebrandt in Waſſerfarben Probleme der Malerei gelöft, an die felbft 
Meifter der Delfarbe fih felten vor ihm gewagt hatten. Und zugleich bat 
er eine Kraft und Tiefe der Warbe, einen MWohllaut ded Vortrags und eine 
Sicherheit in der Charakteriſtik der füdlichen Landſchaft errungen, die man in 
ihrer vollen Bedeutung erft recht erfaßt und würdigt, wenn man Aquarell 
anderer bedeutender Künftler daneben bält. 

Es würde Bogen ftatt Seiten erfordern, wollten wir diefe hoben Vor 
züge an all den einzelnen 34 Blättern verfolgen, die R. Wagner's Kunft- 
verlag durch die nun abgefchloffene Sammlung von Chromo-Facfimiles zum 
Gemeingut der Nation gemabt hat. Es mag genügen zu fagen, daß, menn 
man die ganze Reihe noch einmal Revue paffiren läßt, e8 kaum möglich ift, 
zu beftimmen, welches diefer Blätter weniger kunſtvoll reproduzirt fei, als die 
übrigen. Namentlich ftehen auch die neueften vier Blätter, welche das Merl 
abjchließen, in nicht3 Hinter den andern zurüd. Die „Straße in Alerandrien,“ 
die „Brüde bei Pecking,“ zählen vielmehr zu den interefjanteften Städte 
bildern, „Colombo“ auf Geylon und der „Hafen von Foochoo⸗foo“ zu den 
reizendften SLropenlandichaften der ganzen bedeutenden Sammlung. — 

Wie nun der bei Rebzeiten Eduard Hildebrandt'3 ungenirt erhobene Tadel 
über dem Raſen des Frühverftorbenen allmählich verftummt ift und neidlos 
Alle Heute die hoben Vorzüge feiner Kunft anerfennen, fo ift er aud dem 
jungen Gefchleht zum höchſten Vorbild der Nacheiferung geworden. Geit 
Eduard Hildebrandt haben fich jehr bedeutende junge Talente ausfchlielich oder 
doch vorzugsweiſe der Aquarell-Randfchaftämaleret gewidmet und darin theil- 
weije vorzügliche8 bereits gefchaffen. Einer der vornehnften und am meiiten 
verjprechenden Künftler auf diefem Gebiete iſt unftreitig Eugen Krüger. 
Bereit? fein erfter größerer Aquarell-Cyelus, deutiche Wald- und Wildftudien, 
beit Brüder in Hamburg erfchienen, Ienfte die allgemeine Aufmerkſamkeit 
auf den jungen Künftler. Die Landfchafts- Aquarelle vom Kriegsſchauplatz 
1870—71, die Krüger (in demjelben Verlage) dann folgen ließ, erweckten den 
Nachhall jener Begeifterung, die unfer Volk während der glorreichften Tage 
ded Jahrhunderts gehoben hatte. Aber auch heute, wo fo Viele, ja wohl 
die Meiften nur zu fehr wieder in die Alltagsftimmung zurückgekehrt find, 
und Jeder mit ruhigerem Blute jene Schlachtengefilde, im Frieden der Krüger 
[hen Darftellung,, betrachtet, bleibt das volle Rob beftehen, das ihnen beim 
erften Anblick geſchenkt ward. 

Es war ein fehr glücklicher Gedanke der R. Wagner’ichen Kunſthandlung, 
gerade diefem Künftler die fchöne Aufgabe zu übertragen, die maleriſchſten 
Punkte in ganz Europa aufjzufuhen und diefe „Reiſeziele“ künſt— 
lerifh zu firtren und einzubringen in treuen, feinen Aquarellen. Eugen Krüger 


4 


425 


führt in der That einen fehr feinen, einen ſehr anmuthigen und doch Fräftigen 
Pinſel im Aquarell. Er ift der ftillen Harmonie der architeftonifchen Linien und 
Maſſen ebenfo gewachſen, wie den fatten Tiefen einer Mondnacht am Meer: 
firand oder dem weichen Blau der Hoclandberge. Dafür hat er fhon Be- 
weife gegeben. Die bier, im erften Hefte der „Reifeziele* vorliegenden 
beftätigen nur die erfreuliche Thatfache des fteten Wachfen® und DBormwärtd« 
firebend in feiner Kunft und geben die Gewißheit, daß er die ganze Viel- 
feitigfeit de8 Könnens und Erfaſſens befist, welche die Mannigfaltigfeit der 
Landſchaftsbilder voraugfegt, die in dem vorliegenden Unternehmen dargeftellt 
werden follen. Die fünf vollendeten Blätter des erjten Heftes ſchon find die 
Früchte von Wanderungen in die verjchiedenften Gegenden und Ränder 
Europad. Da liefert Norwegen die fchneegefrönten Höhen des Hardanger 
Fjords im Abendgolde; mondbeglänzt ſtürzt die Meeredwelle der Fresh-Water— 
Bat dem felfigen Geftade entgegen; in lieblicher Morgenbläue erheben fich 
duftig die Bergketten des Chiemfeed; mie ein luftiges Traumbild vergangener 
Tage fteigen die reichen Formen und Kuppeln von Venedigs Paläſten und 
Thürmen aus dem Hintergrunde der blauen Adria, auf der die farbigen 
Segel dahin gleiten ; mit fteifbefchnittnen Heden und Schnörfeln ragt Iſola 
Bella aus dem herrlichen See, den in der Ferne die fchönen Baden des 
Gebirgs ſäumen; endlich fpringt in der Tiefe auf weit vorgefchobener Rand» 
zunge das Kabinetsbild eines wirklich malerifchen Kleinftaates, Monaco, hervor 
aus der tiefen Bläue ded Mittelmeerd, das ganze Bild nicht ohne Ironie 
umſchloſſen und überwölbt von den Zweigen eined einzigen gewaltigen 
Baumed. — 

Eine große Reihe gleich bedeutender Bilder fol diefe Sammlung noch zu 
Tage fördern: Moscau und den finntihen Meerbufen, Dliva und einen 
bolfteinifhen Buchwald, die Kieler Bucht, die Trolhätta-Fälle, Oftende oder 
Scheveningen, ein Motiv aus Schottland, Irland und der Normandie, 
Marfeille, aus der Sierra Nevada, Palermo, den MonteRofa, ein Motiv 
aus dem Engadin, dem Schwarzwald, vom Rhein, aus Steyermarf, Athen, 
Sonftantinopel mit dem Bofporus, Odeſſa, u. f. m. 

Rufen wir dem fchönen Unternehmen ein? fröhliches Glüdauf! zu. Seine 
Ausführung ift in den beften Händen. Denn der Künftler felbit überwacht 
au die Reproduction, die Steinbod’s Offtzin ausführt. 


— — — ——— — — ——— 


Grenzboten IV. 1874. 54 





u; F 1 


426 


Vom deuffhen Reichskag. 


Berlin, den 6. Dezember 1874. 


Wir gehen zunächſt auf die letzte Novemberwoche zurück, um die erſte 
Leſung der beiden Prozeßordnungen nachzuholen. 
| Kaum minder wichtig ald die Beſchaffenheit ihres Nichterftandes ift für 

eine Nation die Geftaltung ihred Strafprozeffed. Die Bedeutung des Straf 
prozefjes liegt Feinedwegs allein in der wirkſamen Repreffion der Verlegung 
des Geſetzes. Die Art, wie das Strafrecht zur Anwendung gebracht wird, 
ift eines der audjchlaggebenditen Momente für die Entwidlung der fittlichen 
Darftellungen, für die Würdigung der Handlungen der Menfchen überhaupt. 
— Die Probleme, deren neue, den Anforderungen der gejellichaftlichen Ent 
widlung entfprechende Löſung die gegenwärtige Strafprozeßordnung fi zum 
Ziel feßen mußte, waren vornehmlich folgende drei: 

1) die fachgemäße Betheiligung des Laienelementes an der Strafrechtspflege; 

2) die Regelung oder Befeitigung des Inſtanzenzuges in der Straf 
rechtöpflege; 

3) die Durchbildung oder Nichtdurchbildung der ftrafrechtlichen Verfolgung 
zu einem Parteiprozeß. 

Was den erften Punkt betrifft, fo war der erfte Strafprozeßentwurf, wie 
er aus dem preußifchen Juſtizminiſterium an den Bundesrath gelangte, auf 
die durchgehende Einführung der Schöffen, auf allen Stufen der Strafgeriäte 
und für alle Grade des Verbrechens bafirt. Der Verfaſſer diefer Berichte ift 
einer der überzeugteiten Anhänger des Schöffengericht? in der vollitändigen 
Ausbildung, wie fie jener Entwurf, unter Befeitigung aller andern Formen 
der Bethelligung des Laienelementes an der Strafrechtäpflege, erftrebte. Der 
Berfaffer diefer Briefe weiß aber fehr wohl, daß er die Nedaction d. Bl. 
in diefer Frage nicht auf feiner Seite hat.) Es handelt fi indeß hier 
vorzugsmeife um hiftorifche WBerichterftattung. Die Schöffengerichte wurden 
im vergangenen Frühjahre auf dem Altar der Popularität geopfert, als die 
Trage ſchwebte, ob die Friedensitärke des Heeres auf dem Budgetwege oder auf 
dem Wege des dauernden Geſetzes feitzuftellen ſei. Bekanntlich ift auch diele 
Trage nicht zum reinen Audtrag gefommen, weil diefelbe ihrerjeitd der 
höchſten Frage der Gegenwart, dem Kampfe zwifchen Kaifer und Papft unter 
geordnet werden mußte Wir tadeln beide Unterordnungen nicht im min 


*) Die Gegnerſchaft der Redaction diefed Blattes gegen die Schöffen ift nicht nur crimis 
nal politifhen Gründen, fondern auch Gründen der praftifchen Erfahrung entnommen, die ber 
Rebdacteur diefed Blattes im feiner Eigenſchaft als fächfifcher Rechtsanwalt zu fammeln in der 
Rage war. D. Re, 


427 


deften. Es iſt ein Wort, ded Fürften Bismarck würdig, welches damals halb- 
amtlich gefchrieben wurde: „wer einen großen Kampf auf ſich genommen hat, 
darf fih während desſelben nicht in heterogene Händel einlaffen.“ Wenn eine 
Gardinalfrage, wie die Sicherftellung des deutfchen Heeres, aufgefehoben werden 
mußte, um die Organe de3 Reiches im Kampfe mit Rom nicht der Gefahr 
einer Spaltung audzufeßen, fo durfte noch vielmehr die befte Eonftruction des 
Gerichtd, fo wichtig der Zweck iſt, Aufichub erleiden. Wenn die deutfche 
Staatdleitung riskirte, das Schwert nad Außen einjtweilen minder dauerhaft 
zu ſchmieden, ald fie für nothmendig erfannte, fo durfte fie auch das Schwert 
nad Sinnen — um dad Gericht einmal mit einem bei unfern überrheinifchen 
Nachbarn beliebten Vergleih zu bezeichnen — zu demfelben Zweck minder 
vollfommen jchmieden. Eine weiſe Staatäfunft hat fih unter anderem auch 
zu zeigen in der Schonung der Vorurtheile ihres Volkes bei der rechten Ges 
legenheit. Man erzählt, was vollkommen glaubwürdig ift, der Fürft Bismarck 
babe einem befannten national gefinnten Abgeordneten aus Baiern ſchon im 
vorigen Jahre die Verficherung gegeben: „obgleich er, der Kanzler, für die 
Schöffengerichte fei, fo werde er doch aus diefer Einrihtung niemals eine 
politifche Frage machen.“ Nach diefer Aeußerung Fonnte man erwarten, es 
werde das Schöffengeriht in der Geftalt, die ihm dad preußifche Juftiz- 
minifterium geben wollte, wenigitend zur Discuffion vor den Reichsſtag kommen. 
Die Anhänger der Schöffengerichte durften, wenn nicht auf den Gewinn der 
Majorität für ihre Meberzeugung, doc auf die erichöpfende Darlegung der- 
jelben in Rede und Gegenrede der berufenften Sachverftändigen vor dem 
deutichen Volfe rechnen. Es fcheint aber, daß die füddeutfchen Enthuftaften 
des Schwurgerichts ihre geliebte Inſtitution nicht einmal dem euer einer 
Öffentlichen Discuffion im Reichstag, die eine viel eingreifendere Bedeutung 
hat als jede andere, unterworfen fehen wollten. Die Schöffen wurden bereitd 
im Zuftizausfhuß des Bundesraths geopfert, d. 5. als confequente Geſtalt 
des Naienelemented in der Strafrechtäpflege. Ganz audgefchloffen hat man 
fie nicht. Der Entwurf der Strafprozefordnung und der Gerichtäverfafjung 
in den hier einfchlagenden Beftimmungen, mie ihn der Bundesrath nunmehr 
vorgelegt, hat aber durch die ungleichartige Geftalt des Natenelementes nicht? 
weniger ald gewonnen. Es ift nicht bloß die äußere Symmetrie zu vermiffen, 
wenn wir als Strafgericht unterfter Ordnung den Einzelrichter mit Schöffen, 
als Strafgericht mittlerer Ordnung das reine Richtercollegium, und als Straf- 
gericht höchſter Ordnung den Schwurgerichtshof vorgeſchlagen fehen. Die 
drei Gerichtöformen find vielmehr ihrem Wefen nach fo ungleichartig, daß die 
Seele der Nechtäpflege, die Einheit, melche fie belebt, dabei nicht beſtehen 
kann. Man Fann fehr verfucht fein, die Gerichtöverfaffung Iieber auf dem 
reinen gelehrten Richterthum aufzubauen und ben jchmerfälligen Apparat des 


428 


Schmwurgerihtd nur als Ausnahme darauf zu fehen, wie ed im Ganzen ja 
bisher geweſen tft. 

Die ungleidartige Geftalt der Gerichtäftufen bringt noch eine meitere, 
ftarfe Inconvenienz mit fih. Die Abgrenzung der Thätigfeit der drei 
Gerichtsſtufen nämlich war allerdings fchon im dem Entwurf ded preußifchen 
Suftizminiftertum® auf die dreifache Eintheilung der ftrafbaren Handlungen 
bafirt, wie fie das deutſche Strafgeſetzbuch aufftellt. Diefelbe Abgrenzung ift 
in dem jest vorgelegten Entwurf beibehalten. Nun hat bei den Verhand— 
lungen der erſten Lefung der Abgeordnete Lasker mit Recht hervorgehoben, 
wie mechanifch diefe Abgrenzung ift. Auch darin hat der genannte Abgeord» 
nete Recht, dag die Wichtigkeit eines ftrafrechtlichen Erkenntniſſes für die 
gefammte Rechtspflege nicht zu ſchätzen iſt nach der Höhe des etwa in An- 
wendung kommenden Strafmaßes; zumal bei dem meiten Spielraum, welchen 
das deutjche Strafgeſetzbuch dem Richter In der Strafzumellung gewährt, die 
Unterſcheidung der ftrafbaren Handlungen nah den Strafmaßen illuforifch 
wird. Uber freilich, e8 wäre eine fehr meitführende Reform, wenn man eine 
Abgrenzung der Thätigkeit der Gerichte etwa nach der Wichtigkeit des in Frage 
fommenden Rechtsgebiets verfuchen wollte. Die Zeit mag kommen aud für 
eine folde Reform, und dann wird wohl auch die Zeit gefommen fein, wo 
der Richter bei der Auffuhung des Strafmaßes nicht mehr gebunden fein 
wird an irgend eine Syftematif der ftrafbaren Handlungen eines Gefegbuches, 
fondern an die individuelle Würdigung ded Verbrechens und des Verbrechers 
in allen ihren concreten Beziehungen. 

Dann wird wohl auch die Zeit gefommen fein, wo die Modalitäten der 
Strafvollziehung dem Richterſpruch genau angepaßt find und wo in Folge 
deffen Richter an der Spite der Gefängnißverwaltung ftehen und Gefängnif- 
beamte als folhe Mitglieder der Gerichte find. Dad alles find Fortſchritte 
der Zufunft heilfamfter Art, deren Vorausſicht das Herz der Humantität höher 
ſchlagen machen Tann. Aber unmöglich kann unfere überlaftete Gegenwart 
ſchon jest am diefe Aufgaben gehen, wie wünfchendwerth die Köfung derjelben 
ſei. Wir rufen dem Abgeordneten Radfer wiederum ein festina lente zu. 
Wir erkennen aber, daß mit der Gliederung der Strafgerichte des jetzigen 
Entwurfs diefe Aufgaben nie angefaßt werden Fönnen. Mit der Nothwen⸗ 
digfeit einer organifchen Gliederung der Strafgerichte wird die Frage der 
durdhgebildeten Schöffengerichte immer wieder auftreten. Das tft der Troft 
für diejenigen, melche die Heberzeugung des Verfafferd diefer Briefe theilen. 

Die zweite Aufgabe, welche die neue Strafprogekordnung ſich ftellen follte 
und auch wirflih mit Ernſt geftellt Hat, war die Befeitigung ded Inſtanzen- 
zuges im Strafgerichtäverfahren. Es bedarf nicht der Ausführung, wie bie 
Berufung durch mehrere Inſtanzen das Weſen der Strafrechtäpflege aufhebt. 





— 
429 


Es iſt eine der wenigen heilſamen Wirkungen, welche dem Schwurgericht 
ernſtlich nachzurühmen find, daß es dazu beigetragen, die Gemüther innerhalb 
und außerhalb der juriftifchen Welt von dem Glauben an die Unentbehrlid- 
feit der Berufung zu entmöhnen. Aber freilich, wenn ein einziges Gerichts: 
verfahren die Straffachen endgültig entfcheiden fol, fo muß die Beſchaffenheit 
der Gerichte alle erreihbaren Bürgfchaften bieten. Das mar bet einer fo 
ungleichartigen Geftalt und bet einer fo unorganifchen Gliederung der Straf: 
gerichte, wie fie in dem Entwurf der Gerichtöverfaffung und des Strafprozefjed 
auftreten, nicht zu leiſten. Es wäre aber fehr zu bedauern, wenn der Ent« 
wurf der Strafprozegordnung im Sinne der Reichstagsredner abgeändert 
mwürde, welche, aus Verzweiflung, die gute Gonftruction finden oder, wenn 
gefunden, diefelbe heritellen zu Fönnen, zur Berufung zurück wollten. Man 
bat viel davon gefprodhen, die ausreichenden Kräfte zur Beſetzung des Laien- 
richteramted nicht finden zu können. Es iſt aber noch viel mißlicher, den 
Stand der befoldeten Beruförichter zu einem Heer anwachfen zu laffen. Man 
könnte in den Provinzen, wo die Kräfte für das Kaienrichteramt augenblid- 
lich zu fehlen fcheinen, einftweilen mehr befoldete Berufsrichter anftellen, bet 
Erledigung der übernormalmäßigen Richterftellen aber den Antrag der Pro- 
vinzialvertretung auf Einführung der Raienrichter erwarten. Sedenfalld führt 
die materielle Appellatton nur in anderer Weife, ald die Beſetzung der Richter: 
eollegien mit lauter Berufdrichtern, eine Ueberfüllung des Nichterftandes, ein 
richterliche8 Proletariat — wenn man nicht etwa einen Juſtizhaushalt von 
ungemeflener Höhe haben will — und eine Verſchwendung der richterlichen 
Arbeit herbei, abgejehen von dem ſchon angedeuteten nachtheiligen Einfluß 
auf den Eindrud, die Sicherheit und das Selbitgefühl der Nechtepflege, 

Mir fommen zu dem dritten Probleme, welches die neue Strafprozeß- 
ordnung zu löfen hatte, vielleicht dem interefjanteften, das aber bei näherer 
Betrachtung ſich ganz als Ausfluß der Frage nad) der Geſtaltung des Laien— 
elemente darftellt. Diefed dritte Problem enthält die Frage, ob das Straf- 
verfahren ala Barteiprozeß durchzubilden ift und, bei Berneinung diefer erſten 
Frage, die zweite, wo der Einjchnitt zu machen tft zwifchen den verjchiedenen 
Theilen des ftrafgerichtlichen Verfahrend. Denn die Herftelung der Einheit 
des Strafverfahreng durch völlige Befeitigung des Anklageprozefjed befürwortet 
heute Niemand mehr. Wir werden gleich fehen, wie dieſes dritte Problem 
ganz und gar hervorgeht aus der Frage nad der Geftaltung der Raien- 
elemente in der Strafrechtäpfleg.. Weit man nämlih das Schöffengericht 
zurüd und will man mindeftens für die fogenannten ſchweren Straffälle bet 
dem Gejchwornengericht jtehen bleiben, fo tit doch die Beibehaltung des fo- 
genannten deutfch-franzöfifchen Schwurgerichts angefichtd der ungleichartigen 
Ausbildung und Handhabung desfelben, melde nur gleichartig ift in der 


430 
Herbeiführung zahllofer praftifcher Mißſtände und unlösbarer Probleme der 
theoretifchen Konftruction, eine Unmöglichkeit. Jenes Verfahren in feinen 
mancherlet Typen, die e8 fehon allein auf dem deutichen Boden angenommen 
hat, ift eine Mißbildung, beruhend auf der falſchen Einfiht der Geſetzgeber 
der franzöfifhen Revolution in das engliihe Schwurgeriht und fodann auf 
dem Meberbau der falfchen Einſicht der deutfchen Gefetgebung und Praxié 
in die franzöfifche Gerichtäverfaffung. Alle competenten Stimmen der Theorie 
und Praxis find nachgerade in Deutfchland mwenigitend darüber einig, daß die 
Trennung der fogenannten Thatfrage von der Rechtöfrage aufgegeben werden 
muß, infolge davon aber au da8 ganze Syftem der jegigen Frageſtellung 
an die Gefehmorenen. Will man aber durch die Gefchworenen die Nedhtd 
frage in ihrer Totalität und in ihrer unzertrennlihen Verbindung mit ber 
Thatfrage entfcheiden laffen, fo fommt man nothwendig auf das englijce 
Eyftem der Nechtöbelehrung und Lenfung der Gefchworenen durch den vor 
fisenden Richter, welcher der einzige rechtägelehrte Nichter des Schmurgerichtd 
hofes ift. Die wirkliche Folge diefed Syſtems ift, wie jeder Kenner der eng 
lifhen Jury weiß, die alleinige Entſcheidung durch den Michter und bie 
Entwickelung der Jury zu einer Staffage von Strohmännern. Das ift aber 
bei weitem nicht das Schlimmfte, wir hätten beinah gefagt, es ift das Bette 
an der englifhen Jury. Die entfcheidende Stellung des vorfigenden Richters 
macht die Leitung des Verfahren® durch denfelben zur Unmöglichkeit. Die 
Folge hiervon ift, daß der Prozeß ganz in die Hände der Parteien gelegt 
werden muß, daß fogar die Vernehmung der Zeugen Sache der Parteien im 
fogenannten Kreuzverhör wird. Cine weitere Folge ift die Deffentlichkeit der 
Vorunterfuhung , die mwichtigfte Folge von allem aber ift die Gründung ded 
ganzen Berfahren® auf den Indicienbeweis, der nun wieder dag Mittel für 
den Vorfisenden wird, die Gefchworenen ganz feiner Rettung zu unterwerfen. 
Somie man das Syitem der fpecialifirten Frageftellung verläßt, welches in 
jeiner verfchiedenen Handhabung, auch wenn die Befchränfung der Gefchmworenen 
auf die Thatfrage aufgegeben wird, doch immer no die Möglichkeit offen 
läßt, einzelne bedeutende Momente der Nechtefrage dem Gericht&hof allein zu 
referviren, fowie man alfo jened Syftem verläßt und doch dad Schwurgericht 
nicht verlaffen will, bleibt in der That nichts ald dag englifche Syſtem der 
Durhbildung des Strafverfahrend zum Parteiprozeß. Die fittliche Anſchauung 
der deutfchen Bildung von Recht und NRechtöpflege hat ſich jedoch biäher 
immer gegen diefe Confequenz gefträubt und nicht minder hat fich die ſpecifiſch 
juriſtiſche Bildung Deutjhlandd gegen die Barbaret des Indieienbeweiſes 
gefträubt. Neuerdings aber, ald bei dem Unternehmen der einheitlichen Ge— 
ftaltung des deutfchen Strafprozefjed dur das Neich die Frage des Schöffen: 
gerichts In nachhaltige Anregung gefommen, der Schritt zu diefer Reform 


431 


aber aus den oben erwähnten Außerlichen Gründen von Seiten der Reichs— 
regierung nicht gewagt worden war, da unternahm es Rudolph Gneift in 
feinen „Vier Fragen zur deutfchen Strafprozegordnung“ die völlige Adoption 
des engliſchen Strafprozefjed in das deutfche Rechtsleben zu empfehlen. Der 
Entwurf der Strafprozekordnung indeß, melden der Bundeörath jetzt dem 
Reihätag vorgelegt, wagt auch diefen Schritt nicht, er begnügt fich vielmehr 
im Anſchluß an die bisherige Praxis, um Gneiſt's Ausdrüde anzuwenden, mit 
dem „halben Anklageprozeß, der halben Deffentlichkeit und der halben Münd« 
lichkeit“. Mit andern Worten, der Anklageprozeß ift auf ein präparatorifches 
Verfahren gebaut, welches wie biäher die Deffentlichkeit ausſchließt. Ebenſo 
ift bei dem Hauptverfahren die Entjcheidung der ungetheilten Frage durch 
die Geſchworenen nicht eingeführt und in Folge deffen auch hier nicht die 
Leitung ded Verfahrens durch die Parteien oder die Durkbildung zum 
Parteiprozeß angenommen. 

Diefe inconfequente Geftaltung de3 Strafverfahrene hat nun dem Ent- 
wurf im Reichstag lebhaften Tadel zugezogen, am meiften von Seiten des 
Abgeordneten Lasker. Wir müfjen befennen, daß uns die geiftige Abhängig: 
feit Lasker's von Gneift nie jo unangenehm geweſen, ald in diefem alle. 
Es ift ehrenvoll, den rechten Spuren eines großen Denkers zu folgen, und 
im höchſten Grade löblich, da® leugnen wir am menigiten. Lasker's großes 
Berdienft ift fein uneigennüsiger Fleiß, fein unermüdliched Lernen, fein felbft- 
loſes Suchen des Wahren und Beiten. Dadurch hat er diefe eminente 
Stellung eine® maßgebenden Führer® im Reichstag, und ed giebt feine Eigen- 
Ihaften, durch welche diefe Stellung beijer verdient merden könnte. Lasker 
befist entfernt nicht die geniale Intuition Gneiſt's, noch defjen damit in 
Wechſelwirkung ftehende Gelehrfamfeit, noch Gneiſt's architektoniſche Kraft. 
Defto beiter it er in den nächiten praftifchen Beziehungen jeder heimathlichen 
und gegenwärtigen Frage zu Haufe, oder arbeitet fi in diefelben hinein. 
Das aber macht den eigentlichen Praktiker, ift wenigſtens jedem Praktiker 
unentbehrlih. Wo Lasker noch nicht Zeit gehabt hat, fein emfige® Studium 
der Anwendung eined Theorems auf gegebene Zuftände zu beginnen, da folgt 
er den Traditionen ded abjtracten Kiberaliamus oder des Fortſchritts, oder 
einer Autorität, die er erprobt gefunden, wie diejenige Gneiſt's bei der Kreis— 
ordnung. Diesmal ift ihm aber diefe Autorität zum Srrlicht geworden. 

Die „Vier Fragen zur deutfchen Strafprozeßordnung“ find eine der in— 
terefjanteiten und für ihren Urheber am meiften charakteriftifchen Schriften von 
allen, melde aus Gneiſt's Weder gefloffen. Dieſe Arbeit giebt gleichſam ein 
Compendium aller Vorzüge und aller Fehler ihres audgezeichneten Verfaſſers. 
Aber fo intereffant die Schrift individuell ift und fo anregend durch den 
Widerſpruch, den fie herausfordert, der aber nur durch alljeitiged Eindringen 





= 
432 — 


in die Sache ſiegreich zu begründen iſt, fo wenig kann fie an objectiver Ber 
deutung bei der Irrigkeit ihred Gejammtrefultates neben andere Schriften 
ihre® Verfaſſers geftellt werden. In feinen Arbeiten über das englifhe Staats. 
reht hat Gneift fih unvergängliche Werdienfte um die Kultur unfered poli- 
tifchen Denfend erworben. Er hat das ganz entitellte Bild von dem englifchen 
Staatsweſen zerftört, welches den Continent fo lange beherrfht und zu fo 
viel vergeblichen Experimenten verleitet hat. Der englifhe Staat ift nidt 
der Ausdruck der fouveränen Gefelihaft, und das englifche Parlament ift 
nicht der Vereinigungd- und Ausgleichungspunkt der geſellſchaftlichen In— 
tereffen, fondern die engliſche Freiheit ift erwachfen auf dem Boden der durch— 
geführten Zwangäleiftung im unentgeltlidyen Dienft der Gefellichaftsklaffen 
für ten Staat. Das englifche Parlament ift oder war mwenigftend in feiner 
großen Zeit nicht der Sammelpunft des Dilettantigmud, der Kritik und der 
egoiftiihen Socialintereffen, fondern der Brennpunkt ded Staatödienfted, der 
freiwilligen, Iofalen im Unterhaus, und des berufsmäßig centralen im Ober 
haus. Die Verfhhiebung der Staat&fouveränität auf das Parlament ift dad 
Erzeugniß einer durhaus anomalen Entwidelung und einer dynaftifchen Ent- 
artung. Das Parlament hat die Laft der Eouveränität fo lange tragen 
fönnen, als es die Zufammenfafjung des wirklichen Staatsdienfted mar. Seit, 
dem das Syftem der perfönlichen Zwangsleiſtung für den Staat, weſentlich 
in Folge des Uebergangs der factifchen Souveränität auf das Parlament, 
nicht fortgebildet worden, feitdem die neu fich fortbildenden Kräfte diefem 
Syſtem nicht mehr unterworfen, die neuen Staatöbedürfniffe nicht mehr durch 
das alte großartige Mittel, fondern durch büreaufratifche Einrichtungen be 
friedigt werden, ſeitdem zeigt das englifche Staatögebäude überall die Spuren 
eined Berfalld, von dem wir nicht willen, ob und wann ihm Einhalt gethan 
werden kann. 

Indem Gneifl die ewige Grundlage der ftaatlihen Größe, Wohlfahrt 
und Sittlichkeit, welche dasfelbe mit Freiheit ift, in der rigoriftiih durchge⸗ 
führten Staatspfliht, in der Unterwerfung der gejelichaftlichen Intereſſen 
und in der unentgeltlihen Zwangsleiſtung der gefellihaftlichen Claſſen an 
einem Staatwejen entdeckte, defjen Außenfeite dem Auge ded Aus. und nr 
landes eine ganz andere Grundlage lange Zeit zu verrathen fchien, zeigte er 
fih wahrhaftig nicht ala Anglomane, wie man ihm fälfchlich vorgemorfen. 
Er hob aus dem englifchen Staatsweſen die wahre Grundlage aller Staaten 
in der Epoche ihrer Gefundheit und Größe. Er empfahl und auch nicht den 
fpecififch englifchen Aufbau diefer Grundlage, fondern nur das ewig gültige 
Weſen derfelben zur Durhbildung in unferm Staat, im Anſchluß an unfere 
biftortichen Vorausſetzungen, und unter Benugung unferer eigenthümlichen An⸗ 
lagen. Dagegen ift die Schrift über die vier Fragen der deutfchen Strafpro- 


433 


zjebordnung von dem Vorwurf der Anglomanie nicht freizufprechen. Der 
englifche Strafprozeß ift eine in ſich durchaus confequente Rechtsbildung, ent- 
ſpricht aber einer niedrigen Stufe des fittlichen Rebend. Ihn zur Nachahmung 
empfehlen, ift gerade, ald wollte man uns dad Bildungsgeſetz der chinefifchen 
Sprache empfehlen (? d. Red.), einer Sprache, welche mit wunderbarer Confequenz 
und Sicherheit, bei dem elementarften Stande der Sprahform die Aus 
drucksmittel für ein entwickeltes Vorſtellungsſyſtem hervorbringt. Es ift 
fiherli Anglomante, wenn man ein einzelnes Formgebilde von dort zum 
Mufter nimmt, anjtatt die große Triebfeder des ftaatlihen Bildungsweges 
felbft zu erfennen und auf die höheren Bildungsbedingungen unfere® Boden? 
zu übertragen. Der englifche Strafprozeß ift ein beredteö Beifpiel unter an- 
deren, daß in England oftmals der ftaatdrechtliche Gedanke auf dem eigenften 
Gebiet ded Staat? nicht, wie er follte, den privatrechtlichen Gedanken ge 
Ihlagen hat. 

Die tiefen Gedanken der Gneift’fhen Schrift, die aber, weil fie gleichwohl 
nicht die erfchöpfenden Prämiffen ausmachen, in den Gonclufionen nur zu 
glänzenden Irrthümern geführt, haben den Geift Lasker's gänzlich unterwor— 
fen. Namentlih bat ihm die geforderte Deffentlichfeit der Vorunterfuhung 
eingeleuchtet, und im Reichstag eremplificirte er fogar, um diefe Deffentlichkeit 
zu empfehlen, auf den Prozeß Arnim, ohne den Namen zu nennen. Die 
Deffentlichkeit der Vorunterſuchung ift aber ein leerer Name, fo lange man die 
techniſche Geftaltung derfelben nicht in beftimmten Zügen vor Augen hat. 
Wil man bloß, daß der Anflagebefhluß in einem öffentlichen, die einzelnen 
Refultate der Unterfuhung zufammenfaffenden Verfahren feftgeftellt merde, 
fo wird wenig dagegen zu fagen fein. Soll aber jeder einzelne Akt von dem 
eriten Verdachtsmomente an ein öffentlicher fein, fo ift e8 fonderbar, auf den 
Fall Arnim zu exemplificiren. Sollte etwa der Beichluß der Verhaftung und 
Hausſuchung in öffentlicher Gerichtäfigung unter Verlefung der Denunziation 
gefaßt werden! Mir möchten wiffen, in welchem Fall es dann gelingen follte, 
die Spuren entmwendeter Urkunden oder beabfihtigten Mißbrauchs derjelben 
aufzufinden. Gneift nimmt bei Empfehlung der öffentlichen Vorunterſuchung 
feine Beifpiele Tediglich aus der Kategorie der gemeinen und ſchweren Ver- 
brechen, wo die Unterfuhung das gefammte, nicht der WVerbrechermelt ange: 
hörige Publitum zum natürlihen Bundesgenofjen hat oder haben follte. 
Aber felbft der deutfche Reichstag, der für Lasker's Wort ſoviel Aufmerkſam— 
keit bat, vernahm Ausrufe des Erftaunend und der Befremdung aus allen 
Reiben, als der Redner die ungeheuerlihe Behauptung ausſprach: die eng» 
liſche Criminaljuſtiz fei die promptefte bei den gebildeten Völkern. Wahr 
heinlih hat der Nedner die märchenhaften Erzählungen von den Wunder: 


thaten englifcher Detectived für pure Sahrheit gehalten, nn * produe⸗ 
Grenzboten EV, 1874, 


434 


tive Phantaſie der Reporter die Nubrif „Vermiſchtes“ in den Zeitungen 
ſchmückt. — Die Deffentlichkeit der Worunterfuhung kann bis zu einem ge 
wiffen Grade aud) in dem präparatorifchen Verfahren des Unterfuchungsrichters, 
heiße er nun mie er wolle, ihre Stelle finden. Aber wie fie bier gefordert 
wird, ift fie ein Auäfluß der Geftaltung ded Strafverfahrens zum Wartet 
prozeß, welche der deutfchen Bildung und fittlihen Anſchauung wohl nimmer 
wird annehmbar gemacht werden Eönnen. 

Die Commiffion zur Vorberathung der drei Juſtizgeſetze fteht vor einem 
großen und ſchweren Werk. Bei der Vernolllommnung des Vorſchlages zur 
theilmeife einheitlichen Gerichtsverfaſſung, wie er aus dem Bundesrath her- 
vorgegangen, fteht die Commiffion vorzugsweiſe politiſchen Schwierigkeiten 
gegenüber, welche fie Hoffnung haben darf, durch die begeifterte Zuftimmung 
ded Reichdtags zur Schaffung eined wahren, gleichartigen, deutfchen Richter: 
ftandes zu überwinden. Bei der Strafprozefordnung fteht die Commiſſion 
nicht dem particulariftifchen MWiderftreben gegenüber, an ihrer Seite den un 
miderftehlichen Bundesgenofjen des Nationaldranges nah einem großen und 
edlen Rechtsleben, fondern fie fteht vor einem Problem, über welches die 
öffentlihe Meinung der Laien und Juriſten noch in zahlreichen ungelöften 
MWiderfprücen befangen tft. Es wird fehr ſchwer fein, hier bereits etwas 
Bolllommened zu fchaffen, in dem Sinne, wie menfchliche Werfe allerdings 
vollfommen fein Fönnen und follen, fo nämlih, daß die Fünftige Werbefferung 
eine organifche Fortentwickelung des urfprünglichen Werfes darftellt. Ca ſteht 
fehr zu befürdhten, das eine inconfequente, widerſpruchsvolle Bildung zu Tage 
tritt. Es wäre vielleiht am Beſten, man fchlöffe ſich fo eng al® möglich an 
das mangelhafte Beftehende an, weil, wenn doch nur Mangelhaftes zu er 
reichen ift, gewohnte Mängel beffer find als neue. 

Bei der Givilprozekordnung dagegen fteht die Commtffion nach der faft 
übereinftimmenden Meinung auch des Reichstages einem bereitö nahezu voll 
endeten Werk gegenüber. Hier hat fie eine verhältnigmäßig leichte Aufgabe, 
die ihr neben den beiden fehmeren Aufgaben zu gönnen und nöthig if. Der 
Entwurf der Givilprozeßordnung ruht befanntlich auf dem Syftem der Münd- 
lichkeit und auf der Durhbildung des Berfahrens zum Parteiprozeß, melde 
bei dem Civilprozeß ebenfo naturgemäß, ald bei dem Strafprozeß dem Wefen 
ded Strafrehtd miderfprechend iſt. Wir ftimmen demnach nicht mit dem 
jenigen Abgeordneten überein, welcher die Frage aufmwarf, melcher von den 
drei bisher in Deutfchland vorherrfchenden Prozeßgeftalten bei der Grund» 
legung für eine deutfche Eivilprozekordnung den Vorzug verdient habe. Er 
entjchied fich für die Hannoverfche Prozeßordnung, weil fie in der Durch— 
führung der Mündlichkeit und des Parteiprozeſſes das moderne Princip der 
Selbftthätigkeit der Bürger zur Geltung bringe. 


— — — a 


435 


Wir wagen zum Schluß diefer Betrachtung über die erjte Leſung der 
Suftizgefege die Frage aufzumerfen, deren Beantwortung wir im Reichstage 
vermißten: welches der gemeinfame Grundzug diefer drei bedeutfamen Reform 
gefege ift. Wir erblicten denfelben in Nicht? fo wenig, als in der Aus— 
dehnung der privaten Selbftthätigfeit auf Koften ded Staats, was ung fein 
moderner Gedanke, fondern eine moderne Ephemere ift. Wir erbliclen diefen 
Grundzug vielmehr in der Annäherung an die Geftalt der edelften Eultur, 
wo die Organe der öffentlichen Sittlichkeit oder ded Staatd ald Bürgihaft 
objectiver Thätigfeit nicht mehr, oder immer weniger gebunden find an das 
äußerlich niedergelegte Schema des Gefeges, fondern wo fie mit der fittlichen 
und wifjenfchaftlihen Durchbildung des Geiftes in der Befugniß zur freieften 
Anwendung des Geſetzes die fachbeherrjchende Objectivität zu bewahren wiſſen. 
„Aörol yag elcı vouoı“, jagt Ariftoteled von den Negenten auf der voll. 
fommenften Stufe der Stantdentwidelung. 


Machtrag.) Während ich alle anderen Reichstagsvorgänge ſeit der 
eriten Leſung der Juftizgefege auf den nächften Brief verfchiebe, glaube ich 
den Leſern bdiefer Berichte heute mindeftend noch eine Befprehung der 
Sigungen vom 4. und 5. Dezember ſchuldig zu fein. | 

Die Sitzung am 4. Dezember eröffnete mit der Berlefung von vier 
Schreiben ded Reichskanzlers. Das letzte davon benachrichtigte den Reichs— 
tag, daß die bei den Ausgaben des auswärtigen Amtes geftellte Forderung 
der Befoldung eines Reichsgeſandten beim päpftlicden Stuhl zurüdgezogen 
werde. Die Mittheilung diefed Schreibens rief im Reichstag bereitd eine 
große Bewegung hervor. Seitdem der Papft die Betrauung eine? Gardinald 
mit dem Poſten eined Neichdgefandten beim päpftlichen Stuhl nicht zugelaffen, 
iſt dieſer Poſten vakant. Die Aufnahme der Beſoldung deäfelben unter die 
Reichsausgaben war alfo eine bloße Formalität, indem bei der Rechnungs 
legung die Poſition als nicht verausgabt in Einnahme gefegt wurde, 
Immerhin Hatte diefe Formalität die Bedeutung, daß die Reichsregierung 
jeden Augenblid in der Lage war, einen ordentlichen Gefandten beim päpft- 
lichen Stuhl zu beglaubigen, und daß das Fehlen eines Gefandten bei diefem 
Stuhl ala eine Zufälligfeit erfchien. Um die Bedeutung der zurüdgezogenen 
Befoldungsforderung zu ermeffen, muß man fi vergegenwärtigen, daß vor 
Kurzem die „Neue freie Preſſe“ in Wien die Mittheilung brachte, das deutjche 
Neich habe auf irgend melden Wegen im Batifan den Wunfh und die 
Bereitwilligkeit zur Ausgleihung der obwaltenden Streitigkeiten Fund gethan. 
Es hat keine geringe Wahrfcheinlichkett, daß das Erfcheinen diefer Nachricht 
in diefem Blatt,“ das zwar nicht römifch ift, aber zu diplomatifchen Manövern 


436 


vielfach geeignet befunden wird, ein römtfcher Fühler war. Das Dementi, 
welches die Reichsregierung fogleich entgegen ſetzen ließ, konnte man als bie 
Abweiſung diefer Friedendofferte deuten. Nicht etwa, ald ob das deutjche 
Reich um jeden Preis Eriegerifch gegen Rom aufzutreten gedächte, aber die 
Staatäleitung desfelben weiß, dag Nom fehr ſchwer und auf feinen Fall ſchon 
jest auf annehmbare Bedingungen zum Frieden bereit ift. Unter diefen Um— 
ftänden war die Zurücziehung der Befoldung, mit andern Worten, die Auf 
hebung der Stelle eines deutjchen Gefandten beim römijchen Stuhl, eine zweite 
und noch weit nahhdrüdlichere Abmeifung ded von Rom in feltfamer Form, 
aber immerhin mit Wahrfcheinlichfeit geäußerten Friedenswunſches. Sei e8 
nun, daß von dem Schreiben ded Reichskanzlers bezüglich der römifhen Ge 
fandtfhaft ſchon etwas verlautet hatte, fei ed, daß im Geiſte des befannten 
Gentrumdmitglieded, ded Herrn Jörg, der Plan zu einem Angriff ſogleich bei 
der Verleſung des Schreiben® entjprang, genug der genannte Abgeordnete 
wandte fich gelegentlich der Ausgaben für den Bundedrath und feine Aus. 
fhüfle, infonderheit der Ausgaben für den auswärtigen Ausſchuß, mit über 
legter Perfidie gegen die auswärtige Politik des Reichskanzlers, um denfelben 
dem Ausland ald Störer ded europäifchen Friedend zu denunciren, dem In— 
land ala denjenigen, der Deutfchland in völlige Abhängigkeit von Rußland 
gebracht Habe. Man konnte diefen Infinuationen fehr viel Aerger und 
Böswilligkeit, aber daneben freilich auch die Berlegenheit anfehen, melde zu 
den abgefhmadteiten Mitteln greift. Alle, die der Sitzung beimohnten, 
fonnten dem Reichskanzler anmerfen, daß er antworten werde, und er that 
es. Nachdem er mit bemwundernämerther Ruhe und fachlicher Herrfchaft den 
Verfuch widerlegt, die Zurückweiſung franzöfifcher Beleidigungen in amtlichen 
Dokumenten und die Bemühung, In Spanien einer Regierung die europäifche 
Anerkennung zu verfchaffen, welche in den internationalen Verkehr wenigſtens 
nicht den Mord einführt, zu Interventionen zu ftempeln, fprach er über das 
Berhältnig des Mörderd Kullmann zur Gentrumspartei. Herrn Jörg gebührt 
das Verdienft, diefen Mörder auf die Tribüne des Reichstags gezogen zu 
haben. Was der Kanzler in Folge diefer unerhörten Herausforderung feiner 
Perſon ausſprach, waren nur nadte Thatfahen. Man kann wohl das Opfer 
eined Mordverfuches nicht ftärfer reizen, und nur aus der Abficht zu reizen 
und die Perſon auf das Tieffte zu verlegen, ift es wohl zu erklären, wenn 
Jemand das Verbrechen in Gegenwart des Opfers ald eine Kleinigkeit dar 
ftelt. Der Fürft antwortete nur, indem er die Aeußerungen aus Kullmann’d 
eigenem Mund anführte, wie derjelbe fein Verhältniß zur Centrumsfraktion 
angefehen. Als der Fürſt geendet, entwickelte fi eine Scene, deren Be 
ſchreibung die Leſer fchon vielfah vor Augen gehabt haben, wenn ihnen 
diefer Bericht vor Augen kommt. Gerade bei dem, was man unbefchreiblid 


437 


nennt, iſt vielleicht die Wiederholung der Befchreibung erklärlich. Ich will 
mih aber nur auf einige allgemeine Züge befchränfen. Man meiß, daß in 
einer MWeife, wie es deutiche Parlamente wohl noch nicht erlebt haben, das 
Gentrum und der übrige Theil des Reichstags minutenlang gegeneinander 
tobten. War es das Toben des Centrums, welches die nationalen Reihen 
mit Mrem Beifall erftiten wollten, oder wollte das Centrum mit feinen Mif- 
lauten den Beifall erſticken? 

Ich hatte den Eindruf, daß der Beifall eine gewaltige fpontane Ber 
wegung war, hervorgerufen durch einen der feltenen Momente, wo die geiftige 
Größe eined Mannes in unmittelbarer Gegenwart für die augenblickliche 
Wahrnehmung erfcheint. Der Lärm der Ultramontanen entiprang weniger 
dem Bedürfniß ihre Gegner zu übertäuben, ala dem impontrenden Einfluß 
des gehaßteiten Feinde auf ihr eigenes Gefühl! Das blutige Epigramm, 
welches nach dem bezeichnenden Ausdruck der „National-Ztg.*, der Kanzler 
auf die Schultern eines der roheiten unter den Närmern heftete, wird unver: 
geblich bleiben. In dem Augenblid, als es gefprohen wurde, hatte die er» 
regte Empfänglichfeit den Höhepunkt ſchon verlaffen, Die Debatte lenkte 
bereit8 in den Streit mit Argumenten ein, der einer deutfchen Verſammlung 
fo natürli ift. Auch der Reichskanzler, ald er zum zmeiten Mal gegen 
Windthorſt's dialektifche Künfte das Wort nahm, bewegte fi in dem Geleis 
der Argumente, ald Lasker in dem unfered Erachtens fehr berechtigten Gefühl 
der unerhörten Schmach, welche die Rede des Jörg der deutfchen Nation 
angethan, die Aeußerungen desſelben ald Verbrechen bezeichnete. Der Präfi- 
dent mußte Lasker zur Ordnung rufen. Uber die Mehrheit des Reichstags 
gab dem Redner Recht, wie nur je. Vergebens fuchte Windthorft die Ver— 
urtheilung Jörg's dur dad grobe Sophisma zu entfräften, das Abrathen 
vom Kriege könne patriotifch fein, wie Thiers' Abrathen 1870 patriotifch 
gewefen. In diefem Augenblick gefchärfter Wahrnehmung am menigiten 
fonnte der Rabulift auch nur ein einziges Mitglied darüber täufchen, daß es 
zweierlei ift, gegen den Krieg fprechen, wenn er In Frage ift, und das eigene 
Rand des Krieges verdächtigen, das im vollen Ernft den Frieden ſucht. 

Dies die großen Züge der denfwürdigen Sigung. 

ALS Fürft Bigmard dem Centrum zurief; „der Verbrecher heftet fh an 
Ihre Rockſchöße“; da leuchtete ed wie ein Blitz durch den Saal, der die Schrift 
erhellt: das Verbrehen heftet fihb an Euer Thun. Wie maßlos 
elend find die Waffen, mit denen diefe Fraktion kämpft, in der fo viele an 
ich achtbare Männer ftreiten! Nehmen wir an, ed wäre wahr, daß ben 
Katholiken Unrecht gefchähe von der deutjchen Neichäregierung, einer der 
erfolgreichten Regierungen, die ed gegeben. Wäre da nicht die fittlihfte 
Waffe die wirkfamfte, mit ftilem Ernſt binzumeifen auf den dunklen Fleden 


438 


auf dem glänzenden Schild ruhmreicher Thaten! Uber dieſes Begeifern, 
Käftern, Verhetzen der Größe einer Nation, deren Geſchicke man zu” berathen 
in Anfprud nimmt, das ift eine Waffe, die nur für eine ſchlechte Sache ger 
führt werden fann. Der Weg der Ultramontanen führt zum Waterland 
verrath in der fchwärzeiten Geftalt, und wenn fie zu diefem Ziel gelangt find, 
von welchem fie den Sieg ihrer Sache erhoffen mögen, dann wird eö#mit 
derjelben für immer in Deutfchland vorbei fein. 

Die Beleuhtung, in welcher der Ultramontanismus am 4. Dezember 
erichien, war fein vergängliches Licht. Die Mittheilungen ded Kanzlerd am 
5. Dezember haben es ſogleich aufs neue firirt. Dennoch fteht es außer 
Zweifel, wad fo lange gemuthmaßt, aber nie beftätigt worden, daß bei der 
franzöfifchen Kriegserflärung von 1870 ultramontane Einflüffe den Ausſchlag 
gegeben, daß man dad Goncil abfürzte, um es wieder zufammentreten zu laſſen 
unter der Aegide des unmiderftehlichen Schtedsrichteramtes in Europa, welches 
die Befiegung Deutſchlands dem franzöfifchen Kaifer verliehen. Nach dem 
Borgang der „Germania“ wollte Herr Auguft Reichenfperger die ultramontane 
Tendenz der napoleonifchen Politik in Zweifel ziehen. Es ift wahr, auf 
diefer Katfer Eonnte dem Papſtthum ſich nicht bloß unterwerfen, aber er 
wollte ed zum Stützpunkt feiner geficherten Herrfchaft machen, und mußte 
ihm daher das Meifte, wenn ſchon nicht Alles, gewähren, was es von ihm 
fordern wollte. 

Die direkte Yeußerung aus dem Munde eines hochbetrauten Dienerd der 
Curie, daß diefelbe nöthigenfall® durch die Revolution zum Ziel kommen 
werde, hat bei ihrer beglaubigten Mittheilung ein gewaltiges Auffehen erregt. 
Auch fie firiet das Licht, in welches der deutfche Ultramontanismus, der ja 
nichts fein will ald Roms Werkzeug, fih am 4. Dezember geftellt hat. 

Cr. 


Weihnachtsbücherſchau. 


Unter den Weihnachtsbüchern für „Große“ nennen wir heute an erſter 
Stelle die Erzählungen von L. Budde, frei nach dem Däniſchen von 
Walter Reinmar. (Leipzig, Ir. Wilh. Grunow, 1875.) — Es wird 
uns verſichert, daß der Verfaſſer des Originals wie der Ueberſetzung, Beide, 
dem ſtarken Geſchlecht angehören, ſonſt würden wir geneigt ſein, ſie zu dem 
Geſchlecht der beſten Blauſtrümpfe zu zählen, die es je gegeben hat. Denn 
der Verfaſſer beſitzt ein Talent für feine weiche Beobachtung der menſchlichen 
und fog. todten Natur, wie wir es in Deutſchland nur bei den hervor 
ragendften Schriftftelleri nnen gemwahren. Der Ueberfeger feinerfeits ift nad 


439 


derfelben Richtung Hin fprahlih und ftiltftiich ganz beſonders beanlagt. 
Uber diefe Bemerkung fol keineswegs etwa den Werth des Driginald oder 
diefer deutfhen Ausgabe dedfelben herabfegen. Der Deutfche, der in dänifcher 
Literatur zu Haufe ift, wird es oft eigenthümlich empfunden haben, daß der 
Däne eine MWeichheit und Bewegung ded Gefühld, der Naturfchilderung, der 
Sharakteriftif für die Iandesüblichen Bedürfniffe vorräthig hält, die mir bei 
unfern männlichen Schriftftellern höchit felten antreffen und im Allgemeinen 
nicht für abfolut nothwendig anfehen, dagegen fehr anerfennendwerth finden, 
wenn fie aus Frauenfedern entfloffen find. Es ift das ein Beitrag zu dem 
merkwürdigen Problem, daß die Völker, die im raubeften Kampfe mit der 
Natur ihre Dafein friften müffen, Gebirgäbewohner und Inſelſtämme u. f. w., 
den innigften, weichſten Regungen des Herzen, der feinften Beobachtung befon- 
ders zugänglich find und ihr geiftiges Reben darin beſonders zu bethätigen lieben. 
Für und Norddeutfche, die wir in dem Kampfe um unfere Exiſtenz auch 
keineswegs auf Rofen von Schira® gebettet find, hat die dänische und ffan- 
dinavifche Moefte, folange fie und erfchloffen ift, immer befondere Anziehung? 
fraft geübt, und auch diefe Erzählungen von 8. Budde verdienen unfer vollites 
Intereffe. Denn auch im Humor, in der freien germanifhen Würdigung der 
Individualität, de Menfchen im Menſchen, gleichviel welchem Stande der 
Einzelne angehört, in dem ſchönen Bemwußtfein der Pflicht, die Jeder an 
feinem Theile gegen Andre und die große menfhlihe Geſellſchaft zu üben 
bat, in der er lebt, find diefe Erzählungen, troß ihrer nördlicheren feeländifchen 
Herfunft doch ein treued Spiegelbild unferer Volksſeele. Sa, in ihnen allen 
ift die UAnerziehung oder der Durchbruch dieſes Bemwußtfeind der Kern der 
„Moral“, der Entwidelung und Vermwidelung der Heinen Handlung, melde das 
finnige Gemüth des Verfafferd und abipinnt. Wir find überzeugt, niemand wird 
diefe freundlichen herzlichen Gefchichten ohne tiefen bleibenden Eindrud Iefen. 
Für den Weihnahtsabend eignen fie ſich ganz befonders, da einige der beften 
von ihnen die Weihnacht zur Peripetie ihrer Handlung auderforen haben. 
Bon den Prachtwerken, melde diefed Jahr fih zur Beſcheerung 
befonderd empfehlen, ſei in erfter inte der beiden fchönen Erzeugnifie des 
Verlags von Alphons Dürr gedacht: „Die [hönften deutſchen Volke: 
lieder, gefammelt und herauägegeben von Georg Scherer, mit trefflichen 
Holzſchnitten nah Zeichnungen von Piloty, Namberg, Ludw. Richter, 
M. v. Schwind, Thumann u. W., einer illuſtrirten Prachtausgabe, die jedem 
deutfchen Haufe zur Zierde gereicht, Jung und Alt eine Quelle wahrer, 
lauterer Freude werden wird; und dann jene edle Ausgabe von Cornelius 
Koggienbildern, facfimilirt gejtochen nad) den eigenhändigen Entwürfen 
ded Meifterd zu den bekannten Fresken in der Münchner Pinakothek. Hier 
an diefer Stelle fol auf dad hochbedeutſame Werk nur verwiefen werden, um 

































440 


auf dadfelbe fpäter eingehender zurüdzufommen. Bid zum Tode König 
von Batern lagen die Zeichnungen des Meiſters, nach denen die hier. 
den Stiche durchgepauit find, der Melt verichlofen, in königlichem Prib 
Langjährigen Eunitfinnigen Bemühungen -ift diefe Ausgabe zu danfen, % 
Münchner Ernft Föriter den erflärenden Tert, Prof. Große die fchön g 
Zeichnung des Umfchlagd dankt, und in Verbindung 'mit den gen 
Entwürfen von Cornelius felbjt eine der großartigiten Darftellung 
Kunſtgeſchichte bietet, die denkbar find. — 

Die Deutſche Kunſtgenoſſenſchaft in einer ihrer würdigiten Vertretu 
in der Bereinigung des Düffeldorfer „Malkaſten“, buldigt auch ſchon 
Sahren der löblihen Gewohnheit, ſich zum böchſten Jahresfeſte in 1 
„Künjtler-Album“ um die Weihnachtägunft des Publikums zu bemei 
Und mit Recht iſt dieſes Jahrbuch deutſchen Kunſtſtrebens und deuf 


dorf, Verlag von Breidenbach & Comp. verdient dieß im voll 
Maße zu fein. Herausgegeben iſt er von Ernft Scherenberg, dem U 
tigen, tapfren Dichter, deſſen ———— Lieder ſoeben in ſtattlich 
Ausgabe bei Ernſt Keil in Leipzig erſchienen find, und ebenſowohl di 
die Reinheit und Tiefe ihrer Lyrik wie dur die Macht und Klarheit ih 
vaterländiſchen Pathos weit über die Maflenproduction unfrer Tage her 
ragen. Ernſt Scherenberg übt fein Amt als Herausgeber des KHünfk 
Albums in diefem Bande durch pietätvolle Verje zum Gedächtniß an W 
gang Müller von Königswinter, der befanntlih von 1851 —53 und X 
1860— 67 dad deutſche KHünjtler- Album herausgegeben. Demjelben es 
rheinifhen Dichter ift auch das erfte Blatt de deutſchen „Urabestenfönf 
Casp. Scheuren geweiht. Und wie in den Gedichten die vornehmiten Si 
des deutſchen Parnaſſes ſich vereinigen, fo auch in den Bildern! Jeder 
ſtolz fein, diefes Werk fein eigen zu nennen. 

Last not least erbitten wir die ganz befondere Aufmerkſamkeit unft 
Refer für das im rer von E. Köhler in Darmitadt erfcienene Aqua 
Prachtwerk von Ludwig Robod „dad Berner Dberland*, Text 
Eduard Dfenbrüggen. Wer hat nicht, inmitten der in ihren Forr 
und Maflen, in der Abwechslung von Gebirg, Stromfall, Thal und 
einzigen Naturfchöne ded Berner Dberlanded den Schmerz empfunden, wie 
ſcheiden zu müfjen aus diefer reichen Gebirgamelt? Wem iſt nicht, wenn: 
von Thun oder von der Brünigftraße aus zuerjt diefer Wundermelt des Berk 
Hoclanded entgegeneilte oder von diejen Stellen aus zum legten Male % 
diefelbe zurücblicdte der ftile Wunfch aufgeitiegen: ach, könnte man doch m 
eine einzige diefer Herrlichkeiten mit nah Haufe nehmen! Die „Souvenik 
an das Oberland, die in Interlaken, Bern, Luzern 2c. in gefchnigten Rahm 
in einer Art von Delfarbenanftrich oder bunten Lithographien zu faufen fi 
beleidigen mehr unfer Auge und unfre heilige Erinnerung an die Reize t 
Dberlandes, ald daß fie daheim ung erfreuen fönnten. Und ähnlich verh 
es fi) wegen des Mangels aller Farbe, wegen der Unmöglichkeit, den 
der Hochlandsferne wiederzugeben, mit den Photographien und Stereojfg 
vom Berner Dberlande. In dem vorliegenden Prachtwerke aber bat fich ei 
der bervorragendften Randfchafter verbunden mit dem zur Zeit wohl um 
ftritten bedeutenditen Schilderer der Schweizer Volks- und Gebirgdnatur, Pi 
Dienbrüggen, um und ein Werk zu jchaften, das eine der fchönften Gegen 
der Erde in Bild und Wort in muftergültiger Weiſe und vorführt. 


— — — — — 


Verantwortlicher Redakteur: Dr. Hand Blum in Leipzig. 
Verlag von F. 2, Herbig in Leipzig. — Druck von Hüthel & Legler in Leipzig. 











* 



















XXX. Jahrgang. 





— — — 


BeitTästft 
für 


Politik, Siteratur und Kunfl. 
N 51. 


Ausgegeben am 18. December 1874. 


Inhalt: 


Breußiſche Geihichten. Wilhelm Maurenbreder. . 441 
Die General-Direction der Sächſ. Staatöeifenbahnen, das Reicher 
—— und das Publikum. Mar Kren * 


Eine neue Ausgabe von Jeremias Gotthelf. B. . 55 WM 
Bom deutſchen Reihstag.e C—r. . » » 2 > 20. EA 
ZEARRERTERETDEN: nn nee 476 
Ein Brief Friedrich Fiſchbach's an die Redaction. . . . 480 


Srenzbotenumſchlag: Literariſche — 
Hierzu zwei literariſche Beilagen. E. Kofhny in Leipzig. Meyer’ ſche 
Hofbuhhandlung in Detmold. 


— 


Leipzig, 1874. 
Friedrich Ludwig Herbig. 
(Ir. Wilh. Grunow.) 





Grenuzboten. 





ec 2 


tbei allen Duchhandlungen und Pofämtern bes ud und Auslandes. 


Die soeben erschienene No, 50 der Jenaer 
Litersaturzeitung, im Auftrage der Universität 
Jena herausgegeben von Anton Klette, Jena, 

Mauke’s Verlag (Hermann Dufft) 
enthält Besprechungen von: 





IE 


In Ferd. Dümmmler’8 Verlagebuchhandlun 
(Harrwiß und Goßmann) in Berlin : 


Magazin für die Literatur des Auslande 


J. Köstlin, Martin Luther: von H. Holtzmann. | Begründet vor Jofepb Lehmann. 43, Yabı 


H. Weingarten, Zeittafeln zur Kirchenge- 
schichte: von F. Nippold. H, Thiele, die Va- 
terlandsliebe der Christen: von R. Ehlers. 
J. Chr. K. v. Hofmann, die Offenbarung Jo- 
hannis, — J. Wiesinger, d. Gährungsprocess 
unserer Zeit: von W. Grimm, F. v. Holtzen- 
dorff, Rechtslexicon: von Th. Muther. O. Wal- 
eker, d. russ. Agrarfrage: v. A. v. Miaskowski, 
F. Merkel, Untersuchungen aus dem anato- 
mischen Institut zu Rostock: von G. Schwalbe. 
R. Sturm, darstellende Geometrie: v. F. Linde- 
mann. A. v. Lasaulx, das Erdbeben von Her- 
zogenrath : von E. Schmid. F. Sauter, diplo- 
matisches ABC: von W, Schum. W. Arndt, 
Schrifttafeln: von W. Schum. PB. Capasso, 
historia diplomatica regni Siciliae inde ab anno 
1250—1266: von W. Bernhardi. M. Ritter, 
die Union und Heinrich IV.: v. @. Droysen. 
C. Otto, Johannes Cochleaus: v. C. Bursian, 
Rivista di filologia: von L. Jeep. Aeneae T. 
poliorceticus, ed. A. Hug: von F.K. Hertlein, 
A. Rosenberg, die Erinyen: von K. Dilthey. 
Jean de Flagy, girbers de Metz, herausgegeben 
von E. Stengel: von H. Suchier.” 


‚Das December- Heft der „Deutſchen 
Blätter‘, begründet von Dr. G. Füllner, 
herausgegeben von Dr. €. F. Wineken, 
Berlag von Friedr. Andr. Perthes in Gotha, 
bringt folgende Aufjäge: 

Zum Reichsvereinsgefeß. Yon einem Volkswirth. 

Die Statiftit der fittlihen Thatjachen und die 

fittlihen Wiffenfhaften. Bon Schmidt. Patrio- 

tismus und Wiffenfchaftlichkeit. Don einem Pa- 
‚trioten. Gewerbe und Gemerbegefepgebung in 
Deutihland von der Reformationszeit bis zur 
Gonftituirung des Norddeutfchen Bundes. Von 
Marpe. Die fociale Frage feine firhliche Frage. 
Bon einem GChiliaften. Die firchenpolitifche Lage 
und die religiöfen Richtungen in der reformirten 
Kirche des Gantons Bern. Bon Hugendubel. 
Aus. der Neuchäteller Kirche. Schreiben an den 
Herausgeber. 


















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121. — Orient. Gichmunazars Grab 122. 
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723. — Maurice Block, Statistique de la Franc, 
ouvrage couronne€ par l’Institut. 724. — Sum 
Ward Beechers ausgewählte Predigten. 724. - 
Geſchichtsſtudien in Amerika. 724. — The Inter- 
national Gazette. 724. — (Eduard VL gegen 
die Suprematie des Papſtes. 724. — Häuslıcr 
Krankenpflege. 725. — Spredfaal. Franttei 
und die Karliften. 725. — Frit van de Kerfber: 
726. — Ecole libre des sciences politique, 72% 
— Brief aus den ruffifchen Oſtſee⸗Provingen. 72 


a ee 


No. 50 des „Magazin“ enthält folg ie! 
gende Artite! 

Deutſchlaud und Das Ausland. Kortitrir 
der Menfchheit. 729. — Meue Titerarifge Orr 
nungen und Weihnachtsgaben. I. Varnhagen un) 
Nabel, Dtto Lange, Mylius, Erneftine, Ribarı 
rg Prediger Bachmann, Bruno Buse 
* er 3. Leffing. 731. — Epanier. 
3. . Klein, Gefchichte des fpanifchen Dramas. |. 
133. — alien. Gabrio und Camilla. Au 
geihihtliher Roman von Guilio Garcano, 7}! 
_ Frankreich. Die Kriſis in der reformirten 


Kirche in Franfreih. 736. 
a Shatefpeares. 736. — > en. * 

bib. 737. — Bericht über indifche und ena 
Berbältniffe. 


Bom Ab eordneten Dr. Ebertu. \ 
——— — S$tleine literariſche Repur. 
—* — i ei fsfehriften zum Weihnahtätis 
KL Di neinder = Sefchichten von Laboulır 
enen Sefhigten nn iihte Indiens, von feinen « 
Bradet. Tan. ROSEN Erählt, Ta 


741. — Les Grammalriens fran 


Büpeferromane, 742 vet. — 


Alter 3er 
&d A — Ylber! vr 
agogifche Schriften. 742. 


. — 


moine. 742, 


iR 


Vreußiſche Geſchichten. 

Nicht ganz ungegründet iſt der Vorwurf, den manche Freunde der Ge 
ſchichtswiſſenſchaft ihren Jüngern machen, daß gegenwärtig keine irgendwie 
genügende Darſtellung deutſcher Geſchichte vorhanden iſt. Die alte fable 
convenue, die man für die Geſchichte des deutſchen Volkes ausgegeben hat, 
it an den meiften Stellen erſchüttert. Die neuere Eritifche Forſchung iſt in 
voller Thätigkeit, an ihrer Stelle ein neues Gebäude aufzuführen; — diefe 
Thätigkeit ift aber noch nicht vollendet; und fo entjchließt fich ein wiſſenſchaft⸗ 
licher Hiftorifer einftweilen nicht leicht, eine zufammenhängende und alles um-« 
fafiende Darftellung zu geben. Es bleibt heute anderen Händen überlaffen, 
Grundriffe und kurze Handbücher zu verfaffen. Jedenfalls was von größeren 
und audführlicheren Werfen über deutfhe Geſammtgeſchichte in letter Zeit 
audgeboten worden, wird nicht wirklich empfohlen werden dürfen. 

Anders fteht e8 mit der Preußiſchen Geſchichte. Nicht ald ob man fagen 
könnte, wir befigen eine allen wifjenfchaftlichen Anforderungen entfprechende 
Geſammtgeſchichte des preußifchen Staates; — aber hervorragende Hiftortfer 
haben fih an diefe Arbeit gemacht und es liegen Werfe über preußifche Ge- 
{biete vor, an die man den Maaßſtab wiſſenſchaftlicher Eritifcher Geſchicht— 
ſchreibung anlegen darf. Wir erinnern kurz an die älteren Verſuche, um dann 
die neueren Bearbeitungen genauer zu charafterifiren. 

Die Gefchichte des preußifchen Staates wächſt heraus aus der Gefchichte 
des brandenburgifhen Kurfürſtenthumes. Um die Wende des 16. auf das 
17. Jahrhundert trat die höher hinaufftrebende Tendenz der Brandenburger 
zu Tage, da begann die brandenburgifche Kandeögefchichte einen anderen. 
Charakter anzunehmen ald die der anderen deutfchen Randesfürftenthümer, 
In diefer Zeit und aus diefen Verhältniffen der Fühner emporfommenden 
brandenburgifchen Politif heraus fchrieb der erfte brandenburgifche Hiftorifer 
Reutinger feine Werfe über die Gefchichte der heimijchen Rande, 

Sm 17. Jahrhundert hat fodann der große Kurfürft aus dem von feinen 
Borfahren gewonnenen Materiale den neuen brandenburgifch » preußifchen 
Staat gebildet. Während feiner Regierung entwidelte ſich das eigenthümliche 


Gepräge des neuen deutfchen Zukunftsreiches. Damald griffen Viele zur 
Grenzboten IV. 1874, 56 





442 . 


Feder, dies neue Staatsweſen zu ſchildern, Lockelius, Rentſch umb in 
den nächſten Nachmirkungen diefer Regierung unter feinen beiden Nachfolgern 
Bundling, Zwantzig, Abel und Myliusd. Den großen Kurfürften 
hatte Leti, einer der italienifchen Vielfchreiber, fi neben feinen anderen 
zahlreihen Geſchichtsbüchern zum Gegenftand einer lebhaften und amüfanten 
Schilderung gemacht; und der Kurfürſt felbft Hatte einen der erften europäi— 
ſchen Gelehrten Bufendorf berbeigerufen, Herold feiner Thaten zu werden. 
Das kurfürſtliche Staatsarchiv ftand Pufendorf offen; er benugte mit großem 
Geſchick und mit politiihem Verſtändniß die geheimften Papiere der Regie 
rung, — ein merfwürdiged Beifpiel von richtiger Erfenntniß der Bedeutung 
und des Nutzens archivalifcher Forfhung, mit dem unfer Vaterland damals 
Andern die Wege gemiefen ! 

Unter unfern preußifchen Hiftorifern ift mit befonderem Nahdrud unfer 
größter König und Staatdmann zu nennen, König Friedrich der Große. 
Gr bat befanntlicy nicht allein die Gefchichte ſeines Lebens und feiner Regie 
rung verfaßt, fondern auch eine Skizze der vorhergehenden Geſchichte des 
Landes und ded Fürftenhaufes geliefert, ein Kleines aber bedeutendes Buch, 
voll der genialften hiftorifhen Blicke, gefättigt und getränft von dem hiſto— 
rifch-politifchen Urtheil eines der gewaltigften und originalften politifchen 
Genied. Der König, der wie feiner die Leiftungen und Fähigkeiten und Auf 
gaben feines Volkes zu ermeſſen und zu leiten verftand, Eritifirte in ſcharf 
pointirten Säten Thun und Laſſen, Tugenden und Fehler feiner Vorgänger: 
beim Studium ypreußifcher Gefchichte wird man heute noch diefe Urtheile zu 
erwägen und zu berüdfichtigen haben. 

MWährend der Negierung dieſes Königd murde das Königreich Preußen 
europäifche Großmacht; es lohnte fich immer mehr feiner Gefchichte nachzu— 
gehen. Der Hallenfer Profeſſor Bauli hat damals ein umfangreiches Werk 
aus gewiſſenhaften Studien verfaßt; von Band zu Band wächſt mit dem Auf: 
ſchwung der großen Ereigniffe und Thaten des fiebenjährigen Krieges Kraft 
und Muth des preußifchen Hiftoriferd: wir können heute immer noch die act 
Quartanten von Pauli nicht entbehren. Um Pauli gruppiren fich, ihn ergän- 
zend und ausführend, die Arbeiten und Studien von Buchholz, Gallus, 
Thile, Wöhner, Fifhbah, Hering, Baezko u. A.: eine Anzahl von 
Monographien ift damald entftanden, ohne deren Hülfe auch heute nod 
Niemandem — leider! — gerathen werden könnte, preußifche Gefchichte zu 
treiben ! 

Am Ausgang des vorigen und Eingang diefed Jahrhunderts hat fich der 
Beifter in ganz Europa eine neue politifche Tendenz und Auffaffung bemäch— 
tigt: wie fie das öffentliche Leben in allen Gulturländern zu beherrfhen und 
allmälig umzuwandeln fich beftrebte, jo drang fie auch in die politifchen und 


443 


hiſtoriſchen Wilfenfhaften ein. Auf dem Gebiete, das wir betrachten, ent- 
fand daraus die fehr interefjante hiftorifch- politifche Kritik, welche der Fran- 
zoſe Mirabeau, einer der Führer der neuen Tendenzen, über den preußifchen 
Staat gefchrieben : anregende und fruchtbare Discuffionen rief dergleichen na- 
türlich hervor. 

Seitdem konnte man nicht wohl mehr bei der hergebrachten Negenten- 
und Volksgeſchichte fih begnügen; man empfand das Verlangen die maf- 
gebenden politifchen Faktoren der preußifchen Gefchichte zu begreifen; und 
eine von politifchem Geifte eingegebene Gefchichte des preußifchen Staates war 
und blieb nun ein Thema, das vgr, während und nad den Freiheitäfriegen 
manche Geifter reizen mußte. Diefer preußiiche Staat, der damald Deutfchland 
aus fremden Joche errettet, dem die Deutjchgefinnten ihre Blicke immer 
intenfiver zumandten, war eine Erſcheinung, mit der die neue politische 
Doctrin ſich in irgend einer Weife abfinden mußte: in manchen Stüden fah 
fie in ihm verwandtes, andererfeitd aber auch manches, was fie abftoßen und 
zurüdichreden mußte, — von den verfchiedenen Seiten, die der Betrachtung 
ih boten, galt es feine Gefchichte zu verftehen oder zu ftudiren. Das natio— 
nale und patriotifhe Gefühl fteigerte das Intereffe an der Aufgabe; — und 
doch iſt troß vieler Anläufe diefe Aufgabe damals nicht gelöft worden. 

Wir willen, daß Friedrich's II. Minifter Herzberg ſich mit der Abſicht 
einer Gefchichte getragen. Es ift befannt, daß der gefetertfte Hiftorifer feiner 
Zeit, Johannes von Müller ein großes Werk diefer Art zu fehreiben, 
nad Berlin berufen war: aus feiner nachmals gehaltenen Rede über Friedrich II. 
ſchöpfen wir dad Gefühl dankbarer Befriedigung darüber, daß er nicht damit 
zu Stande gefommen. Dagegen bedauern wir es auf dad Lebhafteſte, daß 
der Schöpfer unferer kritiſchen Geſchichtsforſchung, B. ©. Niebuhr feinen 
Gedanken einer Preußiſchen Gefchichte nicht ausgeführt hat: er wäre der Mann 
für diefe Sache gemefen! Der Anftoß, den er ernften und eindringenden 
Studien gegeben, wirkte natürlih auch auf diefem Felde förderlich meiter; 
fritifhe und grundlegende Forfchungen wurden unternommen: man braudt 
nur an die Namen von W. von Raumer, Klöden, Rancizolle, 
Riedel u. A. zu erinnern, um die Bedeutung und die Refultate vieler mono» 
graphijcher Unterfuchungen und vieler archivalifcher Forfehungen hervorzuheben. 
Daneben Hatten auch in Berlin die Profefforen Rühs, Stuhr, Siegfried 
Hirſch, in Königsberg Schubert die Abficht, preußifche Geſammtgeſchichten 
zu ſchreiben; von allen aber find nur Fragmente fertig geworden fehr ver- 
Ihiedenen Werthed. In den Jahrzehnten nach den Freiheitskriegen ift 
manches ernftlich gemeinte Buch über einzelne Abfchnitte preußifcher Gefchtchte 
zu Stande gefommen; es ift durch emergifchen Sammlerfleig für die ältere 
Zeit das urkundliche Material zufammengetragen,; e8 find auch einzelne 


441 


Bartien fhon mit Hiftorifch-politifchem Geifte behandelt. Wir geben bier fein 
Verzeichniß folder Monographien. 

Nur zwei merkwürdige Erjcheinungen jener Tage mag es geftattet fein, 
furz zu berühren. Der feudale Publieiſt Adam Müller untermwarf den 
modernen Charakter, den ſchon Friedrich II. der preußifchen Staatsgeſchichte 
aufgeprägt, einer fcharfen Kritik, während Manſo, der liberal gefinnte 
Hiftoriker fi vorgenommen, nad) der Kataftrophe von 1807 den Niedergang 
des preußifchen Staate® durch hiftorifche Darlegung zu erflären. Die befte 
Kritik ded Buches von Manfo haben die Ereignifje geliefert: das Jahr 1813 
ftrafte den Hiftorifer Kügen, der 1807 ald den nothmwendigen Ausgang feiner 
Geſchichte in Ausficht genommen; und fo ftehen hier Anfang und Ende des 
Geſchichtswerkes in feltfamem Widerfpruche zu einander. Nur wer In die 
Endztele unferer Geſchichtsentwickelung ein unerjchütterliche® Vertrauen ge 
mwonnen, war im Stande für eine preußiiche Gefammtgefchichte die richtige 
Tonart zu wählen. i 

Unvollendet geblieben find die Werke von Rancizolle’3 (1828) und 
Helmwing’3 (1833), beide Kinder ernften und eindringenden kritiſchen 
Studiums, beide etwas ſchwerfällig gearbeitet, für größere Kreife nicht an 
ziehbend, aber dem wiſſenſchaftlichen Studium preußifcher Geſchichte lohnend 
und gewinnreih. Helwing hat dabei auch die inneren Verhältniſſe ernfthaft 
genommen, die fo leicht der Tummelplag oberflächlicher Behauptungen und 
tendenztöfer Phraſen zu fein pflegen. Mit Unrecht find die genannten beiden 
Bücher durch das Werk von Stenzel in den Hintergrund gedrängt worden. 

Wie das große Unternehmen ded Buchhändlers Perthes, die Sammlung 
europäifcher Staatengefchichten überhaupt, fo ift auch die Preußifche Gefchichte 
Stenzel’3 für das Bedürfniß des größeren Leſepublikum beftimmt und be 
rechnet. Won 1830 bis 1854 find fünf Bände fertig geworden, welche bie 
1763 reihen. Die einzelnen Theile find ſehr ungleihen Werthes: anfangs 
kaum mehr ala eine Compilation aus fremden Arbeiten, beruht das jpätere 
auf eigenen felbftändigen Studien. Der erfte Band erzählt ſynchroniſtiſch die 
Geſchichte der einzelnen Theile der jpäteren preußifchen Monarchie, „ein Rotpourri 
pommerfcher, fchlefifcher, preußifcher und polnifcher und Gott weiß! noch 
welcher Provinzialgefhichten.“ Stenzel folgt dem offenbar unrichtigen Ge 
danken, die Gefchichten aller derjenigen Ränder, die nachher den preußiſchen 
Staat gebildet haben, nebeneinander zu erzählen, ftatt aus der Gefchichte der 
Mark Brandenburg den brandenburgiichpreußiichen Staat zu entwideln. So 
hoch man auch immer das anfchlagen mag, was Preußen und die Rheinlande 
und noch fpäter Schlefien für das Ganze ded Staates geworden find, es bleibt 
doch eine ſchiefe Auffaffung, wenn nicht von vornherein feftgehalten wird, daß 
Wiege und Fundament unfere® Staates Brandenburg gewefen ift. Wer aber 








445 


in die Borgefhichte Preußens eine falfhe Dispofition hineinbringt, verfehlt den 
hiſtoriſchen Grundgedanfen und erfchwert das Verſtändniß der Beziehungen, 
in welchen die Theile zum Ganzen jtehen. 


Die zwei nächſten Bände umfaffen die Gefhichte de8 Jahrhunderts von 
1640 bis 1740. Man fann fagen, bier findet fih das Bild firirt, das der 
patriotifch gefinnte, mäßig unterrichtete, nach biftorifcher Bildung ftrebende 
Liberalismus der vormärzlichen Fahre fih von preußifcher Gefchichte gemacht 
bat: die populäre Karrifatur. Friedrich Wilhelm's I. als des Despoten in 
feiner Familie und feinem Staate wird und ohne jede Fritifche Prüfung 
der Ueberlieferung, durch die fie getragen ift, als wirkliche Geſchichte vor- 
geführt: von der Bedeutung diefed greßen Organifators in Preußen bat der 
Autor feine Ahnung, für einen fo eigenartigen Charakter fein Berftändniß. 
Grade weil man fich vielfah für die Jahre 1688—1740 veranlaßt flieht, 
Stenzel's Buch ald das maßgebende zu behandeln, gerade deßhalb muß betont 
werden, daß diefer Abjchnitt bei ihm nicht auf eigenen Studien, nit auf 
eigenem Urtheile beruht. Dem Xobe, das 1842 Häuffer über Stenzel aus- 
gefprochen hat, wird Niemand mehr beipflichten können, der an hiftorifche 
Arbeit und hiſtoriſches Urtheil etwas ftrengere Forderungen erhebt; wie alle 
Melt fo fah auch Häuffer damald Preußen an mit den Augen des füddeutfchen 
Kiberalen, dem die Behauptung preußifcher Eigenart und die Hervorhebung 
preußijcher Verdienſte um die nationale Sache damald noch als „Borufjo- 
manie“ erfchien. in wirkliches PVerftändnig der inneren Entmwidelung 
Preußens ift bet Stenzel nicht zu finden; ja in den zwei letzten Bänden, die 
1851 und 1854 erfchtenen und die Jahre 1740—1763 behandelten, ftellte er 
ſelbſt fih in Gegenfas zu der richtigeren wiſſenſchaftlicheren Behandlung 
preußifcher Gefchichte, welche damals ſchon verfucht worden war. Man follte 
e8 heute kaum für möglich erklären, daß damald (1851) bei einem Vergleich 
von Stenzel und Ranke felbft Häuffer fih auf die Seite des Erfteren ge 
ſchlagen. 

Leopold von Ranke, der vor jetzt fünfzig Jahren ſeine kritiſchen 
Arbeiten zur Geſchichte des neueren Europa begonnen, hatte zwei Jahrzehnte 
hindurch faſt ausſchließlich das Reformationsjahrhundert als Hauptobjekt 
ſeiner Forſchung behandelt: der kritiſchen Behandlung und Beleuchtung 
hiſtoriſcher Quellen hatte er die neuen Bahnen gebrochen, dem archivaliſchen 
Studium cine bis dahin ganz ungewohnte Ausdehnung gegeben und in der 
Auffafjung der Hiftorifhen Ereigniffe und Perſonen dem Htitorifer eine eigen- 
thümliche neue Haltung angemwiefen: durch alles dies war er in der That der 
Meifter der biftorifchen Studien und der Führer der vielen in feiner Schule 
gebildeten Hiftorifer geworden. Auf der Höhe feiner fchaffenden Kraft an 


446 


gelangt, widmete er nun den vaterländifchen Dingen feine Bemühungen: 
1847 und 1848 erjchienen feine „Neun Bücher Preußifcher Gefchichte.“ 

Die Aufnahme epochemachender biftorifcher Werke durh das Publikum, 
dem fie zuerft zugehen, läßt fi Häufig ganz anderd an, ald die Werth 
ſchätzung, der diefelben Werke nachher zu begegnen gewohnt merden. Mer 
die erften kritiſchen Aeußerungen über die großen Geſchichtswerke Ranke's 
einmal durchmuftert, wird in ihnen auf ſtaunenswerthe Säte ftoßen: man 
würde vielleicht da8 Urtheil wagen dürfen, daß erft das legte Jahrzehnt an- 
gefangen, Ranke's Bedeutung annähernd richtig zu würdigen, ja daß fogar 
heute eine volle und ganze Werthſchätzung feiner großartigen Werke erft bei 
wenigen Perfonen ſich vorfindet. Damald war man an die Albernbeiten 
Rottecks und die draftifchen Aeußerungen Hiftorifchen Unverftandes, mit welchen 
Schloffer die Welt erfreuete, noch allzufehr gewohnt, ald dag man ſich dur 
Ranke's objectived Hiftorifches Weſen befriedigt gefühlt hätte. Ueber feine 
preußifche Gefchichte war man ziemlich einig im Urtheile — eine beftellte 
„Hofhiltoriographie* (Ranke war zum preußifchen Hiftoriographen ernannt 
worden), eine „ſchönfärbende Künftelei“ betitelten die einfichtigeren und ſach— 
verftändigen Kritiker fein Werk: es bedarf faum einer längeren Ausführung, 
wie die Stimmen der gewöhnlichen Mubliciftif ihn mitnahmen! Weber das 
legtere darf man fi doch nicht allzufehr wundern. Ranke's Buch fällt ja 
gerade in eine Zeit, in welcher die gebildete Welt, unbefriedigt und geärgert 
durch die politifchen Erperimente des preußifchen Königs Friedrich Wilhelm’s IV., 
jenes Fürften, dem der mildefte hiftorifche Beurtheiler nicht viel angenehmes 
wird nahrühmen Fönnen, zu nicht® weniger geftimmt war al® zu einer vor- 
urtheilöfreien Unerfennung des preußifchen Königthumed. Unbeirrt von 
diefer Strömung der Tagesmeinung, feste Ranke in lichtvoller, alle Seiten 
des hiſtoriſchen Lebens beleushtender Erörterung die fundamentalen Reiftungen 
der preußifchen Könige auseinander: fharf und blank fam bei ihm die That 
fahe zum Ausdrud, daß der preußifche Staat eine Schöpfung feiner Könige 
tft, ein Urtheil, da8 heute nur die bodenlofefte Unmiffenheit noch beftreiten 
fönnte, das damald zuerft von Ranke in fo beftimmter Wetfe und in fo 
weitem Umfang aufgeftellt wurde, Ranke hatte dann die Anfänge Friedrich’ IL 
In ihrer fo blendenden Virtuoſität aus neuem Stoffe mit neuen Thatfachen 
gemalt, in einer Zeichnung, die wohl kaum viele Verbefferungen nod er 
warten dürfte. 

Es hieße Wafler ind Meer fhöpfen, wenn man heute die Forfhung 
Ranke's als eine miljenfchaftliche erft befonder8 preifen wollte. Damals 
flüchtete fi der Uerger über feine Nefultate hinter die Bemängelung feiner 
Studien ald ungründlih und eilig gleichfam allein ad hoc gemachter. Aller: 
dings bei allem Licht bietet und feine preußifche Gefchichte auch Schatten. Auf 


447 


ein paar Seiten drängt fi die ganze Gefchichte bis 1688 zufammen ; felbft 
König Friedrich Wilhelm I. wird mehr beurtheilt als dargeftellt: was fo oft 
bei Ranfe unbequem tft, — feine offenfundige Abneigung befannted zu er- 
zählen, oft erzählted zu wiederholen, — das ftört hier in ganz befonderer 
Weife den LXefer; bier wird viel, ja zu viel als befannt voraudgefegt; und 
die Darftellung erhält dadurd etwas zerriffenes, unfertiged, fragmentariiches ; 
es rächt ſich felbit bei Ranke, wenn er ausſchließlich für die Kenner preußifcher 
Geſchichte zu fehreiben magt. 

Immerhin war hier der Zufammenhang preußifcher und deutfher Ge 
ſchichte in einer neuen Weife gezeigt, e8 waren die charakteriftifhen Momente 
preußifcher Entwidlung mit fiherem Griffe aud der Maſſe der Thatfachen 
bervorgeholt, ed war das perfönliche Verhältnig und die innere Bedeutung 
der drei großen Megierungen ded großen Kurfürften, Friedrich Wilhelm’s I. 
und Friedrich's II. mit feften Zügen gezeichnet: der eigentliche Inhalt, die 
biftorifche Idee diefer preußifchen Geſchichte war aufgededt. Es galt dies 
neue Licht meiterhin auf alle Theile der Gefchichte zu werfen, die Skizze 
Ranke's zu einem dad ganze Leben wiedergebenden Bilde auszuführen. 

Wie gefagt, ald das Buch erfchien, verhielt man meiften® ihm gegenüber 
fih ablehnend. Ranke's kühle und vornehme Zurüdhaltung, feine unbefangene 
Anerkennung ded Königthums mußten damals ihn ald Gegner der Wünfche 
des Jahres 1848 darftellen. Ohne großen Eindrud von dem Werke empfan- 
gen zu haben ging die öffentliche Meinung an ihm vorüber. 

Die Hoffnungen, welche deutfche und preußifche Patrioten damald 1848 
und 1849 über die deutfche und preußiihe Zukunft gehegt, waren bald zer- 
ronnen: die liberalen und nationalen Parteien hatten ihr Ziel nicht erreicht. 
Entmuthigung und Abſpannung bemädtigte ſich dann der Geifter. Aber 
grade In der Zeit des. heftigften politifhen Katzenjammers der nationalen 
Partei, grade in der traurigiten Periode politifcher Erbärmlichkeit in Preußen, 
im Sabre 1855 trat Einer der Vorkämpfer unferer nationalen Wünfche und 
Hoffnungen von 1848 mit einem groß und gewaltig angelegten hiſtoriſchen 
Werke über Preußen auf, das mie eine biftorifche Nechtfertigung aller ge- 
begten Ideale und mie ein prophetifche® Troſtwort auf eine befjere Zukunft 
audfah, mir meinen die Gefhihte der preufifhen Politik von 
3. G. Droyfen. Bon den Anfängen der Mark, von den Ahnherren des 
Zollernfhen Haufe® an unternimmt diefer Autor es die deutfche Politik 
Brandenburg-Preußend nachzumeifen: mas 1848 die Frankfurter Kaiferpartei 
erftrebt, wurde ald das traditionelle Programm preußifcher Geſchichte und 
preußifcher Politik gezeigt. Eine Erfriſchung gelunfener Hoffnungen, eine 
Belebung erfterbender Wünſche wurde hier den Baterlandöfreunden darge 
reicht. Und es war nicht ein politifched Pamphlet, nicht eine Tetchte, ſchnell 


448 


zu verwehende Broſchure, fondern ein Werk folider und maffiver Gelehrfam- 
keit, nicht eine Frucht augenblicklicher Laune, fondern dad Reſultat langer 
und mühfamer Studien. Die Gefchichte unfrer nationalen Entmwidlung in 
den beiden letzten Jahrzehnten läßt fich nicht verftehen, wenn man von 
Droyſen's preupifcher Politik abfehen wollte! 

Doch das ift feine Wirfung auf das öffentliche Leben unferer Zeit. 
Rrüfen wir feinen wiſſenſchaftlichen Charafter. 

Zuerft iſt darauf hinzumeifen, daß Droyſen nicht eine preußifche Gefchichte, 
fondern eine Geſchichte der preußifchen Politik fchreibt, und in hervorragender 
Ausdehnung nur die auswärtige Politik behandelt; ja wenn man genauer 
binfieht, beſchränkt Droyſen's Thema fih noch enger auf die deutfche Politik 
Preußens: was der preußiſche Staat für die nationalen Aufgaben und Be 
ftrebungen Deutſchlands geleitet, das im Cinzelnen binzuftellen und die ein« 
zelnen Thatſachen und Erſcheinungen des hiſtoriſchen Lebens ala Glieder einer 
zujammenbängenden Kette, ala Aeußerungen eined bleivend und einbeitlich 
gedachten naronalen Programms aufzjumeijen ift die leitende Idee feiner Ar 
beit. Große Mühe und viele Studien hat er aufgewendet, in der früheren 
Geſchichte bis 1640 die einzelnen Anſätze diefer Richtung aufzufpüren und 
als ſolche zu beleuchten, dem Zeitraum, den man ala die Vorgefchichte des 
preußifchen Staate® verftehen und anfehen muß, hat er allein drei Bände 
gewidmet. Das ift nicht nur ein Fehler der Fünftlerifchen Gompofition, 
fondern auch ein Fehler des Hiftorifhen Gedankens felbft: man Fann nicht 
von einer conftanten traditionellen preußifchen Politik reden für eine Epoche, 
in der dad noch gar nicht vorhanden ift, was man den preußifchen Staat 
nennt. Es wird bereitwillig zugegeben und gern anerfannt werden müflen, 
daß diefe erften Bände Droyien’d für die deutfche Gefchichte des 15. Jahr 
hunderts fehr ſchätzenswerthe Refultate enthalten oder doch den Studien über 
died. Gebiet erfreuliche Anregungen bringen; auch für da® 16. Jahrhundert 
fann man mandyed aus Droyfen lernen. Aber die preußifche Gefchichte gehen 
diefe Dinge nicht viel an; ja fie rufen fehr leicht und fehr oft eine faljche Auf 
fallung der Thatfachen brandenburgifcher Gefchichte hervor. Das was fpäter 
bin den Brandenburgern eigenthümlich gewefen, wird bier in die frühere Zeit 
bineingetragen: PBerfonen und Greignifje früherer Epochen erhalten ein Richt 
über fi ausgegoſſen, da® nichts andere ald der Refler der fpäteren Dinge 
it. So wird eine objective und ruhige Erwägung die Glorificirung des 
Kurfürften Friedrich I. ald eine einfeitige Betrachtung auf ein anderes Ur 
theil ermäßigen, die Bewunderung Albrecht Achilles’ als ganz unmotivirt, die 


Joachim I. beigelegte höhere Bedeutung ald eine ungerechtfertigte Weber- 


ſchätzung bezeichnen müflen: im 15. und 16. Jahrhundert fpielt weder in: der 
deutſchen noch in der allgemeinen Gejchichte Brandenburg die Rolle, die 


— 


449 


Droyfen ihm zuweiſt. In die legten Jahre des 16. und in den Anfang des 
17. Jahrhunderts erjt Fällt die aufdämmernde Ahnung einer neuen Zukunft 
diefed Landes, Für den allgemeinen Standpunkt Droyfen’® märe es befler 
gewefen, wenn er nicht 3 Bände, fondern höchſtens 300 Seiten diefer Bor» 
bereitung ſeines Hauptwerkes gewidmet. 

Mit dem großen Kurfüriten beginnt der preußifche Staat: eine fpeziftih 
preußifche Politik ift erft durch ihn ind Leben gerufen. Bei diefem Abfchnitt 
erbreitert fi) Droyfen’3 Darstellung noch um ein bedeutendes. Sein bleibendes 
Verdienst ruht in den Forfchungen über das erjte Jahrhundert der eigentlich 
preußiichen Staatögefchichte. Won 1640 bis 1740 reichen fech® Bände; die 
Jahre 1740 — 1742 umfaßt der jüngit erfchienene Theil. Die Darftellung 
ded großen Kurfürften in 3 Bänden iſt eine monumentale Keiftung Mit 
ausgedehntefter Benutzung der gedrudten Literatur verbindet fi eine raftlos 
unermüdliche Korfhung in Archivalien. Sorgfältiged und eingehendes Detatl- 
ſtudium des Berliner Archives ift das charakteriftifhe Merkmal Droyfen’s: 
auf den Aktenſtücken des preußifchen Staatdarchived, auf den ächteften unver 
fälichteiten und ficherften Zeugniffen, welche die preußifche Politik und Diplo: 
matie und Verwaltung von fich felbit hinterlaffen, beruht alles, was wir in 
diefen fieben Bänden lejen. 

Es ift eine Arbeit hier angehäuft, die nicht Leicht Jemand in diefer Weife 
unternimmt und in diefem Umfange durchführt. 

Droyfen’d Studium hat fich im weſentlichen felbft die Beſchränkung auf 
das Berliner Archiv gefeßt; er zieht nicht fremde Archive zur Controle und 
Ergänzung Hinzu. Died Verfahren aber beruht auf freiem Entſchluſſe des 
Forſchers; er folgt dabei einer feften Methode und einem eigenen Eritifchen 
Gedanken. Droyſen entwidelt vornämlich den Inhalt der preußiſchen Staats- 
papiere; er fpiegelt in feinem Buche die Auffaffung der Welt wieder, mie fie 
den preußifchen Staatdmännern während ihrer politifchen Arbeit fich darge 
ftellt hat; er fchildert die Mechfelbeziehungen und Verflechtungen preußifcher 
mit öfterreichtihen, franzöfifchen, englifchen Dingen, aber er bleibt dabei ab⸗ 
bängig von der Auffafiung, mie fie im Lauf der Gefhäfte die preußifchen 
Politiker gehabt haben. Recht oft würden diefelben Dinge, von franzöfifcher 
oder englifcher oder döfterreichifcher Seite aus angefehen, eine ganz andere 
Farbe oder Geitalt annehmen. Gewiß ift es für den politifhen Praktiker 
ein unerläßliche8 Geſetz, nur von feinem Standpunfte aus die Ereigniffe zu 
fehen und zu beurtheilen; und auch dem Hiftorifer mag es geftattet fein, auf 
diefen Standpunkt eines beftimmten politifhen Praftifer® zu treten und mit 
deffien Augen die politifhe Welt zu fehen. Der methodifhe Standpunft 
Droyſen's ift ald ein berechtigter ficher zuzugeben; die Gefchichte eine® mäch— 


tigen Staates oder einer Fräftigen Nation zieht aus ſolchem — der ihr 
Grenzboten IV. 1874. 


450 


eigener ift, ganz beſonders wirkſame Säfte und Kräfte: Ton und farbe der 
ganzen Darftellung wird und bleibt eine nationale Schöpfung: fo manche 
nationale Eigenſchaft und Beftrebung wird nur von dem Geifte der eigenen 
Nation und aus dem Geifte derfelben begriffen und verftanden. Droyſen's 
Methode Fechten wir nicht in ihrer Berechtigung an; wohl aber behaupten 
wir, daß fie nicht die einzig berechtigte fei: die univerfale Auffaffung, die es 
veriteht von verjchiedenen Standpunften aus eine Sache zu ſehen und aus 
dem Zufammenmirfen der vielfeitigen Bilder dad Endrefultat und Endurtheil 
zu geminnen, fie ift nicht nur neben der Droyſen'ſchen Weife berechtigt, fondern 
fie hat auch den Vorrang vor ihr zu behaupten. 

Eine andere Eigenthümlichkeit Droyſen's ift neuerdings wiederholt be 
merkt worden. Seine Erzählung ift bemüht, fi möglichſt genau dem aften- 
mäßigen Verlaufe der Greigniffe anzuſchließen; er gebt jeder Windung und 
Biegung feiner Straße gemwiffenhaft nad, von Monat zu Monat, oft von 
Zag zu Tag begleitet er jede Eleine Abwandlung, welde die politifchen Ge 
ihäfte durchmachen, mit aufmerkffamer Weder. Alfo beachtet er nicht immer 
die Grenzlinie, die das Gefchäft von der Gefchichte fcheidet. Bei befonderd 
wichtigen Gelegenheiten ift es natürlich jedes Hiſtorikers Beftreben, möglichſt 
ing Detail der Hiftorifhen Vorgänge zu dringen; aber durchgehends diefe 
minutiöfe tagebuchartige Erzählung feſtzuhalten ift ebenfo ermüdend ala «8 
von dem eigentlichen Verftändniffe der Gefchichte ableitet. Des Hiftorikers 
Sade ift ed aus dem unabfehbaren Meere der täglich vor ſich gehenden That- 
jahen das zu wählen, was wirklich Gefchichte ift: nicht alles was gefchieht, 
ift deßhalb auch Geſchichte. Aus der Fülle ſeines Materiald theilt Droyfen 
oft zu viel mit, fein Leſer verliert die Straße, die er wandeln fol: er geht 
unter bei allen den auf ihn einftürmenden Eindrüden und Gefihtäpunften 
und Erwägungen. 

Droyſen's Darftellung des großen Kurfürften ift von mehreren Htitorifern 
der Vorwurf gemacht worden, daß bei feiner Betonung der „Politik“ die 
Perſönlichkeit ded Kurfürften nicht zu vollem Ausdrude gelangt. Diefer 
Einwand ift nicht unbegründet. Von dem perfönlichen Antheil des Herrſchers 
und feiner einzelnen Staatäminifter ift weniger die Rede, ala es fein Fönnte. 
Auch die ganze Originalität der Perſon Friedrich Wilhelm’ I. zeigt er und 
nit. Dagegen werben felbft jene Kritiker zugeben müfjen, daß Friedrich's I. 
perfönlihe Figur und Weſen zu zeichnen von Droyſen nicht verfchmäht 
worden ift. 

Die auswärtige Politik ift, wie gefagt, der Hauptinhalt dieſes Werkes: 
auf diefem Gebiete hat Droyfen das Verdienft, ganze Abſchnitte neu gejchaffen, 
ganze Kapitel preußifcher Gefchichte neu entdeckt zu Haben. Und menn er 
auch bisweilen die inneren Verhältniffe berührt, fo erregt doch grade fein 





451 


Merk dad Verlangen nad einer ähnlichen Arbeit archivalifchen Fleißes über 
preußifche Berfaffung und Verwaltung und preußiſches Rechtsleben. Noch 
nicht zu Ende geführt ift dies Unternehmen wahrhaft großartiger Studien; 
die eigentliche Glanzzeit preußifcher Diplomatie, die Heldenepoche des großen 
Königs, ift nur erft eben eröffnet: mit Spannung fieht man der Fortſetzung 
entgegen. 

Und nun, nachdem Droyfen da® Jahr 1740 erreicht hatte, in welchem 
früher Ranke's preußiſche Geſchichte erſt zu eigentlicher Darftellung ausgeholt 
hatte, hat auch der Altmeiſter ſelbſt noch einmal ſeine frühere Leiſtung einer 
erweiternden Umarbeitung unterzogen. In einer neuen Ausgabe wurden aus 
den früheren neun jetzt zwölf Bücher. Die wichtigen Momente, welche die 
Geneſis des preußiſchen Staates bewirkt haben, wünſchte Ranke, — 
man kann nicht ſagen, in Rivalität oder im Gegenſatze zu Droyſen, wohl 
aber neben Droyſen — in ſeiner Weiſe noch einmal etwas genauer darzu— 
legen. So iſt ein ſehr intereſſantes und geiſtvolles Buch entſtanden. Auch 
jetzt erzählt Ranke nicht den hiſtoriſchen Verlauf, er erörtert vielmehr die 
hervorſtehenden und maßgebenden Punkte desſelben. Er benutzt ſelbſtverſtändlich 
das, was Droyſen mittlerweile geboten; er ergänzt manches aus eigenen 
Studien; er bemüht ſich neben der preußiſchen Anſchauung der preußiſchen 
Staatspapiere auch von anderen Stellen her Erläuterungen und Aufklärungen 
herbeizuſchaffen. Da er ſich nicht auf die äußeren Verhältniſſe beſchränkt, 
gelingt es ihm meiſtens mit ſeiner allſeitigen Betrachtung und ſeiner mehr— 
ſeitigen Erwägung das Nebeneinander und Ineinander der einzelnen Faktoren 
ſehr gut zur Anſchauung zu bringen. Irren wir nicht, ſo wird dieſe Neu— 
bearbeitung der preußiſchen Geſchichte durch Ranke leichter und dauernder die 
Schaaren der Leſer um ſich verſammeln, als dies bisher Droyſen möglich ges 
weſen iſt. Aber will man dem letzteren damit nicht Unrecht thun, ſo muß 
man ſtets feſthalten, daß es für einen erfahrenen Hiſtoriker großen Stiles 
immer leichter iſt, in kurzen Zuſammenfaſſungen die Verkettungen des hiſto— 
riſchen Lebens anſchaulich zu machen, als in detaillirt ausgeführtem Bilde 
der wechſelnden Ereigniſſe die hiſtoriſchen Richtwege in jedem Augenblicke 
durchſcheinen zu laſſen. 

Die Auffaſſung preußiſcher Geſchichte im Großen und Ganzen gelangt 
bei Ranke und Droyſen zu denſelben Ergebniſſen: im einzelnen weichen ſie 
wohl ab. Doch muß man hier ſagen, daß wo Detailausführungen der Beiden 
nebeneinander vorliegen, z. B. betreffs 1740—1742, Droyſen eine Beſtätigung 
gebracht deſſen, was Ranke vor jetzt 27 Jahren geſchaffen. 

Droyſen's ganze Seele iſt mit der preußiſchen Politik verwachſen. Ranke 
äußert nicht fo entſchieden feine eigene Meinung; bet allen feinen preußiſchen 
Sympathien beftrebt er fich, über den patriotifchen Gefühlen zu ftehen und 


452 


in ganz. objeftiver Haltung Preußen? Eonflifte mit äußeren und inneren 
Gegnern zu erzählen. Diefer Unterfchied ded Temperamentes tritt in manchen 
Stellen auch beftimmend für ihr Urtheil auf. Es ift fiber, Ranke's Ent- 
widelung der Stellung von Preußen zu Defterreich ift von einer recht ver« 
jöhnlichen Tendenz durchhaucht. Droyſen's Buch athmet den entjchiedenften 
Gegenfag ded Preußen gegen das Haus Hababurg und trägt Feine Scheu 
jenen unauelöfchlichen Haß, den der Preuße gegen den Deftreicher eben megen 
der früheren Vorfälle zwifchen beiden immer haben fol, offen zu befennen. 
Bei diefer dur das Ganze ſich Hindurchziehenden Differenz der Auffafjung 
wird man geftehen dürfen, daß die Gefchichte des letzten Jahrhunderts bei 
Droyſen beffer ald bei Ranke vorbereitet if. Und damit hängt ein Anderes 
zufammen. Der preußifche Staat war in der Periode feined Gmporfteigend 
von zwei Nachbaren arg bedrängt und bedrüdt, von Sadfen und von 
Hannover; von dem letteren wurde er auf Schritt und Tritt gehemmt und 
hicanirt, ganz befonder® feit der Kurfürft von Hannover die englifche Krone 
trug. Ranke ſchwächt auch diefen Gegenſatz der Zollern und der Welfen ab; 
bei ibm empfängt die mwelfifche Ränkeſucht der Hannoveraner nicht das ihr zu- 
fommende Licht. Droyſen's Tebhaftered, weil erclufivere® Gefühl für den 
preußifchen Staat verdient in diefen und ähnlichen Fällen unfered Erachtens 
den Vorzug vor jener objeftiveren und fühlen Auffafjung Ranke's. 

Wie immer, fo hat Ranke auch diesmal feine ganze Meifterfchaft gezeigt 
in der Fünftlerifchen Geitaltung und Abrundung. Die Dispofition des 
Stoffes ift, wie wir bei ihm gewohnt find, ein Meifterftüd, Sprache und 
Stil find plaftifh wie immer. Damit hält Droyfen keineswegs gleichen 
Schritt. Schon die Anordnung des Ganzen läßt erhebliched zu münfchen, 
und der nervöfe unruhige Vortrag geftattet ebenfalla feltener, als man wünſchen 
möchte, dem Lefer zu ruhigem Genufje zu fommen, 

Alles in Allem, bei einem Vergleiche der beiden großen Geſchichtswerke, 
— und man liebt es ja von alteräher derartige Vergleiche anzuftellen und 
man ift in der That dur manches in diefem alle zu Vergleichen heraus— 
gefordert, — wird man fich geftehen, daß fie in merfwürdiger Art einander 
ergänzen und ablöfen. Ein jedes will nad) feinen Abfichten verftanden und 
beurtheilt werden; einem jeden eignen Vorzüge, die das andere nicht oder doch 
nit in dem Umfange hat. Und wenn man durchaus die Frage beantwortet 
haben wollte, weldyem von beiden der größere Preis zuzufprechen fein würde, 
fo würden mir mit dem befannten Worte unferes Dichterd antworten : „man 
folle fidy freuen, daß zwei folder Kerle nebeneinander da find!“ 

Neben diefen großen wiſſenſchaftlichen Gefammtdarftellungen befigen wir 
eine große Riteratur von Monographien, deren Reichthum und Mannichfaltig- 
feit au nur annähernd zu bezeichnen hier nicht möglich fit. Auch an po- 


453 


pulären Büchern ift fein Mangel; freilich die Im letzter Zeit verfuchten aus— 
führliheren Gefchichtderzäblungen von Eofel und von Eberty müſſen als 
mißlungene Berfuche bezeichnet werden, dagegen dürfen mehrere Fürzere über. 
ſichtliche Abriffe als empfehlenöwerth gelten: wir zeichnen dad Buch von 
%. Voigt unter ihnen aud, 

Bisher find nun ganz befonderd die äußeren Beziehungen Preußens zu 
feinen Nachbaren, zur europäifchen Politik, zur deutichen Nation erörtert und 
erforfcht worden. Weber den großen Kurfürften verbreiten neben Droyfen 
manche Eleinere Arbeiten noch ergänzendes Licht: auch die Akten und Ur 
funden diefer Zeit felbit hat man zu fammeln und zu druden unternommen. 
Für die Epoche Friedrich’8 des Großen fehlt und allerdings noch jeder Anſatz, 
die Aktenſchätze des Staatdarchives in ähnlicher Weife zu veröffentlichen; die 
Klagen über die unter der Aegide Friedrich Wilhelm's IV. erfchienene Aus 
gabe feiner Werke find leider nur zu fehr begründet. Dagegen haben, wie 
früher Preuß, fo Ranke, Schäfer, Mar Dunder u. A. fehr dankens— 
werthe Studien über Friedrich's auswärtige Politik ſchon geliefert; und die 
Bublifationen aus dem Wiener Archive, die wir Arneth und Beer vor 
danken , verbreiten auch über König Friedrich manche? neue Licht. Nicht fo 
günftig ftehen wir der Gejchichte der Freiheitäfriege gegenüber, jeder neue 
Schritt lehrt und, wie ungenügend und unzureichend dad Material gemefen, 
auf das Häuffer feine Erzählung gegründet. Diefe Periode wird von 
Grund aus neu aus dem archivalifchen Stoffe zu bearbeiten fein. Und mad 
die Jahre nach 1815 angeht, fo willen wir noch fehr wenig und fehr wenig 
Zufammenhängended. Aber auch über diefed unbekannte Land winkt ja die 
Hoffnung baldiger Auffchlüffe. 

Was heute am meisten und am fohmerzlichften vermißt wird, ift eine 
Gefchichte der inneren Entwidelung, ed fehlt an einer gehörig begründeten 
Kenntniß der preußifchen Verwaltung. Alle Welt fpricht heute den Sag aus, 
daß durch feinen Beamtenftand Preußen das geworden ift, mad es heute ift: 
wer aber fennt die Gefchichte dieſes Beamtenftandes, feiner Einrichtungen und 
feiner Reiftungen? Auf diefem Felde tappen wir noch vollftändig im Finftern. 
Unfere Kenntniß fängt eben erft an vorbereitet und angebahnt zu werden: 
erft weniges wifjen wir über die ältere Zeit durch die Arbeiten von Kühne 
und Iſaacſohn; und die in allmählichem Erſcheinen begriffenen Studien 
von Schmoller über die Epoche Friedrih Wilhelm's I. harren nod der 
Vollendung und des Abſchluſſes. Gerade von Schmoller erhoffen und erwar— 
ten wir eine Gefchichte unjerer preußiihen Verwaltung und Verfaſſung, — 
ein Werk, das allerdings erſt aus lange und emfig betriebenen Detailjtudien 
almäplih zufammenmwacjen fann. Wenn heute faft jeder brave Durchſchnitté— 
politifer den Mund vol nimmt von Robederhebungen über die Stein'ſchen 


454 


Reformen und die großen Reiftungen ber ypreußifchen Geſetzgebung von 
1807 — 1811, fo werden von diefen Lobrednern ebenfo mie von den junfer- 
liben Tadlern derjelben Dinge nur fehr wenige eine Ahnung davon haben, 
daß unfere Kenntniß diefer Reformepoche unfered Staated eine äußerſt lüden- 
bafte und zufammenhangslofe und einfeitige iſt: fo befchämend es Klingt, 
man muß diejen Sachverhalt eingeftehen und daraus die Ermahnung jhöpfen, 
möglichft fchnell und möglichſt gut Abhülfe zu fchaffen. 

Mit vollem Rechte bezeichnen wir ed ala ein Ergebnif unferer hiftorifchen 
Erkenntniß, daß mir jegt wifjen, wie gerade durdy den Kampf mit den Rand» 
ftänden feiner verfchiedenen Territorien der große Kurfürft unferm Staate 
das Leben gegeben hat. Und doch wie gering ift unfere Kenntniß von dem 
Detail diefer Kämpfe, von den ftändiichen Einrichtungen überhaupt! So— 
eben bat Ranke als eine vor allem erforderliche Arbeit eine auf das ein 
zelne eingehende hiftorifhte Darftellung der Kandtagsverhandlungen bezeichnet, 
die wir bicher meder für die Mark Brandenburg no für das Herzogthum 
Preußen befiten; es wird nöthig fein, was von ftändifchen Papieren jener 
Jahrhunderte nody vorhanden ift, dem wiſſenſchaftlichen Publikum zugänglid 
zu madhen.*) Erſt wenn auch died Material vorliegt, wird man zu abjchlie 
Benden Refultaten gelangen Fönnen. 

MWir würden im Stande fein, äbnliche Bemerkungen zu wiederholen 
über die Gefchichte unfere® Heeres, unfere® Gerichtsweſens, unferer Schulen; 
überall ift unfere Kenntniß eine lückenhafte. Ale diefe Lücken müflen audge 
füllt werden, ehe wir auf eine allen Anforderungen wiflenfchaftlicher Geſchichts— 
ſchreibung entjprechende preußiſche Gefhichte zählen dürfen. Bis dahin heißen 
wir jeden Beitrag zur Löſung diefer ſchwierigen Aufgaben gern willkommen. 

Wilhelm Maurenbreder. 


Die Heneraldirechion der Hächſ. Hfaatseifendahnen, das 
Aeihseifendahngefeß**) und das Yublikum. 


In einer am 30. April d. 3. abgehaltenen Sitzung der zweiten Kammer 
wendete ſich der Abgeordnete Philipp in längerer Nede gegen die königliche 


*) Der in der Provinz Preußen 1872 entftandene hiftorifche Verein bat mit vollem Rechte 
als feine erfte und mwichtigfte Aufgabe die Herausgabe der Preußifhen Ständeakte in Angriff 
genommen (noch früber ald die mahnenden Worte Ranke's vorlagen); durch ihn find ſchon zwei 
Lieferungen, von dem Gpmnafialdireftor Töppen in Marienwerder bearbeitet, zur Ausgabe 
gebracht (bei Dunder & Humblot in Leipzig). Aus der Provinz Brandenburg wiſſen wir ähm 
liches bis jept nicht zu vermelden. 


) Der in der nachftehenden actenmäßigen Darftellung enthaltene ungewöhnliche Borfall 


455 


Generaldirection der fähfifhen Staatäeifenbahnen, wies tadelnd auf das in 
derfelben „fo außerordentlich überwiegend juriftifche Element“ und „die von 
dort aus ergebenden theilmeife geradezu unbegreiflichen Verordnungen“ hin und 
log mit der Mahnung, „man möge fih vor allen Dingen hüten, daß, mie ed 
jest fcheint, ein gewiffer junferliher, fporenElirrender Ton in 
der Öeneraldirection wiederklingt.“ 

Unter dem Ausëdruck feine? Bedauernd über diefe „ziemlich ftarfen An— 
griffe“ entgegnete hierauf der Staatöminifter v. riefen u. a. wörtlih: „Ich 
fann aus meiner Erfahrung feit der Zeit, wo die Generaldirection eingerichtet 
wurde, verfihern, daß fie ihre Pflicht mit großer Gemwiffenhaftigfeit 
erfüllt und wefentlich dazu beigetragen hat, unfere Eifenbahnen auf den 
Standpunkt zu bringen, auf dem fie fich gegenwärtig befinden. — Ich Tann 
nur wiederholen, daß die Generaldirection fih, wie ih hoffe, im Lande und 
aud im Auslande allgemeine Ahtung und Anerkennung erworben 
hat und daß es doch wirklich nicht ganz gerechtfertigt ift, wenn man wegen 
einzelner Borfommniffe, wenn nämlich vielleicht hie und da einmal ein Eleined 
Verfehen vorgefommen tft, ein ſolches allgemeine® Urtheil ausfpricht.” — 
Wenn ein Lenker des Staates in einer Rede vor der Volfävertretung bekundet, 
daß er fich über die Öffentlihe Meinung ded Landes in einem Irrthume be 
findet, der Teicht dadurch folgenfchwer werden kann, daß er nothwendige Re— 
formen hindert oder erfchwert, dann ift es Pflicht jedes Staatsbürger, der 
fih Hierzu befähigt fühlt, aufflärend und berichtigend feine Stimme zu er 
heben. Diejer Pflicht wünfchte ih durch die nachftehende Veröffentlihung zu 
genügen, aus welcher fi ergeben wird, daß die Hoffnung des Heren Minifterg, 
fo weit fie fi auf das Inland bezieht, vor der Hand eben nur eine Hoffnung tft. 

Am 3. Juli v. 3. richtete ih an die kgl. Generaldirection der fächfifchen 
Staatdeifenbahnen folgende Beichwerde: 

„Geſtern, Mittwoch d. 2. Juli Fehrte ich mit einem hiefigen Vereine in 
einem Wagen dritter Klaſſe ded 8 U. 30 M. Abends von Tharand abgehen: 
den Zuged nach Dresden zurüd. Unterwegs ftiegen in ein vorher leeres 


follte im letzten Landtage zur Sprache gebracht werden. Das Talent der Regierung, ſich dur 
einen plöglichen Landtagsſchluß der öffentlichen Erörterung dieſes Falles und anderer ihr gleich 
falls nicht zum höchſten Ruhme gereichender Vorgänge zu entziehen, verdient unzweifelhaft hohe 
Anerkennung. Geit dem rafhen Schluß der Stände im Juni 1866 ift eine foldhe Uebung 
biefes Talentes nicht mehr erlebt worden. Dadurh find von felbft die für den Landhausfaal 
in Dreöden in Ausficht genommenen Erörterungen vor das forum der deulfchen Preife gedrängt 
worden. Das gilt namentlich von denjenigen Fällen, über welche nicht der biedere Sächſiſche 
Landtag, fondern der Deutfhe Reichstag in letzter Inſtanz zu entfcheiden hat, da hierbei 
eine — fagen wir eigenthümliche Auslegung von NReichögefeken in Frage fommt. Dahin ges 
bört unfered Etachtens der vorliegende Fall, dahin die fogenannte Amtöblattfrage. Und deß— 
balb hielten wir und verpflichtet, diefe fcheinbar rein perfönliche, in Wahrheit aber durchaus 
öffentliche und das ganze Reich intereffirende Angelegenheit hier mitzutheilen. D. Red, 








456 


Coupe desfelben Wagen? mehrere Berfonen ein, von denen fi ein Mann in 
höchſt anitößiger Weiſe bemerkflich machte. Als ihn fein unanjtändiges Bes 
nehmen gegen eine mitfahrende Dame von feinem Nachbar, einem älteren 
Herrn, verwiefen wurde, wendete er fi voll Erbitterung gegen denjelben, 
drängte ihn in die Ede und infultirte ihn während der ganzen übrigen Fahrt, 
indem er u. a. äußerte: „Wenn Ste ein junger Kerl wären, hätte id Sie 
ſchon längſt an die Wand geſchmiſſen und Ihnen ein Paar in die — ge— 
geben.“ Da der alte Herr, der ihm oft mit Anzeige gedroht, offenbar aus 
Furcht vor Thätlichkeiten ſich nicht mehr zu rühren wagte, hielten meine 
Meifegefährten und ich es für unfere Pflicht, un desſelben anzunehmen und 
beichlofjen, den Greedenten bei der Ankunft in Dresden arretiren zu laflen. 
Sobald der Zug ftand, ſetzte ich den Schaffner von unjerm Vorhaben in 
Kenntniß und bat ihn, und einen Poliziften zu beforgen. Der Schaffner 
fagte, daß er das betreffende Coupe nicht Öffnen werde und daß wir und um 
daöfelbe ftellen möchten, im Uebrigen verwied er mich an einen den Perton 
daherfommenden, dur ein rothed Behänge EFenntlichen Beamten. Während 
ih mich an diefen wendete, öffneten die Inſaſſen das betreffende Coupe und 
ftiegen aud. Indeß einige meiner Freunde dem bewußten Ercedenten möglichſt 
zur Seite blieben, jagte ich jenem Beamten, daß wir den vor und gehenden 
Mann, den ich ihm bezeichnete, verhaften zu laſſen wünfchten, und bat ihn 
bei der Dringlichfeit der Sahe um feinen Beiftand und um Nachweiſung 
eines Poliziften. Indem er nicht die geringfte Neigung-zeigte, und zu unter 
ftügen, ermwiderte er: „Sie wollen jemand arretiren laffen? Weswegen wollen 
Sie ihn denn arretiren laſſen?“ Ach antwortete, daß ich Alles vertreten 
würde und eine ganze Anzahl Zeugen für das unanftändige Gebahren jenes 
Mannes hatte, worauf er, ohne feine Schritte zu befchleunigen, verjegte: „Da 
halten Ste ihn nur feſt!“ Da wir auf dem von vielen Menfchen gefüllten 
Perron das nit wagen durften, ohne die ernfteften Gonflicte für und be 
fürdhten zu müffen, bat ich ihm wiederholt um feinen Beiftand, erhielt aber 
nur die Antwort: „Was geht da8 mid an? Da müflen Sie fih an den — 
wenden.“ (Hier nannte er einen Beamten ded Zuges, wenn tch nicht ganj 
irre, den Zugführer, was, wie ich nachher erfuhr, er felbft war.) Er ging 
dabei, mit anderen Reuten plaudernd, möglichſt langfam den Perron entlang 
und gab auf meine Borftellungen barfche und nicht zur Sache gehörige Ant- 
worten, ja er hielt ed nicht einmal der Mühe werth, mir zu jagen, mo id 
einen Genddarmen finden könne. Nachdem ich vergeblih auf dem Perron 
einen ſolchen gefucht, fand ich endlich einen Poliziſten nahe der Treppe, wo 
die Droſchkenmarken ausgegeben werden, aber mittlerweile war es dem Gr 
denten, dem meine Freunde im Gedränge nicht mehr zur Seite bleiben Eonnten, 
gelungen, durch einen Nebenaudgang zu entkommen. In unferer ganzen Gr 


457 


jellfehaft herrfchte nur eine Stimme darüber, daß die Hauptfhuld Hiervon den 
gedachten Bahnbeamten treffe. Als derjelbe und nahe am Ausgange einholte, 
fagte ich ihm, daß ich mich morgen über ihn befchweren würde. Der Mann, 
welcher bis dahin unhöflich geweien war, wurde jest gradezu grob, er hielt 
an das Publikum, das ſich auf dem Plake vor der Billetausgabe angefammelt 
hatte, laute Reden über den Vorgang, fuchte mich dabei lächerlich zu machen 
und die Sache jetzt fo darzustellen, als ob wir feine Intervention nicht recht: 
zeitig und in der rechten Weife angerufen hätten, während er früher gethan 
hatte, ala ob ihn die ganze Angelegenheit nicht? angehe. Er äußerte u. a.; 
„da fagen Sie, Sie wollen jemand arretiren lajjen und als ich dazufomme, 
Aft der fort" (während er doch fichtlich fein Dazukommen fo ange verzögert 
hatte). „Sch muß doch erft willen, weswegen Ste ihn wollen arretiren laffen.” 
Zweimal fagte er zu mir: „Sie denken wohl, ich bin Ihr dummer Schul. 
junge?" Da id nicht Luſt hatte, mich weiter infultiren zu laffen, verlangte 
ih das Beſchwerdebuch. Er verweigerte mir die Vorlegung desfelben mit den 
Morten: „Sch habe weiter nicht? mit Ihnen zu reden.” Als ich hierauf 
den PBoliziften fragte, wer diefer Beamte fei, wollte er demjelben die Beant- 
wortung diefer Frage mit den Worten verbieten: „Sagen Sie es nicht!“ 
Trogdem theilte mir der Poliziſt mit, daß ed der „zugführende Oberfchaffner 
des Tharander Zuges" ſei. Bald nachher, während wir noch in der Nähe 
waren, erging er fich gegen den Genddarmen in lauten Reden über den Vor- 
fall und fagte u. a.: „Ich denke, der Herr iſt befoffen.“ 

Auf Grund diefer Thatjachen erfuchte ich fchließlich die kgl. Generals 
direetion, den mehrerwähnten Beamten zur Verantwortung zu ziehen, indem 
ih die Hoffnung ausſprach, daß es derjelben „gewiß nicht gleichgiltig fein 
werde, wenn auf den ihr unterftehenden Bahnen Anftand und Sitte von 
Reifenden offen verlegt wird, und andere Reijende, welche gegen derartiges 
Unmefen auf gefeglihem Wege einfchreiten wollen, bei dem Beamten, der 
ihnen vom Schaffner ala competent bezeichnet wird, keinerlei Unterftüsung 
finden, ja vielmehr von demfelben in fchroffer Form zurückgewieſen werden 
und für ihren guten Willen nur Aerger und Beleidigungen ernten. Für den 
Tal, daß jener Beamte eine der von mir angeführten Thatſachen Teugnen 
follte, bat ich die Tal. Generaldirection, ihn mit mir zu confrontiren, und 
machte ald Zeugen für die Wahrheit meiner Angaben den Seeretär der 
Dresdner Handelöfammer und drei Gymnafialoberlehrer namhaft. Endlich 
erlaubte ich mir, der Generaldirection die Frage zur Erwägung anheimzu- 
geben, ob es fih nit, um die Wiederholung derartiger Vorgänge zu ver 
meiden, empfehlen dürfte, bei Ankunft der Züge einen Genädarm auf dem 
Perron aufzuftelen. — Auf diefes Schreiben erhielt ich am 27. Juli (alfo 


nad) länger ald 3 Wochen) folgende vom 23. Juli datirte Antwort: „Auf 
Grenzboten IV. 1874, 58 


458 


Ihre Beſchwerde vom 3. d. M. erwidern wir nad den angeitellten Erörte 
rungen Folgended: Wenn Sie fihb am 2. d. M. an den Padmeifter ©. 
mit dem Erfuchen gewendet haben, Ihnen einen Polizeibeamten zu verfchaffen 
und dadurch zur Arretur eined Meifenden behilflih zu fein, der genannte 
Beamte ſich aber nicht fofort willfährig gezeigt hat, fo bedauern wir, nad 
dem wir Ihre Darftellung gelefen, zwar, daß G. Ihnen nicht mehr zu Willen 
gewefen ift, noch Sie fofort an den bei Ankunft und bei Abgang jedes Zug 
auf dem Perron anmefenden, an einer rothen Müse Eenntlichen Vertreter der 
Bahnhofsinfpection, zu deſſen Obliegenheiten das Schlichten unter Paſſagieren 
audgebrochener Differenzen gehört, gemwiefen bat, Fönnen aber dem Erfteren 
feinen befondern Vorwurf machen, well er im Momente der Ankunft des 
Zugs durd) feine Dienitgefchäfte ftarf in Anfprudh genommen, übrigens aber 
auch gar nicht in der Rage war, zu erfennen, worauf der von einem Paſſagier 
ausgeſprochene Wunfch auf Verhaftung des anderen beruhte, Diefer Beamte 
hat zu Protokoll erflärt, Sie hätten, auf ihn zufchreitend, in heftigem Ton 
zu ihm gefagt: „VBerfchaffen Sie mir einen Genddarm!* und auf feine 
Frage: „Meshalb ?* hätten Ste erwidert: „Das geht Sie nicht? an, Sie 
dummer Menſch!“ Darauf mögen nun allerdings auch feine Yeußerungen 
den Ausdrud des Unmillend angenommen haben. — Er gibt nämlich zu, auf 
Ihr wiederholtes Verlangen, Ihnen einen Polizeibeamten zu verfchaffen, ge 
antwortet zu haben: „Nun, da fuchen Sie fich felbft einen“ und, auf hr 
Drängen nad) Nennung feined Namens, fi mit den Worten: „Denken Sie 
denn, ich bin Ihr dummer Junge?“ entfernt zu haben. — Wir mißbilligen 
beide YAeußerungen, weil wir genöthigt find, unfere, wenn auch noch fo fehr 
geplagten Zugsbeamten auch dann zur Höflichkeit anzuhalten, wenn fie 
von Gebildeten oder Ungebildeten öffentlich beleidigt werden. 
— Dagegen verwahrt ſich G. entfchieden gegen die Behauptung, daß er mit 
Beziehung auf Sie gefagt habe: „Ich denke, der Herr ift befoffen“ und will 
vielmehr mit den Worten: „Es ift jemand betrunfen gemefen“ den entfommenen 
Auheftörer genannt und die muthmaßliche Urfache des Streites bezeichnet 
haben. — Die legtere Auffafjung wird von dem zugegen gemefenen Gensdarmen 
Glement mit dem Bemerfen beftätigt, daß aus dem ganzen Benehmen ©. 
erfichtlich gemefen, mie er Ihnen durchaus nicht habe zu nahe treten wollen. 
Das gemäß $ 71 des Bahnpolizeireglements für das deutfche Reich auf jedem 
- Bahnhof audliegende, dem Publikum ftetö zugängliche Beſchwerdebuch befindet 
fih in der Verwahrung der Bahnhofdinfpection, deren Vertreter, mie ſchon 
erwähnt, bei Ankunft und bei Abgang jedes Zuged auf dem Perron am 
wefend ift und auch im vorliegenden Falle anmwejend war. Wir können nicht 
annehmen, daß Ihnen irgend eine Schwierigkeit zur Erlangung dieſes Buches, 
über welches der Zugführer gar Feine Dispofitionsbefugnig hat, gemacht 


459 


worden fei. SHiernach allenthalben bietet und der ganze bedauerliche , Vorfall 
zu einem Ginfchreiten gegen G. — dem übrigend von feinen unmittelbaren 
Vorgefegten bezüglich feiner Artigkeit gegen jedermann das beite Zeugniß ges. 
geben wird, Feine Beranlaffung. — Ob die fönigliche Polizeidirection Ihrer 
Unfiht, es fei bei Ankunft eines jeden Zuges ein Genddarm auf dem 
Perron aufzuftellen, beipflichten würde, laſſen wir dahingeftellt fein. Gegen 
und hat bis jest noch niemand folhen Wunſch ausgeſprochen. 


Dredden, am 23. Juli 1873. Königliche Generaldirection der 
Herrn Dr. phil. Mar Krenfel fächfifchen Staatdeifenbahnen. 
bier. Freiherr v. Biedermann. 


Als ich diefen Beſcheid gelefen hatte, war ich um eine Erfahrung reicher. 
Bid dahin hatte ich ed nämlich nicht für möglich gehalten, daß ein Collegium, 
in dem, um mit Philipp zu reden, das juriftifche Element außerordentlich 
überwiegt, fo leicht durch eine Ausſage zu täufchen fei, welche dad Gepräge 
der Unmwahrfcheinlichfeit an der Stirn trägt. Selbſt wenn mir die Fönigliche 
Generaldirection die Rohheit zutraute, welche fi in der mir von G. ange: 
dichteten Aeußerung befundet, hätte fie mich doch nicht für fo unklug halten 
jolen, einem Beamten eine derartige Beleidigung, die für mich leicht unan— 
genehme Folgen haben konnte, an einem öffentlichen Orte und vor vielen 
Zeugen ind Geficht zu fohleudern. Und das Eonnte fie fih wohl aud) fagen, 
daß ein gebildeter Mann, einem Beamten, den er um Beiftand angeht, nicht 
in demfelben Augenblide durch ganz unmotivirte Grobheiten, die Neigung, 
diefem Verlangen zu entjprechen, gründlich benehmen wird. Wie endlich die 
Öeneraldirection, nachdem fie fih um meine vier Zeugen nicht im Geringften 
gefümmert hatte, von „angeftellten Erörterungen“ fprechen fonnte, war mir 
gleihfalld nicht völlig verftändlih. — Der denkwürdige Befcheid wurde zu- 
nähft von diefen vier Zeugen durch folgendes Schreiben beantwortet: 

„An die Eönigliche Generaldirection der ſächſiſchen Staatseifenbahnen hier. — 
Die königliche Generaldirection hat auf die Befchmerde des Herrn Dr. Krenkel 
vom 3. Juli d. J. eine Antwort ertheilt, welche und, die ergebenft Unter 
zeichneten, ald Augenzeugen de3 in dem gedachten Schreiben berührten Vor: 
falles zu nachftehender Erklärung veranlaßt: Wir find bereit, die und be- 
fannte Sachdarftellung des Herrn Dr. K., jeder an feinem Theile, mit unferm 
Zeugnifje zu vertreten. Ja, diefe Darftellung läßt, weit entfernt, irgendwie 
zu übertreiben, dad Benehmen des Packmeiſters G. in noch zu mildem Lichte 
eriheinen, wie denn 3. B. in derfelben nicht ausdrüdlich erwähnt ift, daß ©. 
Herrn Dr. K. verfpottend, die Stimme desfelben in carrifirender Weiſe nachge— 
ahmt Hat. Wir laffen dahingeftellt, ob G.'s Unmwillfährigkeit durch die Behaup: 
tung genügend entſchuldigt wird, daß derfelbe im Momente der Ankunft des 
Zuged durch amderweite Dienftgefchäfte ftark in Anfpruch genommen gemwefen 


460 


fei. Das aber können wir bezeugen, daß derjelbe kurz nach Ankunft ded Zuges 
und zwar no vor dem Entkommen ded Excedenten im Gefpräche mit an- 
deren langfam den PBerron einherfchritt, überdies leuchtet ein, daß er in der 
felben Zeit, in welcher er Herrn Dr. K. eine Reihe außmeichender Antworten 
gab und ihn an den „Zugführer“ verwies (eine Aeußerung, deren fih Dr. F. 
mit Beftimmtheit erinnert), ihn ebenfo gut an den Bahnhofeinfpector ver: 
weifen Eonnte Wenn ©. fagt, daß er nicht in der Rage war, zu erfennen, 
worauf der von einem Paſſagier ausgefprohene Wunſch auf Verhaftung des 
anderen beruhte, fo können wir dem gegenüber bezeugen, daß Herr Dr. K. 
ihm gefagt hatte, er habe für das unanftändige Benehmen jened Ercedenten 
eine ganze Anzahl Zeugen. Die von G. dem Dr. K. zugefchriebene Aeußerung: 
„Das geht Sie nicht an, Sie dummer Menſch“, ift von Feinem der Unter- 
zeichneten gehört worden, obwohl diefelben, mit einziger Ausnahme des erjt 
fpäter hinzugefommenen Dr. H. von Anfang an Augen- und Dbrenzeugen ded 
Auftritted waren. Zudem wird niemand, der genannten Herrn auch nur ober 
flächlich Eennt, denfelben einer fo unmotivirten, rohen Yeußerung für fähig 
halten. Wohl aber hat G., während Dr. K. In durchaus höflicher Weife fein 
Anſuchen ftellte, von Anfang an kurze und barſche Antworten gegeben und, 
nachdem Dr. K. feine Abficht, fich zu beſchweren, geäußert, ihn in höchſt un- 
paffender, lauter und grober Weife angefchrieen und ſich den Umitehenden 
gegenüber in heftigen MNeden über den Vorfall ergangen. Nicht minder un 
haltbar ift die Behauptung G.'s, daß er mit Bezug auf den entfommenen 
Ruheſtörer geäußert: „Es ift einer betrunfen gemejen.*“ Im Gegentheil er 
innert fih Dr. D. genau, daß feine Worte lauteten: „Sch denke, der Herr 
ift befoffen * und wen dieſe Worte galten, ergiebt fih daraus, dag er im 
Zufammenhange mit diefer YAeußerung die Stimme des Herrn Dr. 8. in 
marfirender Weife nachgeahmt hat, wie die außer Dr. D. auch Dr. %. be 
zeugen Fann. — Einen Punkt, den die Fönigliche Generaldirection mit Still- 
ſchweigen übergangen hat, fühlen wir uns gedrungen, noch beſonders zu be 
tonen, daß nämlih G. nicht nur die Nennung feined Namen verweigerte, 
fondern auch hiervon den Gensdarm, welchen Dr. K. fragte, wer diefer Beamte 
jet, mit den Worten abmahnte: „Sagen Sie ed nicht!“ — Für die Wahrheit 
unferer vorftehenden Ausſagen treten wir ein und find bereit, Herrn Dr. 8. 
erforderlichen Falles dur unfer Zeugniß auch weiterhin zu unterftügen. 
Sn vorzüglicher Hochachtung zeichnen u. f. w. 

Dresden den 22. Auguft 1873.“ 

Sleichzeitig mit diefer Erklärung ließ ich der Generaldirection folgende 
Antwort zugehen: „Die Eönigliche Generaldirection der ſächſiſchen Staatseifen- 
bahnen hat auf meine Beſchwerde vom 3. Juli d. 3. eine vom 23. desjelben 
Monats datirte Zufchrift an mich gerichtet, melde erft am 27. Juli unmitz 


Kr 5 A022 22 . 


461 


telbar vor Antritt einer Reiſe bei mir abgegeben worden ift und von mir erſt 
jest nach meiner Rückkehr beantwortet werden kann. ch habe von diefem 
Schreiben mit dem allergrößten Befremden Kenntnig genommen. Es war zu 
erwarten, daß ein Beamter, der fich gegen einen Reifenden in der beleidigenditen 
Weife benommen, alles Mögliche verfuchen werde, um unliebfame Folgen feines 
Benehmend von fich abzuwenden. In diejer Vorausſicht hatte id) in meinem 
Schreiben vier hochachtbare, in öffentlichen Aemtern ftehende Männer nambaft 
gemacht, welche Augenzeugen des gedachten Vorgangs geweſen waren, und 
die Fönigliche Generaldirection erfucht, diefe Männer fo wie mich felbft mit 
dem betreffenden Beamten zu confrontiren, falld derfelbe eine der von mir 
angeführten Thatfachen leugnen folltee — Obwohl nun diefer letztere, Bad» 
meiſter G., eine von der meinigen weſentlich abweichende, ihm ungleich günftigere 
Darftellung des Sachverhaltes gegeben, fo hat es die fönigliche Generaldirection 
doc nicht für geboten erachtet, auf mein Gejuch einzugehen, fondern ihr Ur: 
theil über den „bedauerlichen Borfall* lediglich auf den einfeitigen Bericht jene? 
Beamten und auf eine Bemerfung ded Gensdarmen E. gegründet, welcher jenem 
Vorfalle nur zum geringiten Thetle beigemohnt hat. Während aber die Fönig- 
lihe Generaldirection das Zeugnig von vier hochachtbaren Männern als völlig 
unerheblich ignorirt, nimmt diejelbe feinen Anftand, auf die Ausſage eine? 
Zugsbeamten bin, der laut feines eigenen Zugeſtändniſſes mehrfache Unziem- 
lichkeiten gegen mid, begangen hat, die Befchuldigung gegen mich auszu— 
Iprehen, daß ich einen ihrer Beamten öffentlich beleidigt habe. — Ich weiſe 
diefe Befchuldigung als volljtändig unwahr und unbegründet mit Entrüftung 
zurüd. Gegenüber der unbewiefenen und durchaus wahrheitäwidrigen Behaup- 
tung G.'s erfläre ich hiermit und bin bereit, jederzeit eidlich zu erhärten, daß 
ih weder die Aeußerung gethan: „das geht Sie nicht? an, Sie dummer 
Menſch!“ noch irgend einen andern injuriöjen Ausdrud gebraucht habe. Viel« 
mehr habe ich mit G. lediglich in den unter Gebildeten üblichen Formen und 
in einem höflicheren Tone verkehrt, als derjenige ift, den die königliche General— 
direction in ihrem Schreiben gegen mich anzufchlagen für pafjend befunden hat. — 
Wenn übrigend die königliche Generaldirection die Unwillfährigkeit G.'s, 
mir behufs Feſtnehmung eines Ereedenten Beiftand zu leiften, entjchuldigt 
und nur bedauert, daß derfelbe mich nicht an den Vertreter der Bahnhofs— 
infpeetion ald den in diefem Falle competenten Beamten gewiefen habe, fo 
befindet fich diefelbe in einem offenen Widerfpruche mit den Beſtimmungen 
vr $$ 12 und 69 des „Bahnpolizeireglements für die Eifenbahnen im nord» 
deutichen Bunde“ *), welde u. a. befagen: $ 72. „Zur Ausübung der Bahn- 
polizet find zunächſt berufen und verpflichtet folgende Eifenbahnbe- 


*) In Kraft getreten am 1. Januar 1871, veröffentlicht in dem Giſetz⸗ und Berordnungds 
blatt für das Königreich Sahfen vom Jahre 1870 ©. 377— 396. 











462 


amte: 1) der Betriebödirector, beziehungsweiſe der Oberingenieur, 2) der Ober. 
betriebäinfpector, 3) die Betriebsinfpeetoren und die Betrieböcontroleure 4) die 
Eifenbahnbaumeifter, beziehungsmeife Abtheilungäbaumeifter und Ingenieure, 
5) die Bahnmeifter und die Oberbahnmwärter, 6) die Bahn- und Hilfebahn- 
wärter, 7) der Bahncontroleur, 8) die Stationdvorfteher, beziehungsmeife 
Bahnhofsinſpectoren, 9) die Stationdauffeher, 10) die Stattondaffiftenten, 
11) die Weichenfteller, 12) die Zugführer, Badmeifterund Schaffner, 
13) die Portiers und Nachtwächter.“ $ 69. „Die zur Ausübung der Bahn: 
polizei berufenen und verpflichteten Eifenbahnbeamten ($ 72) find ermächtigt, 
jeden Hebertreter der obigen VBorfhriften*), welcher unbekannt 
ift und fich über feine Perfon nicht auszuweiſen vermag oder letzteren alles 
nicht eine der angedrohten Strafe entfprechende angemefjene Caution erlegt, 
deren Höhe jedoch dad Marimum der Strafe in feinem Yalle überfteigen darf, 
wenn er bei der Ausführung der jtrafbaren Handlung oder glei nad 
derfelben betroffen oderverfolgt wird, vorläufigzuergreifen 
und feftzunehmen. Gnthält die ftrafbare Handlung ein Verbrechen oder 
Vergehen, fo Fann fi der Schuldige durch eine Gautiondftellung der vor: 
läufigen Ergreifung und Feftnahme nicht entziehen.“ — Somit ftand es feine 
wegs in dem Belieben des Packmeiſters G., ob derfelbe mich bei Ergreifung 
eines Excedenten unterftügen wollte oder nit. Völlig unzutreffend ift es 
übrigens, wenn die königliche Generaldirection den Vorfall, welcher den näch— 
ften Anlaß zu meiner Berührung mit ©. gab, unter den Gefichtäpunft einer 
„zwtfchen Paſſagieren auögebrochenen Differenz“ und eined „Streiteö* ftellt, 
während es fich vielmehr um ein von einem Paſſagier ausgegangenes Attentat 
auf Anftand und Sitte handelte, welchen wir, meine Freunde und ich, denen 
die beiden beleidigten Perſonen gänzlich unbekannt waren, im Intereſſe der 
Öffentlichen Ordnung entgegenzutreten und gedrungen fühlten. — Nicht min 
der hat ©. gegen ff. Beitimmungen des $ 76 verftoßen: „Die Bahnpolizeis 
beamten haben dem Rublicum gegenüber ein befonnened, anftändiged und 
foweit die Erfüllung der ihnen auferlegten Dienftpflichten ed zuläßt, mög 
lichft rücdfichtsvolles Benehmen zu beobachten und ſich insbeſondere jedes 
berrifhen und unfreundliden Auftretens zu enthalten.“ — 
Wenn die Fönigliche Generaldirection fich damit begnügt, G.'s Unwillfäh— 
rigfeit zu „bedauern“ und feine gegen mich gethanen Aeußerungen zu „miß 
billigen“, fo entfpricht dies keinesfalls den Anforderungen des ebenge 
dachten Paragraphen: „Unziemlichfeiten find von ihren Vorgeſetzten jtreng 





*) Folglih aud des $ 64, welcher Tautet: „Wer die vorgefchriebene Drdnung nicht bes 
obachtet, fich den Anorduungen der Bahnpolizei nicht fügt oder fih unanftändig benimmt, 
wird gleichfalls zurüdgewiefen und ohne Anſpruch auf den Erſatz des gezahlten Perfonengelded 
von der Mits und Weiterreife ausgefchloffen.“ 


463 


zu rügen und nöthigenfalld dur Ordnungöftrafe zu ahnden.“ — 
Andere in dem Schreiben der königlichen Generaldirection enthaltene Un 
rihtigfeiten zu beleuchten, fehe ich mich hier um fo weniger veranlaft, ala 
derfelben gleichzeitig mit diefem Briefe eine Zufchrift der vier früher genannten 
Herren zugehen wird, aus welcher fie entnehmen kann, daß meine Darftellung 
der Sache, weit entfernt, irgendwie zu übertreiben, hie und da noch zu mild 
gewefen ift, mie ich denn 3.3. nicht ausdrüdlich erwähnt habe, dag G. mich 
verfpottend, in carrifirender MWeife meine Stimme nachgeahmt hat. — Wenn 
(hließlih die königliche Generaldirection erklärt, daß ihr „hiernach allent- 
halben der ganze bedauerliche Vorfall zu einem Einfchreiten gegen G. feine 
Veranlaffung biete”, jo wird die Gegenbemerfung geftattet fein, daß bei einem 
jo ungewöhnlichen, den anerfannteften Rechtsgrundſätzen mwiderfprechenden 
Verfahren, bei welchem die Ausfagen des Angeklagten allein ald maßgebend 
betrachtet und die gemichtigften Belaftungszeugen nicht einmal gehört worden, 
überhaupt jelten oder nie ein wie immer „bedauerlicher“ Vorfall zum Ein» 
fhreiten gegen einen Beamten Beranlafjung bieten dürfte Dann fordert aber 
die Rüdficht gegen das reifende Rublicum, dasfelbe von diefem Verfahren in 
Kenntniß zu feßen, denn niemand wird ſich zu den Opfern an Zeit, Mühe 
und Aerger, welche mit Anbringung einer Beſchwerde verbunden zu fein 
pflegen, leicht entfchließen, wenn er meiß, daß derfelben eine Behandlung zu 
Theil wird, beit welcher der Vortheil fo überwiegend auf Seiten ded An— 
geflagten und mit größter MWahrfcheinlichkeit vorauszufehen tft, daß diefer im 
Wefentlihen entjchuldigt oder gerechtfertigt au8 der Unterfuhung hervorgehen 
werde. — Selbftverftändlich werde ich bei der Entfcheidung der Föniglichen Gene— 
raldirection nicht Beruhigung faflen, fondern habe bereitd einen Advocaten mit 
Einleitung weiterer Schritte behufs Wahrung meines Rechtes beauftragt. 
Ueberdie® behalte ich mir vor, die ganze Angelegenheit in weitverbreiteten 
Organen der deutfchen Preſſe zu veröffentlichen und dabei auch dem Antwort- 
ſchreiben der königlichen Generaldireetion diejenige Kritik angedeihen zu lafjen, 
auf welche dasſelbe vermöge feined Inhaltes wie feined Tones berechtigten 
Anſpruch hat. 

Dresden, am 25. Auguft 1873. Mar Krenfel, Dr. phil. 

Da die Generaldirection fich nicht bewogen fand, auf die beiden vor- 
ftehenden Schreiben eine Antwort zu ertheilen, fo erhob ich gegen den Pack— 
meifter ©. die Anklage wegen Beleidigung, Im feften Bertrauen auf die 
Güte meiner Sache begnügte ich mich mit Abhörung von zmei Zeugen, um 
den anderen eine Mühe zu erfparen. Der Richter erfter Inſtanz erklärte 
bierauf, daß er nicht die volle rechtliche Ueberzeugung von der Schuld des 
Angeflagten gewonnen habe, und fprach denfelben klagfrei. Wer unfer 
Gerichtäverfahren kennt, wird ein erftinftanzliches Urtheil nicht für unfehlbar 


nz * 
164 


halten und es begreiflich finden, daß ich Einſpruch erhob. In der öffentlichen 
Verhandlung, welche am 27. Februar d. J. vor dem kgl. Bezirksgerichte in 
Freiberg ſtattfand, ließ ich durch meinen Anwalt erklären, daß es mir nicht 
ſowohl auf eine ſtrenge Beſtrafung des Angeklagten, als vielmehr auf das 
einfache „Schuldig“ ankomme und beantragte Vervollſtändigung der Beweis— 
aufnahme mittelſt Abhörung der zwei noch rückſtändigen Zeugen. Ich hatte 
die Genugthuung, daß die fünf Richter zweiter Inſtanz, ohne auf dieſen An— 
trag einzugehen, alle Klagepunkte für bewieſen erachteten und in einem 
gründlich motivirten, die Aufſtellungen des Vorderrichters allſeitig widerlegenden 
Erkenntniſſe das Urtheil fällten, daß G. gemäß $ 185 des Reichäftrafgefeh- 
buches mit einer Geldſtrafe von drei Thalern zu belegen und die Koſten der 
Unterſuchung zu bezahlen, mir aber gemäß $ 200 die Befugniß zuzuſprechen 
jet, die Verurtheilung des Privatangeklagten auf deſſen Koften in einem 
Dresdner Rocalblatte befannt zu machen. *) 

Nachdem fo durch richterlihen Spruch entfchieden war, wer Recht, wer 
Unrecht habe, theilte ich der Generaldirection dieſes Erkenntniß brieflich mit, 
in der Erwartung, daß diefelbe mir wegen ihrer Antwort auf meine Be 
ſchwerde ihr Bedauern ausdrüden und G. zu mir ſchicken werde, um mid 
wegen der mir zugefügten Beleidigungen um Berzeihung zu bitten. So 
handelte wenigſtens die Direction eines hiefigen Dienftmanninftitutes, nachdem 
id) einen ihrer Reute, von dem ich überwortheilt worden, zur Anzeige gebradt 
hatte. Sch würde in diefem Falle wahrfcheinlih von der Veröffentlichung 
des Urtheild gegen G. und meiner Verhandlungen mit der Generaldirection 
abgejehen haben. Allein ich hatte von letzterer zu viel erwartet. Da fie 
beharrlich ſchwieg, machte ih zunädft in Nr. 81 des „Dresdner Unzeigerd“ 
das obige Urtheil befannt und gab etwa 7 Wochen fpäter im Anſchluß an 
Philipp’3 bereitd erwähnte Kritik eine kurze Darftellung der Angelegenheit 
in der „Dresdner Preſſe“ (Nr. 126). Jetzt endlih fand fi die General. 
direction veranlaßt, aus ihrem Stillichweigen heraudzutreten. In Nr. 129 
der genannten Zeitung erjchien nämlich folgende, nach Mittheilung des Nedac- 
teurd auf diefe Behörde zurüczuführende Entgegnung: 

„Sn Bezug auf die in Nr. 126 d. BI. abgedrudte, gegen die General: 
direction der Staatdeifenbahnen gerichteten Artifel des Heren Dr. Krenkel be 
merfen wir auf Grund erhaltener Auskunft, daß der Genannte den an die 


*) Zn dem Erkenntniſſe 2. Inftanz iſt ausdrüdlich gejagt, daß „ſowohl das Benehmen als 
die Ausdrüde des Pıivatangeklagten geeignet waren, den Privatanfläger vor den Augen dei 
Publitums lächerlich zu machen und an feiner Ehre zu kränken, und daß der Privatangefläglt 
ſich deſſen bei feiner vorfäglihen und rechtäwidrigen, weil dem Privatanfläger gegenüber 
völlig unbefugten Kundgebung bewußt fein mußte.“ ferner befennt dad Gericht den Gindrud 
gewonnen zu haben, „ald babe es der Privatangellagte bei dem fraglichen Borfall an dem 
guten Willen, dem Publikum gegenüber zuvorfommend zu fein nicht unmerklich fehlen laſſen.“ 





465 


Deffentlichkett gebrachten Vorfall vermieden haben dürfte, wenn er nicht an 
den vor Allem zur Bedienung auöfteigender Paſſagiere verpflichteten 
Schaffner ein Verlangen gerichtet hätte, welches diefer abzulehnen bemchtigt 
war und welches au im $ 72 des Bahnpolizeireglements feine Begründung 
nicht findet. Auch ift die Sache vom Gerichte erfter Inſtanz zu Gunften des 
Schaffners entfhieden morden, alfo zweifelhaft gemefen. Im MUebrigen 
hat und die Generaldirection ihre Bereitwilligkeit erklärt, jedem, der an der 
Sache perfönlich intereffirt ift, Näheres mitzutheilen.“ 

Dürftiger ift wohl kaum jemals eine amtliche Vertheidigung in öffentlichen 
Blättern ausgefallen. Erftlich ſcheint die Generaldirection ein ziemlich kurzes 
Gedächtniß zu haben, wenn fie ihren Beamten G., den fie in dem Beſcheide 
auf meine Befchwerde noch ganz richtig als Packmeiſter bezeichnet, jest auf 
einmal zum Schaffner degradirt. Zweitens wird durch diefe Degradation 
an der Schuld G.s nicht das Geringfte geändert, denn nach $ 72 des Regle— 
ment? (j. oben) find neben den Zugführern und Wadmeiftern auch die 
Schaffner „zur Ausübung der Bahnpolizei zunächft berufen und ver- 
pflichtet“. $ 75 lautet: „Die Bahnpolizeibeamten werden von der compe- 
tenten Behörde vereidet. Sie treten alddann in Beziehung auf die ihnen 
übertragenen Dienftverrichtungen dem Publikum gegenüber in die Nechte der 
öffentlichen Polizeibeamten“ und nad $ 77 erſtreckt fich „die Aufmerf- 
jamfeit der Bahnpolizeibeamten auf die ganze Bahn und die dazu gehörigen 
Anlagen‘. Wenn endlich die Generaldireetion wirklich fo bereitwillig ift, 
jedem an der Sache perfönlich Intereffirten Näheres mitzutheilen, wie kommt 
es, daß diefelbe den mehrerwähnten vier Augenzeugen, welche nächſt mir in 
erfter Linie an der Sache intereffirt waren und died durch ihre gemeinfchaft- 
liche Erklärung zur Genüge befundet hatten, bi8 auf den heutigen Tag mit 
feiner Silbe geantwortet hat? 

Bald nad Beröffentlihung meine? Artikels hatte ich Gelegenheit, zu 
bemerken, daß mein Vorgehen gegen die Fgl. Generaldirection ſich der unge 
theilten Zuftimmung de Publikums erfreue.. Bon vielen Seiten wurde mir 
warme Anerkennung und der Wunfch audgefprochen, daß mein Beiſpiel Nach— 
ahmung finden möge, da e3 dann in mander Hinficht beffer ftehen würde. 
Selbft höhere ſächſiſche Bahnbeamte bezeugten mir ihren Unmillen über den 
Beicheid der Bahndirection und ihre Befriedigung über die derfelben von mir 
zu Theil gewordene Zurechtweifung und ein ihre nicht fern ftehender Mann 
äußerte: „Uns thäte ein Lasker dringend noth!“ Wenn e8 aber unzweifel— 
haft ift, daß meine Beſchwerde feitend der Generaldirection nicht die ihr ge- 
bührende Berüdfichtigung gefunden hat, fo erfordert doch die Billigfelt, 
ſchließlich noch zu fragen, ob bei Beurtheilung des Verfahrens diefer Behörde 


nicht etwa mildernde Umftände in Betracht Fommen. Diefe Frage glauben 
©renzboten IV. 1874, 59 


466 


wir minbeftend in Bezug auf den Unterzeichner jenes Befcheids, Freiherrn 
v. Biedermann, unbedenklich bejahen zu dürfen, wenn wir den Umfang und 
die Melfeitigfeit feiner außerordentlihen Thätigkeit ind Auge faflen. Herr 
v. Biedermann tft nämlich, wenn wir feinem Selbftzeugniffe Glauben ſchenken, 
ein Sprachkenner und Riterarhiftorifer, der feine® Gleichen fucht. Hören wir 
ihn felbft: „Es mangelt noch an einer allgemeinen Darftellung der Formen 
der Dichtkunft, wodurch das biftorifhe Vorkommen jeder der verfchiedenen 
Formen, die geographifche Verbreitung derfelben, die Mannichfaltigkeiten in 
ihrem Auftreten und ihrer Ausbildung, forte dad Weichen der einen Yorm 
vor der andern durch vergleichende Betrachtung in möglichſt vollitändigem 
Umfange nadhgemiefen wird. Ein ſolches ebenfo für die allgemeine Eultur- 
gefchichte wie für die Erfenntnig des gefchichtlichen Begriffes der Dichtfunft 
wichtiges Werk hat mir ſchon feit Jahren ald verlodende Aufgabe vorge 
Ihwebt und es liegt ein ziemlich reicher, von mir gefammelter 
Stoff mit den Dihtungen aud etwa 200 Spraden und Mund» 
arten (ungerehnet die allein faft ſchon dreimal fo ftarf vers 
tretenen germanifchen) vor mir, doch fehlte mir immer noch die Muße, 
ohne melde das Drdnen und Geftalten 'deäfelben nicht möglich tft.“ Und 
im weiteren Verlaufe ded Aufſatzes, der durch diefe Worte eingeleitet wird”), 
weiß und Herr v. Biedermann nicht nur von Römern und Griechen, fondern 
auch von Juden, Aegyptern, Phöniciern, Syrern, Arabern, Perſern, Arme 
niern, Indern, Siamefen, Birmanen, Chinefen, Malaten, Mongolen, Mand 
ſchus, Kalmüden, Kirgifen, Finnen, Efthen, Zappländern, Grönländern, Oft: 
jafen und den poetifchen Reiftungen diejer Völker zu erzählen. Daß die bei 
einer folchen Arbeit in Frage fommenden Studien, wenn fie anderd gründlich 
betrieben werden, höchft zeitraubend find, wird fein Sachverftändiger leugnen. 
Und Gründlichfeit darf man doc wohl bei einem Manne vorausſetzen, der 
über einen Gelehrten von Herder'd Verdienften mit beneidenswerthem Selbft- 
gefühl alfo urtheilen kann: „Herder, der in feinen Unterfuchungen über vorge 
Ihichtliche Erfeheinungen immer mehr den getftreichen Gebildeten als den gründ- 
lihen Sachkenner und Forfcher verräth“.“) Darf man einem folchen Manne 
zumuthen, daß er feine Eoftbare Zeit damit verliere, unerquicliche Befchwerden 

*) „Der Parallelism in der Dichtkunft“ im Johannes» Album herausgegeben von Ft. 
Müller, Bürgermeifter zu Chemnitz. Zweiter Theil S. 70 ff. 


») a. a. O. S. 73. Freilich bat der „geiftreiche Gebildete" Herder nicht fo wunderſame 
Entdeckungen gemacht, wie der „gründliche Sachfenner und Forfcher“ v. Biedermann, ber in 
feinem Buche „Goethe und Leipzig (Th. 1 ©. 28) die Bibel „von einer Quelle erzählen“ 
läßt, „melde dem Unfhuldigen wohl betommt, den Schuldigen aufbläht und berfien mad.” 
Diefer Fabel ſcheint eine dunkle Erinnerung an das Gefep 4. Mof. 5, 12— 31 zu Grunde 
zu liegen, über welches fih Herr von Biedermann aus Schenkel's Bibellerifon (Art. Fluch 
waſſer) Belehrung erholen kann. Auch in Betreff der Behandlung feiner Mutterfprache dürfte 
ed der jo abfällig beurtheilte Herder recht wohl mit Herrn v. Biedermann aufnehmen, det 


467 


des reifenden Publikums eingehend zu erörtern? Wenn aber dies billiger 
mweife von Heren v. Biedermann nicht zu verlangen ift und gleihmwohl das 
Rublitum ein Recht darauf hat, daß feine begründeten Beſchwerden nicht 
kurzer Hand abgewiefen, fondern nah Gebühr berüdfichtigt werden, was foll 
dann gefchehen? Wir meinen, dieſes Dilemma löſt fih am einfachſten da- 
duch, daß das Finanzminifterium, al® die Herrn v. Biedermann vorgefeste 
Behörde für ihn ein gutes Wort bei dem Cultusminiſterium einlegt und 
dieſes letztere ihn vecht bald in eine Profeſſur der vergleichenden Riteratur. 
geſchichte an der Univerfität Leipzig beruft, der ein Mann von feinen Kennt» 
niffen nur zur Zierde gereichen wird. Damit erhält er die erwünſchte Muße 
zum Ordnen und Geſtalten feines reichen Stoffed und fann endlich die ge» 
lehrte Welt mit dem Werke befchenfen, das ihm ſchon feit Jahren ald eine 
lofende Aufgabe vorſchwebt. Seine Stelle wäre dann mit einem weniger ges 
(ehrten und vielfeitigen Nachfolger zu befegen, der eben vermöge feined be» 
ſchränkteren geiftigen Horizontes mehr Zeit und Neigung hätte, fih mit fo 
unerquidlichen und profaifchen Dingen, wie Bejchwerden des Publikums find, 
zu befaffen. Daß ein Eifenbahndireetor Iiterargefchichtliche Unterfuchungen 
anitellt und etwa 200 fremde Sprachen verjteht, ift nicht nöthig daß er aber 
die wohlbegründeten Bejchwerden gebildeter Reijender genau unterfucht und 
ihnen gegenüber die Sprache zu reden verjteht, die man ſonſt von Behörden 
des 19. Jahrhundert? zu hören pflegt, das ift allerdings nöthig. 
Mar Krenkel. 


Fine nee Ausgabe von Zeremias Hofthelf. 


Die Grenzboten haben ſchon mehrfach eine Lanze eingelegt für den fein 
Volk fo treu wiederfpiegelnden und doc im Volk noch nicht genug gefannten 
und gemürdigten Dichter des Schweizer Dorfes, Jeremias Gotthelf. 

Eine Lanze eingelegt — denn von namhaften Kritikern iſt's dem guten 

Randprediger ſchon gar oft herzlich ſchlecht ergangen, hat doch ihre äſthetiſche 
Gnträftung ſogar fhon im Namen der beleidigten Geruchänerven Proteft ein: 
gelegt gegen die Atmosphäre der Gotthelf'ſchen Schriften. 
j. B. in dem nur erwähnten Buche die Präpofition „wegen“ mit dem Dativ verbindet („wegen 
Ittthüm ern“, Ih. 1 ©. 50), einen jungen Mann „nah forgfältig genoffener häuslicher 
Erziehung” auf die Hochſchule geben läßt (Tb. 1 &. 185) und folgende ganz der „Dresdner 
Nachrichten” würdige Participialconftruction leiftet: „Nur beiläufig bemerfend, daß unter 
dem beftellten Papier fogenanntes Unterfagpapier, zum Aufziehen von Kupferflichen verftanden 
war, find dagegen die thätigen Söhne Weigel’d näher zu beachten.“ (Th. 2 
€. 170.) 


468 


Auch feine Verehrer (und wir befennen und hiemit öffentlich zu diefen) 
können den derben, oft verlegenden Realismus aus Gotthelf's Werfen nicht 
hinweg läugnen, aber wenn feine Erzählungen und Verhältniffe und Menjchen 
vorführen, die in ihrer rohen Natürlichfeit namentlich das verfeinerte Gefühl 
des Städters beleidigen, fo liegt died an dem Volk, das er ſchildert und nicht 
an dem Dichter. 

Die Nachkommen jener Bauern, die bei Morgarten Felsblöcke herab: 
mwälzten auf den anziehenden Feind, fallen auch heute noch weder das Leben, 
no ihre Gegner mit Glaeé ⸗Handſchuhen an, oder, um die engere Heimath 
der Gotthelf'ſchen Geftalten nicht zu verlafen, die Söhne jener Männer und 
Frauen, die zu Ende des letzten Jahrhunderts mit Senfen, Drefchflegeln, 
Heugabeln bewaffnet, fid) der „großen Nation“ entgegen werfen und im ver 
zweifelten Einzelkampf den Apofteln der Givilifatton unterliegen, find auch 
heute noch durchaus unfchuldig an Europens übertündhter Höflichkeit. 

Mit Entfchiedenheit aber müſſen wir den Vorwurf zurückweiſen, daß 
Gotthelf mit Vorliebe nur die Ausschreitungen diefed Volksgeiſtes ſchildert. 
Gerade dur Gotthelf mag der Deutſche den feften, gefunden Kern erfafjen 
lernen, den die rauhe Hülle birgt, und der allerdings auf der vielgetretenen 
Heerftraße des alljährlichen Fremdenzuges in Höteld, Benfionen, bei Fremden- 
führern und Spekulanten nicht oder fehr felten zu finden ift. 

Die innere Tüchtigkeit de8 Schweizer Landvolks, feinen urgefunden 
Humor, fein treued Zufammenhalten und Sichgegenfeitigaushelfen meiß gerade 
Gotthelf zu fohildern wie fein Andrer und in der durchaus urwüchfigen Um— 
gebung weiß doch auch Gotthelf Lieblihe und finnige Geftalten erftehen zu 
laffen, die faft fremdartig aus dem rauhen Rahmen fi abheben (Erdbeeri- 
Mareilt, Anneli in der Käſerei auf der Vehfreude u. ſ. w.), oder die dur ihre 
Fülle von fchlichter Kiebesfraft ihren ganzen Kreis erwärmen und empor 
heben zu ihrer unbewußten Größe. 

Sol eine Geftalt ift Kätht, die Großmutter, die arme, alte Frau bie 
um 7%, Thaler halbjährliche Zinfen fih Monate hindurch abquält, und bie 
verzmweifelnd dem Winter entgegenblict, da die Kartoffeln mißrathen. 

Diefe Käthi ift nicht nur die Infaifin ihres Heimathsdorfes. In ihrem 
aufopfernden, mütterlihen Wirken, in ihrer fo durchaus unpädagogifchen und 
in ihrer Qebenswahrheit fo rührend gefchilderten Erziehung oder vielmehr 
Berziehung ihres Enkels ift fie das prächtigfte Urbild aller prächtigen Groß 
mütter, „fo weit die deutfche Zunge Klingt”. 

Die BVerlagshandlung von Julius Springer bietet diefe einzelne Et— 
zählung in neuer, mohlfeiler Auägabe, fo recht als ein Volksbuch dem Volke. 
Und zwar find im Auftrag des Unternehmers all die eingeitreuten, politiſchen 
Abhandlungen, die nur der Zeit galten, in der die Erzählung gefchrieben 


469 


wurde, und die jest dem größeren Publikum fremb und beinahe unverftänd- 
(ih gervorden, von berufener Hand, dem Volkäfchriftiteller Ferdinand Schmidt, 
in pietätvoller Weiſe ausgefchieden worden. 

Es iſt damit ein Haupthindernig der allgemeinen Verbreitung Gotthelf: 
[her Werke aus dem Mege geräumt, und ein kurzes, einführendes Wort ver- 
ipriht, daß diefem erften Band bald weitere Erzählungen folgen follen, die 
in gleicher MWeife für das Verftändnig der Jetztzeit bearbeitet werden. 

Jeder Freund einer fräftigen und gefunden, geiftigen Nahrung fann dem 
Unternehmen nur den beiten Fortgang wünſchen. B. 2. 


Vom deutfhen Reichstag. 


Berlin, den 13. Dezember 1874. 


Es find zunächſt die Vorgänge feit dem 27. November nachzuholen, an 
welchem die erfte Refung der Juſtizgeſetze fchloß. 

Wir brauchen die Situng vom 28. November nur flüchtig zu erwähnen. 
Ste befchäftigte fih mit der erften und zmeiten Leſung des Vertragd zur 
Gründung eine? allgemeinen Poftvereind, mit einer Snterpellation von Schulze. 
Delitzſch, betreffend die Geſetzgebung über die Arbeiterflaffen, mit der erften 
Leſung eines Gefeged über die Ausdehnung des Reichsgeſetzes betreffd Quar- 
tierleiftung, mit der erften Berathung des Haushaltes der unmittelbaren 
Reichslande. Die erfte Berathung des letzteren Gegenftandes erftredte fich in 
die Sisung vom 30. November hinein, wo fie dem Netchäfanzler Anlaß gab, 
auf die erheuchelten Beſchwerden der Elerifalen Abgeordneten aus den Reichs— 
landen Einiges zu erwidern. Der Kern der Ermiderung lag, mie ed nicht 
anderd fein Eonnte, in der Wiederhofung einer bereit in der vergangenen 
Reichstagsſeſſion an die Vertreter der Reichslande gerichteten Erklärung. Die 
frühere Erklärung lautete: „Wir haben Ste nicht erobert, um Ste glüdlich 
zu machen.“ Wie wirkungsvoll der Kanzler wiederum ſprach, fich felbft über- 
treffen Eonnte er nicht, obwohl man diefe Rede zumelilen anwendet, wenn 
Jemand feine Sache erſt fo gut macht, wie er kann. — Das Haushaltsgeſetz 
für die unmittelbaren Reichdlande wurde einer Commiſſion übermwiefen, und 
der letzte Theil der Sigung dem Abſchluß technifcher Vorlagen gewidmet. 

Am erften Dezember gelangte der Gefetentwurf, betreffend die Aufnahme 
einer Anleihe für Zmede der Marine und der Telegraphenverwaltung zur 
erften Berathung. Diefe Vorlage wird an die Budgetcommiffion überwieſen, 


470 


und die gefammten Ausgaben für die Marine werden nachträglich auf den- 
felben Weg verwiefen, während fie erft zu denjenigen Theilen ded Reichshaus— 
haltes hatten gehören follen, deren zweite oder Einzelberathung der Reichs— 
tag ohne Kommiffion im Plenum vornimmt. Die zweite Xefung der zur 
unmittelbaren Berathung im Plenum geftellten Theile des Reichshaushaltes 
begann nunmehr, und zwar mit den Ausgaben des Reichskanzleramtes. Unter 
diefen Ausgaben erjchien zum erſten Mal die Ausftattung eined neuen Reichs— 
juftizamtes unter einem eigenen Director, der aber, wie dag ganze Amt nicht 
nur dem Reichskanzler unterftehen, fondern als eine Unterabtheilung dem 
Reichskanzleramt angefchloffen werden fol. Diefe Einrihtung veranlapte den 
Abgeordneten Lasker zur Miederholung feiner altbefannten Ausführung, 
wie wünſchenswerth Reichäminifterien feien, wie der Reichskanzler nicht für 
alle Geſchäftszweige des Reiches verantwortlich fein könne, wie derfelbe bei 
lebendigem Leibe durch den von feinen menfchlihen Schultern zu tragenden 
Umfang der Verantwortlichfeit zu einer Abftraction verflüchtigt werde. Der 
Präſident Delbrüd antwortete zunächſt correct aus dem Stand der Sache 
heraus, mie er zur Zeit vorliegt. Er fagte im MWefentlichen: eine bejondere 
Behörde zur bloßen Vorbereitung der Geſetze ift unfruchtbar, wenn fie nicht 
mit der Verwaltung in enger organifcher Beziehung fteht. Deßhalb hat man 
für jet das neue Geſetzgebunggamt mit dem Amt der inneren Reichäver- 
waltung organifch verbunden. Wenn die große Reichsreform der deutſchen 
Suftiz durchgeführt fein wird, dann wird vielleicht eine Reichsjuſtizverwaltung 
erforderlich, und dann kann für diefe und die Vorbereitung der Geſetze ein 
jelbftftändiges Juftizamt errichtet werden. Jetzt ift e8 noch nicht an der Zeit. 

Die Ausführung ded Abgeordneten Lasker hatte jedoch die perfönlide 
Stellung des Kanzlerd wieder zu fehr zum Augenmerk genommen, ala daf 
diefer mit der aus der augenbliclichen Sachlage geſchöpften Erwiderung, wie 
fie Präfident Delbrüd gegeben, fich hätte begnügen dürfen. Er ergriff auf 
feinerfeit® das Wort über einen Gegenftand, den er nicht zum erften Mal 
behandelte. Sehr erinnerlich ift die ausführliche Nede, welhe er am 16. April 
1869 im Reichstage des Norddeutihen Bundes über dadfelbe Thema hielt, 
wo der Abgeordnete Tweſten bereitd den Antrag auf verantwortliche Bunded- 
minifterien, namentlich für auswärtige Angelegenheiten, Krieg, Marine, 
Finanzen und Handel geftellt hatte. Die damalige Ausführung des Kanzlerd 
gipfelte in der befannten Verurtheilung der collegtalifhen Minifterverfafung, 
wie fie in Preußen befteht. Später iſt der Kanzler auf dasfelbe Thema am 
10. Februar 1870 durd den Vergleich der preußifhen Minifterien mit acht 
Bundesftaaten in draftiicher Weife zurückgefommen. Dagegen haben nun 
feine diegmaligen Aeußerungen bet einem Theil der Tiberalen Partei große 
Befriedigung erweckt, obwohl wir nicht finden können, daß er irgend etwas 


471 


die früheren Aeußerungen Modificirended gefagt, denn ſchon am 16. April 
1869 fagte er dem Abgeordneten Lasker, daß es ihm auf ein halb Dutzend 
Miniftertitel nicht anfomme, wenn in dem verlangten Gefammtminifterium 
dem Kanzler die Stellung de3 englifhen Premierminifters, des erften Schab- 
lords, wie er dort heißt, eingeräumt werde. Diesmal geftand er die Noth« 
wendigfeit unummunden zu, für die großen Geſchäftszweige ded Reiches ber 
fondere Aemter mit eigenen Vorftänden zu bilden, die auch den Namen 
„Minifter* führen Eönnten. Aber er verlangte wiederum, wie früher, den 
maßgebenden Einfluß des Kanzlerd, er befämpfte wiederum, mie früher, den 
Shluß von der Unmöglichkeit der allfeitigen techniſchen Verantwortlichkeit 
des Kanzlerd auf die Unmöglichkeit der umfaſſenden moralifchen WVerantwort- 
lichkeit deöfelben. Dadurch erklärte fih nun der treffliche Lasker äußerſt ber 
rubigt, befriedigt und beinah beglüdt. Wir glauben aber der Sache einen 
Dienft zu leiften, wenn wir ohne Scheu und mit Nachdruck darauf hinweiſen, 
dat diefe fchöne Eintracht ganz und gar auf einem Mißverftändniß beruht. 
Selbft Lasker und ein Theil der Nationalliberalen kann fi nichts Schöneres 
denken, ald das englifche parlamentarifhe Minifterium mit feinem maßgeben- 
den Chef, und fie möchten dem Kanzler um den Hald fallen, daß er ihnen 
die Freude macht, fih zu demfelben Ziel zu befennen. Wenn die Herren 
aber fi nicht zu fchnell der Freude überlaffen und dafür recht genau zuhören 
wollten, würden fie finden, daß der Kanzler doc ein ganz anderes Ziel im 
Auge Hat. Er ſeinerſeits hat es am der nöthigen Deutlichkeit nicht fehlen 
laffen. Der Unterfchted, der durchſchlagende Unterfchted, liegt in der Art, 
wie der maßgebende Einfluß des leitenden Miniſters gefichert werden foll. 
Der Kanzler fagte am 1. December: „Es giebt nur zwei Wege. Entweder 
ed muß dem Kanzler gegen feine Gollegen ein Entlafjungsreht eingeräumt 
werden, und dad verträgt fich nicht wohl mit der Monarchie; oder der Kanzler 
muß in fämmtlichen Geſchäftszweigen das Recht der Dberauffiht und der 
unmittelbaren Verfügung Haben.“ Dem englifchen Premierminiſter fteht 
keines diefer beiden Mittel zu Gebote. Sein Einfluß beruht lediglich darauf, 
daß er ald Bindeglied zmifchen der minifteriellen Majorität und dem Minifte- 
rtum einen nicht harmonirenden Collegen durh die Drohung zur Nieder 
legung bewegen kann, andernfalls feinerfeitd niederzulegen, was die Auflöfung 
de8 Minifteriumd bedeutet. Die Stellung des engliihen Premierminifterd 
beruht alfo ganz auf der nothwendigen Führung der Majorität durch ein 
Blied ded Miniftertumd, welches in der Hegel Premierminifter, und wenn 
einmal nicht Premierminifter, tet? die eigentliche Seele ded Minifteriums ift. 
Der deutiche Kanzler verlangt dagegen für die Kanzlerftellung den etwaigen 
Reihöminiftern gegenüber oder, wie wir fie lieber genannt ſehen würden, 
gegenüber den Vorftänden der Reichdämter, ein Uebergewicht der gefeb- 


472 


lihen Amtscompetenz;. Die Forderung ift durchaus richtig und ſach— 
gemäß. Denn wir haben nicht die monarchiſche Organifation der Haupt: 
parteien im Parlament und Eönnen fie nicht haben, welche den Führer einer 
Hauptpartei zum unumgänglichen Premierminifter macht, neben welchem die 
anderen Minifter zurücdtreten, weil fie nicht diefelbe Stellung in der regieren» 
den Partei haben. Bei und würde jeder Minifter bei der formell lofen Ber: 
faffung des englifhen Minifteriumd feine eigene Partei im Reichstage und, 
was noch fehlimmer wäre, im Bundesrath haben. Die Einheit der Reihe. 
regierung würde ſich in klägliche Trümmer auflöfen. 

Die Stellung des Reichskanzlers findet in der That bisher noch ein 
merkwürdig geringes Verftändnig. Der Kanzler ift nad) der Reichsverfaſſung 
der vom Kaifer ernannte Vorſitzende des Bundesrathes. Seine erfte und 
vornehmfte Aufgabe ift, die einheitliche Action des Bundesraths herbeizu- 
führen, eine Aufgabe, die während einer langen Zukunft die erfte Kraft er 
fordern wird, welche fich zur Zeit in der Nation befindet. Denn es ift nicht 
abzufehen, wie das deutfche Reich jemals eine Action feiner Regierung, alfo 
ded Bundesrathes ertragen könnte, die auf planlofen, unzufammenhängenden 
Majoritätsbefhlüffen beruht. Wenn der Kanzler aber die Aufgabe vollbringt, 
ein einheitliche®, auf der Höhe der Reichsbedürfniſſe ftehended Handeln des 
Bundesraths herbeizuführen, fo kann er denfelben Tanz nicht noch einmal 
in einem collegialifhen Miniftertum und zum dritten Mal in einem Reich 
tag mit von ſich befämpfenden Regierungdeinflüffen zerfegter Majorität an 
fangen. Das geht nicht nur über die Fähigkeit, fondern felbft über die Vor 
ftellbarkeit menjchlicher Retftungen hinaus. Es genügt auch nicht das eng» 
liſche Mittel, daß der Premierminifter das Spiel zeitweiſe abbriht. Denn 
ſowie das deutjche Reich nach Innen und Außen beichaffen ift, fteht bei der 
Unterbrehung des Spield durch den einzigen Mann, der ed machen fann, dad 
ganze Reich auf dem Spiel. England ift in der glüdlichen Xage, wenn man 
dag für ein Glüd halten will, daß der Schlendrian fortgeht, ob der Anſtoß 
des Staatswagens bald von der Seite, bald von jener kommt. Der deutjche 
Staatdwagen, und fo wird ed auf unabjehbare Zeit bleiben, erfordert die 
befte und geübtefte Kraft, um fich gehörig zu bewegen, um nit fofort aus 
den Geleifen zu gerathen. Das ift unbequem, aber auch ein heilfamer Zwang 
zur Selbftbeherrfhung, Weisheit und Anſchauung aller patriotifchen Kräfte, 
Wir wollen deghalb die Engländer nicht allzufehr beneiden, vor Allem aber 
ihre Einrichtung nicht ungefhidt nahahmen. Mögen die mwohlgefinnten 
Männer im Reichstag, welche nicht nur gefonderte Reichsämter verlangen, 
was wir vollftändig billigen, fondern an der Spitze derfelben verantwortliche 
Reihäminifter, nur ja nicht vergeffen, was dem deutfchen Kanzler dann um 
entbehrlih ift: nämlih ein Uebergewicht der gefeglihen Amts 


473 


— 


competenz, nicht aber nur die der Perſon geltende Unterſtützung der Ma- 
jorttät, welche in England auf der nicht herüber zu nehmenden Organifation 
der PBarteten beruht und melche bei und ald eine Grundlage von Sand fi 
erweiſen würde. 

Das Uebergewicht der amtlichen Competenz, wie es Fürſt Bismarck am 
1. December verlangte, wenn Reichsminiſterien eingerichtet werden ſollten, 
beſaß übrigens der preußiſche Staatskanzler, ſolange dieſer Poſten beſtand. 

Die Sitzung vom 1. December hat in ziemlich unſcheinbarer, unbemerkter 
Weiſe noch einen anderen Gegenſtand, wir können nicht ſagen zum Austrag 
gebracht, aber in die Wege des Austrages geleitet, der für das Reichsſtaats— 
reht und feine Fünftige Entwidelung mindeftend ebenfo wichtig ift, als die 
angeregte Errihtung eined collegialifhen Reichsminiſteriums. Bei der Ab- 
flimmung über die Ausgaben des Neichäfanzleramtes, welche diedmal den 
eriten zur Befchlußfaffung gelangenden Theil des Reichshaushaltes bildeten, 
erklärte nämlich der Präfident von Forkenbeck, er werde, um jeden Zmeifel 
zu befeitigen, daß durch die Billigung der Ausgabetitel die Reichsregierung 
nit nur an die Titel im Ganzen gebunden werde, fondern an jede einzelne 
Pofition, wie fie unter jedem Titel enthalten ift, die Abftimmung nicht titel- 
weife, fondern nur pofitionenmweife vornehmen laffen. Diefe Erklärung rief 
am Tiſche des Bundedrathes ſtarkes Kopffchütteln, aber Keine beftimmte Er— 
Härung der Unzuläffigkeit de3 vorgefchlagenen Verfahren? hervor. Wir un— 
jererfeit3 halten mit der Anſicht nicht zurüd, daß dieſes Verfahren den 
äußerften Bedenken unterliegt, daß es nicht nur jede Selbftändigfeit der Ver 
waltung aufhebt, fondern auch die Tüchtigfeit der Verwaltung ganz ent« 
ſchieden gefährdet. Es werden ſich wohl noch Anläfje finden, unfere Anficht 
zu begründen. Den Hauptvorwurf aber, daß der Präfident des Neichätages 
einen fo gefährlihen Weg einſchlagen Fonnte, müſſen wir diesmal gegen die 
Reichdregierung erheben. In dem gegenwärtig dem Neichdtag zum zmeiten 
Mal vorgelegten Gefet über die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben 
des Neiches findet fih nämlich ein $ 7, deffen zweiter Abſatz folgendermaßen 
lautet: „Unter dem Titel eined Spectaletat3 ift im Sinne diefed Geſetzes jede 
Pofition zu verftehen, welche einer jelbitftändigen Beſchlußfaſſung des Reichstags 
unterlegen hat u. ſ.w.“ Um die Bedeutung diefer Definition zu ermefjen, vergegen- 
wärtige man fich, dag der erfte Abſatz des $ 7 alle Mehrausgaben gegen die 
vom Reichstage genehmigten Titel der Specialetats ald Etatsüberſchreitungen 
bezeichnet, fo weit nicht einzelne folhe Titel ausdrüdlih ala übertragungd- 
fähig mit anderen bezeichnet find. Man traut feinen Augen ‚faum, wenn 
man jenen zweiten Abſatz lieſt. Wie er lauten follte, tft nicht ſchwer zu 
finden. Es follte heißen: „Als Titel eines Specialetatd tft jede Poſition 


anzufeben, melde mit Zuftimmung ded Bundesraths — ſelbſt⸗ 
Grenzboten IV. 1874. 


GET 


474 


ftändigen Beſchlußfaſſung des Reichsſtags unterworfen worden.” Daß bie 
Worte „mit Zuftimmung des Bundedrath8* fehlen, ift ein Mangel, 
für den wir feine Erklärung Haben. Der Reihdtag natürlich thut reiht, 
feine Macht fomweit vorzufchieben, als die elaftifche Grenze noch nachgiebt und 
Herr von Forckenbeck iſt es nicht, der Tadel verdient, wenn er furzer Hand 
aus jeder Pofitton eined Ausgabetiteld durch feine Leitung der Abftimmung 
einen jelbititändigen Titel maht. Seine Sorge tft ed nicht, mie mit einer 
folhen Zwangsjacke eine große Verwaltung geführt werden Fann; feine 
Sorge ift e8 auch nicht, wo die Selbitftändigkeit der Verwaltung bleibt, 
die, wenn von fämmtlichen Bofitionen des Haudhaltgefeges bei der über. 
mäßigen Specialifirung feine einzige inne gehalten wird, den Reichstag 
hundertmal um Indemnität anflehen muß. Im März 1862 hatte im preu— 
Bifchen Abgeordnetenhaus der Abgeordnete Hagen bereit3 denfelben Antrag 
geftellt, alle zur Information der Abgeordneten beftimmten Bofitionen der 
Haushaltävorlage in gejelih bindende Vorfchriften dur den Beſchluß der 
Abgeordneten zu verwandeln. Als der Antrag die Majorität erhielt, fürzte 
dad Miniftertum der fogenannten neuen Wera. — Sieht man fi in den 
Motiven des jebigen Reichsgeſetzentwurfes über die Verwaltung der Ein 
nahmen und Ausgaben nach der Begründung des $ 7 um, fo findet man 
nur den lafonifhen Sag: „Der Baragraph reproducirt die vom Reichätag im 
Sahre 1872 genehmigte Definition der Etatüberfchreitungen.* Das Ber 
fahren, welches Herr von Forckenbeck am 1. December eingefchlagen, mird 
vermutblich die Wirkung haben, die Reichsregierung, infonderheit den Reiter 
der Neichöfinanzverwaltung auf den erwähnten $ 7 nachdrücklich hinzulenken. 
Die Ausfihten für das AZuftandefommen des Geſetzes über die Verwaltung 
der Reichseinnahmen und Ausgaben noch in diefer Seffton werden durd 
diefed forgfältigere Studium kaum gewinnen. Allein diefer Aufichub ift Fein 
Unglüd, vielmehr ein Glück, wenn er die richtige Regelung diefer wichtigen 
Materie herbeiführt, die auf dem Wege war, gründlich verdorben zu merden. 
Sinfofern bat die Meichäregierung nur Urfache, Herrn von Fordenbed 
dankbar zu fein. 

Die Sisung vom 3. Dezember mit der Berathung des Antrages, "in die 
Meichdverfaffung einen Artikel aufzunehmen, welcher für jeden Bundeäftaat 
eine Wahlkammer vorfchreibt, übergehen wir. Der Antrag will den Leiden 
Heilung bringen, welche Medlenburg durch feine feudale Verfaffung zu tragen 
hat. Wir wünfchen diefen Leiden die gründlichfte Heilung, glauben aber nicht, 
daß diefelbe vom Neichdtag kommen kann, höchſtens daß die immer wieder- 
fehrende Beſprechung des Schadend an den entfcheidenden Stellen die Sache 
nicht einfchlafen läßt. — Der Tage ded 4. und 5. Dezember haben mir fon 
gedacht. Die Sitzung vom 7. Dezember brachte im Berfolg de Haußhaltd- 


475 


geſetzes die Beſchlußfaſſung über verfchtedene Ausgaben und Einnahmen, die 
Sigung vom 9. Dezember MWahlprüfungen und die eriten Refungen zimeier 
Kleinen technifchen Geſetze. 

Um 11. Dezember begann die zweite oder Einzelberathung der Ausgaben 
des Reichsheeres auf Grund mündlicher Berichte der Budgetcommiffion. Er— 
bebliche Streitpunfte haben fih bei diefer Berathung bis zum Schluß nicht 
ergeben. Man Fann ſich denken, daß Herr Eugen Richter in den Berathungen 
der Commiſſion das Mögliche gethan hat, Anträge zur Annahme zu bringen, 
welche den Streit zur Folge gehabt hätten. Er hat aber bereitö in der 
Commiſſion fo wenig durchgefegt, daß die Verftändigung mit der Heeres— 
verwaltung im Reichstag felbjt wohl nicht fehlen wird. Auf die Einzelheiten 
brauchen wir bis jest nicht einzugehen. 

Am 12. Dezember gelangte ein Schreiben des Stadtgerichtd, morin die 
Einziehung zur Strafhaft des Abgeordneten Majunfe, ded Redakteurs der 
„Germania“, dem Reichstag angezeigt wurde, zur Verleſung. Dasſelbe rief 
einen von Lasker und Mitgliedern aller Fraktionen geftellten Antrag hervor, 
die Gefhäftsordnungscommiifton mit fehleuniger Berichterftattung zu beauf 
tragen, ob die Einziehung zur Strafhaft eines Reichstagsabgeordneten während 
der Thätigfeit des Reichsſtags nach Art. 31 der Verfaſſung zuläffig iſt. 
Artikel 31 verordnet, daß Reichstagsmitglieder während der Seffion nur mit 
Genehmigung des Reichstags zur Unterfuhung gezogen werden dürfen, außer 
wenn es fih um eine Ergreifung in flagranti handelt. Es iſt ſchwer, ein 
zufehen, mie die Geſchäftsordnungscommiſſion aus diefem Artikel, der in 
fonnenflaren Worten nur von Unterfuhung und in einem befonderen Abfas 
noch von Schuldhaft fpricht, ein Verbot der Einziehung zur Strafhaft heraus- 
lefen fol. Der Antrag Lasker fand indeß einjtimmige Annahme, und wir 
glauben aud, daß, nachdem der Antrag geftellt war, für den Reichstag Fein 
Grund vorlag, nicht ein Uebriges zu thun und den Bericht feiner Geſchäfts— 
ordnungscommiffton einzufordern. — Hierauf beendigte der Reichstag die 
Ginzelberathung der Heeredausgaben. Der raſche Gang diefer Berathung 
verftärkt die Hoffnung, daß der Reichstag dad Mefentliche feiner Aufgabe, 
mit Ausnahme des Bankgeſetzes, in diefem Jahr erledigen wird. 


Am 9. Dezember ift der Prozeß Arnim in das Stadium der öffentlichen 
Verhandlung getreten. Gine alljeitige Beſprechung wird erft nad) der Be— 
endigung am Plage fein. Was aber den allgemeinen Eindrud betrifft, fo 
wäre jeded Wort zu wenig, um die Fülle des Merkwürdigen zu fehildern, 
melche die Verhandlungen bereits bis jest in politiicher, pſychologiſcher und 
eriminaltftifcher Beziehung geboten haben. Diefer Prozeß wird feine eigene 





476 


Literatur vielleicht in mehr als Einer Sprache erhalten, und die Nachwirkungen, 
die er nach vielen Seiten hinterlaffen wird, laſſen ſich noch in feiner Weiſe 
abſchätzen. Wohl aber läßt fih ſchon jest fehen, wer von allen direkt und 
Indireft Betheiligten am ruhmvolliten daraus hervorgeht. C—r. 


Deihnachtsbüchexſchau. 


Mit einem der vorzüglichſten Werke aus Friedr. Bruckmann's Ber 
lag in München ſchließen wir die im letzten Hefte begonnene Ueberſicht 
der Prachtwerke für den Weihnachtstiſch ab. Als ſolches find zu nennen 
die Waidmannd- Erinnerungen von F. v. Paufinger, mit Tert 
von Karl Stieler, eine Sammlung von zwölf Photographien aus dem 
Leben des Milde und Jägers im deutichen Tief- und Hochlande. Da 
treffen mir das Wild bald im Stillleben der MWaldestiefe, bald im Kampf 
mit Seineögleihen, bald im erbitterten Streit mit feinen Todfeinden, den 
Raubthieren oder dem Menſchen; einige Ecenen (von den zahlreichen einge 
freuten Holzfhnitten) deuten auch auf die ewige Fehde zwifchen Waldmann 
und Wilddieb. Alle diefe Bilder find einer langen reichen Erfahrung ent: 
nommen — v. Raufinger ift befanntlich der ftete Begleiter des Katferd von 
Defterreih auf deſſen Hochgebirgäjagdzügen — und mit der Virtuofität eines 
vollendeten Künſtlers wiedergegeben. Die Landſchaft fteht überall im fchönften 
Einklang mit dem bewegten Leben des Wildes, das in diefem tiefen Wald- 
Innern oder in dieſer rauhen Gebirgämelt fich abfpielt. Aber gleiches Lob 
gebührt auch unferm Iiebenswürdigen Mitarbeiter Karl Stieler Der 
Herr Dr. juris bat ſchon bei andern Gelegenheiten Fein Geheimniß daraus 
gemacht, daß er mit Wild und Wald, mit dem Sägerleben der bairiſchen 
Hochebene und des bairifchen Hochlandes eng vertraut ſei. Sein Tert zu diefem 
Werke giebt und dafür volle Gewißheit. Er erhebt ftolz und Fühn dad Haupt 
zur Freiheit des Waldlebens und feiner Bewohner. Er erhebt fi in diefem 
Bewußtſein felbftempfundener thatkräftiger Ungebundenheit weit über die Iand- 
Yäufigen Bildercommentare. In das Reben des Waidmannes, Wildes und 
MWilddiebes, in die uralten Sagdfagen und Jagdlieder des Volkes dringt fein 
klarer Blick, fein empfängliches Gemüth, und wir Alle freuen und der Arbeit, 
die er in feiner Erholung gefchaffen. Das äußere Gewand, das die Ber- 
lagshandlung dem Werke gegeben, ift ein äußerſt glänzende® und an- 
fprechended. — 

Es kann nicht die Abſicht diefer gedrängten Anzeigen der empfehlens— 





477 


werthen Schriften für das Feſt fein, den größeren Titerarifchen Kritiken biefes 
Blattes zur Ergänzung zu dienen oder gar mit denjelben in Widerfprud zu 
treten. Un erfter Stelle dieſes Heftes ift ein berufsmäßiges Urtheil gefällt 
worden über die vornehmften Schriften preußifher Geſchichtskunde. 
Der Mann der MWiffenichaft hat die beften Namen preußifcher Gefchichtd- 
forfhung und vorgeführt. Wir mürden gering denfen von unfern Xefern, 
wenn wir annähmen, daß fie nicht ihr Streben und ihren Stolz darein fegen 
wollten, diefe Werke erften Ranges zu befigen. Aber nicht Alle find in der 
Lage, diefem Wunſche fofort Raum zu geben. Und Allen ift es doch Bes 
dürfnig, eine zuverläffige, moderne, auf der Höhe der Zeit ftehende Ausgabe 
Preußiſcher Geſchichte zu befisen, melde dem Hiftorifee von Fach wohl zu 
wenig Quellenwerf bieten mag, aber die doch die Refultate der neueften 
uellenftudien Allen zu Nutze macht. Als ein ſolches zuverläffiges, von 
gründlicher Sachkenntniß und dem beiten nationalen Geifte getragened Werk 
über Preußiſche Geſchichte Fönnen wir dad unter diefem Titel bei 
Gebr. Paetel in Berlin jett in dritter Auflage erfchienene zweibändige Buch 
des Prof. Dr. Willtam Pierfon empfehlen, das die gefammte Entwidelung 
des Preußiichen Volkes und Staates von den fagenhaft verflärten Anfängen 
bis mitten in den heute entbrannten „Kulturfampf" hinein, uns vorführt. 
Auch der Hiftorifer von Fach erkennt die volle Wahrheit über die Abficht 
und den Werth der Preußifchen Politik ebenfofehr aus den Rebensäußerungen 
und Xhaten der Feinde Preußens, ald aud den mehr und mehr entjchleierten 
Geheimniffen ded Preußiſchen Staatsarchivs. Nichts ift belehrender für die 
Hoheit und Würde der Politik der deutfchen Vormacht, ald der ohnmächtige 
Ingrimm der deutjchen Kleinftaaterei gegen Preußen, ald e8 auf dem ſchmalen 
Wege zur Einheit unerbittlich vorwärts? drängte. Nicht? zeigt und deutlicher 
den Berfall preußifcher Staatskunſt, ald wenn die Wiener Hofburg unter 
Metternich oder die Keinen Höfe ihre allerhöchſte Zufriedenheit nach Berlin 
vermelden. Endlich als dritter Gefichtäpunft der Vergleihung dient vor« 
nehmli die Schilderung des Volfälebend und der Regierungsmethode in den 
deutfchen Kleinftaaten im Unterfchied oder im Gegenfag zu Preußen. In 
diefer legten Richtung ift Karl Braun, der bekannte Volkswirth, Politiker 
und Wbgeordnete, feit Jahren in bemerfenäwerther Weiſe thätig gemefen. 
Er hat aus dem verfloffenen Mikrokosmus des Herzogthums Nafjau, aus 
dem weil. Dalwigk'ſchen Großherzogthum Hefjen, aus Schwaben, Kurheſſen 
u. ſ. w. Bilder der deutfchen Kleinſtaaterei von fo typifcher Bedeutung und 
von fo unvergänglihem Humor gefammelt, daß man noch in fpäten 
Jahren, wenn dem Xebenden die Erinnerung an diefe Mißſtände Tängit ent 
ſchwunden fein wird, Karl Braun’d Arbeiten auf diefem Gebiete ala jehr 
ſchätzbare Beiträge zur Kultur und Staatengefchichte Deutſchlands leſen wird, 


478 


Einige der tolliten und graufamften Leiftungen des deutfchen Kleincäſaren— 
hochmuths find nun von Karl Braun in den beiden Bänden „Mord» 
geſchichten“ zufammengeflellt, die bei Carl Rümpler in Hannover foeben 
erfchienen find. Darunter find die lebensfähigſten Schilderungen, welche die 
vier Bände „Bilder aus der deutfchen Kleinftaaterei” enthielten, und aus der 
Sammlung „Während des Krieges“ die düftere venetianiſche „Mordgeſchichte“ 
Ztobä, und „Deutfche in Paris“ hier herübergenommen. Ganz neu ift dagegen 
in diefer Sammlung die werthuollfte Studie beider Bände, die an den Schluß des 
erften Theiles geftellt ift: „Deutfbe Studentenbilder und Mordgeſchichten aus 
dem tollen Jahr Neunzehn!“ Diefe ernite, und durchaus auf zeitgenöfftiche 
Quellen, mündliche Ueberlteferungen u. ſ. w. geftüßte Arbeit bietet die interefan- 
teften Auffchlüffe über die politifche Stimmung der deutfchen Jugend nad den 
Freiheitskriegen, die erfte deutjche Burfchenfhaft, da8 Wartburgfeft und den 
inneren caufalen Zuſammenhang des Treibend der drei Brüder Follen und 
der „Schwarzen“ in Gießen mit der unfeligen Mordthat Ludwig Sand's 
und dem Mordverſuch ded Apothekers Löning auf den naffauifchen Staat 
rath van bel u. ſ. w. — Da felbfiverftändlih ale diefe Mordgefchichten 
keineswegs etwa im larmoyanten Ton fentimentaler Griminalgefchichten ger 
fohrteben find, fondern wie alle Sachen Braun’d dem Humor überall zu 
feinem Rechte verhelfen, wo immer defjen Necht begründet ift — und dieſes 
Gebiet ift bei Bildern aus der deutfchen Kleinftaaterei um fo weitläufiger, ald 
wir felbft für an fih und in ihrer Zeit tragifche Ereigniffe heute den Humor 
befigen, fie von der heitern Seite zu betradhten — fo waren wir wohl be 
rechtigt, ‚diefe neuefte Schöpfung der Braun’schen Weder, trotz ihres düſteren 
Titeld, fogar unter der Weihnachtsliteratur zu empfehlen. 

Eine humorvolle, oftmals fatirifche, überall aber von hohem Fluge der 
Gedanken und Poeſie getragene dichteriſche Gabe zum Weihnachtöfeſte iſt 
der „Till Eulenfptegel redivivus“ von Julius Wolff (Meyeride 
Hofbuhhandlung, Detmold). Hier ift der Reiz der deutfchen Landſchaft, vor 
allem der Rheinlande, das deutfche Bürgertum In allen Klafjen und Ständen, 
«bier find die höchften Strebungen der Gegenwart auf allen Gebieten des 
öffentlichen, foctalen, wiſſenſchaftlichen Lebens — an dem Faden einer Reife 
des Dichters mit Til Eulenspiegel dur Deutfchland — mit feinem Humor 
und mit vollendeter poetifcher Kraft geſchildert. Sehr häufig erinnert die 
Sprade und die Gedanfenform und Richtung an Goethe's Fauft. Die 
Ausftattung des Werkes ift geſchmackvoll. — Auf die neuefte, fehr be 
deutende Dichtung Friedrich's von Shad „Nähte des Drientd” 
(Stuttgart, J. ©. Gotta), welche die meifterhafte Sprachgewandtheit des 
Dichters und feine treue Sehnfucht zum Wunderlande des Oſtens fo rein und 
ſchön ausprägt, gedenfen mir bei Gelegenheit eines befonderen Eſſays über 


479 


Friedrih von Schad zurücdzufommen. Einſtweilen mögen unfere Lefer auch 
die wenigen Worte für eine freudige Empfehlung nehmen. — 

An Jugendſchrften find noch befonders zu erwähnen, (bez. einge: 
gangen, feitdem wir diefe Rubrik verlaffen): unter den Schriften des Spamer- 
[hen Verlags in Leipzig; Oft-Afrifa von Hermann von Barth, melde 
den Dften des fchwarzen Erdtheild vom Limpopo bis zum Somalilande au? 
ſachkundiger Feder und gut illuftrirt darftelt; dann, der wärmften Empfehlung 
würdig, Sentral»Afien von Friedrih von Hellmald, dem befannten 
und verdienftvollen Nedacteur des „Ausland,“ mit großentheild authentifchen 
bildlihen Erläuterungen über Rand und Leute; weiter die dritte Auflage des 
guten Buche? von Dr. Karl Oppel „das alte Wunderland der 
Pyramiden“ und endlich die vortrefflihe Mythologie unſres geehrten 
Mitarbeiterd Prof. Dr. Hermann Göll unter dem Titel: „Sötterfagen 
und Kulturformen,“ gleihfalld bereit3 in dritter Auflage, an melcher 
der Text meit über den Sluftrationen fteht. Weber die hervorragenditen 
fonftigen Jugendfchriften de8 Spamer'ichen Verlags, die ihre Lebenäfähigkeit 
und Beliebtheit großentheild auch diefed Jahr durch neue Auflagen befunden, 
wie E. Lauſch, Bub der fhönften Kindermärdhen (6. Auflage), 
Jahrbuch der Welt der Jugend von Ernft Stüßen (1875), der 
Sfalpjäger v. Th. Bade und Franz Dtto (4. Auflage), das Deutſche 
Flottenbuch v. Heinrih Smidt (4. Auflage) u. U.: haben mwir und 
ſchon früher günftig ausgefprochen. Neu binzugetreten ift der Wegmeifer 
durch die drei Reiche der Natur von Eduard Teller, deffen Text 
das redlichfte und tüchtigfte Teiftet in Enapper Form — freilich ohne befondere 
Anziehungskraft für jüngere Naturforfcher — aber dagegen in einer großen 
Anzahl von Abbildungen beftimmt zu fein fcheint, einer Neihe wohlbekannter 
Clichés ein fröhliches Rendezvous zu geben. 

Meit höher fteht die Auaftattung, das Bilderwerf und die fefjelnde Kraft 
der Darftellung in dem „Reid der Luft“ von E. Flamarion, deutſch 
bearbeitet vn W. Schütte (Reipzig, Branditetterd Verlag). Alle die zahl 
reihen Erfcheinungen, welche im Reiche der Luft zur Erfcheinung gelangen: 
Wind und Wetter, Schatten und Licht, Electrieität und Feuchtigkeit u. |. w. 
finden bier die interefjantefte Erörterung, bafirt auf die Grundlage ewig 
waltender Naturgefege und zeichnen ſich dadurch an Solidität und Unan- 
fechtbarkeit fehr vortheilhaft aus vor jener Denkſchrift des Sächſ. Kultus. 
miniftertumd in Sachen des höheren Schulmefend gegen die Grenzboten, 
welche in demfelben Verlag vor einigen Jahren vorübergehend das Licht der 
Melt erblidte. — 


480 


Kin Brief Friedrich Fiſchbachs an die Redack 


Mir erfüllen hiermit den Wunſch des Herrn Fr. Fiſchbach, nachſte 
Brief zu publiciren. Die Redactig 
Sehr geehrter Herr Redacteur! 

Sch bitte Sie um die gefällige Aufnahme diefer Zellen, welche 
bezweden, Mißdeutungen zu vermifchen, die ja ftetd das Ungewohnt 
Auffallende begleiten. 
Als kürzlich meine Selbſtbiographie in Ihrem geſchätzten Blatte 
war wohl Niemand von derſelben mehr überraſcht wie ich ſelbſt. Hl 
dieſelbe direet veranlaßt oder gewünſcht, fo hätte ich für die Oeffent 
Vieles anders ausgedrückt, als es in zwangloſer Weiſe in einem Privall 
geichieht. Ich erhielt nicht einmal den Correcturbogen zu der üblichen 9 
fit, refp. Aenderungen zugefchidt und fomit Fann ich eigentlich meinem ar 
auftretenden Freunde B. in N. den Vorwurf einer, wenn auch gut geme 
Uebereilung kaum erfparen. — Er hatte mich erfucht, ihm zur Befpre 
meine® neuen Werkes „Ornamente der Gewebe" biograpbifche Notize 
geben, meil er mußte, daß ich unter den wechſelvollſten Ereigniffen 15 $ 
lang an diefem Werke gearbeitet habe und diefe Ereigniffe für die Vollenk 
wie für die Anlage des Werkes von Einfluß waren. Ein Rückblick auf 
gangene Tage ift und von Nuten und zur Gelbftfenntniß fo nothwe 
wie die Addition einer langen Zahlenreihe. An den Feuilleton⸗Styl gen 
der ja nichtö mehr und nichts weniger ift, ala die Fünftlerifche Form im ( 
fage zur rein miffenfchaftlichen Abhandlung, erhielt daher mein Brief die $ 
eines Feuilletond, welche meinen Freund verführte, dasſelbe felbft in 
primitiven Neglige-Zuftande mit einem ftarf gepfefferten Lobe Ihren Leſer 
präfentiren. Die Zufohriften vieler Ornamentiften und Zeicheniehrer, 1 
fi in Folge der Publication Rath erbaten und das wachſende Intereſſ 
ein in Deutfchland ſchwach vertretened Fach, verföhnen mich zwar m 
Uebereilung meines Freundes, jedoch halte ich es für angemeffen, die ni 
Nahfiht Ihrer Leſer durch obige Mittheilungen mir zu erbitten. | 

Hochachtungsvoll und ergebenft 
Hanau, den 10. Dec. 1874. Friedr. Fiſchbach 


Mit Januar 1875 beginnt die Zeitſchrift das L Quartal 

34. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und $ 
anftalten des In: und Auslandes zu beziehen ift. Preii 
Duartal 7 Mark 50 Pfennige. 
Leipzig, im Dezember 1874. Die Verlagshandlun 


Beranttoortlicher Redakteur: Dr. Sand Blum in Leipzig. N 
Derlag von $. 2. Herbig in Leipzig. — Drud von Hüthel & Regler in 2 











































„Sad g 


2 
2 = XXIII. Jahrgang. II. Semefter, 

























Die 


Grenzboten. 


Zeitfſchrift 
für 


Yolitik, Literatur und Kunſt. 
N: 52, 


Ausgegeben am 25. December 1874. 


| Inhalt: 

| Seite 

u Die Münztrifis und die erfte Lefung des Bankgeſetzes im Reichätage- 
Bei Ra . 2.2: 5:35 4 481 
- Wilhelm Endemann's neueftes Werl. H. . . 2... 487 
* Plaudereien aus London. 3. Alfred Blum. . . 2... 491 
Statiſtiſches an Topogtaphiſches vom Oruslande. H.Schmolfe 501 
De BrmB 2a — 508 
Bom deuten Reihätag. CH. . » 2 2: 2 rennen 515 


Grenzbotenumfchlag: viterariſche — 
Hierzu eine literarifche Beilage von Eduard Trewendt in Breslau. 


— — HF DAFT nm 


Friedrih Ludwig Herbig. 
(Ir. Bird. Grunow.) 


— —— — ——— 














Die Münzkrifis und die exſte Sefung des Yank- 
gefeßes im Reichskage.*) 
Bon Mar Wirth. 


Die Verhandlungen des Reichstages bei Gelegenheit der erften Leſung 
des Banfgefegentwurfes waren nicht blos deshalb von hohem Intereſſe, weil fie 
mit der Vermeijung an die Commiffion endigten und damit die Hoffnung auf 
den Sieg der Reichsbank-Idee ftärkten, fondern auch weil fie die Ausficht 
gewähren, daß die KHrifis, im der wir und befinden, glücklich gelöft werde, 
nachdem das Urtheil über die Rage durch die im Reichstage gegebenen Auf- 
ſchlüſſe geklärt worden ift. Diefelben find nad) ihrem Gegenftande in zmei 
Theile zu theilen, in die eigentliche Bankfrage und in die damit zufammen- 
hängende Frage der Ausführung der Münzreform. Die Vertreter der Reichs— 
regterung wiederholten dad ſchon in den Motiven des Gefegentwurfes ausge 
ſprochene Geftändnig, daß der Banfgefegentwurf eigentlich hauptſächlich den 
Zweck habe, die Ausführung de Münzgefeges zu fihern und ergriffen dabei 
dte Gelegenheit , die Interpellation theilweife zu beantworten, welche in Be— 
ziehung auf die lettere Frage formulitt worden waren. Indeſſen find die 
Geftändnifje des Präſidenten des Reichskanzleramtes Staatöminifter Delbrüd 
derart, daß wir auch nicht ein Wort unſerer früheren Erörterungen zurück— 
zunehmen haben. Aus den Erklärungen des Letzteren erfahren wir zunächſt, 
daß am Ende des vorigen Jahres 178%, Millionen Thaler in Noten in Um— 
lauf waren, melde auf Beträge unter 100 Mark Tauteten. Derfelbe nimmt 
an, daß 78'/, Millionen davon auf 25:Thaler-Scheine zu rechnen find, welche 
leicht durch 100-Marknoten erſetzt werden können und giebt felbit zu, daß 
die Note von 100 Mark nicht geeignet fet, die Banknoten von 1, 5, 10 und 
20 Thalern zu erfegen, welche noch im Betrage von 100 Millionen Thalern 
umlaufen. Delbrück gefteht, daß dur den Wegfall diefer Kleinen Noten eine 
mwefentliche Befchränfung des Zettelumlaufe eintreten werde. Diefer Ausfall 
ift daher mit 50 Millionen Thaler eher zu gering angefchlagen und die 


*) Wegen Ueberhäufung mit dringlicherem Stoff fönnen wir diefen Aıtifel unferes — 
ten Mitarbeiters leider erſt heute bringen, D. Red 
Grenzboten IV. 1874. 61 





482 


Gireulationdmittel würden in Folge der Annahme des Entwurfes fih unter 
ven Normalbedarf vermindern und die Gefahr bringen, die Preife fpäter 
ebenfo zu drüden, wie fie bisher gefteigert worden find. 

Der Bertreter der Neichäregierung betheuerte, daß diejelbe es fich ala 
ihre Aufgabe geftellt habe, bei der Ausführung des Münzgeſetzes ſowohl 
für einen ftarfen Vorrath von Goldmünzen zu forgen, als auch die Prägung 
von 1- Markftüden, von 20-Pfennigftüden, fowie von Nidel- und Kupfer- 
münzen fich angelegen fein zu lafien. Wir müfjen geftehen, fo gern wir diefe 
Betheuerung vernehmen, fo wenig fleht fie mit den Thatfachen in Ueberein- 
ftimmung. ‚Uns ſcheinen die Prägungen, namentlich der Scheidemünzen, mit 
ungewöhnlicher Yangfamfeit vorzugehen, insbefondere, wenn man bedenkt, 
daß noch feinem Staate in ähnlicher Lage foviele Münzftätten zu Gebote 
ftanden, wie dem deutjchen Neiche, dem überdied noch die Hilfe der öſter— 
reihifhen Präge-Anſtalt ohne Zweifel zugeftanden werden würde. Man 
muß in der That ftaunen, wenn man bedenft, daß die Ausprägung fämmtlicher 
Schweizer Münzen bei der Münzreform 1852 innerhalb eines Jahres vollendet 
war, während am 10. Detober d. J. im deutfchen Reiche erft 11 Millionen 
Thaler an Silbermünzen, 1 Million Thaler an Nikelmünzen und 0,5 Millio- 
nen Thaler an Kupfermünzen ausgeprägt waren. Denn bedenft man, daß 
nad Artikel 4 de8 Münzgeſetzes der Gefammtbetrag der Reichöfilbermünzen 
bi8 auf 410 Millionen Mart und nad) Artikel 5 die Nidel- und Kupfer- 
münzen bi8 auf 102 Millionen Marf erhoben werden fünnen, und daß biefe 
Summe von zufammen 170 Millionen Thaler von dem Verkehre, der bisher 
an das Silber gewöhnt war, auch volljtändig in Unfpruch genommen werden 
wird, fo hätte man 10 Jahre zu prägen, wenn man in dem Tempo fort- 
fahren würde, welches in diefem Jahre eingehalten worden. Auch die Her: 
ftelung der Reichsgoldmünzen hätte mehr befchleunigt werden können; indefjen 
würden wir und in Beziehung auf fie leichter zufrieden ftellen laffen, wenn 
fie nur vorfichtiger zurüdgehalten worden wären. Denn in diefem Falle ließe 
fih von jest an in Furzer Zeit der nöthige Vorrath ergänzen, um die Aus- 
führung des Münzgeſetzes raſch zu vollenden. Leider ift dies nicht gefchehen. 
Unfere Befürdhtung bleibt vielmehr nach den Geftändniffen ded Präfidenten 
des Reichskanzleramtes beftehen. Derfelbe hat nämlich) die nachfolgende Er- 
klärung abgegeben: 

„Wir hatten am Schluffe ded vorigen Monats 362 Millionen Thaler 
in Gold geprägt. Von diefen befinden fich 40 Millionen im Neichäfriegs- 
Ihat zu Spandau und, von dem Reſt von 322 Millionen ift in Abzug zu 
bringen der, gewiſſen Schwankungen unterliegende Beftand, welcher dauernd 
in der Bank ſteckt. Der Baarvorrath, den die deutſchen Banken, mit Aus— 
nahme der baterifchen, Ende September Hatten, betrug 289°, Millionen. Es 


483 


wird auf die unbedingte Fortdauer eined Baarvorraths in diefer Höhe kaum 
zu rechnen fein und noch weniger ift es beftimmt zu fagen, wie viel dieſes 
Vorraths gemünztes Gold ift. Allein nach meinen Schägungen können wir 
den Vorrat gut und gern auf 150 Millionen Thaler rechnen. Es würden 
mithin von den bisher geprägten Reichsgoldmünzen 172 Millionen Thaler 
übrig bleiben. Won dem Beitande ijt zunächſt ein Theil beftimmt, diejenigen 
metalliſchen Umlaufämittel zu erfegen, welche mit Erlaß des Bankgeſetzes aus 
dem Verkehr zurücktreten. Es find died zunädhft in Gold 30,800 Thaler, 
fodann an 2-Thaler-Stüden 6 Millionen Thaler, in Kron- und Convention®- 
thalern 3,790,000 Thaler, in 2:Guldenftüden 8,400,000 Thaler, und in Ein- 
thalerftüden 19,020,000 Thaler, zufammen 68 Millionen Thaler.“ 

Herr Minifter Delbrücd gefteht alfo mit diefer Erklärung zu — vor Allem 
durch die Erwähnung, daß er nicht beftimmt zu fagen wife, wieviel der Vorrath 
an gemünztem Golde bei den deutfchen Banken ſei, daß die biöher geprägten 
362 Millionen Thaler Reichsgoldmünzen größtenthetil® dem Ver: 
fehr übergeben worden find Aus feiner Bemerkung, daß 172 Million 
davon übrig bleiben, geht nicht hervor, ob diefelben im Staatsſchatze liegen. Da 
Minifter Camphaufen in derfelben Sitzung erwähnte, daß bei den preußifchen 
Banken allein 171 Millionen in Goldmünzen und Barren. fi befinden und 
da Delbrück den Gold-Vorrath der deutfchen Banken nur auf 150 Millionen 
ſchätzt, ſo follte man faft glauben, daß der obige Reſt der Goldmünzen bei 
den preußifchen Banken deponirt if. — Set dem aber, wie ihm molle, fovtel 
geht aus der Erklärung des Miniſters Delbrüd unzweifelhaft hervor, daß 
wenigfteng 190 Millionen Thaler Reichsgoldmünzen dem Verfehr übergeben 
worden find. Dieje follen noch um 68 Millionen zur Einziehung der oben 
genannten alten Münzen vermehrt werden. Da nun bi8 Ende September 
an alten Silbermünzen nur gegen 37 Millionen Thaler eingezogen worden 
waren und die eingezogenen oder noch einzuziehenden alten Goldmünzen nad 
Soetbeer (j. Deutfches Handeldblatt No. 44) nur auf 15 Milltonen Thaler 
zu fchägen find, fo wäre der Metallgeldvorrath des deutfchen Reiches durch 
die Ausgabe der Neichdgoldmünzen um eine ungeheuere Summe vermehrt 
worden, welche mit 30pet. eher zu niedrig angefegt if. Wir waren daher 
jehr begierig, au8 dem Munde des Minifterd zu erfahren, mit welchen Argu- 
menten er dieſes Grperiment zu rechtfertigen gedenft, wie er der Gefahr zu 
begegnen gedachte, daß entweder die Preife um 30pet. ftiegen, oder nad) Be- 
ginn des Sinkens des Silberpreifes die Goldmünzen in einem ähnlichen Be 
trage eingefchmolzen oder ausgeführt werden, — ein Fall, der wirklich ein- 
getreten ift, und den die Vertreter der Neichdregierung zwar abzufhmwächen 
verfuchten, aber nicht zu leugnen vermochten. Der einzige Grund, den wir 
finden und welcher auch wohl dad Hauptmotiv des Reichskanzleramtes ges 


484 


weſen fein wird, tft in dem nachfolgenden Sat enthalten: „Das Geheim- 
niß unferer Zeit ift, Feine Zinfen zu verlieren, feine über» 
flüffigen Eaffenbeftände zu haben.“ Diefer Satz ſcheint denn auch 
dem zweiten Vertreter der Neichdregierung, Heren Finanzminiſter Camphauſen 
etwas zu gewagt zu erfcheinen, denn er lehnte eineätheild für feine Perfon 
die Solidarität mit dem Neichdfanzleramt ab, indem er über einige Be 
merfungen Bamberger’3 wörtlich fagt: „Was feine Kritif über die bisherigen 
Dperationen zur Durchführung der neuen Währung betrifft, fo habe ich ſchon 
früher bemerken müflen, daß ich weder die Rechte noch die Pflichten eines 
Yinanzminifter8 gegenüber dem Reiche habe. Es tft das Sache ded 
Reichskanzleramtes.“ Andererſeits geſteht er offen zu, „daß wir unter 
erhöhten Mebelftänden zu leiden Haben würden,“ wenn mir die 
Doppelwährung (die gegenwärtig factifh befteht, — auch) gefeglich eingeführt 
hätten. An einer andern Stelle machte Camphauſen folgende, dahin bezüg- 
liche Bemerkung: „die preußiiche Regierung hat jederzeit ein raſcheres 
Tempo in der Einziehung der Silbermünzen empfohlen, in Süd— 
deutfchland hat ſich indefjen ein folches nicht durchführen laſſen“ und fügte 
dann fpäter Hinzu: „wir haben keineswegs fo leichtfinnig darauf los gewirth— 
ſchaftet.“ 

Dieſe Bemerkung wird aber vollſtändig in Schatten geſtellt durch das 
wichtige Geſtändniß, „daß beider preußifhen Banffeiteinem Jahre 
die Hälfte des gefammten GSilbervorrathes abgefloffen fei* 
Herr v. Samphaufen fagt und zwar, dies fei gefchehen, weil der Verkehr das 
Silber" gebraucht habe und verfchweigt den wirklichen Grund. Da er aber 
oben felbit indireet zugeftanden hat, daß wir Nachtheile aus der eingetretenen 
factifehen Doppelwährung haben müſſen, jo wollen wir nachftehend an feiner 
Stelle den wahren Grund angeben: das Gilber ift von den preußifchen, 
ſowie auch von den anderen deutfchen Banken abgefloffen, weil die Banken 
natürlicherweife lieber da8 höher im Curs ftehende Metal — das Gold in 
ihren Baarſchätzen behielten, denn bas Sinken des Silberpreifes Hatte ſchon 
vor zwei Jahren begonnen. Das Gold bildet alfo bei den Baarſchätzen der 
deutfchen Banfen, — welche, fo lange die alten Silbermünzen gefetliche Kauf 
kraft nach ihrem Nominalmerth haben, natürlich lieber mit diefem zahlen, — 
die unterfte Schicht ded Geldrefervoird, die von dem Noteneinlöſungsgeſchäft 
wenig oder gar nicht berührt wird. Da nun aber der größte Theil der 
früher in den Kellern der Banken gehüteten Silberfhäge in den Verkehr ge 
floffen tft, fo mußten natürlich die in dem Umlauf des Inlandes etwa noch 
gebliebenen und nicht/von den Banfen mit Befchlag belegten Neichägoldftüde 
fih aus dem Verkehr zurüdziehen, weil die Händler daran ein ſtarkes Agio 
verdienen Eonnten. Die Erklärungen der Minifter haben alfo unfere Annahme 





wi. 
En  ] 


485 


nicht geſchwächt, geſchweige denn widerlegt. So lange die franzöfifchen 
Zahlungen nicht abgewidelt waren und der MWechfelcurd zu Gunften Deutfch: 
lands ftand, wird allerdingd Gold nur in feltenen Ausnahmen erportirt 
worden fein, hingegen mußten, wir wiederholen es, die Waarenpreife und 
Löhne eine locale Steigerung erfahren. Ganz unausbleiblih war es aud, 
dag die Inländifchen Goldfabrifen und Goldfchmiede Reichsgoldmünzen mit 
Silberthalern auffauften und einfchmolzen. Als die franzöfifchen Kriege: 
entihädigunggzahlungen abgewidelt waren, mußte die Ausfuhr von Gold 
gerade fo gut vor ſich gehen, wie es in der Schweiz gefchehen tft und zwar 
in noch höherem Maße, weil der Borrath an Elingender Münze über den 
Normalbedarf vermehrt worden war. Wir ftehen alfo pofitiv vor der Gefahr, 
dag die Einführung des Münzgefeges unmöglich wird, menn man in der 
bie vor Kurzem beobachteten Politik verharrt. Unfere Befürchtungen werden 
nicht befhwichtigt durch die Verficherungen Delbrück's, er glaube nicht, daß 
der jebige Stand durch Goldausfuhr erheblich werde gefchmälert werden oder 
dadurch, daß Camphauſen „zur Beruhigung des Publieums erklärt, daß die 
Einfhmelzungen von Reichdgold in Brüffel bisher eine Million Thaler nichı 
überfchritten hätten“. Es handelt fih nicht blo8 um Brülfel, ſondern aud) 
um Paris, wo Arbitrage-Operationen durch den Zwangseurs erleichtert werden 
und namentlih um das Einfchmelzen und Berfteden ded Golded im In— 
lande felbft. | 

Um dem Borwurf einer unfruchtbaren Kritit zu entgehen, wiederholen 
wir unfere pofitiven Vorſchläge, die und allein geeignet erfcheinen, um die 
Durchführung der Münzreform glüdlich zu vollenden. 

1) Die Reichöregierung muß alle Reichögolditüde, über die fie gebieien 
fann, bi8 auf MWeitered aus dem Verkehr zurücdhalten. 

2) Sie muß fo rafch ald möglich den erforderlichen Vorrath an neuen 
Gold» und Silbermünzen berftellen, um die Ummechfelung fodann auf einen 
Schlag, in Fürzefter Frift, an möglichft vielen Einlöfungsfaffen bewerkitelligen 
zu können. Wir erfahren mit Vergnügen aud dem Munde des Herrn 
Gamphaufen, daß die Reichsregierung nur den Telegraphen fpielen zu 
lafjen braucht, um den genügenden Goldvorrath zu diefem Zwecke aus dem 
Auslande zu beziehen. Auch hoffen wir, daß die abichlägige Antwort, welche 
jüngft die Handeläfammer in Sorau auf ihre Bitte um Verabfolgung einer 
Summe neuer Goldftüde erhalten hat, dahin audgelegt werden fann, daß die 
Neichdregierung begonnen hat, die erft genannte Vorfihtämaßregel zu ge 
brauchen. | 

3) Um aber die üblen Folgen der zu frühen Ausgabe des bereitö dem 
Berfehre übergebenen Theiles der neuen Goldmünzen möglichſt abzufchmächen 
und einen magnetifchen Einfluß auf die legteren zu üben, könnte noch folgende 


- 


486 


Maßregel ergriffen werden: Nach dem Reichsmünzgeſetz, Art. 9 it Niemand 
verpflichtet, nach Inkrafttreten dieſes Geſetzes, Reichsſilbermünzen im Betrage 
von mehr ald 20 Mark und Nidel- und Kupfermünzen im Betrage von 
mehr als einer Mark in Zahlung zu nehmen. Da nun nad) demfelben Ge 
fee die Anordnungen der Außercuräfegung der Landesmünzen u. f. w. durch 
den Bundesrath zu erfolgen hat, jo ftände es in dem Bereich der Regierung, 
dem Ziele durch BZmifchenmaßregeln ſich allmälig zu nähern, indem fie 
proviforifch die höchſte Summe des zu Zahlungen gefetlich erlaubten Silbers 
z. B. auf 100 Thaler feftfegt. Freilich wären dabei gewiſſe Vorſichtsmaß— 
regeln, 3. B. eine Ausnahmeftellung der Banken unentbehrli, weil die 
Metallhändler fonft diefe Maßregel gerade ald ein Mittel zum Herausziehen 
der Goldbeftände aus den Baarbeftänden der Banfen benügen könnten. Wir 
würden megen diefer Gefahr deshalb auch auf diefed Proviſorium nur wenig 
Gewicht legen. Die unter 1) und 2) aufgeführten Maßregeln aber halten 
wir unbedingt für nothwendig, fei der Zindverluft, welchen der. Präſident des 
Reichskanzleramtes befürchtet, auch noch fo groß. 

Für ganz ungeeignet aber, die der Münzreform drohenden Gefahren zu 
zerftreuen, halten wir den vorgelegten Bankgefegentwurf, weil darin von der 
Errichtung einer Reichsbank Umgang genommen war. Dieſe Frage bildete 
den zweiten Theil der Eröffnungen der Vertreter der Reichdregierung. Wir 
müffen geftehen, daß wir über die Schwäche, ja den Mangel aller jtid- 
haltigen Gründe gegen die Reichsbank in wahrhaftes Erftaunen gerathen 
find. Wir können dieß hier nicht näher motiviren, — nur einen Punkt er 
lauben wir und zu berühren. Man fcheint das Hauptgewicht auf die durch 
die Sprocentige Notenfteuer bezweckte indirecte Sontingenttrung zu legen, melde 
eine indirecte Nachahmung der in der Praxis fo kläglich verunglüdten Con 
tingentirung der Bank von England if. Wie die Sachen ſtehen, fcheint 
dabei die Einrichtung einer Reichsbank nad) dem Mufter der englifchen Bank 
viele Anhänger zu haben. Wir wundern und befonderd darüber, daß Camp 
haufen, der doch die Vorzüglichkeit der Einrichtung der franzöfifchen und 
preußifhen Bank vor der der englifchen zu gut Fennen follte, eine folde 
Forderung ftellen zu können meint. Wir wollen heute aber nur_ die Haupt 
wirkung hervorheben, welche jene indirecte Gontingentirung haben würde 
Bekanntlih ift das Bedürfniß an irculationdmitteln am ftärkiten beim 
Ausbruch einer politifchen oder mirthfchaftlichen Krifis, gegen melche gerade 
die Kontingentirung ein Schugmittel bilden fol. Das Mißtrauen, welches 
beim Ausbruch einer Krifiß einzutreten pflegt und oft bis zu einer Panique 
fich fteigert, Hat noch jedesmal bewirkt, daß alle Welt feine Geldvorräthe 
einfperrt, weil die Banken ihren Credit befchränfen oder kündigen und daf 
ein Mangel an Umlaufämitteln eintritt, dem nur durd größere Notenaudgabe 


von# Seiten der großen Zettelbanfen gefteuert werden Fann. Werden nun 
die im höheren Betrage ausgegebenen ungedrudten Noten dur eine Abgabe 
von 5 Proc. befchwert, fo ift die Bank genöthigt, ihren Discontoſatz noch 
mehr”zu erhöhen, ala e8 die Lage des Geldmarftes an fich erfordern würde. 
Das Gefhäftspublicum wird alfo gerade in der kritiſchſten Rage, in welcher 
die Bankforganifation Schuß gewähren follte, ftärfer beeinträchtigt, als in 
ruhigen Zeiten. 

Die englifhe Banfacte, welche die Contingentirung vorfchreibt, mußte aus 
diefem Grunde drei Mal in den Kreifen von 1847, 1857 und 1866 ſuspendirt 
werden, weil die ganze Wirthſchaftsmaſchine ftill zu ftehen drohte. 

Die Contingentirung hat nur Sinn da, wo der Zwangseurs befteht. 
Da es aber zu diefem in Deutfchland gar nicht kommen kann, ſo iſt diefe 
Maßregel überflüffig und fchädlich. 


487 


Wilhelm Endemann's neueſtes Werk, 


Unſere Leſer werden ſich wohl jenes höchſt intereſſanten Aufſatzes über 
die Wechſelmeſſen erinnern, den Wilhelm Endemann im vorigen Jahre 
in den Grenzboten veröffentlichte. Den Eindruck, den die Arbeit des gelehrten 
Mannes auf den verſtändigen Laien und Praktiker geübt haben mag, habe 
ich damals recht deutlich ermeſſen an dem Ausſpruch eines der feinſinnigſten 
und in feiner Vaterſtadt wegen feiner großartigen Munificenz rühmlichſt be— 
fannten deutſchen Bankierd, der Endemann’d Behandlung gelefen hatte. Ich 
babe die Furzen Worte nicht ftenographirt, aber fie haften aud) ohne Kurz 
fhrift treu im Gedächtniß. Endemann hatte in jenem Artikel gezeigt, wie 
der Wechfel und die Wechſelmeſſen die Form waren, in der dad Bedürfnig 
der mittelalterlihen Creditwirthichaft das Eanoniftifhe Wucher- und Zind- 
verbot umging, und ein wahrhaft moderne? Umlaufdmittel ſchuf. Und diefer 
jedem Laien verftändliche fulturhiftorifche Effay veranlaßte unfern Bankier zu 
ſehr verftändigen Weußerungen über diefen vor mehr als einem halben Jahr— 
taufend gefämpften „Kulturfampf* gegen die Kirche. Ach glaube, menige 
Refer haben den Auffas Endemann’d über die Wechſelmeſſen fo ganz in feiner 
vollen Tiefe erfaßt, wie diefer praftifche Denker. Denn Endemann felbit fagt 
in feiner Einleitung zu feinem neueften Werke, „Studien in der Roma- 
niſch-kanoniſtiſchen Wirthſchafts- und Rechtslehre bis gegen 


488 


Ende des fiebzehnten Jahrhunderts” *), fat genau und wörtlich dasfelbe, mas 
jener klare Praktiker fih aus dem viel engeren Thema Endemann's „heraus 
genommen“ Hatte: „bier galt e8 darzulegen, wie fehr die Fanonifchen Recht 
anfichten auf die Geftaltung des Rechts eingewirkt haben, zugleich aber auch, 
warum dieje Fanonifhe Wirthſchaftslehre, welche von der Kirche mit der Fülle 
ihrer Macht Jahrhunderte lang aufrecht erhalten wurde und noch heute von 
der orthodoren Doctrin nicht aufgegeben tft, im Widerftreit mit den realen 
Kulturzuftänden endlich) doch hat unterliegen müfjen. . . . Sicherlich vermin- 
dert fich das praftifche Intereſſe nicht, wenn zugleich erfichtlich wird, mas 
die Geſetzgebung des Staated fogar auf privatrechtlichem Gebiete zu gewär— 
tigen hätte, wofern die Fatholifche Kirche noch einmal verfuchen follte, die 
Prätenfion ihrer Herrfchaft, der fie keineswegs entfagt hat, von Neuem gel- 
tend zu machen. Das Gebiet der Moral eritredt ſich, wie gezeigt werden 
wird, fomwelt, daß unter diefem Titel die unfehlbaren Erklärungen des Ober— 
hauptes jeher wohl diefelbe Herrfchaft über die Nechtögefeggebung wieder zu 
erobern ſuchen kann, welche die Fanonifche Dogmatik einft thatfächlich geübt 
bat." — 

Man fieht, wie nahe die dem modernen Xeben fcheinbar fo fern liegende 
Arbeit, den michtigften Problemen der Gegenwart tritt. Es ift im Grunde 
nichts andere® als das freudige, Siegespanier, das wir in dem heifeften 
Kampfe hochhalten, den Deutfchland feit Jahrhunderten gekämpft, das diefe 
Schrift uns troftreich entfaltet. Ste giebt und die Gewißheit, daß Deutſch— 
lands ungebrochene Volkskraft, unter den denkbar ungünftigften Verhältnifien, 
den Machtgeboten und Machtmitteln der einigen Fatholifchen Kirche, ungeachtet 
ihrer vielhundertjährigen Hebung und Gewohnheit, fiegreich getroßt hat, um 
leben und wirken zu können im Wettkampf mit den andern Nationen Euro 
pas. Dieſer Gedanke tft fehr tröftlih. Denn wir haben nicht den Schatten 
eined Grundes für die Annahme, daß unfer Volk heute weniger thatkräftig 
und mächtig fei, ald vor einem halben SJahrtaufend. 


Und aus einem andern Grunde noch iſt das vorliegende Wert Ende 
mann's ſehr erfreulich und troftreich für unfere Gegenwart. Ganze Reihen 
von Generationen haben mit fchwerer Gelehrfamfeit und größtentheils im 
beiten Glauben an der Fabel gearbeitet, daß Deutfchland im Mittelalter 
ſchlankweg das Römiſche Recht Juſtinian's als Grundlage des gefammten 
deutſchen Privatrechtes „reeipirt* habe und — nach der Meinung vieler ge 
lehrter Männer — noch bis zum heutigen Tage als das einzige „gemeine 
deutjche Privatrecht beſitze. — Es ift tröftlih, meine ich, bei Endemann den 
genauen wiſſenſchaftlichen Nachweis zu verfolgen, daß diefed Märchen im der 


*) Erfter Band; Berlin, 3. Guttentag (D. Eollin), 1874. 








489 


That nur bei einer völligen Verfennung der wirthſchaftlich-privatrechtlichen 
Entwidelungsperiode des Mittelalter fo breiten Glauben gewinnen Eonnte. 
„Niemals können die für das Verkehrsleben beftimmten Rechtsnormen wahr- 
haft erklärt und begründet werden“, fagt Endemann, „ohne die in der Praxis 
des Verkehrs maßgebenden Anfichten zu Rathe zu ziehen, deren Summe mifjen: 
ſchaftlich begriffen jene Philofophie der materiellen Güter darftellt, welche als 
Volkswirthſchaftslehre bezeichnet zu werden pflegt. Selbit da, wo die Rechts— 
lehre in fchematifchem Behagen ſich möglichft in fich ſelbſt abſchloß, wurde 
fie unbewußt von den Strömungen diefer Anfichten beeinflußt. Der Satz, 
dag Rechts- und Wirthſchaftslehre folchergeftalt in untrennbarem Zufammen- 
hange ftehen, bewahrheitet fich namentlich, wo es gilt, die Entwidelung des 
mittelalterlichen Verkehrsrechtes zu erforfchen. Wie fehr folhe Erforfhung 
Bedürfniß ift, erhellt leiht. Das mittelalterliche, romaniſch-kano— 
nifhe Recht bildet die nächte Vorftufe ded gegenwärtigen. 
Aller Eifer um die richtige Erfenntniß des altrömifchen Rechts, um die volle 
Einfiht in den Gang feiner Entwidelung bi8 zu Juſtinian und bi® zu den 
Gloſſatoren zu gewinnen, bleibt Stüdwerf, fo lange man ſich nicht klar macht, 
welche Ummandlungen feitdem eingetreten waren, als in umgemwandelter Geftalt 
das römifche Recht auch in Deutichland aufgenommen wurde. Niemand Fann 
heutzutage an das Märchen einer Neception des römischen Rechts in dem Beftande 
glauben, den erit Jahrzehnte hindurch fortgefegte Arbeit unter dem Schutte 
der Vergangenheit audzugraben begonnen hat. Niht das römische, fon- 
dern dad romaniſche, längft vorher von dem Einfluß der fa- 
nontfhen Gefeggebung und Doctrin durhdrungene Recht 
haben wir thatſächlich recipirt. Wer alfo mit den wahren hiftorifchen 
Thatfachen rechnen, die Entwidlung ded Rechtes bis zur Gegenwart nicht 
nad theoretifchen Fictionen, fondern nach dem wirklichen Verlauf Fennen 
will, für den tft ed unmöglich, über die breite Lücke hinmwegzufpringen, welche 
die mittelalterliche Dogmengejchichte des Rechte zwifchen dem altrömijchen 
und dem modernen Recht darftellt.* 

Es iſt nicht Endemann’d Abſicht geweſen, das gefammte Verkehrsrecht 
des Mittelalters und deſſen Entwickelung zu ſchildern, eine das geſammte 
Verkehrsrecht umfaſſende Geſchichte der mittelalterlichen Dogmatik zu liefern. 
Eine ſolche Aufgabe würde in der That der Zeit nach an einem doppelten 
Hinderniſſe ſcheitern. Das ungeheuere Material liegt noch faſt chaotiſch durch— 
einander, nicht einmal die Quellennachweiſe erſcheinen irgendwie erſchöpfend 
abgeſchloſſen und geordnet. Und ſodann widerſtrebt der Zuſtand der mittel— 
alterlichen Doetrin ſelbſt wie kaum eine andere den heutigen Anforderungen 
an eine ſyſtematiſch zuſammenhängende Darlegung. Man mag noch ſo hoch 


denken von dem wunderbar ſcharfſinnigen und geſchloſſenen u des Fano» 
Grenzboten IV, 1874, 


490 


nifhen Kulturgebäudes, der kanoniſchen Rechtsordnung, auf allen Gebieten, 
auf denen fie einft mächtig emporragten über die Staaten und Völker der 
mittelalterliben Welt: der Juriſt wird dennoch überall daran erinnert, daß 
dieſes Gebäute und diefe Ordnung auf einem Fundamente ruht, das mit 
rechtlicher Beurtheilung und Gonftruction fo wenig ald möglich zu thun hat, 
auf dem blinden Glauben, dem zwingenden Dogma. Daher muß die Grund 
lage verfinfen und der folge Bau ftürzen, fobald der Glaube wankt und der 
Zwang ded Dogmas bezweifelt wird. Es genügt, daß Endemann den Ber: 
lauf diefer natürlichen Entwidelung an einzelnen Rechtserſcheinungen bis Ins 
Kleinfte nachweiſt. Damit iſt für mande anderen der leitende Tingerzeig 
gegeben, den Spuren zu folgen, welche zuerft die eracte aber verältete Denk 
meife des Römerd, dann die humane Tyrannis der Fanonifchen Theorie, dann 
das Bedürfniß moderneren Freiheitäftrebend in den gangbaärften und wid- 
tigften Formen des Rechtsverkehrs Hinterlafjen haben. Auch die unmittelbaren 
Folgerungen für die Gegenwart wird der Sachkenner überall direct an dieje 
Nachweiſe Entemann’® anzufnüpfen vernögen. Ragen doch fo viele beaux 
restes der mittelalterlichen Wucherlehre z. ®. unmittelbar in die Gegenwart, 
in zahlreichen Dunfelheiten, Controverfen und Schrullen des lebendigen Rechtes 
in wichtigen Zweigen des öffentlichen Verkehrslebens. 

Jedem, der die beiden Bücher ftudirt hat, wird die Verwandtfchaft auf 
fallen, welche diefe Unterfuchungen Endemann's mit denen Wilhelm Roſcher's 
in feinem neulich befprochenen Werke, die „Gefchichte der Nationalöfonomil* 
haben. Der Natur der Sahe nah iſt Endemann’? Aufgabe etwa in dem: 
felben Maaße begrenzter, wie Roſcher's Unternehmung gegenüber der Gefchichte 
und Literatur der Staatömifjenfchaften, die Robert von Mohl zu liefern 
unternommen. Endemann mußte in engerem Rahmen arbeiten, weil die 
nattonalöfonomifche Theorie der pofitiven Rechtsverkehrsnorm gegenüber die leichte 
Erpanfivfraft de8 Dampfed im Vergleich zum Waſſer befist. Das Verfehre 
recht if die zum Gemeingut der Nation gewordene Anerkennung einer beftimm- 
ten Theorie der Volkswirthſchaft. Und die Völker Ieben bei meitem lang: 
famer und zäher ala die einzelnen Denker. Aber dafür ift Endemann’s Auf 
gabe und Darftellung infofern auch reicher, wie diejenige Roſcher's, als 
Endemann au die praftifche Uebung und virtuofe Veberlegenheit des 
Wirthſchaftslebens über die kanoniſch-romaniſche Doctrin zur Anſchauung 
bringen fann, während Rojcher, feinem Plane gemäß, nur die Umrifje und 
Wandlung der nationalöfonomifchen Theorien in Deutfchland feit Ausgang 
des Mittelalter und vorführt. Auch dur das Uneinanderpaffen der beiden 
Geſchichtsperioden, der mittelalterlihen Endemann’d zur modernen NRofcher's, 
ift das gleichzeitige Erfcheinen der beiden bedeutenden Werke befonders erfreulid. 

98. 








491 


Hlandereien aus Jondon. 
3. 


Während das gewöhnliche Londoner Wohnhaus ein befcheidened und 
einfaches Aeußere zeigt; während großartige Brivatgebäude, im directen 
Widerſpruch mit dem, nach continentalen Begriffen, unermeglichen Reihthum 
der Stadt und ihrer Bewohner, nicht Häufig zu finden find, fo zeigt ſich da» 
für bet allen öffentlihen Bauten, befonderd in den neuern Straßenan: 
lagen, den Kais, den fohönen grünen Plätzen, überall ein großartiger Sinn 
ausgeprägt. Aber auch hier ift es durchaus nicht dad Streben nad Ver— 
ſchönerung der Stadt, welches die Projectirung und Ausführung folder 
Bauten eingab und in allen ihren Theilen beeinflußte, fondern beinahe einzig 
und allein das Nüslichkeitäprinzip, fodaß diefes fi auch naturgemäß überall 
deutlich erfennen läßt. 

Daß dabei fehr weſentliche Verſchönerungen als Nebenzweck erreicht 
worden, ift wohl felbftredend und ficherlich werden diefelben auch von vielen, 
oft maßgebenden Merfönlichkeiten nicht fo ganz als Nebenfahe behandelt, 
oder vielleicht richtiger gefagt: diefe Perfönlichkeiten wünfchen diefelben nicht 
zu fehr in zweiter Linie behandelt zu fehen und pflegen diefelben nach beiten 
Kräften mit vieler Liebe. Im Allgemeinen aber hat der Engländer zu menig 
Sinn für dad mas die übrigen gebildeten Völker ſchön nennen, um feinen 
praktiſchen Sinn durch äfthetifche Rückſichten allzufehr beeinfluffen zu laſſen, 
befonder® wenn letztere den Nützlichkeitsgeſichtspunkten gefährlich werden könnten. 

Die zwei Gefihtspunfte, welche die Londoner Behörden in erjter Linie 
bei ihren großartigen neuen Bauten und ganzen Städteanlagen leiten, find: 
möglihfte Erleihterung des Verkehrs und Schaffung von ge— 
ſunder Quft und [hönem Grün inmitten der Häufermaffen, welche bei- 
den Zwecke fich fehr häufig durch diefelbe Anlage erreichen laſſen. In erfterer 
Hinficht ift in den letzten Jahren in London außerordentlich viel gefchehen und 
noch jest werben immer wieder neue großartige Straßendurhbrüche gefchaffen. 

Während es der Engländer in allen andern Dingen vorzieht, dem Privat- 
unternehmungägeift die Herftellung von neuen Verkehrswegen zu überlaffen 
und 3. B., wenigſtens bis jest, der Begriff der Staatseifenbahn unbekannt 
und fremdartig tft, fo werden alle diefe großen Straßenanlagen in London 
und andern großen englifchen Städten faft ausfchlieglich durch die ftädtifchen 
Gemeinwefen, natürlich unter Aufmwendung enormer Koften ausgeführt. 

Es zeigt fich Hier alfo das ganz entgegengefegte Bild unferer deutfchen 
Hauptitadt, wo ſich neben Staatdeifenbahnen viele Privatgeſellſchaften, oft 
vergeblih, bemühen das Straßennes der Stadt durch mehr oder minder 


492 


fegendreiche Anlagen zu verbeffeen und oft ihre befte Zeit und ihre beiten 
Kräfte an den Schwierigkeiten vergeuden, die ihnen durd die fo überreich 
gegliederten, um nicht zu fagen zergliederten Behörden Berlin, die troß des 
beiten Willend, aber megen ihrer Bielgliedrigkeit diefe Schwierigkeiten nicht 
zu bewältigen vermögen, bereitet werden. 

Die deutſche Auffaffung der Eifenbahnen als gemeinnüsige Verkehrs— 
anftalten, die und mehr und mehr zum Staatdetfenbahnfyftem hingeführt bat 
und täglich demfelben noch näher führt: diefelbe Auffaffung, die auch bet allen 
Landſtraßen in noch viel ausgeprägterer Weiſe auftritt und mit vollem Recht 
deren vollftändige Freigabe verlangt, fcheint momentan, befonders in Berlin, 
in Bezug auf ftäbtifche Straßen etwas verfchoben zu fein, fonft hätte die 
Stadt felbit ſchon längft die fo nothwendige Schaffung neuer Verkehrswege 
in die Hand nehmen müſſen. Allerdings iſt bet allen von Privaten ausge— 
führten derartigen Anlagen durch PBolizeivorfähriften und Conceſſionsbeding- 
ungen nach beiten Kräften dahin gewirkt worden, das öffentliche Intereſſe 
zu wahren. Uber in vollem Maaße kann das doc nie gefchehen, denn erftend 
juchen die Privaten doh ausſchließlich ihren eigenen pecuniären Vortheil 
und dann fann durch ſolche Privatanlagen fehr leicht die nothwendige Aus 
führung wirklich geſunder Straßenzüge geradezu vereitelt werden, weil fie 
häufig zwar annähernd dadfelbe Ieiften, aber aus Privatrüdfichten doc 
nicht die wirklich einzig richtige Lage erhalten Fonnten und dieſe letztere 
nun, des nochmaligen Koftenaufmande® wegen, troß des ungenügenden Er- 
ſatzes doch nicht mehr ausführbar erfcheint. 

Zum MUeberfluß werden aber au, troß aller Vorſicht der. Behörden 
diefe jelbit oft noch getäufht. Sch brauche hier wohl nur an das Geber’iche 
Anduftriegebäude in der Kommandantenftraße in Berlin zu erinnern. Der 
Tall dürfte wohl, da er in vielen Blättern feiner Zeit befprochen wurde, auch 
über Berliner Kreife hinaus befannt fein. Dort fol fi jest die Stadt an- 
hidden dem Gebäude gegenüber mit großen Koften diefelbe Straßenverbrei- 
terung vorzunchmen, die fih vor Jahren beinahe ohne Koften dur Zurüd- 
ſetzen der Fluchtltnie bei dem fogenannten „Umbau“ des fraglichen Gebäudes 
hätte erreichen Iaffen. 

In der englifhen Hauptftadt werden, wie gefagt, beinahe alle diefe neuen 
Straßenanlagen durch die Gemeinde ausgeführt und diefelbe findet, abgejehen 
von Katanlagen, auch noch mit der Zeit ihre Rechnung dabei. Der Eng- 
länder Itebt irgend welche Störung und Schmälerung feine® Beſitzes weniger 
als irgend font etwas und fo fommt es, daß er in den meiſten Fällen, wo 
auch nur Eleine Theile feines Grundftüds für die Straßenanlagen gebraudt 
werden doch auf den Erwerb ſeines ganzen Beſitzes dringt und das Gefek 
ſchützt ihn auch in diefem feinen Verlangen. So gelangt die Stadt in ben 


493 


Befig von ausgedehnten Ländereien, und wenn diejelben auch die erfte Anlage 
jehr erheblich vertheuern, fo kann die Stadt doch die dadurch erlangten fehr 
werthvollen Baupläße, deren Werth natürlich durch die Straßenanlage mefent- 
ih geftiegen tft, vortheilhaft verkaufen oder verpachten. Letzteres iſt das 
bäufigere und zwar erfolgt die Ausnusung ded Grund und Bodens in fol- 
gender Weife. irgend welcher Bauunternehmer pachtet den Pla von der 
Stadt gegen die Verpflichtung ein Haus darauf zu bauen auf 99 Jahre. 
Nach Ablauf diefer Zeit muß der Pla& wieder der Stadt zurücdgegeben werben 
und alle etwa darauf befindlichen Gebäude entfallen dann auch der Gemeinde. 
Der Bauunternehmer gelangt fo in den Beſitz eines Haufed, das ihm eigen- 
thümlich gehört, ohne daß der Grund auf dem es fteht, fein Eigenthum ift, 
er verpachtet oder verkauft wohl auch fein Haus an dritte Perfonen, aber 
immer fällt Alle nach Ablauf der genannten Friſt an die Eigenthümerin 
des Bauplatzes zurüd. Diefe Art der Berwerthung der miterworbenen ‘Bar: 
zellen oder ganzen Grundftüde ift die Negel, vollftändiger Verkauf felten, 
weil beide Theile ihn nicht wünfhen und niemals führt die Stadt ald eigene 
Unternehmerin auf ihren Grundftüden Häufer auf. 

Auf diefe Weiſe find in den Iebten Jahren in der City die großen 
ſchönen Straßenanlagen am Holborn-Viaduct entftanden, der felbit auch eine 
großartige ftädtifhe Schöpfung tft und dazu dient, die fo verkehrsreiche 
Skinner Street mit dem High Holborn über die nicht minder belebte Farring- 
don Street hinweg zu verbinden, während früher dort Wagen und Fußgänger 
einen geradezu gefährlichen Thalübergang zu paffiren hatten. 

So ift die ſchöne Queen Bictoria Street im belebteften Theile der un- 
ermeßlichen Stadt zmifchen der Bank und dem neuen Thamefembanfment 
theilweife noch im Entſtehen begriffen und fo wird jest wieder eine neue 
große Straße zwiſchen Charing Croß und der Themfe durchgelegt, durch 
melde fogar das berühmte Palais des Herzogd von Northumberland mit 
feinen Prachtgemächern, feinem Kamin aus maffivem Silber und feinen werth- 
vollen Kunftfammlungen den alles verfchlingenden Verkehrserleichterungen 
weichen muß. 

Es ift fo in England ſchon feit einer Reihe von Jahrzehnten ganz von 
felbft das Erreicht, mad fo lange in Berlin von vielen Kreiſen vergeben® an- 
geftrebt wurde, daß nämlich die Stadt bei neuen Straßenanlagen durd alte 
Stadttheile foviel Grundftüde durch Erpropriationdreht mit erwerben Fünne, 
daß fie dadurch in den Stand gefett fet, fich durch ſpätere Veräußerung der 
mit erworbenen und in zweckmäßigſter Weife neu parzellirten Bauplätze für 
den augenbliclichen bedeutenden Koftenaufwand menigftend einigermaßen zu 
entfchädigen ; d. 5. daß fie diejelben Bortheile geniegen möge, welche Privat- 
gefelfchaften durch den freihändigen Ankauf ganzer Grunditüdcomplere, der 


i 494 


ja befanntlich allen Behörden bei weitem nicht in demjelben Maaße möglich 
ift, faktiſch auch ohne Erpropriationdreht genießen. Nach dem alten Erpro- 
priationdgefeg war died unmöglih; und mäÄhrend der Engländer das baare 
Geld einem noch ungemiffen Gewinn, der fih aus dem etwaigen Steigen eined 
Merthes feined® Grundftücddrechtes ergeben Fönne, vorzieht, — der durch die 
neue Straßenanlage ja immerhin fehr wahrſcheinlich if, — und daher ganz 
von felbft auf vollftändigen Ankauf feine® Grundftüds drängt, fo bält.im 
Gegentheil der Berliner auch noch den Kleinsten Reſt desſelben mit bervundernd- 
werther Energie feft, alle von der immenfen Entwidelung des Verkehrs der 
neuen Straße erhoffend und erfchwert und vertheuert dadurch den ftädtijchen 
Behörden die Anlagen gemeinnübiger neuer Verkehrswege fehr erheblich. 

Jeder Fremde, der das Parlamentsgebäude in Weſtminſter und die 
daran anftoßende neue MWeftminfterbrüde betrachtet, wird auch unwillkürlich 
fein Augenmerk auf das jenfett® der Themfe gelegene neue St. Thomad- 
Hospital richten, welches mit feinem faubern Ziegelrohbau aus ſchöner grüner 
Umgebung fo freundlich herausfchaut, daß es unmillfürlih zur Betrachtung 
herauäfordert. Und wenn man dasjelbe einer näheren Befichtigung unter: 
zieht, fo wird man ob all der ſchönen zweckmäßigen Einrichtungen ftaunen, 
die von einem ungewöhnlichen Reichthum Zeugniß ablegen und man wird 
die gütigen Spender desjelben höchlich loben. Doch nur nicht zu voreilig mit 
diefem Rob, denn von milden Gaben tft Hier Feine Rede. Wir Haben hier 
einfach ein eflatantes Beiſpiel vor und, wie Gorporationen, die mit dem Gr- 
propriationdrecht ausgeftattet worden find, auf Verlangen dazu gezmungen 
werden, ganze au&gedehnte Befisungen felbft dann erwerben zu müffen, wenn 
der abfolut nothwendige Grunderwerb auch noch fo unbedeutend tft. Es war 
hier eine Eifenbahngefellfhaft, die das alte Hospital befchneiden wollte, und 
diefed hat e8 verftanden, feine alten fchlechten Anlagen nicht allein los zu 
werden, fondern diefelben auch durch vorzügliche zu erfegen, alles auf Koften 
der South Eaftern Eifenbahngefelfchaft, die beim Bau der Eifenbahn von 
London Bridge nad Charing Croß nur die Wahl hatte, eine der größten 
Brauereien der Welt, nämlich die von Barclay, Perkins u. Cie., oder dad 
alte Thomashospital zu erwerben und von zwei Uebeln das Fleinere vorzog; 
von milder Stiftung aber ift hier nicht die Rede, ganz im Gegenteil. 

Da wir und einmal auf der Meftminfterbrüde befinden , ſei es auch ge 
ftattet, de8 fchon vorhin erwähnten Thamefembanfment3 zu gedenken, meldes 
bei diefer Brücke feinen Anfang nimmt und in der City bei der Bladfrlard- 
brüdfe endet. Von der MWeftminfterbrüde aus bietet fich dem Beſchauer ein 
überaus anmuthige® und anregende Bild dar. Eine 30 M. breite Ufer 
ftraße von Wagen und Spaziergängern ftarf belebt, zieht fih am linken Ufer 
ſtromabwärts, von derfelben führen zahlreihe Randungsbrüden nad) den 





495 

Landungsplätzen der fo zahlreihen Dampfboote, die unabläffig die Theme auf- 
und abwärts fahren, und an die Straße reihen ſich die fchönften grünen 
Parks, über denen die Häufermaflen und Thürme der unermehlichen Stadt 
beraudragen. An Stelle diefed wirklich prachtvollen Anblicks zeigten fich noch 
bis vor wenigen Jahren die mwidermärtigften Sümpfe und Moräfte, welche die 
ganze Gegend zur Ebbezeit verpeiteten, und um diefem Uebelftand abzuhelfen, 
bat die Stadt dad Thamefembankment mit einem wirklich enormen Koſten— 
aufwand ausgeführt. Es befteht aus einer mächtigen Ufermauer, die unter 
den ungünftigften Fundirungsverhältniffen bei einer Fluth- und Ebbedifferenz 
von 6 WM. auf eine Länge von etwa einer halben deutfchen Meile aus dem 
fefteften Granit ausgeführt ift. Und hinter diefer Mauer liegen übereinander 
die unterirdifche Eifenbahn,, deren Sohle unter dem Hochmaflerfpiegel ver 
Themfe liegt und die ſchöne breite Uferftraße, die auf der einen Seite den 
Berfehr mit dem fo belebten Strome und auf der anderen mit den herrlichen 
Park und Gartenanlagen vermittelt. Wahrlich beim Anblide dieſes groß- 
artigen Unternehmen? kann man mit gerechtem Stolze von dem menschlichen 
Schaffenstriebe erfüllt werden, der vor Feiner Schwierigkeit zurückſchreckt, der 
fih die widerwärtigften Naturereigniffe nutzbar zu machen weiß und, wenn 
auch oft von den Naturfräften arg bedrängt, diefelben doch ſchließlich ſiegreich 
überwindet. 

Diefed Themſeembankment iſt in der Baugefhichte Londons gleich epoche— 
machend als verfehrserleichternde und gefundheitäfördernde Schöpfung und, 
nebft der Ganalifation wohl das großartigfte, was die Stadtgemeinde in den 
legten Jahrzehnten in baulicher Beziehung geleiftet hat. 

Über auch aller Orten in der ganzen großen Metropole wird mit rühm- 
lihem Eifer danach geftrebt, den Bewohnern derfelben ein möglichft großes 
Quantum guter Quft zuzuführen. Am ficherften läßt fich dies ja ſtets durch 
Bertheilung von Bäumen und Sträudern durch die Stadt erreichen und fo 
fehen wir denn auch eine ſolche Maſſe von Parks und grünen Pläten inner- 
Halb Londons, wie fie wohl Feine zweite Stadt auch nur annähernd aufzu- 
weifen hat. Zunächſt find hier die weltberühmten großen Parks zu nennen, 
die im Often und Welten, Norden und Süden angebracht find, und mit ihren 
unvergleichlich ſchönen Raſen Alt und Jung, Hoch und Niedrig gleich fehr 
erfreuen. An fchönen Baumpartien und vor allen Dingen an der Mafjen- 
haftigfeit derfelben mögen die Parks unferer deutfchen Großftädte den eng- 
liſchen Rivalen weit überlegen fein, unfere öffentliden Promenaden und 
Gärten zeigen beinahe überall einen waldartigen Charakter, der ficherlich 
ihren eigenthümlichen Reiz mefentlih erhöht und ih muß offen befennen, 
daß troß der englifchen Raſen unfere deutjchen urmwäldlichen Gärten auf mid) 
einen fohöneren und tieferen Eindrud machen, ala die Londoner Parks mit 


496 


ihrer geledten Sauberkeit. Aber was nügt und all unfere Schönheit, menn 
fie, außerhalb der Städte, wegen der großen Entfernungen von den Wenigſten 
Teiht zu erreichen ift, und Wochen, ja Monate vergehen können, ehe die 
Bewohner der entlegeneren Stadttheile ſich derfelben erfreuen. Deffentliche 
Parks gehören in dad Innere der Städte, und mo feine vorhanden find, 
möge man melche fchaffen. London zeigt hier ein ehrenwerthes Beifptel und 
wenn man mir etwa einwenden will, feine deutfche Stadt könne mit London 
verglichen werden, fo kann ich darauf einfach erwidern, daß es befjer ift, bei 
Zeiten auch fhon für die Zukunft Hin zu forgen, als fih erft dur noch 
größere Einwohnerzahl und noch größere Sterblichkeit zu Maßregeln zwingen 
zu laffen, die dann in der Regel unverhältnigmäßig viel Eoftfpieliger werden, 
ald wenn fie ſchon eher audgeführt worden wären. 

Und nicht allein Parks gehören in das innere der Städte, fondern auch 
grüne Pläge und auch davon zeigt Kondon einen nachahmenswerthen Reid: 
tbum. Es wird wohl wenig Pläge mehr in der englifchen Hauptftadt geben, 
die niht mit Bäumen, Rafen und Sträuchern geziert wären und menn 
vielleicht auch der Engländer den Werth diefer grünen Pläte etwas zu hoch 
veranfchlagen mag, wenn die unverhältnigmäßig hohen Miethen für die an 
ſolchen Plägen gelegenen Häufer fich einzig wegen der größeren Reinheit der 
Luft kaum rechtfertigen laſſen, jo find fie doch ficherlich bedeutend beſſer und 
freundlicher ala die Plätze unferer deutfchen Großftädte, die fo Häufig zu 
weiter nicht® da zu fein foheinen, als zur Anhäufung unermeplicher Sand» 
maffen, die beim geringften Windftoß die ganze Umgebung der Pläte mit 
Staub erfüllen; oder die den fchreienden Marft- und Fifchweibern zur fpeztellen 
Vebung der Stärke ihrer Yungen angemiefen zu fein fcheinen. 

Selbft der Trafalgar Square, der mit feinen Steinmafjen eine monumen- 
tale Wirkung hervorbringen follte, fol jest in einen grünen Plab umge 
wandelt werden; er wird unftreitig dann auch feinen eben genannten Zweck 
weit befjer und vollflommener erfüllen, denn Grün iſt einer monumentalen 
Wirkung ntemald nahtheiltg, fondern viel förderlicher, al® die Anhäufung 
langmeiltger Steinmaffen. 

Um diefe Square und um die im Weſten und Nordweſten gelegenen 
Parks find denn auch die Paläfte des reichen englifchen Adels gruppirt, hier 
findet man auch ftattlichere Miethshäuſer und jene, befonderd threr inneren 
Einrihtungen wegen fo berühmten Elubhäufer der zahlreichen wiſſenſchaft⸗ 
lihen und Vergnügungägefellihaften. Aber auch felbft hier find die Mieth 
häuſer in unfchöner Wetfe fohablonenmäßig eins neben das andere geftellt, 
und ein Blick auf die Speztalfarten Londons zeigt, daß bet ſämmtlichen um 
einen Platz herum gruppirten Häufern die Grundrißdispofitton völlig überein 
ſtimmt. Leider ift dasjelbe auch bei der Fagade der Fall, und wenn aud oft 


an arena 


497 


mit verfchrwenderifcher Wreigebigfeit, feitend der Bauherrn, mit Granit und 
Marmor und Statuen aus echtem foliden Material das Aeußere des Haufeg, 
dem innern Werthe deafelben entjprechend geſchmückt worden ift, fo wirken 
alle diefe Herrlichkeiten doch entfeglich geifttödtend, meil die ewige Wieder— 
bolung felbft die ſchönſte Form in den Staub der Alltäglichfeit und in das 
Gebiet des Lächerlichen herabzieht. Zudem find aber die einzelnen Formen 
nur in den feltenften Fällen ſchön zu nennen, fondern in der Regel prangen 
die Gebäude in einem äußeren Kleide, das durch gedankenlofe Nahäffung und 
Aneinanderreifung von Formen aller möglichen verjchtedenen Bauftyle ent: 
ftanden tft. 

Die großen Provinzialftädte Englands mögen im Allgemeinen in archi— 
teftonifcher Beziehung ein viel anregendered Bild darbieten, ald London, und 
namentlich wird Liverpool in feinen öffentlichen Gebäuden wohl von feiner 
anderen Stadt Großbritanniens erreiht. Aber auch bier ift überall die fabrif- 
mäßige Herftellung der Wohngebäude ihrer äußern Wirkung entfchieden feind: 
felig. Selbft in dem herrlichen Edinburgh, das von der Natur mit ver- 
Ihmenderifcher Pracht ſowohl Hinfichtlich feiner Lage, als auch hinſichtlich 
feiner eigenen Gruppirung audgeftattet ift, dämpft diefe ewige Wiederholung 
derjelben Formen, die wie ein Fluch auf der englifchen neuen Architectur zu 
laften fcheint, die günftige Wirkung der Stadt ganz erheblih und fie ift hier 
am allerunbegreiflichften, wo doc) die Natur und die alten Baumeifter mit 
einer Fülle der herrlichiten Abmwechfelungen durchaus nicht gegeizt haben. Die 
alte ehrwürdige Highſtreet wirft troß ihres Schmutzes und troß der viel ein: 
fahern Mittel ihrer Fagaden doc fehr viel anregender, als die neuen 
Straßen der vornehmen Welt, oder gar der Moray Place, bei dem dad emige 
Einerlet feiner Paläfte einen unglaublich düftern und langweiligen Eindruck 
bervorbringt, der felbft nicht durch das fehöne Grün, in dem fein innerer 
Theil prangt, ganz aufgehoben werden kann. 

Großartig zu bauen verftehen die Briten, wie wohl faum ein anderes 
lebended Volk, aber die Schönheit kommt dabei fehr oft fchlecht genug weg. 
Troß der fo bedeutenden Mittel, über die England und feine Bewohner zu 
verfügen haben, tragen unfere continentalen Grofftädte doch einen viel monu— 
mentaleren Charakter, und unfere deutiche Hauptftadt vor allen kann ſich troß 
ihrer befcheidenen Mittel in diefer Hinficht dreift mit jeder Stadt dieljeitd des 
Kanals meffen. 

Der Grund für diefen auffallenden Mangel an entwickeltem Kunftfinn 
unter den neuern Architecten Großbritanniens dürfte wohl hauptſächlich darin 
feinen Grund haben, daß diefelben nicht ordentlich gefchult werden, wobei 
diefer Ausdrud natürlich in feinem beften Sinne gemeint ift. 

Die Kunft kann weder handwerksmäßig erlernt werben, * in ganz 

Grenzboten IV, 1874. 


IE 
498 


freier zügellofer Bahn edle Früchte treiben, fondern auch bet ihr ift die 
Schulung, felbft bei epochemachenden Genied von wefentlichem Einfluß. Weblt 
diefe, jo artet fie zu leicht in verſtändnißloſe Nachahmung oder in unjchöne 
Originalität aus und in diefen beiden Richtungen ift in England mehr denn 
genug zu fehen. 

Man hat der von fo vielen Seiten oft geihmähten Berliner Ardhitectur 
wegen ihrer antikifirenden Richtung fehr oft Mangel an Originalität vor- 
geworfen, aber ich glaube, daß diefer Vorwurf durchaus ungerehtfertigt iſt. 
Gerade ein Vergleich mit der englifchen Architectur, zeigt den Werth der 
ftrengen Berliner Schule in feinem vollen Licht. Gin Gang durch die Straßen 
in der Nähe des Thiergartens zeigt eine Fülle der reizendften villenähnlichen 
Gebäude, die troß der vorzugsweiſen Anwendung antiker und Renaifjance- 
formen fo eigenartig und originell find, wie man fie in London in der Nähe 
der Parks oder in Richmond, Sydenbam und Forreft Hill vergeblich fucht. 

Ein aus der Berliner Schule hervorgegangener Architect würde fich aber 
auch niemals derartige Nahahmungen, um nicht zu fagen Copien zu Schul- 
den fommen laffen, wie man fie in London zahlreich vertreten findet. 

Während im Hyde Park in London der Marble Arch _eine ziemlich ge— 
treue Nachbildung eines römifchen Triumphbogend zeigt, befigt Berlin fein 
dur und durch originelled Brandenburger Thor. Während die Nelfonfäule 
auf dem Trafalgarfquare eine getreue Nachbildung einer Forinthifchen Säule 
des Mars ultor» Tempeld zu Rom ift, fann wohl Niemand der Stegeafäule 
auf dem Berliner Königsplage, — mag man nun über diefelbe denfen, mie 
man will — Mangel an Originalität vorwerfen und gerade ihr Erbauer tit 
einer. der getreueften Anhänger der ftrengen antiken Richtung. 

Wenn man vor dem Britiſh Mufeum mit feinen jonifchen Säulenhallen 
jteht, wird man unmwillfürlih an die ältere aber auch fo viel ſchönere Säulen: 
halle unſeres Meifters Schinkel, an das alte Berliner Mufeum erinnert. 
Letzteres ift mit all feinen ftreng antifen Formen eine fo eigenartige herr» 
the Schöpfung, daß das ftattliche Britiſh Mufeum dagegen doch vollftändig 
in den Hintergrund tritt. 

Und troß der unendlich werthvollen Schäße, die in Originalen in dieſem 
jelben Britiſh Mufeum beherbergt werden, troß diefer Kunſtſchätze mit ihren 
ewig unvergleichlich fchönen Formen, welche zum eingehenditen Studium 
förmlich herausfordern, troßdem leiſten die Berliner Architecten mit ihren 
beſcheidenen Mitteln vermöge ihrer ſtrengen Schulung mehr als ihre engliſchen 
Kollegen und doch Können fie, ftatt an Originalen, ihre Studien großentheils 
nur an Gypsabgüſſen und Nachbildungen machen. 

In der Nähe des Eufton Square befindet fich bier eine Kirche, deren 
MWeftfagade eine grobe Wiedergabe der Hauptfacade des Erechtheion zeigt; 


499 


jeder Arm ded Querjchifies beiteht aus der ebenfalld roh ausgeführten Eopie 
der Horenhalle defjelben griechiichen Tempeld und der Thurm über der Weſt— 
fagade ift durch zweimaliged Mebereinanderfegen des Thurmes der Winde, des 
älteften korinthiſchen Bauwerks, gebildet. Die Gefimfe find nach dem Erech— 
theion und dem Thurm der Winde combinirt; und das ganze Baumerf macht 
in diefer Zufammenfegung ganz den Eindrud, ald ob ed nur audgeführt 
worden fei, um damit einen ewigen Hohn auszuſprechen. Wahrlich, berliner 
Architeeten würden fich in der Weije niemald an den ſchönſten Formen attifch 
joniſcher Baufunft verfündigt haben; fie befigen allerdings glücklicher Weiſe 
nicht genug „Originalität“ um die edlen Verhältniffe des Erechtheion 
mit feinen berrlihen Karyatiden dem Spotte Preis zu geben. Ebenſo be. 
findet fih in Birmingham am Eingange zum Güterbahnhof der London— 
und North. MWeftern Eifenbahngefellichaft ein großartiger jonifcher Porticus. 
Dan könnte wirklich Herzlich lachen, wenn derartige Verirrungen nicht fo 
jehr traurig wären, oder foll dadurd etwa der Güterfehuppen als Tempel 
des Hermes dargeftellt werden? — 


Unter diefen Umftänden mundert ed mich daher auch gar nicht, daß 
unter den Künftlern aller Zeiten und aller Länder die ala Reliefs auf dem 
Unterbau des Albert Memoriald dargeitellt find, der größte Baumeiſter diejeg 
Jahrhunderts, Schinkel, fehlt, während die englifchen Architecten zweifel- 
bafter Größe in einer Bollftändigfeit vorgeführt werden, die fich felbjt durch 
die nationale Eitelkeit nicht erklären läßt, wenn man eben erſt ihre Were 
gejehen hat. 

Der Engländer bat eine ganz befondere Vorliebe dafür, feine Helden, 
Generäle und fonftigen berühmten Männer möglihit hoch auf Säulen oder 
dergleichen zu ftellen. So ftehen in London Nelfon auf dem Trafalgar- 
Square, York am Ende der Regent Street nah dem St. James-Park zu auf 
hohen Säulen, Wellington an der Hyde Park Corner auf einem großen 
Triumphbogen und in Neweaſtle upon Tyne und in Edinburgh finden ſich 
wieder berühmte Männer auf hoben fchlanfen Säulen. 


63 iſt diefe Art von Monumenten allerdings nicht eine englifche Er- 
findung, fondern dad Vorbild aller mag wohl urfprünglich die Trajansſäule 
gemejen fein. Da aber diefe nicht allein aus der Zeit des Berfalld der römt: 
[hen Kunft ftammt, fondern gerade dieſen Verfall mit am allerdeutlichiten 
in fi darftellte, fo hätte man glauben follen, daß das im ihr ausgeprägte 
Prinzip Feine Nachahmung finden werde. 

Wollen die Engländer mit ihrem aufs Materielle bedachten Sinn etwa 
die geiftige Höhe ihrer Helden gleich räumlich darftellen, oder ftellen fie die— 
jelben deßhalb auf folhe Höhen, daß man fie nicht mehr mit unbewaffnetem 


500 J 








Auge erkennen kann, um dadurch weniger an die perſönliche Aehnlichkeit 
bunden zu ſein? 
Ich ſollte denken, daß derartige nationale Denkmäler, die jedenfalls ein 
große Erziehungsaufgabe erfüllen, indem fie dem Volke tagtäglich feine Ges 
hichte predigen, nur dann diefen ihren Zweck ganz erfüllen Fönnen, wenn 
man ſich durch ſie auch die Geſichtszüge der edeln Vaterlandsvertheidiger, de 
großen Helden, die der Stolz der ganzen Nation ſind, einprägen kann. 

Allerdings hat das engliſche Volk außer den auf den Strafen und 
Plätzen aufgeftellten Monumenten nod eine große Anzahl von Denfmälern, 
die in den hervorragenden Kirchen, zum Andenken an berühmte und nicht 
berühmte Männer errichtet worden find, und die bei der englifchen Sonntag? 
feier, die den Menfchen förmlich zum Kirhenbefuh zwingt, allerdingd auch 
oft und deutlih dem Volke feine Gejchichte predigen. Unter den Kirchen 
diefer Art, die dadurch gemwilfermaßen zu einem Pantheon werden, find vor 
allen andern die MWeftminfter Abtei und die Paulskirche zu nennen. Die 
beiden großartigen Bauten find ſchon an fi höchſt ſehenswerth, aber fie 
werden durch den Reichthum ihrer Monumente noch weit bedeutender. Bes 
fonderd die MWeftminfter Abtei entrollt mit ihren theilweife munderfchönen 
Grabdenfmälern ein gut Stück englifcher Gefchichte vor den Augen und die 
nahe gelegene Wejtminfter Halle mit dem neuen großartigen Parlamentsge— 
bäude und dem prachtvollen Monument von Richard Löwenherz vor dem— 
felben vereinigen fih alle mit den taufend Erinnerungen weltgefhichtlicher 
Greigniffe, die fih daran Enüpfen, um das Bild zu vollenden. 

Diefe Heine Gruppe großer, alter und neuer Gebäude, die fih hier eng- 
gedrängt zufammen finden, dürften wohl ihres Gleichen auf der Welt fuchen, 
nicht ſowohl wegen ihrer äußern Erfcheinung, ald wegen der Fülle nationaler 
Denkmäler und gefchichtlicher Erinnerungen, die fich an fie Enüpfen. 

Hier ruhen Königin Eliſabeth und Maria Stuart in derfelben Kapelle, 
bier find die fämmtlichen berühmten englifchen Staatdmänner, die Pitts, 
Ganning, For, durch Denkmäler geehrt, Hier ruhen in der Poets'Corner die 
gefeiertiten englifchen Dichter neben unferm deutfchen Händel, bier find die 
Koriphäen der Wiſſenſchaften und die erfinderifchen Genies beigefebt. 

Und drüben im neuen Parlamentsgebäude mit feiner foliden Pracht, 
feinen einzig [hönen Hallen und beinahe übertrieben geſchäftsmäßigen Sitzungs— 
jälen find wieder die ſämmtlichen Fürften und Fürftinnen Englande und 
Schottlands in friedlichfter Eintracht bildlich dargeftellt, wie wenn fie fi} nie 
im Leben bitter angefeindet hätten. Und die großen bildlichen Darftellungen 
an den Wänden der Hallen und Gorridore befchäftigen ſich beinahe aus- 
ſchließlich mit den erbitterten Kämpfen zwifchen Krone und Parlament, 
zwiſchen Ober- und Unterhaus, Hier wird gerade durch die Darftellung diefer 


501 


heftigen Kämpfe, die einft auch die Eriftenz und Entwidlung der ganzen 
Nation bedrohten, deren läuternde Wirkung und der aus ihnen heraus: 
gewachjene feite, beinahe unerjchütterlihe Beltand der englifhen Staats— 
verfaffung fo recht Klar. 

Wann werden wir in Deutfchland fo weit fein, daß wir unbefchadet des 
Friedend unfered Hauſes die heftigen Stürme unjered Staat?» und Ver— 
fafjungsleben®, in denen wir noch mitteninne ftehen, in unferm Reichstags— 
gebäude bildlich darſtellen können? Gebe Gott, daß die Zeit nicht mehr zu 
fern it! — 

als Schinkel nach den Befreiungsfriegen mit all feiner [höpferifchen Kraft 
und dem ganzen Enthufiagmud einer wahren Künftlerfeele daran ging, für 
Berlin einen großen Siegesdom zu projectiren, da wollte er au) aus dem» 
jelben ein deutfched Pantheon machen. Der Plan wurde nicht verwirklicht, 
jpäter wurde zwar am Ruftgarten ein großartig angelegter Dom begonnen, 
aber auch unvollendet gelaffen, und bis heutigen Tages harrt der Siegesdom 
feiner Ausführung. Zu den Befreiungskriegen find die Tage von 1870—71 
gekommen, das neue deutfche Reich tft erftanden, ausgezeichnete Generale, 
unvergleichlihe Siege, wie fie Feine andere Nation aufzumweifen hat, hat 
Deutfchland zu feiern und zu verherrlihen, und noch immer harrt Berlin 
auf die Vollendung feined Domes, der fo recht eigentlih ein nationales 
Denkmal werden follte, in dem dad Volk all den vielen Helden und den für 
des Vaterlandes Freiheit und Macht Gefallenen ehrende Denkmäler fegen follte. 

Vielleicht ſchafft das neue Reichstagsgebäude Erſatz für diefen Mangel, 
— vielleicht; doch ift beinahe zu befürchten, daß es unferer nüchternen Auf- 
fafjung gemäß nur zu fehr „Geſchäftsgebäude“ werden möge; ift doch 
Ihon die Frage des Platzes für dasfelbe mehr oder minder nad diejem 
Geſichtspunkte zum Nachtheil für den monumentalen Charakter desfelben be- 
handelt worden. 

Hoffen wir daher, daß das neue Reich nicht allein fein Geſchäftshaus 
befomme, jondern auch das fchon fo lang geplante nationale Gotteshaus 
endlich auch feine Vollendung erhalten möge. 

Alfred Blum. 


Sfatiftifhes und Vopographifhes vom Oxuslande. 


Es ift nicht länger als 1", Jahr, feitdem die Expedition gegen Khiwa 
zum Abſchluß gebracht worden, und ſchon verlauten wieder beunruhigende 
Gerüchte aus den Gegenden füdli vom Aralſee. Die wilden turfmenifchen 


02 


Nomaden fehren fich wenig an die ruſſiſchen Verträge und an den Khan vom 
Khiwa, der jest erſt recht nicht im Stande ift, fie in Ordnung zu halten, 
und bald gegen feine fogenannten Unterthanen die Hülfe der Auffen wird in 
Anfprud nehmen müfjen. Diefen aber fann ed nicht gleichgültig fein, ob in 
den Gebieten, die fie dauernd pacificirt zu haben meinten, das alte Unweſen 
fortdauert oder nicht, abgefehen davon, daß ihre natürlichen Grenzen nad) 
dem Stande ihrer Macht eigentlich erft bei den Gebirgen von Choraffan 
liegen. Die ruffiihen Unternehmungen in Zurfeftan haben von jeher den 
Beifall, faft der ganzen gebildeten Welt für fich gehabt. Rußland, mag es 
auch vornehmlich feine territoriale Vergrößerung und Machtitellung in Mittels 
afien dabei im Auge haben, e8wertritt in jenen Gegenden die Intereſſen der 
Civilifation und Menfchlichkeit gegenüber einer barbarifchen Bevölferung und 
dient den Wifjenfchaften, die e8 für feine Zwecke gebraudt. Nur England 
vermag fich diefer Auffaffung nicht anzuſchließen und hütet mit mißtrauifchen 
Bliden die Grenzen von Afgbaniftan, wie fie durch die Verhandlungen vom 
Winter 1872/73, die der jetige neue Botfchafter, Graf Schumalow, jo ge 
ſchickt leitete, feftgefegt worden find. 

Diesmal find es die räuberifhen Nomaden vom Stamm Tekke, dem 
wildeften und gefährlichften im ganzen fürlichen Turan, gegen die vielleicht 
eine neue Expedition oder Rekognoscirung im größeren Maßftabe nöthig 
wird. Ihr Uebermuth wird von Tage zu Tage größer, da die Ohnmacht 
des Khans am Tage ift, und der Czar, denken fie, ift weit. Sie fenden ihre 
Horden in Stärke von mehreren hundert Mann bi unter die Mauern von 
Khima und plündern ohne Rückſicht auf die Nähe der ruffifhen often die 
friedlichen und anfäfigen Stämme der Amu-MNiederung. Nach den jüngiten 
Nachrichten fcheint es fogar, ald ob fie vor einem bewaffneten Webertritt auf 
das rechte Ufer nicht zurücicheuten, woraus hervorgeht, dag dad Preftige der 
ruffifhen Waffen bei ihnen doch nicht fo groß fit, als es nach der lehten, 
fo brillant gelungenen Expedition zu erwarten wäre, Rußland aber darf ſich 
diefen Barbaren gegenüber auch nicht das Geringfte gefallen laſſen und ſich 
nie mit einem halben Erfolge begnügen, wenn es fein Anfehen nicht aufs 
äußerfte gefährden will. Unter diefen Umftänden lenken wir die Aufmerkſam— 
feit unferer Lefer von neuem auf jenes Wüftenland und zwar auf den noch 
am mindeften durchforſchten Theil desfelben, das Gebiet zwiſchen Amu-Darja 
und Kaspifee, indem wir, was über die Topographie und Statiftif dieſer 
Gegenden befannt geworden ift, in der Kürze mittheilen. 

Die Tekke ſchweifen füdlih vom Aralſee und der Dafe Khiwa bis zu 
den Abhängen des Elburs und den Grenzen des Emirs von Herat, die fie 
fih bei ihren häufigen Raubzügen zu überfehreiten nicht ſcheuen. Sie find 
Sunniten, wie alle turfmenifchen Stämme, und als ſolche gefchmorene Feinde 


503 


der fchitttifehen Perjer, denen fie auf alle MWeife Abbruch zu thun fuchen, 
Sie rauben Menfchen und Vieh an der Grenze und fchleppen jene ald Sklaven 
fort, um fie gelegentlih zu verfaufen. Früher waren Buchara und Khiwa 
ihre Hauptabfaspläße, wo erft die Teste Erpedition dem Menſchenhandel ein 
Ende aemaht hat. Beſonders aber haben die jchiitifchen Pilger von ihnen 
zu leiden, die zu dem Grabe des Imam Riſa, eines Schülerd des Ali, nad 
Meſchhed wallfahren, und die Karawanenitraße von Redeſcht über Mijamid 
nach Mejchhed ift fet3 von auflauernden Tekfehorden umlagert. Südöſtlich 
dehnen fie ihre Raubzüge fogar bis Afterabad aud und fpotten des perfifchen 
Statthalters, der für den Kopf jedes getödteten Turfmenen einen Preis zahlt. 
Hier. fand die ruffifche mwifjenjchaftliche Erpidttion nach Khorafjan, melde 
unter Chanykow im März 1858 eintraf, die Einwohner in höchſter Angit 
vor den räuberifchen Banden, die bis unter die Mauern der Stadt fchweiften. 

Die Tekke zerfallen nach perfifchen Nachrichten in zwei Stämme: Tekke 
Aachalniſchin und Tekke Gumniſchin. Die Lesteren haben feine feiten Weide. 
pläße, fondern ziehen in der Wüſte umber, indem fie den Brunnen nachgehen, 
die fie beliebig wieder verlaffen, und führen ein rechtes, wildes NRäuberleben. 
Die Aachalniſchin find zwar auch größtentheild Nomaden, doch haben fie 
einige fefte Anfiedlungen an Wafjerpläten und ihre beftimmten Sommer» 
und Winterweiden. Sie bauen etwas Gerfte, Weizen, MWafler- und Zuder- 
melonen und ein wenig Neid. Ihre Stuten find vorzüglid. Auch verar— 
beiten fie Schafmolle zu Teppichen u. dgl., die fie verfaufen. Zur Sicherung 
ihrer Niederlaffungen haben fie ſich kleine, vwieredige Lehmfeitungen angelegt, 
um melde herum fie ihre Fifchzelte (Kibitken) aufftellen und in die fie fi 
beim Herannahen eine? Feindes flüchten. Uns liegen perfifche ſtatiſtiſche 
Angaben aus dem Jahre 1855 vor, nach melden die ſämmtlichen Tekke da- 
mals auf ungefähr 10,700 Zelte gefhäst wurden, doch kann diefe Schätung 
höchſtens für die Aachalniſchin einige Genauigkeit beanspruchen, welche den 
Verfern am nächſten wohnen und von diefen zu ihren Unterthanen gerechnet 
werden. *) 

Meftlich von den Tekfe wohnen die ihnen ftammverwandten Jomud und 
Golan: jene an der Dftküfte des Fafpifchen Meeres, von der Mündung des 
Fluſſes Atrek nördlich bis zum Abfall des Ueſt-Urt⸗Plateaus zwifchen Aral 
und Kaspiſee; diefe etwas füdöftlih an dem Flüßchen Gurgan und an der 
perfifchen Grenze. Sie find der Zahl nah am ſchwächſten, größtentheils feſt 
angefiedelt und haben an die Perſer ihre Selöftitändigfeit verloren, denen fie 
ein jährliches Maliat d. i. Abgabe von 6000 Toman (perfiichen Dufaten) 
entrichten müfjen. Die Jomud find theils freie Nomaden und ziehen als 


*) Angaben in Tageöblättern, nach denen fich die Zahl der Tekke auf ca. 500,000 Köpfe 
belaufen foll, find entweder verdruckt oder viel zu boch gegriffen. — 


504 


folde in der Steppe zwifchen dem Atrek und dem großen Balchangebirge um- 
her, theils find fie im Atrefthal anfäffig und treiben Aderbau, Viehzucht und 
Fiſcherei. Ste befahren da8 Meer in großen gedeckten Böten, die bisweilen 
drei Maften führen, und holen Hol, Salz und Naphtha von der Inſel 
Tſcheloken im Kaspiſee. Im Winter machen fie am Atret Jagd auf Waſſer— 
vögel, die hier enorm zahlreich find, und verkaufen deren Häute und Federn 
an Kaufleute aus Aſtrachan. Die oben angeführte Quelle ſchätzt fie auf 
9210 Hütten mit angeblich nur 22,180 Köpfen, was in feinem rechten Ber: 
hältniß zu ftehen fcheint. Die Golan »- Turfmenen merden auf 2550 Haus— 
haltungen angegeben. 

Sollte wirklich eine Erpedition gegen die Teffe nöthig werden, mie «8 
nad dem oben Angeführten den Anfchein hat, fo fragt es fih, von meldher 
Seite man am beften den unbequemen Gäften beikommen könnte. E38 handelt 
fich Hierbei darum, die Feinde In ihrem Lager aufzufuchen und ihre feften 
Punkte zu befegen, die ihnen zur Zuflucht dienen und zur Eriftenz unent- 
behrlih find. Mahrfcheinlich wird mar, wie ed auch bei der Expedition 
gegen Khiwa geſchah, die Sache von zwei Seiten zugleich in Angriff nehmen. 
Auf der einen Seite ift e8 die Amu-Linie, welche die Nordoft- Flanke des 
Feindes bildet. Diefe wird um fo fefter fein, je weiter die Dampfſchifffahrt 
auf dem Amu-Darja aufwärts geht, und je aufrichtigere Gefinnungen, wenn 
au nur nothgedrungen, der Khan gegen Rußland hegt. Oberſt Stftolatow 
ift mit dem Parowöky umgekehrt bei einem Punkte, etwas oberhalb des 
Forts Petro -Alerandromaf, wo die Stromfchnellen beginnen und fidh der 
Diherma von dem Amu abzweigt. Do find jene nicht fo reißend, daß 
thnen nicht mit gefteigerter Dampfkraft zu begegnen wäre, und bietet das 
Fahrwaſſer überall die nöthige Tiefe, die fogar meiter aufwärts zunimmt, fo 
dag man mit Hülfe Fundiger Lootſen leicht bis zur Höhe von Khima und 
noch meiter gelangen kann. Aber bier lagert fich in breiter Ausdehnung die 
Wüſte Kharafan vor, die bis jetzt noch durch Feine Expedition befchritten ift 
und möglichermeife mehr Schwierigkeiten bietet, als die berüchtigte Kyfyl-Kum. 
Hat man die Dafe von Khima oder die Niederung des Amu-Darja hinter 
fih, fo fteigt der Boden zufehende an und führt der Weg gen Südweſten 
mehrere hundert Werft durch eine Sandfteppe mit eintöniger Hügelformatton, 
wo noch feine Brunnenftationen befannt find. Und doch find Iettere das 
erite und nöthigite Erfordernig bei der Bewegung irgend einer XQruppen- 
abtheilung. Soweit man die Steppe Eennt, ift fie nicht fo arm an Vegetation, 
ald man vermuthen follte, und bietet den Nomaden einige, wenn auch nur 
fpärliche Weidegründe. Hier wählt das Gras nicht, wie wir und mohl 
denken, zu ganzen Wiefenflächen zufammen, fondern findet fih nur in einzelnen 
großen Büfcheln, etwa 3 bis 4 auf einem Quadrat» Faden (Safjchehn 


505 


a 7 engl. Fuß), und wiegen etwa 20 bis 30 folcher Büfchel zufammen ein 
Pud (16% Klgr.). Die Sandhügel find theils regellos vertheilt, theils ziehen 
fie fi in Ketten von Oft nad Weit, durhfchnittlih 15 bis 20 Fuß hoch 
mit biöweilen fteilem Anſtieg. Wird man Gefhüse duch den tiefen Sand 
über die Hügelfetten fortfchaffen können? 

Ein bequemerer Zugang zu den Teffingen-Neftern bietet ſich, mie es 
jheint, von Weften, von den Ufern des kaspiſchen Meered, wo die Ruſſen 
bereit8 in den Jahren 1869/70 einige fefte Punkte eingenommen haben. Hier 
it die Entfernung nicht fo groß und der Weg befannter. Der eine jener 
Bunte ift Kradnomodsf, gegenüber der Stadt Baku, in einem Winkel einer 
tiefeingefchnittenen Bucht, die nad dem Balchan-Gebirge den Namen trägt; 
der andere Tichikifchlär an der Mündung des Atreffluffe® im Gebiete der 
Somud. Der nordmeftliche Winkel der Balchanbucht Heißt die Krasnowodsker 
Bucht und bietet einen vortrefflichen Hafen, der im Weſten durch eine ſchmale 
Randzunge, im Süden durch die vorgelagerte Inſel Tſchelaken geſchützt if. 
Der Eingang ift nur 21, Meile breit und hat, wie die ganze Bucht, eine 
Tiefe von durchfchnittlih 26 bis 28 Fuß, ift alfo für große Schiffe zugänglich. 
Diefe außerordentlich günftige Rage erregte anfangs die Erwartung, als fei 
Krasnowodsk dazu beftimmt, ein großes Handeldemporium zu werden, das 
den Verkehr von den Faufafifchen Ländern und den Küſten des ſchwarzen 
Meeres nad Mittelafien hin auf direftem Wege vermittelt. Bis jett ift aber 
dazu Feine Ausfiht, und es fragt fi, ob Krasnowodsk jemald mehr als eine 
ruffifche Feftung werden wird. Die Gegend ringd umher ift öde und jeder 
Begetation bar, Süßmwafferquellen fehlen ganz und gar, und nur dur An. 
legung artefifcher Brunnen wird e8 möglich fein, brauchbares Waſſer für 
Menihen, Bieh und Kulturpflanzen zu ſchaffen. Die Zukunft der ganzen 
Anlage hängt jomit mehr oder weniger vom Erdbohrer ab. 

Bon Krasnowodsk aus gingen die erften ruffifhen Erpeditionen zur 
Erforfhung jenes räthfelhaften Erdfpaltes, der fih, von den Eingeborenen 
Usboi d. t. niedrige (Ebene genannt, von dem innerften Winkel der Balchan— 
Bucht im Allgemeinen nordöftlich bi8 zum Aralſee hinzteht, und in dem man 
nunmehr das alte Bett ded AmusDarja oder Oxus erkannt hat, welcher 
früher mit einem Seitenarm in den Kaspifee mündete. Durch die Rekognos— 
eirungen der Dberften Stebnitzki und Markofoff in den Jahren 1870—72 tft 
die Linie des Usboi bis auf eine Strede von etwa 200 Werft in der Mitte 
befannt geworden. An diefer Stelle bildet das alte Flußbett einen großen, 
nad Norden offenen Bogen, welchen Oberft Markofoff dur Einhaltung der 
geraden Richtung abſchnitt. So gelangte er im Jahre 1871 zu einem Punkte 
des Usboi, Decktſcha genannt, der noch etwa 180 Werft in gerader Linie von 


Khiwa entfernt ift. Hier fanden fich mehrere Süßwaſſerſeen in * trockenen 
Grenzboten IV. 1874. 


506 


Flußbett, das eine Breite von 150 Faden hat. Turkmenen, die bier ihre 
Meidegründe haben, fagten aus, daß das Land von hier bi Khiwa Hin 
ziemlich wafjerreich fei und zwar nicht dur Quellen und Brunnen, jondern 
durch Kanäle aus dem Amu. Hierauf ſchien auch die bei Dedtfcha fich reicher 
entwicelnde Vegetation hinzudeuten: man fand an den Uferböfhungen Laub— 
bäume von 3 bid 4 Faden Höhe und 6 bid 8 Zoll im Durchmeſſer. Auch 
fol diefe Dertlichfeit von den die Dafe Khiwa bemohnenden Nomaden häufig 
befucht fein. Da nun die Rekognosecirung des Oberften Glukhowski, die 
diefer im Jahre 1873 gleich nach der Eroberung von Khima vom unteren 
AUmu-Darja aus unternahm, zu demjelben Punkte, aber von entgegengefeßter 
Richtung gelangte, wobei man die Angaben der Turfmenen Hinfichtlih der 
Bemwäfjerungsverhältnifie beftätigt fand, fo dürfte von Dedticha aus die Ver— 
bindung auch nad Oſten ala gefichert anzufehen fein, und diefer Punkt durch 
Anlegung eined Forts oder einer Milttärftation, wozu er fih zu eignen 
ſcheint, bald eine bebeutende Wichtigkeit erlangen. Ueberhaupt ijt die Linie 
des Usboi ald die geeignetfte Operationsbafi3 gegen Süden hin, wo bie 
Tekkingen-Feſten Tiegen, zu betrachten. Sie ift verhältnigmäßig ziemlich reich 
an Brunnen und Kleinen Seen, deren Waſſer zwar meift von bitterlihem und 
falzigem Geſchmack ift, aber doch braudbar zum Kochen und Trinken. Der 
Weg führt theild in, theild neben dem alten Flußbett entlang und ift, vor- 
ausfichtlih auch in dem noch nicht bekannten Theile, ziemlich praftifabel, da 
er der Richtung einer vielbetretenen KRaramanenftraße folgt, die von Khiwa 
nad den Meidepläten der Jomud an der Atrefmündung führt. 

Auch in das Herz ded Teffe-Gebietes felbft find die Ruſſen bereit® von 
diefer Seite her eingedrungen. Zuerſt Oberft Stebnitzki, welcher im Dezember 
1870 feine erfte Rekognoscirung in füdöftlicher Richtung theils zur Erforfhung 
des Oxuslaufes, theild gegen die Teffe-Turfmenen unternahm. Bon dem 
füdlichften Punfte des Usboi ausgehend, verfolgte er die angegebene Richtung 
am Nordoftabhange eine® Gebirge entlang, das unter dem Namen Kjurjan- 
Dagh eine Fortfegung des Balchan zu bilden foheint, bis zu der Hauptfeite 
der Tekke, Kyfyl-Arwat. Er begegnete auf diefer ganzen ungefähr 180 Werft 
mefjenden Strede etwa 10 Brunnenftationen mit ziemlich brauchbarem Waffer, 
außerdem aber zahlreichen Begräbnißftätten und Aulen (Zeltdörfern) des 
Tekfeftammes; auch ſah er viele kurze Flußläufe, die in nordöftlicher Richtung 
aus dem Kijurjan-Dagh hervorfamen. Noch weiter drang Oberft Markofoff 
im Herbft 1872 vor. Seine Unternehmung, die bedeutendfte, die von der 
Seite des Faspifchen Meered her von den Ruffen unternommen wurde, und 
deren Reſultate vielleicht erft jet ihre volle Wichtigkeit erlangen werden, be— 
wegte fih von zwei Punkten nad) demfelben Ziele hin. Man hatte nämlich 
inzwiſchen die Strede von Krasnowodsk bis zur Atrefmündung, 250 Werft, 


507 


durchforſcht und an dem Punkte Tſchikiſchlär eine Militärftation errichtet. 
Mir können nad den vorliegenden Nachrichten nicht beurtheilen, in wie weit 
diefer Weg für größere Truppenbewegungen praftifabel ift_und ob er fich zu 
einer Verbindung zwifchen Krasnowodsk und Tſchikiſchlär eignet. Er enthielt 
etwa 20 Brunnen mit theils falzigem, theils brafigem (etwas falzigem) Waſſer 
und war auf der rechten öftlichen Seite von einzelnen dünenartigen Sand- 
bügeln begleitet. | 

Bon Tſchikiſchlär aus zog die eine Kolonne unter perfönlicher Führung 
Markoſoff's in nordöftlicher Richtung, die oben erwähnte Karamanenftraße 
benußend, nach dem Usboi, wo ein Punkt zum Rendezvous beitimmt war. 
Die andere Abtheilung, bei der fich Oberft Stebnigft und der befannte Heidel- 
berger Geolog Dr. Sievers befanden, war in gerader öftlicher Richtung von 
Krasnowodsk aus zu demfelben Punkte gelangt. Won hier aus bewegte fi 
das vereinigte Erpeditiongcorp8 den Usboi aufwärts, wurde aber an einem 
Süßwaſſerſee, wo fie ſich gelagert hatten, von einer Horde Tekkenzen ange 
griffen, welche ihnen die Kameele mwegzutreiben verfuchten. Allein die Räuber 
wurden mit Berluft und Hinterlaffung von Gefangenen zurüdgetrieben. Bald 
darauf erfehienen Abgefandte der Tekke, welche um Entfhuldigung wegen des 
Ueberfalld und um Auslieferung der Gefangenen baten. Unter den Ent- 
ſchuldigungsgründen zeichnete fi) namentlich einer durch feine Originalität 
aus: fie hätten, fagten fie, die ruffifhen Truppen für nicht beſſer als die 
perfifhen gehalten. Die Gefangenen wurden ihnen ausgeliefert, da fie nur 
eine Laſt waren, aber zur Bedingung gemacht, daß fie binnen 3 Tagen 
300 Stüf gute Kameele liefern follten, widrigenfalld fie ſtrenge Ahndung 
treffen würde. Was zu erwarten war, gejhah: die Kameele trafen nicht 
ein. So beſchloß denn Oberſt Markoſoff, den Weitermarfh nad Oſten ein- 
zuftellen und eine Rechtsſchwenkung zu machen, um die Nefter der Tekke auf: 
zufuchen. 

Wir enthalten und der weiteren Bejchreibung des ziemlich 140 Werft 
mefjenden Weges durch die Sandfteppe, deren Natur mir im Anfange ſchon 
berührt haben. Der Marfch war befonders dadurch ſchwierig, daß man gleich 
zuerft auf einer Strede von 93 Werft fein Wafjer fand, Kyfyl-Arwat, das 
man endlih nach vielen Mühjfeligfeiten erreichte, Tiegt etwa 490 Fuß über 
dem Niveau des Faäpifchen Meered, 3 Werft vom Fuße des Kjerjan-Dagh 
entfernt, und bildet die nord-mweftliche Spite einer Reihe von ungefähr 60 Be- 
feftigungen, welche die Teffe an dem Abhange des genannten Gebirged zum 
Schuß ihrer Aule angelegt haben. Die Feſtung hat eine quadratifhe Form 
und beiteht aus Lehmmauern, die etwa 80 Faden lang und 16 Fuß hoch 
find. Innerhalb derfelben erhebt fich eine Gitadelle mit etwas höheren Mauern 
und Thürmen an den Eden und Thoren. Naht fih ein Feind, fo ziehen 


508 


fich die Bewohner der umliegenden Aule mit aller ihrer transportablen Habe 
fchleunigft in die Feftung zurüd und warten hier die Belagerung ab. Als 
die Ruſſen anlangten, war jedoch Kyſyl-Arwat bereitö geräumt und auch die 
Gitadelle ftand Teer. Oberſt Markofoff zog nun mit feinem Corps in füd- 
öftliher Richtung die Befeftigungslinie der Tekke entlang und paffitte die 
Teftungen Kodfh, Sau, Kyfyl- Tihefhlt, Diehengi, die er gleichfalls ſchon 
geräumt fand, während bei den beiden letzten Punkten, die er erreichte, Bami 
und Beurma, 62 Werft von Kyfyl-Arwat, die Turkmenen nicht Zeit gefunden 
hatten, ihre Kibitfen in Sicherheit zu bringen. Die Gegend an den Abhängen 
des Gebirged mar ziemlich gut angebaut und durch zahlreiche Kleine Bäche 
bewäfjert. Bei Kyfyl-Arwat war ein ſolcher Bach aus feinem urjprünglichen 
Bette abgeleitet und vermittelft Eünftliher Gräben dur die umliegenden 
Felder geführt, wo Weizen und Dſchuwan, eine Art Hirfe, auch etwas Baum- 
wolle gebaut wurde. An den Bachufern waren Pappeln gepflanzt und bier 
und da Wafjermühlen angelegt, die, mit alten Weiden umgeben, einen freund» 
lihen und faſt gemüthlichen Anblick gewährten. Die feſten Anftedlungen der 
Tekke erſtrecken fich angeblich in einer Ausdehnung von 400 Werft am Ge- 
birge entlang und enthalten außer Kyfyl-Arwat noch eine Stadt oder nam— 
baftere Ortſchaft, Aſchabad mit Namen. Doch befinden fi auch am obern 
Atref und am Gurgan Niederlaffungen der Tekfe und zwar vom Stamme 
Aachalniſchin, die jedoch Oberſt Markofoff auf feiner Rekognoseirung nicht 
berührt hat. Er wandte fih, nachdem er feinen Zweck, die Räuber einzu» 
ſchüchtern erreicht hatte, den Kierjan-Dagh in einem langen, ſchluchtähnlichen 
Thale durhfchreitend, in gerader Richtung nach dem Atrek zu, in defjen Thale 
fortziehend, er die Weiden der befreundeten Jomud und Tſchikiſchlär erreichte. 
Diejen flößte der Zug gegen die Tekke die höchſte Achtung ein. Sie hatten 
vor dem Audzuge de Oberſten benfelben wohlmeinend gewarnt, ſich nicht 
mit ihren Stammverwandten am Kjerjan-Dagh einzulafjen, vor deren Tapfer- 
feit und MWildheit fie den größten Nefpekt hatten. — 

9 Schmolke. 


Der Prozeh Arnim, 
Berlin, 20. Dezember 1874. 
Nahdem in der Anklage gegen Graf Harry Arnim die öffentlichen 
Gerihtöverhandlungen am 15. Dezember beendet waren, ift geftern Nachmittag 
das Urtheil verfündet worden. Um diefem Prozeß fein Recht widerfahren zu 
laffen, müßte man eine umfaffende Studie geben, welche in drei Haupttheile 
zu zerlegen wäre. Gin Theil müßte die veröffentlichten Aktenſtücke und ihre 


509 


politifche Bedeutung behandeln ; ein zweiter Theil die Vorgänge der öffent: 
lichen Verhandlungen; ein dritter Theil den Urtheilsfprug. Am erften Tag 
nah dem Schluß des Prozeſſes ift es begreiflichermeife nicht möglich, diefe 
Studie vorzulegen. Ich beſchränke mich heute auf einige Bemerkungen über 
den Eindruf der Verhandlungen. Der erfte Eindrudf, den wir in Bezug 
auf den Gefammtverlauf der Verhandlungen conftatiren müfjen, ift der wenig 
erfreuliche, daB der Anklageprozeß bei und bereitö mit eilenden Schritten auf 
dem Wege der Entartung fich befindet. Zum erften Mal trat ein deutfches 
Bericht aus einem Eleinen’Kreife der Aufmerffamkeit vor die Augen der Welt. 
Alles war dazu angethan, die Betheiligten zur Wahrung der höchſten Würde 
und zur lauteften Hingabe an den Ernft der Sache aufzufordern. Was follen 
wir nun fagen zu diefen unaufhörlichen rüden perfönlichen Angriffen der Ver: 
theidiger auf den Staatdanwalt? Als der Anklageprozeß bei und eingeführt 
wurde, da wiederholte man und immerfort: der Vertheidiger ift Fein Rechts— 
verdreher, Staatsanwalt und BVertheidiger find nicht etwa natürliche Gegner, 
fondern befreundet in dem höchften Beitreben der Wahrheit und des Rechte; 
nur ift zur Sicherung dieſes Beſtrebens die Aufmerkfamkeit des Vertheidigerg 
auf die Momente der Unfchuld, wie die des Anklägers auf diejenigen der 
Schuld gerihtet. So belehrte man und. Wo war nun von diefer Einheit 
des Beſtrebens bei diefem ganzen Prozeß noch eine Spur zu entdeden? Mir 
glaubten uns nicht felten in Amerika, auf dem Boden der völligen Entartung 
des Strafprogefjed. Die Angriffe der Vertheidigung verſchonten nicht einmal 
das Gericht felbft. Wir glauben aber, fo darf vor einem fich felbit adhtenden 
Volke niemald im Gerichtäfaal geſprochen werden. Mo folche Beſchwerden 
in der Ueberzeugung der Vertheidiger gegründet find, da muß durch fachliche 
Führung der Verhandlungen dad Material vervollftändigt, und dann bie 
Klage auf Mißbrauch der Amtöverwaltung erhoben werden. Die Empfindung 
ded Herrn Präfidenten war wohl immer die richtige. Aber wir können un- 
fere Berwunderung nicht bergen, die ärgften Ausfchreitungen als „unparlamen- 
tariſch“ bezeichnet zu finden. Die Gebräuche der Parlamente find andere, 
müffen ganz andere fein als die der Gerichte und der fämmtlichen Vertreter 
des Rechts bei der öffentlichen Ausführung ihres Berufs. Auf die Würde 
des Gerichts iſt zu vermweifen, die weit firengere Anforderungen ftellen muß, 
als der parlamentartfche Brauch. 

Das unerfreuliche Thema, welches und hier gegeben worden, läßt fi 
leider fo bald nicht erfchöpfen. Daß ber durch feine würdige Perfönlichkeit, 
wie durch feine hohe Stellung gleich ausgezeichnete Stantäfefretär des deutfchen 
Auswärtigen Amtes infultirt wurde, Fonnte und bei diefer Art der Ber: 
theidigung nicht Wunder nehmen. Aber in das höchſte Erjtaunen wurden 
wir verfeßt, daß ein Vertheidiger einen Zeugen zweimal des Meineids bes 


510 


zihtigen durfte, ohne den mindejten fachlichen Grund anzugeben. Sind das 
die Rechte der Vertheidigung? Dann find mir ja wohl nächſtens in Amerika, 
wo jeder ehrenhafte Menfh um jeden Preis die Berührung mit den Gerichten 
meldet, um nicht unter der burlesken Impertinenz der Warteivertreter zu 
leiden; wo er fich lieber mit den Verbrechern abfindet, um nur nicht in Be 
rührung zu fommen mit den Advokaten. 

Nach der formellen Haltung der Verhandlungen fallen wir zunädit 
einige allgemeine materielle Momente der Bertheidigung ind Auge. Da mir 
die Berührung mit der Aufgabe des Nichterd meiden, Taffen wir die Frage 
nad dem Verhältniß zu dem beftehenden Recht bei Seite. Es Fommen aber 
in jedem Prozeß, und in diefem ganz befonders, zahlreiche Dinge vor, welde 
nit nach juriftifchen, fondern nad den Begriffen des Lebens und der herr: 
ſchenden Eultur zu beurtheilen find, oder auch nad den technifchen Begriffen 
anderer Berufe. Der erfte Vertheidiger war e8, der mit einem folchen Kreis 
von Begriffen fih ganz befonderd zu thun machte, nämlich mit der Technik 
des diplomatifchen Dienfted. Er that es mit einer Selbftäufriedenheit und 
einer zur Schau getragenen Veberlegenheit, die einen übermwältigenden Gontraft 
bilden gegen eine Kogif, die an Abraham a Sancta Clara erinnert. Diplo: 
matiſche Aktenftüde find nämlich, fo wurde ausgeführt, feine Rechtsurkun— 
den, weil fie Hiftorifche Urkunden find! Wir bemerken, daß, wenn bieler 
haarfträubende Schluß nicht dem Vertheidiger angehören, fondern der nothge- 
drungen mehr oder minder flüchtigen Verichterftattung zur Laſt fallen follte, es 
doch jedenfall® unbegreiflich bleibt, was die breite Auslaffung über die Hiftorifche 
Urkunde follte, wenn fie nicht etwa ein bloßes Mittel zur felbitgefälligen Aus 
ftellung trivialer Weisheit war. Für die reife der Bildung giebt ed wohl nichts 
Einfacheres ald den Unterſchied diefer beiden Begriffe. Eine hiftorifche Urkunde 
ift jedes fchriftliche und im meiteften Sinn jeded gegenftändliche Erfenntnif- 
mittel für den Gang der Begebenheiten und für den Stand der Gultur in 
einer Epoche. Will man den Begriff der Rechtsurkunde abgrenzen, fo hat 
man nicht nöthig, bi8 an die Außeriten Grenzen des Spradhgebraudd zu 
gehen, bis zu welchen derfelbe die Anmendung des Wortes Urkunde erftredkt. 
Eine Rechtsurkunde tft im engen Sinn das formelle Zeugniß für das Ganze 
oder den Theil eines Rechtsaktes. Wie weit dieſer Begriff im juriſtiſchen 
Sinn ausgedehnt werden muß, darüber gehen die wiſſenſchaftlichen Anfichten 
ja auseinander, und ob Erlaffe und Berichte des diplomatifchen Dienfted 
unter den juriftifchstechnifchen Begriff der Urkunde zu befaffen find, darauf 
wollen wir, den ſelbſtgeſteckten Grenzen gemäß, nicht eingehen. Im Sinne 
des gebildeten Sprachgebrauchs find fie e8 aber, wie wir fogletch nachmeifen 
wollen. Denn menn zur Urkunde im engften Sinn ein Schriftftüd nur 
werden kann durch die Tendenz der Ausfertigung, jo kommt diefer Begrif 


511 


im weiteren Sinn zur Anwendung dur den Gebrauch, den die Nechtäpflege 
von einem Schriftſtück macht. jedes Schriftſtück, das zum Zeugniß einer 
Handlungsmeife geeignet tft, für welche Jemand in ftaatdbürgerlicher oder 
amtlicher Beziehung zur gefelichen Verantwortung gezogen werden Fann, ift 
eine Urkunde, fobald der Gebrauch der Nechtöpflege begonnen hat. Behaupten, 
ein Privatbrief, der bei Gerichtäaften fich befindet, und den Jemand bei 
Seite ſchafft, fei Feine Urkunde, weil die Ranke und Sybel der Zukunft ihn 
ald Eulturdofument benugen fünnen — fo etwas darf man wohl in einem 
Pickwickelub behaupten, aber nicht in einem deutfchen Gerichtsſaal. Die diplo- 
matifchen Aktenftüde find nun aber Urkunden, nod ehe ein beftimmter Ge- 
brauch der Nechtöpflege ihnen gegenüber begonnen hat, weil fie von Anfang 
an für die Möglichkeit dieſes Gebrauchs einer forgfältigen Behandlung unter 
worfen merden. Sie dienen ebenjowohl zur Rechtfertigung des Leiters der 
Politik ald der ausführenden Beamten, für die fie beftimmt find. Der Herr 
Bertheidiger, welcher die Miene annahm, als kenne er den diplomatijchen 
Dienft, wie wenn er Minifter der ausmärtigen Angelegenheiten in drei 
Großſtaaten gewejen wäre, warf tie Frage auf, wozu man die Originale in 
Paris aufheben müfje, wenn die Gopien in Berlin aufbewahrt würden. Nun 
wenn mit den Gopien nach denjelben Grundfägen umgegangen würde, mie 
fie die Verthetdigung für die Originale aufftellt, fo wäre der diplomatifche 
Dienft fchier eine Unmöglichkeit. Sit es aber nicht von Wichtigkeit, den 
Eingang eined Grlafjed zu conftatiren? Können nicht einmal in einem 
folhen auch Abweichungen vom Concept vorfommen, melde die Eile nicht 
erlaubte nachzutragen? Darf ein ſolches Dokument bei Seite gefchafft werden, 
damit nachher die Vertheidigung möglicherweife die Mebereinftimmung der 
Concepte in Zweifel zieht, wie diegmal die NRegiftrirung der geheimen Aften- 
ftüde, troß der pofitiven Ausfagen der Sadjverftändigen, in Zweifel gezogen 
worden ift. Die diplomatifhen Aktenſtücke werden einer forgfälttgen geregel- 
ten Aufbewahrung für den Zweck der gefeglichen Verantwortung der Urheber 
und der Empfänger unterworfen. Das ſchon macht diefe Dokumente zu Ur: 
funden, macht auf alle Fälle die unbefugte Wegführung derfelben zum Dienft- 
vergehen, weil die Sicherheit über den Verbleib diefer Aktenftüde zur Wahrung 
des Staatsgeheimniſſes gehört im Verkehr mit fremden Nationen, gegen bie 
wir auf der Hut find. Außerdem dienen diefe Aktenftüde ja auch zur unent- 
bebrlichen Information der fpäteren gefchäftsführenden Beamten und nicht 
bloß für den Empfänger und im Moment des Empfanged. Freilich fagte 
einer der Herren Vertheidiger: ein Staat, der mie das deutjche Reich für den 
diplomatifchen Dienft nicht einmal eine Regiftraturordnung erlaffe, mie fie 
jedes Gericht befite, der dürfe fich über die unregelmäßige Behandlung der 
diplomatifchen Aktenſtücke nicht beſchweren. MWahrfcheinlich wird derfelbe 


512 


pathetifche Herr Vertheidiger auch behaupten, daß die Heerführer im Kriege 
für die Aufbewahrung der Befehle nicht verantwortlich find, weil für die 
Veldaften Feine Negiftraturordnung eriftirt. In der That muß die Behand- 
lung der Geſandtſchaftsarchive eine verfchiedene fein je nach der Beichaffenheit 
des Aufenthaltes, nah der Möglichkeit der Beichaffung zuverläffigen Perſo— 
nald, des Lokals und taufend ähnlichen Dingen. Die Regierung muß fi 
auf die Verantwortlichkeit, die Wachſamkeit und Gefchielichkeit der verfchie- 
denen Chefs verlafien. Eine einheitliche Regiftraturordnung für Conftantinopel 
und Japan, für Paris und Wafhington wäre eined Minifterd von Schöppen- 
ftedt würdig. Und die Unmöglichkeit gleichartiger Vorſchriften für die For— 
men der Sicherung diefer Aktenſtücke fol die Verantwortlichkeit der Chefs 
aufheben, fol pflihtwidrige Nachläffigkeit rechtfertigen oder gar dolofe Ent- 
fremdung ? 

Die Behauptungen der Bertheidigung, melde nicht zunächft den Be- 
griffen der Jurisprudenz, fondern dem Wahrheitäfinn der allgemeinen Bildung, 
auf deren Boden fie fi bewegten, ind Geſicht fehlugen, find hiermit bei 
weitem nicht erfchöpft. So wurde dem Staatdanwalt infinuirt, er habe die 
mweggenommenen Aktenſtücke ala werthlofe Sachen erklärt, weil er die MWep- 
nahme derfelben zwar auf eine rechtömidrige, aber nicht auf eine gewinnſüch— 
tige Abficht zurückführen wollte. Als ob es nicht Randeöverräther geben 
fönnte, die auß Rache, Eitelkeit, aber nicht au Gewinnſucht handeln. An 
die Logik der epistolae obscurorum virorum gemahnte ed, wenn der Begriff 
des Staatdeigentbumd auf die diplomatijchen Papiere für unanwendbar er- 
flärt wurde, weil das Eigenthbum ein Begriff des Civilrechts, das deutjche 
Neich aber ein Bundesstaat und ohne einheitliches Civilrecht ſei. Wie werden 
die Franzofen bedauern, diefe Deduetion nicht gefannt zu haben! Sie hätten 
fih damit die Zahlung der Milliarden erſpart. Wir aber glauben, daß 
diplomatifche Aktenſtücke Mittel zur Führung der Regierung find, und daß 
das Strafrecht zu allen Zeiten und bei allen Bölfern diefe Mittel fhüst. 
Ein helles Rachen übermannte und in diefer traurigen Angelegenheit, ald mir 
lafen, daß die Natur einem genialen Kopfe niemald eine peinliche Ordnung?- 
liebe verliehen habe, die hinwiederum niemald in Verbindung mit hoben 
geiftigen Gaben angetroffen werde! Hilf Himmel, diefer Vertheidiger ftreicht 
und Goethe, Friedrih den Großen und — mir wollen nicht_fortfahren, meil 
wir ſchwer aufhören könnten — au® der Reihe der genialen Köpfe Es gab 
eine Zeit, wo man Genie und Kiederlichfeit als zufammengehörig anfah. 
Heute weiß jeder nicht oberflächlich gebildete Menſch, daß die Ordnung, ja, 
Herr Bertheidiger, die peinliche Ordnung das unentbehrliche Bedürfnig aller 
[höpferifchen organifirenden Naturen ift auf dem Felde der Wiſſenſchaft, der 
Prarid und der Kunft. Die Bermuthung läßt fi) kaum abmweifen, daß der 


513 


Herr Vertheidiger aus feiner eigenen Methode die Heberzeugung ſchöpft: „dag 
er ganz ficher ein Genie und größer ald der Bismard if.“ So fordert er 
im Namen der Unordnung mit feinem lienten dad Jahrhundert in die 
Schranken. 

Doch es ift Zeit, daß wir und von den Grundfäßen, welche die Ver- 
theidigung aufftellte, zu dem Verhältnig des Angeklagten wenden. Der An: 
geflagte war der rechtämidrigen Aneignung der Aftenftüde befehuldigt, die er 
dem Archiv der deutfchen Botſchaft zu Paris entnommen. Die Richtigkeit 
der Anklage vorausgefegt, fo würde jene dolofe Handlung den Angeklagten 
zu vier dolofen Behauptungen geführt haben. 1) Zu der dolofen Behauptung, 
einen Theil der meggenommenen Aktenſtücke für fein Privateigenthum ge 
halten zu haben; 2) zu der dolofen Behauptung, den Verbleib eines Theiles 
der mweggenommenen Aktenftüde nicht gefannt zu haben; 3) zu der dolofen 
Behauptung, einige der weggenommenen Aktenftüde zufällig wiedergefunden 
zu haben; 4) zu der dolofen Behauptung, einige der weggenommenen Akten— 
ftüde aus Zartheit für feine Nachfolger entführt zu haben, in der Abfiht, fie 
dem Auswärtigen Amt zuzuftellen. Auf dem Angeflagten ruht aber außerdem 
noch der Verdacht einer zmweifachen dolofen Abfiht, wenn diefelbe au in 
Folge des Anklageprozefjes felbft nicht zur Ausführung hat kommen Fönnen. 
Der Verdacht nämlich, die rechtswidrig entnommenen Aftenftüde haben be 
nugen zu wollen, erftend um die Stellung feine® Chefs zu untergraben und 
äweitend um diefe Stellung zu untergraben ohne Rüdficht —2 den Schaden 
des Vaterlandes. 

Die Vertheidigung hat, wie ihres Amtes war, beides unternommen: 
die Entkräftung des ſubjeetiven als des objectiven Momentes der Beſchul—⸗ 
digung. Um das objective Moment zu entkräften, iſt ausgeführt worden, 
dag diplomatifche Driginalerlaffe, ſowie die Concepte geſandtſchaftlicher Be— 
richte weder Urkunden noh Sachen feien, und daß ed feinen Eigenthümer 
folder Schriftftüdte gebe. Demnach fcheint e8, daß die Direftiven und Befehle 
der michtigften Staatähandlungen zum beliebigen Gebrauche Jedermanns find, 
in defien Hände fie fallen. Die Verthetdigung hat ſich indeß herbeigelafjen, 
eine bidciplinarifche Aufficht über die Behandlung der Aftenftüde des ver- 
traulichen diplomatifchen Verkehrs einzuräumen. Nur hat der eine Verthei— 
diger diefed Zugeftändniß infofern wieder zurückgenommen, ald er dem Mangel 
einer gefandtfchaftlichen Negiftraturordnung eine alle Verantwortung auf- 
hebende Bedeutung beigelegt hat. Das deutfche Reich wird fi) demnach be 
danfen müffen, wenn feine diplomatifchen Schriftſtücke nicht einfach auf die 
Straße geworfen worden find. Die Vertheidigung hat fih dann aud darauf 
eingelaffen, daß äußere Umftände eine fehr ungleiche Aufbewahrung gejandt- 


ſchaftlicher Aktenftüde erfordern können. Das ift gemiß 0: * hier 
Grenzboten IV. 1874. 


514 


fommt eben Alles auf den Nachweis der veranlafjienden Umftände und der 
pflichtmäßigen Abfiht an. Wenn ein Gerichtögebäude in Brand geräth, jo 
tritt ebenfalld eine den Umftänden angepaßte Dispoſition ein, troß der 
Regiftraturordnung. Wer wird aber aus ſolchen Ausnahmefällen eine Befug- 
niß zur beliebigen Dispoſition für den Vorftand rechtfertigen wollen? 


Wir fommen zu den Mitteln der VBertheidigung, um das fubjective 
Moment der Befhuldigung zu entkräften. Der Vertheidigung zufolge Hat 
der Angeklagte Erlaffe voll von wichtigſten Direktiven der großen Politik in 
gutem Glauben für fein Privateigenthum gehalten — denn er hat fie mit 
puerilen Randbemerfungen verfehen. — Ein Eaffifcher Beweis! Schreibt Einer 
nicht fo etwas auch im Merger, ohne fogleih an die Folgen zu denken, oder 
in der Meinung, die wenigen Worte wieder vertilgen zu fönnen. Oder kann 
nicht auch Einer fo jehreiben, gerade meil er den Dolus der Entfernung be- 
reitd in fih trägt? Die Vertheidigung hat ald weiteren Beweis ded guten 
Glauben? angeführt, dag die erwähnten Erlafje doch immerhin nicht bloß 
allgemeine Direktiven, fondern auch perfönliche Rügen enthalten, und daß 
eine Rüge dazu da fei, damit fie Einer fich einſtecke! Grröthe, deutjche Wiſ— 
ſenſchaft, erröthe, deutfcher Amtsernſt. 

Die Vertheidigung hat fi des Weiteren damit befchäftigt, den guten 
Glauben ded Angeklagten nachzumeifen, ald er gegen die wiederholte Auffor- 
derung der Vorgefesten zur Herausgabe der weggeführten Aktenſtücke die Un- 
fenntniß des Verbleibes derfelben vorſchützte, die wichtigiten derjelben aber nach- 
ber plögli zu Berlin in einem Schreibtifch gefunden haben wollte Um die 
unerhörte Fahrläfligfeit, die hier doch mindeſtens vorliegen würde, ganz zu 
entfehuldigen, hat die Vertheidigung fich mit dickflüſſiger Sentimentalität wieder 
und wieder auf einen höchft fchmerzlichen Todesfall in der Familie ded Unge- 
klagten bezogen. Darf perfönliher Schmerz, wie groß und tief er fei, zur 
völligen Verſäumniß der dringendften Pflicht führen? War das die Hand- 
lungsweiſe der Römer ala deren Gleichen der eine Vertheidiger die Geſchmack— 
lofigkeit hatte, diefen Angeklagten hinzuftellen? Das deutjhe Volt bewahrt 
im frifehen und ehrfurdhtsvollen Angedenken das erhabene Beifpiel des Königs- 
johned, dem ein Kind entriffen wurde, ald er ind Feld z0g, und der feine 
Stunde ald Heerführer feine Pflicht verfäumte. Und dabei wird diefe Sentt- 
mentalität nicht einmal mit der Aufklärung der Daten fertig, ob jener Trauerfall 
und die unverantwortliche unmifjentlihe Wegführung der Aftenftüde wirklich 
in denfelben Zeitpunkt fallen. Beſäße diefer Angeklagte eine Spur von Vor— 
nehmbeit, jo hätte er diefe Art der Entjehuldigung im Zorn von ſich weg— 
meifen müfjen. Iſt aber erwieſen, daß hier wirklich nur eine wodurd immer 
herbeigeführte Nachläffigkeit vorlag? Wenn der Angeklagte das Wiſſen um 


515 


den Verbleib diejer Aktenjtücde leugnete, fo kann er es wohl gethan haben 
in der Buverfiht, man merde fich immerdar fcheuen, auf gerichtlihem Wege 
dem Verbleib nachzuforſchen, um den Inhalt der Aktenſtücke nicht an die 
Deffentlichkeit zu ziehen. Daß indeß bier nur ein Verſehen obgemaltet, hat 
die Vertheidigung theild aud der Größe des Koffer deduzirt, worin die Akten— 
ftücke fchlteßlich gefunden wurden — ein Argument, deſſen Gewicht wir nicht 
verfennen, — theil® daraus, daß neben den wichtigen Aktenſtücken fich folche 
von gleihgültigem Inhalt fanden. Man kann meinen, e8 ift wohl ein alter 
Kunftgriff, verfänglihen Dingen eine unverfängliche Emballage zu geben. 
Eine große Lücke ift manchmal unverdächtiger als eine Fleine, fie bietet wenig» 
ftend meift eine beflere Ausrede. Wenn bloß das fehlt, worauf ed ankommt, 
fo tft die Abficht ſchwer zu verbergen. 

Es fommt wohl felten vor, daß das Urtheil eines Gerichtähofed auch 
nur überwiegend die Ausführungen der BVertheidigung abſpiegelt. Der Fall 
ift auch bier nicht eingetreten. Das Urtheil lautet freilprechend bis auf einen 
Theil der Anfchuldigung, auf den die Anklage jedenfalld nicht dad Hauptge- 
wicht gelegt, und mit welchem die Vertheidigung fi Faum befchäftigt hatte. Der 
Angeklagte ift verurtheilt wegen derjenigen Aftenftüde, welche er bereit? vor 
dem Beginn der Unterfuhung zurüdgeftellt hatte. ‚Er tft nur des Vergehens 
gegen die öffentliche Ordnung für übermwiefen erachtet, und die entfprechende 
geringe Strafe ihm dafür zuerfannt worden. 

Sn der allgemeinen großen Bewegung, welche der Prozeß hervorgeru- 
fen, wird auch das Urtheil der erften Inſtanz lange nachklingen und die viel 
feitigfte Erörterung erfahren. Wenn es gelegen jcheint und nüglich, fo werben 
wir und noch damit bejchäftigen. M—t—s. 


Dom deitfhen Reichstag. 


Berlin, den 20. Dezember 1874. 


Wir übergehen die Situngen vom 14. und 15. Dezember, deren Arbeit 
die Fortſetzung der Haushaltsberathung nebft einigen technifchen Gefeßent- 
würfen war. Giebt auch die Berathung des Haushalts und namentlich die- 
jenige der Heeredaudgaben immerfort Anlaß zur Berührung wichtiger Fragen, 
fo können doch unfere Berichte fich nicht die Aufgabe ftellen, Urfprung und 
Tragmeite aller diefer mehr oder minder oberflächlich berührten, aber natürlich 
faft niemals entfchiedenen Fragen bei ſolcher Gelegenheit zu erläutern. 


516 


In der Sitzung vom 16, Dezember fland der Bericht in der Gejchäfte- 
ordnungdcommiffion über den Antrag Lasker zur Berathung, welcher die 
Prüfung verlangt hatte, ob nad Artikel 31 der Reichsverfaſſung während 
der Seffion ein Reihstagsmitglied zur Strafhaft eingezogen werden könne. 
Wie man fich erinnert, hatte dieſes Schikjal den Abgeordneten Majunfe be- 
troffen. Die Geſchäftsordnungscommiſſion hatte fich jedoch über feinen An- 
trag einigen Eönnen, obwohl in ihrem Schooß zahlreiche Anträge aufgetaucht 
waren. Nicht viel ander ging ed dem Reichätag. In demfelben gab es 
einen Antrag: über die Strafvollftrefung gegen Reichetagämitglieder, die in 
ihrer Thätigkeit begriffen, exft bei der Strafprozeßordnung Beftimmungen 
zu treffen. Andere Anträge wollten ohne Weitereö Herrn Majunfe reflamiren, 
andere wollten eine Abänderung der Neichöverfaffung einleiten. Der Reichs- 
tag nahm fehließlich, nachdem alle Anträge gefallen, eine von Hoverbeck vor 
geichlagene Refolution an: die Würde des Reichstags erfordere eine Abänderung 
ded Artikel 31 in dem Sinn, dag Fein Mitglied ded Neichdtagd während der 
Seſſion ohne Erlaubnig des Reichsſstags verhaftet werden dürfe. Die Eleine 
Majorität für diefe Nefolution beftand aus den Klerifalen, aus der Fort- 
ſchrittspartei und Lasker, mit deffen engeren Freunden. Um folgenden Tage 
war der Reichsſstag voll von dem ungünftigen Eindrud, welchen der geftrige 
Beſchluß auf den Reichskanzler gemacht hatte. Man erfuhr das Demiffions: 
geſuch desſelben. Sovtel mir willen, ift Herr Majunfe wegen feiner Angriffe 
auf die Reichsregierung verurtheilt, und es ift für den Leiter derfelben eine 
eigenthümliche Lage, wenn er fi im Reichstag im Elerifalen Stil von feinem 
DBeleidiger apoftrophiren Laffen fol, der für die Beleidigung tm Gefängniß 
figen follte. Ein ſolches Privilegium der Reichstagsmitglieder ift in der Ver- 
fafjung nicht begründet und an ſich eine Abgefchmadtheit. Vergebens hatten 
die Abgeordneten Schwarze und Gneift vor der Beanſpruchung folder Privi- 
legien gewarnt. Die demokratiſche Doctrin verlangt diefelben im Intereſſe 
der Schmähung der Staatögewalt. Bon demokratifcher Seite glaubte man 
wigig zu fein mit der Bemerkung, es würden ja nicht lauter Verbrecher in 
den Reichstag gewählt werden. Der kluge Windthorft fagte, e8 würden doch 
nur höchſtens politifche Verbrecher gewählt werden. Die Wahrheit ift, 
wenn die Seffion von der Strafvollftredung befreit, fo werden die Eleri« 
Tale und die focialdemofratijche Partei, die zufammen über eine große Zahl 
von Wahlkreifen verfügen, regelmäßig ihre Verurtheilten in den Reichstag 
jenden. 

Es ift immer ein Unglüf, wenn Lasker, auf deſſen fleißige und ehrliche 
Information fih ein Theil der nationalliberalen Partei blindlings verläßt, 
feinerfeits ohne Vorbereitung fi auf feine Geiftesgegenwart verläßt. Diefe 
Gabe befist er nicht, die freilich einem Führer zumellen unentbehrlich ift. 


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Der Gehalt der angeregten Frage ift höchſt unbedeutend. Ahr Auf: 
treten entjpringt lediglih der noch unreifen Bildung vieler unferer fonft 
patriotifchen Kreife. Man hat in früheren Berfaffungsbildungen ſolche Pri— 
vilegien audgefonnen, um die Qandeävertreter vor hifandfen Unterbrechungen 
ihrer Thätigkeit zu fihern. Was mürde heute eine Negierung mit ſolchen 
Chikanen ausrichten? Sie würde fi nur felbft verwunden. Dagegen ift es 
eine unerträgliche Stellung für die Juſtiz, vor der Souveränität eines Wahl- 
freifed inne zu halten, der einen Verurtheilten zu erkiefen für gut findet. 
Am unerträglichften aber ift es für den Reichstag, entweder verurtheilte 
Verbrecher in feiner Mitte zu dulden, oder aber über die Straffälle nochmals 
zu Gericht zu fiten, um bald einmal die Zuftimmung der Strafvollitredung 
zu gewähren, bald zu verfagen. Der Neichätag ift nicht in der Rage, ein 
Syftem in diefe Berfagungen und Genehmigungen zu bringen und noch ment» 
ger ein ſolches Syftem, dem eine fachliche Rechtfertigung zur Seite ftehen 
fönnte. Er fönnte mit diefem Privileg, wenn er es befäße, nur fich felbft 
verwunden, und ed zu erjtreben, da er es nicht beſitzt, follte fein einfichtiger 
Freund der parlamentarifchen Inſtitution dem Reichstag anrathen. 


Der Unmwille des Reichskanzlers erfcheint namentlich durch die taftlofe 
Form der Reſolution erflärlih. Man follte denken, der Reichdtag fühle feine 
Würde dur die Anweſenheit eined Verurtheilten, wie Herr Majunfe beein» 
trächtigt. Statt deſſen wird erflärt, wenigſtens implicite, die Anweſenheit 
diefe8 wegen Beleidigung der Reichsregierung Verurtheilten fet für die Würde 
des Reichstags erforderlih. Die Sache iſt ſtark, wie man fie auch menden 
möge, und jemehr die Stellung ded Reichskanzlers dahin geführt hat, daß 
ihm eine zuverläffige Majorität im Reichdtage nothwendig iſt, defto ſchlimmer 
ift e8, wenn fich zeigt, daß bei der unmwahrfcheinlichiten Gelegenheit ein Theil 
diefer Majorität dur unüberwindliche Reſte demofratifcher Doctrinen ab- 
gefprengt wird. Es mar dennoch nicht zu glauben, daß wegen einer immerhin 
ſehr ftarfen Taktlofigkeit, die aber doch nur einem Theil der ihm befreundeten 
Partei zur Laſt fällt, der Kanzler von feiner unermeßlichen Aufgabe gerade 
jet zurücktreten würde. 


In der Sitzung vom 17. Dezember mußte die Abftimmung über Hover- 
beck's Refolution wiederholt werden, weil fie am Vortage nicht gedrudt vor: 
gelegen. Es ift jehr zu bedauern, daß eine namentliche Abftimmung aus 
formellen Gründen nicht für zuläffig erachtet wurde und vielleicht nicht dafür 
erachtet werden Eonnte. Die Nefolution erhielt wiederum die Majorität, aber 
eine ſolche, zu deren Feititellung e8 der Gegenprobe bedurfte. Die nament- 
lihe Abflimmung wäre im hohen Grade erwünſcht gewefen, ſowohl für die 


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fichere Feſtſtellung der Majorität, als aud für die zuverläffige Kenntniß der 
Freunde der Refolution. 


Die Berathung über einen Eerikalen Antrag aus dem Eljaß, das neue 
deutiche Unterrichtägefes in den Reichslanden wieder aufzuheben, können mir 
getroft übergehen. Diefe Art von Debatten find Redeturniere, mit einer 
regelmäßigen Motion habitueller Keidenfchaften verbunden, aber jahlid ganz 
werthlod. Daß der Antrag dur Tagesordnung befeitigt wurde, verjtand 
fih von felbit, wenn wir nad) der viertägigen Erfahrung jo fagen dürfen. 
Diedmal zerfprengte fein Zufall, ‚fein doctrinäres Phantom die Majorität bei 
der Erfüllung ihre Pflicht. 

Um 17. Dezember fand noch eine Ubendfisung ftatt, in melder ein 
Gefegentwurf angenommen wurde und gleich durch die beiden erften Leſungen 
gebracht, welcher das die Ertheilung neuer Banknotenprivilegien verbietende 
Geſetz vom 27. März 1870, deffen Geltung mit diefem Jahr erlifcht, um ein 
Jahr verlängert. Außerdem trifft das neue Geſetz Vorkehr, daß die deutfchen 
Banken, welche ſämmtlich verpflichtet find, vom 1. Januar 1876 ab nur nod 
Noten auszugeben, die auf 100 M. oder ein vielfaches dieſes Betrages lauten, 
mit der Einziehung der Eleinen Noten zur rechten Zeit, und in angemeffener 
Weiſe vorgehen. 


Am 18. Dezember verfuchte bei der dritten Berathung des Reichshaus— 
halt Herr MWindthorft, die Verweigerung der geheimen Ausgaben ded Aus- 
wärtigen Amtes herbeizuführen. Der ſchlaue Herr rechnete darauf, daß der 
am 16. Dezember durch Annahme der Hoverbed’fchen Refolution bezüglich der 
Verhaftung des Herrn Majunfe fozufagen entftandene. Conflikt dur Ver— 
weigerung der geheimen Ausgaben angemeffen erweitert werden könne. Der 
gute Rechner nahm die Verweigerung geheimer Ausgaben durch die Fortjhrittd- 
partei als fihern Poften in fein Facit auf. Herr v. Bennigfen war ed, der 
in einer fehr glücklichen Rede die Windthorftfhe Rechnung „aufmachte.“ Er 
forderte den Reichätag auf, die Gelegenheit zu benugen, um dem Reichskanzler 
vielmehr ein Vertrauendvotum zu geben. Herr v. Kardorff beantragte nar 
mentliche Abftimmung, und die Debatte wurde gefchloffen. Herr Windthorft 
begriff nun vollfommen den Fehler, den er begangen. Er nahm dad Wort 
zur perfönlichen Bemerkung und fuchte ärgerlich, fich heraus zu manövriren. 
Bergeblih, die geheimen Ausgaben mwurden von 199 gegen 71 Stimmen 
namentlich bewilligt. Die Fortfchrittöpartei hatte alfo dem Kanzler ein 
Bertrauendvotum gegeben! Wer hätte das je gedacht? Die Herren mochten 
ſich fagen, daß fie den Kanzler ftürzen Fönnten, denn felbft in der Fortſchritts— 
partei fonnte man nicht zweifeln, daß der Kanzler mit dem Rüdtritt Ernft 
mahen werde. ber die Herren berechneten Gewinn und Berluft, und 


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ſchlugen ten Verfuft für den Augenblick doch höher an. Das macht ihrer 
Einfiht immerhin Ehre. Das Bertrauendvotum kommt ihnen aber doch 
nachträglich fauer an. Es tft doch zu wenig fortjchrittlih. Die Partei läßt 
daher nachträglich erklären, fie habe Fein Vertrauensvotum geben wollen, 
fondern die geheimen Ausgaben des Auswärtigen Amtes feien nach ihrer 
„Tradition“ ein überall nothmwendiger Poſten. Wir wollen diefe „Tradition“ 
einer Hiftorifchen Kritik nicht unterziehen. Genug, daß die Fortfchrittäpartei 
fi) gegen das Vertrauendvotum für den Reichskanzler verwahrt. Man follte 
faft denken, die Herren glauben die Zeit nicht Jo fern, wo ihnen die Gefchäfte 
zufallen, und machen darum den Anfang mit der Anerkennung gouvernemen- 
taler Traditionen. 


Uns ift bei diefen Aeußerungen fehr wenig fcherzhaft zu Muthe. Welches 
ift unfere Rage? Der Kanzler hatte am 16. Dezember fein Demiſſionsgeſuch 
eingereicht, der Katfer aber e8 nicht angenommen. Nachdem der Reichätag 
die Gelegenheit raſch benugt hat, den Eindruck des Votums vom 16. Dezember 
audzulöfhen, hat der Kanzler zunähft äußerlich feinen Grund, auf feiner 
Demiffion zu beharren. Alle Welt aber fagt fi, daß er Grund haben muß, 
mit feiner Stellung nicht zufrieden zu fein, und zerbriht ſich über diefen 
Grund den Kopf. Wir mwiffen nicht mehr als alle Welt, aber eine Ver- 
muthung liegt nahe genug, und wenn man recht überlegt, eigentlih nur 
diefe Eine. Es ift fein Geheimniß, daß eine Partei, die in die hödhften 
Kreife dringt, unermüdlich) daran arbeitet, die Ueberzeugung zu befeftigen, daß 
der vom Kanzler geführte Kampf mit Rom ebenfo unnöthig ald gefährlich 
fei. Man bietet einen Frieden an, der äußerlich das Anfehen des Staates 
nicht beeinträchtigen würde. Fürſt Bismarck aber, der, wie die nun ver» 
Öffentlichten geheimen Dokumente beweifen, fo eifrig den Frieden mit Frank: 
reih will, kann den Frieden mit Rom nicht wollen, weil er Rom nicht ala 
friegführende Macht anerkennt, oder vielmehr, weil Fein Staat, am wenigſten 
aber das deutfche Reich, Rom diefe Anerkennung gewähren darf. Der Fürft 
verlangt von Rom nicht den Frieden auf irgend welche Bedingungen, die 
eined Tages umgeftoßen werden können und vom erjten Tage an nicht ge- 
halten werden, fondern er verlangt, nit von Nom, mohl aber von jedem 
deutfhen Katholiken die Unterwerfung unter dad Staatägefet. Wer 
will ermefien, wie dem Fürften Bismarck die Behauptung diefer einzig correften 
und fruchtbaren Poſition erſchwert werden mag. Leicht möglich, daß er fie 
nur behaupten fann durch die Meberzeugung, daß der Reichstag ihm unwankend 
folgt. Wird diefe Ueberzeugung durch eine Abjtimmung, wie die vom 16. Dez, 
widerlegt, jo kann es wohl kommen, daß die Kraft des Fürften den Kampf 
gegen geheime und offne Gegner zugleich nicht fortfegen will, 


— 
— —— 


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- 5 — 


Viele, die ihm ſeine Pfade erſchweren, namentlich unter den links ge | 


richteten Parteien, rechnen vermuthlih im Stillen, daß ihre eignen Pfeile von 


dem Panzer der Unentbehrlichfeit de3 Fürften abprallen. Wenn aber der | 


Fürft für Deutfchlands wahre und gefunde Entwidlung unentbehrlich iſt, fo 


© 


ift er e8 nicht in dem Sinne, daß ohne ihn Feine äußere Regierungsmöglichkeit 
beftände. in neuer Kanzler, der Friede mit Rom machte, könnte ih aud 


dem Gentrum und einigen Clementen der jett beftehenden confervatiwen 
Parteien eine ausreichende, vielleicht eine ftattlihe Majorität bilden, und, maß 
jehr ind Gewicht fällt, eine weit zuverläffigere Majorität als diejenige, welche 
dem Fürften Bismarck zu Gebote fteht. Wer diefen Gang der Dinge ber 
fördern will, der mag es auf feine Verantwortung thun. Die Ausrede, nicht 
gewußt zu haben, was er that, wird aber Niemanden ſchützen. 


Um 18. December beſchloß der Reichstag in einer Abendfisung endgültig 


über das interimiſtiſche Banknotengeſetz und berieth den Haushalt der ums; 


mittelbaren Reichölande zu Ende. Sehr ſpaßhaft war dad Cintreten bei 


Gentrums für eine Qandesvertretung in Eljaß-Rothringen, während die Herren 
zu Gunſten Medlenburgs die gleiche Anftrengung abgelehnt hatten, was ber 
Abgeordnete Franz Dunder mit gutem Humor bervorhob. 

Am 19. Dezember wurde über den Haushalt der Reichslande —— 
beſchloſſen und das Werk des Reichstages für dieſes Jahr beendigt. Am 
7. Januar 1875 tritt er wieder zuſammen. Er unterbricht ſeine Thätigkeit 
nach angeſtrengter und fruchtbarer Arbeit in einer ſehr merkwürdigen Lage 
des Reiches. In einer Lage, die fo glänzend iſt an Erfolgen der Vergangen— 
heit und an Verheißungen der Zufunft, die vielfach bereits Geftalt gewonnen 


haben, wie noch feine, die aber auch, wenn mir nicht irren, ungewöhnlich . 
bedrohlich if. Die Ulten fagten: es ift noch meit vom Becher bis zur Rippe, 


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