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Full text of "Theologische Studien aus Württemberg"

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aus Württemberg. 


Unter Mitwirkung 


von 


Hoffaplan Dr. ph. Braun in Stuttgart, 
Diafonus Haring, Profeſſor Dr. ph. Nud. Kittel in Stuttgart, 
Diakonus Anapp in Tuttlingen, Profeſſor Dr. ph. Lie, th. Nejtle in Ulm 


herausgegeben 


von 


Fheodor Hermann, Dirconns Lie. th. Panl Zeller, Diatonus 


in Schwenningen, in Mlaiblingen. | 


VI. Jahrgang 1885. — 4. Heft. 





Ludwigsburg. 
Ad. Heubert’sche Vuchhundlung (J. Jigner). 
1885. 


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Digitized by Google 


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— 


Fheologiſche Sahhn 
aus Würktemberg. 


Unter Mikwirkung 


von 
Hofkaplan Dr. ph. Braun in Stuttgart, 
Diakonus Häring, Profeſſor Dr. ph. Rud. Kittel in Stuttgart, 


Diakonus Knapp in Tuttlingen, Profeſſor Dr. ph. Lie. th. Neſtle in Ulm 


herausgegeben 


von 


Lie. th. Paul Seller, Diatonus 
in Muiblingen, 


Theodor Hermann, Diaconus 


in Sehboenningen, 


VI. Jahrgang 1885. 





Ludwigsburg. 
Ad. Heubert’sche Buchhandlung (J. Aigner). 
1885. 


Buchdruckerei von Greiner & Ungeheuer in Ludwigsburg. 








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2 ⸗ 4 IE FL 


7 7 4 ei fr} £ 7 7 * 


Inhalt: 


Braun, Luthers Thin . > 2 2 2 nn nenne 48 
Haug, Darftellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen 


Theologie. (Fortfeßung) » » > 2 2.2. 1 





— U 106 
Köftlin, Begriff des geiftlihen Amts . u. 
— " F e ortießung). . . 165 
— r z n „ Schluß). - » . 243 
Moja ur alttejtamentlichen Lehre von der Sünden 


ae 13 
Neitle, Kleinigkeiten 75 


Dfiander, Zu Römer 5, 7. 12—14.. 


Rauſcher, Des Separatiften G. Rapp Leben unb Treiben 253 
Sandberger, Die reformatorifche Bedeutung Willifs . 10 
Schneider, Die Kirhenvifitation von 1551 und 1558 

in Stadt und Amt Stuttgart. . . . . . 814 


Weiß, Die neuere Wendung der Wiffenfchaft und Die 
Theolonie. I. 81 


— U....... ..... 209 









— — — — 5 ·⸗7 ee 





Barftellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen 
Cheologie. 
Von Pfarrer Hang in Strümpfelbad. 


—— Ze N 


(Fortjegung.) 

5. Die Bolgerungen der Ritſchl'ſchen Nechtfertigungslehre: 
Die religiöfen Funktionen der Berföhnten und die 
religiöfe Ordnung des fittlihen Handelns im Ein- 

zelnen und in der Gemeinjdaft. 

Auh in der einftigen Fortdauer des geiftigen Lebens in 
einem entjprechenden Körper werden wir als einzelne Glieder uns 
dem Umfreis der Welt niemals entziehen fünnen. Im empirischen 
Sinn behauptet der Menſch nie die Herrfchaft über die Welt, fo: 
fern er den natürlichen Gejegen unterworfen ijt; aber im geiftigen 
Selbitgefühl, dem übermeltlichen Gott nahe, madt er den An— 
ſpruch, ungeachtet der Todeserfahrung zu leben. Und in der Ber: 
jöhnung mit Gott übt der Chrift auch über alle übeln Erfahrungen 
in der Melt die Herrſchaft; zu dieſer Herrſchaft gehört aber aud) 
die Förderung der finnlihen Seite des Lebens. Weltver— 
neinung war nie Sade des Chriften, nur des orientalifchen 
Möndtums. Die urhriftliche Erwartung des baldigen Weltendes 
rechnen mir zur Schale, nicht zum Kern; feiner pofitiven chriſt— 
lichen Aufgabe darf das präjudiziven. 3, 565. 

Die chriftliche Weltanschauung fennt feine Kollifion zwi: 
ihen Religion und (Natur) Wiffenfhaft, außer wenn 
engere Natur: oder Geiltesgefege für Weltgeſetze ausgegeben wer: 
ven. Die teleologifche, mwunderhafte Art der Weltbetrachtung ift 
dem freilich unerträglich, der fih auf mechanische Weltanſchauung 
beſchränkt, allein felbft die wiffenfchaftlihe Betrachtung fommt nicht 
aus ohne den Gedanten des Zwecks und ohne Annahme des 

Zbeol. Stubien.a. W. VI. Jahrg. 1 
— 





2 Haug 


Wunder. Sn jeder philofophifchen oder naturmifjenichaftlichen 
Theorie vom Weltall werden Wunder, d. h. nicht gejeßlich ver: 
mittelte Wirkungen angenommen. Ohne den Zweckbegriff kann 
das Ganze der Natur nie erklärt werden; der Gedanke der wir: 
fenden Urfachen ift Vorausſetzung unfere® Denkens. Die teleo: 
logifhe und wunderhafte Weltanfhauung ift alfo 
nichts weniger als unvernünftig. Die religiöfe Welt— 
herrſchaft ift, wiewohl ideell, doch nicht unwirklich; der Wille ift 
das Reale, das ebenjo ideell als real ift. Die Vernünftigfeit des 
Vorjehungsglaubens wird von Strauß beftritten mit Benützung 
des eigentümlichen Werts der geiftigen Verfönlichkeit; aber indem 
er die Erhabenheit des Menfchen über die Welt neben feiner Ver- 
flehtung in diefelbe nicht will gelten laſſen, hat er wider feine 
Abficht für jene Zeugnis abgelegt. Die Pantheiften, welche alle 
geiftige Individualität nur ala vorübergehende Erjcheinung der 
Meltfeele betrachten, find trotzdem fehr ſtark auf ihre perfönliche 
Ehre bedacht, — ein Ausdrud ihres geiftigen Wertes. — Der 
Glaube an die göttliche Vorfehung ift nicht fomohl eine objektiv 
vollitändige Erkenntnis, fondern eine Stimmung. Die der Natur 
gegenüber zuverjichtlihe, dem Menſchen gegenüber anfpruchslofe 
Stimmung ift Sade chriſtlicher Bildung. Biel Unflarheit 
verfchuldet aber die orthodore Theologie, indem fie den Verſöhn— 
ungsglauben zur natürlihen Religion rechnet; infolge deſſen hat 
der theologiſche Naturalismus die pofitive Offenbarung weggewor— 
fen und haben die Naturforfcher den völligen Unmert des teleo- 
logiſchen Arguments behauptet. Natürlich kann aber eine Welt- 
betrachtung voll Zuverfiht auf Gott nur Ertrag der hriftlichen 
Religion fein (3, 570 ff.). 

Meil aber auch dem Chriften die Mege Gottes noch 
unerforfhlid find, beobachtet er — in geradem Gegenja zur 
vorchriftlihen Anfchauung — die Vorficht, daß er den Heilsmwillen 
Gottes in den menſchlichen Gefchiden Schwer durchſchaut, am wenig— 
jten duch Gebet und Ratgeben Einfluß auf Gottes Fügungen 
üben will. Aber auch in nadhträglicher Beurteilung der Ereigniffe 
hütet fich der Chrift vor egoiftifcher Nechthaberei; mer weiß fich 
auch jo frei von eigener Schuld, um von fi aus zu entſcheiden, 
wo nad Gottes Urteil reines Recht oder Unrecht ift? In Der 


Darjtelung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen Theologie. 3 


Geduld und Demut nun beiteht die Vorficht, welche Gottes Vor— 
fehung entfpricht, da3 religiöſe Zartgefühl aus chriftlicher 
Selbitbeurteilung. Die Stimmung, in der die Uebel des Lebens 
unter göttlicher Vorfehung fubjumirt werden, ift die Geduld, die 
Haltung des Gemüts, dur) melde auch dauernden Uebeln der 
Stachel entzogen wird. Dieſe fittlich freie Ueberwindung des 
Schmerzes ift etwas anderes ala Apathie, ftoifche Empfindungs- 
lofigfeit. Wenn aus der neuteftamentlichen Empfehlung der Freude 
im Leiden (vgl. 2, 350.) auf eine manierirte Freudigkeit geſchloſſen 
wurde, jo jteht dem gegenüber das direkte Zugeftändnis Hebr. 12,11. 
fowie das Beijpiel von Sefus und Paulus. Die Geduld fol 
fih auch bewähren, indem man nicht die Predigt von einem zor- 
nigen Gott für unentbehrlich hält; durch eine folche würde nichts 
gebefjert. Ergebene Geduld erwirbt man nicht im Stillefigen und 
unthätiger Meditation, jondern durch berufsmäßige Arbeit, als 
ein Glied chriftliher Vollkommenheit; beide aber bethätigen die 
felbftändige Freiheit. Schmwieriger ift es oft im öffentlichen Leben 
in allem geduldig Gottes Fügung zu erkennen; nicht blos römifche 
Katholiten verwechjeln oft chriftliche mit politiicher Weberzeugung, 
fondern auch Evangeliſche wollen oft die Firhlihe Pflege des 
Chriftentums in ihr politifches Programm aufnehmen. Es find 
aber nicht die beiten Chriften, die mit Gottes Namen im öffent: 
lichen Leben hegen, ftatt Geduld zu lehren und zu üben (3, 580 ff.). 
— Die Demut ift nach biblifcher Vorftellung die religiöfe Nie- 
drigfeit in Verbindung mit unverdientem Leiden. In Jeſu Rede 
Matth. 11, 29. bezeichnet der Zuſatz rn xapdıa und in 5, 3. das 
nroxoı Tw nveuuer: die Zuftimmung der frommen Gejinnung 
zur niebrigen Lebenslage, desgl. Röm. 12, 16. Die innere Selbit- 
erniedrigung vor Gott (im Schuldgefühl) mit der Bitte um Ber: 
gebung brüdt die Parabel vom Zöllner aus Luc. 18, 14. Sofern 
alfo die Demut die fonzentrierte Anerkennung der Abhängigkeit von 
Gott ift, wird fie die ſubjektive Religion felbit fein, wo— 
neben ergänzend die Geduld die religiöfe Stimmung als Herrfchaft 
über die mwiderftrebende Welt ift. Die Geduld muß fich bei Mangel 
an Erfolg, die Demut bei der Fülle des Erfolgs erproben. Die 
Demut hat feine notwendige Erjcheinung an asketiſchen Kultus- 
formen, da ſolche willkürliche Erfindungen bes Gottesdienſtes 
1* 


4 Haug 


gewöhnlich vielmehr den Stempel des Hochmuts tragen, wie im 
Mönchtum. Der Kalvinismus und der Pietismus haben übrigens 
ähnlide Mipdeutungen der Demut hervorgerufen, indem 
fie die äfthetifhe Bildung und die gefellige Erholung als unrein 
verbächtigten; und doch ift für Die Demut feine fpezififche Erfchein- 
ung möglich oder notwendig (3, 587 ff.). 

Im nächſten Zufammenhang mit dem PVorfehungdglauben 
und der Verſöhnung durch Chriftus fteht das Gebet; diefes, oder 
was ihm gleich gilt das Opfer entipringt dem Entſchluß, die Ab— 
hängigfeit von Gott anzuerkennen. Hebr. 13, 15. bezeichnet es 
treffend ala Opfer des Lobes, als Frucht der Lippen, Die 
wortloje Andaht und das Gefühl der Demut erheben ſich zum 
Gebet, damit 1) diefe religiöfen Funktionen von vielen gemeinfam 
geübt werden, 2) der einzelne in Verföhnungsglauben und Demut 
befejtigt werde. Schleiermacher ſchränkt das Gebet auf das Bitten 
ein, iſt aber nicht in Einklang mit der biblifhen neocevx,,, denn 
bier überwiegt die Anerkennung Gottes in Dank und Ergebung. 
Verwandt ift feine Bevorzugung des Bittgebets mit dem pietiftt- 
chen Intereſſe für Gebetserhörung; dazu wirft der deutſche Sprad)- 
gebrauch und der Vorgang Jeſu in den Bitten des Muſtergebets 
dahin, daß im Tirchlichen Unterricht da8 Dankgebet immer erjt in 
zweiter Linie genannt wird. Aber dem fteht gegenüber die Be- 
tonung des Danfes in Phil. 4, 6. und 1 Theſſ. 5, 16—18. Das 
Danfen ijt die dem Bitten übergeordnete Anerkennung Gottes, 
die allgemeine Form des Betens, das Bitten nur Mo— 
dififation des Dankgebets. Der Chrijt freut ſich allemege, 
auch in Not, auch wenn MWünfche fi regen. In der Gewißheit 
des Friedens mit Gott dankt Paulus allezeit, und bittet nur indem 
er dankt. Näher angejehen find auch im Baterunfer alle 
Bitten dem Dank untergeordnet, der den Inhalt der Anrede bildet; 
jelbjt die vierte Bitte ift Ausdrud des Dankes an Gott, der ja 
die Bedürfniffe zu gewähren bereit ift. Aber das Muftergebet im 
Namen Jeſu foll auch die Verheißungen der Erhörung einfchränfen, 
welche Jeſus Matth. 7, 7—11. ausſpricht; denn dieſe find kaum 
eine definitive Anweiſung an die Gemeinde, ſondern vorläufige 
Ermunterung für einen weiteren Kreis. Wir haben ja zum Vor— 
aus die Gewißheit der göttlichen Fürſorge im ganzen. Daß nicht 


Darftellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen Theologie. 5 


jedes Bittgebet berechtigt ijt, bewährt Jeſus durch eignes Beifpiel 
Marci 14, 36. Als Danfgebet, als Beruhigung in Gottes Willen 
iitt das Gebet Ausdrud und Mittel der Demut und Geduld, und 
dauert fo ohne Unterlaß auch in mortlofer Stimmung fort (3, 595 ff.). 

Die Conf. Aug. XXVI. 49 bezeugt, daß Vorfehungsglaube 
und Gebet, Demut und berufsmäßiges Handeln Erſcheinungen 
der hriftliden Vollfommenheit find. Im Neuen Teita: 
ment bezeichnet Jeſus Matth. 5, 48. die Feindesliebe, Paulus 
aber eine bejondere Stufe fittlihen Charakters ala Stufe der Voll: 
fommenen, zu denen er ſich rechnet. 1 Kor. 2, 6. Phil. 3, 15. 
vgl. Hebr. 5, 14. Jak. 3,2. Die Reformatoren machen mit ihrer 
Lehre von Bolllommenheit eine Zumutung an alle Chriften, fie 
gehen von der Linie der Apoftel zurüd auf Die Forderung 
Sefu, welhe das &Kriftlide Leben überhaupt von der 
Unvolllommenheit anderer Religionen unterjcheivet. Die Freude 
im Mechjel aller Lebenszuftände ift dem Chriften ein Gefühl der 
Vollkommenheit. Diefer qualitativen VBollfommenheit widerfpricht 
aber nicht die quantitative Mangelhaftigfeit. Der Glaube, der da 
bittet: Herr, hilf meinem Unglauben! ift in feiner Art volllommen. 
Mas aber die guten Werke betrifft, fo ſoll man nad gewöhnlicher 
Forderung ja von diejen abfehen, um fein Heil auf Glauben zu 
gründen ; andererjeits um im Glauben gewiß zu werben, ſoll man 
doch an den guten Werfen erfennen, daß man unter Wirkung der 
Gnade jtehe. Demnach ift doch die ftete Vergegenwärtigung ber 
Unvollfommenbheit guter Werke eine Hemmung in Löfung der fitt- 
lihen Aufgabe. Die Möglichkeit der Bolllommenheit muß in 
Ausficht ſtehen; fofern nun die Seligfeit im Chriftenleben in Aus: 
fiht genommen wird, ift dadurch auch die Ausführbarfeit der 
Vollkommenheit zugeftanden. Zwar bleibt die endlofe Reihe 
pflichtmäßiger Handlungen allzeit unerfüllt, auch abgejehen von 
der thatſächlichen Fortentwidlung der Sünde; aber die Beftimm: 
ung zur perjönlihen Volllommenheit muß doch aufrecht erhalten 
werden; das religiös-fittliche Leben kann doch ala ein Ganzes ſich 
darjtelen. Die riftlihe Vollkommenheit entfpricht dem allgemei- 
nen Zwed, ein fittlihes Lebenswert und einen fittlichen 
und religiöfen Charakter darzuftellen. Dies ftellen die neu: 
teftamentlihen Hauptjchriften ala Aufgabe, nicht Die einzelnen guten 





ET BER U RR mn nenn 


6 Haug 


Werke: Jak. 1,4. 1 Petri 1, 17. Hebr. 6,10. 1 Thefl. 5, 13. 
Gal. 6, 4. 1 Kor. 3, 13—15. Deshalb ift die Forderung der 
Vollkommenheit mit dem Bemwußtfein habitueller Sündhaftigfeit fo 
auszugleichen, daß man nad) dem guten Endzweck in Gedanken 
itrebe, man ſei als Glied der chriftlichen Gemeinde für die Sünde 
überhaupt nicht mehr vorhanden; dies ift auch der Sinn jeber 
rechtſchaffenen Reue. (Unterr. in der hriftl, Rel. S. 44—46.) Die 
methodiftifchen Behauptungen aber von Vollkommenheit der 
Heiligung verkürzen den fittlihen Charakter neben dem religiöfen, 
und leiten dazu an, daß man fi den Ausdrud eigener Unfünd- 
lichkeit durch allerlei Einfchräntungen des fittlichen Zartgefühls 
verſchaffe. — Die ſittliche Charakterbildung zielt auf das ewige 
Leben ab; die Gemwißheit der Unzerjtörbarfeit des geiftigen 
Daſeins fnüpft fi an den Wert des religiös-fittlichen Charakters. 
Die Geltung einer Perfon im Gottesreih hängt nah Paulus von 
der Vollkommenheit ihres Lebenswerfes ab; in der Vorſtellung 
vom Lohn ausgedrüdt ift der Gedanke doch verſchieden vom Ver— 
dienen der Seligfeit dur gute Werke; vielmehr im Erzeugen des 
guten Lebenswerkes (Gal. 6, 7. 8.) wird man felig in der That 
(3, 600 bis Schluß). 

Zum Schluß der Darftellung bleiben uns, da die religiöfen 
und fittlihen Funktionen im Einzelnen bisher befprochen 
find, und da die fittlihen Funktionen in der Gemeinſchaft, 
Ehe und Familie, Reht und Staat ꝛc. nad Ritſchl's Er— 
örterung nichts Bemerfenswertes bieten, zur Betradhtung nur 
noch übrig die religiöfen Funktionen in der Gemein— 
haft und deren Vollendung im Jenſeits. Auf diefes 
Gebiet geht Ritfhl in feinem Hauptwerk nicht mehr näher ein, 
wir müffen bier ergänzen aus feinem Unterricht in ber dhrift- 
lichen Religion. Die Gemeinde, welche im fittlihen Handeln 
Subjekt des unfichtbaren Gottesreiches, ift zugleich durch die Ver— 
jöhnung beftimmt, ſich auch in finnenfälligem Gottesdienft 
der Kirche zu verbinden. In der gemeinfamen Gottesverehrung 
ft das Gebet, weil es nicht nur Leiſtung und Bedürfnis des 
einzelnen, als geiftigite Form zu betrachten und erfegt alle mate- 
riellen Opfer. Wie oben gejagt, ift die rechte Art des Gebet die 
lobende und dankende Anerkennung des göttlichen Namens, das 


Darftellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen Theologie. 7 


Bittgebet aber ift nur eine Abart des Dankgebets. Dies erhellt 
auch aus dem richtig verjtandenen Vaterunfer: 3. B. die fünfte 
Bitte drüdt aus, daß wir in der rechten Pflichtübung der Gemeinde 
begriffen find, welche dur Verföhnung mit Gott verbunden ift. 
Uebrigens ift der Tert Luc. 11, 1—3. dem des Matth. 6, 9-13, 
vorzuziehen: die Beifügung bei Matthäus ift nur Erläuterung der 
‚weiten und fünften Bitte — das gemeinfame identifche Gebet ift 
wefentlihes Merfmal der Einheit der Gemeinde nicht 
blos in der Erfcheinung der Kirche, jondern es ftärkt auch die 
Zufammengehörigfeit für die Aufgaben des Gottesreihes. Das 
Bekennen des Namens Gottes ift zugleih das Merkmal, daß alle 
Chrijten PBriefter find. (In der Definition ver Kirche Conf. Aug. 
I, 7. fehlt das Merkmal des identischen Gebets.) Daneben iſt 
dad Belennen Jeſu ala des Chriftus und unferes Herm vor den 
Menfhen das hiftorifche Kennzeichen der Chriften. (Unterr. in 
der chriſtl. Rel. ©. 72—75.) „Unter dem Prädikat feiner Gott- 
heit haben ihm die Chrijten wie Gott dem Bater zu vertrauen 
und Anbetung zu widmen“ (ebd. ©. 22). Für den Beltand der 
Religionsgemeinde ift es aber eben darum aud unumgänglich, 
saß ihre Gebetöthätigfeit durch gemeinfame und öffentlide Erin- 
nerung an ihren Stifter und feine Oottesoffenbarung geregelt 
werde; daher die Kirche ihr Merkmal auch am Wort Gottes 
oder Evangelium hat. Das it der offenbare Gnadenwille Gottes, 
der uns in Chrifto dem Verſöhner zum Reich Gottes und zur 
Freiheit über der Welt beruft; das Wort foll ung nicht blos Er— 
fenntnis, jondern auch Erregung des Gefühls und Willens, Antrieb 
und Maßitab der Gottesverehrung geben. So hat es aud) ala Rede 
von Menſchen feinen Wert ala Gottes Wort (ebendafelbft ©. 76 f.). 

Die Handlungen der Taufe und des Abendmahls wer: 
den, weil von Chrifto angeordnet, von der Pietät der hriftlichen 
Gemeinde aufrecht erhalten, find Befenntnisatte, Cultushand- 
lungen der Gemeinde, außerhalb derfelben wären fie undenk— 
bar und ohne göttlichen fatramentalen Wert; fie find dem gemein- 
ſamen Gebet gleichartig. Das Abendmahl verbürgt durch feinen 
Bezug auf den Opfertod Chrifti die fortvauernde Gnade Gottes 
in Ehrifto, desgleichen die Taufe durch ihren Bezug auf die Offen: 
barung des Vaters durch den Sohn und heiligen Geiſt. Die 





8 Haug 


Mechfelbeziehung zwifchen Handlung der Gemeinde und Gnaden- 
gabe Gottes find im identischen Alt ausgebrüdt. Die Taufe ift 
Aft der Gemeinde, dur den fie die Eintretenden auf die gött- 
liche Offenbarung verpflichtet; das fchließt Neinigung und 
Erfrifhung des geiftigen Lebens in fih, das fymbolifhe Bad 
bedeutet die Aufnahme in den Kreis der Sündenvergebung. In— 
jofern it die Taufe auh Sakrament, meil der Beitand der 
Gemeinde dem neu Aufgenommenen den Segen der chriftlichen 
Offenbarung gewährleifte. So wird Conf. Aug. I 9 ganz richtig 
die Kindertaufe als Weihealt der Gemeinde dargeftellt, der 
vor Gott effektiv ift. Der Grundſatz der Baptiſten dagegen, nur 
geheiligte und mwiedergeborene Verfonen zu taufen, beruht auf ver- 
fehrter Borausfegung, daß einer außerhalb der Gemeinde wirk- 
licher Chrift werden fünne. Das Abendmahl it Akt der Ge- 
meinde ala dankbare Anerkennung vom Wert der Lebensauf— 
opferung Chrifti, ift auh Opfermahl analog dem des alten 
Bundes. Da ferner die Gemeinde mit Gott verföhnt ift, fo ift 
die Handlung zugleih Sakrament: zunächſt verbürgt dem Ein- 
zelnen die Gemeinde die Sündenvergebung, im Grunde aber 
Ehriftus ſelbſt, jofern ja feine Verföhnung ftiftende Handlung 
wiederholt wird. Das Abendmahl hat alſo den praftiichen Wert, 
ſittliches Zartgefühl, Demut, Gottvertrauen, Geduld, Gemein: 
Ichaftsfinn lebendig anzuregen. In diefer Handlung follen nad 
Chriſti Willen alle fich vereinigen,. nicht über ihren Sinn verun- 
einigen und fo darin fich trennen. Unter. ©. 77. 85—87. 
Die Einheit der gottesdienftlichen Gemeinde ift ein jo not= 
wendiges Glied chriftlicher MWeltanfchauung, daß Spaltung der 
Kirche ein ftarfes Hindernis ihrer Überzeugungstraft bildet. Doch 
iſt Dies auch wieder eine Probe für die Bedeutung des Chriften- 
tums als Religion der Menfchheit, ein Beweis, daß es 
alle geiftigen Bildungselemente an fich zieht. Sodann ift doch 
noch Einheit da im ausnahmälofen öffentlichen Gebrauch des Vater— 
unjerd, und in der Abficht auf reines PVerftändnis des Gottes- 
worte. Leider find Taufe und Abendmahl nicht mehr Merfmale 
firchlicher Einheit: das Abendmahl ift faft durchaus partifularifti- 
ches Belenntniözeichen, die Taufe feineswegd im Abend: und 
Morgenland, unter Römifchen und Seftirern alljeits als giltig 


Darjtellung und Beurteilung der Ritihl’ihen Theologie. 9 


anerkannt. Iſt man ſich nun aber in der Teilkirche bewußt, an 
einer höhern Entwicklungsſtufe des Chriſtentums teilzunehmen, ſo 
iſt man deſto mehr verpflichtet, die allgemeinen Aufgaben des 
Chriſtentums zu löſen. Die gottesdienſtliche Gemeinſchaft wird 
zugleich Schule, indem ſie ihr Verſtändnis des Gotteswortes und 
chriſtlicher Weltanſchauung in Dogmen ausprägt. Was der 
Schule angehört, ſoll nicht ohne weiteres als „Bekenntnis der 
Kirche“ proklamirt werden; denn die Sätze der Schule, auch die 
Lehrordnungen aus der Reformationszeit können doch nur durch 
gründliche theologiſche Bildung angeeignet werden, was niemand 
zuzumuten iſt. Zur Angehörigkeit an die evangeliſche Kirche iſt 
nur zu rechnen, was nad früherer Erklärung die chriſtliche Voll: 
fommenheit ausmacht. Das fogen. apoftolifche Glaubensbefenntnis 
ift nicht als einheitliches zu rechnen; denn es mußte in der grie— 
chiſchen Kirche ganz der nicänifch=fonftantinopol, Formel weichen. 
— Das rechtlich abgegrenzte Predigtamt hat die moralifche 
Zeitung der Gemeinde zu ihrer gottesdienftlichen Beitimmung ; 
auch die Rüge von Srrtümern und Unfitten an Einzelnen wird 
amtlich erfolgen müfjen, unter Umftänden Ausfchluß vom Gottes- 
dienft, doch auch dies nur als moralifche Nötigung. — Das 
landesherrlide Kirhenregiment ift ander als früher 
rechtlich zu begründen, nicht aus religiöfer Abzwedung des Staates 
oder aus MWebernahme des Biſchofsamtes, oder aus ftaatlicher 
Souveränetät: jondern es tft als felbjtändiges Annerum der Sou: 
veränetät zu begreifen, fofern der nationale Staat wegen der gei- 
ftigen Wohlfahrt des Volkes die evangelifche Kirche erhalten muß, 
und weil alles öffentliche Recht in den Bereich des Staates fällt, 
(Unter, ©. 80—84). 

Menn ed nun auch troß der Spaltungen und Mängel der 
Teilfichen einzelnen gelingen mag, die Höhe chriftlicher Charalter: 
bildung zu gewinnen und zu behaupten, werben doch gerade fie 
in ihrem gefteigerten Zartgefühl an fih Unvollfommenheiten jehen, 
daher nicht verfuchhen, eine Gemeinfhaft der Vollkomme— 
nen herbeizuführen, in der Kirche einen engeren Kreis zu bilden. 
Vielmehr hält der Glaube die Hoffnung feit, daß die Boll: 
endung bes Gottesreiches bevorfteht unter Bedingungen, melde 
über die erfahrungsmäßige Weltordnung hinausliegen. Dieſes 


a 





2 — 


10 Sandberger 


Ziel haben Jeſus und die Apoſtel zeitlich nahe geſehen und wie 
die altteſtamentlichen Propheten das Weltgericht als ſinnliches Er— 
eigniß betrachtet, wodurch die Herrſchaft Chriſti vorbereitet werde. 
Die Wiederbelebung der Gläubigen, die ſinnenfällige Wieder— 
erſcheinung Chriſti ſoll dieſe Epoche bezeichnen. Dieſe Form der 
Zukunftserwartung hat ſich in der Kirche nicht behauptet, nur bei 
Sektirern. Wir verzichten darauf, daß die Erde Schauplatz jener 
künftigen Dinge ſein werde, indem wir die praktiſchen Wahrheiten 
des göttlichen Gerichtes zur Vollendung des höchſten Gutes feſt— 
itellen. Eine zufammenhängende Theorie von den legten Dingen 
läßt fich mitteljt der Data des Neuen Teſtaments nicht errei- 
hen, aud die Andeutungen über den Zuftand der Seligen und 
Verdammten lafjen fich nicht klar vorftellen, wie die Erwartung 
des Fortlebend in einem dem Geiſt völlig entjprechenden Xeib, 
ferner die Beftimmung der Nichtjeligen, deren Schidjal zwifchen 
endlofer Dual und definitiver Vernichtung ſchwankt. Genug, dat 
im Reich Gottes Feiner felig iſt außer in Verbindung mit allen 
Seligen. (Unterr. ©. 70. 71.). 


Ritſchls eigene Morte Doc ebenfo bündig als gründlich feine 
oft fchmierige Sprache in mundgerechten Ausdruck zu bringen fuchte, 
niemandes Intereſſe für die meitgreifende Geiftesarbeit des gelehr: 
ten Mannes ermüdet haben, vielmehr auch wer Ritſchls Weife 
bereits fennt, aufs neue fich ermuntert fühlen, das nächſte mal 
mit und in möglichſt gebrängter Kritif dieſes bemerkenswerte 
Syſtem im einzelnen und im ganzen nochmals zu durchlaufen. 
Schluß⸗Kritik folgt.) 





Bie reformatorifdge Bedeutung Wiklifs,' 


Bohn Pfarrer C. Sandberger in Königsbronn. 


dir Thomas More, der befannte Staatsmann unter Hein- 
rich VIII., bat gelegentlih ein Mal die Behauptung aufgejtellt, 


ı Anmerkung: Unter den vielen Varianten, die es gibt, wählt 
Lechler (Wiklif I, 267 f.) eben dieje Schreibweife auf Grund davon, 
daß fie fi in der älteften Urkunde von volllommen amtlihem Cha- 
rafter, einem königlichen Dekret vom 26. Juli 1374, findet. 


Die reformatorifhe Bedeutung Wiklifs. 11 


Wiklif fei keineswegs der Erſte gemefen, welcher eine Überfegung 


der gefamten Bibel ins Englifche bemerfftelligt habe; es jei das 


ihon lange zuvor gefchehen; er ſelbſt habe fchöne alte Handſchrif— 
ten der englifchen Bibel gejehen. Die neuere Forfchung hat nun 


aber erwiejen, daß jene Handfchriften, welche Thomas More geſehen, 


gar nichts anderes haben enthalten fünnen, ala eben die Wiklif— 
ihe Überfegung. Unter dem entjeglihen Drud der Verfolgung 
fonnten die Abfchreiber nicht mehr wagen, die englifche Bibel mit 
dem Namen Wiklifs zu verfehen, deſſen größtes Werk jie doch 
geweſen ift. Diefe Eine Thatfache können wir als Beifpiel betrad)- 
ten für das 203, welches Wiklif innerhalb der Welt: und Kirchen: 
Gefhichte zu Teil geworden iſt. Es dürfte wenige hijtorifche 
Verfönlichkeiten von feiner Größe und Bedeutung geben, deren 
Andenken fo gründlich vernichtet oder wenigſtens entftellt worden 
it. Für die römische Kirche ift Wiklif naturgemäß der große 
Häreftarch, „der bis an fein Ende unverbefferlich gebliebene Ketzer“, 
wie ihn das Konzil von Conſtanz prädizirt hat. Aber aud für 
die unparteiifche Geſchichtſchreibung blieb Wiklifs Bild bis in die 
neuefte Zeit verdunfelt, nicht blos durch das gute Teil Scholaftik, 
das ihm anflebt, ſondern ebenfo durch die fpäteren Ausschreitungen 
der Zollarden, für die er verantwortlich gemacht wurde. Dagegen 
jeine befreienden, pofitiven Gedanken uud Vorfchläge wurden Hus 
gut gefchrieben, der fie doch nur von jenem entlehnt hatte. „Der 
Tod des Hus hat auch fein Verhältnis zu Wiklif für lange Zeit 
wie mit einem Schleier bededt; die Flammen, welche am 6. Juli 
1415 mit mächtiger Zohe aus dem Holzſtoß zu Conftanz hervor: 
Ihlugen, zeigten der Nachwelt die Geftalt des Hus in hellerer 
Beleuchtung als die feines englifchen Meifters. Nur tief im Hin- 
tergrund gewahrte man feither noch den Schatten jenes Mannes, 
für deffen Lehre Hus den Scheiterhaufen beftiegen, — Johanns 
von Wiklif“.“ Wir erfüllen fomit eine einfache Pflicht der Gerech— 
tigkeit, wenn mir Perfon und Werf des Mannes uns vor Die 
Augen ftellen, — nicht zu reden von dem Dank, den wir Wiklif 
ihulden,; denn er hat mit bermundernswerter Kraft und Hingabe 
eine Lebensarbeit vollbracht, deren lette Ziele uns allezeit perſön— 
lich teuer und heilig fein müfjen. Wann wäre aber hiefür bejjere 
1 Soferth, Hus und Willif ©. 156 f. 


— — 


! 


12 Sandberger 


Zeit als gegenwärtig, da am 31. Dezember 1884 der fünfhundertjährige 
Todestag Willifs uns fein Gedächtnis fo unmittelbar nahe rückt? 

Mer fich über Wiklif unterrichten will, findet die nächſte Hand: 
reihung ein Mal an den Auffäsen von Dr. Ernft Anton Lewald: 
„Die theologiſche Doktrin Johann Wyfliffes nach den Quellen 
dargeftellt und kritiſch beleuchtet“ in Niedners Zeitjchrift für Die 
biftorifche Theologie, 1846 und 47, und dann namentlich an dem 
zweibändigen Werk von Gotthard Lechler: „Sohann von Wiklif 
und die Vorgefchichte der Reformation.” „Gleich vielen anderen 
Dingen, die wir felbjt hätten thun follen, ift auch die volle Wür— 
digung von Wiklifs Hiftorifcher Stellung den Deutfchen überlaffen 
worden, unter denen Profefjor Lechler von Leipzig bejonders zu 
nennen iſt.“ So äußert ich der Engländer Montagu Burrows. 
Auf den Vorarbeiten der engliihen Forfcher Lewis, Vaughan und 
Shirley fußend, hat Lechler nicht nur feinen Helden in den großen 
Zufammenhang der Gefhichte eingerüdt, ſondern die Kenntnis des- 
jelben ungemein geklärt und erweitert durch Verwertung der in 
Wien befindlichen, noch ungedrudten Handihriften von lateinischen 
Werten Willifs. So verbindet Lechlers Buch mit dem Vorzug 
einer ſchönen, durchgearbeiteten Darftellung zugleich den Charakter 
eined Duellenwerfs für Wiklif. Im Anſchluß daran hat Profeſſor 
Montagu Burrows in Oxford drei Vorträge gehalten und ver- 
öffentlicht mit dem Titel: „Wiclifs place in history“; fie jollen 
Drford das Gemiffen jchärfen für die Pflichten, die es feinem 
größten Sohne ſchuldet. Von einem fpeziellen Punkte aus hat 
endlih Dr. Johann Loſerth, Profefjor in Czernowitz den Gegen 
ftand beleuchtet durch fein Buch über „Hus und Wiklif“; er weist 
die durchgängige Abhängigkeit des erfteren von dem letzteren nad). 
Mas die Werke Wiklifs felbit betrifft, fo ift die Herausgabe der 
englifchen, meift Predigten, Traftate, Flugſchriften enthaltend, in 
neuefter Zeit zum Abfchluß gelangt; unter den lateinifchen hat der 
Trialogus ſchon mehrfahe Ausgaben erlebt, zulegt 1869 durch 
G. Lechler. 1882 hat R. Buddenfieg die lateinischen Streitfchrif- 
ten herausgegeben „Eritifch bearbeitet und fachlich erläutert.” An 
die Edition der übrigen lateinischen Werke ift die neu gegründete 
Miklif-Society herangetreten; erjt, wenn dieſes umfafjende Unter: 
nehmen durchgeführt ift, wird die Kenntnis Willifs einen wirf- 


Die reformatorifche Bedeutung Wiklifs. 13 


lichen Fortſchritt über den von Lechler erreichten Standpunkt hinaus 
gewinnen können. 

Es ift nun gewiß fehr natürlich, wenn im Allgemeinen Wiflif 
ganz in dem Lichte beurteilt wird, welches von Luther außgegangen 
it. So wird ſchon 1525 in Bafel Wiklifs Trialogus in Drud 
gegeben, und 1554 läßt der englifche Flüchtling Johann Fore in 
Straßburg das erſte Buch feiner „Kirchengefchichte und Verfolgung: 
gefhichte von Willif an bis zur Gegenwart” erfcheinen. Man 
will den alten Kämpen für das neu entdedte Evangelium auf: 
rufen; man betrachtet Wiklif ohne Weiteres ala den Vorläufer der 
Reformation, und unter dieſer verjteht man eben diejenige des 
16. Sahrhunderts, die allein diefen Namen wirklich verdiene. In 
eigentümtlicher Weiſe macht ſich dieſe Betrachtungsmweife noch in 
Lechlers vortrefflihdem Buche geltend. Mit aller nur wünſchens— 
werten Deutlichfeit werden hier an einzelnen Stellen die Unter: 
ſchiede zwiſchen Wiklif und Luther hervorgehoben, und doch macht 
das Ganze den Eindrud, als ob dieſe Unterfchiede immer wieder 
verwifcht und ausgeglichen werden möchten unter dem Einfluß 
einer faft unbemwußt wirkenden Tendenz. Der Abſtand wird dar: 
auf reducirt, daß Willif die Aufgabe einer Reform der Kirche 
„noch nicht klar gedacht und nicht tief genug gefaßt“ habe, alfo 
mehr nur eine grabuelle Differenz jtatt der prinzipiellen, wie jte 
es wirklich ift. Diefen Gefichtspunft nun, daß die Wiklifſche Re— 
form etwas fpezififch anderes ſei als die Lutherſche, vertritt Ritſchl 
mit aller Entjchiedenheit (f. „Rechtfertigung und Verſöhnung“ I, 
129—135, 2. Aufl. zufammen mit „Geſchichte des Pietismus“ 
I, 7—22). Er befämpft die traditionelle Methode, melde das 
Mittelalter immer nur ala den Fußichemel für die lutherifche Re— 
formation anſehe. Das Mittelalter habe vielmehr, wie fein 
eigenes, an dem Mönchtum normirtes, Ideal chriſtlicher Frömmig- 
feit, jo auch feine felbjtändige, relativ berechtigte und höchſt wirk— 
fame Reformtendenz gehabt, die Haupttypen derjelben ſeien Die 
cluniacenjer und dann die franzisfanifche Reform. Letztere, unter 
firchlicher Legitimation das erjtrebend, mas ſchon vorher die Wal: 
denfer unternommen, habe die zweite Hälfte des Mittelalters 


Lechler I, Einleitung ©. IX. 


14 Sandberger 


beherrſcht. „Ihr Spezififches, jagt Ritſchl,! ift, daß fie nicht mehr 
blos, wie die früheren Verfuche es thaten, auf den Kreis des 
Mönchtums ſich richtet, fondern zugleih auf das chriftliche Volk, 
welches durch die Predigt des evangelifchen Geſetzes Chrifti, d. h. 
der Lebensgrundſätze der Bergpredigt zu einer dem Mönchtum in 
der Nachfolge des armen Lebens Chrifti angenäherten Vollfom- 
menheit geführt werden fol. — — In der Conſequenz dieſes 
Grundſatzes fteht die Anforderung, melde den Mittelpunft der 
Hriftlihen Lehre Wiklifs bildet. Wie es Wiklif meint, foll im 
ganzen Umkreis menfchlihen Dafeins, im bürgerlichen Leben wie 
im Staat, jedes Geſetz ſich nach Gottes oder dem evangelijchen 
Gefege richten. Das evangelifhe Gefeg, deſſen energiſche 
Vertretung ihm den Chrentitel des Doctor evangelicus eintrug, iſt 
die Bergpredigt ala Probe des Geſetzes der Liebe. Das ift ein 
anderer Stoff als die Predigt des Paulus von der Verföhnung, 
welche Luther als das Evangelium proflamirt.* Was von Wiflif 
zu fagen ift, gilt ebenfo von Hus und trifft am deutlichiten bei 
Savonarola zu. 

„Diefe theofratifh gerichteten Männer find nicht Vorläufer 
der Reformation, welche Luther vertritt. Site find Neformatoren 
vor deſſen Reformation, aber eben felbjtändige eigentümliche Refor- 
matoren, welche ſich in Widerſpruch mit Luther gejeßt haben 
würden, wenn fie defjen Unternehmen erlebten. Denn auch Eras— 
mus tft in Kollifion mit Luther getreten, weil fein Reformideal 
das franzisfanifche war. Die Kurie, meint er, fol arm werden 
und das Geſetz Chrifti, die Geduld, die Nachgiebigfeit, die Ver: 
jöhnlichkeit follen zur Ausführung kommen, Davon nun fieht er 
in Luthers Wirfungsfreife nichts; es gebe viele Zutheraner, fagt 
er gegen Hutten, aber wenig Evangeliſche, nämlich, welche jenen 
Aufgaben des Lebens nachkommen. Der Anhänger des Erasmus, 
Georg Witel, hat fi) vorübergehend an Luther angeſchloſſen, in 
der Erwartung, omnia fore melius christiana, d. h. es werde 
Alles direkt auf die Tugenden hinaus fommen, welche die Berg- 
predigt vorfchreibt. Es find dieſes ja die eigentlichen und höchiten 
Broben des Chriftentums. Allein biefelben auf dem Wege gefeß- 





a Nechtf. und Verſöhnung I, 134 f. 


Die reformatorifhe Bedeutung Willif 8. 15 


licher oder mönchiſcher Zucht oder vorübergehender Gefühlserregung 
hervorzurufen, bezeichnet das Reformbeitreben, welches in der zwei: 
ten Hälfte des Mittelalter innerhalb der lateinifchen Kirche teils 
ohne teil mit Oppofition gegen das PBapfttum auftritt.” — Dies 
die Anficht Ritſchls; der Unterfchied zwiſchen Wiklif und Luther 
wird zum Gegenſatz erweitert. Es erleidet auch wohl feinen 
Zweifel, daß Ritſchls Auffaffung ſehr viel Einleuchtendes hat. 
Die Fülle von reformatorischer Bewegung innerhalb der mittel- 
alterlihen Kirche weiß er unter einfache, weit reichende Gefichte- 
punkte zu ftellen, in ihrer Eigentümlichkeit Scharf zu charafterifiren 
und von der Neformation des 16. Yahrhundert® abzugrenzen. 
Aber läßt ſich eine fo vielfeitige und unläugbar originale Berfön- 
lichkeit gleich Wiklif ganz unter jene Categorie der franzisfanifchen 
Reform fubjumiren? Bei näherem Zuſehen finden wir vielmehr, 
daß er in feinem Weſen und Wirken zwei fehr entjchieden aus: 
geprägte Seiten darbietet; die eine meist rückwärts, bemegt fich 
in dem Gebanfenfreis des Mittelalter8 und zeigt alle Merkmale 
des damals herrſchenden Reformideals; die andere dagegen deutet 
ebenfo bejtimmt nad vornen und enthält neue, zufunftsreiche An: 
ſätze religiöfen Denkens und Strebens, Keime einer ethifchen, focia- 
len, politifhen Weltanfhauung, welche dann im 16. Jahrhundert 
erftmals zu fiegreihem Durchbruch gelangt und ſeitdem Gemeingut 
der evangelifchen Chriftenheit geworben find. In diefem Sinne 
faſſen wir die reformatorifche Bedeutung Willifs und fuchen fie 
im Folgenden des Näheren nachzumeifen. 

Die an fih ſchon fpärlichen Notizen, welche wir für ben 
äußeren Lebensgang Wiklifs haben, berühren wir nur, jomweit es 
unbedingt nötig ift für das Verftändnis feines Werkes. Als 
Geburtsjahr wird mit ziemlicher Wahrfcheinlichfeit 1320 vermutet. 
Sicher ift der Geburtsort, nämlich der Heine, jetzt abgegangene 
Weiler Spreswell, in unmittelbarer Nähe des Pfarrdorfs Wyfliffe, 
am Tees, im Norden der Grafichaft York gelegen. Die Familie 
Wiklifs fcheint dem niederen Adel ſächſiſchen Stammes angehört 
zu haben, wie denn jene ganze Landjchaft einen eigentümlichen 
Charakter dadurch empfangen hat, daß hier das fächfifche Volks— 
tum in fompalter Mafje und verhältnismäßiger Reinheit fich erhielt. 
Über Wiflif Studienzeit wiffen wir nur, daß er diefelbe in Orforb 


16 Sandberger 


verlebte, und daß er dort der „nördlichen Nation“ angehörte, 
welche mit bejonderer Entjchievenheit die Sache der nationalen 
Gelbftändigfeit vertrat. 1361 wurde er Vorftand des Balliol 
College. Im Sahr darauf von feinem College zum Pfarrer in 
Fıllingham, nordmeitlic von Orford, ernannt, mußte Wiklif ftatu: 
tengemäß die Vorjtandfchaft niederlegen, behielt aber mit bifchöf- 
lihem Dispens den Wohnſitz in Oxford, um der Wiſſenſchaft zu 
leben. 1365 wurde er von dem Erzbischof von Canterbury, Simon 
Slip, mit der Vorſtandſchaft an der neu gegründeten Canterbury 
Hall betraut; diejelbe follte vornämlich dem Intereſſe des Sefular- 
fleruß dienen. Jedoch ſchon im nächſten Jahr wurde die Halle 
durch den neuen möndifchen Primas, Simon Langham, den 
Mönchen überantwortet und Wiklif wurde abgejegt; er nahm alfo 
jevenfall3 in den die Zeit bewegenden Fragen ſchon eine ſehr 
bejtimmte Stellung ein. Ob er freilich damals auch ſchon gegen 
die Bettelmönche und nicht blos gegen die befienden Orden, die 
„religiosi possessionati* in Oppofition geftanden fet, tft eine offene 
Frage. Lechler verneint fie und verlegt den Beginn diefes Kampfes 
in das Yahr des Abendmahlſtreits, 1381; von Bubdenfieg wird 
fie hingegen bejaht unter Hinweis auf eine Stelle de ordinatione 
fratrum II, wo Wiklif fich ſelbſt bezeichnet ala einen, der einge- 
treten fei in die Arbeit des im Jahr 1360 verftorbenen Erzbifchofs 
Fig Ralph von Armagh, des hochberühmten Vorlämpfers für das 
Pfarramt und für die geordnete Seelforge gegen das Ueberwuchern 
der entarteten Bettelmönde. Wie dem fet, das nachweisbar erjte 
öffentliche Auftreten Wiklifs bewegt ſich auf Firchen = politifchem 
Gebiet und fällt in das Sahr 1366. Papſt Urban V. hatte es 
nämlich für pafjend erachtet, den englifchen König an jenen Lehens— 
ins, 1000 Mark pro Jahr, zu erinnern, zu deſſen Entridtung 
Johann Ohneland 1213 ſich verpflichtet hatte, und der feit drei— 
unddreißig Jahren, wie fchon manchmal, ſtillſchweigend ſiſtirt worden 
war. Der Augenblid für diefe Mahnung war ungünftig gewählt. 
König Eduard II. legte die Sache im Mai 1366 dem Parlament 
vor, und diefes trat einmütig für den König ein, wies die päpft- 
liche Forderung rundweg ab und jtellte für den Schu der Krone 
und ihrer Würde alle Kräfte und Hilfsquellen der Nation zur 
Verfügung. Der Papſt verjtand diefe Sprache und ſchwieg. Die 


Die reformatorifche Bedeutung Wiklifs. 17 


Feſſel, welche Innocenz III. feiner Zeit gefchmiedet hatte, um aud) 
England in das „päpftlihe Staatenſyſtem“ einzugliedern, war 
endgiltig zerriffen. Nun diefem Matparlament von 1366 wohnte 
Wiflif an als „peculiaris regis clerieus“, d. h. als flerifaler 
Sadjverjtändiger vom König beigezogen, und Wiklif fcheint ein 
jehr gewichtiges Wort gejprochen zu haben. Es wäre fonjt kaum 
zu erklären, warum ihm alsbald die Ehre eines direkten Angriffs 
zu Teil geworden wäre durch einen anonymen Doctor der Theo: 
logie, einen Mönch, der gegen jenen Parlamentsbeſchluß das Recht 
des Papſtes auf England verfocht. Intereſſant iſt Wiklifs Erwi— 
derung. Er kleidet ſeinen Beſcheid ſo ein, daß er ſieben Lords 
auftreten läßt, welche nach einander die Gründe darlegen, aus 
denen ſie jene päpſtliche Zinsforderung abgelehnt haben. Der 
Eine ſtützt ſich auf ſein gutes Schwert und meint, der Papſt möge 
ſich England erobern; ein Anderer meist die unreinen Motive 
nach, aus welchen jene päpitliche Polik entfprungen ; wieder andere 
machen darauf aufmerffam, daß König Johann gar Fein Recht 
hatte, jenen Bertrag abzufchließen ohne Zuftimmung des Volkes; 
daß eigentlich der Papſt, der- ja Inhaber des Kirchenguts zu fein 
behaupte, hiefür dem König zu Lehensdienſt verpflichtet fei; daß 
Chriftus der einzige Oberlehensherr fei, welcher für fich allein jede 
der Creatur erlaubte Herrſchaft auf ſchlechthin zureichende Weife 
autortfirt, und „unmittelbar von Chrijto tragen auch wir unfer 
Reich zu Lehen“; zudem fei der Papſt fchuldig, ein auögezeichneter 
Nachfolger Ehrifti zu fein; Chrijtus habe aber nicht Inhaber welt: 
licher Herrſchaft jein wollen, folglich folle e8 auch der Papſt nicht 
jein. Ehre und Wohlfahrt der Nation, Vorbild und Majeftäts- 
recht Chriſti, das find die herrfchenden Gedanken für Wiklif. In 
derfelben Richtung geht eine Kleine Publikation aus dem Jahre 
1371; „de juramento Arnaldi“ iſt fie betitelt. An dem fonfreten 
Fall eines päpftlihen Agenten Arnold Garnier, der Jahrelang 
das Land durchreite, um Gefälle einzutreiben, zeigt Wiklif, wie 
fehr die Intereſſen der Nation gefährdet werden durd das päpft- 
lihe Steuerſyſtem, das ſich immer raffinirter entwidelte, das unter 
Verlegung der klarſten Patronatsrechte auh auf die niederen 
Pfarrftellen die Hand legte und die Inhaber durch Firchliche Cen— 
furen zu Sportelzahlungen zwang. Die Meineidigfeit der päpft- 
Theol. Studien a. W. VI. Jahrg. 2 


18 Sandberger 


lihen Agenten, welche ſchwören, das Land nicht ſchädigen zu wollen 
und doch jeine Wohlfahrt und Kriegstüchtigfeit untergraben; die 
Fälſchung des öffentlichen Gewiſſens, welche hieraus folge; Die 
Korruption des Pfarramts, auf deſſen Thätigfeit das Heil der 
Kirche beruhe; die Schriftwidrigfeit des ganzen Gebahrens, welches 
die Kurie einhalte, dies alles ftellt Wiklif in das gebührende Licht, 
Er thut e8 in der Erwägung, daß es „eine Gemeinfamfeit der 
Sünde und Schuld herbeiführe, wenn man das Vorgehen eines dritten 
fenne und demfelben zu jteuern vermöchte, aber dies verfäume.” 

Den Höhepunkt kirchenpolitiſcher Thättgfeit erreichte Wiklif im 
Jahre 1374, als Eduard III. zu dem Congreß in Brügge, welcher 
den Frieden zwiſchen England und Frankreich zu Stande bringen 
jollte, eine Commiſſion abordnete, um mit päpftlichen Delegirten 
über Abſchaffung eingerifjener Mißbräuche zu verhandeln. An der 
Spige der Engländer ftand der Herzog von Lankaſter, Johann 
von Gent, dritter Sohn des Königs; für die firchlichen Angelegen- 
heiten waren der Biihof von London, der von Bangor und 
„Johann von Wiklif, der Theologie Doktor“, nebjt einigen ande- 
ren beigegeben. Das Rejultat der Verhandlungen war gleih Null. 
Es ging wie immer, wenn Regierungen den Meg der Landes- 
gejeßgebung verlafjen und auf diplomatische Abmachungen mit der 
Kurie eingehen. Da und dort ein Feines Zugeſtändnis, aber in 
der Hauptjache bleibt alles beim alten. Gleichwohl muß dieſe 
Reife für Wiklif ſehr wichtig geweſen fein; fie läßt das Anſehen 
erfennen, das er genoß. In der perfönlichen Berührung mit ita- 
lieniſchen, franzöfifchen und fpanifchen Würdenträgern der Kirche, 
welche das Vertrauen des Papſtes und feiner Kardinäle genofjen, 
fonnte er einen tieferen Blid in das Intereſſenſpiel der Kurie 
werfen. Sodann gewannen die Beziehungen, welche wohl ſchon 
früher zwiſchen Wiklif und Johann von Gent beftanden, in Brügge 
jedenfalls noch an Stärke. Lebterer, ein Mann von hellem Ver: 
Itand, ging gerne mit geiftreichen Leuten um, nahm in den öffent- 
lihen Angelegenheiten die Stellung eines Führers ein und begün- 
ſtigte namentlich die antiflerifale Strömung, von welcher die Nation 
getragen war. 

Im Zufammenhang mit diefer Tendenz jteht noch die Be 
Ihwerdefchrift, welche das „gute Parlament“ von 1376 in firch- 


Die reformatorische Bedeutung Wiflifß. 19 


lichen Sachen bei dem König einreichte, und welches ebenfalls den 
Einfluß Wiklifs verräth. Aber gerade bier ift nun der Punkt, 
an welchen die Dinge fih menden. Die Oppofition, welche 
anfangs nur den Übergriffen der Kurie gegolten hatte, drohte all: 
mählih der engliſchen Hierarchie felbft gefährlich zu werden. Schon 
1371 hatte fih das gezeigt, ala im Parlament eine unerhört 
Ihwere Belteuerung des Klerus bejchloffen und die Neubefegung 
des Staatsraths mit Laien ftatt der bisherigen Geiftlichen erlangt 
wurde. Da raffte ſich die Hierarchie unter Führung des Bifchofs 
von London, Wilhelm Courtnay, auf und dachte wohl den hödhit- 
gejtellten Gegner, Johann von Gent, am Belten in der Perſon 
Wiklifs zu treffen. Auf den 19. Februar 1377 luden die Bifchöfe 
Wiklif vor die Konvofation in die Baulsfirche; Johann von Gent 
geleitete ihn jedoch Jelbit dorthin und es fam zu ftürmifchen Auf: 
tritten, ſodaß die Verhandlung gar nicht beginnen fonnte. Sofort 
trat nun der Papft auf den Schauplat. Auf Grund von neun: 
zehn Sätzen, welche Wiklif öffentlich ausgefprochen oder in Schriften 
niedergelegt, unterzeichnete Gregor XI. am 3. Mai desfelben Jahres 
fünf Bullen gegen denfelben; beauftragte den Erzbiſchof von Gan- 
terbury und den Biihof von London mit der Vorunterfuhung 
darüber, ob jene Sätze wirklich von Willif herrühren, und rief 
den König, die Univerfität Oxford, ſowie alle maßgebenden Kreife 
der Nation zur Beihilfe auf, damit Wiklif nach Befund gefangen 
genommen und nad) Rom gebracht würde. Verfchiedene Umſtände 
trugen dazu bei, daß diefer Kluge, umfafjend angelegte Plan nur 
langfam vorwärts rüdte. König Eduard IH. ftarb; die öffentliche 
Meinung, auch in Orford, war einem Einjchreiten gegen Wiklif 
wenig geneigt; und als es endlich im Februar 1378 in der erz- 
bifchöflichen Kapelle zu Lambeth zum Verhör fommen follte, war 
es nicht blos die Prinzefjin von Wales, die Mutter des unmün- 
digen Königs Richard IL, melde ihr Mort für Wiklif einlegte; 
auch Londoner Bürger drängten fih ın die Verfammlung und 
erflärten ſtürmiſch ihre Sympathie für den Angeklagten. Die 
päpftlichen Kommiſſäre wagten nur fomweit zu gehen, daß fie Witlif 
unterfagten, die vom Papſt verbotenen Säbe auf der Kanzel oder 
auf den Katheder fernerhin zu verbreiten. Jedoch ein fürmliches 
Verfprechen hat Wiklif hierüber nicht gegeben, und in Kurzem tra- 
2* 


20 Sandberger 


ten Ereigniffe ein, die einem Manne gleich Wiklif nur ein Sporn 
zu energifcher That fein fonnten. Am 27. März 1378 ſtarb 
Gregor Xl., „eujus obitus non modicum fideles contristavit, sed 
in fide falsos, ipsum Johannem (Wiklif) etipsius asse- 
elas animavit.! Im Lauf des Sahres kam es zur Kirchen: 
fpaltung; mit demfelben Jahr jchließt die Periode Firchenpolitifcher 
Thätigkeit im Leben Willifs, und es beginnt feine eigentlich refor— 
matorifche, religiös kirchliche Wirkſamkeit. 

Es find im Ganzen wenige und dürftige Spuren, die wir in 
den Jahren 1366—78 von einer nach außen gehenden Thätigfeit 
Wiklifs finden, — Spuren, die zudem überrafchen durch ihr plöß- 
liches Auftreten. Was fie aber doch zu bedeuten haben, können 
wir aus den Ideen und Beitrebungen entnehmen, welche die Zeit 
bewegten, und aus der Art und Weije, wie Wiklif diefelben inner: 
lich verarbeitete. Sm Lauf des 13, Jahrhunderts hatte ſich Die 
bürgerliche Gefellihaft zu einer relativen Selbitändigfeit heraus: 
gebildet. Durch den Großhandel, durch den überfeeischen Verkehr 
in Folge der Kreuzzüge, durch das Auflommen der Geldwirtichaft 
an Stelle derRaturalienvertaufhung, durch diefe und andere That: 
ſachen fam das Gebiet weltlicher, bürgerlicher Arbeit zur reichiten 
Entfaltung? „Mannigfaltiger gejtellt als bisher zeigte Die bür- 
gerliche Gejellihaft auch mannigfache Bedürfniffe. Diefelben zu 
befriedigen, die Melt zu genießen und zu beherrfchen, wurde von 
ihr ala ein menjchliches Recht begriffen, der Betrieb der weltlichen 
Arbeit als ein Werk, welches der Regelung durch die Kirche nicht 
bebürftig, durch ich ſelbſt fittlich gewertet fer.” Diefer Prozeß 
nahm im 14. Jahrhundert feinen Fortgang und begann, jeine 
Früchte zu treiben. Es entwidelte ji in dem allgemeinen Be- 
mwußtfein die folgenreiche Unterſcheidung zwiſchen dem weltlich— 
fittlihen und dem religiög-firhliden,; und auf dem Gebiet des 
Öffentlichen Lebens griff die Laienwelt weiter aus und fing an 
Berufskreife an ſich zu ziehen, die bisher in unbejtrittenem Befit 
des Klerus gewejen waren. Ein Beifpiel ift jene erftmalige „Ver: 


1 Worte des Chroniſten Walſingham, Lechler I, 390. 


2 Reuter, Geichichte der religiojen Aufklärung im Mittelalter, 
II, 54. 


Die reformatoriihe Bedeutung Wiklifs. 21 


weltlihung” de3 engliichen Staatsrats im Jahr 11371. Gleichen 
Schritt mit der bürgerlihen Geſellſchaft hielt die Entwidlung der 
Nationalität. In dem Völkergewoge des früheren Mittelalters, 
das gleihmäßig unter dem ftraffen, centralifirenden Einfluß Roms 
geftanden war, trat eine Sonderung ein; die einzelnen Völker 
famen zum Bemwußtfein ihrer Individualität; die Volksſprache rang 
jih in die Höhe und wurde das Organ auch für die heiligen 
Wahrheiten und Intereſſen, für welche bisher nur das Firchlic) 
ſanktionirte Latein als würdig erachtet worden war. Träger und 
Vertreter all diefer aufftrebenden Tendenzen war der Staat und 
zwar nicht mehr das Kaifertum mit feinen unflaren, in jtch felbft 
unhaltbaren Anſprüchen auf Univerfalismus, fondern der nationale 
Staat, der auf der foliven Grundlage bürgerliher und volkstüm— 
licher Kräfte ruhte. Der Staat wurde fich feiner ſpezifiſchen Würde, 
jeines göttlichen Rechts bewußt; ja, das Staatswohl wurde zum 
Har erfannten Mapitab für die Behandlung kirchlicher Fragen; 
denn, jagt Okkam: „die Giltigfeit päpftliher Maßregeln läßt ſich 
bemeffen nad dem Einfluß, den fie auf das Gemeinmwefen aus: 
üben, denn fte brauchen nicht gehalten zu werden, falls fie nicht 
zum Frommen, fondern zum Schaden des Staates dienen.“ 
Derjelbe Fortjchritt, wie auf dem Kontinent, vollzog ſich auch 
in England, wenn gleich hier unter bejonderen, teils hemmenden, 
teils fördernden Bedingungen, wie das die infulare Abgejchlofjen- 
heit und das Nebefteinander fcharf entgegengejegter Stämme, der 
Sadjen und der Normannen mit fich brachte. Sm Kampf ums 
Dafein, nicht am wenigften auch im Gegenſatz gegen Rom, hatten 
die Notmannen gelernt, jih an das ſächſiſche Vollstum anzulehnen, 
mit demſelben zu einer neuen Nation zu verwachſen mit neuer 
gemeinfamer Sprache, eben der englifchen. Gerade in den Zeiten 
Wiklifs gefhah es, daß diefe Neubildung feiten Grund gewann. 
„Die glänzenden Siege des dritten Eduard über Frankreich teilten 
dem engliihen Nationalbewußtfein einen Schwung mit, der ji) 
dem Erwachen des deutfchen Bewußtſeins unter dem großen 
Friedrich vergleichen läßt”. In den lateiniſchen Schulen wurde 
das Franzöfifche ald Unterrichtsfprache durch das Englifche erjegt. 


i Ten Brink, Geſchichte der engl. Litteratur I, 409. 


22 Sandberger 


In der Rechtspflege mußte bereit im Jahr 1362 die Sprache der 
Eroberer „als zu wenig befannt“ vor der englifchen weichen. Im 
jelben Jahr wurde auch das Parlament zum eriten mal in eng- 
lifcher Rede eröffnet. Das herrfchende Element in der ganzen 
Bewegung war der ſächſiſche Stamm. Auf allen Seiten drang er 
vor, mit wunderbarer Glaftizität alte Feſſeln abſchüttelnd. Geine 
Bogenjchügen halfen dem ſchwarzen Prinzen in Frankreich zu 
großartigen Siegen; feine Bürger regten fi in Handel und Wandel 
“und erlangten im Parlament zufehends politifche Bedeutung; feine 
Dichter lieben dem Gewiſſen des Volkes, dem Zug der Zeit den 
lauterjten Ausdruck. Es iſt eine charakteriftiiche Eigentümlichkeit 
des ſächſiſchen Geiftes, daß er ebenfo fraftvoll wie tiefgrübelnd ein 
energifches Bewußtſein von der Nichtigkeit weltlichen Weſens, von 
den Schäden der fozialen und beſonders der Firchlichen Zuftände 
verräth. Die englifche Litteratur jener Zeit bietet jprechende Zeug- 
nifje dafür, daß eine Art Bußgefühl durch weite Kreife der Nation 
ging, verbunden mit einer ergreifenden Sehnſucht nah Wahrheit, 
nad Verwirklichung des chriſtlichen Ideals in Kirche und Staat. 
„Die Zeit war reif und es gefiel Gott, den erjten Mann unter 
den Germanen, der einem Bruch mit Rom ins Geſicht jah, aus 
den Angeljachfen zu ermweden.” (R. Bauli, Engliſche Gejchichte 
4, 409, 479). 

Derart war die göflige Bewegung, in welche Wiklif eintrat. 
Wenn fein erjtes Eingreifen Dingen galt, die mehr auf der Pe— 
ripherie zu liegen fcheinen, finanziellen und politifchen Webergriffen 
der Kurie, jo hing das mit den Zeitumftänden zufammen. Wie 
prinzipiell Wiklif die fchwebenden Fragen anfaßte, läßt fi aus 
den neunzehn Sätzen abnehmen, welche der Papſt 1377 mißbilligt 
hat. Die erjten fünf derjelben find von den Gegnern jo gewählt, 
daß Wiklifs Anſchauungen auch für den Staat und das bürger- 
liche Gemeinwefen als gefährlich gelten mußten. Sie gipfeln in 
dem Sat, daß alles dominium, aller Beſitz auf Gnade berube. 
Noch R. Pauli findet an diefem Punkt einen Irrtum Wiklifs, 
„ver zu gefährlihen Fanatismus wird“. „Denn, jagt Pauli, 
was it wiberfinniger, als die aus dem Lehenrecht übertragene 
Anficht, daß jeder irdiſche Befit als eine Gnadengabe des Himmels 
duch die Sünde vermirkt werde?" Aber, wenn wir die Idee 


Die reformatorifce Bedeutung Willifß. 23 


Wiklifs ihres ſcharf zugeſpitzten Ausdruds entkleiden, ift fie dann 
wirklich miderfinnig oder gefährlich? Dem jtarren Komplex des 
Lehensſyſtems, innerhalb deſſen der Befibende pocht auf feine tra- 
ditionellen oder verbrieften Rechte, und der befitende Stand aud) 
der ſchlechthin bevorrechtete jich zu fein dünkt, ftellt Wiklif die fitt- 
liche Grundthatjache der perjönlichen Verantwortlichfeit gegenüber. 
Erb und Eigentum, wenn auch mit dem Stempel „für immer“ 
verfehen, ift nicht etwad an und für ſich unbedingtes und ailtiges, 
jondern es hängt von Gottes Willen und Gnaden ab. Auch das 
PBrivateigentum jteht doch fchlieglic unter dem alles überragenden 
Dominium Öottes und ift dem Menfchen gegeben, damit er e8 zu 
Rus und Frommen feiner Mitmenfchen verwende. Kein Zweifel, 
dag Wiklifs Sat gefährliche Auslegung finden fonnte in jener 
Zeit fozialen Gährens und Drängens, als der Bauer frei zu mwer- 
den fuchte, nachdem der Bürger e8 ſchon geworden war, alö der 
Hörige ſich Abfchriften aus dem Domesday-Bud) zu verichaffen 
wußte, um jeine alten Rechte zu finden. Darum tjt aber Willifs 
Gedanke doch jo richtig, daß wir es heutzutage als Gemeinplat 
anerkennen, da3 Eigentum habe nicht blos Rechte, fondern aud) 
Pflichten. 

Dieſe Wahrheit, die für alle gilt, mußte natürlich ihre ſchärfſte 
Spitze gegen die reichbegüterte Kirche wenden. Der Klerus, welcher 
in daS Lehensweſen eingefügt, mit Land und Macht begabt, da— 
itand, war gewohnt, fein Amt einfeitig als Dominium anzufehen; 
Wiflif erinnert daran, daß es mwejentlich ein Ministerium ſei; fo- 
weit es mit Gütern irdiſcher Art ausgeftattet ift, follen diefe zum 
Wohl der Chriftenheit dienen; vergißt aber der Klerus feine Pflicht, 
fo mag der König zufehen; „interest regum et aliorum rectificare 
eleemosynas progenitorum suorum.* Und bier fchließt die 
zweite Gruppe der verurteilten Sätze an: falls die Kirche ſich auf 
Abwege verirre oder die Kirchenmänner die Kirche jtetig mißbrau- 
hen, fo fünnen Könige und weltliche Herren ihnen die meltlichen 
Güter rechtmäßiger und fittliher Weiſe entziehen. Ob die Kirche 
wirklich im Zuftand der Verirrung fich befinde, will Wiklif noch 
nicht jelbjt erörtern. Er gibt es den Fürſten anheim, darüber zu 
erkennen, und falls dem alfo fei, mögen fie nur getroft zur That 
fehreiten, feien fie doch alsdann bei Strafe der ewigen Verdamm— 


24 Sanbdberger 


nis verpflichtet, der Kirche ihre Temporalien zu entziehen. — Ein 
Geiftliher, fogar der römische Pontifer, könne rechtmäßiger Weiſe 
von Untergebenen und Laien zurecht gemwiefen, fogar angeklagt 
werden. Klar und fcharf beſtimmt Wiklif einmal das Verhältnis 
zwifchen Kirche und Staat folgendermaßen: „Weltlihe Herren 
regieren ihre Unterthanen direft und unmittelbar in Hinficht der 
zeitlichen Güter und des Leibes, mittelbar aber und in zweiter 
Linie in Hinfiht der Seele, was doch nad) der Drbnung der 
Zwecke das erjte fein fol. Dagegen follen Prieſter Chrifti vor: 
zugsweife und Direkt regieren in Hinſicht der geiftlihen Gaben, 
3. B. Tugenden, nebenbei jedoch und in zweiter Linie in Hinficht 
der Glücksgüter. Beiderlei Gerichtsbarkeit muß aber ineinander 
greifen und fich gegenfeitig unterjtügen. Wie die Kirche zwei 
Stände hat, Klerifer und Laien, gleichfam Seele und Leib, fo hat 
fie zwei Arten der Rüge und Veſſerung, geiftlih mit Vermahnung 
und leiblih mit Zwang. Jene geſchieht durch Predigt des Geſetzes 
Chrifti und Vernunftbeweis und fteht den Doktoren und Prieftern 
Chriſti zu, dieſe gejchieht durch Entziehung der Natur: und Glüds- 
güter und fteht den Laien zu. (De eivili Dominio U, 8; Lechler 
I, 600). 

Wiklif knüpft an die Anfchauungen an, welche in den Kämpfen 
zwiſchen Philipp dem Schönen und Bonifacius VIIL, fodann zwi— 
Ichen Ludwig dem Baier und Johann XXIL., maßgebend geworben 
maren, und er führt fie weiter. Er vertritt nicht blo8 das Domi- 
nium, die Souveränität des Staats in zeitlichen Dingen, fondern 
erfennt ihm ein Recht und eine Pflicht auch ſelbſt in inneren firdh- 
lichen Dingen zu. Hiedurch wird einerfeitS die Zehre Gregors VII. 
aufgehoben, wornach der Staat „der Organismus der Sünde“ ift, 
andererjeitö der Standpunkt Luthers vorbereitet, welcher „der recht- 
lichen Ordnung des Staats den Wert einer hervorragenden}Bürg- 
Schaft für die Führung des chriftlihen Lebens und für die Ord— 
nung des Gottesdienjtes und des religiöfen Unterrichts verleiht.” 
(Ritſchl, Geſchichte des Pietismus I, 23). 

Es iſt Har, daß eine derartige Auffaffung von Kirche und 
Staat einem Kampf gegen das hierarchifche Element auch innerhalb 
der Kirche gleichlommt. So hatte der Papſt ſchon 1377 Willif- 
Ihe Sätze zu verurteilen, die dem Mißbrauch des „Binde: und Löfe- 


Die reformatorifhe Bedeutung Wiklifs. 25 


ſchlüſſels“ mehren follten. Wiklif befämpft die angebliche Unbe- 
dingthett der Schlüffelgewalt des Papftes und macht die Wirk: 
famfeit derjelben abhängig von einem dem Evangelium entjprechen: 
den Gebrauch derfelben. „Der Papſt löst oder bindet nur dann, 
wenn er fih dem Geſetz Chriſti Fonform hält“. „Es ift nicht 
möglich, daß ein Menſch in den Bann gethan wird, er werde denn 
zuvor und hauptſächlich durch fich felbit in den Bann gethan.“ 
„Lediglich in Gottes Saden, nicht in Sachen Firhlicher Güter und 
Einfünfte dürfen Firchliche Genfuren angewendet werden.” „Seder 
regelmäßig gemweihte Priefter hat das Recht, jedes Saframent zu 
ipenden, folglich jedem Reumütigen Vergebung irgend welcher 
Sünde zu ſpenden. (Lechler I, 378 f.) Die Kirche hat fich zu 
beſchränken auf das religiöfe Gebiet, und die kirchlichen Funktionen 
haben ihren Maßſtab an dem „Gefet Chriſti“, diefer Grund: 
gedanfe Wiklifs fommt in dem nächſten Zeitraum, in den Jahren 
1378 bis 1384 zur vollen Entfaltung. 

Menn wir uns nunmehr diefer Periode zuwenden, jo läßt 
fih der äußere Gang der Ereigniffe raſch überbliden. Seinen 
Mohnfig verlegt Miklif nach Zutterworth, einem Städtchen in der 
Grafſchaft Leicefter. Das dortige Pfarramt hatte er 1374 durd) 
fönigliche Ernennung erhalten. Je enger der unmittelbare Beruf 
Wiklifs begrenzt zu fein fcheint, deſto umfafjender wird feine Wirk: 
famfeit unter dem, Einfluß der weltbewegenden Thatſache jener 
Zeit, des Schisma. Im April 1378 war Urban VI. gewählt 
worden; im September wurde ihm Clemens VII. entgegengeftellt. 
Hatte Wiklif Schon bisher vom Papfttum ſehr nüchtern geurteilt, 
den Primat desfelben nur als jure humano giltig anerkannt, fo 
fommt er jeßt zur prinzipiellen Zosfagung und bald zum unab: 
läffigen Kampf gegen dasfelbe. Anfangs hielt er ſich wohl, gleich 
jeinen Zandsleuten, zu Urban VI., fette bei ihm fogar, mwenigjtens 
eine furze Zeit hindurch, ernfte reformatorifche Gefinnung voraus. 
Als fi) aber zeigte, daß ein Papft den andern verfluchte und 
bannte als „falſchen Papſt“, daß eine Partei die andere mit Krieg 
zu überziehen fuchte und vor feiner Unthat zurüdjchredte, urteilte 
Wiklif, daß wohl beive Recht haben und beide falfche Päpfte ſeien, 
Abtrünnige und Teufelöglieder, jtatt Glieder am Leibe Chrifti. 
Es fei das Nätlichite, ruhig zuzufehen und die beiden Hälften bes 


26 Sandberger 


Antichrift ſich felbft vernichten zu laffen. Diefe Neutralität zwi— 
fchen den beiden Gegnern ſchlug jedoch bald um in die Ueber: 
zeugung, daß die ganze Inftitution des Papfttums vom Argen 
fei, eine Verkörperung des Antichrift. Von diefem Moment an 
gewinnt Wiklifs theologifche Überzeugung eine neue Kühnheit und 
Entſchloſſenheit. Durch die Greuel des Schisma wird ihm erft 
der ganze Abgrund des herrfchenden Verderbens aufgededt, und 
er fieht fich zu Thaten gevrängt, die tief in Herz und Gewiſſen 
des Volkes hineingreifen mußten. Staunen erregt die Thätigfeit, 
die er entfaltet, wie fie nur bei einem Manne möglich tft, der ein 
volles Leben tiefer innerer Arbeit hinter fih hat und dem ſich 
nun die legten Konfequenzen Schlag auf Schlag wie von jelbft 
ergeben. Die Ausfendung der Neifeprediger, die Überfegung der 
heiligen Schrift, der Kampf gegen die Lehre von der Transfub- 
ftantiation und gegen die Advokaten derfelben, die Bettelmöndhe, 
— im Zufammenhang damit eine reiche fchriftftellerifche Thätigkeit 
in Latein und Englifch, in wiffenfchaftlihen Werfen, in populär 
erbaulichen Traftaten, in fehneidigen Streitfchriften, — das iſt Die 
Arbeit diefer fechs Jahre. Und, fo vieles fich zufammendrängt, jo 
jehen wir doch nirgends ein Haften, fondern überall ein jtetes, 
ficheres Vormwärtögehen. So waren die KReifeprediger anfänglich 
offenbar Lente, die ſchon Flerifale Weihen erhalten und die mohl 
fhon in Oxford ihre Anregung von Wiklif empfangen hatten; er 
nennt fie sacerdotes fideles, simplices oder tales presby- 
teriu. ſ. f. Erft mit der Zeit geht Willif zur Laienpredigt 
über und es treten „evangelifche, apoftoliihe Männer“ auf. 
Ebenfo ift die Ueberſetzung der Bibel eine wohl erwogene, plans 
mäßig betriebene Arbeit. Zuerft wurde durch Willif das neue 
Teſtament überfegt (natürli) aus der Vulgata); wohl gleichzeitig 
wurde das alte Teitament in Angriff genommen und zwar von 
einem Freund, Nicolaus von Hereford. Als das Ganze 1382 
fertig geftellt war, wurde fofort zu einer einheitlichen Umarbeitung, 
einer Revifion gefchritten durch Johann Purvey, der ein vertrauter 
Genofje Wiklifs, zulegt fein Hilfsgeiftlicher, war. Kenner rühmen 
e8, daß Willifs Stil in feiner Ueberſetzung des neuen Teftaments 
zu befonderer „Durchfichtigkeit, Schönheit und Kraft” ſich erhebe, 
uud daß das gejamte Werk „im Entwidlungsgang der englifchen 


Die refornıatorifche Bedeutung Willifß. 27 


Sprade auf feine Art ebenfo Epoche made mie Luthers Bibel- 
überfegung in der Gefchichte deutfcher Sprache“. Einen bedeut- 
ſamen Einjchnitt in diefe Periode bildet das Jahr 1381, in welchem 
Wiklif feine zwölf Thefen über das heilige Abendmahl und gegen 
die Lehre von der Wandlung veröffentlicht. Diefelben riefen einen 
mächtigen Sturm hervor, griffen fie doc dem römischen Kirchen- 
iyitem an die Wurzel. Der Kanzler der Univerfität verbot die 
Verbreitung der Thefen. In demjelben Jahr fpielte ſich der 
Bauernkrieg unter Wat Tyler ab. Ungezählte Scharen von Auf: 
ſtändiſchen jtrömten um das Fronleichnamsfeſt in London zuſam— 
men und begingen dort die größten Ausschreitungen; fogar der 
Kanzler des Reiche, Simon Sudbury, Erzbifhof von Canterbury, 
wurde von den Empörern hingerichtet. Troßdem die Bewegung 
einen jehr greifbaren Grund in einer neuen Kopffteuer und weiter 
zurüd in der Sahrhunderte langen Mißhandlung der Bauernichaft 
hatte, mußten diefe Borgänge der firchlihen Reform doch verhäng- 
nisvoll werden. Der Nachfolger Sudburys, Wilhelm Courtnay, 
Ariftofrat und Hierarch in Einer Perfon, von jeher Wiklifs erbit- 
‚ terter Gegner, benüßte den Augenblid. Am 6. Mai 1382 erhielt 
Courtnay das Pallium, und am 17. Mai trat im Dominikaner: 
Hofter zu London eine kirchliche Notabelnverfammlung zufammen, 
Männer des erzbifchöflichen Vertrauens, von anerkannt römifcher 
Orthodorie und päpftlicher Gefinnung. Das Refultat war, daf 
vierundzwanzig Wiklifſche Sätze, welche teild an der Univerfität 
Orford öffentlich gelehrt, theil® durch Reifeprediger im Land ver: 
breitet worden feien, für häretifch refp. irrtümlich erklärt wurden, 
darunter Süße, welche einen Zufammenhang zwifchen Willifismus 
und Bauernfrieg beweifen follten. Auf Grund diefer Verurteilung 
ging der Primas mit Hilfe des jungen Königs Richard II. gegen 
die bedeutenderen Anhänger Willifs vor. Im Dftober 1382 war 
jo viel erreicht, daß die Firchlihe Neformpartei in Oxford wie auf 
dem Land zum Schweigen gebradt war. Die angefehenjten Mit: 
glieder der Partei waren teild im Ausland, teild hatten fie fich 
gebeugt und fürmlichen Widerruf geleiſtet. Wiklif jelbit blieb 
merkwürdigerweiſe unbehelligt. Troßdem, daß er bis an fein Ende 
ſich volllommen treu blieb in feiner Gefinnung und in dem mann: 
haften Ausdruck derfelben, ift es doch Thatfache, daß er — mit 


28 Sandberger 


Nennung feines Namens — nie mit einer kirchlichen Cenſur belegt 
worden ijt. Er blieb in dem unangefochtenen Belit feiner Pfarrei. 
In feinen legten Lebensjahren ſcheint er noch dur Bapit Urban VI. 
nad Rom vorgeladen worden zu fein; aber wie „de citationibus 
frivolis* Kap. IV. zu lefen it: Wiklif geht nicht, „quia prohibitio 
regia impedit ipsum ire, quia rex regum necessitat et vult 
efficaciter, quod non vadat“.t Schon im Jahr 1382 war Wiklif 
vom Schlag getroffen worden; der Anfall wiederholte fih am 
28. Dezember 1384, als Willif eben in feiner Pfarrfirche der 
Meſſe anwohnte, und am Silveitertag durfte der tapfere Streiter 
Chrifti zur ewigen Ruhe eingehen. 

Es bleibt und nun nod) die Aufgabe, den Motiven und Zielen, 
welche Wiklif in feinem reformatoriſchen Wirken geleitet haben, weiter 
nach zu gehen, Art und Inhalt feines Glauben? und Strebens uns 
zu vergegenwärtigen. Buddenſieg in der Einleitung zu den lateini- 
ihen Streitfhriften ©. IX. faßt unter Hinweis auf Lechler I, 741 
feinen Eindrud dahin zufammen, daß Wiklif nicht nur mit aller 
Entjchiedenheit Luthers formales Prinzip von der alleinigen Auf- 
torität der 5. Schrift in den Vordergrund jtelle, fondern daß auch 
die von ihm vertretene und geforderte alleinige Mittlerfchaft Chriſti 
ächt veformatorifh und innerlih verwandt fei mit der evange- 
lichen Grundlehre von der Rechtfertigung. Wir Inüpfen an die 
erite diefer beiden Ausfagen an und laflen diefelbe als richtig 
gelten, aber mit einer gewiſſen Einfchränfung. Es dürfte nämlich 
faum zu läugnen fein, daß der Eifer und die Bereitwilligfeit, das 
formale Prinzip Luthers in den ihm vorausgehenden Zeiten zu 
entveden, leicht Gefahr läuft, etwas zu weit zu gehen. Als 
Erempel diene Folgendes: Biſchof Grofjetöte von Linfoln (f 1253) 
hat bezüglich der h. Schrift einmal die Äußerung gethan: „hac 
sola ad portum salutis dirigitur Petri navieula.* Dieſes „hac 
sola* findet nun Xechler (I, 205) „ganz entjprechend dem reforma= 
torifchen „verbo solo*, dem formalen Prinzip des Protejtantis- 
mus.” Grofjetöte war dad Mufter eines frommen, für die Ehre 
Gottes und das Heil der Seelen glühenden Biihofs, empfahl 
eifrig das Studium der h. Schrift an der Univerſität, ſchreckte 
auch nicht zurüd vor entfchloffener Oppofition gegen die Kurie ; 
aber an feinem Punkt erhebt er fich mwejentlich über das mittel- 


Die reformatorifhe Bedeutung Willifs. 29 


alterlihe Niveau chriltlicher Erkenntnis; er vertritt unter anderem 
mit aller Unbefangenheit und Entjchievenheit den unbibliſchen Saß, 
daß der Papſt auch Inhaber des weltlichen Schwertes fei. 

Auch der mittelalterlihen Chriftenheit it denn doch das Be— 
wußtfein um die fpezififche Dignität der 5. Schrift nie fo ganz 
entſchwunden, daß diefelbe nicht wenigſtens einzelnen Berfönlich- 
feiten fich im Gemiffen immer wieder bezeugt hätte. Wollends 
wenn eine irgendwie reformatoriſche Tendenz ſich regte, mußte fie 
notwendig auf die Offenbarung, auf die heilige Schrift zurüd: 
greifen und ſich an derfelben legitimiren. So hatte auch Franz 
von Aſſiſi mit feinem Werk nichts anderes im Auge als die „vita 
et doctrina Jesu Christi“, beziehungsweife die „forma primitivae 
ecclesiae‘ und er wurde auf lange hin als „der Hauptreformator 
diefer Zeit” gepriefen. Die Vertreter der reformatoriſchen Richtung 
innerhalb feine Ordens drüden das lehrhaft aus. Duns Scotus 
behauptet die Sufficienz der h. Schrift. Decam zerlegt die im 
Mittelalter als Inſtanz chriftlicher Erkenntnis geltende Auctoritas 
ausdrüdlih in ihre zwei Elemente, heilige Schrift und Tradition 
und bezeichnet. die eritere als die allein geltende, unbedingte Norm. 
Iſt Das nicht der adäquate Ausdrud des „formalen Prinzips“? 
Und doch findet ji) bei Decam anderes, was dem Schriftgrund: 
ſatz volljtändig widerfpridt. ES wird darum jtetß zu bedenken 
fein, daß das formale Prinzip eben ſehr formal ift, der verfchieden- 
artigiten Auffaffung und Handhabung fähig, deshalb auch ein ſehr 
unfichere® Merkmal für die Beltimmung dejjen, was RRefor: 
mation iſt. Nun für Wiflif ift die Schrift auf religiöfem Gebiet 
dad „unum primum, quod est metrum et mensura omnium ali- 
orum“. Sie ift das unverbrüdliche Vermächtnis Gottes des 
Vaters; Gottes refp, Chriſti Geſſetz; ihr Urheber ift Chrijtus, 
und er ijt auch ihr Inhalt. Chrijtus iſt ſelbſt die Schrift, Die 
wir fennen follen, und mit der Schrift unbefannt fein, heißt mit 
Chrifto unbekannt fein. Demgemäß tft die Auftorität der h. Schrift 
unvergleichlich größer als diejenige irgend einer anderen Schrift, 
zumal da die Bibel alles enthält, was zum Heil der Seele und 
zum Regiment der ganzen jtreitenden Kirche erforderlich iſt; fie iſt 
ebenfo allgemein giltig, wie irrtumslos, die Magna Charta, der 
Freiheitsbrief der Kirche, Genauer zugefehen, hat die Auftorität 


30 Sandberger 


der h. Schrift für MWiflif den Sinn, daß jede Handlung, Mild- 
thätigfeit, Kauf, Taufch u. f. f. nur inſoweit rechtmäßig und giltig 
ift, al8 die Handlung dem „evangelifchen Geſetz“ entjpriht, und 
infoweit unbillig und ungiltig, als fie von demjelben abweicht. 
Ja das ganze bürgerliche Rechtsbuch (totum corpus juris humani) 
muß fih auf das „evangelifche“ Geſetz ala eine göttliche Regel 
jtügen. — Dies iſt ja der Paffus, auf welchen fih Ritſchl für 
jeine Beurteilung Willifs vornehmlich beruft; auch Zechler nennt 
dies (I, 476) „eine Anficht, welche weniger evangeliſch als geſetzlich 
it und in ihrer Konfequenz weiter geht, als gebilligt werden kann, 
denn fie führt folgerichtig zu einer vollftändigen Theofratie, wo 
nicht Hterardhie.” Das iſt gewiß richtig, und zwar dürfen wir 
diefe Anſicht nicht etwa blos als eine gelegentliche, vereinzelte 
Abweihung von einem font höheren Standpunkt anfehen; fie 
deutet vielmehr auf ein bleibendes, durchgehendes Clement im 
Wiklifs religiöfem Habitus. Er fteht Hier noch ganz auf dem 
Boden des Mittelalters, welchem die nomiſtiſche Auffafjung des 
allgemeinen Weſens des Chrijtentums eigen ijt. Wie ganz anders 
fingen die Worte Luther in feinem Vorworte zum Neuen Te— 
ſtament: „das Evangelium und das neue Teitament fei eine gute 
Mähre und Gefchrei in alle Welt erfhollen durch die Apojtel von 
einem rechten David, der mit der Sünde, Tod und Teufel geitrit- 
ten und überwunden und alle die Gefangenen ohn ihr Verdienft 
erlöst habe — jchon zuvor verheißen durch die Propheten und feit 
Abraham und Adam im Alten Tejtament. Daraus folle man 
ja nit ein Geſetzbuch, aus Chrijtuß nicht einen Mofes machen, 
wie das bisher gejchehen fei. Auch wilfe man das Evangelium 
noch nicht, wenn man Chrijti Werke und Geſchichte fenne, ſondern 
dann wiſſe man es, wenn die Stimme fomme, die dem Lefer fage, 
daß Chrijtus fein eigen fei mit Xeben, Lehren, Werken, Sterben, 
Auferjtehen und Allem, was er fei und babe, thue und vermöge.” 
(Köftlin, Martin Luther I, 601). Eben diefe Stimme vermifjen 
wir bei Willif; für ihn ift die h. Schrift das geoffenbarte Gejeß, 
das ald Norm dem Chrijten gegenüber ftehen bleibt; für Luther 
it fie die DOffenbarungsgefchichte, die im Chrijten lebendig wird 
als erlöfende und befeligende Kraft. Daher kennt auch Wiklif Das 
Spezififche des Neuen Tejtaments im Unterfchied vom Alten nicht. 


Die reformatorifhe Bedeutung Wiklifs. 31 


Er fagt wohl, dab in leßterem die Furt, in eriterem die Liebe 
herriche, aber diefe eben doch in Form des Geſetzes, wenn auch 
ald lex evangelica. Dieſer Nomismus macht fich ebenjo 
geltend in der Lehre von Chrifto, und es kann faum anders fein. 
Es bezeugt einen überaus thatkräftigen, lauteren Wahrheitsſinn, 
wie Wiklif die bunte Manntgfaltigfeit der heiligen Kulte, der kirch— 
Iihen Auftoritäten, Stiftungen und Inftitutionen durchbricht und 
fi feinen Weg direkt zu Chriftus ſucht; er iſt unerfchöpflih im 
Ausdrüden, um die einzigartige Stellung Chrifti zu bejchreiben. 
Chriftus ift unfer Cäſar, Caesar semper augustus, der Prior 
unferes Ordens, unfer gemeinfamer Abt, unfer Patronus, Biſchof 
und Papſt, Priejter, Prophet und König der Könige; aber die 
Grundanſchauung, die immer wieder durchleuchtet, ift doch Dieje- 
nige, daß Chriſtus unfer Gefetgeber ift. Die perfünliche Bezieh- 
ung zwifchen Chriftus und dem Gläubigen ftellt ſich für Wiklif 
überwiegend unter den Gefichtspunft von Vorbild und Nachfolge; 
und zwar hebt er an dem Charakterbild Jeſu mit befonderer Vor— 
liebe feine Demut und Sanftmut und aus der Geſchichte feines 
Lebens vorzugsweiſe die Armut hervor. Bezeichnend find Die 
Borftellungen, die ſich in den lateinifchen Streitfchriften Wiklifs 
finden. Diefe find durchzogen von dem heftigjten Kampf gegen 
die falfhen „Selten“ ; e8 find das bald die vier Klaſſen des 
Kleras, der clerus caesareus — Biſchöfe und Pfarrer, die monachi 
= Die begüterten Drden, die canoniei = Stiftsherrn, die fratres — 
Bettelmönde; bald find es auch nur die vier Bettelorden, Carme— 
liter, Auguſtiner, Dominifaner und Franziskaner. Da definirt 
nun Willif 3. B. de fundatione secetarum III. die Sekte als 
„eine Anzahl von Menfchen, welche Einem Patron folgt und Eine 
Regel gelten läßt. So foll auch die Sekte der Chriften die ein- 
zelnen Wanderer umfchließen. Der Patron diefer Sekten aber ift 
Ehriftus der Herr, und feine Regel iſt der katholiſche Glaube oder 
das evangelische Gefet.“ Purgat. sectae christianae Kap. III. nennt 
Wiklif Chriftum die „Sonne der Gerechtigkeit” ; „fein Zeben wie 
feine Regel follten allen Chrijten befannter fein ala ſolch ein 
„privatus capitaneus vel patronus“ (wie etwa die Ordenshäupter.) 

Wir find aber mit dem Bisherigen ſchon in den Bereich jenes 
zweiten Sabes eingetreten, welchen Lechler und Buddenſieg auf: 


32 Sanbdbberger 


ftellen, „daß nämlih Wiklifs Grundfag „Chrijtus der einige 
Mittler" wahrhaft evangelifch, ächt reformatorifch ſei, innerlich 
nahbeverwandt mitderevangelifhen Grundlehre von 
der Rechtfertigung durch den Glauben allein.“ (Xechler 
1, 741.) Falls die obige Erörterung uns nicht ſchon bedenklich 
gegen diefe Anficht gemacht hätte, jo müßte das jedenfalls gefche- 
hen in Folge einer anderen Erklärung, welche ebenfalls Lechler 
abgibt (I, 527 f.), daß nämlich Wiflif den evangelifchen Begriff 
des Glaubens nicht erfaßt habe. „Ganz wie andern Scholaititern, 
einem Thomas von Aquino, Duns Scotuß u. ſ. w. fehlt aud) 
ihm, man möchte fait jagen, das Organ dafür. Daher hat er auch 
feinen Sinn für die Wahrheit von der Rechtfertigung durch den 
Glauben allein. Sm Gegenteil, Wiklif iſt geneigt, die Gerech— 
tigfeit vor Gott nebenbei mit auf Rechnung der guten Werke 
zu Schreiben; er fpricht diefen eben deshalb auch nicht alles Ver— 
dienjt ab.” Wird hiemit jene „innere Berwandtichaft” nicht auf 
ein ſehr nieweres Maß reduzirt? Es iſt ja ficher und wir haben 
es Schon betont, daß Wiklif den Heilswert Chrifti, die alles über- 
wiegende Bedeutung der göttlichen Gnade auf das Nahdrüdlichite 
hervorhebt. Er befennt in einer Stelle aus den XXIV Predigten, 
Nro. VI: „fein Menſch würde im Stande fein, für irgend eine 
feiner Sünden genug zu thun, wenn nicht die unendliche Erbarm— 
ung des Erlöfers wäre. Darum bemeife der Menſch vor Gott 
fruchtbare Reue und lajfe von feinen Sünden, jo werden fie Fraft 
des DVerdienftes Chrifti und feiner Gnade getilgt. (Lechler I, 523). 
Ein andermal de Dominio div. IN, 4 heißt es: Creatura penitus 
nihil a Deo merebitur ex condigno. (Lechler I, 536). Aber mit 
alledem geht Wiklif nicht über das hinaus, was andere Heroen 
mittelalterliher Frömmigkeit vor ihm befannt haben. Man denfe 
an die befannte, der Lutherſchen Formel aufs Wort entfprechende 
Ausfage des heiligen Bernhard. Im Cantica sermo 22, 8» 
„quisquis pro peccatis compunctus esurit et sitit justitiam, 
eredat in te, qui justificas impium, et solam justificatus 
per fidem pacem habebit ad Deum.“ (Ritfehl, Verföhnungsl. 
I, 114). Willif teilt in der Lehre von der Heildaneignung den 
thomiftifchen Standpunkt und es ift das ficherlih ein Berdienft 
gegenüber dem Pelagianigmus eines Duns Scotus und der an 


e 


Die reformatorifche Bedeutung Wiklifs. 33 


ihn fich anlehnenden Nominaliften ; aber gleich Thomas hat Wiklif in 
diefem Punkte mit Luther nicht viel mehr gemein als die allge: 
meine PBrämifje der göttlichen Gnade, welche beide Teile als ſchlecht— 
hinige Urfache des Heilglebens anerkennen, nur daß fie verjchie- 
dene Confequenzen ziehen. Nach Thomas iſt es die gratia operans, 
der ewige, durch Fein menfchliches Verdienſt bedingte Gnadenaft, 
durch welchen Gott den Willen de Menſchen in der Richtung 
auf das bejtimmte Ziel, die GSeligfeit im Schauen Gottes, hin 
wedt und bemegt. Dieſer Gnadenaft wirft im Menfchen die 
gratia habitualis, die justificatio.. Auch der freie Millensaft, 
durch welchen der Menſch das Gnadengeſchenk fich aneignet, 
nämli der Glaube, in welchem jih der Menſch zu Gott 
befehrt, kann jelbjt nur auf eine Bewegung durch Gott erfolgen. 
Daher der thomiſtiſche Sat, welchen Ritfhl, Verſöhnungslehre I, 94 
anführt: „si gratia consideratur secundum rationem gratuiti doni, 
omne meritum repugnat gratiae.‘ ben fo jtreng fupranatura- 
(ftifch lauten die Sätze Willifs in einer Predigt: „Wir follten 
wiflen, daß Glaube eine Gabe Gottes it, und daß er den Men- 
ihen nicht ander als aus Gnade gegeben werden kann; fo iſt 
denn alles Gute, was Menfchen haben, von Gott; wenn demnad) 
Gott ein gutes Werk eines Menfchen belohnt, fo krönt er feine 
eigene Gabe. — Gottes Güte ift die erjte Urfache, weswegen er 
irgend ein Gutes dem Menschen verleiht, und fo kann Gott auf 
feine andere Weife dem Menfchen Gutes thun, als frei aus Gnade; 
und nur in einem dem angemefjenen Sinn läßt fich fagen, daß 
der Menſch etwas vor Gott verdiene”. Aber zeigen nicht eben 
diefe Schlußmworte, wie unvermeidlich dem mittelalterlichen Chriften 
die WVorftellung des Berdienftlichen in die Reflerion über das 
Heilsleben hereinfpielt? Bei Thomas wird die gratia operans 
zur gratia cooperans, fofern die durch den Gnadenakt Gottes 
bewegte Seele zugleich) ala fich felbit bewegend vorgejtellt wird, 
und Die gratia operans finft herab zur conditio sine qua non 
für das verdienftliche Wirken des freien Willens. Dasfelbe it 
es, wenn Wiklif die Grundlage alles Heil in Gottes Gnade, 
ı Lewald, in Nieder Beitfchrift für Kirchengeihichte, Jahrgana 

1846, ©. 185. 
Theol. Studien a. W. VI. Jahrg. 





3 


34 Sandberger 


bie prinzipielle Urfache aller Erlöſung und Verföhnung in Chrifti 
Berdienft fieht, aber für die individuelle Verwirklichung des Heils 
ein Verdienſt im uneigentlichen Sinn (meritum e congruo), eine 
Mitwirkung der eigenen fittlihen Kraft des Menſchen als ſelbſt— 
verftändlich betrachtet. Am Prägnanteften zeigt ſich die religiöfe 
Stellung Willif3 in feinem Begriff vom Glauben. Den von Gott 
gefchenften, „unmittelbar ins Herz gegoffenen” Glauben defintrt 
er als „eine übernatürlihe und habituelle Kenntnis der Religions- 
wahrheit” (Trialogus II, 1. 2.), ergänzt aber dieſe Definition 
jtet3 durch den Sat, daß der Glaube notwendig fruchtbar fein 
müſſe in guten Werfen, nicht nur ein Wiffen fei, fondern zugleich) 
ein fittliches Handeln aus Liebe in der Nahahmung Chrifti. Der 
wirkliche Glaube ift ihm nur die fides caritate formata. Luthers 
Glaube ift eine innere Erfahrung, in welcher der Chriſt Gottes 
Gnade in Chrifto vertrauensvoll fich zueignet und zu perfönlicher 
Heilögemwißheit gelangt, — ein Erlebnis, welches dann zur frei 
und unbefangen wirkenden Duelle fittliher Bethätigung wird. 
Wiklifs Glaube dagegen iſt in erſter Linie ein intelleftuelles Ver— 
halten, das in ſich felber nicht zur Ruhe fommt, fondern ängſt— 
lich beforgt fein muß, in den Werfen Inhalt und Bewährung zu 
finden. Das Moment der Heilsgewißheit fehlt Wiklif. Der Fatho- 
liſche Chrift mag etwa die Seligfeit, zu welcher er beſtimmt ift, 
vorausnehmen in einzelnen Augenbliden efitatifcher Kontemplation; 
oder er läßt fich genügen an den Warantieen und Hilfsmitteln, 
welche die Kirche bietet, namentlih im Bußſakrament. Diefe bei- 
den Mege erijtiren für Wiklif nicht. Auf die Gewißheit Des 
Gnadenftandes, deſſen Wurzeln in dem ewigen Erwählungsrath— 
Schluß Gottes ruhen, läßt er nur einen Wahrſcheinlichkeitsſchluß 
zu, ausgehend von dem frommen, rechtichaffenen Wandel, von den 
guten Werfen, deren fich der gläubige Chrijt befleikigt. Wir müffen 
an diefem Punkte das zweifache Urteil, welches unjere Reforma- 
toren über Wiklif gefällt haben, als richtig anerkennen. — Das 
Melanchthonſche in der Vorrede zu „‚sententiae veterum de coena 
Domini‘: „prorsus nec intellexit nee tenuit fidei justitiam* — 
und das Lutherfche in den Tifchreden: „Wykliffe und Huß haben 
das Leben im Bapfttum angefochten; ich aber fechte das Leben 
richt vornehmlih an, fondern die Lehre” Nicht ala ob Wiklif 


Die reformatorifhe Bedentung Willifß. 35 


nicht auch die Lehre zum Gegenftand feine Denkens und Wirkens 
gemacht hätte; in welchem Umfang er das gethan, werden mir 
noch jehen; aber das ijt jedenfalls richtig, daß er durch die eigen: 
tümliche, eben noch mittelalterliche Art feiner Frömmigkeit beftimmt 
wurde, unmittelbar gegen da Leben, oder jagen wir, gegen die 
Erfcheinungsmeife der Kirche in der Welt Dppofition zu machen 
und darin das nächte Ziel reformatorifcher Thätigkeit zu fehen. 
Ein Blid auf Willifs Neformideal wird das zeigen. 

Den Schaden der Kirche findet er darin, daß fie von der 
Einſetzung Chrifti in feinem Wort, von dem „exemplum primi- 
tivae ecclesiae‘‘, welche eine „ecelesia pauperum confessorum“ 
gewefen, abgewichen und in meltliches Weſen verfunfen if. Den 
Anfang diefer Vermweltlihung datirt Wiklif von der Konftantin- 
ſchen Schenkung, — ähnlich wie fein Zeitgenofje Wilhelm Lang: 
land in den „Gelichten Peter des Adermanns”, und wie vor- 
dem ſchon Dante. Die Reform hätte demgemäß zu bejtehen in 
der Befeitigung der eingeriffenen Irrtümer und Mißbräuche, in 
der Miederheritellung des Urchriſtentums, „ecclesiae ad primam 
perfectionem restitutio“, „‚correctio nostra secundum statum 
primaevum“, Der erfte und wirkſamſte Schritt auf diefer Bahn 
fcheint ihm die Entlaftung der Kirche von weltlichem Befit durch 
Gewalt oder durch freiwilligen Verzicht. In der Streitfchrift „de 
oratione et ecclesiae purgatione“ erklärt Wiflif, die sectae (die 
verweltlichten Klerifer und Mönche) feien entweder zum reinen 
Evangelium zurüdzuführen oder aus dem Körper der Nation aus: 
zufcheiden, wie der Arzt Geſchwüre aus dem Körper ausfcheide, 
Da aber ihre Affimilation an die Kirche als ein „grande mira- 
culum‘ erfcheine, das Gott allein thun Fönne, fo bleibe für Men- 
ſchen nichts übrig ald die energifche Radikalkur, ihre Vertreibung. 
Der ganze Traftat „de officio pastorali*‘ handelt davon, daß es 
für die Pfarrgeiftlichkeit heilfamer, aber auch volllommen genügend 
jein würde von freimilligen Gaben der Gemeinde zu leben. „Es 
ift unmöglid, daß der Herr feinen Priefter verläßt, ſodaß er nicht 
Nahrung und Kleider hätte, und damit fol er nad) der Regel 
des Apoftels (1 Tim. 6, 4.) fih begnügen,” (Lechler I, 596.) 
Eine Vermirklihung dieſes deals können wir in den Wiklifſchen 
Reifepredigern fehen. Die Chroniften erzählen, wie diefe Männer 

3* 


36 Sandberger 


einhergingen, barfuß, in langen Gewändern aus grobem Wollen- 
zeug von rother Farbe, einen Stab in der Hand; fie ftellten den 
„poor priest‘ dar. So zogen jie von Ort zu Ort und prebigten, 
wo fie Zuhörer fanden. „Ihr Abſehen, erklärt Witlif in der 
Flugſchrift „of good prechying prestis“, ſei erjtlih darauf ge- 
richtet, daß Gottes Geſetz bejtändig erkannt, gelehrt, aufrecht 
erhalten und hochgeachtet werde; in zweiter Linie darauf, daß 
große offenbare Sünden, melde in verfchiedenen Ständen im 
Schwange gingen, auch die Heuchelei und Srrlehre des Antichrift 
und feiner Anhänger (d. h. des Papſts und der papiftifchen Getjt- 
lichkeit) abgethan werden follten, und dritten? darauf, daß ächter 
Friede und Mohlitand und brennende Bruderliebe in der Chriften- 
heit, infonderheit in England gefördert werde, um den Menfchen 
zur Seligkeit des Himmels ficher zu helfen. (Xechler I, 423.) 
Halten wir hier einen Augenblid inne und erinnern und, mie 
Ritſchl (Verſöhnungslehre I, 134 f.) Wiklifs Thätigfeit auf Eine 
Linie ftellt mit der die zweite Hälfte des Mittelalters beherrjchenden 
franzisfanischen Reform-Tendenz, fo werden wir an diefem Punkte 
wenigſtens nicht umhin können, die Gleichartigfeit beider Bejtreb- 
ungen anzuerkennen. Nicht nur, daß da3 allgemeine Merkmal 
zutrifft: „das chriftliche Volk fol dur die Predigt des evange- 
liſchen Gejetes Chrifti zu einer dem Mönchtum in der Nachfolge 
des armen Lebens Chrifti angenäherten Bollfommenheit geführt 
werben.“ Auch die fpecielleren Spuren von Verwandtſchaft treten 
zu Tage. Wie die Wiklifſchen Reiſeprediger noh den Mönchs— 
typus nnverfennbar an fich tragen, jo fann aud Willifs Reform 
ideal den gemeinfamen Urfprung mit demjenigen eines Franziskus 
und Dominifus nicht verläugnen. Die entfeliche Verweltlichung 
des Klerus und befonders der Kurie, welche in Avignon vollends 
zum bloßen Advokaten- und Geld-Inſtitut herabgefunfen war, bot 
ja die nächſtliegende Urfache, daß von der Reformrichtung die apo- 
ſtoliſche Armut fo fcharf betont und in den Vordergrund geftellt 
wurde, ald das höchfte zu erftrebende Ziel. Die tiefere Wurzel 
liegt aber doch in dem Grundzug des gefamten mittelalterlichen 
Chriftentums, welches in Entfagung und Armut, im Verzicht auf 
Eigentum und Befis, kurz gejagt im Mönchtum das Ideal der 
Frömmigkeit fieht. Die Franziskaner bezogen auf ſich die. Weis- 


Die reformatorifche Bedeutung Willifß. 37 


fagung des Joachim von Floris (F 1212): „necesse est, ut 
succedat similitudo vera apostolicae vitae, in qua non acquire- 
batur possessio terrenae haereditatis sed potius vendebatur.“ 
Ebenfo wußte auch Willif nichts höheres ala die „politia evange- 
lica habens omnia in communi.“ Ritſchl definirt in der Gefchichte 
des Pietismus I, 18. den Begriff der Reformation folgendermaßen : 
„Nie ift die Herftellung des richtigen Verhältniffes zwifchen Chriften- 
tum und Welt, unter der Vorausſetzung, daß dasfelbe überge- 
gangen iſt in eine Bermifchung des Chriftentums mit der Welt.” 
Hiefür jet nun Luther den Hebel im innerften Centrum der menſch— 
lichen Berfönlichkeit an. Er glaubt den erften Schritt gethan da- 
mit, daß der Menjch in der Rechtfertigung durd) den Glauben zur 
perfönlichen Heilsgewißheit, zur Kindfchaft Gottes gelangt. Iſt 
das einmal erreicht, jo wird das neue Leben, zu welchem der 
Gläubige wiedergeboren ijt, von felbjt erneuernd und umgeftaltend 
auch auf die MWeltverhältniffe einwirken. Jene SHeritellung des 
richtigen Verhältnifjes zwifchen Chriftentum und Welt bejteht alfo 
nach Luther darin, daß der Gläubige die Welt pofitiv überwindet, 
das Meltleben durchdringt und heiligt Fraft der Freiheit eines 
Chriftenmenfchen, melde er mit feiner neuen Stellung zu Gott 
gewonnen hat. Wiklif dagegen, fo rein er fein Reformideal be: 
fundet und vertritt, faßt das richtige Verhältnis zwiſchen Chrijten: 
tum und Welt weſentlich noch als ein negatives, Verneinung der 
Melt das iſt ja eben freiwillige Armut; und wiederum in der 
Weiſe des Mittelalters erjtrebt er die Verwirklichung feines deals 
dur die Predigt des evangelifchen Geſetzes, durch gefetliche Zucht. 

Aber wie jtimmt mit alledem der leidenfchaftliche, unausgefette 
Kampf, den Willif gegen das Mönchtum führt? — Der Kampf, 
in welchem ſchon Manche das eigentliche und einzige Motiv feines 
Streben nad Reform fehen wollten? Wir könnten uns mit der 
Erklärung begnügen, daß Wiklif in den Mönchen eben diejenigen 
gehaßt und befämpft hat, die dem Namen nad) Träger feines 
Ideals waren, in der That es aber in einen Abgrund von Sünde 
und Schande hineinzogen. Wir werden aber finden, daß Wiklif 
durch diefen Gegenfaß, den ihm die Wirklichkeit überall vor Augen 
führt, zu einer tiefgehenden Umformung feines Frömmigkeitsideals 
getrieben wird, deren Tragweite ihm felbit noch nicht bewußt iſt, 


38 Sandberger 


und die ihn in Widerſpruch mit fich felbit zu bringen ſcheint, — 
ein merfwürbiges Beifpiel, wie das Neue fi aus dem Alten her- 
ausarbeitet und ringt. Lechler (I, 588.) führt an, daß Willif ein 
mal den 5. Franz von Affifi mit feiner Bettelarmut fogar den 
Apofteln Petrus und Paulus mit ihrer Handarbeit an die Seite 
ftellt im Gegenfaß zu den Befitungen und weltlichen Ehren der 
Geiftlichkeit feiner Zeit. Die Drdenzftiftungen eines Franzisfus 
und Dominikus führt Willif auf Eingebung des h. Geiftes zurüd. 
Ja man möchte meinen, Willif fei bis an fein Ende nicht von 
dem Gedanken losgefommen, daß nur aus dem richtig erfaßten 
und geübten Mönchtum der Bettelorden die fchließliche und wahre 
Reformation fommen fünne. Denken wir an die Weisfagung 
Trial, IV, 30: „ich nehme an, daß einige Bettelmönde, welche 
zu unterweijen Gott gefallen wird, zu der urfprünglichen Religion 
Ehrifti mit aller Andacht fich befehren werben, von ihrer Untreue 
lafjen und mit erlangter oder erbetener Bewilligung des Antichrift, 
d. 5. des Papftes, zu der urfprünglichen Religion Chrifti zurüd- 
fehren und alädann die Kirche bauen werden wie Paulus.” Wie 
haben jich aber die Bettelbrüder faktifch gegeben zu Wiklifs Zeiten? 
"Armut war in Üppigfeit und Schwelgerei verwandelt. Gleich 
Schmarogerpflanzen hatten die Fratres das Land überwuchert, auf 
der Univerfität wie in den Gemeinden fich eingeniftet, überall Geilt 
und Leben erjtidend; was irgend die Kurie trieb, das wurde von 
den Bettelmönchen rückſichtslos verfochten; fie waren die Jeſuiten 
jener Zeit. Das Volk hatte gelernt, den Bettelbruber zu verad- 
ten, wie früher den „bejißenden Mönch“ und fand es allmählich 
gerathen, weder den einen noch den andern zu unterftüßen. Der 
Laie glaubte, für feine dereinftige Wohlfahrt am bejten dadurch 
zu forgen, daß er befondere Meßpriefter und Meßkapellen ftiftete, 
damit zum Heil des Stifter tägliche Meffen gelefen würden, — 
eine religiöfe Kapitalanlage, die fich eben nur „riche men and 
tirauntis‘* erlauben fonnten.! Dieſe Verfommenheit der Zuftände 
müffen wir ung vergegenmwärtigen, um zu verftehen, wie ein Wiklif, 
dem das Herz brannte von Teilnahme für fein Volt, der Veritand 
und Gewiſſen in ftetem Schriftftudium geflärt und geläutert hatte, 


ı Buddenfieg, zu „de quattuor sectis novellis“ Rap. VI. 


Die reformatorifhe Bedeutung Wiklifs. 39 


empfinden mußte gegen dieſe „dyaboli incarnati‘, die Bettelbrüder, 
die all dies Elend großenteils verfchuldet hatten und es nun hart: 
nädig verteidigten. So gejchieht es, daß Wiklif die privata reli- 
gio, d. h. dad Möndhtum in der einen oder andern Form ein 
„peccatum“ nennt, „quo homo indisponitur ad libere Deo ser- 
viendum.‘* Meder Glaube noch Liebe noch Hoffnung werde von 
ihnen gepflegt; an deren Stelle ſei als erſtes verbienitliches Werk 
der unbedingte Gehorfam gegen die Oberen gefegt worden, ber 
an Werth jedes noch fo gute Werk eines Laien übertreffen folle. 
Und doc könne alles, was von Mönchen etwa Gutes gethan 
werde, wie Krankenpflege, Armenfürforge, aud ohne Ordensver— 
fafjung geübt werden. Jeder Menjch, jagt Wiklif, foll thun, was 
feines Standes und Berufes ijt; je treuer und gewifjenhafter er 
feine nächſte Pflicht erfüllt, deito gewiſſer wird er kraft einer 
gewiffen Verkettung der Dinge anderen nüben nnd fie fördern. 
Diefe Berufserfüllung muß geihehen in Demut und Liebe. Die 
Demut ift „die milde Luft, in welcher alle anderen Tugenden 
allein wachſen und gedeihen können“. Die Liebe aber ift „das 
hochzeitliche Kleid, ohne welches wir im Endgericht nicht beftehen 
fönnen“. Die Liebe Gottes ijt die Haupttunft, welche man in 
der Schule der Tugenden lernt; aus ihr entfpringt die Liebe zum 
Nächſten; und dieſe hat ihre „Ordnung“ , wornad) jeder in eriter 
Linie feine Hausgenofjen (1 Tim. 5, 8.) u. f. mw. lieben foll. 
(Xechler I, 530 f.) Es liegt auf der Hand, wie folgenreich diefe 
an ſich fo ſchlichten Sätze find; hier durchbricht Wiklif die Schranfen 
der mittelalterlihen Ethif und überwindet den fatholifchen Zwie— 
fpalt zwifchen der Ertrafittlichkeit, die in Erfüllung möndifcher 
Gelübde und firhlicher Gebote ſich bethätigt, und zwiſchen der 
Laien-Sittlichfeit, die in den alltäglichen Pflichten des Lebens 
fih bewegt. Die hriltlihe Frömmigkeit wird herausgehoben aus 
dem engen Kreis firchlichverbienftlicher Werfe und mitten hinein: 
gejtellt in das unermeßliche Gebiet allgemein menfchlicher Berufs- 
thätigfeit. Es weht in dieſen Sätzen etwas von dem Geifte Luthers, 
wie er ſich ausſpricht in feiner Schrift „de votis monastieis‘ 
(1522): „melior et perfectior est obedientia fili, conjugis, 
servi, captivi quam monachi obedientia. Igitur si ab imper- 
fecto ad perfectum eundum est, ab obedientia monastica ad 


40 Sandberger 


obedientiam parentum, dominorum, mariti, tyrannorum, adver- 
sariorum et omnium eundum est, cf. Apologia A. C. XII, 285: 
„Omnes homines in quacunque vocatione perfectionem expetere 
debent, hoc est erescere in timore Dei, in fide, in dileetione 
proximi et similibus virtutibus spiritualibus.‘“ 

Ebenſo fharf und entſchieden iſt Wiklifs Bruch mit dem 
traditionellen Kirchenbegriff, Während des Mittelalters hatte ſich 
die Kirche entwidelt unter der Prätenfion, fie jei die unentbehr- 
liche Heilsanftalt wie die vollgiltige Verwirklichung des Reiches 
Gottes auf Erden. Erjteres behauptet fie zu fein, fofern fie allein 
mit unfehlbarer Auftorität den Menfchen die Offenbarung über: 
mitteln, und dann fofern fie allein in wirkſamer Weiſe die heiligen 
Sakramente jpenden fünne. Dus Wort Gottes, das feinem Be- 
griff zufolge eine Offenbarung und Kundmachung fein will, war 
in das Gegenteil verkehrt worden, in ein Geheimnis, für deſſen 
Deutung nur die Kirche den löſenden Schlüffel beſitze Fraft des 
Geiftes, der ihr verliehen fei. Wiklif hat dieſes falſche Myſterium 
zeritört und die h. Schrift ala das lichte, freie Gotteswort pro- 
Hamirt, da8 am beften fich ſelbſt erklärt. Sn diefem Zufammen- 
hang verjtehen wir dag Schriftprinzip Wiklifs erſt recht zu würbi- 
gen. St ihm auch der eigentliche, ſüße, befeligende Kern des 
Evangeliums noch verborgen geblieben, fo löst er doch die h. Schrift 
aus den „argutiae‘“ und „fietitiae‘‘, die eine kirchliche Schultheo- 
logie um fie geſponnen, bietet Gottes Wort allem Volf dar als 
die gefunde, ſchmackhafte Speife, nach welcher jeder greifen mag, 
als die fichere folive Norm, die jeder ermitteln Tann, und damit 
entbindet Wiklif eine unberechenbare Fülle von Licht und Leben. 
In diefem Sinn hat er das Merk der Bibelüberfegung unter: 
nommen. „Gerade fo leicht, jagt er, kann ein ftolzer meltlicher 
Priefter irren dem Evangelium zuwider, das lateinisch gejchrieben 
ift, als ein einfacher Laie irren Tann dem Evangelium zumider, 
das englifch gefchrieben ift. Was iſt das für eine Vernunft, wenn 
ein Kind in feiner Lektion am eriten Tage Fehler macht, um dieſes 
Fehlers willen Kinder niemals zum Lefenlernen fommen zu laſſen? 
Mer würde denn bei diefem Berfahren ein Gelehrter werden? — 
Was für ein Antichriit getraut jih, zur Schmady der Chriften: 
menjchen Laien zu hindern, daß fie ihre heilige Lektion lernen, die 


Die reformatorifche Bedeutung Wiklifs. 41 


fo ernitlih von Gott befohlen it? Jeder Mann iſt verbunden 
jo zu thun, damit er felig werde, aber jever Mann, welcher jelig 
werden wird, iſt ein wirklicher Priefter, von Gott dazu gemacht — 
und jeder Mann it verpflichtet, ſolch ein wahrer Prieſter zu ſein. J 
(2echler I, 442 f.) 

Aber die Kirche erhebt auch den Anſpruch, die einzig wirkſame 
Verwalterin der Saframente zu fein. Wie ftellt ich Wiklif hiezu ? 
Die Heilöfraft der Saframente jteht ihm feit. Diefelben bieten 
eine reale Mitteilung der Gnade; ihre Segenämirkung tft nur 
bedingt durch jtiftungsgemäße Verwaltung und gläubigen Empfang, 
nicht aber dur die Würdigkeit und den Gnadenftand des fpen- 
denden Wriefterd. Wenn es Apologia C. A. IV, 150. heißt: 
„satis clare diximus in Confessione, nos improbare Donatistas 
et Viglevistas, qui senserunt, homines peccare accipientes 
sacramenta ab indignis in ecclesia“, fo wird Wiklif felbjt von 
diefem Vorwurf Feinenfalla betroffen. Wenn er auch überzeugt 
it, daß fein Verworfener ein Glied oder Amtöträger der heiligen 
Mutterkirche ift, jo hält er doch feit, daß ein Solcher gleichwohl 
innerhalb der Kirche zu feiner eigenen VBerdammnis und zum 
Nusen der Kirche gewiffe Ämter verwalte. Sein Axiom ift: 
„ministerium sacramenti non infieitur ex ministro“ (de Dom. div. 
III, 6.) und „they ben not autouris of thes (these) sacramentis, 
but God kepith that dygnyte to hymself“ (select works IV, 227.); 
die Priefter find nicht Urheber der Saframente, fondern Gott jelbit 
behält ſich dieſe Würde vor. Innerhalb der Saframentenlehre 
it es vorzugsweife das Dogma von der Transjubitantiation, 
welches Wiklif zum Gegenjtand feines Nachdenkens madt. Lechler 
bat gefunden, daß Wiklif bis zum Jahr 1378 noch der herkömm— 
lichen Auffafjung huldigte. Erſt 1380 finden ſich bejtimmte Spu— 
ren des Neuen. Da fpriht Wiklif in einer Predigt über oh. 
6, 37 ff. e& als feine Überzeugung aus, 1) daß nad) der Gon- 
jefration das Brot nad) wie vor Brot ift, 2) daß nad) der Con— 
jefration im Abendmahl Chrifti Leib vorhanden iſt und zwar ale 
die Hauptfache dabei. Von diefer Poſition aus jchreitet Wiklif 
1381 zur Kritif des katholiſchen Dogmas und meist nad), daß 
die „Wandlung“ vor allem der Schrift zuwider fei; ebenfo wider: 
ſpreche fie der beſſeren Tradition, wie dem Zeugnis der Sinne, 


42 Sandberger 


des gefunden Menfchenverftandes und der Logik; daß die Acciden- 
tien des Brote und Meines ohne die Subftanz derſelben dafetn 
follen, das fei eine Fiktion, wie im Traum. „Der Antichrijt zer: 
jtört in diefer Keerei die Grammatik, Logik und Naturwifjenichaft ; 
ja was noch mehr zu beflagen ift, er hebt den Verſtand des Evan- 
geliums auf; aber Gott erhält jederzeit wie bei den Laien Die 
Naturkunde, jo den fatholifhen Verftand, wenigſtens bei einigen 
Kleritern, 3. B. in Griechenland, oder wo fonjt es ihm gefällt,“ 
Trial. IV, 5. Endlich ſprechen gegen die Lehre von der Wand: 
lung die Folgen, die fie mit fich führe: der Götzendienſt, welder 
mit der gemweihten Hoftie getrieben werde, und die Überhebung 
des Prieſters, der den Leib Chrifti zu machen wähne; dies alles 
fei eine Erniebrigung Gottes, eine Entweihung des Saframents, 
ein Greuel der Verwüftung an heiliger Stätte. Schon aus dem 
oben angeführten Doppelfaß iſt erfihtlih, dab Wiklif Teineswegs 
mit dem Begriff einer durch Zeichen abgebildeten und jubjektiv 
vorgeftellten Gegenwart des Leibes Chrifti fich begnügt. Er glaubt 
und lehrt vielmehr eine wahre und wirkliche Gegenwart desfelben 
im 5. Abendmahl. Kraft der fatramentalen Worte geht einefüber- 
natürliche Beränderung vor, vermöge welcher Brot und Wein zwar 
bleiben, was fie im Weſen find, aber fortan in Wahrheit und 
Wirklichkeit Chrifti Leib und Blut find, ein geiftiges, unfichtbares 
Sein, — ähnlih wie die Seele in jedem Teil des menschlichen 
Körpers gegenwärtig ift. Wie Chriftus zugleich Gott und Menfch 
ft, fo it das Sakrament des Altars zugleich Chrifti Leib und 
Brot; Brot in natürlicher Weiſe, Leib in fakramentlicher Weife. 
Aber nur der Blaubige genießt den Leib, erfaßt und empfindet 
im Glauben die jaframentlihe Gegenwart des Herrn. Die Nicht: 
erwählten und nur Vorhergefehenen können in der That Chriftum 
nicht genießen, jo wenig wie Ehrijtus fie fi” aneignet und jo 
wenig wie der Menſch eine unverdauliche Speife eigentlich genießt. 

Die Kelchentziehung und das Meßopfer machten Wiflif weni: 
ger zu Schaffen, wenn er auch das lettere offenbar nur als „Dant- 
opfer” im Sinn einer dankbaren Erinnerungsfeier, nicht der wirkſa— 
men Vollziehung eine® Sühnopfers, verftanden wiſſen will. Jene 
beiden Berfümmerungen des h. Abendmahls follten nachmals durch 
die Huffiten und durch Luther Forrigirt werden. Aber Willif darf 


Die reformatorifhe Bedeutung Wiklifs. 43 


jedvenfall3 den Ruhm in Anfpruch nehmen, daß er mit feinem 
durchdachten und umfaffenden Angriff auf die Lehre von der Wand— 
lung das katholiſch-hierarchiſche Syftem ins Herz getroffen Hat. 
Das Wunder der Menfhwerdung Chrifti, wodurch der Menfchheit 
die übernatürlichen Lebenskräfte eingefentt worden find, will die 
fatholifche Kirche in der Transfubitantiation ftet3 wieder erneuern 
und fich dadurch als die legitime Verwalterin eben jener Heils- 
fräfte ermweifen, ohne welche der Menſch fein Ziel, die Seligfeit, 
die VBergottung, nicht erreichen fann. Die Kirche verwandelt durch 
ihre geheimnißvoll geweihten Priejter das Brot in den Leib Ehrifti 
und bringt durch dieſe zauberartige Verrichtung die Sllufion hervor, 
als wären in ihrer Gemeinfchaft die göttlichen Heilsgüter nicht 
nur für den Glauben gegenwärtig, fondern unmittelbar in greif: 
barer Geftalt verkörpert. Wiklif nimmt die Wunderfraft aus der 
Hand des Prieſters und verlegt fie in die göttliche Stiftung, in 
die Einfegungsworte, kraft welcher allein das „ſakramentliche Sein“ 
des Leibes Chrifti eintritt. Die Wirkſamkeit des Sakraments ent: 
kleidet Wiflif ihres magifchen Charafter8 und knüpft fie an Die 
Bedingung eines religiös-fittlihen Verhaltens, des Glaubens; er 
befeitigt auch hier die Vorftellung von der Kirche als der über: 
natürlichen Heilsanftalt und entzieht damit jenen Filtionen, der 
Stiftung des Primats durch Chriftus, der apoftolifhen Succefjion 
u. ſ. f. den dogmatifchen Boden. 

Nah dem Vorgang Auguſtins definirt Wiklif die Kirche als 
die Gejamtheit der Erwählten, als „corpus mysticum, quod ver- 
bis praedestinationis aeternis est cum Christo sponso ecelesiae 
copulatum,* Trial. IV, 22. Alfo das Heil des Chriften hängt 
nicht von der Zugehörigkeit zu der hierarchiſch verfaßten Kirche ab, 
fondern von dem Eingefhloffenfein in den Erwählungsratſchluß 
Gottes; über. die kirchlich garantirten Gnabenmittel greift Wiklif 
zurüd zu den ewigen Grundlagen unferes Heils. Darin liegt 
weiter, daß nicht nur die Unterfchiede innerhalb der Hierarchie ver- 
Ihwinden — zwifchen Pfarrer und Biſchof iſt fein mefentlicher 
Unterfchied —, fondern auch die Kluft zwifchen Klerus und Laien 
ift aufgehoben. Es gibt nur eine Scheivewand, diejenige, welche 
zwiſchen den praedestinati und den praeseiti, den Ermwählten und 
den Verworfenen befteht. Wiklif ſchwankt an diefem Punkt zwi— 


44 Sandberger 


ſchen zweierlei Vorftellungen. Das einemal fcheint es, als ob er 
nur den Ermwählten einen Platz innerhalb der Kirche einräumte; 
ihnen als „der heiligen Kirche” ftellt er in ſcharfem Dualismus 
die anderen ala „Glieder des Teufels, Jünger des Antichrijts und 
Kinder der Satans-Synagoge“ entgegen; bei ihnen kann in Teinerlei 
Sinn und Weife von einer Zugehörigkeit zur Kirche die Rede fein. 
Ein andermal aber läßt er gelten, daß es in der „itreitenden Kirche“ 
dv. h. in der Kirche auf Erden, zweierlei Herden gebe, nämlich 
die Herde Chrifti und vielfache Herden des Antichrifts. Damit 
greift er zurüd auf die Auauftinfche Unterfcheidung zwifchen verum 
und simulatum (permixtum) corpus Christi und deutet vorwärts 
auf die proteftantifche Unterfcheidung zwiſchen unfichtbarer und 
ſichtbarer Kirche. Jedenfalls verneint Wiklif die Fatholifche Vor: 
ftellung, wornac die empirische, auf dem päpftlichen Primat ruhende 
Kirche identifh ıjft mit dem Reiche Gottes. Wiklif ahnt die 
Wahrheit der apoftoliichen Verkündigung, daß das Reich Gottes 
derzeit dem Himmel angehört, daß unfere Zugehörigfeit zu dem: 
jelben während dieſes Weltlaufs eine verborgene ift, welche nur 
sur Erfeheinung fommt durd das Halten der Gebote Gottes oder 
Jeſu. Aber das eine fehlt Willif, nämlich) der wahrhaft evange: 
liſche Glaube, vermöge dejjen der Chrift in der Gemeinfchaft mit 
dem verflärten Chriftus feines Anteils am Reiche Gottes und da- 
mit feiner Seligfeit unmittelbar gewiß wird. Die Werke, d. 5. 
der fromme fittlihe Wandel, der nur die felbftverftändliche, wie 
von ſelbſt hervorquellende Erjcheinung des inneren Berbundenfeins 
mit Chrifto, mit dem unfichtbaren Reiche Gottes, mit der „heiligen 
Mutter Kirche* fein fol, muß einem Willif zum ſorglich gefuchten 
und geprüften Maßſtab, zur Garantie für dasfelbe werden. Luther 
fann getrojten Mutes rühmen: „in welcher Chriftenheit er mir 
ſamt allen Gläubigen täglid alle Sünden reichlich vergibt und am 
jüngjten Tage mich und alle Toten auferweden wird und mir 
jamt allen Gläubigen in Chriſto ein ewiges Leben geben wird“; — ihm 
iſt die Kirche „voll Vergebung der Sünden.” Wiklif dagegen kann 
nur den Nat geben: „jeder Pilger auf Erden joll die Hoffnung 
haben, daß er felig werde; alfo folle er mit Beruhigung glauben 
können, daß er in der Gnade jtehe, die ihn Gott angenehm madht ; 
und eben deshalb fei ed notwendig, daß er feinen Wandel forg- 


Die reformatorifche Bedeutung Willis. 45 


fältig prüfe, ob er fich feiner Todfünde bewußt fei und ohne irgend 
eine Beforgnis glauben fünne, daß er in der Liebe jtehe.“ 

Es ift ein befanntes Wort von Sohn Milton: „hätte die 
hartnädige Widerfpenftigfeit unferer PBrälaten nicht dem göttlichen 
und wundervollen Geijte Wiklifs im Wege gejtanden, jo wären 
vielleicht weder die Böhmen Hus und Hieronymus, noch ſelbſt die 
Namen eines Luther und Kalvin befannt geworden, und der Ruhm 
alle unfere Nachbarn reformirt zu haben, wäre völlig unfer gewe- 
ſen.“ Diefen Ausdrud hoher patriotifcher Begeifterung führen mir 
von unferem Standpunkte aus auf fein richtiges Maß zurüd und 
jagen, Wiklif fonnte da3 gar nicht fein, was Yuther geworden iſt. 
Die perfönfiche Anlage, wie die äußeren Zeitverhältniffe waren ja 
völlig verfchteden. In beiden Männern ift wohl der ethifche Trieb 
gleich ftark; beide find Helden des Gewiſſens. Aber bei Wiklif 
war es vorwiegend der klare, Scharfe Verftand, der gegen die Un: 
gerechtigfeiten und Fälfhungen kämpfte, unter welchen Wolf und 
Kirche zu Grunde zu gehen drohten. Bei Luther war es das 
tiefe innige Gemüt, welches Sünde und Schuld als die unjagbare 
Not der eigenen Perfönlichkeit empfand. Wiklif hat nicht wie 
Luther die Höllenqualen der Sünde, aber auch nicht die Himmels: 
fraft und Freudigfeit des Glaubens erfahren. Mit feinem reli: 
giöfen Denken und Voritellen, mit feinem unmittelbaren Wollen 
und Streben iſt Wiklif in wefentlichen Dingen an die Motive 
und Gefichtspunfte feiner Zeit gebunden; er teilt ihre geſetzliche 
Auffaffung des Chriſtentums und erftrebt mit ihr direft eine äußere, 
an dem Ideal apoftolifcher Armut gemefjene Reform der Kirche, 
Aber innerhalb dieſes zeitlich begrenzten Horizont hat er doch 
zugleich eine Geiftesarbeit gethan, an welche das fechzehnte Jahr: 
hundert fofort anfnüpfen konnte. So wie Wiflif die Aufgabe des 
Staats, den Beruf des einzelnen Chriften, das Weſen der Kirche 
beftimmt, weist er die Richtung, in welcher nachmals die Chriſten— 
heit den Standpunkt des Mittelalters überfchritten hat. Er war 
auf religiöfem Gebiet der größte Pfadfinder und Bahnbrecer für 
die neue Epoche, welche mit der deutfchen Reformation anbrad). 
Erfolg oder Nichterfolg, was man jo nennt, darf uns im Urteil 
über Wiklif ficherlich nicht beirren. Es ift wohl eine mißliche 
Sache, den Gründen nachzufpüren, warum die Ereignifje vergange: 


— 





46 Sandberger 


ner Zeiten gerade fo und nicht anders fich menden mußten. Aber 
für das Schiefal der Williffhen Reform muß doch der Umſtand 
von größter Bedeutung gemejen fein, daß die Prätenfion der römi— 
ſchen Kirche, die einzig legitime Organifation der chrijtlichen Gefell- 
ſchaft darzuftellen, im allgemeinen Bewußtfein des Abendlandes 
noch zu feit jtand. Die babylonifche Gefangenſchaft der Päpite, 
das Schisma, die Reformkonzilien, die durch die letzteren herbei— 
geführte Allianz des Papſttums mit den Staatögewalten gegen 
die Bifchöfe, — dies alles mußte erft noch länger nachwirken und 
feine Früchte zeitigen, bis der Staat der Kirche gegenüber eine 
Selbftändigfeit, eine Freiheit der Bewegung erlangte, genügend, 
um einer Reformtendenz Zuft und Licht zu fchaffen, wie das dann 
im fechzehnten Jahrhundert gefchehen konnte. Innerhalb der eng- 
liſchen Geſchichte mußte jedoch namentlich ein Ereignis für Die 
Sache Willifs verhängnisvoll werden, nämlich der Übergang des 
Königtums von den Plantagenet3 an das Haus Lankafter im Jahr 
1399. Es ijt nicht zu verfennen, jagt Pauli, (engl. Geſchichte 
IV, 698.) daß König Richard II. durch die vermwidelten politifchen 
Verhältniſſe feiner unglüdlichen Regierung und vielleicht auch Durch 
einzelne perjönliche Beziehungen zu den Neuerern von einer unauß- 
gefegten, erbarmungslojen Verfolgung ihrer Sekte zurüdgehalten 
worden ift, daß hierin ein Hauptgrund gefucht werden muß, wes— 
halb faft alle Prälaten feiner Abfegung ohne Widerſpruch bei- 
getreten find, und daß es dem Haufe Lankafter, dem Nachkommen 
des vornehmjten Gönner Wiklifs, vorbehalten blieb, auf die Ver- 
bindung mit dem orthoboren Klerus geftüßt, feinen illegitimen 
Thron zu befeitigen und dafür die im Volk empormachfende freie 
Richtung in Glaube und Lehre durch Inquifition und Kebergericht 
hinzuopfern und jchließlich zu erjtiden.” In den fechzehn lebten 
Sahren des 14. Jahrhunderts wuchs die Partei der Wiklifiten 
oder Zollarden (von lollen, Iullen — leife fingen) fo fehr, daß 
nah Angabe gegnerifcher Chroniften mindeftens die Hälfte Der 
Bevölkerung zu ihnen hielt. Spuren ihres Daſeins, und zwar 
bis hinauf nad) Schottland, finden fi mährend des ganzen 15. 
Jahrhunderts; um Beginn des jechzehnten treibt der Wiklifismus 
neue Schößlinge,; es fammeln fich zahlreiche Konventifel um „Reife: 
Lehrer oder Sprecher“, melde die Willif-Bibel vorlefen; ihr- 


— — — — 


Die reformatoriſche Bedeutung Wiklifs. 47 


Lieblingsbuch iſt der Brief Jalobi. Am Herbſt 1511 hielt ſich 
Erasmus von Rotterdam in Cambridge auf. Sein Freund, der 
föniglihe Geheimfchreiber für Latein, Andreas Ammonius, jchrieb 
ihm dorthin, das Holz jei im Preife geftiegen in Folge der täg- 
lichen Keteropfer, während immer noch neue Keter nachwachſen 
(Lechler I, 439). Im Schoß des Bürger: und Bauerntums be: 
reitete fich eine Bewegung vor, die in merfwürdiger Fügung zufam: 
mentraf mit den Anregungen, die bald von Wittenberg herfamen 
und zunächſt in den höheren, humaniftifch gebildeten Kreifen Auf: 
nahme fanden, — eine innere geijtige Anbahnung und Einführung 
der Reformation, die man über den Gemwaltmaßregeln Heinrich® VILL. 
ja nicht überjehen darf. Dieſe tiefgemwurzelte, dur Ströme von 
Blut befiegelte Tradition ift ficherlich eine der Urfachen, aus wel- 
hen England nebſt Deutichland zum Hort des Proteftantismus 
geworden iſt. Aber auch abgefehen von diefer innerenglifchen Ent— 
widlung, wie gewaltig find doch die Wirkungen, die von Wiklif 
ausgingen! Seine Ideen find voll und ganz auf Hus über: 
gegangen, haben durch deſſen Bermittlung das Abendland in 
Bewegung gebracht, in die großen Reformfonzilien des 15. Jahr— 
hundert3 eingegriffen und in der Gemeinfchaft der böhmifchen 
Brüder Belenner gefunden, denen Quther freudig die Hand gereicht. 
Und iſt e8 nicht ein welthiftorifcher Moment gemwefen, al® am 
5. Juli 1519 EE in Leipzig ausrief, unter die vom Konftanzer 
Konzil verdammten „peftilenzialifchen” Irrtümer des Willif und 
Hus gehören auch die Süße, daß der Glaube an die Oberhoheit 
der römischen Kirche nicht zur Seligfeit gehöre, daß die Kirche auf 
Erden nit eines Hauptes bedürfe u. f. f.? Indem Luther zu 
diefen Sätzen als „ſehr hrijtlichen und evangelifchen” fich bekannte, 
trat er erſt in dem entjcheivenden, nicht mehr auszugleichenden 
Gegenfat gegen Rom. Feinde haben damals die Gefchichte erfun- 
den, Luther ſei nad) dem Befenntnis feines eigenen Vaters in 
Böhmen geboren, in Prag erzogen und in den Büchern des eng- 
liſchen Ketzers Wiklif, an dem die Huffiten fich bildeten, unterwieſen 
worden. Mas it diefe Erdichtung anderes, ala ein Refler von 
der Thatjache, die jedem fich aufdrängt, von dem feftgefügten Zu: 
ſammenhang zwijchen beiden Reformatoren? Wiklifs Ruhm wird 
e3 bleiben, daß er der Vorläufer Luthers gemefen it. Schließen 





48 Braun 


wir mit den ergreifenden Worten unſeres Helden: „D daß Gott 
mir gäbe ein gelehriges Herz, beharrliche Beftändigfeit und Liebe 
zu Chrifto und feiner Kirche, auch zu den Gliedern des Teufels, 
welche die Kirche Chrifti zerfleifchen, damit ich diefelben aus reiner 
Liebe brüderlih jtrafe! Welch ruhmvolle Sache wäre es für mich, 
das gegenwärtige Jammerleben um diefes Zweckes willen zu enden. 
Denn das war die Urſache des Märtyrertodes Chrifti.” (De veritate 
s. scripturae c. 23; Lechler I, 


£uthers Theſen. 


Bon Hofkaplan Dr. Fr. Braun in Stuttgart. 


I. Der 31. Dftober 1517 wird traditioneller Weiſe auf pro: 
teftantifcher wie auf katholiſcher Seite als der Geburtötag der 
Reformation angeſehen; und mit Recht. Die Thefen, die Luther 
an die Thüre der Schloßkirche zu Wittenberg anfhlug, jind ja 
nicht auf gleiche Linie, oder wenn man will, auf gleiche Höhe zu 
ftellen wie die Verbrennung der Bannbulle, diefe That offener 
Losfagung von Rom, oder das Belenntnis von Augsburg, das 
den Anhalt des neuen Glaubens proflamiert. Sie haben nicht 
jenes Nein und nicht diefes volle Ja, weder verwerfen ſie das 
Papfttum, noch ftellen fie ein neues Lehrſyſtem dar; fie find un: 
fertig in Pofition und Negation. Aber fie find auch entjprechend 
reicher und inhaltvoller — fie bergen in fich nicht nur Keim und 
Wurzel jener zwei Ereigniffe, die die neue evangelifche Kirche fon- 
jtituirten, fondern Keim und Wurzel des ganzen Proteſtantismus, 
der über jene Tirchengejchichtlichen Stationen hinüber greift, des 
Proteftantismus in feiner Freiheit und Gebundenheit, in feinem 
fonfervativen und in feinem radikalen Zug, und in dem, mas beide 
Pole verbindet, in feiner tief fittlichen Ader und feinem Verwach— 
jenfein mit den Anſprüchen des Gewiſſens. Maren doch Die 
Thefen für Luther ſelbſt weder eine langer Hand geplante Bro: 
Hamation, noch eine aus ſelbſtſüchtiger Leidenſchaft hervorquellende 

Unm.t d. Red.: Obſchon die folgende Arbeit als Vortrag urjprüng- 
lich einem weiteren, nicht theologischen Kreis dargeboten wurde, und vom 
Verfaſſer nicht für unfere Zeitjchrift beftimmt war, hat der Verf. doch auf 
unfere Bitte jein Bedenken gegen die Veröffentlichung in derjelben zurückge— 
drängt u. ung die Arbeit als Nachklang zum Lutherjahr freundl. überlafien. 


Luthers Theſen. 49 


unbebachte Erpeftoration, fondern der Auffchrei des durch den 
Ablaß verlegten, durch die im Hintergrund des Ablafjes ftehende 
römiſche Heilslehre unbefriedigten, an der heiligen Schrift fich 
orientirenden Gewiſſens. 

Es wird nicht ala müffig erfcheinen, wenn wir, um die Situa- 
tion der Thefen zu zeichnen, über Doktrin und Praxis des Ablaffes 
das Mejentliche vorausſchicken und, was nicht ganz leicht ift, Die 
darin ſich verbindenden und ſich kreuzenden Gefichtspunfte zu 
einem möglichft Haren Ausdruck zu bringen fuchen. 

Der Ablaß war eine Ablöfung der Bußwerke, die die Kirche 
anfangs ala Vorbedingung der Sündenvergebung aufgelegt hatte, 
fpäter aber an die in der Beichte erteilte Sündenvergebung als 
nachträglich vom Menfchen zu leiftende „Genugthuung“ anknüpfte. 

Man dachte fich die Sache fo: der reuige Menfch, der feine 
Sünden befannt hat, erhält Vergebung der Sünden, Losſprech— 
ung von der Sündenfhuld und von der ewigen Strafe. Er hat 
aber zeitliche Strafen zu erwarten. Will er ihnen entgehen, fo 
hat er allerlei gottmohlgefällige Werke zu verrichten, die Gott 
durch die Kirche ihm befiehlt. Ye mehr er ſolche Werte verrichtet, 
um fo befjer für ihn; um fo mehr zeitliche Strafe ift abgebüßt; 
der nicht gebüßte Reſt erwartet ihn im Senfeits, im Fegfeuer, 

Für jene „guten Werke” aber ließ die Kirche allmälich im 
Anſchluß an die germanifche Rechtsanfchauung, die alle nicht un- 
ehrlichen Vergehen mit Geld ablöste, Geldfpenden zu frommen 
Zwecken treten. Diefe viel bequemeren Geldfpenden ftellten alfo 
einen Ablaß oder Nachlaß der Bußwerke und indireft der Sünden- 
ftrafen dar. 

Man hatte nun wohl das Gefühl, daß diefer Weg faſt allzu‘ 
bequem fei, und anderen Leiftungen nicht gleichlomme. 

Aber man half ſich durch eine andre eigentümliche Vorſtell⸗ 
ung, nämlich die vom überfhüffigen Schaf der Verdienſte 
Chrifti und der Heiligen: d. 5. dem von Chrijtus und den 
Heiligen über ihre Pflicht hinaus geleifteten Plus an guten Werken, 
das nun der Kirche hinterlaffen fei ala ein Föftliches Mittel, das 
Minus der gewöhnlichen Chriften zu deden, und aus dem der Papft 
fraft feiner Schlüffelgewalt mitteilen und zuwenden könne, was 
und wem er wolle, 


Theol, Stubien a. W. VI. Jahrg. 4 


50 - Braun 


Beachten wir wohl, daß neben der Ungeheuerlichfeit dieſes 
Gedankens vom Gnadenſchatz in feinem Hereinziehen ſchon an ſich 
eine Kritik des Ablaſſes lag: eine Anerkennung, daß derſelbe ſeinem 
Zweck nicht genüge; zugleich aber eine neue Verwirrung: denn 
das Verdienſt Chriſti und der Heiligen kann doch nur als ſühnende 
Deckung der Sünden die Vergebung der Sünden erzielen oder 
vervollſtändigen, nicht aber die daneben nach katholiſcher Lehre noch 
notwendige menſchliche Strafleiſtung erſetzen oder ergänzen, mit 
ihr fehlt ja jede Homogeneität. 

Aber freilich, beides ging nicht nur in der Praxis, ſondern 
allmählich auch in der Theorie in einander über; als Reſultat des 
Ablaſſes galt Straferlaß und Sündenvergebung; und 
da die reuige Geſinnung, die als zum Erfolg des Ablaſſes not— 
wendig eigentlich gefordert wurde, eine ſehr elaſtiſche und unkon— 

trolierbare Größe iſt, und bei vielen Ablaßpredigern hinter der 
Verheißung der Sündenvergebung zurücktrat, fo konnte ſich leicht 
in der oberflächlichen und ſelbſtſüchtigen Maſſe die Vorſtellung 
einbürgern, daß mit dem Ablaßbrief, den man auf beſtimmte 
Zahlung hin erhielt, die Sünde in vollem Sinn und mit allen 
Konſequenzen, Schuld und Strafe, weggenommen ſei. 

Das Stärkſte war noch, daß man die Kraft des Ablaſſes 
über den Tod hinaus bezog auf die im Fegfeuer ſchmachtenden 
armen Seelen, denen der Reſt ihrer Strafzeit abgenommen oder 
doch verkürzt werden ſollte durch den Ablaß, der ſo als höchſter 
Aft der Pietät neuen Glanz erhielt. 

Allerdings dehnte der Papft feine Schlüfjelgewalt und damit 
die Befugnis, aus dem Gnadenſchatz Zumendungen zu machen, 
auf die Toten nicht aus; aber um fo zuverfichtlicher glaubte man 
an die Kraft der Fürbitte, die von Papſt und Kirche für die Toten ein- 
trete und die für ſie geleijteten Werke oder gefpendeten Gaben ergänze. 

Das war das feltfame Gewebe von Vorftellungen und Praf- 
tifen, da3 ji mit dem „Ablaß“ verband; verwirrt und vermir- 
end; jo fünftlich, daß man fich Angriffen gegenüber immer wieder 
von einer Beitimmung in die andere flüchten und diefe in anftän- 
dige Beleuchtung ftellen fonnte, wodurch die gröbften Anftöße 
gemildert wurden; aber in feinen Folgen ein brutaler Fauftichlag 
gegen das jittlihe Gefühl und eine brutale Legitimirung des 
Leichtſinns. | — nn 


Luthers Thejen, 51 


Mas in Deutfhland den Anſtoß fteigerte, waren ja die befon- 
deren Umftände jenes berühmten Ablaſſes. Daß Papit Leo ihn. 
1513 ausfchrieb zu Gunften des Baus der Peterskirche — fo daß 
die Spende durch diefen Zweck eine gewiſſe Weihe erhielt und ein 
Bauftein für den herrlichſten Tempel der Chriftenheit wurde —, 
das hätte man ich gefallen lafjen, wiewohl an der forreften Ver: 
wendung ded Geldes Zweifel laut wurden. Aber daß Erzbifchof 
Albrecht von Mainz den Betrieb des Ablaſſes in Deutſchland 
übernahm und dafür die Hälfte der eingehenden Gelder erhielt, 
die er brauchte, um die vom Haus Fugger vorgeftredten Koften 
ſeines Palliums heimzuzahlen; daß Kommis diefes Haufes die 
Ablaßprediger begleiteten, um fofort das Geld für ihre Prinzipale, 
des Erzbifchofs Gläubiger, einzufaffieren, daß endlich die mit fürft- 
lihem Pomp einherziehenden Ablaßprediger eine Inftruftion auf: 
wiefen, in der zwar die Sündenvergebung neben einer Tare von 
1/,—25 Goldgulden (je nach Qualität und Duantität der Sünden) 
noch an ein zerfnirfchtes Herz gebunden war, die Austellung eines 
Beichtbriefes aber zur Wahl eines beliebigen Beichtvaters, die 
Teilnahme am Gnadenſchatz und die Erlöjung der Seelen aus 
dem Fegfeuer ohne jede inmerliche Bedingung lediglich auf Zahlung 
hin verheißen war — das waren Ürgerniffe, denen fein ernfter 
Chrift ohne fchmerzliches Kopfichütteln zufehen Fonnte. 

Wie Luther, für defjen fchon vor dem Konflift weit geför: 
derte Erkenntnis vom Heilsweg fein Pfalmen-KRommentar fo ent- 
iheidenden Beweis ablegt, von einzelnen Zeugnifjen wider den 
Abla in Predigten, Briefen und wohl auch auf dem Katheder 
unter dem Einfluß der nahen ärgerlihen Wirkſamkeit Tezels 
fortfchritt zur That der fünfundneunzig Thejen und unter welchen 
befonderen Umftänden (denen aud die Sage ihre Ausfchmüdung 
geliehen hat) er fie vollbrachte, daB braucht hier nicht näher aus— 
geführt zu werden. 

II. Wie wenig Luther bei den Thefen an agitatorifches Lärm: 
ihlagen dachte, zeigt ſchon ihre lateinische Abfaffung, die fie als 
wiſſenſchaftliche Diſputationsobjekte erjcheinen läßt. Und doc ift 
ihre wiſſenſchaftliche Geftalt nur die befcheidvene Form, in der ſich 


bora Ariel)! Sr) Folgenden iſt der Idke iniſche Tert nur ein pau 
mat zitiert; dm wo die alte deutſche u — en J— 


52 Braun 


eine Heilöverfündigung birgt, die aus allen feinen Definitionen 
und vorfichtigen Reftrittionen herausleuchtet und fprudelt. 

Schon die drei erften Thefen bauen eine neue Pofition auf. 

TH. 1. Da unfer Meifter und Herr, Jeſus Chriftus, fpricht: 
Thut Buße ꝛc., will er, daß das ganze Leben feiner Glaubigen 
auf Erden eine ftete und unaufhörlihe Buße fein fol. 

Th. 2. Und kann und mag fold Wort nicht vom Sakra— 
ment der Buße, das ift von der Beichte und Genugthuung, fo 
durch der Priefter Amt geübet wird, verftanden werden. 

Th. 3. Jedoch will er nicht allein verftanden haben. die 
innerliche Buße, ja die innerliche Buße tft nichtig und feine Buße, 
wo fie nicht allerlei Tötung des Fleiſches wirket. 

In Th. 1 und 2 unterjcheidet Luther von der kirchlich geord— 
neten, ſakramentlich geweihten, priefterlich geleiteten Buße, und zwar 
(Th. 2) ſowohl vom Beichtbefenntnis wie vom Genugthuungs- 
werk, die Buße, die der Herr Chriftus eingefegt hat. 
Es ift fehr bemerkenswert und geht über die Polemik gegen den 
Ablaß hinaus, daß Luther Hier nicht nur die Geld-Ablöfung der 
Buße im Ablaß und nicht nur das genugthuende die Sünde ab: 
büßende Werk, fondern die Beichte und das ganze Saframent der 
Buße — zwar nicht verwirft, aber ohne Weiteres gegenüber der 
kirchlichen Anfchauung tief degradiert, indem er die von Chriftus 
eingefeßte, Dad ganze Leben ausfüllende „Buße“ als das Höhere 
und Entſcheidende voranftellt, an die Spite ftellt. Das Weſen 
diefer Buße befchreibt er nicht näher, aber eben jene Gegenüber- 
ftelung (und das Citat der Stelle, die ja Luther im Grundterte 
fannte — ueravogıre) zeigt, daß fie eben nicht ein einzelner und 
äußerer Akt, fondern eine Grundftimmung und Grundricdhtung des 
Herzens bezeichnet, und damit haben wir in nuce den evangeli- 
ſchen Gegenfat des Innerlichen zum Hußerlihen, der konzen— 
trierten Beziehung des Herzens auf Gott zu den ato- 
miftifhen Akten der fatholifhen Disziplin (obfhon 
wir zugeben müfjen, daß Luther jene innere Beziehung und Rich— 
tung noch nicht genau genug zeichnet, nur nad) einer Seite [der 
Buße], allerding3 der grundlegenden, auffaßt, die andere, die 
jpäter bei ihm fo dominierend hervortritt [ven Glauben], noch 
nicht heraushebt; fiehe übrigens nachher über die Ergänzung, die 
er jelbit feiner erjten Theſe gibt). 


Luthers Theſen. 53 


Daneben dürfen wir aber keineswegs überſehen, daß Luther 
ſofort in der 3. Theſe dem Mißverſtändnis begegnet, als ob die 
von ihm geforderte Buße eine blos innerliche ſei. Luther zeigt 
bier, daß erMerfe fordere als Ausdruck echter Buße; 
aber einmal ftehen diefe Werke nicht atomiftifch wie in der katho— 
lichen Praris nebeneinander, fie find einheitlih zujammen- 
gefaßt („Tötung des Fleiſches“) und damit auch nach ihrem 
Inhalt charakterijirt ald die Bethätigung des Gott zuge: 
wandten und eben damit auf die Befriedigung des 
Sleifhes, der Selbitfuht verzichtenden Sinnes, im 
Unterfhied von den bloßen Geldfpenden beim Ablaß und aud 
von den vielen fonftigen kirchlichen Werfen, die eine Überwindung 
der Selbitjucht, eine „Tötung des Fleiſches“ nicht in fich ſchließen 
und darum aljo auch nicht gute Werke find. Da haben wir demn 
ihon in nuce die neue evangelifche Ethil, den Gegenſatz echt chrilt- 
licher Moral zur kirchlichen Askeſe und Disziplin. 

Sehen wir nun, was auf die großartige in den drei erjten 
Thejen gelegte Doppel-Fundament fich weiter aufbaut und ihnen zu 
Vervollitändigung dient. 

II. Hat Zuther in der erften und zweiten Thefe die Buße 
im Sinn Chrifti al den einzigen Weg ins Himmelreich auf: 
geftellt, fo verwirft er ausdrüdlich und ſcharf den Wahn, als ob 
die Ablafbriefe diefen Meg öffnen. Th. 52: „Durch Ablaßbriefe 
vertrauen felig zu werden, ift ein nichtig und verlogen Ding, ob: 
gleich der Kommifjartuß, ja der Papſt felbft, feine Seele dafür 
zum Pfand wollte jegen.” Die Schärfe diefer Thefe zeugt von 
Luthers tiefer fittliher Entrüftung gegen den Greuel. Und wäh— 
rend er allerdings (j. nachher) dem Ablaß für die Lebenden noch 
einen begrenzten Wert läßt, nämlich als Erſatz für die von der 
Kirche auferlegten Bußwerke, verwirft er ihn für die Toten im 
Segfeuer total; (Th. 10. 11.)! natürlih! während bei der 
katholiſch atomiſtiſchen Faflung Werke von Lebenden, auch Geld: 
ipenden und Gebete jehr wohl auf Tote fönnen übertragen werden, 
ft die Buße, die Luther ala einzigen Weg zum Himmel aner- 





ı Am Fegfeuer jelbit zweifelt Luther nit; aber immerhin 
begt er darüber etwas unklare und ſchwankende Vorftellungen (TH. 16ff-) 


54 Braun 


fennt, etwas rein PVerfönliches und Unübertragbares. Über das 
Weſen diefer Buße fagt er wenig Direltes: Th. 4 „odium sui 
id est poenit. vera intus“*; Th. 30 „niemand ift deſſen gemiß, 
daß er wahre Reue und wahres Leib (contritio) genug habe“; Th. 31 
„wie felten einer ift, ver wahrhafte Reue und Leid habe“ .... 
Wir fehen, die Buße, die Luther fordert, ift etwas großes, um: 
faffendes, in feinem Menjchenleben zum volllommenen Ausdrud 
gelangendes. Aber geht damit nicht die Gewißheit der 
Seligfeit verloren? Wie verträgt fich mit Th. 30 (f. o.) 
die Th. 36 „ein jeder Chrijt, fo wahre Neu und Leid hat über 
feinen Sünden, der hat völlige Vergebung von Pein und Schuld“? 
Hier ift eine Züde in den Thefen; nit in Luthers Ge: 
danfen; denn er hatte jchon zuvor in feinen Borlefungen 
über den Galaterbrief es ausgefprochen, das was der Buße 
zur Seite gehe und gleichjam voraneile, fei der Glaube, das 
einfache volle Vertrauen zu der vergebenden Barmherzigkeit Gottes 
in Chrifto. Nachträglih hat Luther eben diefe Bedeutung des 
Glaubens, wornach er der Empfänger der Sündenvergebung wird, 
in dem lateinifchen Sermon von der Buße noch befonders 
flar und ausführlich dargeftellt. In den Thefen fehlt, wie gejagt, 
die ausdrüdliche Hervorhebung davon. Es ijt daß natürlich, fo: 
fern Luther von der Polemik gegen den Ablaß ausgehend eben 
hier es mit der Buße fpeziell zu thun hatte. Aber indirekt ift 
der vechtfertigende Glaube aud in den Thefen ſchon gelehrt; 
fein Inhalt, die vergebende Gottesgnade in Chrijto, fommt zum 
ſchönſten Ausdrud, vgl. Th. 37, 58, 62, und der Glaube an 
diefe Gnade ift für den wahren Chriften, der recht Reu und Leid 
trägt, mit vorausgeſetzt. In der That ijt ja beides aufs Engite 
mit einander verflochten: für den Menfchen, der Gott fennt, den 
Heiligen und Gnädigen, muß es nun, wenn er diefe Erfenntnis 
mit Energie auf fein inneres Leben anwendet, gleich notwendig 
fein, fich vor dem Heiligen bußfertig zu beugen und zu dem Gnä- 
digen ji gläubig zu nahen — beides find nur zwei Akte, ja nur 
zwei forrefpondierende Momente derjelben unmittelbaren Grund: 
beziehung auf Gott. Heben die Thefen naturgemäß den erſten 
Aft hervor, fo Luther fonjt, die Befenntnisfchriften, die „evange- 
lifche Tradition“, wenn ich jo fagen darf, den zweiten. Und gegen: 


Luther Thejen. 55 


über einer einfeitigen Hervorhebung des zweiten, die leicht zu jcho: 
laftifcher Veräußerlichung oder antinomiftifcher Verwirrung führen 
fann, tjt die — wenn auch einfeitige — Hervorhebung des eriten, 
des Buß-Akts, in den Thefen von vornherein eine trefflihe Kor- 
reftur. Die Buße als die Abmwendung von der Sünde gibt dem 
Glauben als dem Empfang göttlicher VBergebungsgnade und gött- 
lichen Lebens überhaupt jeine praftiiche Begründung, feine blei- 
bende, demütige Färbung und feine Beziehung zur Heiligung, ja 
der Trieb zu ihr. Diefe Bedeutung der Buße hat erit der Pie- 
tismus wieder erfannt und zu Ehren gebracht, und darin ift er 
gegenüber dem orthodoren Zuthertum ein Fortfchritt oder vielmehr 
eine Korreftur, herausgeboren aus dem genuinen Geiſt des Pro— 
teitantismus, dem Geiſt, der in den Thefen weht. 

Ja, die rechte Stellung der Menfchenfeele zu Gott in Buße 
und Glaube al3 in ihren zwei Polen aufgezeigt zu haben, das 
ift und bleibt der veligiöfe Fund der Reformation. Dieſe abfolute 
Abhängigkeit blos von Gott, nicht von Kirchenftrafen und Kirchen- 
ordnungen in dem, was zur Seligfeit notthut; dieſe doppelte un: 
mittelbare Beziehung der Menfchenfeele zu Gott bleibt der Aus: 
gangspunkt und das Zentrum der evangelifchen Kirche und der 
proteſtantiſchen Dogmatik — man fan fie vielleicht korrekter 
Schildern, vollftändiger vermitteln, erfenntnistheoretifch begründen 
und begrenzen — ſie felber jteht feit, folang es mühjfelige und 
beladene, fündengedrüdte und gerechtigkeitsdurftige Herzen gibt. 

IV. Und neben diefer einen Säule, die aus den Theſen her- 
vorragt, die protejtantifche Kirche und Theologie zu tragen, fteht 
die andere — neben der dogmatifchen die ethifche. Daß jene 
innere Grundbeziehung des Menjchen zu Gott, die Luther in den 
Thefen unter dem Gefichtspunft der Buße faßt, die aber nad 
feiner vollen Meinung Buße und Glauben in fi ſchließt, nicht 
blos innerlich bleibt, fondern ſich fihtbar bethätigen, Werte ſchaffen 
muß, das fpricht, wie wir fahen, ſchon Th. 3 aus. Kein Bor: 
mwurf gegen Luther und die Reformation überhaupt ift thörichter 
und abgejchmadter als der auf Unterbrüdung oder Vernachläſſig— 
ung der Ethif. Diefer Vorwurf kann teilmeife der mittel: 
alterlihen Myftif gemacht werden: dort fehlt es hie und da 
an dem ethifch gerichteten Begriff der Buße und des Glaubens, 


56 Braun 


beide werden in ungenügender Weiſe erſetzt durch das quietiftifche 
Vergeſſen der eigenen Perfon und Beichauen der Gottheit, wor: 
aus Feine praktische Frucht, Feine lebendige Beziehung auf Welt 
und Menschheit entipringt. 

Anders bei Luther. Ihm ift die Buße Abfcheu vor der 
Sünde und Abwendung von der Sünde, und fo zielt fie auf 
Überwindung der Sünde; andrerfeits ift ihm der Glaube Empfang 
göttlichen Lebens und fo wirft er Entfaltung göttlichen Lebent 
neuen Lebens aus Gottes Geiſt. 

Aber worin beſteht nun jene Überwindung der Sünde oder 
„Tötung des Fleiſches“ und dieſe Beweiſung des Geiſtes? 

Hier hätte Luther im Gegenſatz zu den niederen im Ablaß— 
weſen dokumentierten ſittlichen Anſchauungen, zu dem im Ablaß 
eröffneten bequemen Weg, die urſprünglich von der Kirche verord⸗ 
neten Bußwerke zu umgehen, ja eben diefe durd Geld un: 
ablösbaren Bußwerke ſelbſt empfehlen und fih auf 
die Seite der ftrengen Aszetiker des chriftlichen Altertums und des 
Mittelalters jtellen, dem bequemen und üppigen Leben, wie e3 
damals in der Welt und im Kloſter berrfchte, das Leben der 
Kafteiung nah mönchiſcher Manier entgegenfeten können, jenes 
aßzetifche Leben, da man die Abtötung des Fleiſches in der Unter: 
drüdung aller natürlichen Triebe und Sgnorierung aller natür- 
lich menfhlihen Beziehungen ſucht und in der Erreichung dieſes 
Ziels eine höhere Heiligkeit findet. Aber weit gefehlt — und 
bier thut fih der zweite große Gegenſatz zwifchen Luther 
und der fatholifch mittelalterlihen Frömmigkeit auf: Werke for: 
dern beide, Luther fo energisch wie fie; aber die Werke, die Luther 
fordert, find ganz andere: 

Th. 41. Vorſichtiglich fol man von dem päpitlichen Ablaß 
prebigen, daß der gemeine Mann nicht fälfchlid dafür halte, daß 
er dem andern Werke der Liebe werde vorgezogen, 
oder bejjer geadtet. 

Th. 42. Man fol die Chriften lehren, daß es des Papſtes 
Gemüt und Meinung nit fei, daß Ablaß löfen irgend einem 
Werk der Barmherzigkeit mit nicht? ſollte zu vergleichen fein. 

Th. 43. Man foll die Chriften lehren, daß der den Armen gibt, 
oder leihet den Dürftigen, bejler thut, denn daß er Ablaß Löfete. 


Luthers Theſen. 57 


Th. 44. Denn dur das Merk der Liebe wächſt die Liebe, 
und der Menfch wird frömmer, dur den Ablaß aber wird er 
nicht befjer, fondern allein ficherer und freier von der Pein und 
Strafe. 

Th. 45. Man foll die Chriften lehren, daß der, fo feinen 
Nächſten fiehet darben, und dejjenungeachtet Ablaß löſet, der Löfet 
nicht des Papſtes Ablaß, fondern ladet auf fi) Gottes Ungnade. 

Th. 46. Man foll die Chriften lehren, daß fie, wo fie 
nicht übrig reich find, jehuldig find, was zur Notdurft gehöret, 
für ihr Haus zu behalten, und mit nichten für Ablaß zu ver: 
Ichwenden. 

Hier werden die Werke der Liebe und zwar teils das 
Wohlthun an den Armen, teil die häusliche Ber: 
forgung der Angehörigen, nicht nur direft dem Kaufen von 
Ablaßbriefen gegenübergeftellt, fondern zugleihd — eben indem fie 
allein al gute Werfe genannt find — allenandern „guten 
Werfen“ vorangejstellt und ganz felbitverftändlid als die 
Gott wahrhaft gefälligen proflamiert. 

Das ift das Thema, das Luther fpäter jo unendlich oft 
variirt: Die Liebe, neben der zu Gott und mit ihr die zum Näch— 
ften, wie die zehn Gebote fie fordern, ift das einzig wahrhaft gute 
Werk; da ift rechte Tötung des Fleifche® und Ermweifung des 
Geiftes, da ift Frucht von Buße und Glauben. Das Fleifh, das 
bier getötet wird, ift nicht einfeitig nur die Summe finnlicher 
Triebe und Begierden, fondern eben die Selbftfucht, die vom finn- 
Iihen auch aufs geiftige Gebiet übergreift und auf letzterem ſich 
am ärgſten entfaltet (Selbjtgerechtigfeit). Die natürlichen Triebe 
ihrerſeits find nicht ala ſolche fündlich, fondern nur fofern fie im 
Dienſt ungezügelter Selbftfucht ftehen; fie find nicht zu unterdrüden, 
fondern fo zu regulieren, daß fie fi) dem göttlichen Gebot und 
dem Wohl der Brüder fügen. An die Stelle der möndifchen 
Enthaltung vom weltlihen Beruf tritt treue Berufsübung zu Nutz 
des Nächſten, an Stelle der Ehelofigfeit der „heilige“ Che: und 
Hausftand, wie ihn Luther felbjt hernach vorbildlich begründete, 
der Hausftand, wie er in feiner Bedeutung ſchon Theſe 46 an- 
erfennt und zur Bethätigungsftätte chriftlicher Liebe, chriftlicher 
Sittlichfeit geweiht wird, 


58 Braun 


Es liegt zu Tage, welche ethifchen Gegenfäge zum Katholi- 
zismus, welche moralifchen und fozialen Entfaltungen und Bild: 
ungen von hier ihren Ausgang nehmen, und Weſen und Ent: 
widlung des Vroteftantismus fo intenfiv wie die dogmatiſchen 
Faktoren mitbejtimmen. 

V. Aber unter den Tönen, die aus den Thefen Elingen, ver: 
nehmen wir. auch ſolche von mefentlih andrem Klang. Neben 
dem Neuen in den Thefen haben wir auch das Alte ind Auge zu 
fafjen, neben den radifalen Elementen die fonfervativen; 
‘ und hier werden wir wieder zu fcheiden haben zwifchen den ka— 
tholifhen Elementen, die ſich innerlich mit dem neuen nicht 
vertragen, die nur wie Eierſchalen ihm anflebten und fich von 
jelbjt ablösten, und den alt und et hriftliden, die dem 
Neuen im Proteftantismus nicht nur zum Fundament dienen, 
fondern in ihm ihre Auferftehung nach mittelalterlicher Verfümmer: 
ung feiern, 

Zunädjt erfcheint uns höchſt überraſchend wie Luther, 
jojehr er die wahre Buße vom Ablaß ſcheidet und über ihn 
itellt, dennoch diefen in feiner Sphäre gelten läßt, näm- 
Ich al von der Kirche geftattete Ablöfung der von 
ihr auferlegten Bußmwerfe oder „zeitliden Strafen.” 
Die Schlüffelgewalt des Papftes beziv. des Prieſters bejteht 
nach Zuther eben darin, daß er die zeitlichen Strafen auflegen 
und ebenjo gegen eine andere Zeiftung erlaſſen kann. Th. 5. 
„Die Ablaßgnade, jagt deutlich Th. 34, bezieht fich allein auf die 
Pein der Genugthuung, die von Menfchen auferlegt worden ift.“ 
Diefer Wert der Ablafgnade ift anzuerkennen und die Verkündiger 
des Ablaſſes darum zu ehren Th. 69. 71. Aber freilich finden 
fih neben den anerfennenden Worten fofort wieder wichtige Vor: 
behalte. Dem Wahn, daß der Ablaß mehr bedeute als Erlaf 
zeitlicher Strafen, alfo mehr fei als ein irdifches Gut, daß er 
Bergebung der Sünden wirke, diefem von den Ablafpredigern 
oft genährten Wahn tritt Luther fcharf entgegen Th. 70. 72. 
Die Ablaßgnade felbit wird als eine verhältnismäßig fehr unter: 
geordnete tarirt Th. 55. „Läutet man den Ablaß mit einer Glocke 
ein, jo jollte man das Evangelium mit hundert Gloden ehren.“ 
Th. 68. Und endlich vegen ſich in Luther doch auch Schon Zweifel 


Luthers Theſen. 59 


an der Berechtigung des Papites zum Ablaß, zwar nicht in fcharfer 
Beitimmtheit, aber in ironifchen Andeutungen wie Th. 56. „Die 
Schätze der Kirche, wovon der Papft den Ablaß außteilt, find bei 
der Gemeinde Chrijti nicht genügend bekannt” ; ebenfo 

Th. 65. Derhalben find die Schäße des Evangeliums Nete, 
da man vor Zeiten die reihen wohlhabenden Leute mit gefifcht hat. 

Th. 66. Die Schäße aber des Ablafjes find die Nete, 
damit man jebiger Zeit den Reichtum der Menfchen fifchet. 

Th. 67. Der Ablaf, den die Prediger für die größte Gnade 
ausrufen, iſt freilich für große Gnade zu achten, denn er großen 
Gewinn und Genuß trägt. 

Befonders intereffant find die Fragen, die Luther aufitellt 
Th. 82—87, 3. B. 

Th. 86. Item, warum bauet jeßt der Papſt nicht lieber 
St. Peters Münfter von feinem eigenen Gelde, denn von der 
armen Chrijten Geld, weil doch fein Vermögen fich höher erjtredt, 
denn die Güter des reichen Grafjus ? 

Th. 87. Warum erläßt oder teilet der Papſt feinen Ablaß 
denen mit, die ſchon durch vollkommene Reue zu einer vollkom— 
menen Vergebung und zum Ablaß berechtigt ſind? 

Zwar meint Luther Th. 90. 91., dieſe ſpitzigen Einwände 
könnten aufgelöst werden, wenn der Ablaß recht im Sinn des 
Papſtes gepredigt würde. Aber dabei iſt wohl einige Unficherheit 
oder Ironie in feinen Worten zu fpüren. Denn wie follte die 
Frage von Th. 87 überhaupt auf dem Boden auch der gereinig- 
ten Lehre von Ablaß und genugthuenden Werfen beantwortet 
werden können? Diefe These ift Hohwidtig; denn fie 
jagt indirekt: hat ein Menſch in vollfommener Reue, 
oder fagen wir vollftändiger in bußfertigem Glau— 
ben, die Vergebung erhalten, wozu dann überhaupt 
noch die Genugthuungswerfe oder Ablaßjummen? 

Sie haben feine Stelle mehr — zu Diefer Erkenntnis iſt 
Luther noch nicht in den Thefen durchgedrungen, wohl aber in 
dem im Februar 1518 erfchienenen „Sermon von Ablaß 
und Gnade“ Da erklärt er offen, daß die verfdie: 
denen Beitandteile und Formen der firdliden Buße, 
Ohrenbeichte und genugthuende Werke, ſchwerlich 


60 Braun 


in der heiligen Schrift begründet ſeien — Gott, 
der dem Sünder frei aus Gnaden vergebe, fordere 
nichts als herzliche Reue mitgutenerniten Vorfägen. 
So bricht das, was Luther in den Thefen noch vom Wert 
des Ablaſſes und der durch ihn erfeßten Bußwerfe übrig gelaffen 
hat, vollends zufammen, und es fiegt der Gedanke, daß Hand in 
Hand mit der Vergebung der Sünde die Strafe der Sünde von 
Gott erlaffen fer und der Menſch, auch Papſt und Prieſter, als: 
dann fein Recht mehr habe, zu trafen oder Strafen zu erlafjen. 
Gewiß bewegt ſich Luther hier ganz in der Linie der Thefen vor: 
wärts; wir merken ſchon in ihnen, daß jene Überzeugung fich 
vorbereitet. 
Unnd ebenſo ift es bei einem andern Punkt, in dem der Luther 
der Thejen auf den erjten Anblid uns vecht Fatholifch mittel- 
alterlih erfcheint. Es wird nämlich dort die Sündenvergebung 
allerdings direft von Gottes Gnade abgeleitet und durch Fein 
menschliche Bußwerk bedingt, wohl aber erjcheint e8 als felbft- 
verftändlih, daß die göttlihde Sündenvergebung 
durh priefterlide Abfolution in der Beichte dem 
Menfhen zugefprocdhen werde. Th. 6. 38. Sa Th. 7 fagt 
jehr entſchieden „Gott vergibt keinem die Schuld, den er nicht 
wohl gedemütigt, dem Priefter, feinem Statthalter, unterwerfe.“ 
Und auf demſelben Standpunkt fteht Luther noch in den „Refo- 
lutionen“ zu den Thefen. Gott, jagt er dort, vergibt wohl dem 
Bußfertigen ohne den Priefter, aber durch das ausdrüdliche Wort 
der Abfolution will er uns der Vergebung gewiß machen und fie 
uns ing Herz ſenken — darin daß dem Prieſter dieſes ausdrüd- 
liche Wort anvertraut ift, findet Zuther jetzt die Schlüffel: 
gewalt, nachdem er die Auflegung von Strafen aus ihr elimt- 
niert hat. Uber dabei kann Luther nicht ftehen bleiben. Denn 
warum foll die Gnade Gottes, die den Bußfertigen gehört, gerade 
an die priejterlihe Zufprehung gebunden fein? Im deutfchen 
Sermon „von der Buße“ ſpricht es denn Luther Far aus, 
an die Stelle des Prieſters könne jeder Chrift treten 
und dem andern dad Wort von der Vergebung verfündigen, d. 5. 
feine Abfolution vollziehen. Es bleibt — und e8 ift in der 
evangeliichen Kirche mit Necht geblieben — die ordentlihe Auf: 


Luthers Thefen. 61 


gabe des geiftlihen Amts, diefe Botfchaft von der Gnade den 
Bußfertigen zu bringen. Aber das geiftliche Amt iſt nicht allein 
dazu berechtigt, jeder Chrift darf jene Botjchaft andern, ja fi 
jelber bringen, wenn er fie gläubig aus Gottes Wort jchöpft; 
und jene Verkündigung, die ala Abfolution bezeichnet wird, ift 
eben Botfhaft von der Vergebung, nidt Sünden: 
vergebung ſelbſt. Zu diefer Erkenntnis hat ſich Luther 
ſchwer und wit Schwanfen durchgerungen; natürlich, denn jo jehr 
ſchon die Anſchauungen der Thefen zu folcher Konſequenz zwingen, 
fo ift doch eben hier der Punkt, an dem der priefterlihe Standes- 
anſpruch, in den auch Luther felbjt natürlicherweife innerlich ein- 
gelebt war, auf das Tiefite erfchüttert wird. Das allgemeine 
Brieftertum verdrängt das befondere. Aus dem 
Befiger und Spender göttlider Gnadenſchätze wird 
ein einfaher Bote der Gnade; das Schlüjjelamt 
wird aus einer Herrihaft über die Gemifjen ein 
Liebesdienjt an den beladenen Seelen. 

Menn eine Schattierung des modernen Luthertums wiederum 
für den Geiftlihen das ausschließliche Recht der Abfolution bean: 
ſprucht und dieje nicht ala Botfchaft, ſondern als aktuelle Sünden- 
vergebung faßt, jo iſt das vielleicht aus dem Buchſtaben der 
Thefen, aber feinenfall® aus ihrem Geift heraus geredet; es 
ift ein faljcher Konfervatismus, der eben das Unvollfommene 
und Inkonſequente feithält, da8 Luther felbit hernach bejeitigt 
und überwunden hat. Der Konſervatismus folder „Zutheraner“ 
ift bedauerlich und unentjchuldbar. Luthers Fonfervative Haltung 
iſt pſychologiſch natürlich und gefchichtlich gewiſſermaßen erfreulich : 
jie beweist, wie menig er der angebliche Revolutionär war, wie 
jehr er feinen neuen Wein in die alten Schläuche zu gießen ver: 
ſuchte, bis die immer flarere Erkenntnis ihm die Feſſeln innerer 
Gebundenheit abnahm. 

Das gilt fpeziel auch von Luthers Stellung zum PBapft: 
tum. Luther glaubt fih in den Thefen fo wenig im Wider: 
ipruch gegen den Papſt zu befinden, daß er wiederholt die Vor: 
ausfeung ausſpricht, er gebe den Anfichten und Abfichten des 
Vapftes den korrekten Ausdrud, die Ablaßprediger jeien Feinde 
des Wapftes Th. 50. 53. 55. 


62 Braun 


Dabei iſt Luther von der Würde des Papſtes völlig durch— 
drungen. Aber doch befchränft fie fih ihm merklih in Dem 
ſchwerwiegenden Sat „die Verdienfte Chrifti wirkten ohne Zuthun 
des Papſtes“ Th. 58; gegen Papftvergötterung proteftiert er ener: 
giſch Th. 79; und in den oben erwähnten Fragen Th. 82 ff. ıft 
etwas wie ein leifer, halbironifcher Zmeifel an der Reinheit der 
Motive oder an der Vollflommenheit der Erkenntnis beim Bapft 
nicht zu verkennen. 

Bald geht Luther, durh die Haltung des Papſtes jelbjt 
belehrt, weiter und meiter. In den „Refolutionen“ hält er die- 
päpftlihe Gewalt noch feft ala eine, die Gehorfam und Ehrfurcht 
zu beifchen hat, aber nur zur äußeren Ordnung gehört, ohne das 
Verhältnis der Gemiffen zu Gott zu berühren. Fordert die päpft- 
liche Gewalt etwas wider das Gewiſſen — hier jest Luther ſchon 
bejtimmt diefen Fall, was er in den Thejen noch nicht gewagt 
hätte —, thut fie eine ungerechte Sentenz, fo muß man ihr weichen 
al3 der Obrigkeit und nad) Matth. 5, 39 ff. 

Nun, der Fall trat ein: ein ungerechter Sprud um den 
andern war die Antwort auf Luthers befcheiden ernjte Rundgebungen; 
in Augsburg vor Cajetan mußte Luther erkennen, daß in der That 
Papſt und päpftlihe Tradition in der Frage von Ablaß, Abfo- 
lution und Sündenvergebung nicht auf feiner Seite jtehe; in Der 
Bannbulle mußte er erleben, wie der Papſt gerade feine Lehre 
als ketzeriſch verwarf und verurteilte — da fiel freilich vollends 
die Ehrfurcht vor dem päpftlihen Stuhl, an der er fo lang und 
fo gerne fefthielt; da fiel auch die Überzeugung vom menfchlich 
obrigfeitlihen Recht des Papſttums, Luther erfannte jett in ihm 
die antichriftlihe Macht, und der paffive Widerftand wandelte ſich 
in offenen Krieg, den er mit der Verbrennung der Bulle eröffnete, 
Die Derbheiten, mit denen Luther fpäter feine Polemik gegen den 
Papſt mürzte, werden uns begreiflicher, wenn mir feinen anfäng: 
lihen hohen Refpelt beachten und die bittere Enttäuſchung in An- 
ſchlag nehmen, die Luther vom- Papft widerfuhr. Gewiß brauchen 
wir jene Derbheiten nicht gut zu heißen; nicht, wie e8 in man- 
hen Iutherifchen Kreifen gefchieht, zu dem Dogma vom Antichri- 
ftentum des Papſtes und zu befennen. Wir miffen, daß das 
Papfttum zu feiner Zeit Großes und auch chriſtlich Segensreiches | 


Luthers Thejen. 63 


geleitet hat, dafür ift Luthers anfängliche Ehrfurcht vor dem Papſt 
ſelbſt Zeugnis. Aber durch feinen Widerſtand gegen die Refor— 
mation hat es allerdings antichriftlih gewirkt, und in dieſem 
Miderftand beharrt e8 bis heute. Thöricht find darum die Pro: 
teftanten, die fich mit dem Papſttum verbinden wollen, und dabei 
am Ende den Luther der Thefen, den Melandhthon der Unter: 
ſchrift unter die ſchmalkaldiſchen Artikel für fich aufrufen. Wie 
hat Rom auf die Thefen geantwortet? Wie antwortet ed heute 
auf die höflichen Komplimente Fonfervativer Theologen und libe— 
raler Politiker? In das Feuer, das die Bannbulle vor dem 
Wittenberger Elfterthor verzehrte, müſſen wir jede Hoffnung einer 
Ausjöhnung mit Rom werfen, fo lange Rom Rom bleibt. Darum 
aber Fein aufreibender Kampf! Schieblich-friedlih! Die römifche 
Kirche in ihrer Gebundenbeit an päpitliche Autorität und Tradi: 
tion; die evangelifche in der Freiheit, die ſchon in den Thefen 
aufleuchtet — jede leifte was fie in Kraft ihres Prinzips, ihres 
Geiltes vermag an geiftlic und fittlid Gutem — und „an ihren 
Früchten jollt ihr fie erkennen.” 

VI Wenn mir im Getft der Thefen jede faljche Gebundenheit 
abmweifen, fo halten mir nicht minder im Geift der Thefen feit an 
der rehten Gebundenbheit, die fie atmen: es tft die 
Gebundenheit des Glaubens an den heiligen und 
gnädigen Gott, wie er in feinem Wort uns offen- 
bar geworden. Diefer Glaube ift die Vorausſetzung des 
Protejtantismus — nicht blos die äußere, geſchichtliche, ſondern 
die innere, mit feinem Weſen verwachſene. Man will fie wohl 
manchfach eliminieren zu gunſten eines fchranfenlofen, rein for- 
mellen und fürd innere Leben mertlofen Freiheitsprinzips, das 
man als Kern des Proteftantismus ausgibt, während Glaube und 
Bibel fatholifche Reſte fein follen, die den Scherben der päpftlichen 
Autorität und Tradition nachzumerfen find. Aber diefe oft blen- 
dend und geiftvoll, noch öfters geiftlos und oberflächlich vorgetra- 
gene Auffaffung iſt durchaus unproteftantifh: fie verfennt 
völlig, daf das Neue des Proteſtantismus, fein radifaler Grund 
zug, aufs engfte mit dem fonfervativen Zuge verfnüpft it. Das 
Neue, was Luther wollte, war nicht fchrantenlofe Forſchungs— 
und, Gerpiflensfgejheit, yitiſche Erneuerung der Wiſſenſchaft u. dgl, 


64 Braun, Luthers Theſen. 


— darin liegen teils Mittel und Wege, Waffen und Bundes: 
genoffen, deren die Reformatoren fi) mit mehr oder weniger Be: 
wußtjein und Willigfeit bedienten, teild Früchte, die der Reforma— 
tion von ihrer Abfchüttlung des päpftlichen Jochs her mit in den 
Schoß fielen — Früchte, die die. proteftantifhe Ara zugleich zu 
einer neuen Kulturära gemacht haben, die nicht nur der proteftan- 
tifchen, fondern der ganzen chriftlichen Welt, ja der ganzen Menfch: 
heit zu gute gefommen find und mit ihrem Glanz fo fehr in die 
Augen fallen, daß man über ihnen die Hauptfrucdht und das 
Hauptziel der Reformation leicht überfieht. Diefes Ziel, das ſchon 
die Thefen fteden, und diefe Frucht ift die Regulierung des Ver— 
hältnifjes zmifhen Menſch und Gott, die durch Niederreißung 
menſchlicher Schranken bedingte bußfertig gläubige Stellung des 
Individuums zu Gott mit aller daraus quellenden Verſöhnungs— 
freudigfeit und Heiligungskraft. Eben mit ihrer Konzen- 
tration auf das innerlidite Seelenleben und auf 
das direkte Berhältnis des Menfchen zu Gott bergen 
die Thejen die ehte Wurzel der Reformation; und 
es ift jehr bezeichnend, daß fie an der Schwelle der Bewegung 
ftehen, und nicht eine Schrift von blos afademifch = theologischer 
Haltung oder gar eine humaniſtiſche Enunziation. 

Melcher Gegenfag zwifchen den Thefen und z. B. den Schrifs 
ten eines Hutten, den epistolae obscurorum virorum! Hier 
kritiſche und äfthetifche Intereſſen, dort religiöſe. Das tiefite 
Lebensbedürfnis de Menſchen, das unter der päpftlichen Doftrin 
verfümmerte, wollte Luther befriedigt wiſſen: die Stellung des 
Menſchen zu Gott ijt die Subftanz der Reformation, weil jie die 
Subftanz des inneren Lebens ijt. Und damit erhebt ſich die Re— 
formation über den feheinbar weiteren Horizont des Humanismus, 
ja auch der großen Denker und Dichter unfrer klaſſiſchen Periode. 
Sie find Kinder der Reformation, gewiß; aber fie jtehen auf der 
Peripherie der durch die Reformation errungenen Welt geiftiger 
Güter. Die Thefen ftehen im Centrum. Möge es eine Frucht 
des Zutherjahres fein, daß der Protejtantismus in diefem Gentrum 
immer tiefere Wurzel faſſe. Nur fo fann er Romanismus, Hu: 
manismus und Materialiamus überwinden. In allen Ehren 
proteftantifche Freiheit und Forfhung, Kunft und Wiffenichaft ; 


gr 
A 


Dfiander, Zu Rom. 5, 7. 12—14. 65 


in Ehren auch ganz beſonders die theologifhen Fortjchritte, die 
Ihon gemacht, und die theologischen Aufgaben, die zu löfen find 
in der ſyſtematiſchen Ausgeftaltung, in der erfenntnis:theoretifchen 
wie biblifchen Begründung und Begrenzung des Lehrinhalts — 
aber bei dem allen und vor dem allen foll e8 doch heißen: 

Th. 62. Der rechte wahre Schaf der Kirche ift das heilige 
Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes. 

Th. 94. . Man foll die Chriften ermahnen, daß fie ihrem 
Haupt Chriſto durch Kreuz, Tod und Hölle nachzufolgen fich 
befleißigen. 

Th. 9. Und alfo mehr durch viel Trübfal ins Himmel- 
reih gehen. (Ac sic magis per multas tribulationes intrare 
eoelum quam per securitatem pacis confidant.) 


Bu Römer 5, 7. 12 -14. 
Bon WB. Oftander, Stadtpfarrer in Fanny, 


Kom. 5, 7. Der Zuſammenhang, in welchem dieſer Vers 
erſcheint, iſt klar genug. Vers 5 bildet einerſeits einen ſchönen 
Abſchluß für die Gedankenreihe der erſten Verſe des Kapitels 
und bahnt andererſeits Durch den Hinweis auf ayarnın rov Ysov 
funftvoll den Übergang zu einer neuen Betrachtung, die den Reit 
des Kapitel einnimmt. „Gott aber fonftatiert (sunıorno:) feine 
Liebe und gegenüber (in der vollendetften Weiſe) dadurch, daß 
eri ovr@v nuov aodtev@v resp. auaprwAwv Chriftus für und 
ſtarb.“ Diefer Gedanke, fhon V. 6 klar ausgeſprochen, erfcheint 
dem Apoftel fo wichtig, daß er ihn V. 8 zu diefem wiederholten 
und abfchließenden Ausdrud gelangen läßt, womit die innige 
Beziehung des in Frage kommenden ®. 7 auf die widhtigiten, 
durch Die griechischen Worte hervorgehobenen Elemente dieſes Ge- 
dankens ſchon äußerlich gegeben erfcheint. Ich erlaube mir zum 
Voraus zur Vermeidung jeder Zweideutigfeit noch beſonders darauf 
binzumeifen, daß „für und“ unee num» nad normalem Sprad;: 
gebrauch „zum Schutz“ oder überhaupt „zum Beſten, Vorteil“ 
bedeuten muß. Der Tod Chrifti ift von Wert oder Borteil für 


Tbeol Studien a. W. VI. Jahrg. 5 


66 Dfiander 


und, da wir noch ſchwach oder Sünder waren: es it faum etwas 
dagegen einzuwenden, wenn man dem urfprünglich zeitlichen Ver— 
hältnis (erı) das Faufale jubftituirt, alfo „weil wir no Sünder 
waren”. Bon diefen Vorbemerkungen aus, die faum ernitlichem 
Miderfprud begegnen werden, komme ich nunmehr zu einer Er- 
Härung von V. 7, die meines Wiſſens von allen bisherigen 
Erflärungsweifen abweicht. 

Betrachten wir zunächſt die erſte Vershälfte, noAıg yap uneo 
dıxaıov rıg anodaveıraı, fo unterliegt allerdings die mwörtliche 
Überfegung feiner Schwierigkeit: „denn faum wird zum Vorteil 
eines dıxauog jemand fterben” — aber der Sinn und die Bedeut- 
ung diefer Morte fommt mwejentlih in Frage. Die bisherigen 
Deutungen laufen im allgemeinen darauf hinaus, daß fie „aus 
Liebe“ einfchalten, ala wäre der Sinn etwa der im Zufammen- 
bang mit V. 6 und 8: wenn die Liebe faum einen Menfchen 
dahin bringt, für einen Auxarog zu fterben, wie viel höher fteht 
Gottes Liebe, die für Sünder Chriftum fterben läßt. Ich wage 
e8, um fofort handgreiflich zu zeigen, wie viel bei diefer Erflär- 
ung willfürlid in den Tert eingetragen wird, den griechifchen Text 
folder Erklärung konform zu geftalten, indem ich die Eintragungen 
beſonders hervorhebe: uoAıg u Ev yap vnep dıxauov avdew@nug 
tig vn’ ayanng anodwvera, ovvornoı de ToooUr@ 
uaAAov nv savrov ayanınv cet. Ich zweifle, daß eines der 
folcherweife neu hereingefommenen Worte leicht vermißt werben 
dürfte, und traue einem Paulus wohl zu, daß er ähnlich hätte 
ſchreiben fünnen, wenn er diefe Deutung beabfichtigte. Meine 
Erklärung fol nun davon abjehen, auch nur in Gedanken zu den 
Morten einen Zufag zu machen, der nicht mit logifcher Notwen— 
digfeit unmittelbar aus denfelben reſultiert. Es handelt fi) dabei 
vor allem um die Feltftellung des Begriffs dıxasos und zwar legt 
ed der allgemeine fentenzartige Charakter des Ausſpruchs nahe, 
denjelben zunächſt nad} feinem rein logifchen und zugleich populären 
Inhalt, noch nicht nach feinem fpezififch-theologifchen zu betrachten. 
Die perfönlihe Faſſung von dixcuoç ift jetzt wohl allgemein an- 
erfannt; dinauog aber ift gemäß feiner Ableitung von dıxn zunächit 
ein juridifcher Begriff, die ethifch theologifche Bedeutung ift fefun- 


Zu Römer 5, 7. 19—14. 67 


där: wer innerhalb der dixn, dem Inbegriff aller pofitiven Rechts- 
normen lebt, wer in feinem Wandel nicht über ihre Schranfen 
hinausgeht, fo daß er die Reaktion der dıxn d. h. Strafe heraus: 
fordert, ift ein evöıxog (die mehr von Sachen) oder dıxarog opp. 
adıroc. Die adınıa iſt nach antiker Anſchauung entweder Re— 
jultat der menſchlichen wo Fevera infolge eines übermächtigen Fatums 
oder eines Geſchlechter belaftenden Fluchs (vgl. Odipus) — daher 
erı ovrwov numv aoFEevoav — oder aber einer pofitiven Rechts: 
verlegung und Übertretung, napaßaoıg V. 14, napanroun 
15 ff., nagaxon 19. In diefem Sinne fteht auaprwAog famt 
den Berbalformen nuaprov 12, auaprnoavrac 14. Während 
alfo nach antiker Auffaffung, die ich überhaupt zum Verſtändnis 
des paulinifchen Gedankenkreiſes insbefondere in unferem Kapitel 
mehr hervorgehoben wifjen möchte, der «ogeung gleicherweife wie 
der wuaprwAog als folcher der Strafe fich ſchuldig macht, die im 
Tode des Sünders fich erfchöpft, ift der dixaıog, feinem Begriffe 
nach frei von der Strafe des Todes. Zur volllommenen Straf: 
freiheit gehört aber auch — und dies entſpricht vor allem dem 
Zufammenhang unferer Stelle — daß für den duxauog fein 
andrer auflommen muß, um Strafe für ihn zu erleiden. Sch 
mweife, um etwaigen Einwendungen abjtrafter Theorie zu begegnen, 
wiederum darauf Bin, daß dieſe Idee einer Sühne, wornach irgend 
einer für die Schuld anderer fich opfert oder geopfert wird, gleich: 
fall3 durchaus antik ift (vgl. Iphigenie, Kurtius, Decier) und fehe 
vom altteftamentlichen Nachweis ab, der felbftverjtändlich in Jeſ. 
53 gipfeln würde. Der Tod eines andern zur Gühne für den 
dixcuog ift alfo durchaus unnötig, ja ein Widerfprud, da er dem 
dıxarog nichts bringen kann, was diefer nicht feinem Begriffe nad) 
ihon hätte, d. 5. Straffreiheit. Dies ift nach meiner Überzeug- 
ung lebiglih der Sinn diefer erften Vershälfte: „Taum (woAıs 
vgl. vix; Litotes für: durchaus nicht) wird für einen Gerechten 
irgend jemand den Tod erleiden.“ 

Alles wird nun vollends klar dur die zweite Verdhälfte 
vIEE yap Tov ayadov raxa Tıg xaı ToAua anoFavsıv, Die zu 
feltfamen und faft verzweifelten Erklärungen geführt hat. Man 
fah fich einerfeits genötigt, einen materialen Unterfchied, ja Gegen- 

, g* 


68 DOfiander 


fag, entgegen allem Schriftgebraud) vgl. Matth. 5, 45. Luk. 23,50. 
Röm. 7, 12. zwiſchen einem dıxaog und ayadog zu ftatuieren, 
indem man interpretierte: aus Liebe — an diefer Interpolation 
wird feitgehalten — mird faum einer für einen dıxarog Sterben, 
für einen ayador, d. h. Gütigen oder Idealmenſchen thut3 viel- 
leicht einer. Somit erfcheint diefe zweite Vershälfte ala ein — 
gelinde geſagt — müßiger Zufah, der den Hauptgedanfen nicht 
nur in feiner Weife begründet, fondern geradezu abſchwächt. Will 
man nun aber, wie neuerdings Weiß thut, damit helfen, daß man 
vnep Tov ayadtov als abitraftes Neutrum faßt, fo läßt man 
durch diefen Sprung vom perfönlichen und konkreten dıxaov zum 
unperfönliden ayadyov nicht nur eine bedenkliche Inconcinnität 
beitehen, fondern trägt ein Motiv in den Contert herein, das dem: 
jelben durchaus ferne liegt. „Um des Guten (Heilfamen) willen 
wagts einer no, dafür zu fterben” durfte außerdem gar nicht 
mit unge (vgl. obige Erklärung), fondern müßte mit evexa aus: 
gedrückt fein. Endlich wird von allen diefen Erklärungen das 
zweite yaxo jo gut wie ignoriert, das doch eine weitere Begründ- 
ung und feinen Gegenſatz einleitet: nad Ddenfelben müßte hier 
vielmehr ds oder eine noch ſtärkere Adverfativpartifel eintreten, — 
Mit Wahrung der Concinnität und der urfprünglichen Bedeutung 
der Worte ift demgemäß rov ayatov als generelles Maskulinum 
zu faffen und zwar enthält die zweite Vershälfte ſyntaltiſch die 
Begründung der erjten Vershälfte und mit diefer zugleich die des 
Hauptgedantens, daß Chriftus für uns als Sünder ftarb. Der 
Sinn diefes zweiten Sabed muß freilihd — und darin fcheint mir 
die ganze Löſung des Knotens zu liegen — dem uoAıg des erſten 
Sates entjprechend negativ gewendet refp. raxa auf dieſelbe Be- 
deutung wie uoAıg (faum, jchwerlih d. h. als Litotes: gar nicht) 
zurüdgeführt werden. Um zu zeigen, wie raxa zu diejer Haffifch 
mohl bezeugten Bedeutung kommt, darf ich wohl etwas weiter 
ausholen, indem ic) an eine Stelle aus Platos Gorgiad 466 A 
anfnüpfe. Hier fteht rı raxa docosıc; was wirft du etwa aus— 
richten? als rhetoriſche Frage im Sinn von ov (un) rı douocıg. 
Es wäre nun möglich, daß auch an unferer Stelle eine rhetorifche 
Frage, alfo raxa rıg ftatt rıc, entiprechend jener klaſſiſchen Stelle 


ones cn IE. Sum ——— 


Zu Römer 5, 7. 12—14. 69 


anzunehmen ift, aber immer noch nicht notwendig. ch fage dies 
nur zur Erläuterung und nehme vielmehr gemäß der Stellung 
der Worte raxa rıs und der Concinnität mit der eriten Vers— 
hälfte an, daß in derjelben Weiſe wie aus urfprünglichen Frag: 
partifeln modale Behauptungspartifeln geworden find (vgl. auzovr 
urjprünglid nonne — igitur, um urjprüngli num — forsitan) 
raxa auch hier, wie an verjchiedenen klaſſiſchen Stellen, zu feiner 
negativen Bedeutung — uoAıg gefommen tft. Ich füge dem bet, 
daß roAua die fubjeftive Ergänzung zu dem objektiven anodavsıraı 
der erſten Veröhälfte bildet, daß xaı hier ein Herabjteigen von 
der Ausführung zum Gedanken bezeichnet, und daß endlich der 
ayadtog feinen Gegenſatz, wohl aber eine weitere Ausführung und 
Ergänzung des dıxauog enthält, indem damit diefer Begriff von 
feiner ſpezifiſch juridiſchen Faſſung zur ethifchen weitergebildet wird. 
Meine mörtliche Überfegung lautet demgemäß: „denn für den, der 
gut iſt, kommt fchwerli einer auch nur auf den Gedanken zu 
fterben.” So enthält diefe zweite Vershälfte nicht etwa eine Tau- 
tologie der eriten, fondern zugleich ihren Fortſchritt und Abſchluß. 

Faſſen wir nun die Gedanken von V. 7 zufammen, jo em- 
pfiehlt es jih, den Weg einmal rüdmwärts zu nehmen, da jedes 
der beiden yap die Begründung ded Vorhergehenden enthält. Es 
ergibt fih auf diefe Weiſe eine hübjche Kette, die frei ſich etwa 
alfo geitaltet: 

Fürden Gutenwird wohlfeiner aufden Gedanken kommen zu jterben. 
Der ayadog ift aber aud) dıxaıog — alſo 

Für den Gerechten wird faltiich niemand jterben (müſſen). 
Nun aber ift faktiſch Chriftus für uns geſtorben — alfo: 

Wir waren weder dıxarcı noch ayadoı, jondern id quod 
erat demonstrandum, aodteveıs rejp. auaprwkoı, 

Die allgemeine Sündhaftigfeit der Menfchheit, die in den aften 
Kapiteln des Römerbriefd auf jubjeftivem und inbuftivem Wege 
erwiefen wurde, mwird hiemit als Ausgangspunkt für eine weitere 
Betrachtung zugleich vefapituliert, und diesmal in deduftiver Weife 
aus dem objektiven Faktum des Todes Chriſti erſchloſſen. 

Röm. 5, 12. Sch fomme bei diefer Cardinalftelle fpeziell auf 
das allbefannte und vielumftrittene ep & navreg nuaorov. Kaum 


709 Dfiander 


würde ich wagen mit einer neuen Erklärung desſelben hervorzu= 
treten, wenn ich nicht durch die Mahmehmung veranlaßt würde, 
wie alle mir belannten Erklärungen in befremdlicher Weiſe bie 
urfprünglihe und zufammenfafjende Grundbebeutung des en 
e. dat. zu ignorieren fcheinen. Diefe Grundbebeutung finde ich 
aber in dem deutfchen „auf — Hin“, das ſowohl Iofal ala tem- 
poral gefaßt werden kann. Die temporale Faſſung hat nun wie- 
derum eine doppelte Seite, je nachdem „auf — hin“ vergangenes 
oder zufünftiges im Auge hat. Im erjten Fall kann ftatt „auf 
— hin“ hinter oder nach gefeßt werben und abgeleitet hievon 
nad) dem Sate post hoc ergo propter hoc ift die Bedeutung 
„wegen“, deſſen Anwendung im Glaffifhen übrigens mwejentlich 
befchränft ift auf die Verba des Affekts, während die primäre 
Bedeutung „nach“ durchaus vorwaltet und auch in den für die 
Bedeutung „wegen“ angezogenen Stellen des N. T. zunächſt maß: 
gebend erfcheint. Beſonders häufig ift die Formel ent de rovro 
(rovroıc) in der einfachen Bedeutung „hierauf“: nun feßen aber 
befanntlich die Glafjifer häufig genug ftatt des Demonftrativs das 
Relativpronomen, womit die Konjunftion erfpart wird. Demgemäß 
fafie ih da8 sp » einfach im Sinne einer näheren Anfnüpfung 
— eru de rovro und bleibe hiefür bei der erjten, alſo zeitlichen 
Bedeutung ftehen, der auch Tempus wie Modus nuaprov voll: 
ftändig entfprechen und zwar fo, daß ih ep © „auf welden (sc. 
den Tod) hin“ vom Vorausgehenden, nicht wie Hofmann u. a. 
(vgl. Meyer-Weiß zu unferer Stelle) vom Nachfolgenden veritehe. 
Selbitverftändlich beziehe ich gleichfalls ep © auf den zunächſt 
vorausgehenden o Yavaroı, oder, wenn man will, auf den ganzen 
vorausgehenden Ausdrud za ovrwg £ıg navrag avdpwnovg © 
Havarog dinkder, Daß endlih Nuaprov nur die hiſtoriſche 
Thatfache eines Sündenfalls und nicht einen Habitus („Sünder 
waren“, wofür bejtenfall® nuaeravov analog ndırovv ſtehen 
müßte) bezeichnet, iſt jet ziemlich allgemein anerkannt. Meine 
Überfegung lautet alfo wörtlih: „und ift fo der Tod zu allen 
Menſchen durchgedrungen, auf welchen hin (morauf erft) alle fün- 
digten, d. h. der allgemeine Sündenfall (vgl. 3, 23.) eintrat.“ 
Diefe Auffaflung wird noch befonders befräftigt, wenn wir das 
voraußgehende ovrwg in der befannten Bedeutung „nur fo, ohne 


Zu Römer 5, 7. 12—14. 71 


weiteres” verftehen wollen, wofür dem Zufammenhang gemäß in 
der That alles Recht vorhanden ift. Indem der Caufal: Zufam- 
menhang von Sünde und Tod in unferer Stelle einfach voraus: 
gefegt ift, findet hier und im weitern eine Unterfcheidung ftatt 
zwiſchen Adam einerjeit3 und feinen Nachlommen andererfeits: 
für Adam war der Sündenfall das erjte, der Tod infolge des 
Sündenfalld für die Menfchheit im allgemeinen, alfo die Nach— 
fommen Adams war das allgemeine Todeslos das prius, das 
Faktum des allgemeinen Sündenfalls das posterius. Diefer fam 
erſt mit dem Geſetze, als der neuen allgemeinen Offenbarung des 
pofitiven Gotteswillens, womit erjt die Vorbedingung einer neuen 
nunmehr allgemeinen napaßaoız gegeben war vgl. 5, 20. 7,8. x. 
Der Apojtel hätte diefen Gedanken faum deutlicher und korrekter 
ausdrüden können, als von ihm in den Verfen 13 und 14 ge- 
ihehen iſt. „Die auaprıa war bis zur Gejetesperiode in ber 
Melt, aber fie fällt außer Berechnung (sAAoysır analog eyxsıpsıv) 
wenn fein Geſetz da iſt“: natürlich, denn es fehlt in diefem Falle 
eben das formal bejtimmende Element der Sünde als napaßaoız 
rov vonov, mögen auch alle materialen Bedingungen derjelben 
gegeben fein. Diefer Darlegung miderjpridt im Grunde feines: 
wegs das von Weiß zur Widerlegung angezogene Röm. 2, 12. 
Übrigens handelt es ſich hier nicht um mechaniſche Übereinftimm: 
ung mit dem Wortlaut anderer Stellen und es geht offenbar 
nicht, durch derartige willfürliche Herbeiziehungen die Kreife des 
Apoftels zu verwirren. So herrfcht im Zufammenhang von 2, 12. 
lediglich die induktiv ethifche Betrachtungsmeife, die vor allem den 
materiellen Gefichtspunft ins Auge faßt, wornad ein avouwc 
;uugrov volllommen zuläffig tft, während an unferer Stelle von 
abftraft logiſchem Standpunkt aus jener rein formale Gejichtöpunft 
beftimmend ift, der zu dem Sate führt eßacıkevosv 0 Yavarog 
x@ı El TOVg um anapryoavrag. Hiemit ift fchon die weitere 
Ausführung des Verhältniffes von Sünde und Gefet vorbereitet 
vgl. Röm. 7,7. ff. Der Apoftel verfolgt jedoch zunächſt offenbar 
einen anderen Zmwed, nämlich den, die fich jedem Denfenden von 
jelbft aufdringende Frage zu erledigen, wie der eine für die vielen 
mit feinem Tod Sühne letjten konnte, Die Löſung gefchieht ver: 
mittelft eines Analogieichluffes: wie durch den einen auaerwAog 


12 Dfiander, Zu Römer 5, 7. 12—14. 


der Tod über alle, und zwar auch em rovg un auaornoavrag 
feine Herrfchaft eritredte, jo kommt durch einen duxauog die 
dinaınoıg Long, die Freifprehung zum Leben, auf die noAAoı, 
welche nicht dıxaıoı, fondern auaprwAoı waren — letteres um 
jo mehr, als nicht allein der analoge Rechtspunft hiebei in Geltung 
fommt, fondern dazu noch der Gefichtspunft der überſchwenglichen, 
jedes Maß der Sünde, die infolge des Gefehes vor allem ertenjtv 
zunahm, überragenden Gnade Gottes B. 20. Diefer jhöne Pa— 
rallelismus, der entiprechend der Wichtigkeit des Gedanken in 
fünffacher Wiederholung durch jeden der Verſe 15—19 ausgedrückt 
ift, tritt am prägnanteiten zu Tage in den Berfen 15 und 16 
und das Geſetz des Parallelismus verlangt es, die aAMovx und 
„a vvx zu Anfang diefer Verſe nicht als Einleitung zu einer 
negativen Behauptung, fondern wiederum ald Frage mit affırma- 
tivem Sinn zu faffen, welche Faffung fi aud aus dem ſprach— 
lichen Geſichtspunkt empfiehlt, weil eine negative Behauptung in 
V. 16 nad dem vorausgehenden aAA’ouy V. 15 eher ovöe als 
xcı 0vX erfordern würde. Um ſchließlich noch über das proble- 
matifhe erı ro ouoıwuarı rng napaßaosog Ada ®B. 14 ein 
Mort zu fagen, fo verbinde ich diefen Ausdrud nad dem Vor: 
gange des Chryjojftomus mit dem Hauptverb eßaoıkevoer und 
nic mit auaeprnoavrac, bei welcher Verbindung die Stellung 
der Morte nad) normalem Sprachgebrauch, von dem ih ohne 
zwingende Gründe nicht einmal für das Neue Teftament abgehe, 
eine andre wäre, nämlich die emı rovc un emı T® onoıwuarı 
ete. auaprnoavrac. Dieſes er ro faſſe ich wiederum in der 
angegebenen Grundbedeutung „auf — hin“, diesmal jedoch Statt 
auf ein Borausgehendes, auf ein Folgendes hinweiſend, aljo „auf 
die Ähnlichkeit mit dem Sündenfall Adams hin“, fo daß die Ahn— 
lichfeit oder Übereinftimmung mit Adams Sündenfall hergeftellt 
war, fofern eben der Tod die Folge der Sünde über beide Teile, 
Adam den Übertreter und feine Nachkommen em: rovg um aueo- 
rnoavrag bis Moſe herrſchte. Letztere gelten nicht jowohl als 
Sünder denn als Erben feines Fluches, daher oben der Begriff 
aodeveıs V. 6. In klaſſiſcher Formulierung würde der Gedanke 
wohl am einfachiten lauten eßaoılevosv 0 Havaroc xaı enı 


Mofapp, Zur altteftamentl. Lehre von der Sündenvergeb. 73 


rovg um auaeprnoavrag (wg oder) oLwg xaı eu TV napadacıy 
Ada, Die etwas ſchwülſtige Form des paulinifhen Ausdruds 
em To onowuearı hat vielleicht ihren Grund in dem Bedürfnis 
nad einem Wechfel der Worte, da in diefem Zufammenhang an 
fih viele oç ſich zufammendrängen; als wefentlicher fällt jedoch in 
Betracht, daß der paulinifche Ausdrud den Gedanken einer beab- 
fichtigten Folge involviert, der in dem einfadhen og oder oıwc 
nicht enthalten wäre. Der Vorwurf de Schmwülftigen oder Ge- 
ihraubten würde aber ficher mit mehr Recht erhoben werden können, 
wenn em Tw ouowuarı cet. wirflih auf auaprnoarrac zu 
beziehen wäre. Jedenfalls erfcheint nach der dargeftellten Faſſung 
der Gedanke des Apoſtels am einfachiten und flarften und ſchließt 
fih feiner ganzen Argumentation am ebenmäßigften an (vgl. auch 
V. 19 auaprwkoı xarsoradgnoav, welcher Ausdruck ficher 
mit Bedacht ftatt eyevovro oder noav gewählt iſt). Die Unter: 
ſcheidung von Weiß zwifchen der Todfünde Adams und den Sün- 
den feiner Nachkommen, auf die feine Todesitrafe geſetzt geweſen 
jein joll, klingt ſehr gefuht und ift eher geeignet, den Beifall 
fatholifcher Dogmatiker, als den proteftantifcher Eregeten heraus: 
zufordern. 


Zur altteftamentlidien Lehre von der Sünden: 


vergebung. 
Bon 8. Mofapp, Br in ®aiblingen. 


Cs wurde bis jebt als Abe Lehre des Alten 
und Neuen Teſtaments aufgefaßt, daß Gott fer „barmherzig und 
gnädig, geduldig und von großer Gnade und Treue.” Mo mir 
binbliden feis in der Thorah, ſeis in den Propheten oder Hagio— 
graphen, tritt ung die Anfchauung entgegen, daß Gott zwar über 
den fündigen Menfchen gerechtermaßen zürnt, daß er aber, wenn 
der Menjch feinen Widerſpruch gegen ıhn aufgibt, wenn er „um: 
fehrt von feinem böſen Wandel”, auf fein Strafrecht verzichtet in 
freier Gnade, ohne eine juriftiich genaue Satisfaltion oder Abbüp- 
ung ber fontrahierten Schuld zu verlangen. Daß namentlich die 
Predigt der Propheten dieſen Gefichtspunft der freien Sünden: 


74 Mofapp, Zur altteftamentl. Rehre von der Sündenvergeb. 


vergebung mit Emphaſe immer und immer wieder hervorhebt, daß 
fie fogar die äußerlichen Formen und Zeichen der Buße, die Opfer, 
nicht blos als opus operatum ohne wahre Herzensbuße, fondern 
fogar in ihrem ganzen Umfang, uneingefhränft zu verwerfen 
geneigt find, dafür wurde in hiftorifchen wie in dogmatifchen Dar- 
ftellungen als ein locus elassicus immer die Stelle Se. 1, 10—20. 
angeführt. Nun war es dem Verfaſſer auffallend, bei der Lektüre 
von Jul, Wellhaufens „Skizzen und Vorarbeiten“, I, ©. 51 
diefe Stelle in einer der gewöhnlichen Auffafjung total wider— 
Iprehenden Weife überfegt und verwertet zu finden. Den befann- 
ten DB. 18 nämlich überſetzt MWellhaufen in Form zweier Trage: 
ſätze: „Wenn eure Sünden wie Scharlad) find, follen fie dann 
für weiß gelten, wie Schnee? Wenn fie ſich röten wie Purpur, 
jollen fie dann wie Wolle ſein?“, und fügt zur Erflärung bei: 
„Diefed Programm fündet nicht Vergebung der Sünde, fondern 
einzig und allein gerechte Vergeltung !an.” Daß die Stelle aus 
dem Zufammenhang herausgeriffen, derart überjegt werden kann, 
wird faum zu bejtreiten fein, wiewohl der Prophet, wenn er dieje 
Frage an fein Volk richten wollte, durch Weglafjung jeder Trage: 
partifel fih einer merkwürdigen Undeutlichfeit fehuldig gemacht 
hätte. Es wäre doch höchſt auffällig, wenn der Prophet in einem 
folhen Sat, wo die Frage gerade die Pointe des ganzen Spruchs 
fein follte, fich der fragenden Form ganz enthalten und die Form 
des Ausſageſatzes gewählt hätte, den feine Zeitgenofjen und alle 
feine Lefer als Ankündigung von Vergebung auch der ſchwerſten 
Sünden verjtehen mußten. 

Die abweichende Überfegung Wellhaufens könnte Anlaß zu 
prinzipiellem Streit über die at. Lehre von der Vergebung wer: 
den, wenn die Stelle ef. 1, 18. die einzige wäre, die dieſes 
Thema behandelte. Dies ift ja aber feineswegs der Fall. Wir 
wollen von früheren und fpäteren Stellen ganz abjehen, und 
führen nur aus Jeſajah — d. h. aus den allgemein als echt an- 
erfannten Stüden desfelben — folgende Stellen an, die analoge 
Bilder für die ſchrankenloſe Erbarmung Gottes gegen den buß— 
fertigen Sünder enthalten. Sef. 4, 4. Gott „wäjcht ab den Unflat 
der T. Sijon” (29); 6, 7.: Die Schuld „weicht“ und die Sünde 
„wird zugededt* (952, 1D); ferner aus dem Zeitgenofjen Jeſajahs, 


Neftle, Kleinigkeiten. 75 


Mihah, das ſchöne Bild 7, 19: „Gott wirft alle Sünden in die 
Tiefen des Meeres”. Und fo läßt durchweg der ältere Sprad: 
gebrauch de3 vielumftrittenen FF Gott felbft die menfhlihe Sünde 
bededen oder zudeden, jo daß er fie nicht mehr fieht. — Demnad) 
wird die at. Lehre von der freien, fündenvergebenden Gnade Gottes 
durch feine Überfegung von ef. 1, 18. noch lange nicht erfchüttert, 
und fo lange foviele Stellen diefe Lehre bezeugen, fehen wir aud) 
feinen Grund ein, warum fie in diefer Stelle nicht fol gelehrt fein. 


Aleinigkeifen.' 
Bon Dr. E. Reſtle in Ulm. 


— — 


10. uadntaı, adeAgpuı. 


Mertwürvig: hinter Act. 21, 16. fommt dad Wort uadırng 
im ganzen Neuen Teftament nicht mehr vor, während es für die 
erzählenden Schriften jo charakteriftifch iſt, daß fih Act. 9, 36. 
fogar das (feltene) Yeminin uadnroıa findet. Beachte insbefon- 
dere Act. 18, 27. oı adeAyoı eypayav roıg nadynraug in 
Achaia und 19, 1. evpeiw rıvag nadnrac, Paulus in Ephefus 
die (Fohannes:) Jünger. In den Briefen und der Offenbarung 
findet fih dafür adeApoı, welder Ausdrud nur im Titusbrief 
fehlt, au an Stellen, an denen man ihn erwarten fünnte, 3. B. 
3, 14., wo er durch das finguläre oı nueregoı erjeßt wird. 

Ein ähnlicher Unterfchied zeigt ſich in der patriftifchen Literatur. 
Clemens I ud IL, Barnaba3, Hermas fennen das Mort 
uadsnng und uadnrevew — lebteres im N. T. nur bei Mt. u. Act. 
— gar nit, während es Ignatius mit Vorliebe und zwar in fehr 
prägnanter Weife gebraudt (wexoucı uadnrng eıwaı ete., jiehe 
die Regifter bei Gebhardt — Harnad — Zahn). 

Es verlohnt ſich, auch ſolche Kleinigkeiten hervorzuheben ; nad} 
irgend einer Seite hin können fie wichtig werden. Die chriftliche 
Kirhe erft ein Schülerfreis, dann ein Bruberbund, beides ver: 
einigt Mt. 23, 8. 


1 Bulest 1884 ©. 186. 


76 Neſtle 


II. 0 vouoc 
mit feiner Silbe erwähnt, im Neuen Teſtament, bei Mt., 2 Kor., 
Kol., 1 und 2 Theſſ., 2 Tim, Tit., Philem., 1 und 2 Be, 
1, 2, 3 Joh., Jud., Apoc. 

Wie wichtig ift der Gegenfat von Geſetz und Evangelium 
in der Urzeit gewejen, wie folgenreich war die Miederentdedung 
desjelben in der Reformationszeit und wie wenig geht doch das 
Chriſtentum in demfelben auf! 


12. Sündenvergebung, 
im ganzen Evangelium Sohannis nur 20, 23. genannt. Man 
fann die Sache haben ohne den Ausdrud, 


13, Act. 2, 13. 

yAevxovc ususorwuevor, Die Vergleihung göttlicher Begeifter: 
ung mit Betrunfenheit, nicht in fpottendem, fondern ernjtem Sinn, 
auch bei Plutarch, Demojthene® 9, Eoaroodevng ev pnow 
avrov Ev Toig Aoyoıg.noAAaxov yeyovevar napgaßaxxov: 
zwei Beilen nachher jteht wonee evdovowvra, Schon Ed. Eyth 
hat bei feiner Überfegung des Plutarch an die Stelle der Apoftel- 
geihichte gedacht, indem er napadaxxnr durh: wie „voll füßen 
Meines’ wiedergibt. 


14. Zu Bhil. 3, 20. 
Snrovoı PBonow Yuxaı ar a&ıov Yeov Aoyov EXovoaı &x 
Tov Ö1aveornxeraı Tw Ppovnuarı xaı To noAırevua EXEıv 
ev ovpavoıg, Philo, fragm, vatic. bei Pitra, Analecta sacra 
(1884), II, 310]1. | 


15. Zu Luthers Auslegung der fünften Bitte im Katechismus. 

„Bir bitten in diefem Gebet, daß der Vater im Himmel nicht 
anfehen wolle unjre Sünden und um derjelben willen ſolche 
Bitte nicht verfagen“ ; welche Bitte? 

Auf diefe Frage antworten Kinder und Lehrer gewiß zunächſt: 
eben diefe fünfte. Und doch iſt diefe Antwort unmöglid. Denn 
1) iſt diefe Bitte „vergieb uns unſre Schulden“ ſchon umfchrieben 
durch „nicht anfehen wolle unfre Sünden“ ; 2) hat es feinen 


Kleinigkeiten. 77 


Sinn zu jagen, Gott fünnte und um unfrer Sünden willen unfre 
Schulden behalten, anrechnen; 3) zeigt das Folgende „der feines 
wert, da& wir bitten, er wolle uns alles aus Gnaden geben“ 
und noch mehr der parallele Schluß „jo wollen wir auch herzlich 
vergeben und gerne wohlthun“: dies alles zeigt, daß Luther 
dabei nicht mehr die Bitte um das negative Gut der Sündenver— 
gebung, fondern eine Bitte, beziehungsmweife Bitten um pofitive 
Güter im Auge hat, die Gott una um unfrer Sünden willen 
verfagen könnte. Darnach könnte man gewiß fein, „ſolche Bitte“ 
unmittelbar auf die vierte und deren Auslegung zu beziehen. 
Dies wird durch andere Stellen Luthers noch näher gelegt. Schon 
in der 1519 erfchienenen „Auslegung deutſch des Vaterunſers für 
die einfältigen Laien“ läßt er troßdem, daß er hier wie auch fpäter 
noch mandmal die dritte Bitte geiftlich deutet, bei der fünften Die 
Seele zu Gott ſprechen: Ach vatter, das las dich erbarmen und 
vorfag und nith drumb das liebe broth, fundern .... 
bitten, wolteſt gebult mit uns armen findern haben, und uns 
vorlaſſen ſolch unnjer ſchuld ete. (Gefamtausgabe 2, 129). Noch 
deutlicher in der Auslegung der Bergpredigt: „Darum wir erſt— 
lich bitten, daß er uns unfer täglich Brot gebe, das ift, alles 
was und not ift, zur Erhaltung diejes Lebens: Nahrung, gefunden 
Leib, gut Wetter, Haus, Hof, Weib, Kind, gut Regiment, Friede 
und behüte uns vor allerlei Plane, Krankheit, Peſtilenz, theurer 
Zeit, Krieg, Aufruhr. Darnach, daß er und darneben unfere 
Schuld vergebe, und nicht anfehe den fehändlichen Mißbrauch und 
Undanf der Welt für die Güter, die er uns täglid fo 
reichlich gibt, und darum diefelbigen nit verfage 
und entziehe, noch mit Ungnade ftrafe, wie wir verdienen.“ 
Trogdem jcheint die Beziehung auf die vierte Bitte etwas zu 
eng und es bleibt nur möglich, entweder dem Fürwort einen all: 
gemeineren Sinn zu unterlegen und „ſolche Bitte” in „unfer 
Bitten, unfer Beten“ umzufegen, wie ſchon die lateinifche Über: 
jegung thut (nostram orationem; der große Katehismus gibt 
hier feinen Auffchluß) oder wenn man dem Fürwort feine eigent- 
liche Bedeutung läßt, den Ausdruck pluralifh zu faſſen „ſolche 
Bitten“, wie wir fie jeßt vorgebracht haben und noch vorbringen; 
vgl. im Beſchluß „Solche Bitten“. Wie nahe lehteres liegt, zeigt 


78 Neſtle, Kleinigkeiten. 


3. B. unfere Kinderlehre, die (neue Ausgabe 1879) ©. 9 im 
Katehismus richtig den Singularis, ©. 92 bei der Auslegung 
den Plural drudt. Der von der Eifenacher Konferenz revidirte 
Tert liegt mir nicht vor und von den mir zur Hand befindlichen 
Erflärern macht nur Kinzler dur die Bemerfung „nad der 
Beziehung des Fürworts fragen” auf die hier verborgene Schwie- 
rigfeit aufmerkſam. 


See 


Buchdruckerei von Greiner & Ungeheuer in Ludwigsburg. 





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Digitized by G 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die 
Theologie. 
Eine Studie von Profeſſor Dr. Weiß in Tübingen. 


— — 


Motto: Pſalm 36, 10. 
Erſter Artikel, 

Unabhängigkeit der Theologie von der allgemeinen, der melt- 
hen Wiffenfchaft ift neuerdings zu einer mweitverbreiteten Loſung 
in theologifchen Kreifen geworden. Speziell fordert man Unab- 
hängigfeit von aller Metaphyfif und von allem Naturerfennen. 
Weniger entjchieden lautet die Parole für das Verhältnis zu mwelt- 
licher Geſchichtsforſchung, zu philofophifcher Erfenntnistheorie und 
Piychologie. Man hat doch wohl das Gefühl, daß von Theologie 
als Wiffenfhaft am Ende nicht? mehr übrig bliebe, wenn man 
fih alles Zufammenhanges mit der allgemeinen Wiſſenſchaft ent: 
Ihlagen wollte. Gerade hier bringt e& der Verſuch der xevmaıg, 
jo aufrichtig er gemeint fein mag, in der Regel faum bis zu einer 
leicht durchſchaubaren sevwıc auch Hinfichtlid der Anwendung 
von metaphyfiichen und naturmifjenfchaftlihen Säten, Methoden 
und Erfenntnifjen in der Theologie. Wir ſchätzen ja gewiß die 
ſchon apoftolifche, dann reformatorifche, wiederum namentlich von 
Schleiermacher ausgegebene Loſung hoch genug, daß die Religion, 
der Glaube, kraft feiner inneren gottbegründeten Selbſtgewißheit 
unabhängig fein fol von meltlichem Forfchen und Wiſſen. Aber 
für die Theologie als Wiffenfchaft kann diefe Unabhängigkeit 
doch nur eine befhränfte Geltung haben, nämlich, was wir hier 
nur vorläufig andeuten fünnen, eben nur in dem Sinne, daß ſie 
jelber getragen ift von dem an fich ſelbſtgewiſſen, gottbegründeten, 
von weltlihem Wiffen unabhängigen Glauben. 


xheol. Sıupien u. W. VI. Juyig- 6 


82 Weiß 


Wenn wir in die Geſchichte hineinblicken, ſo begegnet uns 
von den erſten Anfängen der Theologie an, ſeit den Apologeten 
und namentlich ſeit den Alexandrinern Klemens und Origenes, 
bei einem Athanaſius, Auguſtin u. ſ. w. der innigſte Zuſammen— 
hang zwiſchen der Theologie und der herrſchenden Wiſſenſchaft, 
insbeſondere der Philoſophie. Als im Mittelalter die Scholaſtik 
die geſamte Wiſſenſchaft beherrſchte, war ſie doch mächtig beeinflußt 
von den geltenden philoſophiſchen Überlieferungen, von gangbaren 
Rechtsanſchauungen u. ſ. w. Die Reformation hat allerdings 
den Glauben befreit von einem Syfteme eingebildeter und tradi— 
tioneller Wiffenfchaft, in welcher der erfennende Geift ſich jelber 
ebenfomenig mehr wiberfinden konnte als der religiöfe; aber jte 
hat damit dem letzteren auch in der Theologie notwendigermeije 
nun die Aufgabe geftellt, in neuen Erfenntnisformen, wie jte der 
neuen Art des gereinigten und fortgebildeten Bewußtſeins ent: 
ſprachen, den Inhalt de Glaubens wiſſenſchaftlich zu bearbeiten. 
Man kann fich nit wundern, daß dies längere Zeit zum Teil 
wieder in einem der Scholaftif verwandten Verfahren während der 
Periode der Drthodorie verfucht worden iſt, weil troß der im 
religiöfen Mittelpunfte de Bewußtſeins eingetretenen Erneuerung 
die Traditionen des Mittelalters bis gegen das Ende des 17. Jahr: 
hundert3 auch innerhalb der evangelifchen Kirche noch mächtig fort- 
wirkten. Erft im Pietismus, Rationaliamus, Humanismus fängt 
die durch die Reformation gewedte und befreite Subjeftivität an, 
auf dem Grunde des felbjtändigen inneren Geiftesbejiges und 
Geifteslebend von verjchiedenen Seiten ber den inhalt des Be- 
wußtſeins felbitändig aufzufaffen und zu betrachten, zu durch— 
dringen und zu geitalten, und zugleich bat fich der Horizont des 
Bewußtſeins fortfchreitend erweitert durch die immer umfafjender 
und jelbjtändiger vordringende Forſchung auf den meltlichen Ge— 
bieten. Durch diefen Prozeß iſt erjt die neuere, felbitändige 
Wiſſenſchaft eingeleitet worden, und es fonnte nicht ausbleiben, 
daß die Theologie mächtig in ihre Bahnen Hineingezogen wurde. 
Wir ftehen noch ganz und gar unter den Impulſen der neuen 
Bewegung, die willenfchaftliche Arbeit der Theologie befteht zu 
einem großen Teile eben in der Aufgabe, teil den inhalt des 
Glaubens in feiner felbftändigen und zentralen Bedeutung auch in 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 83 


dem neuen Erkenntnisprozeſſe ala ein beberrfchendes Element zu 
verwerten, teild aber auch ihn in diejenige Form wiffenfchaftlicher 
Erkenntnis zu erheben, welche durch die fich fortfchreitend läutern— 
den und befeftigenden Inftanzen und Refultate neuerer Wiffen: 
Ihaft dargeboten und gefordert wird. 

Es liegt in der Natur der Sache, daß es fich hiebei nament- 
Ih um das Verhältnis zu der neueren Bhilofophie handelt. 
Denn vollends feit den letzten Dezennien des 18. Jahrhunderts, 
jpeziell jeit Kant, gibt fich gerade in der Philoſophie das wiſſen— 
Ihaftlihe Bewußtſein feinen charakteriftiihen Ausdruck, fie wird 
dem Geifte zum reinjten Abbilde feiner Selbitändigfeit, feiner 
Autonomie und zugleih zum Sammelpunft feiner durchaus um: - 
faflenden Forſchung, die beiden Brennpunkte freiefter Selbiterfennt- 
nis und umfafjendfter Welterkenntnis treten an allen den großen 
philofophifhen Syftemen feit Kant hervor und erflären ihre gewal— 
tige Wirkung. Wenn fodann eine Zeit lang das wiflenfchaftliche 
Bewußtſein fih von der Philojophie abgewendet hat, fo Fonnte 
diefe Abwendung nur ganz vorübergehend gejchehen und nur dazu 
dienen, eine neue Entwidlung der Philofophie vorzubereiten. Die 
Anbahnung derjelben gibt ſich auch bereits deutlich genug fund, 
und dieſe meinen wir in unferem Thema, wenn darin von 
einer neueren Wendung der Wiffenfhaft die Nede ift. 
Das Intereſſe unferer Unterfuhung richtet ſich eben darauf, in 
welche Bahn auch die Theologie notwendig in der Gegenwart 
einzulenfen babe, wenn dieſelbe hinter der allgemeinen Entwidlung 
der Wiſſenſchaft nicht zurüdbleiben wolle. Oder vielmehr, damit 
jeder Anfchein vermieden werde, als bilde fich der Verfaffer ein, 
der Theologie eine neue Bahn weiſen zu können, es fol gezeigt 
werden, daß die Theologie dem allgemeinen Zuge der Wiffenfchaft 
folgend bereit3 auf dem Wege tit, eine neue Bahn einzufchlagen, 
freilich Teinesmweg3 eine ganz neue, vielmehr nur eine erneuerte, 
deren Durchführung ihr auf dem Grunde früherer Entwidlung und 
gegenüber zeitweifer Ablenkung noch beſſer als zuvor gelingen mag. 

Zunädjft ift es notwendig, einen Rüdblid zu werfen auf die 
Entwidlung der Wiffenfhaft, jpeziell der Philofophie und der von 
ihr beeinflußten Theologie feit dem Anfange diejes Jahr— 
hunderts. Denn nur dadurch gelangen wir zu dem Punkte, 

6* 


84 Weiß 


von welchem aus die vorhin hervorgehobene neuere Wendung deut- 
ih und verftändlich wirt. Dabei follen aber unfere oben an die 
Spite geftellten Sätze und unfere ganze Ausführung noch deut- 
licher gegen ein Mißverftändnis verwahrt werden. Es tft Feines- 
wegs unfere Meinung, daß die Theologie einfeitig von der all- 
gemeinen Wilfenfhaft abhängig ſei, fondern da fie an dem chrift- 
lichen Glauben ihr felbjtändige® Prinzip hat, ein Prinzip von 
zentralen und abfoluter Bedeutung für das gefamte höhere Geiftes- 
leben, wie es in der Chriftenheit fich darftellt, fo hat fie hieran 
nicht nur einen unerfchütterlichen Standort, von wo aus fie faljche 
wiſſenſchaftliche Beſtrebungen abzuwehren vermag, fondern auch eine 
MWahrheitspofition, welche von der allgemeinen Wilfenfchaft nur 
zu ihrem Schaden ignoriert oder beftritten werden kann, aljo eine 
Potenz, welche auch der allgemeinen Wiffenfchaft, vor allem den 
Geiftesmwifjenfchaften gegenüber die Bedeutung eines hochwichtigen 
Objektes, Drientirungsmittel3 und Fermentes behauptet, welche 
antaften oder umftoßen zu wollen Vhilofophie, Naturwiffenfchaft, 
Geſchichtsforſchung, wenn fte die erforberlihe Scheu und Befonnen- 
heit bejigen, fchon deshalb fich hüten müffen, weil nichts höheres, 
heiligere und mächtigeres im Geiftesleben der Menfchheit vorhan— 
den und denkbar iſt. Wir entnehmen daraus den Kanon, daß 
wirkliche Konflilte einer ernten und tiefergehenden Wiffenfchaft 
mit dem riftlihden Glauben ſtets nur vorübergehend fein und 
zu einer Korrektur der Wiffenfchaft führen können, Konflikte aber 
der Theologie mit der allgemeinen Wifjenfchaft können ebenfo= 
gut einen Mangel der erjteren anzeigen und eine Korrektur der- 
felben herausfordern, fte find auch deshalb unvermeidlich, weil ja 
Theologie und weltliche Wiſſenſchaft ſtets unfertig, mit relativer 
Einjeitigfeit behaftet, in relativem Irrtum oder doch Unvollfom- 
menheit befangen find. Hieraus folgern wir weiter: nicht die— 
jenige Theologie wird gerade der Wahrheit am nädjiten fommen, 
welche fi zu jeder Zeit von der herrfchenden Strömung der 
Wiſſenſchaft am ftärfften beeinflufjen läßt, aber darauf beruht doch 
‘im ganzen auch der Fortfchritt der Theologie, daß fie in lebendi- 
ger Wechſelwirkung mit der allgemeinen Wiffenfchaft, unter felb: 
ftändiger Benüßgung ihrer großen, durch die eigene Entwidlung 
ih läuternden und forrigierenden Impulſe ihre Glaubenserfennt- 


Die neuere Wendung der Wifjenjchaft und die Theologie. 85 


nis auäbildet, und für diefen Zweck fünnen auch einfeitige theo- 
logifche Richtungen und Syiteme fürderlih fein, fofern fie dazu 
dienen, der Theologie überhaupt die neuen Gefichtspunfte zuzu— 
führen, diefelbe zur Beachtung, Kritik, Bearbeitung derjelben auf- 
zufordern, damit fchlieglih das Vrobehaltige zu dauernder Ver- 
wertung zurüdbleibe. In diefem Sinne wollen wir einen furzen 
Blick werfen auf den Entwidlungsgang der Theologie unjeres 
Sahrhunderts und deſſen Zufammenhang mit der allgemeinen 
Geiftesentwidlung, um ſchließlich den Punkt zu firteren, wo die 
neuejte Wendung beginnt, und die Richtung, in welcher fich die: 
jelbe bemegt. 

Drei bis vier Jahrzehnte hindurch ſehen wir die Wiſſenſchaft 
im ganzen und fo ziemlich das gefamte höhere Bildunggleben in 
Deutſchland beherrfcht von zwei Mächten, von der Grundanfchau: 
ung und Grundjtimmung des abfoluten Jdealismus und 
des Aſthetizismus, der erjtere hauptfächlich durch Hegel, der 
legtere durch den Einfluß unferer Haffifchen Dichter, zumal Göthes, 
jodann der romantifhen Schule u. f. w. vertreten. Wir haben 
diefe Periode etwa bis 1845 auäzudehnen, ihre Nachmwirkungen 
eritredten fich noch etwas länger, aber ihre Herrfchaft war jeden: 
falls jeit dem Jahre 1848 gebrochen. Freilich wirkten daneben 
aud noch andere Votenzen, aber teils behaupteten fie im gebil- 
deten Zeitbewußtjein feinen durchgreifenden Einfluß, teils offen: 
baren fie jelber die beherrjchende Macht des abfoluten Idealismus 
und des Äſthetizismus, deren Impulſe fie eigentümlich verarbeiten 
und denen fie Rechnung tragen, auch wo fie diefelben befämpfen. 
Im Zujammenhange unferer Ausführung fommt nun zunädjt nur 
der abjolute Idealismus näher in Betraht. ES find vor: 
nehmlich zwei Merkmale, welche venjelben charafterifieren: ein 
erfenntnistheoretifches und ein fachliches, beide freilich mit einander 
enge zufammenhängend, Nach der eriteren Seite wird die Iden— 
tität von Denten und Sein vorausgeſetzt; fobald das Denken 
wirflih als reines Denken in der Abitraftion von allem Konkreten 
und Empirtschen, durch welches es hindurchgegangen tft, nur feiner 
immanenten Dialektif folgt, produziert es im Begriff und Syſtem 
das Abbild des Seienden, die Wahrheit der Sade. Die zweite 
Borausfebung bildete die pantheiftifche oder Doch zum Pantheismus 


86 Weiß 


hintreibende Anſchauung vom Abſoluten als der (unmit- 
telbaren) höheren Einheit des Unendlichen und Endlichen, von 
Geiſt und Natur, von Subjekt und Objekt, welche im Prozeſſe 
ihres Lebens das Endliche, die Welt, unmittelbar aus ſich heraus— 
ſetzt und zur aufſteigenden Offenbarung ihrer ſelbſt geſtaltet, bis 
dieſe Offenbarung in den höchſten Formen menſchlichen Geiſtes— 
lebens, namentlich auch im reinen Erkennen, ihre Vollendung findet. 
Aus dieſer Anſchauung vom Abſoluten erklärt ſich, warum das 
reine Denken die abſolute Wahrheit durch einfache Evolution ſeiner 
ſelbſt produzieren kann. Denn das Abſolute, der identiſche Grund 
alles Seins und alles Denkens, iſt darin unmittelbar gegenwärtig 
und wirkſam, jenes Denken iſt eine weſentliche Form der Selbit- 
anſchauung, Selbſterkenntnis des Abſoluten. Gott wird im menſch⸗ 
lichen Subjekte, aber auch nur in dieſem, durch Gott ſelber erkannt. 

Neben Schelling und Hegel nimmt auch Schleiermacher 
weſentlich an dieſen Vorausſetzungen Teil, doch nicht ohne eine 
eingreifende Modifikation. Das Abſolute, als die überſeiende 
Einheit von Endlichem und Unendlichem, von Geiſt und Natur, 
wird mehr als das dem Endlichen doch wieder transzendente all— 
beherrſchende Kraftzentrum gedacht, von welchem die Wirkungen in 
die geteilte Endlichkeit ausgehen, es wird nicht ſo unmittelbar in 
den Prozeß der Entwicklung des letzteren hereingezogen, und ſo 
erſcheint es auch ganz nur im abſoluten Abhängigkeitsgefühle, in 
der Frömmigkeit, dagegen das in Gegenſätzen ſich bewegende Denken 
faßt nur ſeine Wirkungen auf und kann es nur darſtellen in ſeinen 
weſentlichen Relationen zu der Kreatur. Bei dieſer vorſichtigen 
Einſchränkung, welche Schleiermacher gegenüber von dem abſoluten 
Idealismus übt, macht ſich teils der Einfluß Spinozas, teils aber 
auch der kritiſche Geiſt Kants, über welchen ſich der zuverſichtliche 
Erkenntnisdrang von Schelling und Hegel hinwegſetzte, bemerklich!. 
Da aber doch auch Schleiermacher die Perſönlichkeit von Gott 
ausſchließt, ſo bewegt ſich bei ihm Gottes Verhältnis zur Welt 
in einer eigentümlichen Oszillation zwiſchen pantheiſtiſcher Imma— 
nenz und deiſtiſcher Transzendenz und dieſe Oszillation reflektirt 
ſich in ſeiner Auffaſſung der religiöſen Gemeinſchaft und Erkennt— 

1 Bol. auch E. Zeller, Geſchichte der deutſchen Philoſophie, 
©. 756 ff. 


A EN TI. 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 87 


nis, fofern Gott fpeziell durch Chriftum einerfeit8 wohl im Be: 
wußtjein des Frommen oder Glaubigen gegenwärtig iſt und ſich 
offenbart, andererfeit3 aber doch gerade dem klaren, gegenftändlichen 
Bewußtfein wieder unfaßbar bleibt, fo daß auch die vorausgeſetzte 
Gottesgemeinfhaft in ihrer Realität gefährdet wird, weil fie feine 
wahrhaft perjönliche ift. Dennoch bietet die Auffaffung Schleier: 
macher8 auch wieder einen Punkt zur Anfnüpfung, von wo aus 
die Theologie den Gefahren der abfoluten Immanenz Gottes, wie 
fie dem Hegelihen Idealismus zu Grund liegt, entgehen Fann. 
Außerdem hat Schleiermacher den Vorzug, daß er den Inhalt des 
Abjoluten nicht aufgehen läßt im Logifhen, wie dies bei Hegel 
der Fall ift; Religion und Sittlichfeit gewinnen deshalb bei ihm 
eine felbitändigere Bedeutung und werden befjer in ihrer Eigen: 
tümlichfeit verftanden, die Vernunft, welche im fortichreitenden 
Kulturprozeſſe fich der Natur einbildet, iſt nicht fo vorherrſchend 
als theoretifche (intelleftuale) gedacht, auch findet fie ihr Ziel nicht 
ausschließlich in der Heritellung des Allgemeinen, des Univerjellen, 
fie erwählt ſich aud die Individualitäten und die mannigfaltigen 
Sozietäten zu ihren Gefäffen, um aus ihnen Gebilde vom höch— 
iten Werte herzuftellen, in deren reicher Abwechslung und harmo- 
niſchem Aufeinanderwirfen Gott um fo herrlicher ſich abjpiegelt. 

Der Standpunft Schleiermaders jtand der Erfahrung 
des Leben? näher und er war der Ausdruck einer reicheren und 
vielfeitigeren, jedenfalls beweglicheren Perſönlichkeit als bei Hegel; 
deshalb konnte eine fpätere Periode, welche die äußere und die 
innere Erfahrung zur Bafis nahm, wieder an ihn anfnüpfen, de3- 
wegen fonnte ſchon unter der Herrſchaft des abjoluten Idealismus 
dejjen rein jpefulative Richtung auch wieder von den Pofitionen 
Schleiermachers aus befämpft werden. Aber eine gemeinjfame 
Grundmurzel teilte doch auch Schleiermaher mit den geijtigen 
Führern feiner Zeit, mit den Vertretern des abfoluten Idealismus 
und des Aſthetizismus, wenn diefelbe auch bei ihm nicht die einzige 
war, woraus feine gefamte Anſchauung und Richtung erwachſen 
it, das war der in erhöhter Potenz feit dem Ende des vorigen 
Jahrhunderts reproduzierte Hellenismus, zu dejjen Vertretern 
Kant nah dem Grundcharakter feines Syſtems nicht gehörte, 
wie wohl aud Fichte denfelben nicht beizuzählen tft. Dieſer Helle: 


88 Weiß 

nismus war, wo er ſich in feiner Reinheit geltend machte, wie in- 
höchiter Potenz bei Hegel, vor allem erflufiver Intellektualis— 
mus, fodann lebte er in einer Anſchauung, welche das Subjeftive 
und das Objektive, alfo auch Geift und Natur, Freiheit und Not: 
wendigfeit, fchließlih die Gottheit und die Welt, auf jene den 
Griechen eigentümlihe Weile zur Einheit de Seins und des 
Dajeins verfnüpfte, während dies dem hebrätjchen Getjte und noch 
mehr dem chriftlichen, wohl auch dem germanischen, fremd, bezieh: 
ungsweiſe entgegengejegt ift, während beides dem reformatorifchen 
Grundprinzipe von der abjoluten Bedeutung der veligiös-fittlichen 
Perſönlichkeit widerfpricht.? Die hriftlich-germanifche Anſchauung, 
wie fie vollends in der Reformation zum reinen Bewußtfein und 
vollen Durchbruch gelangt ift, verlegt den Schwerpunkt zunächſt 
des Menſchenweſens in den Willen und in das Gemüt, nit in 
. die Intelligenz und in das Wiffen, und fie ftellt das ethifch auf- 
gefaßte Subjekt, den Geiſt mit feiner Freiheit und feiner religiös- 
fittlichen Anlage und Beitimmung, der Natur zunächſt in fchroffem 
Dualismus gegenüber, fie nimmt für diefe beiden jich ergänzenden 
Seiten ihrer Anjchauung ihren Standpunkt auf dem Boden der 
inneren Erfahrung, des inneren Erlebniſſes. Wir haben gejehen, 
daß Schleiermader nad} einer Seite hin dieſem legteren Standpunfte 
nahe jteht und ſtarke Einwirkungen desfelben zeigt, was ihn von 
Hegel fpezififch unterfcheivet. Aber nach der anderen Seite hin 
bildet das helleniftiihe Element einen mächtigen, maßgebenden 
Faktor feiner Anſchauung. Man denke an die eingreifende Be— 
deutung, welde auch in feinem Syfteme „das Bemwußtfein“ 
(Gottesbemwußtfein, Selbitbewußtfein, Weltbemußtjein) behauptet, 
oder an feine Ausführung über das Verhältnis von Natur: und 


ı Diltdey, Ritfhl, Hermann (die Religion ©. 263 ff.) 
machen hinſichtlich Schleiermadhers diejelbe Bemerkung. Aber Hermann 
überfpannt diefelbe fofort, indem er dem Denken (welches doc vorher 
auch an der fittlichereligidfen Erfahrung ji orientiert bat) 
das Recht beftreiten will, num die Gottesidee oder den trandzendenten 
Grund alles Seienden fich fo zu fonftruiren, daß daraus die Eriftenz der 
natürlichen Welt wie der fittlichen Perjönlichkeit könne begriffen werden. 
Die dee des abjoluten Geiſtes wird doc) hiefür geeignet jern, dieje 
aber war den Griechen (auch einem Plato und Ariftoteles) unbefannt. 





vr. 


.o.. mw [Mein = 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 89 


Sittengefe und über das höchfte Gut, man denke nad der for— 
mellen Seite hin an die von ihm mit folcher Virtuofität gehand- 
habte ardhiteftonifch-fonftruftive Methode. 

Betrachten wir noch etwas näher die Momente, durch melde 
der von Schelling eingeleitete, Durch Hegel zur Kulmination geführte 
abjolute Idealismus fpeziell die Theologie mächtig zu ergreifen 
und zu bejtimmen geeignet war. Es handelt ſich vor allem um 
die Herrfchaft der [pefulativen Methode, welche freilich nur 
der Erponent iſt des vorausgeſetzten Gottesbegriffes, der abjoluten 
Idee im Sinne Hegeld. Dieſe Idee iſt felber die Mahrheit des 
Abfoluten, und diefe Idee bildet gleichermaßen den mefentlichen 
Inhalt, die Leuchte des denkenden Geiftes, fie erpliziert fi, gemäß 
ihrer eigenen Gliederung, im reinen, nur mit fich ſelbſt beichäf- 
tigten und ftreng methodisch produzierenden, feiner ſelbſt gewiſſen 
Denten, und dieje Erplifation der abfoluten Idee iſt zugleich nichts 
anderes als das Nachbild des Weltſyſtemes und Meltprozefjes in 
feinen mwejentlichen Elementen. Da die Idee nad) der objektiven 
Seite ihren Schwerpunft hat in der Vermittlung des Endliden 
und des Unendlichen, fpeziell der Gottheit und Menjchheit, 
fo bildet auch für das von ihr getragene und durchdrungene Denken 
diefe Vermittlung ganz von felber den innerjten Mittelpunft der 
Erkenntnis, des ſpekulativen Gedankens, letterer erfaßt alſo die 
Wahrheit der abjoluten Religion gerade in ihrem Zentrum, indem 
er ich ſelbſt dort erfaßt, ja er iſt nichts anderes als die perennie- 
rende lebendige Offenbarung diefer Wahrheit in ihrer höchiten 
Form, in der Form des reinen, lichten, an und für ſich evidenten 
Gedankens. So trifft die Spekulation gerade in ihrem Mittel- 
punkte zufammen mit der innerjten Wahrheit des Chriftentums, 
fie iſt von felber theologifch, chriſtologiſch, pneumatologiſch, fte läßt 
die Gottmenfchheit, die Verfühnung, die Geiſteseinwohnung als 
notwendige Momente im Prozeſſe des Abjoluten durch die imma: 
nente Dialeftif feiner Idee hervortreten, ja die Trinität, fpefulativ 
gedacht, erjcheint al der höchſte Gedanke, als die wahre Offen: 
barung Gottes. 

Unfere weit befonnenere, aber auch altkluge Gegenwart ver- 
mag ed faum mehr die beftridende Zauberfraft dieſes Ideenganges 
lebhaft zu empfinden. Damals aber ſchien es, ala ob alle Myſte— 


90 Weiß 


rien des Orients und alle Weisheit Griechenlands, der innerſte 
Pulsſchlag des Neuen Teſtamentes, der Kirchenväter, der Myſtiker, 
der Reformatoren und der neueren Philoſophen darin vereinigt 
und alſo das innerſte Schauen des Menſchengeiſtes gerade auch 
in die Tiefen der Gottheit hinein enthüllt wäre. Wo die Sinne 
und der Verſtand noch Schranken, Gegenſätze und Rätſel wahr— 
zunehmen glauben, da ſind dieſelben, dies war die Annahme, nur 
noch nicht hindurchgedrungen zu dem ſchlechthin allgemeinen, all— 
umfaſſenden Grunde alles Daſeins und alles Denkens, welcher 
nicht in ſtarrer Unveränderlichkeit, wie etwa bei Spinoza, ſondern 
im lebendigen Fluſſe der Bewegung alles trägt und produziert 
und als der vernünftige Inhalt und das ordnende Prinzip der 
geſamten Erſcheinungswelt durch alle ſeine Evolutionen in der— 
ſelben hindurch bereichert und erhöht zu ſich ſelbſt zurückkehrt. Die 
Selbſtanſchauung des aufs höchſte geſteigerten menſchlichen Erken— 
nens, in welchem der Reichtum der bisherigen Erfahrung und der 
Anſchauungsdrang ahnender und dichtender Phantaſie ſich ver— 
mählt haben mit der intenſivſten Bethätigung des nicht mehr blos 
reflektirenden, ſondern immanent produzierenden und das Ganze 
der Wahrheit umſpannenden Denkens hat jene abſolute Idee als 
Abbild ihrer ſelbſt aus ſich geboren. Als das von dem 
Fluge der Begeifterung zu überfchwenglicher Höhe emporgetragene 
Erkennen im natürlichen Laufe der Entwidlung ernüchtert wieder 
auf der Erde anfam, mußte es freilich zweifelhaft werden über 
diefem Fluge, da3 Denken mußte ſich fragen, ob es die Kraft 
habe zu folcher vermeintlich reinen und alumfaffenden Produktion 
und ob dabei wirklich die Wahrheit alles Seins, als zum voraus 
enthalten in ſolchem Denen, herauskomme. Die Theologie nament: 
lich, welche in einigen Vertretern diefem Fluge mehr oder weniger 
vertrauensjelig gefolgt war, mußte erwägen, ob diefe Offenbarung 
des fpefulativen Geiſtes wirklich zufammenfalle mit der Wahrheit 
der gefchichtlihen Dffenbarung. 

Die Illuſion des ganzen Standpunkte für die Philofophie 
und für die höhere Wiſſenſchaft überhaupt und fpeziell für die 
Theologie wurde bald offenbar. Aber ehe wir diefen Prozeß be- 
traten, wollen wir doch ſchon hier die Vermutung ausfprechen, 
daß die Theologie unmöglich jo ftarfe Einwirfungen von der ſpeku— 


Die neuere Wendung der Wiffenfhaft und die Theologie 91 


lativen Philofophie hätte in fi aufnehmen können, wenn diejelbe 
nicht aud ein tiefes Wahrheitselement, ein Clement wirklicher 
Verwandtſchaft mit der chriftlichen Glaubenserfenntnis in ſich tragen 
würde. Wenn es eine religiöfe Wahrheit gibt, wenn die Gemein- 
fhaft Gottes und des Menfchen nicht bloße Einbildung oder Po- 
ftulat, ſondern Wahrheit ift und zugleich volle Wirklichkeit in Chrifto, 
dann muß diefe Wahrheit und Wirklichkeit auch dem Denken zu: 
gänglich und entiprechend fein, fie muß fich verſtehen laſſen als 
eine im Weſen Gottes und des Menfchen begründete und eine 
den denfenden, wie den fühlenden und den wollenden Menfchen: 
geiſt befriedigende, ja als der Kern und innerſte Ning feines die 
Melt durchoringenden und umjpannenden Gedankenſyſtemes und 
damit al3 der tiefite Einheitsgrund feines von Wahrheitsideen 
erfüllten Bewußtſeins. Dann tft jene Wahrheit aber nichts rein 
Empirifches, nicht blos der Ausdrud einer auf dem Grunde ge: 
ichichtlicher Überlieferung und Erfahrung gewußten Thatſache, 
fondern fte ift auch nad einer Seite hin Produkt der inneren 
Selbftbemegung des erfennenden Geiftes, nur nicht in feiner reinen 
Abftraftion von dem Gefchichtlihen, fondern in feinem Durch: 
drungenfein von dem Gefchichtlichen, 

Strauß und Feuerbadh find die nächſten Totengräber 
der fpefulativen Theologie innerhalb der Hegel'ſchen Schule felber 
geworden, In denjelben tritt der hiſtoriſch-kritiſche und der 
anthropologifche Standpunkt der fpefulativen Einbildung mit 
dem Anfprucdhe gegenüber, die Konfequenzen des Syftemes für die 
Beurteilung des geſchichtlichen Chriſtentums, beziehungsweiſe aller 
gefchichtlichen Religion zu ziehen, und es tjt bemerfenswert, daß 
Strauß im „alten und neuen Glauben“ vollends aud den idea: 
Iiftifhen Neft in der Auffaffung des Chrijtentums abgeftreift und 
im wefentlichen die anthropologifhe Auffaffung adoptirt hat. Da- 
hin konnte der fpefulative Standpunft umfchlagen, weil er das 
teligtöfe Selbjtbemußtjein des Menjchen mit dem göttlichen Selbft- 
bewußtſein unmittelbar identifizierte, dahin mußte er umjchlagen, 
ſobald einzelne feiner Anhänger der empirifchen Betrachtung 
der Religion mit der Außerlichfeit eines dem religiöfen Geifte 
jelber entfremdeten kritiſchen Verftandes fich zumandten. Da war 
nun nichts Göttliches mehr, fondern nur noch Menſchliches zu finden, 


92 Weiß 


an die Stelle von Offenbarung Gottes im religiöſen, ſpeziell im 
chriſtlichen Bewußtſein traten menſchliche Vorſtellungen, deren 
beſchränkten, vergänglichen Urſprung und Wert man recht deutlich 
zu erkennen meinte. Für dieſe Art von Forſchung war das reli— 
giöſe Bewußtſein auch auf ſeiner höchſten Stufe, nur noch ein 
wandelbares und trügeriſches Phänomen, nicht mehr die innerſte 
Offenbarung des abſoluten Geiſtes ſelber im menſchlichen. 

Weit tiefer drang die hiſtoriſch-kritiſche Forſchung Baurs 
und zwar ſo gut in der ſpäteren wie in der früheren Hegelſchen 
Periode derſelben. In den chriſtlichen Grundanſchauungen, deren 
geſchichtlichen Urſprung und mannigfaltige Entwicklung, deren Auf: 
zeihnung und befondere Tendenz ſchon im apoftolifchen Zeitalter 
er mit feltenem Scharffinn, Jnterefje und Fleiß erforfcht und dar: 
geftellt hat, hat er neben ihrer endlichen und vergänglichen Seite 
ſtets die befondere Offenbarung des göttlichen Geiſtes gefunden, 
deshalb hat er namentlih in feinen letten Darftellungen der 
Perſon Jeſu eine fpezififche Dignität- und allezeit der chrijtlichen 
Kirche die Bedeutung zuerkannt, in ihrem Grunde die Trägerin 
der abfoluten Religion zu fein. So find ihm „Dogmen die Lehren 
oder LZehrfähe, in welchen der abfolute Inhalt der chriſt— 
lihen Wahrheit in einer bejtimmten Form ausgeſprochen ift“ 
(Lehrb. d. Dogmen-Geſch. 2.4. Einl. $ 3). Aber allerdings mußte 
feine geſchichtliche Forſchung und Kritif jene fpefulative Voraus— 
fegung zerftören helfen, als ob gerade auch der eigentümliche Inhalt 
des chriftlichen Bewußtſeins in einheitlicher Geftalt und mit im- 
manenter Notwendigkeit aus dem reinen Denken heraus apriorifch 
fi entwideln ließe und als ob die chriſtlichen Grundideen dem 
Inhalte nach ſich deden würden mit den Grundgedanten der fpefu- 
lativen Philofophie. Je reiner Baur wirklich die hiftorifch=fritifche 
Methode durhführte, deſto weiter entfernten fich feine Nefultate 
von diefer Vorausfegung, deſto entjchiedener und bedeutungävoller 
traten die eigentümlichen empirischen Faktoren, Bedingungen, 
Schranken, Bejonderheiten u. ſ. w., welche das Chriftentum als 
gefchichtliche Neligion in feinem Urfprung und in feiner Entwid 
lung zeigt, welche gerade auch feinen Charakter als Neligion und 
als geichichtlihe Religion bewähren, neben bejtimmten Grundideen 
hervor, melde dasjelbe von Anfang an durchgehends beherrichen, 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 93 


übrigens doch aud in ihrer Auffafjung und Darftelung durch die 
gefchichtlichen Einflüffe fortwährend und wechſelnd modifiziert mer: 
den. Namentlih durch Baur ift alfo der große Grundſatz zur 
Herrſchaft gefommen: Das Chriftentum darf nicht einfeitig logiſch 
oder fpefulativ, es muß vor allem gefhichtlich aufgefaßt und - 
begriffen werden, gerade auch die chriftlihe Lehre tft durchaus 
gefchichtlich bedingt, abgejtuft, gefärbt und Tann nur verjtanden 
werben im engiten Zufammenhang mit den mannigfaltigen geſchicht— 
lihen Faktoren, deren Produkt, Ausdrud und abhängige Beglei— 
terin diefelbe if. Sa es konnte auch auf dieſem Standpunfte 
fraglich werben, ob es überhaupt eine an fich ſeiende chriſt— 
liche Wahrheit gebe, welche als folche in einem jei es jpefulativen 
oder dogmatiſchen Syſteme dargejtellt werden fünne. Auch wenn 
man das Chriſtentum in feiner fpezififhen Dignität ala abjolute 
Religion belafjen wollte, war es doch für jene hiſtoriſch-kritiſche 
Auffafjung naheliegend anzunehmen, daß das Abjolute und Blei: 
bende desſelben in der ſpezifiſchen, religiös-praktiſchen 
Grundridtung, Gemütsjtimmung und Lebenstendenz zu juchen jet, 
während gerade die religtöfen Vorftellungen und Lehren, wovon 
diefe praftifche Grundrichtung begleitet fei, zu feiner endlichen und 
wandelbaren Erjcheinungsform gehören und alſo auch nicht mehr 
als ein Syitem von Dogmen, außer etwa im hiftorifchen Sinne, 
reproduziert werden jollen. In der That hat auch Baur in feinen 
legten Darjtellungen eine folde Auffafjung vom Chriftentum her: 
vortreten laffen, welche mehr an den Kantſchen Rationalismus 
als an die Hegeliche Spekulation erinnert. So hat alſo gerade 
auch Baur aus der Herrichaft der Spekulation zum Empiris- 
mus und Hiſtorismus hinübergeführt.! 

Um diejelbe Zeit (1845—50) hatte nun ohnehin die all: 
gemeine miljenfhaftlihe Strömung ihre große Wendung 
vollzogen: vom Idealismus zum Realismus, von der Spekulation 
zur Empirie, vom apriorifchen Konftruteren zum exakten Konitatie- 
ten der einzelnen Thatfahen, vom Allgemeinen zum Konfreten, 
von der Synthefe zur Analyfe, vom Begriffs - Realismus zum 
Begriffs: Nominalismus u. f. w. Auf dem Gebiete der Natur: 


E Bol. nur „dad Chriftentum und die chriftliche Kirche der 
drei erften Jahrhunderte” ©. 21 fi. 


94 Weiß 


wiſſenſchaften vor allem mar dieſer Umſchwung zur Geltung ge: 
fommen, Gefchichtsforihung, Philologie u. ſ. w. ſchloſſen ſich an, 
und es ift fein Zweifel, daß diefe Mendung zunächſt berechtigt 
war und in den verfchiedenen Zweigen der Wiſſenſchaft ganz 
bedeutende Ergebnifje teild geliefert hat, teils noch immer liefert. 
Es fragt ſich nur, ob diefe neue Richtung jegt nicht Die entgegen: 
geſetzte Einfeitigfeit repräfentierte. Die nähere Betrachtung ihres 
Verlaufes foll uns darüber aufflären. Zuvor aber wollen wir 
ind Auge faflen, welche Stellung die Theologie naturgemäß zu 
dem Empirismus einnimmt, wobei wir als felbjtverftändlich vor: 
ausſetzen, daß derfelbe auch das fpezififch geiftige Erfahrungsgebiet 
als Objekt feiner Forſchung anerfenne und pflege. 

Die Theologie hat mehr ala eine Seite, wodurd fie dem 
Empirismus nahe fteht, ſie iſt ganz beſonders intereſſiert für 
den Grundſatz, daß die Mahrheit ohne den Weg der Erfahrung 
nicht gefunden werde. Site gründet fich vermittelft de Glaubens 
auf eigentümliche innere Erfahrungen, fie erbaut fih auf dem 
gefchichtlihen Gemeinfchaftsleben und Gefamtbewußtfein der Kirche, 
beziehungsmweife der Konfeffion, fie hegt und bewahrt ihren Glau— 
bensausbrud in überlieferten Formen der Lehre, von deren Grund- 
inhalt und weſentlichem Sinn fie ſich niemals trennen darf, auch 
wenn fie diefelben fortbildet, fie führt den Glauben und die Exi- 
ftenz der chriftlihen Gemeinde jamt ihrer normativen Urkunde, 
der heiligen Schrift, in leßter Inſtanz zurüd auf die gefchichtliche 
Dffenbarung Gottes in Chrifto, fie it ihrem innerften Charakter 
und Ziele nach mehr Lebensanfhauung als Weltanfchauung. Alfo 
fonnte die Theologie in mancher Hinficht von der Wendung der 
Wiffenfchaft zum Empirismus Gewinn erwarten und felber ziehen. 
Sie wurde dadurch befreit von dem Banne eines fpefulativen 
Logismus, welcher ſchon die Religion als ſolche aufhob, weil nur 
der Gedanke oder der Begriff bleibende Geltung haben follte, 
welcher aber auch alles Gefchichtlihe in der Erfcheinung Chrijti, 
jowie im Dafein und der Erfcheinung der Kirche zum mindeften 
als trangitorifh und inadäquat hinter fich ließ, weil nur die ewige 
und an fich ſeiende Immanenz Gottes im Menfchengeifte für ihn 
Wahrheit Hatte und weil diefe Wahrheit feiner Anficht nach nicht 
in der Vergangenheit, fondern in der Gegenwart zur vollen Wirk: 


Die neuere Wendung der Wiljenfhaft und die Theologie. 95 


lichfeit im Bemwußtfein der Menjchheit geworden war und auch zu 
ihrer Bermittlung und Pflege der Firchlichen Gemeinfchaft nicht zu 
bedürfen ſchien. Bon einer den Thatfachen zugemendeten gejchicht- 
lichen Auffaffung fonnte alfo die Theologie eine ganz neue Wür— 
digung des Chriftentums, feines Urfprungs, feiner Lebensmacht 
und jeiner Lehren erwarten, wenn fie auch gleich fi unmöglich 
verbergen durfte, daß vom empirifchen Standpunfte aus wenigſtens 
die ausgebildete Gejtalt der Lehre in eine veränderte, felundäre 
Stelle einrüde. Beim Blid auf die Welt der inneren Erfahrung 
und auf die Geſchichte mußte insbefondere das Auge fich öffnen 
für die beherrfhende Macht ethiſcher Teleologie, wie 
fie vor allem in der heiligen Gefchichte ſich offenbart und den 
innerjten Kern chrijtlicher Weltanſchauung bildet. 

Menn Bilmar um jene Zeit anfing eine „Theologie der 
Thatſachen“ zu fordern im Gegenſatze zur geltenden Theologie 
des Bewußtſeins, welche er Theologie der Rhetorik nannte, fo 
wurde hier derjelbe Zug des Empirismus, wie er bisher gejchildert 
worden tft, in plumper Weiſe im Intereſſe reaftionärer Orthodorie 
auögebeutet und dabei vor allem überfehen, was ja der rohe 
Empirismus ftet3 überfieht, daß alle „Thatfachen“, auch Diejenigen 
in Natur und Gefchichte, nur durh die Vermittlung 
unſeres Bemwußtfeins bindurd für uns feititehen, ihre 
Geltung und ihre eigentümliche Beftimmtheit haben. Aber man 
wird überhaupt jagen dürfen, daß der Empirismus in jenem erjten 
umfafjenden Hervorbredhen, wie er ald die naturgemäße Reaktion 
gegen den überfpannten Idealismus und Logismus auftrat, viel- 
fad eine naive Geftalt gezeigt habe, welche ala eine rohe erfcheinen 
mußte, wenn berfelbe ſich ala maßgebendes Prinzip zur Löſung 
der höheren wiſſenſchaftlichen Aufgaben aufmerfen wollte. So 
hat er fich ja ganz fpezififch in dem feit 1848 ſich ausbreitenden 
Materialismus gröberer und feinerer Sorte dargeftellt. Und 
bob it Strauß im alten und neuen Glauben diefer Welt: 
anfhauung fehr nahe getreten, vollends angezogen durch das 
Mittelglied des Darwinismus, ein Beweis, welche außerordent- 
Ihe Anziehungskraft gerade auch der naturaliftiihe Empirismus 
etwa bis 1870 auf das allgemeine Bewußtſein der Zeit ausgeübt 
hat. Mit großer Inkonſequenz bediente fich dabei diefer natura- 


96 Weiß 


liſtiſche Empirismus noch eines idealiſtiſchen Reſtes hinſichtlich 
ſeines erfenntnistheoretifchen Verfahrens. Denn während von 
feinem Standpunkte aus der Verſuch einer allgemeinen Welt— 
anſchauung gar nicht gemacht werden kann, da vollends der beſchränkte 
und einſeitige Kreis ſinnlicher Erfahrung hiefür keine ausreichende 
Grundlage darbietet und da von ſeinen Vorausſetzungen aus das 
Erkennen als bloße Gehirnfunktion allen objektiven Wert verliert, 
wagte er es doch mit jugendlicher Keckheit, feine angeblich konſta— 
tierten eraften Refultate über Stoff, Kraft, Atome u. f. w. und 
über deren gefegmäßige Veränderungen als Prinzipien für eine 
allgemeine Erfenntnis des Seienden zu behandeln und von hier 
aus eine MWeltanfhauung zu Fonftruiren, obgleih er von einem 
Univerfum oder Kosmos überhaupt gar nicht mehr zu reden oder 
zu träumen berechtigt war. Man darf aber nad) ſolchem Gebah— 
ven des Naturalismus den herrfchenden Empirismus nicht einmal 
in dem Stadium bis 1870 ſchätzen und beurteilen, und noch 
weniger darf man danach etwa die wirklich exakte Einzelforichung 
in Natur: und Geſchichtswiſſenſchaft abſchätzen. Aber ohne jede 
Ungeredtigfeit muß doch behauptet werden, daß die MWiffenfchaft 
wie das allgemeine Bewußtfein durch die Überfchägung der „eraften“ 
empirifhen Einzelforfhung in Natur und Gefchichte faſt drei 
Dezennien hindurch ſchwer bedroht waren. Wir reden nicht von 
dem Mangel an Idealismus im praftifchen Leben, welcher auch 
dadurch befördert worden ift, wohl aber davon, daß das ftoffliche 
Einzelwiffen nun die Stelle des umfafjenderen und eindringenderen 
Denkens und einer auf das Ganze des Daſeins, auch auf feinen 
Sinn und feine Bedeutung gerichteten Weltanfhauung und Über: 
zeugung vertreten follte, daß gerade auch das hochgebildete moderne 
Bemußtjein alle innere Selbftändigfeit und Selbſtgewißheit ver: 
lieren und von den mechjelnden Entdedungen der empirischen 
Wiffenfchaften gänzlich abhängig und von der Ülberfülle ihres 
chaotiſch einherwogenden Stoffes erbrüdt werden folltee Eine 
folde Situation ift für Geift und Charakter des Menfchen nach: 
teilig und unerträglih, aber fie wird durch die Herrichaft des 
einfeitigen Empirismus, welche fi) ja namentlih aud in das 
Unterrichtsmefen auf allen feinen Stufen hinein erſtreckt hat, 
unvermeidlich herbeigeführt. — Es war ſchon ein fchlimmes Zeug- 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 97 


nis, daß die Philofophie durch den einfeitigen Empirismus 
eine Zeit lang ganz in den Hintergrund gebrängt war. 

Ein natürliher Rückſchlag, zunädft vom Boden des 
Empirismus ſelbſt aus, konnte nicht ausbleiben. Er ift in 
den Jahren 187075 hervorgetreten, und feine Wirkungen haben 
ſich either in ganz bebeutfamer Weife ausgebreitet und verftärft. 
Diefe Geftaltung felber zu betrachten, behalten wir uns für unfern 
zweiten Artikel vor. Hier fol nur ihr Grundcharakter angedeutet 
werden. Der Empirismus mwurde, mie dies bei gründlicheren 
Geiftern, welche aber doch fich nicht ganz von ihm trennen wollten, 
nicht anders gefchehen konnte, abgelöft teild geradezu von dem 
Steptizismus, teild von jener kritiſchen Richtung, melde im 
allgemeinen die Rüdfehr zu Kant auf ihr Panier fchrieb, daneben 
auh von Herbart ſich mehr oder weniger beeinflufjen ließ, 
welche man im ganzen al Neufantianismus richtig bezeichnet, 
welche aber doch im einzelnen wieder fo mannigfaltig modifiziert 
erfcheint, daß diefer Name für einzelne Erfcheinungen derfelben 
nicht mehr pafjen will, zumal da mit dem Namen jelber auch 
wieder verfchiedene Auffafjungen verbunden werden. So viel aber 
mag aus unferer feitherigen Betrachtung des Entwidlungsganges, 
welchen der Empirtsmus genommen hat, doc ſchon jebt hervor: 
gehen, daß eine richtige Theologie ſich der gefamten von dem 
Empirismus, fei e8 unmittelbar getragenen, fei es mittelbar be- 
herrſchten Strömung ebenfomwenig ohne Schaden gänzlich überlaffen 
kann als der vorangegangenen ibealiftifchen oder fpefulativen. War 
fie bei der letteren in Gefahr, den eigentümlichen aus den Offen: 
barungsthatfachen heritammenden Grund und Inhalt des Chriften: 
tums zu verlieren, meil derjelbe zum Inhalt und Produkte des 
allgemein menſchlichen Bewußtſeins verdünnt wurde, fo droht ihr 
durch den einfeitigen Empirismus die andere Gefahr, daß ihr 
Anhalt den Charakter der objektiven Wahrheit, der Allgemeinheit 
und Notwendigkeit verliere und ſich in die nebelhafte Negion mehr 
oder weniger zufälliger, gejchichtlich gemordener und fortgepflanzter 
Vorftelungen, Gemützftimmungen, Urteile und Willenzjtrebungen 
verflüchtige, vom Nange der emornun zu demjenigen der do&a 
herabfinfe, welche als bloße Vorftellung oder Anficht der willfür- 
lihen, rein fubjettiven Einbildung überaus nahe fteht. Was hilft 

Theol. Studien a, ®, VI. Jahrg. 7 


m, DUBLIN. rau nn 


98 Weiß 


es der Theologie, wenn ſie mit der größten geſchichtlichen Genauigkeit 
alle ihre Hauptſätze auf Chriſtum, die Apoſtel, die Reformatoren 
zurückführt, dabei aber die Hauptfrage zum mindeſten in der 
Schwebe läßt, ob dieſen Sätzen, ob der religiös = fittlichen 
Anſchauung über Gott und Welt u. ſ. w. und der entfprechenden 
Gemüts- und Willensrihtung, welche ſich darin ausfpricht, ob: 
' jeftive Wahrheit zulomme oder nit? Und in der That 
kunn ja auch der Empirismus, fei e8 der naive, fei e8 der Fritifche, 
diefe Frage von ſich aus weder bejahen noch verneinen. 

Aber hat e3 denn nicht feit dem Beginne des Jahrhunderts, 
jpeziell vollends ſeit Schleiermacher auch Theologen, bezieh: 
ungsweiſe eine mehr oder weniger zufammenhängende Entwid- 
lungsreihe der Theologie gegeben, welche zwar von Idea— 
lismus und Spekulation, wie vom Empirismus und Kritizismus 
gelernt, gleichzeitig aber von der Einfeitigfeit beider Richtungen 
ſich freigehalten und einen Höheren Standpunft über beiden 
einzunehmen geſucht hat? Diefe Frage darf unbedingt bejaht, 
aber e8 muß auch alsbald das Zugeltändnis beigefügt werden, 
daß die mit größerer oder geringerer Klarheit und Entfchiedenheit 
verfolgte Tendenz doch nicht mit derjenigen Kraft zur Durchführ— 
ung gelangt ift, daß fie durch ein Produkt von anerfannter Meifter- 
ſchaft und Überlegenheit repräfentirt wäre. Eine Reihe von unter 
fi) verwandten, mehr oder weniger bedeutenden Berfuchen fpeziell 
auf dem bogmatifchen Gebiete find von jener Tendenz getragen, 
aber wir wagten nicht zu behaupten, daß diefelbe in einem der— 
felben einen vollendeten und daher für längere Zeit und für einen 
weiteren Kreiß beherrfchenden Ausdrud gefunden hätte. Manche 
zeigen deutlich ihre Einfeitigfeit, teilweiſe Inkonſequenz oder ſon— 
ftige Mängel, wie die der fchwierigen Aufgabe gegenüber inmitten 
des Fluffes der Entwidlung und der jtreitenden Gegenſätze nur 
allzu natürlich ift. Noch ift wohl die Zeit nicht vorhanden für 
eine neue durchſchlagende theologische Gefamtanfchauung, noch find 
nicht alle Vorbereitungen für diejfelbe bis zu dem Punkte der Er- 
füllung gediehen. 

Aber deshalb foll doch nicht vergefjen werden, daß durch 
Theologen wie Nisfh, 3. Müller, Rothe, Martenfen, 
Dorner, Landerer, auh Hofmann (und fpäter durch Frank), 


... mn en a SI ea ee —— 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. - 99 


welche wir in erfter Linie nennen, vor allem unter dem Einfluffe 
Schleiermachers, teilmeife jedoch auch unter der Einwirkung der 
fpetulativen Philofophie oder auch Kants, fodann auf dem Grunde 
einer tieferen Durcharbeitung ber biblifchen, befonder3 der neu: 
teftamentlichen, und der Firchlichen Lehre die theologifche Entwidlung 
auf einer Bahn weitergeführt worden tft, von welcher diefelbe nicht 
wieder umzufehren genötigt ift, melde fie nur weiter verfolgen 
darf, um dem Ziele entgegenzugehen.! Da es und nicht in den 
Sinn kommt, ein einzelnes Syſtem als das richtige bezeichnen zu 
wollen, jo möge man und auch nicht die materiellen und metho- 
difchen Berfchiedenheiten entgegenhalten, welche unter jenen Theo- 
logen obmwalten, wie denn namentlich Hofmann und Rothe, teilmeife 
auch Rothe und J. Müller ziemlich weit auseinanderftehen. Gegen: 
über von der Spekulation des reinen Denkens auf der einen und 
dem hiftorifchen oder anthropologifchen Empirismus auf der andern 
Seite bilden jene Theologen einen gemeinfamen Gegenſatz, obgleich 
Rothe der erjteren, Hofmann dem legteren näher fteht. Aber auch 
Rothes Spekulation geht ja nicht von dem reinen, abitraften, 
fondern von dem chrijtlih frommen Selbjtbewußtjein aus, ſetzt 
alſo das gefchichtlihe und erfahrungsmäßige Chriftentum vor- 
aus (Ethik $ 5, Anm. 7 und 8 6—11)? und bei Hofmann 
find die Ausfagen des chrijtlichen Theologen über feine durch 
Chriſtum vermittelte Gemeinſchaft mit Gott, in welchen fich das 
Hriftliche Lehrſyſtem erpliziert, jedenfall im Sinne von objektiven 


1 Für Landerer vgl. „zur Dogmatik“ zwei afademijche Reden 
(1843). Gedrudt Tübingen 1879. Diefe Reden verdienen heute nod 
die vollfte Beachtung. — Diefelbe Grundrihtung war ſchon von Chr. 
Fr. Schmid vertreten worden (vgl. deſſen chriftliche Sittenichre 8 2 
und jein dort angeführtes lateiniſches Pfingitprogramm von 1831.) 
Auch Bed erjtrebte auf dem Grunde der Erfahrung (vor allem von 
der Schriftlehre) eine ſynthetiſche Entwiclung, eine hriftliche yrwow. 

2 Rothe: „Wir juchen unfer Subjekt (von defjen Gottesbewußtſein 
feine Spekulation ausgeht) nur innerhalb der Chriftenheit, 
d. h. nur innerhalb des gefchichtlichen Bereich der Erlöfung. Endlich 
aber iſt ung auch diefer wahrhaft fromme Chriſtenmenſch, das Subjekt 
unferer Audfagen nicht in jedem beliebigen Lebensmoment, jondern 
nur in den intenfipften Momenten feines religiöfen Lebens". 
(2. X. I, 38, vgl. noch ©. 40 f.) 

7* 





100 Weiß 


Wahrheiten gemeint, deren letztes ſynthetiſches Prinzip der Glaube 
des Theologen bildet; nur will Hofmann im Unterſchiede von 
Rothe bei der Entwicklung dieſes Prinzips nicht den Weg der 
Deduktion vom allgemeinen Gottesbewußtſein aus, ſondern unmit- 
telbar denjenigen der Evolution von dem Thatbeftande der durch 
Chriftum vermittelten Gottesgemeinfchaft aus einfchlagen (Theol. 
Enzyllop. ©. 45 ff). Die weſentlichen methodischen Differenzen, 
welche immerhin zwifchen Rothe und Hofmann vorliegen, und fi 
mit den Extremen der reinen Spefulation und des Empirismus 
berühren, find für Nitzſch, Martenfen, Dorner, Landerer von vorm 
herein befeitigt, da diefe den hriftlihen Glauben oder das dhrift- 
liche Selbſtbewußtſein entfchieven nur in feiner empirifch-hiftorifchen 
Beftimmtheit als Prinzip hinftellen, nunmehr aber auch die im: 
manente Entwidlung desfelben auf dem Wege der Konftruftion 
nad) rückwärts und vorwärts vollziehen, dabei jedoch im ftetigen 
Zufammenhang mit den empirischen Faktoren der chriftlichen Erfahr: 
ung, der Schriftausfagen und der Kirchenlehre zu bleiben fuchen.! 
Durd den empirischen Faktor, melden fie im Prinzipe zu Grund 
legen und auf die Entwidlung jtetig einwirken lafjen, verzichten 
fie alfo auf eine rein apriorifche Konftruftion oder ſpekulative 
Deduktion der chriſtlichen Glaubenswahrheiten, aber auf der andern 
Seite entwideln fie diefelben doch ald ein durch feinen Ausgangs: 
punkt im glaubigen Selbjtbemußtfein und durch feinen logischen 
Zufammenhang als ſolches legitimirtes Syſtem objektiver Erkennt: 
niß oder Wahrheit. Gerade die gevanfenmäßige Entwidlung des 
Slaubensinhaltes bewährt und formiert denfelben ala Wahrheits- 
erfenntni3 auch für den denkenden Geijt, wie fich derfelbe dem 
fühlenden, wollenden und innerlid anfıyauenden Geifte zuvor 
Ihon als jubjtantielle Wahrheit erfahrungsmäßig fundgegeben und 
legitimiert hat. Im lebten Hintergrunde dieſes Verfahrens fteht 
die Überzeugung, melde freilich in der innerften Selbitgewißheit 
des denfenden Menjchengeiftes überhaupt begründet ift, daß er, ala 


» Dabei bejteht allerdings der Unterfchied, daß bei den 
einen, wie bei Nitzſch, der Anſchluß an die empirifchen Faktoren, bei 
den anderen, wie bei Martenfen und Dorner, die fpefulative 
Konitruftion überwiegt. Beide Teile aber befolgen doch im mwefentlichen 
diefelbe Methode. 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 101 


Geift aus Gott, auf objektive Erfenntnis der Wahrheit über Welt 
und Gott angelegt fei und daß er dem Ziele folcher objektiven 
Erkenntnis fi) annähere, wenn er auf den fongruenten Wegen 
der Erfahrung und des Denkens der Objekte, der Eindrüde von 
außen und innen, ber gefamten Welt feines Bemußtjeins ſich 
immer gefegmäßiger zu bemächtigen beftrebt fei. Bon dieſer Vor— 
ausfegung ift wiederum in unferem zweiten Artikel eingehender zu 
handeln. Hier wollen wir noch einmal zurüdfehren zu der oben 
aufgeführten Reihe von Theologen, deren Richtung einen über 
den Einfeitigfeiten der Spekulation und des Empirismus erhabenen 
- Standpunkt anzeigt. 

Als das abjolute Wiffen und der fpefulative Idealismus 
herrſchten, da haben fie freilich auch die hriftliche Wahrheit als 
ein Gedankenſyſtem aufzuzeigeu gejucht, welches nicht nur eine 
jtrenge jinnere Konſequenz und Gejchlofjenheit darftelle, fondern 
auch übereinftimme mit dem höchſten Bernunftinhalte, in welchem 
die höchſten Ideen des Menjchengeijtes ihre Erfüllung finden. 
Bon diefem Geſichtspunkte aus hat ja eben Rothe verfuht, eine 
weſentlich jpefulative Entwidlung der chriftlihen Wahrheit zu 
liefern. Aber diefelben Theologen haben unter der Herrjchaft des 
abjoluten Wiffens dagegen proteftiert, daß das chriftliche Wahrheits— 
ſyſtem ein Produkt fei des reinen, d. h. des abjtraften, apriorifchen 
Dentens, fie haben ihren Ausgang genommen von der pofitiven 
chriſtlichen Erfahrung, von dem religiöfen Erleben und der religiöfen 
Überlieferung der chriftlihen Gemeinde, von ihren originalen 
Grundzeugnifjen in der heiligen Schrift und von den fetundären 
Zeugniffen der Kirche, fie haben durch alle diefe Vermittlungen 
hindurch in letter Beziehung ſich gegründet auf die abfolute 
Gotteöoffenbarung in Chrifto. Deswegen haben fie behauptet, daß 
nur ein dur jene Bermittlungen Hindurchgegangenes und fo von 
dem heiligen Geiſte erleuchtetes Bewußtſein und Denken das chrift- 
Ihe Wahrheitsſyſtem aus ſich zu produzieren oder genauer zu 
reproduzieren im Stande fei. Sie waren alfo auch wieder Em: 
pirijten und Pofitiviten in der Periode des abjoluten Idealismus, 
fie haben auch gegen den allmächtigen Logismus und Intellektua— 
lismus die unumftößliche Thatfache der fittlihen und der religiöfen 
Erfahrung, die Bedeutung des Gefühls, des Willens, des Gemifjens, 


102 ' Ä Weit 


der praktiſchen Vernunft, die Wertbeurteilung des perjönlichen 
Gelbftgefühle und die Inſtanzen des unmittelbaren Lebend, im 
Zufammenhange damit den Einfluß eigentümlicher Gefchichte ſpeziell 
auf dem Gebiete der Religion geltend gemacht und haben fich 
deshalb ala beſchränkte Pektoraltheologen ſchelten und 
verfpotten laſſen.“ Namentlich find einige unter ihnen entfchieden 
auf das Prinzip der fittlihen Perſönlichkeit zunächſt des 
Menſchen zurüdgegangen, hierin zufammenftimmend mit jener 
theiftifchen Philofophie, welche um diefelbe Zeit Hegel durch Kant 
zu ergänzen und zu korrigieren fuchte. Die Theologen aber waren 
zu diefem NRüdgang dur das reformatorifhe Grundprinzip vom 
rechtfertigenden Glauben, welches in dem Bemwußtfein der Kirche 
wieder lebendig geworben war, noch fpeziell veranlaßt. 

Umgefehrt aber: al3 man allgemein anfing, das feiner ſelbſt 
gewiſſe fonftruirende Denken zu verhöhnen, als fei e8 ein bloßes 
Phantafieren Rothe, Ethik $ 4, Anm. 3), als ein aller Speku— 
lation oder „Metaphyſik“ entgegengefegter Empirismus zur allge: 
meinen Zofung der Wiſſenſchaft erhoben wurde, da hat dieſelbe 
theologifhe Richtung daran feftgehalten, daß die Wahrheit auf 
dem Gebiete des Geiftes niemals ein Produkt der bloßen Erfahr- 
ung oder der gefchichtlichen Überlieferung fein fünne, daß es auch 
nicht genüge, für diefelbe ihre Übereinftimmung mit den fubjeltiven 
Inſtanzen des Gefühle und des fittlichen Willens nachzumeijen, 
jondern daß die Wahrheit zu produzieren ſei oder doch zu repro= 
duzieren auch vermittelit des dentenden Erfennens in 
Üebereinftimmung mit dem theoretifhen Geifte, 
beziehungsweife aus demfelben heraus. Sie wollte nicht darauf 
verzichten, daß es eine chriftlihe Wahrheitsidee gebe und eine 
immanente Logik auch des chriftlichen Denkens, durch welche jene 


% Die prinzipielle Bedeutung der ethijch - religiöfen Per— 
jönlichkeit, Erfahrung und Lebensrihtung für die Auffaffung des 
Chriſtentums und für die Erkenntnis der Wahrheit überhaupt, der 
Prinzipat des Gewiſſens und des praftifchen Glaubens wurden nament- 
lich auch vertreten in der noch immer überaus lehrreichen Schrift: 
„der deutjche Proteftantismus“ von Hundeshagen 1846 ff. — Die 
Bedeutung der Perfünlichkeit für das theologische Syſtem ift von 
I Müller mit befonderer Energie geltend gemacht worden. Vgl. nur 
die Einleitung zu feiner „Hriftlichen Lehre von der Sünde”. 5. A. 1867. 


% 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theplogie. 108 


Idee produziert und erpliziert werde. Sie hat fich nicht gefcheut, 
deshalb den Bormurf auf fich zu nehmen, daß fie noch dem alten 
troftlofen Wahne huldige, ala ob der Menfchengeift eine Metaphyfit, 
das heißt in diefem Falle eine umfaſſende theoretifihe 
Weltanſchauung mit irgend welcher Sicherheit zu fchaffen im 
Stande wäre. 

Jene theologische Richtung Fonnte, ſoweit fie noch vertreten ift, _ 
ſich leicht beruhigen gegenüber von den völlig entgegengefesten 
Vorwürfen, welche fie etwa im Laufe von drei Dezennien, beide: 
mal vom Standpunkte neuefter Wifjenfchaft aus und im Tone 
der Infallibilität, über fich hat ausſprechen hören. Schon das 
rajche und radifale Umfchlagen vom Extrem des abfoluten Wiſſens 
und der reinen Spekulation in daß andere des reinen Empirismus 
und Poſitivismus darf ihr ala ein Beweis dafür gelten, daß es 
einen höheren Standpunkt über beiden geben müſſe. Auch das 
Neue Teitament lehrt den Glauben, welcher in der Erfahrung 
von dem chriftlihen Heile gegründet ift und von da aus zur 
yvooıs ſich erhebt, auf denjelben Weg leitet der lebendige und 
feiner felbft gewiſſe, im innerften Beugniffe des Geiftes begrün- 
dete Glaube der Reformatoren wie der Vorgang bei den meilten 
Vätern der alten Kirche. Schleiermadher wiederholt das Motto 
Anſelms: credo ut intelligam. Freilich wird die Theologie eben 
dadurch gemahnt, daß fie ihre Erkenntniffe wirklich beſchränken fol 
auf den Kreis der Glaubensmahrheiten und nicht ausdehnen 
auf ſolche Gegenftände, auf welche der Glaube feiner Natur nad 
ſich nicht beziehen Tann, und Schleiermacher wollte noch befonders 
erinnern, daß auch der wiſſenſchaftliche Ausdrud des 
Glaubens den Objekten desfelben gegenüber immer etwas 
Subjeftives und Inadäquates an fich behalte. Aber 
der erjtere Gejichtspunft ſchließt doch nicht aus, daß die im Glauben 
enthaltenen Erfenntnifje nun auch nad) ihren Vorausfegungen und 
Konfequenzen folgerichtig .entwidelt, ſowie daß fie zu den ficheren 
Ergebniffen des natürlichen Denkens und Willens in Beziehung 
gefegt werden. Und die zweite Erinnerung darf doch nicht wehren, 
daß der gedankenmäßige, begriffsmäßige Ausdrud der religiöfen 
Wahrheit auch annähernd ala objektive Darjtellung derſelben 
anerfannt werde. Schleiermacher freilih hat das Subjektive und 


104 Weiß 


Inadäquate der Glaubenserkenntniſſe einſeitig betonen müſſen, weil 
ſeiner Anſicht nach Gott ſich uns nur im Gefühle offenbart, nicht 
aber im lichten Gedanken. Umgekehrt haben einige der oben 
genannten Theologen (ſo wohl auch Martenſen und Dorner, am 
meiſten Rothe) ſich über die Erinnerung Schleiermachers in dieſer 
Hinſicht mit allzugroßer Zuverſicht dogmatiſcher oder ſpekulativer 
yvocıs hinweggeſetzt. Der Mangel an Beſchränkung und Kritik 
hat deswegen jener Richtung am meilten gejchabet. 

Um den zulegt hervorgehobenen Punkt dreht ſich nun auch 
bauptjähli der Streit, wie er zwifhen Biedermann und 
Pfleiderer auf der einen, Lipſius auf der anderen Seite 
über die Natur und die Tragweite des dogmatiſchen Erkennens 
geführt wird. An die Seite von Lipſius wäre, wenn auch mit 
.  eigentümlicher Modifikation, im ganzen U. Schweizer zu ftellen.‘ 

Sn der Nähe von Lipfius ift auch die Pofitton der Ritfch lichen 
Schule zu fuhen, obgleich fie teilmeife den Gegenſatz gegen den— 
felben ſcharf herauszufehren gejucht hat. Im Hintergrunde |des 
ganzen Streites fteht das erfenntnis-theoretiihe und damit unwei— 
gerlich zugleich das metaphufifche Problem über das Verhältnis 
Gottes zur Welt, fpeziell zum menschlichen Geifte. 

Aber auf das neueſte Stadium der Entwidlung fol erft unfer 
zweiter Artifel näher eingehen. Die Tendenzen einer Theologie, 
welche den Gegenſatz von reiner Spekulation und Empirismus, 
ſowie von theoretifhem und praftifchem Erkennen zum voraus auf- 
zuheben trachtet, werden fi jenem Stadium gegenüber noch deut- 
licher als die richtigen herausjtellen. Der Glaube, das Grund: 
prinzip aller Theologie, faßt Gottes wirflihe Offenbarung im 
menfchlihen Geifte in fi, und zu folcher Kapazität ift der Men- 
ſchengeiſt auch nach feiner intellektuellen Seite befähigt und ange- 
legt. Der Glaube des Chrijten, näher des chrijtlichen Theologen, 
ift die Einheit von Erfahrung und Erkenntnis, des Geſchichtlichen 


1 Bol. Glaubenslehre $ 12. 16 f. dazu 56. 59. U. Schweizer 
legt den wiljenfchaftlich formulierten Ausſagen des hriftlihen Glaubens 
in höherem Grade als Schleiermader und als Lipfius den Charakter 
objeftiver Erfenntnifje bei, mwelhe aus Offenbarung herſtammen und 
auch mit der natürlichen Anlage zu religiöjer Erkenntnis in Zujam- 
menhang jtehen (vgl. noch $ 102—104). 





Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 105 


und des Idealen und ebenjo der praktiſchen wie der theoretijchen 
Grunderkenntnis, in gewiſſem Sinn aud die Einheit des höchſten 
Seins und des tiefiten, innerlichiten und zentralen Erfennens, des 
abfoluten Objektes und der intenſivſten Subjeltivität. Aber gerade 
weil er dieſe Einheit darftellt, darf fein Inhalt aud von der 
Glaubenswiſſenſchaft nur alfo denkend entwidelt werben, daß die- 
jelbe im beftändigen Kontakt bleibt mit den empirischen Faktoren 
des Glaubens, fpeziell die Glaubenälehre muß alfo bei ihrem 
deduftiven Verfahren doch immer zugleih die Glaubenszeugniffe 
der heiligen Schrift und der Kirche berüdfichtigen, muß fich durch 
diefelben weiter befruchten und bereichern laffen und ihre weſent— 
liche Üebereinjtimmung mit denfelben heritellen und bewähren, ja 
fie wird auch, wie fie formell den natürlihen Grundgefeten des 
Denkens folgt, fo materiell mit den Ergebniffen der natürlichen 
Erkenntnis fih in Beziehung ſetzen müfjen, natürlich unter Wahr- 
ung ihres maßgebenden Grundprinzips.t So ift alfo der Glaube 
vor allem fynthetifches Grundprinzip, jedoch bei feiner Entfalt- 
ung wirkt die Analyſe der gefchichtlichen Glaubenszeugniffe mit, 
aber auch die analytifch gefundenen Glaubensausfagen erhalten 
durh ihre Aufnahme in die deduftive, ſynthetiſche Entwicklung 
den Wert von objektiven Wahrheiten oder Lehren und verlieren 
den empirischen Charakter bloßer Beſchreibung und bloßen Refe— 
rates, ſie erſcheinen auch nicht mehr nur im Werte ſubjektiver 
Anſchauungen, Überzeugungen oder gar Vorſtellungen, über welchen 
ſie bei dem rein empiriſchen und analytiſchen Verfahren niemals 
erhoben werben können. Das ſubjektive und vergängliche Moment 
aber, welches auch einer ſolchen ſynthetiſch-analytiſchen Entwicklung 
der chriſtlichen Wahrheit noch immer anhaftet, iſt kein anderes als 
dasjenige, welches überhaupt unabtrennbar iſt von jedem Unter: 
nehmen, eine bejtimmte Weltanfchauung wiſſenſchaftlich zu ent: 
mwideln, und wenn auf der einen Seite diefes Moment noch ver: 
ftärft erfcheint durch die eigentümliche Natur der religiöfen Welt: 
anfhauung, fpeziell durch die beitimmte Glaubensgrundlage, von 
welcher das Syftem der chriftlihen Glaubenslehre ausgeht, und 
durch die > praltif- tichlihe Tendenz, welche von jeder Daritellung 


1 Bat. 9 Dorner, Glaubenslehre $ 1 und 2,4, 11—13. Frank, 
Syitem der Kriftlihen Gewißheit $ 8-17. 


106 Haug 


derfelben unabtrennbar ift, jo liegen gerade hierin wieder Beding- 
ungen und Garantieen für die objektive und unvergänglihe Wahr: 
heit ihres weſentlichen Inhaltes, welche Feiner anderen Weltan— 
ſchauung oder feinem anderen Lehrſyſtem zur Seite ftehen. 

Durch die Aufftellung dieſes legten Ziele für die theolo- 
gifche Erkenntnis, insbeſondere für die Glaubenslehre haben mir 
freilich, unferem zweiten. Artikel vorgreifend, eine Pofition einzu= 
nehmen gewagt, welche noch näher beftimmt und insbeſondere unter 
Beziehung auf das neuefte Stadium theologifcher Entwidlung, mit 
welchem die folgende Ausführung ſich befchäftigen fol, eingehender 
begründet und verteidigt werden muß. Nur auß dem Ganzen 
unferer Entwidlung wird auch der Sinn des bereit? Mitgeteilten 
vollfommen deutlich werden. 


Barftellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen 
Theologie.“ 
Bon Pfarrer Hang in Strümpfelbach. 
— 


Um unfere Ktritik der Theologie Ritſchls am Außenwerk 
zu beginnen, fo iſt feine Darftellungform eine ungemein 
ſchwer verftändliche, indem er feine ganz eigentümliche und abfon- 
derlihe Sprache redet. Die in ſchwerfälligem Satzbau oft einför- 
mig wiederkehrenden abjtraften Begriffe hängen freilih, wie mir 
nachher noch zeigen wollen, mit dem Charakter des Syſtems inner: 
ih zufammen. Aber auch die Entwidlung feiner Beweisführungen 
zieht fich in oftmaliger Wiederholung durch zahlreiche dogmatifche, 
dogmengefchichtliche oder ethische Digreffionen vielfach dermaßen 
hinaus, daß der Faden des Zufammenhangs nur mühfam wieder 
aufgefunden wird. Wenn wir die Franzofen einigermaßen noch) 
als unfere Richter in geſchmackvoller Darftelung müfjen gelten 
lafjen, fo iſt durch einen ihrer Theologen neuerdings wohl nicht 


4 Vgl. Hiezu außer der in Theologifchen Studien 1884, ©. 112 
genannten Literatur no: Grau, über die Gottheit Chriſti und die 
Verſöhnung durch fein Blut. Greifswald 1884. Heer, der Religions- 
begriff U. Ritſchls. Zürich 1884. 


Darftellung uud Beurteilung der Ritihl’schen Theologie. 107 


mit Unrecht Ritfchl als der ſchwerſtverſtändliche Schriftiteller Deutfch- 
lands bezeichnet; und felbjt die proteftantifche Kirchenzeitung redete 
fürzli” vom „heraflitifchen Dunkel“ feiner Schriften. Immerhin 
aber dürfen wird Nitfchl auch wieder nachrühmen, daß mer fich 
die Mühe gründlicher Durcharbeitung feines Syftems nicht ver- 
drießen läßt, daraus eine tüchtige Übung in Logif und Dialektik 
gewinnen muß. 

Noch aber nötigt uns Ritſchls befondere Weife ein offenes 
Wort zu reden über den Ton feiner Sprade Es muß uns 
leid thun um den wiſſenſchaftlichen Charakter feiner Schriften, daß 
ihre Objektivität ſtark getrübt wird durch die perfönliche Gereiztheit, 
mit welcher Ritfhl, wie wir auch in unferer Darftellung gelegent: 
ih gezeigt, jeine häufigen Ausfälle macht gegen „pietiftifche 
Menſchen“, gegen orthodore Kirchenmänner und Kirchenregimente, 
namentlich aber in feiner Streitfchrift über Theologie und Meta: 
phyſik gegen fo mohlverdiente Männer wie z. B. gegen ein hoch— 
ihätbares Mitglied der württembergifchen Zandes-Univerfität. Wo 
ruhige, fachliche Erörterungen von anderer Seite feinem Syſtem 
entgegentreten, da kann Ritfehl feiner Sache doch nur vielmehr 
ihaden, wenn er in eine Tonart von rabies theologica verfällt, 
wie man fie etwa vor zwei Jahrhunderten, aber nicht zur Ehre 
und Förderung der damaligen Theologie vernehmen fonnte. Wie 
fein hätte fich hierin der Göttinger Gelehrte durch feine eigene 
ihöne Ausführung über die chrijtlihen Tugenden der Demut und 
Geduld weiſen lafjen können! 

Auf die uns freilich weniger drohende Gefahr hin, daß wir 
der Ehre einer ähnlichen ungnädigen Behandlung wie fo viele 
gewürdigt werden Zönnten, wollen wir es immerhin wagen, mög- 
Iihft ohne Voreingenommenheit Ritſchls Syſtem nad) feinen Licht: 
und Schattenfeiten uns nochmal3 ruhig anzufehen. Indem mir 
am beiten wohl den zu anfang von uns eingefchlagenen Weg 
abermals verfolgen, find Wiederholungen von Ritſchls wichtigſten 
Punkten unvermeidlih. Aber wie zur kritiſchen Beleuchtung eine 
ausdrüdliche Gegenüberjtellung unerläßlich tft, jo war die vorher: 
gehende zufammenhängende Darftellung im Intereſſe der Deut- 
lichkeit und/ber Gerechtigkeit geboten. Wir unterjtellen alfo unferer 
Beurteilung zuerft Ritſchls Erfenntnistheorie. Sein em: 


108 Haug 2 


pirijcher Skeptizismus hat uns gejagt, die Dinge an fi, außer 
Beziehung zu unferer Empfindung, feien für uns unerfennbar ; 
wir wiffen nicht einmal etwas von einem Anfich der Seele über 
oder hinter den Funktionen, in denen fie thätig, lebendig und ſich 
gegenwärtig fei; die Wirklichkeit des Perſonlebens hafte einzig am 
geijtigen Wirken; aud von Gottes Weſensbeſtimmungen an fich 
fönne man nichts lehren außerhalb der für uns wirkſamen Eigen- 
Ichaften Gottes; feine Gnadenwirkungen und vollends die im 
heiligen Geift feien nur an unſern religiöfen und fittlihen Akten 
nachzuweiſen. — Allerdings, befennen wir, darf ſichs namentlich) 
die Theologie gejagt fein lafjen, daß fie fich nicht verliere in 
müßigen, unfruchtbaren und abjtrufen Betrachtungen ohne MWert- 
beziehung auf uns; denn von unmittelbarer Bedeutung iſt es ung, 
mad und wie die Dinge für uns find. Aber dieſes MWerturteil 
müßte ja doch au für uns alsbald entwertet werden, wenn uns 
feine Gewähr dafür geboten werden fünnte, was ein Ding nicht 
blos für uns, fondern was ed an fi ift und was für eine Rea— 
lität und Wahrheit ihm zu Grunde liegt, die für uns zu 
erfennen iſt. Selbft am realen Sein der Seele, jelbjt an Gottes 
Weſen müßten wir ja fonft verzweifeln. Denn unfer Denfen 
verwandelte fih dann fofort in ein halt: und ziellofes Spiel un— 
bejtimmter Eindrüde, deren feiner eine fihere Wahrheit darböte. 
Wir kämen fo fchließlih auf den Satz der alten Sofijten hinaus: 
avtewnog uerpov anavrov, und hätten alle bevenklihen Kon- 
jequenzen des willkürlichſten Subjeltivismus in Dogmatif und 
Ethik in unferem ganzen Dafein mit in den Kauf zu nehmen. 
Nein, nicht hinter den Erfcheinungen und auch nicht vor ihnen 
(wie bei Plato’3 Ideenlehre), aber in den Erfcheinungen ſucht und 
firirt der Geift alsbald einen Begriff als etwas Reelles und Blei: 
bendes, als fichere Grundlage richtiger Gedanken. — Wenn Ritfchl 
ih auf Lotze als Gewährsmann für feine Erfenntnistheorte meint 
berufen zu fönnen, jo iſt zu entgegnen, daß vielmehr Lotze jchon 
in feiner Logik 1843 und wieder 1874 nicht erjt beweiſt, fondern 
bejtimmt vorausſetzt, das Denten fei bejtimmt zur Erkenntnis der 
wahren Natur der Dinge. Auch E. Pfleiderer hat in ſeiner 
Gedächtnisſchrift für Lotze! treffend dargeſtellt, wie bei ihm durch— 


it Roße’3 philofophifhe Weltanihauung. Berlin 1882. 





Darftellung und Beurteilung der Ritfchl’fhen Theologie. 109 


aus, die Einficht in dad was fein foll uns auch die eröffnen wird 
in das was iſt.“ Überhaupt hat ja die Leibniz-Herbart-Lotze'ſche 
Säule eine realiftiihe Metaphyſik, einen idealen Realismus ange- 
bahnt. Und felbit Kants Kritizismus, an welchen Ritſchl fchließ- 
lich appelliert, ift in der Ergänzung der reinen Empirie durch feine 
pofitiv-metaphyfifhen Elemente und feinen ethifchen Idealismus 
doh etwas von Ritſchls empirifchem Sfeptizismus weit Ver: 
ſchiedenes. 

Wir ſteigen aber damit auch ſchon zu den Erkenntnis— 
Duellen hinab. Wenn Ritſchl jede Handreichung ſeitens der 
Metaphyfit zu nuben der Theologie vorweg verabicheut, fo 
hätte er hierin ganz recht, wofern die Metaphyſik wirklich, wie er 
vorausſetzt, nur in leeren Abjtraftionen fi ergehen könnte, in 
einem Formalismus, der vom Unterfchied zwifchen Geift und Natur 
nicht3 wollte, einen Gedanken von Gott nicht fennen würde. Allein 
das ift eine durchaus unhiſtoriſche Vorjtellung von Metaphyfif: 
ihon der Vater derfelben, Ariftoteles, gehört ja zu den am meiften 
lebenerfahrenen, realiftifchen Denfern; und nie läßt es ſich ermeifen, 
daß die Metaphyſik als foldhe die Fonfreten Lebensbezüge, die 
pſychologiſche und ethiſche Beurteilung, mie fie Ritſchl für Die 
Theologie verlangt, ausſchlöße. Die Dogmatif kann als die 
denfende Verarbeitung der religtöfen Erfahrungen der Metaphyfif 
nie ganz entraten. Und nicht allein Schleiermacher iſt e3, der bei 
aller arundfäglihen Trennung von Philofophie und Theologie 
immer wieder auf feine Dialektif oder Metaphyfif refurrieren muß, 
iondern Ritſchl felbjt begegnet e8, daß er mit offenbar metaphy- 
ſiſchen Begriffen wie Welt, Natur operiert, er weiß nicht wie; und 
mie viele metaphyfiiche Begriffe erjt feinem angeblid rein aus 
teligiöfer Erfahrung geſchöpften Sate: „Gott ift die Liebe” zu 
runde liegen müfjen, um ihn richtig im gewollten Sinn denfen 
zu fönnen, davon fpäter in der Lehre von Gott. 

Verwahrt fih Ritſchl weiter dagegen, daß auch feine foge: 
nannte natürliche Religion oder natürliche Offenbarung die 
Vorbereitung der chriſtlichen Weltanfhauung bilden fünne, fo tit 
io viel zuzugeben, daß allerdings nicht ein Syſtem natürlicher 
Wahrheiten vorangeftellt werden darf, in das unbewußt manche 
riftlihe DVorftellung etwa eingefhmuggelt wäre. Aber ebenjo 


110 Haug 


gewiß darf die äußere und innere Bezeugung Gottes in der Heiden- 
welt nach Röm. 1 und 2, Ap.-Gefch. 14 und 17 nit unterſchätzt 
werden, und darf die Dogmatit wohl auf diefe Pädagogie gött- 
licher Weisheit, auf das yraorov rov Hsov als richtige allge: 
meinte Vorbereitung der fpeziell hriftlihen Offenbarung hinweiſen. 
Thut das nicht wiederum Ritſchl felbft, wenn er fich berbeiläßt, 
die Vernunftgemäßheit der chriftlichen Weltanfchauung zu bemeifen? 
(Lehre v. d. Rechtf. u. V. Bd. 3, ©. 210.) wenn er von einem 
allgemeinen menſchlichen Trieb der Religion vevet (ebd. S. 465), 
ja in den heibnifchen, auch den polytheiftiihen Religionen immer 
einen Zug zur Einheit der göttlichen Macht wirffam findet ? (©. 187.) 

Doch die reine und ganze Wahrheit werden wir gewiß mit 
Ritſchl nur im urfprünglihen Glaubensbewußtfein der Chrilten- 
gemeinde fuchen dürfen, nicht vermittelt durch mechanische Inſpi— 
ration, auch nicht durch den Subjeftivismus des individuellen 
Glaubenslebens, fondern vermittelt durch die lautere Duelle der 
aus fich ſelbſt zu erflärenden heiligen Schrift. Zu loben ilt 
an Ritſchl, daß er auch das Alte Teftament wieder weit mehr 
zu Ehren fommen läßt, als Schleiermader, dem dasſelbe ganz 
unverjtändlich blieb. Nur ift es näher befehen ein eigenes Ding 
um die Auftorität der heiligen Schrift bei Ritſchl: die alttefta- 
mentlihen Vorſtellungen zu Grunde legend, fol man doc die 
Mahrheit eben aus dem Neuen Teftament ſchöpfen; aber auch im 
Neuen Teftament foll wieder wohl gefichtet werben: bei Chrifti 
alttejtamentlich bedingten Ideenkreis darf man nicht ftehen bleiben, 
fondern foll fih an das chriftliche Gemeindebemußtfein halten, wie 
es am richtigften im paulinifchen Lehrtropus ausgeprägt ift. Allein 
jelbft dem Apoftel Paulus will Ritfhl in der Lehre vom Geſetz, 
von der Sünde u. a. wejentliche Srrtümer nachweisen. Wo haben 
wir nun jchließlih das Übereinftimmende im Neuen Teftament, 
auf das wir uns feit verlaffen können? In feinen Schriftzitaten 
verfährt Nitfchl zudem fehr mit Auswahl, indem er auf etliche 
Lieblingsftellen immer wieder refurriert und fie ala feine klaſſi— 
Ihen Stellen nad) feiner Weiſe behandelt. 

Die Methode der theologifchen Entwidlung anlangend, fünnen 
mir Ritſchl lediglich beiftimmen, wenn er auf Luther und Melanch— 
thon ſich berufend verlangt, daß die Theologie die Heilswahrheiten 


nn 8·.— 


Darſtellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen Theologie. 111 


zu ihrer Baſis nehme. Nur thut Ritſchl unrecht, wenn er beein— 
flußt durch ſeine abweichende Lehre von der Sünde Melanchthon 
dennoch vorwirft, er habe im Gegenſatz zu Luther in falſcher ſcho— 
lajtifcher Weife die Dogmatif von drei unvereinbaren Standpuntten 
behandelt, vom Urftand, vom Stand des Gefehes und dem des 
Evangeliums. Auch Luther erfennt natürlich diefe drei ala die 
unumgänglichen Entwidlungsitufen. 

Um nun aber zum Begriff der Religion fortzufchreiten, 
jo betrachtet Ritſchl als Eonftitutiv für alle Religion, alfo aud im 
jubjeftiven Sinn genommen, die drei Faktoren Gott, Menfch, 
Melt. Mit den NReformatoren das heilsbegierige Verlangen des 
Menſchen nad Gottes Gemeinschaft und die innige Hingabe an 
ihn als das einzig wichtige Ziel der Religion zu erkennen, dafür 
hat Ritſchl feinen Sinn (vgl. Rechtf. u. V. 3, 28). Er begnügt 
fih aud nicht damit, Schleiermaherd Gefühl der fchlechthinigen 
Abhängigkeit von Gott dahin zu ergänzen, daß wir in der Hingabe 
an Gott uns dann auch wieder in ihm frei fühlen dürfen, Nein 
viel entjchiedener ſtellt Nitfchl in der Religion das Verhältnis 
des Menfhen zur Welt als das maßgebende hin; denn die 
Religion ift ihm eben der Glaube an erhabene geiftige Mächte, 
durch deren Hilfe der Menfch feine eigene Macht nur ergänzen 
läßt, um als ein Ganzes über die Naturwelt und ihren Drud 
Herr zu werden (vgl. Rechtf. u. V. 3, 182. 186.). Nur in jo: 
weit, jagt Ritſchl, ift man von Gott religiös abhängig, daß man 
eben darin feine Freiheit und Herrſchaft über die Welt erlebt 
(3, 546.). — Bergebli hatte alfo Ritfchl ſelbſt richtig bemerft, 
es ſei ein erfolglofes Bemühen, in der Religion eine der drei 
Funktionen des Geiftes, Erkenntnis, Gefühl und Willen, über die 
anderen zu erheben, da -alle drei gleich ſtark an der Religion betei- 
ligt feten: es überwuchert bei ihm doch volljtändig der Wille die 
beiden andern Funktionen, die Erfenntnis des göttlichen Weſens 
fommt viel zu furz und das Gefühl vermirft er als Myſtizismus. 
Ritſchl räumt dem menſchlichen Willen eine fo bedenklich jtarfe 
Aktivität gegenüber von Gott ein, daß mir begierig fein müfjen zu 
jehen, ob er des Pelagianismus ferner fi noch erwehren Fönne. 

Den vollen Begriff der Religion (im objeftiven Sinn) 
haben wir einzig im Chriftentum, fofern nah Ritſchl durch Chriftum 


112 Haug 


das allgemein menfchliche, fittlihe Gottesreidh als Endzweck 
der Welt geſetzt, auch der einzelne ala ein Ganzes zum fittlichen 
Charakter bejtimmt iſt. Diefes Gottesreih ift aber nad Ritfchl 
nicht durch übernatürlihe und übermeltliche Thatfachen der Gottes- 
offenbarung in der Welt vorbereitet und dur Chriftum erfüllt als 
eine SHeilsanjtalt, welche die Menſchen zur verlorenen Gottes- 
gemeinfchaft als mefentlich überirdiſchem Ziel zurüdführen mil. 
Übernatürlich nennt ja Ritſchl das Gottesreich nad feinem Sinn 
nur, fofern e8 die gemöhnlichen fittlihen Gemeinfchaftsformen 
überbietet, und übermweltlich heißt e3 bei ihm nur im Gegenfat zum 
geteilten Dafein in diefer natürlichen Welt. Es ift wohl nad) 
Ritſchl von Chrifto gegründet, aber Chriſtus ſelbſt begreift ja 
unter dem Gottesreih, das er ala ſittlichen Zweck feiner Reli- 
gtonsgemeinfchaft erkennt, nicht die gemeinfame Ausübung der 
Gottesverehrung, Jondern die Drganifation, die volllommene 
fittlihe Bereinigung der Menſchheit durch das Handeln aus 
dem Motiv der Liebe. Rechtf. u. V. 3, 12. Dies ift das von 
Gott in Chrifto gemährleiftete höchfte Gut, das aber natürlich zu— 
nächſt erſt fittliches deal und gemeinfame Aufgabe der Menjchheit 
it; dieſe joll in liebevollem, gerechtem Handeln das Gottesreich 
hervorbringen. (3, 29. Untr. in d. hr. Rel. $ 6). Die Religion 
ift bei Ritſchl alfo nur Mittel zur Sittlichfeit. Entſchieden 
nimmt Ritf hl den Kantfchen Begriff des Gottesreiches wieder auf 
ala einer Verbindung der Menfchen dur; Tugendgefete, und 
tadelt Schleiermacher wegen Verkürzung des teleologifchen Cha- 
after im Chrijtentum, findet überhaupt, daß die evangelijche 
Theologie feit der Reformation die Erlöfung zu ausſchließlich 
zum Mittelpunft aller Erkenntnis und Praris gemacht und darüber 
die ethifche Seite des Gottesreiches vernachläßigt habe. Ritſchl 
lobt dafür den römischen Katholizismus, der menigftens nad) feiner 
Art in feiner äußerlihen noAvnpayuoovvn das gegenwärtige Got: 
tesreich darſtellen ſoll. (3, 11.) — Der richtige Sachverhalt dürfte 
aber vielmehr der fein, daß das reformatorifche Chriftentum auf 
Grund der richtig und tief erfaßten Religiofität Fraft des durch 
glaubige Hingabe von Gott in Chrifto erlangten ewigen Heiles 
auch die zeitlichen Pflichten der wahren Sittlichkeit, den von Gott 
geordneten fittlihen Beruf erjt wieder zu Ehren gebradht und 


Darftellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen Theologie. 113 


geadelt hat. Ritſchl dagegen vergleiht — ganz charakteriftiich für 
feine Anſchauung, wornach die Sittlichfeit keineswegs aus der 
Religion als ihrer Triebfraft hervorgeht — das Chriftentum nicht 
mit einer Kreislinie, die um Einen Mittelpunkt liefe, fondern einer 
Ellipfe, die durch zwei Brennpunkte beherrſcht iſt. Wie bei ihm 
Religion und Sittlichkeit oder Reich Gottes ala zwei 
dDivergierende Pole auseinander ftreben, das erhellt neben 
obigen Zitaten befonderd aus der Stelle Rechtf. u. V. 3, 13: 
„Shriftus hat die fittlihe Aufgabe des Menfchengefchlehts (im 
Reich Gottes) feinen Jüngern anvertraut, welche zugleich von ihm 
durch andere Anleitung ala Religionsgemeinde konſtituirt worden 
find.” Die „Freiheit der Gotteskindfchaft” fteht ganz unvermittelt 
neben der fittlichen Organifation des Gottesreiches ebd. 3, 13. 
unten und 3, 101. Auf meld feltfame Art fih Ritſchl um eine 
Berfühnung diefer Disharmonie abmüht, werben mir jpäter noch 
hören. Er muß uns freilich nebenher geftehen, daß die angebliche 
„leitende Idee Jeſu (von der fittlihen Organifation des Gottes— 
reiches), im praftiichen Intereſſe der Apoſtel ſich keineswegs als 
der Mittelpunft behauptete, fondern auf die Bedeutung des zufünf- 
tigen Heilsziels eingefhränft wurde“ (2, 295. 3, 265.), was aber 
wieder einfeitige Übertreibung ift. 

Gehen wir nun aber weiter zu Ritſchls Lehre von Gott, 
ſo können wir zuvörderſt nur rühmen, wie ſchlagend er jede pan— 
theiſtiſche Weltanſchauung abfertigt und die Perſönlichkeit ſamt der 
Abſolutheit Gottes zu retten weiß. 3, 197. 214 ff. Befremden 
muß es aber hernach um fo mehr, daß er das aus der Metaphyfik 
ftammende Abfolute gar nicht als grundlegenden Gottesbegriff will 
gelten lafjen, das doch auch für ihn eine notwendige Voraus: 
fetung bilden muß. Er ruft für die Alleingiltigfeit der religiöfen 
Werturteile des Glaubens über Gott abermald Luther zum Zeugen 
auf. 3, 198. Nun ift ja natürlich, daß Luther oft aus ummittel- 
bar praftifchen Intereſſe als rechte Gotteserfenntnis das lebendige 
Gottvertrauen bezeihnen mag. Aber daß er daneben doch aud 
an der Hand der Offenbarung über das metaphyfiihe Weſen 
Gottes, fein abfolutes Sein 2c. vielfach reflektiert und die Beziehung 
Gottes zum Menſchen in etwas viel MWefenhafterem findet 
als blos in der einfeitigen religiöfen oder nur fittlichen Aktivität 

Theol. Studien a. W. VI. Jahrg. 8 


114 Haug 


des menſchlichen Geiftes, das ift ja von J. Köftlin in feiner 
Theologie Luthers längſt klar und überzeugend nachgemiejen, 
(vgl. befonders Bd. 2 ©. 302 ff. und 437 ff., Bd. 1, 138 f. 366 
der 1. Auflage). Was aber die von Ritfchl viel befprochene und 
verworfene Myſtik betrifft, jo hat fi Luther allerdings von 
der Myſtik im engern biftorifchen Sinn feit Karlſtadts ſchwärme— 
riſch⸗myſtiſchen Ertravaganzen zurüdgezogen; dagegen die von Ritfchl 
gleichfalls verpönte myſtiſche Anfchauung im weiteren Sinn finden 
wir bei Luther nicht minder als bei Melanchthon: daß er eine 
myftifche Yebensmitteilung Gottes an den Menſchen und eine unio 
mystica dur) den Glauben, durch das lebendige Wort, durch die 
Sakramente lehrt, daß insbefondere Luthers Lehre vom heiligen 
Abendmahl ganz auf myftifchen Elementen ruht, das tft doch zu 
allgemein anerkannt, als daß es Ritſchl in Abrede ziehen follte. 
Bol. Rechtf. u. V. 3, 93. Gleichwohl behauptet Ritfehl, die pro: 
teftantifche Theologie könne fich unter dem Einfluß des areopagi- 
tiſchen (abftraften) Gottesbegriffs nicht getrauen, eine wirkliche 
Gemeinschaft zwiſchen Gott und den Menfhen anzunehmen. 
3, 253. 

Den ſchroffen Dualismus, in welchem Ritſchl wie biöher 
fo aud bei den fogenannten Bemweifen für das Dafein Gottes 
das religiöfe und das wifjenfchaftliche Erkennen als unvereinbar 
auseinander geriffen hat, widerlegt er fi nun felbit, wenn 
er Kants moralifden Beweis im allgemeinen billigend ihn 
dahin ergänzt, daß die praktische Vernunft doch auch ein Zweig 
des theoretifchen Erfennens fei (3, 205 ff.), und wenn Ritjchl 
jelbft einen vollfommenen Beweis für die wifjenfchaftliche Not- 
wendigfeit der Gottesidee, die er fonft doch nur im religiöfen 
Erkennen finden wollte, in der thatfächlichen fittlihen Selbſtſchätz— 
ung des Geiftes gegenüber der Melt entdeckt, eine Selbitihägung, 
deren oberjtes Geſetz nur im göttlichen Willen zu erkennen fei. 
3, 209 f. So hat Ritſchl auch für fich felbft die Vernunftgemäß: 
heit der chriftlichen Weltanſchauung ermwiefen. 

Die aus folcher Gottesidee und Weltanschauung refultierende 
ſittliche Weltordnung joll nah Ritſchl von der orthodor- 
lutheriſchen Theorie falſch dargeſtellt ſein, indem ſie dem Menſchen 
im Urſtand perſönliches Recht Gott gegenüber einräume, und für 


Darftellung und Beurteilung der Ritihl’fchen Theologie. 115 


Übertretungen ihn nad; der Form des Staatsrechts beftraft, für 
Geſetzesgehorſam belohnt werden lajje, wobei Gott ſchlechterdings 
an den Rechtsvollzug erbarmungslos gebunden fei. 3, 229 ff. 
Wir ermidern: wenn auch Recht und Sittlichfeit zweierlei ift, jenes 
die niedrigere, diefe die höhere Stufe darftellt, fo gäbe e8 doch 
nimmermehr eine geordnete Sittlichfeit ohne die Vorbedingung der 
Gerechtigkeit, ohne fie fänfe die GSittlichfeit zur ſchrankenloſen 
Willkür herab; Fraft göttlichen Willens, der doch von der Gerech— 
tigfeit nimmer gelöft werden fann, trägt das Recht auch das Seine 
zur Vollendung der fittlihen Idee bei. Auch das Staatsrecht iſt 
religiöfen und fittlihen Urfprungs. Ob aber der Übertreter felbft 
die Berechtigung der Vergeltung anerfenne oder nicht, davon kann 
doch die fittliche Weltordnung unmöglich abhängig fein. — Ritſchl 
wendet weiter ein: die nach orthodorer Lehre auf hellenifches 
Staatsrecht begründete Weltordnung würde feine Möglichkeit der 
Berfühnung des Menfhen mit Gott einräumen; ein offener 
Widerſpruch fei es bei Luthers Lehre, daß aus Gottes Liebe die 
Verſöhnung, aus Gottes Zom aber die ftellvertretende Genug: 
thuung Chrifti kommen folle. 3, 246 ff. 1, 221. Allein dieſe 
Unmöglichkeit kann nur behaupten, wer die Liebe Gottes als blinde 
Güte betrachtet, die den Unterfhied von gut und böfe aufhöbe, 
wer nicht Gottes Liebe als heilige Liebe von aller Befledung der 
Melt abjcheidet, wer nicht in der Gerechtigkeit das fittlihe Maß 
der Liebe anerkennt. Ritſchl freilich verſucht ſämtliche übrigen 
Eigenjhaften Gottes in der gar nicht näher beftimmten 
Liebe Gottes To ziemlich aufzulöfen, als ob nicht dieſe Eigenſchaf— 
ten eben in ihrer eigentümlichen Berechtigung und im harmonifchen 
Gleichgewicht der Gejamtheit erſt den vollen Reichtum des uner— 
ſchöpflichen göttlichen Weſens darftellen würden. — Selbſt die 
Heiligkeit Gottes, deren Bedeutung im Alten Tejtament Ritſchl 
unmöglich verfennen fann, aber fie matt und umvollftändig als 
unnahbare Erhabenheit bezeichnet, joll im Neuen Teftament nad) 
Ritſchl ganz zurüdtreten vor dem klaren Liebesverhältnis Chrifti 
zu Gott, von welchem die neutejtamentliche Gottesidee durchaus 
abhängig fei. 2, 96 ff. Schon im Alten Teftament aber ſei Be: 
lohnung und Beitrafung keineswegs koordiniert unter der göttlichen 
Geredtigfeit. Gottes Gerechtigkeit verbürge den Gerechten 
8* 


116 Haug 


göttlihen Schuß, die endliche Vernichtung der Gottloſen fei eben 
das Mittel hiezu. Auch Paulus verftehe im Alten Tejtament 
unter Gottes Gerechtigkeit niemals die Vergeltung der Übertret- 
ungen. Bon Strafgerechtigfeit fei in den Hauptitellen des Alten 
Teftaments feine Rede, auch nicht im Neuen Teftament, fondern 
die Gerechtigkeit beziehe fih auf die Vollendung des Heils. 
2, 102 ff. — 

Geben wir immerhin zu, daß Gottes Gerechtigkeit wirklich oft 
im Alten und Neuen Tejtament nach dem von Ritſchl gemollten 
Sinn zu veritehen if. Wie gemaltfam aber muß man den Emit 
und das vollgiltige. Gewicht der Worte 3. B. in Römer 2, 5 ff. 
2 Theſſ. 1, 6—9 u. dgl., dann in den Gleichnisreven Sefu, in den 
Strafpredigten der Propheten 2c. entleeren, um zu behaupten, 
Strafgerechtigfeit gebe e8 bei Gott eigentlich nicht, feine ftrafende 
Vergeltung fei nur fo ein untergeoronetes, verfchwindendes Moment! 
Wie naturaliftiih und wie wenig ethifch klingt Die gang unermie: 
jene Behauptung, die Gottloſen müſſen durch ihre Vernichtung fo 
zu fagen eben eine Folie werden für das Heil der Frommen! 

Bollends einen wirklihen Zorn Gottes als einen heiligen 
Affekt verlegter Liebe kann Ritſchl durchaus nicht denten und 
erklärt folche anthropopathifche Vorftellung für ein heimatlofes und 
geftaltlofes Theologumenon auf dem Boden des Chrijtentums. 
2, 154. Nur auf religiös individuelle, zeitliche Reflexionen follen 
folde Meinungen von einem unbejtändigen Wechfel göttlichen 
Zornes und Erbarmenz, feiner Langmut und feiner Strenge zurüd- 
zuführen fein. 3, 300, Allein wenn Gott demnach in gar feine 
direfte ethifch-lebendige Beziehung zum Thun der Menfchen träte, 
wenn er als die ſtets ungetrübt lächelnde Liebe gegenüber dem 
Böſen und den Böfen wenigſtens innerhalb des MWeltlaufes in 
feiner ftarren Unveränderlichfeit verharrte, fo müßte ja doc auch 
der Menſch jchlieglih von den angeblich trügerifchen Phänomenen 
feines Bewußtſeins zurüdfehren, und könnte in den Vorſtellungen 
von einem ethiſch verfchiedenen Verhalten Gottes zu Guten und 
Böfen auf Erden nur leere Einbildungen erfennen, ſomit auch 
jelber dem fittlihen Unterfchied fein Gewicht mehr beimefjen. — 
Erkennt Ritſchl ſchon im Alten Teftament den Zorn Gottes nur 
als eine Folgerung aus der Heiligkeit gegenüber der Bundesver- 


— — aber — — ua 


Darſtellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen Theologie. 117 


letzung, läßt er ihn aber nicht gelten gegenüber ſtarkem Sünden— 
bewußtfein und ſchwerem Leiden, jo vermag Ritfehl auch nicht die 
Bedeutung der Bußpfalmen zu würdigen, noch das Zartgefühl 
altteftamentlicher Frommen im Bewußtfein ihrer fündlichen Ohnmacht 
und mohlverdienter Züchtigungen mitzuempfinden. Nicht minder 
unerweislich ift es für das Neue Teſtament, daß Gottes Zorn 
nur feinen Vorſatz endlicher DVertilgung der beharrlih Wider: 
ipenftigen bedeute, im allgemeinen aber das Neue Teitament Fein 
direktes Intereſſe für die Vorftellung vom göttlichen Zorn habe. 
2, 138 ff. Leugnen, daß der Menfh von Natur Gotte8 Zorn 
verfallen wäre, aber durch Chriftum daraus erlöst fei (vgl. Gal. 
3, 13. u. a. m.), heißt namentlich die paulinifche Soteriologte 
total verfennen, und heißt noch mehr für die Tiefen der Leidend- 
gefchichte Jeſu Chrifti feinen Blid und Fein Verſtändnis haben. 
So degradiert denn auch Ritfchl den Schreckensruf Jeſu am Kreuz 
Marci 15, 34., da er fein Verlafjenfein aufs ſchmerzlichſte empfin: 
den muß, wie bei den Pfalmiften Pf. 22 u. dal. zu blos ſubjektiv 
hypothetifcher Vermutung, welcher die Wirklichkeit keineswegs ent- 
fprochen habe. 

Doh angenommen aljo, alle Eigenfchaften und Stimmungen 
Gottes reduzieren ſich wenigſtens in diefem Zeitlauf wejentlich auf 
die unveränderte Liebe, fo haben wir diefe um jo genauer auf 
ihren Charakter anzufehen. Wir haben es oben beklagen müffen, 
daß Ritihl gar feine metaphyfifchen Vorausfegungen zur richtigen 
Beitimmung der göttlichen Liebe anerfennen wolle, wiewohl er jene 
ſelbſt ſtillſchweigend vollziehen muß. Selbſt Gottes Perfönlichkeit 
fol nichts felbjtändiges vor der Liebe bezeichnen, fondern nur die 
Form für diefen Inhalt; erjt durch das Aitribut der Liebe foll es 
möglich werden, die Welt von Gott abzuleiten. Gleichwohl trägt 
Ritſchl lediglich nichts dazu bei, Gottes Liebe von jeder Freatürlichen 
Liebe durch nähere Charafterifierung irgendwie abzufcheiden. Wir 
möchten aber hier vor allem fragen, ob wir e8 bei dem Satz: 
„Bott tft die Liebe“ auch wie fonft immer bei Ritſchl nur mit 
einem Werturteil zu thun haben, oder ob wir hier endlich einmal 
etwas von realem Weſen Gottes entdeden dürfen? — Wir erfahren 
von Ritſchl, daß Gottes Liebe als ein jtetiger Wille den Selbſtzweck 
des andern in den eigenen Selbſtzweck aufnehme, jenen aneigne 


118 Haug 


und außbilde ald Aufgabe der eigenen Selbitzwedbeitimmung, 
nämlich der Heranbildung der Menfchheit für das Gottesreich. 
3, 258 ff. Wir willen aber auch, daß lebteres eben bedeutet die 
diesſeitige fittl. Organifation der Menfchheit unter dem Gefeb der 
Liebe, als die vollendete und höchſte Offenbarung Gottes felbft. 
3, 271. Gott feßt alfo feinen Selbjtzwed ganz herab und 
läßt ihn aufgehen in die Erftrebung eines wenn auch trefflichen, 
doch nur die sſeitigen fittlihen Gutes, während er nad) unferer 
gewöhnlichen und gewiß auch bibliihen Anfhauung die Menjchheit 
vielmehr erheben will zu feinem höheren wahrhaft überweltlichen 
Biel, der heiligen und feligen Gemeinschaft mit ihm felbit. Dazu 
aber gehört freilich eine heilige, überirdijche Liebe, deren richtige 
Nennung wir bei Ritfchl überall vergeblich juchen. 

Aus der Stetigfeit der göttl. Liebe will Ritſchl die Eigenfchaft 
feiner Emwigfeit ableiten. Er meint nun aber in feiner Gottes- 
erkenntnis niemals von der Welt abjtrahieren zu können, fie als 
anfangs: und endlos ſtets mit Gott zufammendenten zu müfjen ; 
die Schöpfungen follen eben ohne Rüdficht auf die Zeit die Mittel 
zum jtetigen Zweck des Gottesreich® darftellen. 3, 277 ff. Allen 
wiederum ift dadurch Gottes Weſen herabgezogen in den unbeftimm- 
baren Fluß des Bergänglichen, Gott fteht am Anfang und Ende 
der Weltentwidlung als ideelle causa finalis, nicht über derjelben 
in freier Selbitbeitimmung als reelle causa efficiens. 

Noch reiht Ritfhl hier an die „theologische Meifterfrage”, die 
Frage nach dem Verhältnis von Gnade und Freiheit. Er 
umgeht das Problem der moralifchen Freiheit und meint die allein 
richtige Löfung zu finden durch die fogen. theologiſche oder reale 
Freiheit: in der Selbitbeftimmung nach dem allgemeinjten Endzweck 
des Gottesreiches wife fich der Menſch ebenfo durchgängig abhängig 
von Gott als frei, und man dürfe nur zwiſchen beiden Betrachtung: 
weifen abwechfeln, um das richtige Geichgewicht zu haben. 3, 270 ff. 
In der That aber wiſſen wir ſchon aus dem richtig verjtandenen 
Religionsbegriff Ritſchl's und der Stellung des Menfchen zw’ Gott 
und Welt, welches Übergewicht der fittlichen Freiheit des Menſchen 
zufällt; und nicht anders hier, wenn alle Abhängigkeit von Gott 
einzig darin beſtehen fol, daß der Chrijt ſich den Endzwed feines 
Handelns von Gott beitimmen läßt. 


Darftellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen Theologie. 119 


In der Lehre von der Sünde müſſen wir uns zuerjt 
mit Ritſchl's eregetifhem Erfund auseinander ſetzen. Die 
Sünde ift im Alten Teſtament allerdings nicht „notwendige Zuthat der 
natürlihen menſchl. Endlichkeit“, aber wird doch infolge des erften 
freien Abfall von Gott allgemein als habituelle Abkehr von Gott 
empfunden und das keineswegs nur in Bezug auf den Geſetzesbund, 
wie Ritfchl meint. Er findet im Alten Teftament neben der Sünde aud) 
eine Freudigfeit der Frommen, die fich in ihrer Gerechtigkeit bewußt 
feien, feine Schuld begangen zu haben; aber er überfieht dabei, 
daß neben relativer Gerechtigkeit eines redlichen Herzens und frohem 
Gewiſſen doch allezeit ein zartes Schuldbemußtjein noh Raum 
findet. Wenn aber Ritfehl gar im Neuen Teftament, ja in den Mafaris: 
men der Bergpredigt die allgemeine Sündhaftigfeit eingeſchränkt, im 
Armfein am Geift, im Hungern und Dürften feine fittl. Unvoll- 
fommenheit mehr angedeutet findet (2, 30 ff.), jo dürfen mir die 
Rechtfertigung ſolcher Exegefe ihm ſelbſt anheimgeben. Was den 
Zufammenhang von Sünde und fogen. Strafübeln betrifft, fo 
verbietet Jeſus allerdingd das liebloſe, jelbitgerechte, vorjchnelle 
Urteilen hierüber; er jelbjt aber ala der tiefblidende Herzens— 
fündiger vermag einen folhen Zufammenhang 3. B. bei dem 
Gichtbrüchigen Marci 2 wohl anzuerkennen. Abgejehen von einem 
ſolchen beſonders gerechtfertigten Fall wie dem des Gichtbrüchigen 
hebt zwar Jeſus das Strafübel für diefe Weltzeit gewöhnlich nicht 
zugleich mit der Sündenvergebung auf, aber leugnet darum 
keineswegs, jondern deutet ſchon in den erjten Mafarismen an 
die Aufhebung der Strafübel für die Vollendung der Heilszeit, 
worauf eben die prophetiiche MWeisfagung gerichtet war. Dies 
gegen Ritſchl 2,60 ff. Die Sündenvergebung ift nach Ritfchl im 
Alten und Neuen Teftament faum quantitativ verfchieden, indem 
fie fih auch hier nur auf die einzelnen und aktiven Sünden be 
ziehen joll, und nur auf die Sünde der ayvora; ja wir werden 
noch in diefem Abjchnitt jehen, wie die Sündenvergebung eigentlich 
ganz überflüffig wird. Sonft find wir dagegen gewohnt im Alten 
Tejtament eigentlih nur eine Sündenbededung durch Gottes nad)- 
fehende Geduld, im Neuen Teftament die wirkliche Sündenfühnung 
und Aufhebung des ganzen Sündenbannes, die Verfegung in einen 
neuen Kindesitand der Gnade, zu finden. 


120 Haug 


Wenn Ritfhl nun bei feiner Auffaffung der Sünde nur die 
Hriftl. Erfahrung gelten laſſen will, jo können wir ihm ganz bei: 
pflichten, auch darin, daß die vollfommene und gründlichite Er: » 
fenntni3 der Sünde erft dur das Evangelium recht aufgebe, 
wofür Ritfhl Luther aufrufen darf. Nur fchließt dies die heilfame 
pädagogiſche Bedeutung des Gefetes ala Zuchtmeiſters auf Chriftum 
ja nicht aus, ohne daß man darum fchon zur Methode des Buß: 
fampfes nach Ritfchl verpflichtet wäre. 3,305 ff. Wir geben ferner 
unverhohlen zu, daß die orthodore Dogmatik von einer Übertreibung 
auögegangen ift, wie fie dem Menfchen im Urftand eine fo ideal 
gedachte justitia originalis beimaß, daß bei folder Vollkommenheit 
die Möglichkeit des Falles ein unbegreifliches Rätſel bleibt. Aber 
wir behaupten nicht mit Ritfhl entgegen dem Schriftzeugnis, daß 
der Menſch im ganzen in geradliniger Entwidelung geblieben und 
im mwejentlichen von Anfang an im natürlichen Zuftand wie gegen- 
wärtig geweſen ſei. Wir erkennen, daß der Menſch troß reiner 
Unschuld eines Ffindlih unmündigen Standes und troß reichen 
Anlagen zu allem Guten in allerdings ethifh kaum erflärlicher 
Meife durch freie Entſcheidung das Böfe erwählt und alfo durch 
Abkehr von Gott feiner Natur für alle Zeit die verderbliche Hin- 
neigung zur Sünde eingepflanzt habe. Letzteres Erbfünde zu 
nennen, iſt freilich ein mißlicher und mißverjtändlicher Ausdrud, 
fofern ja dabei von aktueller Sünde, folglich auch von ethifch zu: 
zurechnender perfönlider Schuld feine Rede fein kann, fondern 
nur von objeftiver Haftbarkeit für die natürlichen Folgen, melde 
jih für die alfo depravierte Natur des Menjchen unausweichlich 
und ausnahmslos ergeben. Altes und Neues Teftament find 
übrigens vollfommen einig in dem alles Durchdringenden, nicht 
blo3 individuell vereinzelten Bewußtſein ebenfowohl von der ein- 
gefleifchten traditionellen Verderbnis, als von der aktuellen Sünd- 
haftigfeit der Menfchennatur. Sie find ebenfo einig darin, daß 
die Sünde feineswegs blos eine ayvora, Schwäche der Erkenntnis 
ſei, ſondern ebenfo oft von Anfang an bewußte Willens: 
entjcheidung gegen das Gute. Wenn Ritjchl eine fchliegliche hart- 
nädige MWiderjetlichfeit gegen Gott für möglich und wirklich erklärt, 
jo muß dies aud für frühere Stufen der Sünde felbft bezüglich 
ſpäter Befehrter eingeräumt werden, wofern Ritſchl noch die von 


Darftelung und Beurteilung der Ritfchl’fchen Theologie. 121 


ihm bochgehaltene Freiheit wahren will, Ritſchl ſchwächt auch 
dadurch den Begriff der Sünde noch weiter ab, daß er fie eben 
negativ als (unbegründetes) Miftrauen, ala Gleichgiltigfeit gegen 
Gott fchildert, die pofitive coneupiscentia nur indireft anerfennt; 
als jittliche Selbitfucht fol fie da3 Gute doch keineswegs verneinen. 
3, 307 ff. Statt einer prinzipiell tiefer greifenden Grundanſchau— 
ung, wie fie die heilige Schrift und die hriftlihe Erfahrung nicht - 
minder uns doch eigentlich aufnötigt, beharrt er bei einer ato- 
miftifh äußerlichen Betrachtung und fieht troß Schleier- 
machers tieferen Gedanken über gemeinfame Sünde nur die Summe 
der Einzeljünden in ihrer „unmeßbaren Wechſelwirkung“, nicht die 
alle beherrfhende Macht der tief eingemwurzelten Sündhaftigfeit. 
Eben darum vermag Ritfchl auch nicht die allgemeine Notwendigkeit 
des Sündigens zu erkennen, fondern ftatuirt die Möglichkeit einer 
fündlofen Lebensentwidlung. 3, 350 ff. Selbft Kants „radifales 
Böfe“ möchte er ala Refultat empiriſcher Willensbeftimmung der 
Selbjtverantwortung unterftellt haben. Auguſtins und Luthers 
Lehre von der Erbſünde aber follte Ritſchl nicht ein außerhalb 
liegende Motiv unterfchieben (bei jenem die Wertſchätzung ber 
Kindertaufe, bei diefem den Ausfchluß menſchlichen Verdienftes und 
natürlicher Willenzfreiheit) ; denn ein Blid in das Leben der beiden 
Männer muß davon überzeugen, daß das tiefgehende Bewußtſein 
der angeborenen und der aktuellen Verderbnis eine Sache ihrer 
eigenften Erfahrung, ja der fräftigfte Impuls ihres Lebens und 
Wirkens geworden ift. 

So richtig Ritſchl warnt vor vorfchnellem Urteilen und ver: 
mefjenem Grübeln über den Zufammenhang der Sünde 
‘ mit den Übeln, ſoweit e8 einzelne perfönlich trifft, ſo entſchie— 
den müffen wir doch gegen Ritſchl auf Schleiermachers Seite und 
ftelen, wenn er im allgemeinen das Übel in nächſte Verbindung 
mit der Sünde bringt, und die Gefamtheit der Übel ala Gejamt- 
ftrafe für die Gefamtthat der Sünde betrachtet. Ritſchl dagegen 
erfennt in der Auffaffung der Übel ala Wirkungen des göttlichen 
Fluches nur Phänomene des fubjeltiven Schuldbewußtfeins. 3, 301. 
Mißt Ritſchl dem Übel gar feine objektiv-wirkliche religiöfe Bezieh- 
ung auf Gottes vergeltende Weltregierung bei, fo leugnet er alle 
harmoniſche Zufammenordnung des Ethifhen mit dem Phyſi— 


122 Haug 


chen durch einen mweifen und heiligen Schöpferwillen, läßt viel: 
mehr die Natur als die fremde Materie, als das u, «v wie Plato 
neben draußen liegen, troßdem daß er fonft auch erfennt, daß die 
Natur als Mittel für den Geift gefchaffen fei. Die Betrachtung 
der Natur als gefügigen Werkzeuges im Dienft vergeltender Ge: 
rechtigfeit fchließt darum für uns nicht aus, was Ritſchl für 
fich geltend macht, daß ja für den Glaubigen das Übel zuletzt den 
Strafmwert verliere. Ganz zwar fällt lebterer feinenfall® von An- 
fang für den Frommen weg, jofern auch bei ihm das Sünden- 
bemwußtfein fortwirft; aber der Strafwert verwandelt ſich allerdings 
in den höheren Wert religiöszjittlicher Läuterung. Betrachtet der 
Chrift nun den Tod ala Gewinn, fo it hiedurch die nicht blos 
paulinifche, ſondern biblifche Anjchauung nimmermehr Lügen geitraft, 
daß das Todesverhängnis Strafe des erſten Sündenfalles ei. 
Gleichgiltig ift es durchaus nicht, ob wir folche Übel ala natürliche 
Drdnung oder ala Sündenfolgen anfehen wollen; immerhin ift 
aber der objeftiv giltige Begriff der Strafe nicht abhängig 
von unſrer fubjektiven religiöfen Erfenntnis und fubjeltivem Schuld: 
gefühl; gegen Ritſchl 3, 333 ff. Ritſchl will freilich nur ein 
Strafrecht anerfennen, die Verminderung des Rechtes der Gotteß- 
tindfhaft im Bewußtſein de8 Menfchen, die Fernhaltung von 
Gottes Gemeinſchaft. In Wirklichkeit ift ja aber auch diefe nad) 
Ritſchl nicht ernftlich gemeint, Sündenvergebung tjt jtreng genom— 
men nicht notwendig, da die Sünder von Gott ald unmifjend 
irrende, Objefte der Erlöfung in unermübdeter Liebe betrachtet 
werden. 3, 350 ff. 

In der alfo angebahnten Lehre von Ehrifti Berfon 
und Lebenswerk find es für Ritſchl charakteriftifche, die freie 
Stellung des Menſchen gegenüber Gott und Welt bezeichnende 
Ausdrüde, in welchen er gleich zu Anfang dieſes Abfchnittes uns 
jagt, daß wir aus der „anregenden und Richtung gebenden Kraft 
Chrifti heraus, der ein bisher nicht dageweſenes religiöfes Ver— 
hältnis zu Gott erlebt, doch auch unferfeits im ftand find, in die— 
jelbe Stellung zu Gott zu treten und zur Gewinnung des ewigen 
Lebens gleich Chrifto unfern Wert und Herrſchaft gegenüber der 
Welt zu behaupten“, indem Chriftus uns zur fittlichen Aufgabe 
des Gottesreiches beruft. 3, 358 ff. Führt Ritfehl nun aber zur 


Darftellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen Theologie. 123 


Bekräftigung feiner Auffaffung von Chrifti Stellung und Wirken 
Matth. 17, 26. und Joh. 17, 21—23. an, fo beweiſt erjtere 
Stelle noch nichts für ihn, und in Joh. 17 fcheint Ritſchl folche 
Stellen zu überfehen, in denen Jeſus fich keineswegs mit den 
Glaubigen ganz gleich jtellt, jondern feiner ewigen Herkunft 
gedenkt zc. Einzig fteht für Ritſchl Chrijtus aber auch da als 
Träger der vollgiltigen Dffenbarung Gottes. Eigentümlich muß 
e3 uns freilich hiebei anmuten, wenn Chrijtus gegen die Konkur— 
venz Muhameds eben durch feine „Machtübung über die Welt“ 
fiher gejtellt werden fol. Um diefer Bedeutung willen erlaubt 
ih Ritſchl Chrifto „das Prädikat der Gottheit” beizulegen. Ob 
wir dies auch fünnen, darüber müſſen uns doch einige Bedenken 
fommen, die jedoch Ritfhl uns vielleicht in der Folge zeritreut. 
Zunädjft foll nah Ritſchl Gott fo Menſch geworden fein, wie der 
Menſch Gott werden fol, nad altgriehifcher Formel. Auch Luther 
rede davon, wie wir durch Chrifti Geburt Gottes Gefchlecht 
geworden; ähnlich die ſonſt Ritfehl fo verhaßte Myſtik. Anders 
als in diefem Sinn fer die Gottheit Chrifti unverftändlih. Aber 
ijt fie denn wohl verſtändlich, wenn fie anthropozentriſch Tonftruirt 
und der Menſch fchließlich vergottet wird ? . 
Luthern macht Ritſchl einen Vorhalt, daß er mit feiner Er: 
klärung: „wahrhaftiger Gott und auch wahrhaftiger Menſch von 
der Jungfrau Maria geboren” das altlirchliche Belenntnis von 
Maria der Hzoroxog unterfchlagen habe. Ritſchl will eben wie 
die alte Kirche befennen, daß Gott geboren fei im Menſchen. 
Die Formel Luthers „vom Vater in Ewigkeit geboren“ fei eben 
eine wiſſenſchaftliche Erkenntnis ohne wirkliches Intereſſe; die rich: 
tige Wertſchätzung erlange Chrifti Gottheit in dem Nebenpräbdifat : 
„mein Herr“; das drüde den Glauben der Gemeinde aus. Auch 
Zuther betone ja vor allem die Bedeutung des menschlichen Wertes 
Chrijti für die Gemeinde, wie fie auch Melandthon in feinem 
Heilswerk einbeſchloſſen finde. Nun ift wohl felbjtverjtändlich, daß 
beive Neformatoren vornehmlich praktiſch von Chrifti Heiläwerf 
reden; aber will denn darum Ritfehl ernitlich in Abrebe jtellen, 
daß für beide die Bedeutung und der Wert von Chrifti Heilswerk 
aus nichts anderem fich erkläre, als einzig aus dem ewig in Gott 
gewurzelten und aus dem Vater hervorgehenden metaphyfiich ge- 


124 Haug 


dachten Gotteswefen des Sohnes? Dafür ftünden ja mehr als 
genug Zeugniffe Luther zu Gebot? und dürfen wir für Meland)- 
thon nur auf die Auguftana, die Apologie und die loci theol. de 
tribus personis divinitatis und de filio verweifen. — Ritfchl lehnt 
den Ausdrud „bloßer Menſch“ von Chrifto ab in dem Sinne, daß 
eine bloße Naturgröße bezeichnet werben ſolle. An Schleiermachers 
Ausdruck, daß Chrifti Sendung eine Vollendung der Menfchen: 
ihöpfung jet, vermißt Ritfhl ohne Grund den Gedanken an die 
Vollendung der geiftigen Anlagen durd Gottes Wirken in Chrifto: 
diefe Seite fommt bei Schleiermacher immerhin noch jo gut wie 
bei Ritſchl zu ihrem Recht. 

Bon wirklichen religiöfem Wert foll für uns fein Die affen: 
bare Gottheit“ Chrifti zu erkennen, ehe wir über feine ewige 
Gottheit reflektieren, die doch nur eine unbegründete und unermeis- 
liche Tradition fei. Aber ift es denn ein offenbares, enträtjeltes 
Geheimnis, wenn alles in Chrifti Perfon und Werk aus einer 
fingierten Gottheit erflärt werden foll, die doch thatſächlich als 
einfache Menfchheit fich entpuppt? Iſt Jeſu ganzer Lebensgang 
von der Erde zum Himmel dadurch erichloffen? Iſt vor allem 
ſein Selbftzeugnis dadurch erklärt? Doch eben hier wirft Ritfchl 
ein, eine einhellige Lehre von Chrifti Gottheit ergebe fih aus dem 
Neuen Teſtament nit; in feinen eigenen Ausſprüchen erfenne 
Jeſus die Solidarität zwiſchen Vater und Sohn nur auf Grund 
der Liebe, deren Bedingung fei, daß der Sohn des Vater Gebot 
halte bis in den Tod. 2,41. 2,96 f. Auch bei den johanneischen 
Reden von Ehrifti Einheit mit Gott ſei wefentlih an das ethifche 
Lebenswerk Chrifti zu denfen, indem fein Perfonleben einzig daran 
hafte. Ritſchl zitiert dafür gern oh. 4, 34. nach feiner abjon- 
derlihen Auslegung: „das Mittel meiner Selbiterhaltung ift Die 
Ausführung des Werkes Gottes.” Mas hinter diefem ethifchen 
Verhältnis liege, jollen und fönnen wir, meint Ritfehl, nicht unter- 
ſuchen. Aber wie, wenn es fich nicht blos um das ethiſche Wirken, 
fondern auch um ein reales Sein als deſſen notwendigen Grund 
in Chrijti Selbftzeugnis und Wirken handelt? — Die Apoftel, 


ı Vgl. wieder J. Köftlin, Luther Theologie, Bd. IT 281. 882. 
385. 387 u. a. m. 


* 


Darſtellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen Theologie. 125 


ſagt Ritſchl, haben auch Feine ſyſtematiſche Entwicklung vom prä- 
exiſtenten zum poſtexiſtenten Chriſtus. 2, 22. Im Glauben an 
ihren gegenwärtigen Herm und Gott betrachten fie eben Chrijtum 
al3 Haupt der Gemeinde, als Offenbarung Gottes, als ibeellen 
Mittelgrund der Schöpfung, ala den höheren Zmwed über und vor 
der Welt, ohne dies zeitlich zu verftehen. Johannes rede im Prolog 
vom moralifchen Eindrud der Erfcheinung Chrifti. Eine Auftorität, 
welche in ihrer moralifhen Verbindung mit der Gemeinde die 
jittliche Lebensführung und das Verhältnis zu Gott volllommen 
regle, habe den Wert der Gottheit. 3, 370 ff. Wir wollen mit 
Ritſchl über den Wert diefer fogenannten Gottheit nicht weiter 
rechten; wir müſſen eine ſolche Entleerung der Schriftzeugnifie 
von ihrem Weſensgehalt und ihre Reduktion auf dürftige und 
ſchwächliche moralifche Verhältniffe ganz ihm felbjt überlafjen. 
Sonach dürfen wir und nicht wundern, wenn für Ritjchl 
gerade die wichtigſten Thatſachen aus Jeſu Leben, wie feine 
wunderbare Geburt vorweg, fo feine Auferftehung und Himmelfahrt 
als irrelevant erjcheinen, ja im eigentlihen Sinn ihr wirklicher 
Beitand höchſt zweifelhaft wird. In der erjten Auflage des Unter: 
richts in der hriftlichen Religion hatte Ritfhl am Schluß gejagt, 
daß „unter gewiſſen gefhichtlihen Veranlafjungen” die Schätung 
Chrifti im Prädikat der Gottheit folgerecht gefichert ſei; in der 
zweiten Auflage find dieſe „geichichtlichen Veranlafjungen” nicht 
mehr berührt. Ferner in der eriten Auflage der Lehre von der 
Rechtf. u. V. hatte Ritſchl 3, 489. noch gejagt: die Erfahrung der 
Auferwedung Chrijti gehöre mit zur Begründung der Ge- 
meinde, darin liege der Erfolg der Lebensvollendung für Chriftus 
und die Gemeinde. In der zweiten Auflage redet der dritte Band 
mit feiner Silbe mehr von Auferwedung oder Auferftehung Chriſti. 
Dagegen allerdings der Unterricht in chr. Rel. mit feinem mehr 
eroterifchen, populären Charakter erwähnt aud in zweiter Auflage 
$ 23 unten: Chrifti Auferwedung durch die Macht Gottes ift die 
dem Wert feiner Perſon entfprechende Vollendung der Offenbarung 
Gottes in ihm ꝛc. Ob nun aber Ritfchl die Auferwedung (nie 
„Auferftehung”) nach Hergang und Bedeutung im Sinne der hl. 
Schrift faſſe, iſt höchſt fraglich, da er Feine Schriftitelle wie ſonſt 
beifügt. Die Himmelfahrt vollends erfcheint ihm wohl gar zu 


126 Haug 


wunderbar, ala daß er dad Mort nur in den Mund nähme; er 
fpricht fich bezeichnend genug im Unterr. in Rel. $ 25 jo aus: 
die Erinnerung an das abgefchloffene Lebenswerk Chrifti 
bleibt in der hriftlichen Gemeinde gegenwärtig und demgemäß wirkt 
der perfönliche Antrieb des Stifter in ihren Gliedern unaufhör: 
lich fort. „Dieſe Beziehungen find die offenbare Seite de Ge- 
heimnijfes der Erhöhung Chrifti zur Rechten Gottes 20.” Die etwas 
myſteriöſen Worte wollen uns aljo verfichern, daß die jtet3 gegen: 
wärtige Erinnerung an das Lebenswerk Chrifti feinen perjönlichen 
Antrieb fortwirten laffe und daß ſich darin der Gemeinde das 
Geheimnis von Ehrifti Erhöhung erfchließe und verbürgt fei. Aber 
welch ſeltſamer Schluß, daß durch die fortwirfende Erinnerung an 
Chriſti Werk das Geheimnis feiner Erhöhung fol garantiert fein! 
Chrifti Lebenswerk wird ja bier und in der Lehre von d. Rechtf. 
u. V. oft und ausdrücklich als hienieden abgefchloffenes bezeichnet ; 
eine fortdauernde Wirkſamkeit Chrifti zur Rechten Gottes iſt mehr 
als zweifelhaft; denn Ritfchl redet von der Vollendung Chrifti nur 
als von der Fortdauer feines Lebens, von Überwindung und Er- 
bebung über die Melt ohne weiteren Bezug auf die Gemeinde; 
von direkter Lebensbeziehung zur Gemeinde, von einer unio mystica 
kann ja bei Ritſchl feine Rede fein. Dies erhellt aud daraus, 
daß er den fogenannten status exaltationis durchaus nur als Fort- 
wirkung des status exinanitionis betrachtet, die Unterfcheidung 
beider ala leeren Formalismus bezeichnet. 3, 400 ff. 

Das leitet und fchon hinüber zum Werk Chriſti, meldes 


Ritſchl harakteriftiich genug ftet3 ald Lebenswerk Chrifti benennt. 


Nicht ganz zuftimmen können wir ihm in Verwerfung des Aus: 
druds „Amter Chrifti,” mas eine Erfüllung der altteftament: 
lichen Schattenbilber andeutet und mit der Nechtöordnung, die Doch 
auch in der göttlichen Reichsökonomie ihren Ausdrud findet, gar 
nicht fo unvereinbar ift. Zugeben wollen wir Ritfhl, daß bei der 
Fülle der alljeitigen Zebensbeziehungen in das prophetifche Wirfen 
Chrifti auch fein hohepriefterliches und fein Fönigliche® Walten da 
und dort hereinpiele, wie umgekehrt fein priefterlicher und fein 
föniglicher Beruf die zwei anderen nie ganz ausfchließt. Aber darum 
bleibt doch die Bezeichnung der drei Amter für die jedesmal vor- 
wiegende Thätigkeit Chrifti ganz entiprechend. Wiederum charak— 


Darftellung und Beurteilung der Ritihl’fhen Theologie. 127 


teriftifch für Ritſchl ift fein Bemühen, das föniglihe Wirken Chrifti 
ganz aufgehen zu laffen im übrigen Lebensberuf, weil jenes eben 
über dieſe Melt hinaus auf ein göttliches, allgegenmwärtiges Walten 
hinführt; nach Ritſchl dagegen fol Chrifti Fönigliches Wirken nur 
in der Abficht erfcheinen, die Gemeinde zu gründen und zum Biel 
zu leiten. 3, 386 ff. 

Jeſu Leben ift nach Ritſchl die Selbitoffenbarung Gottes, aber 
in perjönlicher menfchlicher Selbjtändigfeit, jo gut ala wenn es 
Phil. 2, 13. und Hebr. 13, 21. von uns heiße, daß Gott in uns 
alles wirke. Was aber Ehriftus war und wirkte, das gelte zuerft 
für ihn felbft. Und allerdings pflichten wir jo weit Ritfchl bei, 
da die Drthodorie Chrijti Werk einfeitig fo darftellte, ala hätte 
der Gottesfohn Gehorfam nur für uns zu leiften gehabt, nicht für 
ih. Nein er mußte felbjt für fich den Gehorfam lernen, wenn 
es auch für ihn nicht in diefer beſchränkten menjchlich = jüdifchen 
Form nötig geweſen wäre, aber Gehorjam lernen, um einen Gott 
gefälligen Menfchen in feinem reinen Bild darzuftellen. Ob da- 
gegen nicht Ritſchl einfeitig die Leiftung des Menſchen 
Chrijtus für fi betont? Sein Leiden folle durch Gebuld 
zuerjt zur fittlihen That werden, die eigene Berufätreue müfje er 
bewähren bi3 in den Tod, gerade der gewaltfame Tod fei nad) 
Gottes Drdnung unumgänglid hiefür. Aber, fragen wir, ift fo 
Chrifti Tod wirklich ethifch gerechtfertigt ? — In freudiger Über: 
einftimmung mit Gott bewähre Chriftus feine geijtige Selbfterhalt- 
ung über den Tod hinaus. 3, 410 ff. Aber wird der Tod für 
Chriftum hiebei nicht immer mehr zum zufälligen und verfchmin- 
denden Moment? — Im Dienjte Gottes erwerbe ſich Chriftus 
die Herrfchaft über die Menſchen, aber damit doch nicht zugleich 
über den ganzen Weltmechanismus, wie die Prophetie gemeint. 
Übrigens bemerken wir, daß er fich dies für die Vollendung des 
Heils entfprechend der Prophetie vorbehält, fonft für diefe Erden— 
zeit feiner Wunderfraft allerdings einen „engeren Spielraum“ 
jegt, indem feine Machtentfaltung fich rein nach ethifchen Zwecken 
richtet, nicht aber, wie Ritſchl meint, von den Bedingungen des 
menfchlichen Lebens geradezu abhängig it. Seine „Machtitellung 
über der Welt,“ welche auch auf die Gemeinde Anwendung findet, 
beiteht nach Ritſchl in der pofitiven Freiheit des Chrijten, die aber 


128 Haug 


nicht auf materielle Änderungen, fondern auf veränderte ethifche 
Lebensſtellung abzielt in vollflommener, erhabener Unterordnung 
alles Außeren unter den Endzweck des Gotteßreiches, wobei der 
Chrift „in der Macht über die Welt fchon die Verfühnung mit 
Gott fühlen“ fol. 3, 419 ff. Wir können in diefem freien Glau— 
bensmut des Chriften gegenüber der Welt nicht die Verföhnung des 
Herzens mit Gott finden, jondern erfennen hierin auch wieder eine 
neraßaoıg Ritſchls von der Religion zur Sittlichkeit. | 
Durch feine Berufstreue im Leiden habe Chriftus die Welt 
überwunden, ihre Hemmungen als göttliche Fügungen erkannt und 
dur diefe Zweckmäßigkeit feines Leidens der Gemeinde gedient, 
welche der Endzweck Gottes ſei. Es wird uns aber hiedurch nicht 
recht Klar, inmiefern eigentlich Chrifti Xeiven der Gemeinde zu gut 
fommen fann. — Als gefchichtlicher Urheber unferer Gottesgemein- 
ſchaft bleibe Chriftus einzig in feiner Art; ob er feine Gottheit 
nicht in feinem Willen, feinem Charakter genügend erweiſe? fragt 
Ritſchl. Aber wenn died wirklich der Fall, entgegnen mir, 
warum foll dann nicht das göttliche Weſen in ihm als unentbehr- 
liches Subftrat göttlihen Willend anerkannt werden? KRitfchl 
beharrt trotz Vernunft und Schriftgründen dabei: als präeriitent 
ift Chriftus und verborgen, nur Gott durdfichtig. 3, 432 ff. 
Der priefterlide Charakter Chrifti hat allerdings, wie 
wir mit Ritſchl bemerken, in der alten Orthodorie oft einen einfeitig 
juridifchen Anftrich befommen, ohne die tiefere ethijche Vermittlung. 
Daß aber Recht und Religion ſich überhaupt ausfchließen follen, 
haben mir bei der Lehre von Gott ſchon abgewieſen. Bet feiner 
Bevorzugung Abälards überfieht Ritſchl ganz, daß derfelbe zwar 
einerjeit3 bei der Verföhnung nur auf die Lebensgerechtigkeit fieht, 
indem Gottes Liebe dur Chriftum in uns Gegenliebe erwede; 
anderjeitö aber auch bei Gal. 3,13 die Sühne göttlicher Gerechtigkeit 
durch Chriftum betont, wie er ein Fluch für und ward. Bon beiden 
vielleicht bei Abälard nicht ganz vermittelten Anſchauungen nimmt 
Ritſchl eben die ihm konvenierende für fi. — Die Opferidee, 
gibt Nitfchl zu, fei dem Tod Chrifti im Neuen Teſtament wejentlich 
und nehme Bezug auf die Opfer des Alten Bundes; aber nirgends 
fei ein Opfer auf Umftimmung von Gotted Zorn zur Gnade an- 
gelegt. Der Dpferwert von Chrifti Leiden hänge an der fittl. 


Darftellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen Theologie. 129 


Vollkommenheit ſeines Lebens und an der Freiwilligkeit, zum Vorteil 
der Menſchen zu ſterben; die menſchl. Sünde werde dabei keines— 
wegs mit ihm kontraſtiert. 2, 161 ff. 184. 235 ff. Aber wenn 
dies nicht, wie ift ſonſt Chriſti Tod begründet und wie fommt er 
den Menſchen zu gut? Ritſchl antwortet nah Jeſ. 52 f.: Die 
unſchuldigen Leiden, welche der Gerechte geduldig mit den Schuldigen 
trägt, follen diefe zur Sinnesänderung treiben. 2, 61 ff. Alfo 
verföhnend wirken dieje Leiden nicht, ſondern follen indireft zur 
moraliſchen Selbjtbefjerung beitragen. Doc Chriftus fol ja nad) 
Ritſchl überhaupt feine Leiden nicht unter der Vorftellung all- 
gemeiner Sünde ſich angeeignet haben, fondern als Accidens 
pofitiver Berufstreue, als fompenbdiarifchen Ausdruck un— 
gelöster Einheit mit Gott. 3, 503. Die priefterl, Stellvertretung 
habe den pofitiven influfiven Sinn, die Gemeinde zu Gott zu 
führen. Die Sünden bilden fein Hindernis mehr,- fie feien nad 
1 0b. 1,9 ſchon vergeben aus Gottes Treue und Barmherzigfeit. 
Alfo ebenſowenig wie auf menſchl. Sünde hat Chrifti Tod direkten 
Bezug auf Gottes Liebe. Die Verbindung zwiſchen Opfer und 
jtellvertretendem Strafvollzug, zwiſchen Opfer und Bedeckung der 
Sünde fei nad) dem Neuen Teftament unmöglid. 2, 210. Die 
einzige Ausnahme Gal. 3, 13 ſei apofryphe, nicht maßgebende 
Beurteilung des mofaifchen Geſetzes dur Paulus. xaraAdayn 
bezeichne: in eine andere Richtung (zu Gott) bringen und fchließe 
die ethifche Selbitthätigfeit nicht aus. 2, 230 ff. — Wenn nun aber 
weder bie Opfer des Alten Bundes, noch das Leiden des Gerechten 
Jeſ. 52 f., noch felbft der Tod Chrifti trotz Matth. 26, 28. Joh. 
1, 29. Römer 3, 25. 4, 25. 8, 3. 1 Joh. 1, 7. 2,2. u. a. m. 
irgend welchen Bezug auf menſchl. Sünde noch auf .göttl, Gerechtig- 
feit oder Liebe haben follen, dann bleibt der Tod Chrijti der 
unbegreiflichfte Anftoß im göttl. Weltregiment, bleibt auch notwendig 
ohne alle weſentliche Bedeutung für die Menfchheitl. Wir werden 
noch weiter unten fehen, in meld gefünftelter Weiſe fich Ritfchl 
den Tod Chrifti begreiflih zu machen fucht durch äfthetifierende 
Betrachtungen. Behauptet er aber hier ſchließlich, vollkommenes 
Schuldgefühl an unferer Statt fei für Chriftum unmöglich geweſen, 
fo verleugnet er feinen Sat: „Gott ift die Liebe“ infofern, als 
er nicht glauben mag, daß es ber unvergleichlichen, opfermillig 
Theol. Studien a. W. VI. Jahrg. | 9 


130 Haug 


ſich ſelbſt vergeſſenden und herablafjenden Liebe in der That möglich 
war, als unfer Haupt und Mittler der Welt Sünde wie feine 
eigene Laſt zu fühlen und in tiefitem Schmerz, in Beugung unter 
Gottes Gerechtigkeit und Gericht der Menſchen Schuld zu fühnen. 

Für Ritſchl's Lehre von der Rechtfertigung gilt das— 
jelbe wie für alle Wirfungen Gottes, für Wiedergeburt, Mitteilung 
des hl. Geiſtes, Verleihung der Seligfeit: daß mir fie nur in 
unferer entjprechenden Selbitthätigfeit erfennen; ſonſt gebe es kein 
Verftändnis chrijtlicher Dogmen. Der Begriff der Rechtfertigung 
jei darum gleichartig dem des Reiches Gottes: beide Gnaden— 
wirfungen werben in unferer Gelbitthätigfeitt wahrgenommen. Es 
fett ich alfo für Ritfchl die Wirkung Gottes allezeit in Aktivität 
des Menſchen um. Rechtfertigung fol nun im evangelifchen 
Sinn den Akt Gottes bezeichnen, welcher die religiöfe Eigentümlich- 
feit der an Chriftus Glaubenden begründe; von Sünde iſt da nicht 
die Nede. Zwar Paulus bezeichne die Nechtfertigung auch negativ 
ald Sündenvergebung und Ehriftus felbjt regelmäßig, aus- 
genommen in Quc. 18, 14., für Luther aber verfchwinde die Sünde 
wie eine Ausnahme gegenüber dem Organismus der Gnade, Daher 
er weniger den Ausbrud Sündenvergebung gebraude. 3, 32 ff. 
Belanntlich trifft aber bei Luther weder das eine noch das andere 
zu. — Der Gedanke der Sündenvergebung als Ausdrud veränderter 
Gefinnung Gottes ftreite in der That mit Gottes Unveränderlichkeit. 
Sp wenig vermag fich Ritſchl bei der Starrheit feines Gottesbegriffes 
ein nach der verfchiedenen ethifchen Stellung des Menfchen zu Gott 
mobdifiziertes, ethifch fo wohl und notwendig begründete, lebendiges 
Handeln Gottes mit dem Menfchen zurechtzulegen. — Die Ber: 
gebung von Schuld fei auch unverträglich mit Gottes Wahrhaftigkeit: 
aber Gott jieht den Schuldigen weder im allgemeinen noch im 
einzelnen als unfchuldig an, jondern behandelt ihn ala folchen erft, 
wenn die Schuld durch ethifhe und rechtliche Sühne wirklich getilgt 
ift. In der That ift auch wirkliche Sündenvergebung und Tilgung 
des Schuldgefühls für Ritſchl zugeftandener und wohl 
erflärliher maßen durhaus Fein religiöfes Bedürfnis: da 
die Sünde nur ayvoıa fein fol, jo kann der Menſch hiernach auch 
fein ernftliches Schuldgefühl haben und ohne diefes anerkennt ja 
Ritſchl Feine wirklihe Schuld. Von Sünde und Schuld bleibt bei 


Darftellung und Beurteilung der Ritfhl’fchen Theologie. 131 


Ritſchl ſonach nur ein Reit allgemeiner menſchl. Unvolllommenheit, 
der natürlich auch nad der Verföhnung nicht weichen kann. — 
Verzeihung aber ift verträglich mit Ritſchls Gottesbegriff: fie 
bezeichnet die Abſicht des Chrenhaften, den abgebrochenen Verkehr 
mit dem Beleidiger wiederherzuftellen, dejjen Belenntnis und Bitte 
um Verzeihung vorausgefegt. Das ift nun allerdings, wie Ritfchl 
jelbft erfennt, nicht der Nechtäbegriff der Begnadigung. 3, 56 ff. 
Bom objektiven Verhältnis verlegter allgemeiner Rechtsordnung 
dur die Sünde und von der objektiv zu vollziehenden Sühnung 
der Verlegung fteigt Ritſchl herab zur ſubjektiven Anſchauung einer 
privaten Ehrenkränkung (wenn auch nur von folder bei ihm noch 
geredet werden Tann) und zur ſubjektiv millfürlihen Beilegung 
des Mifverhältniffes in der von Gott beliebten Verzeihung. Gott 
will nun einmal nad Ritfchl den Widerfpruch der Sünder gegen 
ihn nicht als Hemmung feiner Gemeinschaft betrachten; und fofern 
der Sünder diefer Abficht Gottes entjpricht, wird er wenigſtens vom 
Mißtrauen gegen den beleidigten Gott frei. Die orthodore 
Lehre, meint Ritſchl, wornach die Genugthuung Chrifti für uns 
fo eintrete, daß wir zu nicht weiter verpflichtet wären, behandle 
das perfönliche fittliche Lebenswerk wie eine beliebig den Beſitzer 
wechſelnde Sache. Allein die allerdings oft unvollfommene äußerliche 
Darftellung der Drthodoren birgt in fich den guten Sinn, der nament- 
lich ſchon bei Luther oft fo ſchön hervortritt, daß nad) der in Buße 
und Glauben veränderten perfünl. Stellung des Sünders zu Chrifto 
durch perfönliche ethifche Vermittlung Chrifti ftellvertretende Sühne 
für ihn wirkſam und Chrifti Gerechtigkeit ihm zugeſprochen und 
zugeeignet wird. Nach Ritfchl hätte die Anrechnung der Gerechtigkeit 
Chrijti einen Sinn nur durch die Abficht Chrifti, und in des Vaterd 
und Sohnes Gemeinfchaft zu einigen; feine Stellung zu Gott werde 
uns darum angerechnet, indem Gott uns in feine Liebe einfchließe. 
3, 60 ff. Aber es ift nicht einzufehen, wie Ritſchl hiebei nicht 
durch feinen eigenen Vorwurf gerichtet werde, indem bei ihm eine 
ethifche Vermittlung von feiten des Sünders und eine Sühne von 
feiten Chrifti gar nicht vorhanden ift. 

Die Berfühnung ſodann bezeichnet nach Ritfhl den Erfolg 
der Rechtfertigung, das Eingehen des Sünder auf Gottes Gemein: 
ſchaft mit Verzicht auf feinen Widerfprud. Das Schuldbewußtſein 


9* 


132 Haug 


wird durch Entfernung des Mißtrauend gegen Gott mobdificiert. 
3, 74 fi. Bon einer Sühne ift bier abermals feine Rede; das 
biblifhe Verhältnis (vergl. z. B. 2 Kor. 5,19. 21.), wornach 
auf Grund der geleijteten Sühne Gott der Welt die Verfühnung 
entbietet und darauf hin auch den einzelnen Sünder rechtfertigt, 
wird von Ritfhl dahin verfehrt, daß die Rechtfertigung 
vielmehr die allem vorhergehende verföhnliche Liebesabficht Gottes 
gegen die Menfchen bezeichne, die Berfühnung aber ohne Sühne 
vom Sünder jelbjt vollzogen werde durch Wieberannäherung an 
Gott. 

Ein fynthetifches Urteil wird die Rechtfertigung von Ritfchl 
genannt, fofern Gott dabei Fein analytiiches Erfenntnißurteil abgibt 
über dad, was etwa von ſittlichem Wert im Glauben enthalten fei, 
fondern rein einen freien Willensaft übt durch die Erflärung 
feiner Liebe an die Menjchheit. Darin findet Ritſchl mefentlich 
die Tendenz der Reformation. 3, 76 ff. So entſchieden wir dies 
anerfennen müfjen, daß Ritfchl die frei zuvorfommende Liebe Gottes 
nicht durch irgend eine fittlihe Qualität des Glaubens erft beftimmt 
und Dadurch beeinträchtigt werden läßt: fo wenig fünnen wir feinen 
Tadel der Iutherifchen Lehre gegenüber der Fatholifchen gerecht 
finden, daß die Rechtfertigung sensu forensi als ein richterliches 
Erfenntnis, fomit als ein analgtifches Urteil zu verftehen fei. Es 
entgeht Ritjchl wiederum bei feiner faljchen Auffafjung von Recht: 
fertigung, daß nach lutheriſcher Lehre in der Rechtfertigung zuerft 
durch fynthetifches Urteil dem Sünder Chrifti Genugthuung zu— 
gefprochen wird und Fraft defjen erjt der Sünder in analytifchem 
Urteil für gerecht erflärt werden kann. Ritſchl will überhaupt 
nichts davon willen, daß man Gott als Gefeßgeber und Richter 
zu betrachten hätte, vielmehr fol er auch in der Rechtfertigung 
nur Träger der Gnade und Menfchenliebe fein als König und 
Herr feines Reiches. Sofern alfo Gott hierin als Vater, nicht 
ala Richter malte, begründe die Rechtfertigung das kindliche Ver: 
trauen, fei alſo auh Adoption (3, 82 ff.), was freilih von 
Ritſchl nicht in realem Bolfinn gefaßt werden fann, daß es Die 
Kindſchaft und Erbfchaft des himmliſchen Reiches bedeute. 

In der Verföhnung tritt nach Ritſchl an Stelle des Miß— 
trauend der Glaube des Sünders d. h. „die zuftimmende Bes 


Darjtelung und Beurteilung der Ritfchl’ihen Theologie. 133 


mwegung des Willens in der Richtung auf Gott“. Rühmenswert 
it e8, daß Ritſchl im Glauben gar feine eigene Leiſtung von 
jelbftändigem Wert erfennen will, mie fälfhlih manche die evangel. 
Lehre wenden; aber doch erfaßt er weit nicht feharf genug den 
evangel. Glaubensbegriff, wenn er ihn als affeftvolle Überzeugung, 
ja geradezu mit den Nömifchlatholifchen als die Liebe zu Gott 
bejchreibt, natürlih mit Ausschluß thätiger Nächitenliebe. Bei 
angeblicher Abhängigkeit von Gott ift der Menſch dabei jelbitändig 
aktiv, ohne Beziehung auf das erit zu ſuchende Verſöhnungsheil. 
3, 94 ff. Ritſchl ermißt bei feinem mangelhaften Begriff von Sünde 
noch nicht die Tiefe eines ächt evangel. Glaubens, wie derjelbe 
das eigene fündliche Mefen als ein verlorenes, verdammungsmertes 
ertennend, feine einzige Zuflucht heilsbegierig zu Gott in Chrijto 
nimmt und die dargebotene Verfühnung ergreift. 

Der Spielraum der Nedtfertigung ſoll nach Ritfehl lediglich 
die Gemeinde der Glaubigen fein, innerhalb welcher allein Gott 
dem Einzelnen täglich alle Sünden reichlich vergebe und die Kirche 
die geiftlihe Mutterftelle verfehe. So erflärlic wir bei Ritſchl's 
Begriff von Rechtfertigung ed finden mögen, daß fie ſich 
zunächſt lediglich aufdie Gemeindebeziehe, deren „Grün— 
dung, aber auch Erhaltung” bezeichne (3, 103 ff. 113 ff.), jo wenig 
jtimmt diefe Befchränfung doch mit der reformatorifchen Lehre, 
auf welche fich eben Ritſchl berufen will, noch mit der des Neuen 
Teftamentes. Unbeftritten ift ja wohl, daß in geordneten chriftl. 
Berhältniffen für die Regel der Einzelne zur allgemeinen Erfenntnis 
des Heils an die äußere Vermittlung der Gemeinde oder richtiger 
der Kirche alö Trägerin der Gnadenmittel gemwiefen ift. Aber die 
wirkliche Erlangung des Heils geichieht ebenjo gewiß nur durch 
direften Napport Gottes mit dem einzelnen Menfchen, und jpeziell 
die Rechtfertigung erjcheint im Neuen Teftament durchaus nur als 
Ipezieller Akt Gottes am einzelnen Sünder, wie eben Zuc. 18,14. 
7, 48. 50. Röm. 4, 3. 5. 3, 28. u. ſ. w. Und hievon ift auch 
die Reformation mit nichten abgewichen. Luther faßt die Necht: 
fertigung durchaus individuell 3. B. in den Schmalfald. Artikeln 
XUlI. und font; vergl. Köftlin, Luthers Theologie, Band II. ©. 
444— 448, Dasſelbe ſetzt Melanchthon deutlid voraus in der 
Augsb. Konf. Artikel IV. und Apologie Art. IV. u. |. f. Weil 


BE Sarl zu ann | CE 8 


134 . Haug 


nun aber Ritſchl gar feine direkte Einwirkung Gottes auf. den 
Menſchen auflommen laffen will, macht er der Iutherifchen wie der 
reformirten Theologie den Borwurf, daß fie abweichend vom Recht: 
fertigungsglauben und ohne Unterordnung unter die kirchliche Offen: 
barung die myftifche Einigung mit Gott, den fentimentalen Verkehr 
mit Chrijto gepflegt habe. 3, 103 ff. — Bei Ritſchl's Auffaffung 
von der Rechtfertigung müffen wir um fo ernftlicher fragen: wie 
fteht’3 nun aber mit der individuellen Heilsgewißheit? 
Der Glaubige wife, antwortet Ritſchl, daß bei der Abhängigkeit 
des Menfhen von Gottes Gnadenentfhluß und bei bleibender 
Erinnerung an die Unluft des Schuldbewußtſeins jeder Nechtö- 
anſpruch ausgefchloffen ſei. Bei der Heildgemißheit könne ſich's 
aber ohnehin nie um Unfehlbarkeit handeln, fondern nur um Gewiß— 
heit unter den unferem Geiſt erreichbaren Bedingungen, Die 
moralifche und göttlihe Gemwißheit fallen infofern zufammen. 
Melanchthons und Luthers Bußverfahren nad) dem Gejeg made 
den Menfchen erſt vecht unficher; Luther verenge den individuellen 
Chriftenftand durch die Forderung folcher Gemütserfchütterungen, 
wie fie feine falfche Stellung zum Geſetz hervorgerufen. In 
diefem Sinn haben die Pietiften und Myſtiker fortgefahren. Der 
echt reformatorifche Grundfag wäre vielmehr, die Rechtfertigung in 
Löſung fittliher Berufsaufgaben praftifch zu erfahren, ein ganzes 
Lebenswerk zu erfüllen; dazu müſſe die Firchlihe Gemeinſchaft 
moralifch erziehen. 3, 150 ff. Außer diefer pofitiven Leiſtung der 
Berufsarbeit fördert nach Ritſchl die individuelle Heilsgewißheit 
auch die negative Leiftung des geduldigen Verharrend im ver: 
trauensvollen Borfehungsglauben gegenüber den Leiden und 
allem Wechſel in der Welt; fraft de accessus ad patrem, den 
uns Chriftus erworben, behaupte der Gerechtfertigte in eigentüm- 
lihem Selbftgefühl die Übermacht über die Welt. Das erzeuge 
ein Quftgefühl der laetitia spiritualis, und darin haben wir eine 
Gewißheit der Rechtfertigung, nicht etwa in „Gehörshallucinationen“, 
die man darauf deuten wolle, — Ritſchl verhehlt es fich ſelbſt nicht, 
daß er hier gegen die Anklage auf Pelagianismus fich ver: 
antworten müffe: er beruft jich wieder darauf, daß ihm zur un: 
verjtändlihen myſtiſchen Piychologie jede Gnadenwirkung und 
Geiſtesbeeinflußung gehöre, die nicht in perfönlicher fittlicher Aktivität 


Darftellung und Beurteilung der Ritichl’fchen Theologie. 135 


des Menfchen fich darjtelle. 3, 157 ff. Luther habe die dee der 
weltbeherrfchenden Freiheit in der Schrift de libertate christiana, 
Melandthon in der Apologie ausgeprägt, aber diejelbe fer nicht 
weiter verfolgt, nur in Paul Gerhards Liedern finde fie fi) noch. 
3, 170 ff. Doch wenn wir eben an diefe Lieder anknüpfen: Warum 
follt’ ich mich denn grämen? und: Iſt Gott für mid), jo trete 2c., 
fo offenbart fich hier allerdings die mweltbeherrichende Freiheit, oder 
beifer der fieghafte Glaubensmut; aber klar bezeugt e& aud) 
Gerhard wie Paulus Röm. 8, 31—39, daß feine Glaubens: 
freudigfeit und Heilsgemwißheit fich gründet auf dad was er ın 
Chrifto hat. In dem Chrijtus für uns umfaßt der Glaube 
die feite Gewähr feines Heiles und hat darin doch wohl einen 
verläßlicheren Grund ala Ritſchl in der pofitiven Leiſtung eines 
Lebenswerkes, das er troß aller ehrenmwerten fittlihen Energie 
doh auf feinem Punkt des Lebens als „Ganzes“, fondern eben 
als Stüdwerf erkennen kann. Feſter fteht der Grund, den der 
Glaube in dem durch Chriftum erworbenen Heil ergreift, auch als 
der „vertrauensvolle Vorfehungsglaube“ in feiner Verſchwommen— 
heit, und als die „weltbeherrfchende” Geduld, die ja auch nicht wohl 
unerfohöpflic fein kann. Schwanfend muß die Heilögewißheit wie 
in der fatholifchen Kirche überall da werden, mo man fie troß 
angeblicher Abhängigkeit vom göttlichen Gnadenentſchluß doch ſchließ— 
ih duch menſchliche Aktivität bedingt fein läßt. Aber freudig 
und gewiß jehen wir die Neformatoren auf die Gnade bauen, 
nachdem fie gerade im tiefgehenden Schmerz über das fündige 
Elend um fo feiter daran fih zu halten gelernt: aus Gnaden 
jeid ihr felig geworden durch den Glauben. 

Die Nichtigkeit feiner Rechtfertigungslehre will Ritſchl be: 
weijen durch Beantwortung zweier Fragen. Fürs erfte: warum 
ift Rechtfertigung oder Sündenvergebung überhaupt 
notwendig? Ritſchl antwortet zunächſt negativ: gute Werke 
fönnten, abgejfehen von ihrer Unvollfommenheit, ſchon wegen der 
Begriffsmwibrigfeit des Rechtsanſpruches an Gott nie zum ewigen 
Leben führen. 3, 448 ff. Sn der That dürfte aber diefe Antwort 
nicht die Anſicht Ritſchl's von der Nechtfertigung begründen, wenn 
er doc alles auf die Aktivität des Menfchen jtellt, fondern einfad) 
die Autherifche Rechtfertigungslehre unter Ausſchluß menjchlicher 


136 Haug 


Aktivität als die wahre begründen. — Poſitiv, fährt Ritſchl fort, 
erweife fich die Notwendigkeit der Rechtfertigung durch ihre be- 
ſtändige Zmwedbeziehung auf das ewige Leben, was Paulus 
in Röm. 5, 17. 18. und Luther 3. B. in dem befannten Wort 
ausfpreche: Wo Bergebung der Sünden tit, da ijt auch Leben und 
Seligfeit. Wenn Ritſchl beflagt, daß die fpätere Dogmatif das 
ervige Leben ganz nur ind Senfeits verlegt habe, während doc) 
„das Leben” auch im Neuen Teitament wenigjtens vielfach die 
aus dem Jenſeits ſchon ins Diesſeits ſich refleftierende Freude und 
Frieden in Gott, Erhabenheit "über die Welt 2c. bezeichne: fo 
verlegt dagegen Ritſchl das Übergewicht ins Diesfeits, wie wir 
bisher gefunden und noch am Schluß erkennen werden: das 
ewige Leben ift ihm mefentlich die Freiheit (gegen die Welt), zu 
der uns Chrijtus befreit hat. 3, 457 fi. — Ritſchl wirft nun 
aber, in gewiſſem Gegenſatz zum bisherigen Ausſchluß der guten 
Werke aus dem Kapitel der Rechtfertigung, doch nachträglich die bei 
ihm wohl begreiflihe Frage auf, ob denn die guten Werfe 
nicht doc eine wenigſtens nebenurſächliche Beziehung zum 
ewigen Leben haben? er findet dies bejaht ſchon durch das Geſetz 
der Freiheit, das der Chrift nad) Jakobus vollbringe, durch jenes 
Geligjein in der That, wodurd zwar die Werdienftlichleit der 
Werke ausdrüdlih im Wortlaut ausgeſchloſſen fei, nicht aber alle 
Beziehung auf die Urfächlichkeit des ewigen Lebens. Wir entgegnen: 
die fogenannten guten Werke jind beim Licht befehen und ſchon 
vorweg nach dem Schriftzeugnis zur Erlangung des unvergleichlich 
höchſten Lebensgutes der Seligfeit jo abjolut unzulänglid, 
daß ſie auch nicht einmal als nebenurfächlicher Faktor irgend in 
Hechnung fommen fünnen. Röm. 3, 20. 23. al. 2, 16. 3,11. 
Mohl aber it die fubjeftive ernitlide Tendenz zu guten 
Werfen, der Eifer der Heiligung im Geſetz der Freiheit aus Antrieb 
des allein rechtfertigenden Glaubens unerläßliche Bedingung des 
Eintrittö in das heilige Gottesreich; diefen Sinn hat Röm. 2, 7. 
Phil. 3, 13—15. Hebr. 12, 14. Se nad) dem Ernit der Heiligung 
und der verjchtedenen Tüchtigfeit der Leiltungen für Gottes Reich 
werden ſich auch nach Chrijti befannten Andeutungen innerhalb 
der Seligfeit noh Stufenunterjchieve ergeben. Aber wenn etwa 
hienteden Schon ein treuer Gottesfnecht ſich je befriedigt fühlt durd) 


Darſtellung und Beurteilung der Ritihl’fhen Theologie. 137 


Seligfein in der That, jo wird er folches nicht ſowohl feinem 
frommen und treuen Sinn, als vielmehr Gottes Gnade zufchreiben, 
die in feiner Schwachheit mächtig war. Vgl. 1 Kor. 15, 10. 

Merkfwürdig ift e8 zu fehen, wie viel Nitfchln der eigene Ein- 
wurf zu jchaffen madt, daß das Chrijtentum in zweierlei 
Zmwedbeftimmung auszulaufen fcheine: hier die geiftige Freiheit 
in Gott, dort die fittlihe Gemeinjchaft mit den Menfchen. Der 
Glaube könne ja nicht durd die Liebe wirkſam fein, wenn jener 
auf Gott, diefe auf die Menfchen ſich beziehe. Über diefe Ver: 
ichiedenheit der religiöfen und fittlichen Beſtimmtheit erklärt Ritſchl 
nicht hinauszufommen. 3. 470 ff. Natürlich muß fich hier jener 
ihon bei Ritſchls Religionsbegriff gerügte Dualismus räden, 
wornach die religiöje Gottesgemeinfchaft und die fittliche Idee des 
Gottesreiches für Ritſchl zwei zentrifugale und divergierende Brenn: 
punfte einer Ellipfe find. Er ließ nun, wie früher bemerkt, den 
Begriff der Religion unglüdlicherweife in feinem fittlichen Begriff 
des Gottesreiches fo ziemlich ganz aufgehen; aber immer bleibt für 
ihn das Verhältnis des religtöjen und des fittlichen Faktors ein 
höchſt unklares, und fo zeigt ſich hier, wo doch bei der Necht- 
fertigung das religiöfe Verhältnis für fi in Frage fommen muß, 
dag Ritſchl außer Standes ift, ein organijches Verhältnis zwifchen 
beiden Momenten jo zu denken, daß aus der lebendigen Gottes: 
gemeinschaft auch das richtige Verhalten zu den Menſchen natur: 
gemäß erwachlen und Die Liebe als Frucht des Glaubens von ſelbſt 
ſich darſtellen müßte. 

Hier muß Ritſchl notgedrungen aber auch noch vom heiligen 
Geiſte reden, ſofern die chriſtliche Freiheit bei Paulus einerſeits 
von der Rechtfertigung, anderſeits vom Geiſt Gottes als hl. Geiſt 
abgeleitet werde, desgleichen auch die Hoffnung des ewigen Lebens. 
Demnach ſoll der hl. Geiſt eben Erkenntnißgrund, nicht Real— 
grund des ewigen Lebens ſein, — ein ſeltſamer übereilter Schluß! 
Die Beſtimmung des Begriffs vom hl. Geiſt ſei von der Theologie 
ungemein vernachläſſigt; — bis jetzt aber meinten wir bei Ritſchl 
von Anfang an dieſe Vernachläſſigung zu finden. Paulus ſoll 
unjre Erfenninis des Vaters und des Sohnes identifizieren mit 
Gottes Selbiterfenntnis, weil beide übereinftimmen. Wenn nun 
aber etwa zwei menfchliche Geifter in anfcheinender Übereinftimmung 


— 7. ES > TE 


138 Haug 


unter fih find, will fie Ritfchl deswegen fofort unter einander 
identifizieren? und der fehwache menfchliche Geift foll identifiziert 
werden mit Gottes unendlichem Geiſt! Paulus oder vielmehr 
Ritfehl bezeichnet als Hl. Geift die den Chriften gemeinjame 
Kraft gerechten Handelns und der Gelbitheiligung. 3, 493 ff. 
Das bedeutet aber doch wohl einfah moralifche Kraft, da ja 
andere Einwirfung Gottes für Ritſchl unverjtändlich wäre. Damit 
find mir denn bei der lesten Entleerung des heiligen Geijtes an— 
gelangt. 

Zur Erhärtung feiner Rechtfertigungslehre beantwortet Ritſchl 
(vgl. ©. 135) zum andern noch die Frage: warum tft Sünden: 
vergebung durch das Wirken und Leiden Chrifti not: 
wendig? Cr wiederholt hier vieles, was in der Lehre von der 
Sünde, von Chrifti Lebenswert und von der Rechtfertigung fchon 
vorgebracht, beziehungsmweife von uns widerlegt worden it. Aus 
der Thatfache, daß Chriftus längjt vor feinem Tod ſchon Sünden 
vergeben fonnte, meint Ritſchl ohne weiteres jchließen zu dürfen, 
daß jein Tod feineswegs die notwendige Sühne für die Sünde 
gemwejen fei, indem er ja fchon in feiner Perſon Gotte8 Gemein- 
Ihaft und Gnade zur Sündenvergebung repräfentiere. Allein wenn 
dad Neue Tejtament einhellig als unumgänglichen Grund und 
Bedingung der Weltverfühnung einzig den Opfertod Chrifti erkennt, 
fallt Ritfehl8 Behauptung dahin, und fünnen wir nur annehmen, 
daß die ohne Zweifel doch realen Sündenvergebungen, die Jeſus 
allerdings oft vor feinem Tode ſchon vollzogen hat, durch eine 
Brolepfis der Verfühnungsfraft ermöglicht wurde, die in feinem 
Tod allerdings erſt objektiv ſich aftualifierte, jo daß wir hier ein: 
fach den Unterfchied von potentia und actus machen müffen. Weit 
davon entfernt war die altteftamentliche Sündenvergebung,, jofern 
jte nur im Bededen der Sünde durch Gottes gnädiges Nachjehen 
beitand (Röm. 3, 25.), wie dies ſchon das äußere Opferzeremoniell 
deutlich veranſchaulichte. Ritſchl hat diefen Unterſchied miederum 
nicht ar hervorgehoben. Nah ihm wäre aljo auch im Neuen 
Tejtament einfach Wottes Liebe oder Nachſicht Grund der Sünden: 
vergebung, die perfönlihe Berufsthätigfeit Jeſu aber (worin 
er eben die Liebe Gottes offenbarte), nur der äußerlid dar— 
geitellte Mittelgrund für die Sündenvergebung, und 


Darftellung und Beurteilung der Ritfchl’fhen Theologie. 139 


zwar erjt nicht für den Einzelnen, fondern für die chrijtliche 
Gemeinde, deren grundlegendes Attribut die Sündenvergebung 
jein fol. Die Sterbensbereitſchaft Chrifti aber iſt nad 
Ritſchl nur nebenbei die höchſte Probe feiner religiöfen Gotte3- 
gemeinfhaft, Chrifti Todesabficht alfo gar nicht anders zu 
deuten als feine Zebensabjicht. 3, 497 fi. — Troß angeblicher 
Sündenvergebung foll nun aber, jo wenig als Gott, der Menjch 
die Sünde wie etwas Gleichgiltiges vergeſſen, das Gefühl der 
Unmürbdigfeit ſoll erft vecht wach werben; die Gemißheit der Sün- 
denvergebung ſoll fich gerade in Berfhärfung des Schuld— 
gefühls bewähren; denn aus dem Glauben erjt fomme die con- 
tritio als richtige Selbitzucht der auf Gott gerichteten Liebe. Da: 
gegen joll eine durch's Gefet vorausgehende poenitentia als Beding- 
ung zum Ölauben, wie die melanchthonifchlutherifche Lehre it, 
eine hriftliche Charafterbildung unmöglich machen. Welch eigen: 
tümliche Begrifföverfehrung iſt das aber doch! Bei den Refor: 
matoren erfennen wir klar, mie gründlich jie mit der Sünde ins 
Reine gefommen find, weil fie Schuld und Schuldvergebung ernit- 
Ih gefaßt haben; bei NRitfchl dagegen wird man lebenslang 
mit der Sünde nie fertig, eine „unfehlbare Heilägewißheit“ 
nimmer erreicht, weil weder die Sünde noch ihre Vergebung je 
gründlich von ihm gemeint war. 

Indem Ritſchl immer wieder betont, daß der Einzelne feine 
Rechtfertigung ganz nur in der Gemeinde und durch fie erlebe, 
bemerkt er, die Liebesabjicht Chrifti könne ja nur auf die Gemeinde 
im ganzen gerichtet geweſen fein, unmöglich) auf alle die einzelnen, 
wozu feine menfchliche Denkkraft ausreichte. Allerdings unmöglich, 
fagen wir aud), wenn es mit der „Gottheit“ Chrijti ſolche Bewandt- 
nis hat. Die Berufung Ritſchls auf die Neformatoren haben mir 
ſchon als unbegründet zurüdgemwiefen. Er erfennt, daß er vielmehr 
fih gegen den Vorwurf des Katholizismus verwahren müfje, wenn 
er den Einzelnen jo ganz an die Gemeinde bindet; denn troß 
Ritſchls Einſprache bleibt es bei Schleiermachers richtiger Formu— 
lierung, daß eben der Katholizismus das Verhältnis des Einzelnen 
zu Chriſto abhängig macht von ſeiner Stellung zur Gemeinde. Und 
wirklich weiß nun Ritſchl ſelbſt keinen anderen Unterſchied zwiſchen 
ſeiner und der katholiſchen Anſchauung anzugeben, als eben den 





140 Haug 


äußerlichen, daß bei ihm „feine Nüdficht auf rechtliche Gliederung 
der Gemeinde obmaltet“ ; aljo die Stellung des Einzelnen 
zur Gemeinde bleibt bei ihm wejentlich die katholiſche. 

Hiegegen, ſowie gegen eine Nechtfertigung (eigentlich Ver: 
föhnung) ohne durch menschliches Verdienſt des Mittlerö (mo bleibt 
da wieder feine „Gottheit“ ?) hat Th. Häring („das Bleibende im 
Glauben an Chriſtus“) fürs erite das Bedenken, daß ihm die 
Beziehung der Sündenvergebung auf die Gemeinde niht aus— 
reiht zum Bewußtwerden und zur Bürgfchaft der Rechtfertig- 
ung für den Einzelnen; und wenn gleich Ritſchl dies als 
„pietiftifche“ Grübelei mit Berufung auf Gottes Verheißung meint 
abfertigen zu können, jo können wir das Bedenken doch nur voll- 
ftändig erneuern: eine Garantie hat der Einzelne durchaus nicht 
in dem ſchwankenden Begriff der Gemeinde (wovon mehr ©. 145), 
daher fie ja Ritſchl ſelbſt in der Berufsfreudigfeit jucht, aber wie 
fchon gejehen, ohne wirkliche Heilägewißheit. 3, 504 ff. Fürs 
zweite glaubt Häring Chrijti Stellvertretung für ung jo weit aus— 
dehnen zu müffen, daß er die Shmerzvolle Erfenntnis des 
Widerſpruchs der (ganzen) Sünde gegen Gott gehabt, darin 
den Zwed der Strafe fterbend verwirklicht habe. Ritſchl wendet 
zwar ein, fchmerzvolle Erkenntnis würde zur Seligkeit Chrifti nicht 
paſſen; aber wie fönnte man aud Chriftum im Gefühl der un: 
veränderten Geligfeit jtehend denken, während er wirklich als 
Sühnopfer für der Welt Sünde fidh darſtellt? Fragt Ritſchl nad 
dem Schriftbeweis für jene jchmerzvolle Erkenntnis, fo entgegen 
wir: bedeuten etwa Jeſu Thränen über Serufalem nur menjchliches 
Rühren, nur äußerliches Mitleid über das zeitliche Schidjal der 
Sünderſtadt? Bedeutet vollends Jeſu Todesbetrübnis in Geth— 
femane nur Angſt vor dem leiblichen Kreuzestod ? Leſen wir nicht 
hier aus feiner Seele eine unvergleichlich tiefere, ſchmerzliche Trauer 
über Sündenelend und Sündenſchuld der Welt? 

Ritſchl gibt ſelbſt wieder gegenüber der behaupteten ausſchließ— 
lihen Vermittlung des Heils durch die Gemeinde zu, der religiöfe 
Beſitz der Gotteskindſchaft müfje immer wieder am Urbild Chriſto 
orientiert werden; freilich läßt er feinen direkten Napport mit 
Chrifto zu, fondern nur „Eindrüde feines Bildes“ durch allerlei 
äfthetifche und moralische Motive der Erziehung; fittliche Charafter: 


— — * — 
— — —— EEE — a en 


Daritellung und Beurteilung der Rirfchl’fchen Theologie. 141 


bildung, eigene Willensthat bleibt ihm immer das Mefentliche. 
3, 516 ff.; felbjt die neutejtamentliche xaradkayn weiß er dahin 
umzudeuten, daß ſie menfchliche Selbitthätigfeit einfchließt. 2, 234. 
Chrijti Lebensleiſtung aber dürfe durdaus nidt 
negativ (mit Bezug auf die Sünde) gefaßt werden; er felbit 
leite fein Leiden aus der allgemeinen Regel ab, daß der Gerechte 
eben mit der ungerechten Melt leive. Aber, fragen wir, wo im 
Neuen Teitament oder im Alten Tejtament fteht denn davon irgend 
etwas zu leſen? Chrifti Anſchauung entſpreche es nicht, wenn 
lutherifche Lieder am Karfreitag ala Feiertag nicht das Lob der 
Berföhnung fingen, fondern Trauer bezeugen. Wir verftehen es 
aber nicht, inwiefern bei aller Dankbarfeit eines chriftlichen Ge— 
mütes für die gewordene Verſöhnung nicht die Trauer über die 
Ichmerzliche Notwendigfeit des Todes Jeſu und über deſſen Urfache, 
unfere Sünde, zumal am Karfreitag das vorherrjchende Gefühl 
fein follte. Andererfeits iſt e8 freilich nur zu begreiflich, wie Ritſchln 
bei feinen Reflerionen über Jeſu Tod für derartiges alles Ver— 
ſtändnis fehlt. — Sündenfühnung, jagt Ritihl, ſei ein faljcher 
Ausdrud für den allein richtigen Sinn: daß unfre tragifche Teil- 
nahme an der fcheinbar verlorenen Entwidlung des Menfchen- 
geſchlechts doch dadurd in Einklang fomme mit unjrer äjthetifchen 
Gerechtigkeit, daß in Chrijto die volllommene menſchliche Güte fich 
bewähre, und daß feine zeitweilige Vernichtung doch durch Ehrifti 
vorauszufehenden Sieg zur äfthetifhen Verſöhnung mit 
der Macht der Sünde diene. Wir möchten uns freuen, die biöher 
von Ritjehl jo ftiefmütterlich behandelte Gerechtigkeit hier plößlich 
in ganz neuer Geſtalt, als äfthetifche Gerechtigkeit auftauchen zu 
fehen, wenn wir und hierunter nur auch etwas Reelles zu denken 
und nicht blos äfthetifche, fondern wahrhaft ethifche Befriedig- 
ung aus Ritſchls Darftellung der Bedeutung des Todes Chrifti 
zu gewinnen vermöchten. — Noch meist Ritfehl die Vorftellung von 
Chrifti Kampf mit dem Teufel ab: fein Menſch von fittlicher 
Würde könne da wirklich in Berfuhung kommen, wo er zum 
Boraus den Satan erfenne. 3, 524 ff. Allein Ritfchl hat eigen- 
tümliche Gedanken von der Gefährlichkeit des Verfuchers für unfer 
ſchwaches Fleifh, da doch „groß Macht und viel Lift fein grau- 
fam Rüftung iſt,“ wenn er fich einbildet, der Verfucher könne 
nicht anders als nur in abjchredenditer Geftalt ſich präfentiren. 


PEN 


142 Haug 


Die Adoption vermengt Ritfhl, weil er unter ihr nichts 
Beftimmteres von realem Gehalt verjteht, mit der Neuzeugung durch 
Gott. Wenn die Dogmatif als deren Mittel den heil. Geift 
hinftelle, fo fcheine fie an eine übernatürliche Naturfraft zu denken. 
Aber der heil. Geiſt fei weder als Stoff, noch als Mittel der 
Miedergeburt zu denken; Joh. 3, 5. Titum 3, 5. bezieht Ritſchl 
abenteuerlich genug auf die erneuernde Vollendung Siraeld. Der 
heil. Geift bezeichne eben den gemeinfamen Gedanken von Gott als 
Motiv religiöfen und fittlihen Lebens, den Gemeingeift, eine 
Formbeftimmtheit, fo wie das Ich als Geift die Bedeutung 
der Form gegen den Stoff einnehme. Wie Rechtfertigung, Ber: 
föhnung formelle Bejtimmungen in Gottes Urteil, jo feien Ver: 
ſöhnungsglaube und Kindſchaftsbewußtſein im heil. Geiſt Form— 
beſtimmtheiten des Ich. An reale Veränderung durch den heiligen 
Geiſt ſei nicht zu denken. 3, 556 ff. Wir ſehen, die Auflöſung 
des heil. Geiftes in unbeitimmte Motive ift eine ungleich radikalere, 
als die Verflüchtigung desfelben in den chriftlichen Gemeingeift bei 
Schleiermader: hier ift doch immer wieder eine lebendige, Direkte 
Einmwirfung Gottes auf das chriftliche Bewußtſein vorhanden, dort 
ift alles reduziert auf unklare Vermittlung durch die Gemeinde, 
und ſchließlich auf die eigene fittliche Aktivität. 

Betrachten wir fehließlich die religiöjen Funktionen der 
Berjöhnten und die religiöfe Ordnung des fittliden Han- 
delns im Einzelnen und nachher in der Gemeinschaft, ſo betont 
Ritſchl vor allem fein Snterefje für das Diesfeitige Leben und 
die Herrichaft des Geiftes über diefe Welt trotz der Todeserfahr: 
ung. Er befennt fich zur teleologifchen und munderhaften Welt- 
anfchauung; aber wir können uns für ihn beim Mangel aller 
direkten göttlichen Einwirkung das Wunder eigentlich nicht denken. 
3, 570 ff. Auch bei Chrifto hat er ja die Wunderthätigfeit aufs 
bedenklichjte reduziert. Er redet mehr nur allgemein von gött- 
licher Vorſehung, an welche der Chrift auch bei der Uner: 
forfchlichkeit der göttlichen Wege demütig glaube, ohne durch Beten 
und Ratgeben Gott beeinfluffen zu wollen; er urteile über Gottes 
Walten ohne egoiftifche Rechthaberei, in dem religiöjen Zartgefühl 
und der Vorficht der Demut und Geduld. Schöne, treffliche Worte 
hören wir da von Ritfhl über die Geduld als die Stimmung 


— — —— — — —— — —— et DT RT —55 


Darſtellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen Theologie. 143 


des Vertrauens auf göttliche Vorſehung unter den Übeln des Lebens 
(3, 580 ff.), jodann über die Demut als fonzentrierte Anerkenn⸗ 
ung der Abhängigkeit von Gott, als die ſubjektive Religion jelbit ; 
nur ift nach biblifcher Vorjtellung nicht gerade unverdientes Leiden 
damit verbunden, fofern ja Fein folches für den Menfchen je ganz 
unverdient iſt; faljch meint Nitfhl anch Matth. 5, 3. auf äußer- 
lich niedrige Lebenslage beziehen zu ſollen. Schlagend fpricht aber 
Ritſchl den Abarten der Demut ihr Urteil. 3, 587 ff. — Innig ver: 
Ichwiftert mit dem PVorfehungsglauben ift für Ritſchl das Gebet; 
es iſt ihm mejentlich das Opfer des Lobes, das Danfgebet mit der 
Beruhigung in Gottes Willen, Ausdrud und Mittel der Demut 
und Geduld. Das Danken fei darum die dem Bitten über: 
geordnete Anerfennung Gottes, das Bitten nur Modifikation 
des Dankgebets; ſelbſt im Vaterunſer feien alle Bitten dem Dank 
untergeordnet und genau betrachtet Ausdrud des Dankes. Lebteres 
iſt freilich eine gezimungene Behauptung. Doc fünnte man nad) 
dem Borgang Chriſti jelbjt in oh. 11, 41. 42. und 6, 11. jagen, 
das Danfgebet drüde immerhin den lebendigen Glauben viel befjer 
aus ala das Bittgebet, und dürfe neben dem oft im Bittgebet fich 
ausfprechenden irdiſchen Egoismus allerdings wohl vorgezogen 
werden. Aber Ritſchls Tendenz geht ja noch viel weiter: er 
behauptet, das Muftergebet im Namen Jeſu folle auch die Ber: 
heißungen der Erhörung in Matth. 7, 7—11. einfchränfen, die ja 
nicht wohl eine definitive Anmeifung an die Gemeinde enthalten. 
Mir haben ja, jagt NRitfhl, zum Voraus die Gemißheit der gött: 
lichen Fürforge im ganzen. 3, 595 ff. Selbſt zugegeben, daß von 
fleinlicher Engherzigfeit und Eigenliebe mander Mißbrauch auch 
mit angeblichen Gebetserhörungen getrieben wird: fo ftreitet doch 
gegen die maßloſe Verdädtigung und Beſchränkung des Bittgebets 
die gewiß ernitlichft gemeinte Zufage Jeſu in Matth. 7 und des— 
gleihen in Zuc. 18, 1—8. Ritſchls eigentliher Sinn ift eben die 
Überzeugung von der Unmöglichteit ſpezieller Gebetserhör- 
ung wegen angeblicher Unmöglichkeit direkter Beziehungen zwiſchen 
Gott und Menfd. | | 

Ritſchl findet im Vorfehungsglauben und Gebet, in Demut 
und berufsmäßigem Handeln jchon die hriftlihe Bollfommen- 
heit ausgeprägt und bezieht darauf namentlih 1 Kor. 2, 6. 


144 Haug 


Phil. 3, 15. Hebr. 5, 14. Jak. 3, 2. Gewiß muß die Mög- 
lichkeit der Volllommenheit dem Chriften ſtets als einſt noch zu 
erreichendes Ziel vorſchweben und wird ihm im göttlichen Urbild 
auch von Jeſu, desgleichen von den Reformatoren vorgehalten. 
Aber doch befteht für den evangelifchen Chriften die Vollkommenheit 
noch nicht in der Freudigfeit feiner Erhabenheit über die Welt, 
feiner Berufötreue und feines fittlihen und religiöfen Charakters 
für fich, fo daß wieder die guten Werke die Bürgſchaft der Voll- 
kommenheit und Glaubenszuverficht bilden müßten (f. o. ©. 135); 
dies verneint ja Paulus ausdrüdlich in demjelben Zufammenhang 
Phil. 3, 12. Sondern volllommen werden die Chrijten genannt, 
fofern fie duch die Rechtfertigung im Stand eine guten 
Gewiſſens und in heilfamer Gnadenerfenntnis ftehen, darum mit 
Wiſſen und Willen die Sünde nicht über fich herrſchen laſſen, für 
die gleichwohl noch anklebende Sünde aber jederzeit Vergeb— 
ung erbitten und erlangen. Wie gefährlich es it, auf eigene, 
jelbfterrungene Vollkommenheit zu bauen, das weiß ja Ritjchl 
jelbjt an den Abwegen des methodiltifchen Treiben? wohl zu er: 
fennen. Vgl. 3, 600 bis Schluß, und Unterr. in d. hr. Religion 
©. 44—46. — Die fittliche Charafterbildung zielt nah Ritſchl ab 
auf das ewige Leben, der Ehrift fühlt fich in feinem Wert als 
Ganzes gegenüber der Welt, in der Gemißheit der Unzerſtörbarkeit 
feines geiftigen Daſeins. Wie fchon gejagt, ift dies aber zunächſt 
gar nicht für das Jenſeits gemeint, indem das Chriftentum keines⸗ 
wegs MWeltverneinung bedeute, und wir uns nad Ritfchl 
auch in der einftigen Fortdauer geiftigen Lebens dem Umfreis der 
Melt nie entziehen können. 

Ritſchl beſchließt das Ganze nach der Ergänzung, die wir 
feinem Unterricht in der chriftl, Rel. entnehmen, durd Betrachtung 
der religiöfen Funktionen in der Gemeinfhaft und 
deren Vollendung im Jenſeits. Wie die Gemeinde im fittlichen 
Handeln Subjelt des unfichtbaren Gottesreiches fei, jo müſſe fie 
ih auf Grund der VBerföhnung auch im finnenfälligen Gottes— 
dienjt der Kirche verbinden. Das Gebet ‘als die geiftigfte Form 
der Gottesverehrung erſetze alle Opfer, fei als gemeinfames mwefent: 
lich Merkmal der Einheit der Gemeinde und ftärke die Zufammen- 
gehörigkeit für die Aufgaben des Gottesreiches. Das Belennen 


Darftelung und Beurteilung der Ritfehl’fchen Theologie. 145 


des Gottesnamens ſei Merkmal des allgemeinen Priejtertums, das 
Bekennen Jeſu als Herrn Kennzeichen der Chriften. Unterr. ©. 
73—75. Wir fehen ſchon hieraus, wel dürftiger Raum bei 
Ritfchl für die Bedeutung der Kirche abfällt und wie fo gar 
wenig oder nicht? er aus dem direkten Verkehr des Chriften mit 
feinem Gott und Herrn zu machen weiß. Für die Vermittlung 
feiner Rechtfertigung war der Einzelne ſtets an die „Gemeinde“ 
gewieſen, die fich nach Ritfehl aber doch ganz mit dem fogenann- 
ten „unfichtbaren Gottesreich”, oder klar gejagt, mit der diesſei— 
tigen fittlichen Drganifation der Menfchheit zu befaffen hat. Die 
Kirche aber foll nur die ſichtbare Drganifation des finnenfälligen 
Gottesdienſtes bebeuten. Die fogenannte Gottesverehrung hat 
Bedeutung und Beziehung lediglih nur für die Chriftengemeinde 
al3 ihre äußerlich dargeftellte fafrifizielle Leiftung, nie 
aber als geiftige Hingabe an Gott ſelbſt. In öffentlicher Erinner: 
ung an ihren Stifter hat fo die Kirhe nah Ritſchl auch am 
Wort Gottes eben das äußere Merkmal göttlichen Gnaden- 
willens, da3 „Antrieb zur Gottesverehrung”, nicht aber wirkliche 
geiftige Lebenskraft gibt. Val. ebd. ©. 76 f. Über Taufe und 
Abendmahl befennt Ritfchl geradezu, weil von Chriſto ange: 
ordnet, behalte fie die chriftliche Gemeinde aus Pietät als Belennt- 
nißafte, Rultushandlungen in der Gemeinde, außerhalb wären fie 
ohne fatramentalen Wert. Abendmahl wie Taufe verbürge bie 
fortvauernde Gnade Gottes in Chrifto, fie feien in fofern Sakra— 
mente. Durch die Taufe verpflichte die Gemeinde den Eintreten- 
den auf die göttliche Offenbarung; das fchließe Reinigung und 
Erfrifhung des geiftigen Lebens in fih und die Aufnahme in den 
Kreis der Sündenvergebung. Fälſchlich behauptet Ritfhl, daß auch 
in Conf. Aug. I 9, die Kindertaufe nur als Weiheakt der Gemeinde 
dargeftellt werde. Das Abendmahl fol dankbare Anerkennung der 
Lebendaufopferung Chrifti durch die Gemeinde bedeuten und bie 
hriftlichen Tugenden lebendig anregen. Unterr. ©. 77. 85—87. 
Troß feinem Bemtihen gelingt e8 Ritfhl nit, in diefe Gnaden⸗ 
mittel die fpezifiiche Segenätraft des Sakraments bineinzulegen; 
vorwiegend ift auch hier die fakrifizielle Bedeutung. — Die gottes⸗ 
dienftlihe Gemeinfchaft wird Schule, indem fie ihre chriftliche 
Anfhauung in Dogmen ausprägt; dieſe follen nicht ohne weiteres, 
Theol. Studien a. W. VI. Jahrg. 10 


146 Haug 


fordert Ritſchl mit Recht, als Belenntnis der Kirche proflamtert 
werden. Dagegen verlangt er zu wenig, wenn er zur Angehörigfeit 
an die evangelifche Kirche nur rechnet, was nad ihm die chriftliche 
Vollfommenheit ausmadt; das apoftolifche Glaubensbekenntnis 
habe in der griechifchen Kirche Feine vollfommene Geltung mehr. 
Aber wie will denn Ritſchl auf feine Anforderungen zur drift- 
lihen Vollkommenheit ein klares Bekenntnis bauen ? 

Die Vollendung des Gottesreihes, giebt Ritſchl 
hlieglich zu, erhoffe ver Glaubige unter Bedingungen, welche über 
diefe Weltordnung hinausliegen. Chriftus felbjt und die Apoftel 
wie die Prophetie fehen dieſes Ziel in finnenfälligen Ereignifjen, 
namentlich in der fichtbaren Wiederkunft Chrifti nahen. Aber nur 
die Schwärmerei der Seftirer habe diefe Erwartung aufrecht er- 
halten. (So wenig Wert und Geltung mißt Ritfhl alfo dem 
Apostolicum bei.) Die urdriftlihe Erwartung des baldigen 
Meltendes fei nur zur Schale, nicht zum Kern zu rechnen. L. v. 
d. Rchtf. u. V. 3,565. Eine zufammenhängende Theorie von 
den legten Dingen lafje ſich aus vorliegenden Daten nicht 
erreichen, befonderd auch feine Elare Vorftellung über den Zuftand 
der Seligen und Berdammten. Unterr. ©. 70. 71. Wir verftehen 
das Nichtwiffen und Nichtanerfennen der legten Dinge, des ganzen 
eichatologifchen Gebietes bei Ritfhl: es gehört ihm zu den nebel- 
haften metaphyfifhen Dingen, die ihm über die fittlihe Aufgabe 
weit hinaußsliegen, die er im „Reich Gottes“ diesfeits meint nach 
feinem Ermeffen begrenzen zu müfjen, weil er ja eine birelte 
Beziehung zum wirklichen Reich Gottes durchaus nicht kennt. 

* 

Faſſen wir ſchließlich in gedrängtem Überblick unſere 
Kritik nochmals kurz zuſammen, ſo müſſen wir vor allem rühmen 
die Energie, mit welcher Ritſchl das Zentraldogma des Proteftan- 
tiömus auf neue, eigentümliche Weiſe in vielfeitigem Gedanken— 
reichtum als maßgebend für die ganze Entwicklung der Dogmatif 
und Ethit darzuftellen verfucht. Loben dürfen wir auch den von 
Pietät erfüllten Vorfag, feine Lehre in Übereinftimmung mit den 
genuinen Ideen der Reformation zu erhalten; freilich mußten wir 
erfennen, wie Ritſchl teild bewußt, teils unbewußt in vielfachen 
Gegenſatz zu denfelben getreten ift. Aber Anerkennung gebührt 


Darjtellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen Theologie. 147 


auch der Energie feines entfchiedenen ethiſchen Strebens, den Geiſt 
des Chrijtentumes in den fittlichen Lebensaufgaben Fräftig wirkſam 
zu zeigen, überhaupt die Glaubenzlehre nicht in unfruchtbaren 
tranfcendent<metaphyfifchen Spekulationen, wie manche gethan, ſich 
verlieren zu laffen, fondern überall ihre praftifchethifchen Ziele 
im Auge zu behalten. Doch was mir bier ald Ritſchl's Stärke 
rühmen, jchlägt alöbald in feine fchmahe Seite um: während er 
von metaphyfifchen Seinsurteilen überhaupt gänzlich abjtrahieren, 
und nur die religiöfen Werturteile gelten lafjen will, werben dieſe 
durch reine Subjektivität entwertet. In ſchroffem Dualismus 
verwirft er alle Möglichkeit wiſſenſchaftlicher Erkenntnis des Seins, 
um einzig die religiöfe Erfahrung des ächten chrijtlichen Bewußt— 
ſeins anzuerkennen. Allerdings will er die Thatfache der Dffen- 
barung Gottes durch Chriftum als einzig Objeftives gelten laffen, 
aber das Bemußtjein der Chriftengemeinde, welche davon Kunde 
geben fol, fommt felbit in bevenfliches Schwanfen, da Ritfchl das 
Schriftzeugnis auch des Neuen Teftaments nur fehr mit Auswahl 
annimmt, alfo fein feites Prinzip uns bleibt. Die Wahrheiten 
und Thatfachen des Chriftentums werden fomit auch mie andere 
Erfahrungen in Phänomene des ſubjektiven Bewußtſeins 
oder in Afte des menfhlihen Willens umgefegt, was ſich nad) 
der göttlichen wie nach der menfchlichen Seite zeigen muß. 

Die göttliche Perfönlichkeit iſt eigentlih für Ritſchl nur 
ein formaler Begriff. Die Herrſchaft des Geiftes über die Welt 
gilt ihm zwar als das einzige reelle Poſtulat der Vernunft, das 
 folgerihtig aud zur Annahme eines höchiten Geiſtes als Welt- 
ordners hindränge. Aber nicht wie er die Weltordnung gefchaffen, 
läßt Ritſchl feinen Gott auch durch fchöpferiiche That die Welt 
jelbit ins Dafein rufen: nein, unerreihbar fern, unveränderlich 
verharrt fein Gott. Er erfcheint nur ald der ewige unwan— 
delbare Liebesmwille, der allerdings troß unendlicher Ferne 
von der Welt, weil feine Beziehung zur Welt nicht richtig ver: 
mittelt iſt, nur andererfeit3 in der Zweckbeſtimmung für die Menjch- 
heit felbft ganz aufgeht. Diefer Liebeswille hat von Anfang an 
aus der Mafje der Menfchheit die neue Kreatur hervorgerufen fie 
zu befeligen, während er die übrigen der Vernichtung preisgibt. 
In ihm gibt e8 feine Wandlung, keine Heiligkeit zur Verabſcheu— 

10* 


DI a ae Ten — — — * — 





148 Haug 


ung der Sünde, keine Gerechtigkeit zur ſtrafenden Vergeltung, keinen 
Zorn und kein Mitleid, keine Sünde als objektive Rechtsverletzung, 
höchſtens eine geſchöpfliche Schwachheit, die aber kein Hindernis 
für die Gottesgemeinſchaft iſt. Es giebt für Ritſchl keinerlei ethi— 
ſches Handeln Gottes mit dem Menſchen je nach deſſen verſchie— 
denem Verhalten. Daher iſt aber auch keine Erlöſung nötig, 
Chriſtus erſcheint nur als Offenbarer des ungetrübten göttlichen 
Liebeswillens, er ſtellt als vorbildlicher Menſch die Gemeinſchaft 
mit Gott dar, ohne daß er zur Erlöſung einer göttlichen Natur 
bedürfte, und ohne daß ſein Tod eine ethiſche Notwendigkeit zur 
Sühnung von Sünden wäre. Und wie fein lebendiges ethiſches 
Handeln Gottes gegen den Menſchen im alten, natürlichen Leben 
ftattfindet, jo auch fein perfönliches Handeln, feine reale Beein- 
fluſſung des Chriften im neuen Leben abgefehen von dem zu Anfang 
fundgegebenen unverrüdten Liebeswillen. Diefe Kundgebung oder 
deren Abficht ſchon nennt Ritfchl Rechtfertigung; mas nad ihr 
im Fortfchritt des Chriftenlebens folgen fol, ift immer Wiederhol⸗ 
ung des Bisherigen. Namentlich gibt es für Ritſchl feine reale 
Einwirkung Chrifti, fondern nur Eindrüde feines Bildes 2c., feine 
Wirkung des heil. Geiftes, welcher nur eine Formbeftimmtheit des 
göttlichen Geiftes oder auch wieder der Gemeingeift heißt, und die 
intellektuelle und moralifche Kraft ber chriftlichen Gemeinde darftellt. 

Nah der menfhlichen Seite bezeichnet die Religion für 
Ritſchl keine reale Beziehung zum überweltlichen Gott, fondern die 
fittliche Liebesthätigfeit im diesſeitigen fogenannten Gottesreich, 
welches als fittlicher Organismus den Zweck der Religion erfchöpft. 
Auch für den Menfchen gibt e8 Feine wirklihe Sünde, fondern 
nur Unmifjenheit und Schmwachheit, daher nur ein eingebildetes 
Schuldgefühl, das ſich in unberechtigtem und unnötigem Mißtrauen 
gegen Gott äußert. Folgerichtig bedarf der Menfch Feine Erlöfung 
von Sünden, Feine wirkliche Begnadigung in direftem Rapport mit 
Gott, fondern nur Aufhebung des unbegründeten Mißtrauens im 
eigenen Bemwußtfein, Vermittlung des göttlichen Liebeswillens durch 
Chriftum in das Bemwußtfein der Gemeinde und durch fie in das 
Bewußtfein des Einzelnen. E3 gibt feine göttlichen Gnadenein- 
flüffe, beſonders nicht im heiligen Geift, fondern nur entſprechende 
Thätigkeiten und Empfindungen des menfchlichen Geiftes. Zwiſchen 


Darftellung und Beurteilung der Ritſchl'ſchen Theologie. 149 


der Autonomte der menfchlichen Berfönlichkeit und der Heteronomie 
des göttlihen Willens iſt eine unverföhnliche Diskrepanz: dort der 
ftarre, unveränderte Gotteswille, hier der menſchliche Wille als 
das einzig Neale, mas Ritſchl kennt; zwifchen beiden feinerlei 
perfönlicher ethifcher Verkehr, feine Einwirkung des Menfchen auf 
Gott weder im Guten no in der Sünde. Ritfhl hat eben im 
feinem ‚Syjtem nicht die einzig wahre Verföhnung zwifchen Gott 
und Menſch durch Gnade, ſondern unvermittelt geht beider Wille 
neben einander her: der menschliche Wille in fcheinbarer Abhängigkeit 
vom göttlich erhabenen Willen, welcher wenigſtens Richtung, Zwed 
und Biel angeben fol; in der That aber bewegt fich der menfch- 
lihe Wille in ungehemmter Aktivität, und felbjt im Gottesdienft 
weiß Ritſchl nur fakrifizielle Zeiftungen aufzuzählen. Ritſchls Syftem 
hat ſonach wirkliche Verwandtſchaft mit dem römischen Katholizismus 
in feiner menſchlichen Vielgefchäftigfeit in Hintanſetzung der gött- 
lichen Gnade; aber feiner von beiden bringt es auch zu froher 
Heilögewißheit, feiner von beiden kennt die richtige VBerföhnung. — 
Das ewige Leben verlegt Ritſchl mefentlih ind Diesſeits; denn 
das Senfeit3 ift ihm ein metaphyſiſches Gebiet mit nichts als 
Fragezeihen. Auf fo viele derjelben weiß Ritſchl auch ſonſt nicht 
Rat no Antwort, weil er da8 Zeugnis der Offenbarung aus 
feiner berechtigten Stellung gehoben und der angeblichen hriftlichen 
Erfahrung ihre Grenzen willkürlich gezogen hat. Bei allem erniten, 
anerfennenswerten Streben fommt er doch theoretifch nicht hinaus 
über rationaliftifchen Sfeptizismus, und praftifh überwindet er 
nicht den pelagianifhen Moralismus. 
* 

Möge dieſe Arbeit, welche befliſſen war, ein ſchwieriges Syſtem 
nach feinem ganzen Umfang möglichſt sine ira et studio darzu— 
ftelen und zu beurteilen, neben gewichtigeren Leiftungen anderer, 
welche mehr nur die eine und andere Seite diefer Theologie behan- 
deln, manchem Amtsbruder wenigſtens zu einiger Orientierung 
dienlich fein. Bedauerlich wäre e3 ja immerhin, wenn einerfeits 
ältere Kollegen ohne irgend welche Kenntnisnahme von Ritfchls 
Namen blindlings fich zu fehr imponieren ließen, oder unbefehen 
ihn ganz verwerfen wollten; bedauerlicher noch wäre ed, wenn das 
jüngere und jüngfte Theologengefchleht, ohne bei Andern weiter 


150 Köftlin 


fih umzufehen, alles Heil einzig von der Ritſchl'ſchen Theologie 
erwarten und nicht zuerjt noch forgfam erwägen wollte, ob denn 
nicht auch noch die Möglichkeit anderer dogmatiſcher Bofttionen 
gegeben fei, die vielleicht in Schrift und Vernunft, in Gefchichte 
und Erfahrung recht wohl begründet fein dürften. 


Ber Begriff des geiſtlichen Amts. 
Von Dr. Seinrih Adolf Köftfin. ! 

Der dogmatifche Ort des Amtsbegriffs iſt die Lehre von der 
Kirche; der Begriff des geiftlihen Amts, die Beitimmung, Ord— 
nung und Begrenzung der Aufgaben und Pflichten desfelben ift 
mejentlich bedingt durch den Begriff der Kirche, objektiv, weil aus 
dem Bewußtfein, welches die Kirche von fich felbit, von dem Um: 
fang, Gewicht und Inhalt der ihr verliehenen Vollmacht hat, 
unmittelbar Vollmacht und Autorität de Amts fich ergibt, fub- 
jeftiv, weil fih im Bemwußtfein des einzelnen Amtsträgers das 
Maß und Gewicht der Autorität, welche er den ordnungsmäßigen 
Organen der firchlihen Gemeinfchaft zuerfennt, beftimmt nad) dem . 
Verhältnis, in welches die empirifche Kirche zur Stiftung Jeſu, 
die Organe der firchlichen Gemeinschaft zu dem unfichtbaren Haupte, 
dem Herrn, gejeßt werden. Die Erörterung des Amtsbegriffs jegt 
daher eine prinzipielle Verftändigung über den Begriff der Kirche 
voraus. 

Die abermalige Erörterung des Amt3begriffs dürfte aus zwei 
Gründen nicht ganz überflüffig erfcheinen: einmal, weil uns ein 
Blid auf die neueften Werke über praftifche Theologie zeigt, wie 


4 Derzeit Profeffor der Theologie am Predigerfeminar in Fried— 
berg (Hefien); da derfelbe feine ganze theologifche Bildung in Würt- 
temberg gewonnen und bisher dem praftifchen Kirchendienft in Würt- 
temberg feine Kräfte, gewidmet hat, dürfte es nicht unangemefjen 
erſcheinen, dieſe Skizze als „Studie aus Württemberg“ erfcheinen zu 
NSaffen, wenn auch der äußere Anlaß, diejelbe in den Drud zu geben, 
erit durch des Verfafferd neue Amtsaufgabe, Baftoraltheologie zu leſen, 
gegeben werden ift. Die Redaktion. 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 151 


weit die Anfichten über diefen Grundbegriff der praftifchen Theo: 
Iogie auseinandergehen — fodann, weil thatſächlich das Fonfrete 
Pfarramt, in welches wir mit der Ordination und Inveſtitur ein: 
treten, keineswegs da 3 geiftliche Amt in feiner reinen Geftalt und 
Abgezogenheit ift, vielmehr ſich als ein mixtum compositum dar: 
ftelt, in welchem religiöfe, rechtliche und ſozial-ethiſche Aufgaben 
und Pflichten einander durchdringen und neben einander hergehen, jo 
daß es für den praftifchen Geiftlichen nicht immer leicht iſt, im 
fontreten Falle die einander vielleicht widerftreitenden Pflichten in 
der richtigen Weife einander über- oder unterzuorbnen, das kon— 
frete Amt mit der Vielheit feiner Funktionen und — oft nur 
durch die befonderen Zeitverhältniffe bedingten — Anforderungen 
der Einheit des Amts einzuglievern. So viel man dabei auch 
dem Charisma des angebornen pajtoralen Taftes überlafjen mag, 
fo unabweisbar ift für jeden Theologen ein nicht nur mit dem 
Begriff der Kirche in flare und genaue Beziehung geſetzter, ſondern 
auch in fich ſelbſt vollſtändig klarer, geordneter, die einzelnen Mo— 
mente in das richtige Verhältnis zu einander und in das richtige 
Gleichgewicht gegeneinander bringender Amtsbegriff ; denn ein folcher 
ift die Vorausfegung des paftoralen Takts und dient demfelben 
im einzelnen Fall zur Orientierung. 

Gehen wir vom empirifchen Pfarramt aus, dem Amt der 
beftimmten, rechtlich umfchriebenen Kirchengemeinfchaft, jo laſſen 
fih die mannigfaltigen, aus der glievlihen Organifation der Ge: 
meinde, aus der rechtlichen Verfaffung der Kirche und auß ber 
Bedeutung derſelben als eines fozialen Körpers ſich ergebenden 
Obliegenheiten des Pfarramts vorläufig unter die Funktionen des 
dıdaoxsıv, sroxongw, dıaxovsw* fubfumiren, ohne daß mir 
mit diefer Subfumtion einen andern Anfprud erheben alö den 
einer vorläufigen Klaffifitation der verfchiedenen pfarramtlichen 
Berrichtungen. Zunächſt wäre nun zu beftimmen, in weldes Ver: 
hältnis diefe drei Funktionen zu einander zu fegen, ob fie alle drei 
einander gleichgeordnet oder eine den andern übergeordnet zu denken 
find; die Entfcheidung darüber hängt genau damit zufammen, welche 


1So J. T. Bed, Paftorallehren des Neuen Teftaments. Gütersloh 
1880, ©. 22. 


152 Köftfin 


Bedeutung man innerhalb des Begriffs der Kirche der fozialen 
Gliederung der firhlichen Gemeinfchaft beimißt: wer die letztere 
für weſentlich erklärt, wie 3. B. die römiſch-katholiſche Kirche, der 
wird jene drei Funktionen mindeſtens für gleich wejentlich erklären, 
eventuell die des enıoxoneı, des achthabens auf die externa politia, 
die societas der Kirche und Gemeinde, den beiden andern über- 
ordnen und voranftellen. Wer dagegen die foziale Gliederung, die 
gemeindlihe Organifation nur ala Mittel wertet für die Aufredht- 
haltung und Freihaltung des in Wort und Sakramenten gegebenen 
Wejensfundamentes der Kirche, der wird dad dıaxovew wie dad 
eroxoneıw der Aufgabe des dıdaoxsıv unterordnen, nicht blos 
die Verfündigung und richtige Teilung des Wortes für die weſent— 
liche und erjte Aufgabe des Amts erflären, hinter welcher alle 
übrigen zurüdzuftehen haben, fondern auch das Wort zum Prinzip 
und Maßſtab für daß emioxoneıw und dıaxovsıy machen. 

Die Entfcheidung hängt an der Beitimmung des Begriffs der 
Kirche. Auf den erften Blick erfcheint e8, um dieſen für unfern Zweck 
zu bejtimmen, als das Einfachite, unmittelbar auf die Stiftung Jeſu 
Chrijti zurüdzugehen, die empirifhe Kirche zu mefjen an ber 
Original-Geſtalt der apoftolifchen Gemeinde, alles, was in diefer 
nicht angeordnet ober präformiert ift, für indifferent, nebenſäch— 
lich, nicht zum Weſen der Kirche gehörig zu erklären, die Grund: 
züge der Ur-Kirche aber als die wefentlichen Grundzüge der Kirche 
überhaupt in Anſpruch zu nehmen. Allen damit würden mir 
den Fehler der Srvingianer und andrer Sekten begehen und 
das Mefen, den Begriff der von Chrijto gemollten Gemeinfchaft 
ohne weiteres mit deren erjter Realifierung Durch die Apojtel, mit 
der eriten (auch ihrerfeits durch zeitliche Verhältniffe bedingten, 
fomit transitorifche Elemente und Formen enthaltenden) Erjchein- 
ungsweiſe oder Erijtenzform identifizieren, beziehungsweife Die 
apoftolifhe Gemeinde nicht blos nach ihrem inneren Weſensgrund 
und den aus diefem ſich ergebenden wefentlichen Grundzügen, fon: 
dern nach ihrer gliedlichen Organifation, alfo ihrer irdifch = menfch- 
lichen Seite dogmatifieren, wobei dann die große Frage entitünde, 
bis zu welchem Zeitpunfte die normative Vorbildlichfeit des apo- 
ftolifchen Zeitalterd reicht. Vorausgeſetzt aber, daß es uns gelänge, 
die wefentlichen Grundzüge der Stiftung Jeſu an deren eriter 


Der Begriff des geiftlihen Amts. 153 


Exiſtenzform Har und ſcharf zu beitimmen und damit den Willen 
bed Herrn in Bezug auf die Kirche zu prägifieren, gewinnen wir 
doch damit — weil wir von der erften Eriftenzweife ja ausdrüd- 
lich abjtrahieren müffen — erſt einen Maßſtab, einen Kanon für 
die Aufzeigung der wejentlichen Grundzüge der Stiftung Jeſu an 
der Kirchengemeinfchaft, dem Organismus, wie er vor uns liegt: 
und es wird damit erjt noch einmal die Aufgabe gejtellt, die dem 
wirklichen Organismus im Verlauf der Entwidlung angewachfenen 
Glieder und Funktionen (nicht blos ala mwefentliche oder minder 
wejentliche überhaupt zu bezeichnen, fondern) durch die genaue 
Beitimmung des Verhältnifjes, in welchem fie je für fich allein 
und in ihrer Gefamtheit zu dem bedingenden Wefensgrund ftehen, 
ihren Wert pofitiv zu beitimmen; denn darauf fommt es für die 
Orientierung in der Praxis wefentlih an, daß man nicht blos 
zwiſchen Wejentlihem und minder Wefentlihem zu fcheiden wiſſe, 
an jenes feine Kraft wende und fich halte, diefes aber mit ber 
Menge der übrigen Adiaphora für etwaige fpezielle Liebhaber liegen 
laſſe (wie 3. B. Liturgie, Verfaſſungsfragen, innere und äußere 
Miffion), fondern das pofitive Verhältnis fenne, in welchem dieſe 
fogenannten Adiaphora im Weſen der Kirche zu dieſem ſelbſt jtehen, 
und genau bemefjen könne, welches Gewicht fie für die praftifche 
AUmtsthätigleit haben, in welchem Maß und Umfang fie diefelbe 
in Anfprucd nehmen dürfen und müffen. 

Daher wird es fich empfehlen, erſt den lebendigen Organis- 
mus, wie er als ein dur die Gefchichte gemordener das Objekt 
der amtlichen Wirkfamfeit bildet, ins Auge zu faſſen und erſt den 
Stoff wie das Gebiet anzugeben, auf welches jener Kanon des 
Kirhenbegriff3 anzuwenden ijt, oder es wird fich empfehlen, aus— 
zugehen von der in der Gegenwart gegebenen empirischen Kirche. 

Allein die Kirche, ob fie auch eine geiftige Einheit darftellt 
tritt ung in der Welt thatfählih nur als Kolleftivum entgegen, 
als eine Vielheit von rechtlich geordneten und gegeneinander abge: 
grenzten Kirchengemeinfhaften,; nur durch Abftraftion von der 
Thatfache diefer Bielheit gewinnen wir zunächſt die Vorftellung der 
iveellen Einheit: entfpricht diefer ideellen Einheit. eine fubftanzielle, 
fo fragt e3 fi, wie gewinnen wir diefe? wie erhalten wir bie 
Merkmale, welche den Begriff der Kirche, fofern fie in allen 
Kirchengemeinfhaften als diefelbe enthalten iſt, beftimmen? 


154 Köftlin 


Der treue Sohn feiner Kirche wird zum Voraus geneigt fein, 
das Mefen der Einen Kirche, die fubftanzielle und ideelle Einheit 
der empirifchen Kirchen, nach dem Maßſtab zu bejtimmen, welchen 
der Kirchenbegriff der eigenen Kirche an die Hand giebt, und das 
als einheitliche Grundlage zu bezeichnen, was der Kirchenbeariff 
der eigenen Kirche ala folche beftimmt. Allein wir haben nicht 
das Recht, 3. B. von vornherein den lutherifchen Kirchenbegriff zum 
Maßſtab zu machen, nad welchem fi) das Recht richten müffe, 
mit welchem eine Kirchengemeinfchaft fich zur Kirche Chrifti rechnen 
dürfe. Diefen Maßſtab könnte nur der Kanon der Stiftung 
Jeſu ſelbſt, alfo nur der ausbrüdlih an diefem geprüfte und 
bewährte lutherifche Kirchenbegriff bilden. Dazu fommt, daß, 
wenn auch der befenntnismäßige Begriff von der Kirche nicht durch 
neue Belenntnifje abgeändert ift, alſo fozufagen noch zu Recht 
beiteht, doch thatſächlich das Bemwußtfein von der Kirche, ihrem 
Weſen und ihren Aufgaben gerade innerhalb der lutherifchen 
Kirche vielfach ein andres geworben ift, 3. B. die gliedliche Orga— 
nifation, die Diafonie u. a. mit dem Begriff der Kirche verknüpft, 
welcher ftreng genommen nur das ministerium verbi, das Rultus- 
amt erzeugt, während es über andere Momente, welche urfprüng: 
lich in engſte und direfteite Beziehung zum WMefensbegriff der 
Kirche gefegt wurden, freier denkt, wie über die Differenz in der 
Abendmahlälehre. Die Thatfadhe der Union ftempelt auch die 
evangelifche Kirche zu einer Kolleftiv-Einheit der lutherifchen, refor- 
mierten und unierten Kirche, innerhalb deren der Rechtseinheit 
feinesweg® die ſubſtanzielle Glaubenseinheit entfpricht, vielmehr 
die Vorausfegung zu Grunde liegt, daß die thatfächlich vorhande- 
nen Glaubensdifferenzen die Einheit in der Hauptfache nicht auf: 
heben fönnen, die Borausfegung alfo, daß gewifje Merkmale, welche 
den Sonderlirhen als mwefentliche, die gliedliche Einheit aufhebende 
erfhienen, wie 3. B. die Übereinftimmung in der Abendmahlslehre 
dies in Wahrheit nicht feien, vielmehr zu unmefentlichen herab- 
gefegt werden müfjen. Damit ift aber thatfächlich dem Tutherifchen 
Begriff der Kirche die normierende Autorität abgeſprochen, wenn 
dieß auch nicht offiziell ausgefprocdhen wird. Andrerfeits nun aber 
die der Union zu Grund liegende Vorftellung von der Einheit der 
Kirchen begrifflich zu firiren, zum Ausgangspunkt und zum Maß— 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 155 


itab zu nehmen, nach welchem das Mefentlihe und Unmefentliche 
in dem Begriff der Kirche zu ſcheiden wäre, würde und einerfeits 
den Vorwurf der petitio prineipü zuziehen, andrerſeits über den 
Umfang der evangelifchen Kirche nicht hinausführen. Unfre Auf: 
gabe aber ijt, die Weſensmerkmale der Geſamtkirche zu gemwinnen. 
Es erfcheint daher angezeigt, die Kolleftiv-Einheit der Gefamtfirche 
in ihre wefentlichen Beftandteile zu zerlegen, das, was jeder Einzel: 
fire als das für den Begriff der Kirche MWefentliche, Maßgebende 
und Entjcheidende erfcheint, herauszuftellen und mit dem Begriff 
des Amts in Beziehung zu ſetzen, die fo gewonnenen Anfchauungen 
von Kirche und Amt an der Stiftung Jefu zu normieren, bezieh- 
ungsweiſe durch diefelbe zu forrigieren. 

Wir gehen aus von dem Kirchen- und Amtsbegriff der römifch- 
fatholifhen Kirche, wie derfelbe feit 1870 in voller Konfequenz 
abgefchloffen vorliegt. Es empfiehlt ich dies ſchon aus dem Grunde, 
weil die urfprünglichen Beitimmungen der evangelifchen Kirchen 
voll gewürdigt werden können nur im Gegenfag gegen die römiſch— 
fatholifche Auffaffung, deren volle, logiſche Konſequenz die vatifa- 
niſche Papſtkirche ift. 

I. 

Der Kirchenbegriff der römiſch-katholiſchen Kirche ift die logifche 
Subftruftion des kirchlichen Gefamtorganismus, als welcher uns 
diefe Kirche entgegentritt; diefer ift die fonfequente und volle Aus: 
geitaltung feines Begriffs. Der lebtere ift der adäquate Ausdruck 
des hochgefteigerten Selbitgefühls, melches die als folgerichtig 
erfannte Entwidelung der Stiftung Jeſu Chrifti in ihrem ganzen 
Umfange und nad) allen Seiten dogmatifiert, ohne zu unterfcheiden 
zwiſchen Wefentlihem und Unmefentlihem, Notwendigem und Zu: 
fälligem, abfolut Gültigem und gefchichtlich Bedingtem oder relativ 
Notwendigem: das Gefhichtlih-Gewordene wird als das Abjolute, 
dur Begriff und Idee der Kirche Bedingte und Gegebene gefeßt. 
Die durch die Kirche geforderte und gewirkte Geſellſchaftsglieder— 
ung iſt die notwendige Auswirkung ihrer Idee, fomit für den 
Begriff der Kirche weſentlich. 

1 Die Thatjache eines ununterbrochenen Zufammenhangs der Über- 
lieferung mit der Originalgemeinde de3 Herrn — gewiß ein nicht zu 


156 Köftlin 


Das Subjekt der Kirche ift zwar formell und dem Namen 
nah der erhöhte Chriftus, fofern alle Autorität der Kirche auf 
Ihn zurüdgeht; materiell und der Sache nad) aber tritt Die Hierar- 
hie, beziehungsweife deren monardhifche Spibe, der Papſt, an bie 
Stelle de Herrn als der aktuelle Vollſtrecker des Teſtaments Jeſu. 
Das eigentliche handelnde Subjelt der Kirche iſt alſo der Papft. 
Daher deckt fich mit dem der thatſächlichen Entwidlung der römi- 
Then Kirche zu Grunde liegenden Begriff vollitändig Bellarmins 
befannte Definition, nach welcher die Eine und wahre Kirche ift 
„eoetus hominum ejusdem christianae fidei professione et eorun- 





unterfhäßendes Moment für die Sicherheit und Reinheit ber Über- 
lieferung — wird, wiewohl fich weder die Lückenloſigkeit noch die abjolute 
Reinheit der römischen Überlieferung erweifen läßt, gefteigert zum 
zureihenden Grund und zur ausfchlieklichen Garantie der Authentie 
und Apoftolizität der römischen Lehre. 

Die zunächft durch die Entwidlung der Kirche felbft naturgemäß 
fih ergebende, auf römiſchem Gebiet namentlich durch die Solidarität 
der Kultur begünftigte Einheitlichkeit und Gleichförmigkeit in Gitte, 
Kultus, Geſellſchaftsform wird gefteigert zum Gefeß der Einheit und 
als foldhes zum Weſensmoment im Begriff der Kirche erhoben. 

Die gefellichaftlihe Organifation ingbejondere, auf deren Form 
fiherli die dee des römischen imperiums (vgl. H. Schmidt, die Kirche, 
ihre biblifche Idee 2c. ©. 135) unwillfürlih eingewirft hat, wird — 
ob fie gleich nur gefchichtlich bedingt war — zum Wejendmoment der 
Kirche erhoben, für die durch die Idee der Kirche geforderte, einzig 
berechtigte und einzig mögliche erklärt. 

Kurz die römische Kirche fo wie fie in Lehre, Kultus, Hierarchie 
geworden ift unter dem Einfluß der Zeitbedingungen, wird erklärt für 
die den Begriff der Kirche dedende Erfheinungsform, für die einzig 
möglihe, ausfhließlihe und volle Verförperung ber See, für Die 
logiſche Folge und abjolute Verwirklichung der Stiftung des Herrn. 
„Sn ihrem äußeren Dafein und mit ihren Formen und Saßungen ift 
die Kirche das Reich Gottes.“ (Julius Köftlin, das Weſen der Kirche 
nad) Lehre und Gefhichte ded Neuen Teſtaments. Gotha 1872, ©. 8. 
Bol. H. Schmidt, die Kirche, ihre biblifche Idee und die Formen ihrer 
gefhichtlihen Erſcheinung. Leipzig 1884, ©. 128 ff. $ 13; ©. 135 
„Im Wejentlichen ift die Kirche fo, wie fie ift, die Heilige, in allen 
ihren Funktionen normale.”) 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 157 


dem sacramentorum communione colligatus, sub regimine legi- 
timorum pastorum, ac praecipue unius Christi in terris vicari, 
romam Pontifieis“.! 

Da in der katholifchen Kirche Idee und Erfcheinungsform im 
Grunde zufammenfallen, menigftens qualitativ, wenn auch nicht 
quantitativ, jo kann die Aufgabe der Kirche nicht ala eine trans: 
cenbente, übermeltliche, fondern nur als eine immanente, innerhalb 
der Welt ſich abfchließende gedacht werden; wohl wirken die 
Kräfte und Gnadenmittel hinüber, aber ihre Urfächlichkeit, ihre 
Kraftfubftanz, wenn wir fo fagen dürfen, liegt durchaus diesſeits 
in der irdiſchen Anſtalts-Kirche. Die Aufgabe der lehteren iſt die 
Erzeugung ihrer felbft; die irdifche Kirche als vollftändig ausgebil- 
deter gliedlicher Organismus iſt fih Selbitzwed, ihr Streben kann 
nur dad der Erpanfion fein: Wachstum nad außen, Auffaugung 
des außerhalb des Firchlichen Geſellſchafts-Organismus befindlichen 
Perfonen-Stoffes, Einglieverung der Menfchheit in den Drganis- 
mus der Kirche. 

Hieraus ergiebt fi für den Begriff de Amtes, daß ed 
wejentlih Organ der irdifchen Kirche, ja, fofern das eigentliche 
Weſen, die Subftanz und Kraft der Kirche in der gliedlichen Orga⸗ 
nifation liegt, die wefentliche Form, die Lebensfunftion, die Eriftenz- 
meife der Kirche als des anftaltlihen, hierarchiſchen Gefüges iſt; 
die Kirche kann nicht anders zur Erſcheinung kommen, als in dem 
Organismus der hierarchiſch gegliederten Amter. 

Daher iſt das Amt ebenſo weſentlich göttliche Stiftung, wie 
die Kirche ſelbſt, denn es iſt als deren Form im Begriff der Kirche 
mitgeſetzt. 

Die Autorität und Legitimation des Amtes derivirt zwar 
formell und theoretiſch betrachtet von Chriſtus als dem Stifter und 
ideellen Subjekte der Kirche; materiell und in der Praris aber iſt 


4 Bol. die befannte Definition des Sylvester Prierias, welche ſich 
die römifche Kirche jeit 1870 völlig angeeignet Hat, wenn bie auch 
von Seiten mander katholiſcher Theologen in Abrede gezogen wird: 
„ecclesia universalis essentialiter est convocatio omnium credentium; 
virtualiter ecclesia romana et Pontifex maximus; ecclesia romana 
repraesentative est collegium cardinalium, virtualiter autem est 
pontifex maximus.“ 


158 Köſtlin 


das Subjekt des Amtes die Kirche, beziehungsweiſe der Organis⸗ 
mus der Hierarchie, beziehungsmweife deren Spige: der Papſt; der 
römische Geiftlihe ift im vollen und ausſchließlichen Sinne der 
Beamte des Papſtes als des legitimen Stellvertreterd und Teita- 
ments-Vollftreders Jeſu. Der Gehorfam gegen den Papft ijt Die 
Probe und der Erweis des Gehorfams gegen den Herrn jelbit: 
ein wirklicher Widerfpruch zwifchen dem Willen des Herrn und 
dem ſeines Statthalter® ift auf dem Boden der Tonjequenten 
fatholifchen Anſchauung ausgeſchloſſen, nicht denkbar: die Annahme 
der Möglichkeit eines weſentlichen Widerfprudß ift 
ſchon ein Beweis, daß der Boden des ftrengen Fatholifchen Kirchen: 
begriff3 bereits verlaffen ift: weil nad) demfelben die irdifche, 
hierarchifch-verfaßte Kirche in ihrer thatfächlichen Geftalt der von 
dem Herrn geſetzte Heildorganismus im abfoluten Sinne iſt, jo 
wäre ein MWiderfpruch zwifchen dem im Papſt (wenn er formell 
richtig de cathedra befchließt) zum Ausdrud kommenden Willen“ 
mit dem des Herrn ein MWiderfpruch des Herrn gegen fich jelbit, 
eine Abläugnung Seine eigenen Willens, was nicht denkbar ift. 
Daher muß die vatifanifche Kirche gegen Thatfachen der Geſchichte, 
wie fie der Biſchof Hefele 1870 Eonftatiert hat („Causa Honorii 
Papae. Neap. 1870) einfach die Augen verfchließen oder fie weg- 
erklären. 

Inhaltlich beiteht die Aufgabe des Amtes einerjeitd in der 
abfoluten Einigung des perſönlichen Wollens und Meinend mit 
dem der Kirche, d. h. des Papftes, andrerſeits in der Einglieder- 
ung der Einzelnen in die Kirche und Erhaltung der Einzelnen bei 
und innerhalb der Kirche. Der Einzelne ift fomit Gegenjtand des 
Amts, Objekt der amtlichen Thätigfeit, fofern er den Stoff zu 
bilden bat, auf welchen die Form, das hierardhifche Gefüge anzu: 
menden ift, alfo nicht ſowohl in feiner Eigenfhaft ala geſchloſſene 
Einzelperfönlichkeit, fondern nad) feiner Kirchenfähigfeit, als mög- 
licher Unterthan der Kirche, als eventuelle Glied derfelben. 

Daher fommt er in Betracht nicht blos nach feinen religiöjfen 
Bebürfniffen: vielmehr Handelt es ſich um die Eingliederung des 
Einzelnen in die Kirche nach allen feinen Verhältniffen, Beziehungen 
und Kräften; die dem Einzelnen zugemwandte cura animarum zielt 
auf die völlige Einigung feines Wollens und Streben mit dem 


Der Begriff des geiftlihen Amts. 159 


der Kirche, auf abjolute Unterwerfung in allen Beziehungen, oder 
die fatholifche Seelforge iſt weſentlich Seelenbeherrfhung im Auf⸗ 
trag und Dienft der Kirche, beziehungsweife der Hierarchie, um 
dur völlige Einigung der Einzelnen mit der Kirche dieſelben des 
Gnadenſchatzes teilhaftig zu machen, den die Kirche ausfpendet. 

Die Funktionen des dıudaoxeıv und des dıaxovew find Der 
Hauptfunftion des enıoxonsıv untergeordnet; diefe ift der Zweck, 
jene find nur Mittel; die Seelenleitung umfaßt den Einzelnen 
nah allen feinen Beziehungen, daher denn auch die großartige 
Entwidlung der auf fie hinwirkenden zielbewußten dıaxovın und 
Sıdaoxakıa (in Preſſe, Schule, Kirche.) 

Das Gefagte wird beftätigt durch das Studium der Fatho- 
liſchen Baftoraltheologie: diefe ift in letter Beziehung die Anweifung 
zu erfolgreicher, zielbewußter Führung und Verwertung des Kirchen: 
amts; fie ift Amtstechnik im vollen Sinne des Wortes, ihr deal 
die Kunft, alle Mittel und Funktionen des Amtes nicht allein 
itiftungsgemäß, korrekt und ebendamit wirkſam zu vollziehen, jondern 
im Dienfte der Seelenführung, der Werbung der Einzelnen für 
die Kirche, zu verwerten. Mit der völligen Eingliederung in den 
Organismus der Kirche ift das Ziel erreicht; ein über intenjive 
Kirhlichkeit hinaugliegendes, innerhalb der Kirche zu erjtrebendes 
ethifh-religiöfes Ideal und demnach eine Tieferführung der Ein- 
zelnen im ethifchen Sinn kann e8 nicht geben, meil da8 bei dem 
Einzelnen zu erreichende Ideal die intenfive Kirchlichkeit iſt und 
das Map diefer das Ma des Heils für den Einzelnen bedingt. 
Damit ftimmt ganz die Erfahrung überein, welche manche Kon- 
vertiten gemacht und ausgeſprochen haben, daß die auf ihre Perſon 
gerichtete intenfive Aufmerkfamfeit und Zuvorkommenheit des Firch- 
lichen Amtes von da an in auffallender Weife nachläßt, da ſie 
der Fatholifchen Kirche voll und ganz angehören, gleichlam Die 
Brüde hinter ſich abgebrochen haben. 

Die Gefhichte der Seeljorge innerhalb der Fatholifchen Kirche 
zeigt ferner, daß in den Zeiten, in welchen wie im früheren Mittel- 
alter die Omnipotenz der Kirche als der zureichenden und aus— 
ſchließlichen Heilsanftalt im Bemußtfein der Zeit abfolut feit fteht, 
das paftorale Thun fi) auf die forrefte Vollziehung und Hand: 
habung der regimentlichen und liturgifchen Funktionen und auf die 


160 Köſtlin 


Beherrſchung der Maſſen durch die regimentlichen und ſakramen⸗ 
talen Privilegien der Kirche befchränft.* 

In dem Maße jedoch, als diefe Omnipotenz gefährdet erfcheint, 
wie 3. B. in Zeiten der Härefie, richtet fich die paftorale Thätigfeit 
vom Kollektivum der Maffe fpeziell auf den Einzelnen, im Intereſſe 
der Kirche, mit dem Zweck, denfelben bei der Kirche zu erhalten. 
Sp übten die Mönche des Mittelalters, voran ein Bernhard 
von Glairveaur fpezielle und intenfive Seeljorge; aber meil das 
Heil ausfchlieglih an die Zugehörigkeit zur Tatholifchen Kirche 
gebunden erſchien, war auch hier die Seelforge d. h. die Sorge 
für das GSeelenheil des Einzelnen untergeordnet der Seelenbeherrfch- 
ung, beziehungsmweife hatte fie diefe zum Ziel. 

Den tiefiten Einfhnitt auch im Leben der römifchen Kirche 
machte die Reformation. Sie rüttelte die ihrer Omnipotenz allzu 
fiher gewordene Hierarchie aus dem Gefühl der Sicherheit auf: 
die Thatfache der Sezeffion bewies, daß die Funktionen des Amtes 
an fich nicht zureichende Mittel der Seelenleitung feien, wenn fie 
nicht getragen find von Perfönlichkeiten, welche fie zielbewußt ver: 
menden und fo wirklich der Kirche dienftbar machen, da fie fonft 
als rein mechanische Urfachen wirken. Damit war die Forderung 
gegeben, daß die Amtöträger der Kirche das wirklich werden müßten, 
was fie dem Begriff der Kirche nach fein follten, nicht bloß Reprä- 
jentanten der Amtsgewalt, fondern die Altualität der Kirche, die 
lebendige, bewußte Kraft, melche das Amt befeelt, die in dieſem 
liegende Kraft zur causa efficiens macht, welche die Kirche dem 
Perfonenbeitand nach erzeugt und erhält. Die Perjönlichkeit des 
Amtsträgerd gewinnt erhöhte Bedeutung, die Frage der Ausbild- 
ung der Geiftlichen lenkt die größte Aufmerkfamteit auf fi, die 
PVaftoraltheologie nimmt im 17. Jahrhundert in Frankreich, im 
18. in Deutfchland neuen Aufſchwung und e8 weht ein warmer, 
idealer Hauch aus vielen der betreffenden Schriften. Allein Ton- 
fequenterwetfe konnte das Biel fein andres fein, als die Erziehung 

1 Wie denn in folchen Zeiten auch die Paſtoral herabfinkt zur 
Lehre vom geiftlichen Handwerk, zur bloßen Lehre vom richtigen Voll- 
zug der Amtshandlungen vgl. die Synodica ad Presbyteros de& 
Ratherius Veron. (} 974), den Mikrologus de ecclesiasticis obser- 
vationibus des Ivo de Chartres (} 1125) u. a. 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 161 


der Geiltlihen zu Organen der Kirche im vollen und abfoluten 
Sinn, die völlige Einigung ihres Bewußtſeins mit dem der Kirche, 
die völlige Fdentifizierung des eigenen Lebenszwecks mit dem der 
Kirhe. Wie mächtig auch der Zauber tft, den 3. B. ein Sailer 
als Paftoraltheologe ausübt, wie anerfennenswert es ift, daß er 
den Seelforgern als Hirten-Ideal den Herrn felbft vor die Seele 
jtellt, fo darf man nicht vergeffen, daß auch bei ihm die ethifche 
Aufgabe, Chriftum abzubilden, der Firchlichen untergeordnet ift, die 
Vollkommenheit der Berfon und des Wandels in letter Beziehung nur 
als Mittel erfcheint, um die Seelen anzuziehen, für den Dienjt und 
das Intereſſe der Kirche zu gewinnen, zu führen — daß alfo bei aller 
Idealität und Reinheit der Auffaffung auch ein Sailer das Niveau 
der katholiſchen Paſtoral nicht überragt, nach welcher das Ziel und 
die Aufgabe der Seeljorge die Erziehung zur Kirche, der leitende 
Gedanke der Paſtoral die Ehre der Kirche ift. So hoch bedeutend 
die paftoral-theologifchen Leiftungen der neueren und neueſten Zeit 
jind, jo beweifen fie nur, daß das Amt der fatholifchen Kirche 
jeinem Weſen nah Dienft der Hierarchie, Dienft der fichtbaren 
Kirche im ausschließlichen Sinne ift; und dies kann nicht anders fein, 
da die Kirche für den Katholizismus das gegenwärtige Gottesreich iſt. 


* 


Die Reformatoren t find nicht darauf ausgegangen, eine neue 
Kirche der bisher zu Hecht beitehenden, die Heilögnade verwalten: 
den und ausfpendenden Kirche gegenüberzuitellen, d. h. vom Stand: 
punkt aus, auf dem ſie ftanden, geredet, eine Sekte zu bilden. 
Innerhalb der gefchichtlich gewordenen abendländifchen Kirche, auf 
dem Boden der gemeinfamen Heilserfahrung der chriftlichen Gefell- 
ſchaft verharrend, wollten fie nur die Kirche auf ihre Weſens— 
grundlage zurüdführen, um fie zu ihrem eigentlichen Zmwede, dem 
Heil des Einzelnen, ins richtige Verhältnis zu bringen unter dem 
beitimmenden und leitenden Gefichtspunft der perfönlichen Heils- 
erfahrung. 


% gl. hierüber die vortreffliche Ausführung von A. Ritfhl „Die 
Entftehung der lutherifchen Kirche” in der Zeitſchrift für Kirchengeſchichte 
von Brieger I. ©. 51. Ebenfo Julius Köftlin, Luther Lehre von der 
Kirche. Stuttgart 1853. 

Theol. Etubien a. W. VI. Jahrg. 11 


162 Köſtlin 


Nach der katholiſchen Anſchauung war das Heil des Ein— 
zelnen das Produkt der Kirche als ſolcher im vollen und aus— 
ſchließlichen Sinn und daher qualitativ wie quantitativ identiſch 
mit dem Vollbeſitz und Vollgenuß der von der Kirche verwalteten 
Gnadengüter. Luthers perſönliche Heilserfahrung hatte zum Mittel- 
punft die Thatfache, daß einmal der VBollbefit und VBollgenuß der 
kirchlichen Rechte und Gnaden nicht identifch ſei, ſich nicht 
dee mit dem Vollbeſitz des Heils, den erjehnten Frieden mit 
Gott nicht gewähre, ſodann, daß eben dieſes wirkliche Heil nicht 
das Produkt der Kirche als jolcher, des regimentlichen, ſakramen— 
talen, gliedlich verfaßten, Organismus fei, vielmehr des letzteren 
Kraft verfage an dem Punkt, wo die Schreden des Gewiſſens 
beginnen und die Seele anfängt nad) Gott zu fchreien; daß viel- 
mehr das Heil beitehe in der perfönlich ergriffenen Gewißheit der 
Bergebung der Sünden, die Urſache des Heils einzig und allein 
die durch Chrijtus vollbrachte Erlöfung, ſubjektiv der dieſe anneh— 
mende und aufnehmende Glaube fet. 

Damit ift ſchon ausgefprochen, daß die Kirche als foldhe nur 
noch im beſchränkten Sinne als Heilmittel gefaßt werden Fann, 
da die causa efficiens des Heils im vollen Sinne der perjönliche 
Chriftus iſt; zugleich ergibt fich, daß die Zugehörigkeit zur Kirche, 
zur gliedlichen Organifation der chriftlichen Geſellſchaft nicht ſowohl 
causa als bloße conditio sine qua non des Heils fein Fann. 
Wenn ſchon die Wirkſamkeit und Heilsfraft der von Chriſto felbit 
geftifteten Saframente nicht in ihnen felbjt liegt, in dem forreften 
Bollzug, fondern im perfönlichen Wort Chrifti; wenn alſo ſchon 
fie nur durch und mit Chrijti Wort wirken, niemals ex opere 
operato, jo fann auch der gliedlichen Organifation nur die Bedeutz: 
ung eines Mittels zufommen, um den geordneten Vollzug der 
Saframente in Verbindung mit Chrifti Wort zu ermöglichen und 
zu garantieren. 

Fällt der Beſitz des Heils nicht mit dem Beſitz der kirchlichen 
Rechte zufammen, ift die Kirche ala gliedliche Drganifation nur 
die Vermittlerin der eigentlichen, das Heil bringenden und ver- 
ftegelnden Gnadenmittel, fo kann auch der Perfonenbeitand der 
Kirche nicht zufammenfallen mit den wahrhaft Erlöften, die nicht 
blos, fofern fie zur Kirche gehören, unter dem heiligenden und 


Der Begriff des geiftlihen Amts. 163 


heilfchaffenden Einfluß von Wort und Saframenten ftehen, fondern 
im lebendigen Glauben Ehrijtum in fich aufgenommen haben als 
ihr Lebensprinzip und Lebensideal; oder es ift zu unterjcheiden 


zwifchen folchen, die nur zur Kirche als der gliedlich organifierten 


chriftlihen Gemeinfchaft gehören, und foldden, welche innerhalb 
derjelben das Heil mwirflih gefunden haben und im PBerfonleben 
bethätigen und auswirken.“ 

Hieraus ergiebt fich denn, daß die geſellſchaftlich organifierte 
Kirche, der hierarchifch gegliederte Organismus weder causa efficiens 
des Heils tft, noch mit der Gemeinschaft der wahren Chriften zu— 
jammenfällt dem Umfang nah, weder die volle Auswirkung des 
Chriftentums, noch die adäquate Verwirklichung der Stiftung Jeſu 
darftellt, fondern nur das Gebiet, innerhalb defjen das Heil zu 
finden tft, und die Organifation, welche dad Heil vermittelt. 

Die erfte Formulierung des neuen, durch die Heilderfahrung 
des Einzelnen bedingten Bemußtfeind von der Kirche liegt befannt- 
lich im fiebenten und achten Artikel der augustana vor. 

Die Frage, auf melde diefe beiden Artikel Antwort geben 
wollen, war nicht die: „wie unterfcheidet fich die wahre Kirche 
von der falſchen?“ fondern: „was an und in der Kirche tft das 
Heilwirkende, Heilfchaffende, alſo Wefentliche ?* ? 

— (Schluß folgt.) 

1Die Behauptung, die katholiſche Kirchenlehre und die evange— 
liſche unterſcheiden ſich weſentlich dadurch, daß die erſtere nur eine 
sanctitas im objektiven, die letztere dagegen eine ſolche im ſubjektiven 
Sinne anſtrebe, iſt ſchief, denn ſie ſetzt für die katholiſche und für 
die evangeliſche sanctitas ein und dasſelbe yeros voraus und ſucht den 
Unterjchied nur in der verjchiedenen Stellung des Subjekts zu der 
gemeinfamen Norm. Allein die Verfchiedenheit liegt vielmehr im 
Objekt, in der Art der Norm: der Katholif ift Heilig im fubjektiven 
Sinn, wenn er das Heiligfeitögefeß der Kirche ald Lebensnorm in ſich 
aufgenommen hat, der evangeliſche Chrijt nur, wenn er Chriſtum in 
fi Geftalt gewinnen läßt, oder die fatholifhe und die evangelijche 
sanctitas unterfcheiden fich dadurch, daß jene ein Geſetz (der Kirche), 
diefe ein perſönliches Ideal zur Norm hat. 

2 Nicht um den Gegenſatz zwijchen wahrer und falfcher Kirche 
handelt e3 fich, fondern um die Frage nad) der wahren und faljchen 
Katholizität, um die Frage: ob die hierarchiſche Verfaffung die Firchen- 
geſellſchaftliche Organifation das Heil bedinge, oder nicht, ob diejeni- 
gen, welche die erjtere zum bloßen Mittel herabjegen, den gemein- 

11* 


d 


164 Köftlin, Der Begriff des geiftlihen Amts. 


famen Boden der Kirche verlaffen oder nicht. Die Evangelifchen 
wollten dem Vorwurf der Härefe oder Secessio entgehen durch dert 
Nachweis, daß die gliedlihe Organifation nicht das Heil weſentlich 
bedinge, fomit nicht zu den Weſensmerkmalen der Kirche, fofern unter: 
diefer die dag Heil vermittelnde Gemeinſchaft verftanden wird, die 
Heildanftalt, geböre, die Außeinandergehen bezüglich der regiment- 
lihen und fatramentalen Organifation feine wirkliche Kirhentrennung 
begründe, die Evangelifhen alſo, indem fie die Fatholifche Hierarchie 
anfochten, damit nicht das Wefen der Kirche antaften. Das war 1530 
die Lebensfrage für die Evangelifchen, ob fie dadurch, daß fie den 
perjönlichen Heilsbefit von der Hierarchie loslöſten, die Rechtfertigung 
und Verſöhnung von der gliedlihen Organifation unabhängig madten, 
Ketzer oder Schismatiker de jure würden. 

Sreilih, erklärten die kirchlichen Oberen die gefchichtlich gewor⸗ 
dene gliedliche Organiſation mit ausdrücklicher Beſtimmtheit für die 
Weſensgrundlage und notwendige Exiſtenzbedingung der Kirche, jo 
machten fie ebendamit das perjünliche Heil abhängig von der menſch— 
(ihen Vermittlung, jegten an die Stelle Chriſti — nicht mehr aus 
Irrtum, fondern mit dem Bewußtfein der Konſequenz — die Kirche, oder 
die Hierarhie — und dann hörte die fatholifche Kirche für das Bewußt— 
jein der Evangelifhen auf, die wahre Kirche zu fein; dann, aber auch 
dann erjt ftanden die Evangelifchen vor der Frage — nicht fowohl noch 
einer neuen Kirchenbildung — fondern der Sicherung der aus der 
Recht3einheit und Kirchengemeinjchaft der römifch = fatholifhen Kirche 
ausgefchiedenen wahren Kirhe in ihrem Beharren auf dem wahren 
Weſensgrunde; dann erft entftand die Frage, ob es überhaupt ein 
äubered Merkmal und welches (Merkmal) es gebe, durch welches die fo 
gewordene Kirche als die wahre, auf dem rechten Wefendgrund ftehende 
jich augweifen könne. Die Meinung der Begriffsbeftimmung der Augu— 
itana wird, wie Ritſchl mit Recht betont, nur richtig erfaßt, wenn man 
diefe Beftimmungen verfteht im Gegenfag zur Anjhauung des Katho- 
lizismus, welcher die Kirche identifiziert mit der externa politia, mit 
dem Gefüge der Hierarchie, der societas externarum rerum ac rituum, 
der äußeren, auf bejtimmte Weije verfaßten kirchlichen Recht3gemein- 
ihaft; fie wollen genommen fein (Ritfhl a. a. O. 65) nicht al? er- 
ihöpfender oder auch unmittelbar praftifcher Begriff der Kirche, jondern 
als Fritifher Kanon zur Beurteilung der empirischen Kirche, ſpeziell 
zur Unterfheidung des Wefentlihen und des Unweſentlichen in der 
Erfcheinung der Kirche, der Wejensfundamente und der Zufälligfeiten 
der irdifchen Eriftenz, der Dafeindbedingungen und der tranfitorifhen 
Dafeindform. Die Frage, ob es eine irdiſche Kirchengemeinfchaft gebe, 
auf welche die Beftimmungen volle Anwendung fänden, war noch gar 
nicht gejtellt, die Frage gar, ob dies „die evangeliſch-lutheriſche Kirhe* 
jei, war gar nit in Sicht, noch nicht im Bereich der Möglichkeit. 


Drudfehier- Berichtigung in Jahrg. 1885, 1. Heft: 
©. 76 3. 2 fchreibe Me, ftatt Mt. — S. 77 3. 9 fohreibe geneigt ftatt gewiß. 
©. 77 8. 14 ſchreibe vierte flatt britte. 


Buchbruderei von Greiner & Ungeheuer in &ubmwigäburg. 


Ber Begriff des geiftlihen Amts. 
Bon Dr. Seinrih Adolf Köflfin in Friedberg. 


(Bortjegung.) 

Das Neue, Entſcheidende und Durchſchlagende in der evan- 
geliihen Anfchauung von dem MWefen der Kirche liegt in der 
Unterfcheidung der ecclesia proprie dieta und der ecclesia late 
dieta, in der Ausfcheidung und Firterung deſſen innerhalb der 
kirchlich gegliederten chriftlihen Gefellfchaft, was das Weſens— 
fundament für das Heil bildet, diefes bedingt und erzeugt, und 
in der Zufammenfafjung derjenigen zum Begriff der Kirche, welche 
im Beſitz des Heils find im Unterfchied von denjenigen, welche 
nur unter der Wirkſamkeit, im Bereih von Wort und Saframent 
jtehen, alfo in der fcharfen Unterfcheidung der Kirche, jofern fie 
eine äußerlich erfennbare, geſellſchaftlich organifierte menfchliche 
Gemeinſchaftsform bildet, und der Kirche, fofern fie Heilsanftalt ift. 
Die eritere ift die Dafeinsfphäre, wenn wir fo jagen dürfen, der 
geometriſche Drt für die letztere. Wefentlih an ihr und in 
ihr ift nur das, was wirklich zur Erzeugung des Heild notwendig 
it, alſo Wort und Sakramente; die gejellichaftlihe Form, die 
gliedliche Verfaſſung, die anftaltliche Organifation iſt für das Heil 
mwefentlih nur in der bejtimmten Beziehung auf dieſe Weſens— 
funktionen, fofern ſie diefelben in ihrer Thätigfeit ſtützt und garan— 
tiert; im übrigen aber fommt ihr nur transitoriſche Bedeutung 
zu, fie iſt nur die Vorausfegung für die gefchichtliche Exiſtenz der 
Kirche als einer menſchlichen Geſellſchaftsform.“ 


1 Dies iſt der Sinn der Unterſcheidung, die ſich nicht mit der 
jpäteren Unterfcheidung der filhtbaren und der unfichtbaren Kirche dedt ; 
auch die ecclesia proprie dieta iſt fichtbar, aber nur nah ihrem 





166 Köftlin 


Hienach beitimmt ſich der Begriff des Amts! 

Auf katholiſcher Seite ift das Amt als die Hierarchie Die 
wejentliche Eriftenzform, die Lebensfunftion der Kirche. Auf 
evangelifcher Seite it die Lebensfunktion der Kirche die Heils— 
verfündigung im Wort und die Hetläverfiegelung in den Sakra— 
menten; wejentlic für die Kirche ift damit derjenige Dienſt, die: 
jenige Einrichtung, welche diefe Lebensfunktion in Wirkfamteit fest; 
weſentlich für die Kirche ift alfo, daß überhaupt ein ministerium 
docendi evangelium et porrigendi sacramenta fei — in welcher 
Form, unter und in welcher gefellfchaftlichen Organifation, Dies 
iſt Sache der glievlichen Verfaſſung, weſentlich nur in der beſtimm— 
ten Beziehung auf den Zwed, um defjentwillen es da ift, auf das 
docere evangelium und porrigere sacramenta. Göttliche Ordnung 
und Stiftung ift alfo der Zwed, die Aufgabe des geiftlihen Amts, 
nicht aber die hierardhifche Gegenüberftellung von Amt und Gemeinde; 
göttliche Anftitution ift der Dienft an Wort und Saframent; das 
beftimmte Kirchenamt aber, die Beftellung zu diefem Dienfte und 
defjen Form ift zwar jenem Zwecke ſchlechthin untergeorbnet, im 
Übrigen aber Sache der glieblichen Organifation; oder „eingejtiftet“ 
tft der Kirche der Auftrag des docere ev. und porrig. saer., nicht aber 


Weſensgrund, nicht nad ihren Perfonenbeftand; der Gefichtöpunft der 
Heilgerfahrung war es, der mit Notwendigkeit darauf führte, dag, was 
in und an der Kirche da8 Heil bedingt, das, was für diefes mehr 
oder weniger als Urſache anzufehen ift, von dem zu trennen, was für 
das Heil nicht beftimmend, nicht indifferent zwar, aber auch nicht we— 
jentlih ift. Die ecclesia proprie dicta verhält fich alfo zur ecclesia 
late dieta nicht etwa wie Idee und Erjcheinung, Begriff und Da- 
fein — vielmehr bezeichnen beide die fichtbare, reale irdijche Kirche, 
da3 Einemal jofern fie unter dem Gefichtspunft der das Heil beding- 
enden Heildanftalt (Kaufalitätsverhältnis für das Heil) aufgefaßt wird, 
das anderemal jofern fie den Bereich, die gefchichtliche Dafeinsfphäre 
der erjteren bezeichnet und die für dieſe Eriftenz notwendige Organi- 
fation der Geſellſchaft darftellt. 

t August. 5. De ministerio ecclesiastico: „Ut hanc fidem con- 
sequamur, institutum est ministerium docendi evangelii et porri- 
gendi sacramenta. 

Nam per verbum et sacramenta tanquam per instrumenta 
donatur spiritus sanctus, qui fidem efficit, ubi et quando visum 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 167 


das Amt als Privileg zur Ausübung beitimmter Funktionen oder 
das Amt als Grundlage zu einer Sonderitellung gegenüber von 
der Gemeinde. Daher giebt es Feine bejondere Amtsgnade im 
faframentalen Sinne: die Gnade, die dad Amt begleitet, ruht 
nicht in der Snftitution,! fondern in dem, was das Amt dar: 
reicht, den Onadenmitteln; an und im Amt ift göttlich nicht das 
ministerium, jondern evang. und sacram. oder das Amt ijt heilig 
nicht an fih und um feiner ſelbſt willen, fondern durch das, was 
ed treibt, feine Aufgabe, feinen Zweck. 

Daraus folgt für den Amtöträger, daß allen Funktionen als der 
oberite Gejichtspunft und als die leitende Norm ſchlechthin übergeordnet 
iſt ministerium docendi evangelium et porrigendi sacramenta. In 
diefem Dienft hat er feinen anderen Auftraggeber und Herrn an- 


est Deo, in iis, qui audiunt evangelium scilicet, quod Deus non 
propter nostra merita sed propter Christum justificat nos, qui cre- 
dunt se propter Christum in gratiam recipi.“ 

Die unmittelbare Verknüpfung des Art. 5 mit dem Urt. 4: de 
justificatione dur die Worte „Ut hanc fidem consequamur“ zeigt, 
daß als der eigentliche Zweck der institutio des ministerium die Ver— 
wirflihung des Heild in der einzelnen Perſon, beziehungsweiſe die 
Applikation der das Heil vermittelnden Funktionen (verbum, sacra- 
menta) auf die Einzelnen gedacht tft, fjomit das „Amt“ um der Men- 
fchen, nicht diefe um des Amts willen da find. 

: Damit ift jede mittlerifche Bedeutung des Amts in Fatholifiren- 
dem Sinne prinzipiell ausgefhlojieen. Organe der heilwirkenden 
Gnade find nur verbum und sacramenta, Subjekt derfelben ift Gott, 
(nam per verbum et sacramenta tanquam per instrumenta donatur 
spiritus s., qui fidem efficit, ubi et quando visum est deo. etc.) 
Das „Amt' iſt nicht mitgefegt im Begriff der Kirche am fich, tft nicht 
Weſensmerkmal desjelben, fondern bedingt durd die irdifche Exiſtenz 
und Erſcheinungsweiſe der Kirche, eine für die Kirche infofern not- 
wendige Einrichtung, und darum von Gott geordnet, als die Kirche 
auf Erden in menſchlicher Geſellſchaftsform erijtieren muß, als es zu 
ihrem Begriff gehört, einen gliedlich verfaßten Organismus zu bilden; 
es ift nicht ſakramentales Privileg, fondern das göttlich geordnete 
Bindeglied zwifchen den Wefensfunktionen, dem Weſensgrund der Kirche 
und ihrer gejellichaftlihen Eriftenzform, nicht Form und Bedingung 
ihres Dafeins, jondern ordnendes Prinzip ihrer Thätigleit auf Erben, 
und eben darum nicht überflüfiig. 


168 Köftlin 


zuerfennen, als den Herrn der Kirche felbjt, der das ministerium 
nur um diefer Aufgabe willen angeordnet hat. Was aber mit 
diefer Gentralaufgabe, diefem oberiten und ſchlechthin maßgebenden 
Zwede des Amts, dem göttlichen Auftrag desfelben, nicht in direkter 
Beziehung fteht, wie Die rechtliche und foziale Stellung des Amts, 
gehört nur indireft zu defien Weſen, fo daß eine von diefer oder 
jener Seite fommende gewaltfame oder auf gejegmäßigem Weg 
entftandene Änderung der rechtlichen und fozialen Verhältnifje des 
Amtes nur dann zum Aufgeben desfelben nötigt, wenn durch dieſe 
Anderung die göttliche Aufgabe alteriert, die göttliche Inftitution 
durch die menjchliche Organifation gebunden wird. 

St Gott für das Amt, fofern es im angegebenen Sinn gött: 
lihe Ordnung ift, alfo bezüglich der Ausübung der Weſensfunk— 
tionen der Kirche, der oberfte, alleinige und ausſchließliche Auf: 
traggeber und Herr, dem der Amtöträger bezüglid der Ausführ- 
ung des an dad Amt gebundenen göttlichen Auftrags allein ver: 
antwortli it, jomit das eigentlihe Subjekt des Amtes im juri- 
diſchen Sinne, fo ift Gott das Subjeft des Amtes aud) de facto: 
was durch das ministerium, beziehungsmeife die von demfelben 
verwalteten Gnadenmittel gewirkt wird, das ift nicht Produkt des 
Amtes, fondern Gottes felbjt (spiritus s. effieit fidem, ubi et 
quando visum est Deo); auch in diefer Beziehung erfcheint der 
Amtsträger nicht als Gottes Bevollmädtigter oder Sachwalter, 
auch nicht als der privilegierte Träger einer bejonderen Gnade, 
oder als das privilegierte Organ göttlicher Heilswirkſamkeit, ſon— 
dern als der jchlichte Diener des Herrn, der dur treue und 
gewiſſenhafte Verwaltung der feiner Thätigfeit anvertrauten Gnaden- 
mittel der Einwirkung des Herrn Bahn bereitet. 

Oder: die Aufgabe des Amtes ift: docere evangelium und 
recte administrare (porrigere) sacramenta, mit dem Zwecke, daß 
die Kirchengenoſſen den rechtfertigenden Glauben gewinnen („ut 
hanc fidem eonsequamur*) und damit die Seligfeit erlangen. In 
diefer Überordnung des Heils der Einzelnen als des letzten Zweckes, 
um dejjentwillen daS ministerium von Gott institutum est, liegt 
far ausgefproden, daß die Aufgabe des Amts nicht aufgeht im 
Kultusdienft, in der gewiſſenhaften Vollziehung der dem Amte als 
ſolchem obliegenden Handlungen (Predigt und Sakramentſpendung) 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 169 


ex opere operato oder in der eifrigen Sorge, daß Wort und 
Saframent überhaupt im Schwang gehen; ift in Art. 5 das durch 
Wort und Saframent zu bemirfende Heil des Einzelnen (die recht: 
fertigende fides) das oberite Ziel, jo muß ala die eigentliche und 
oberite Aufgabe des Amts bezeichnet werden die Seelforge. 
Aber diefe Seelforge it ald amtliche Seelforge zu ver: 
jtehen: ihr Ziel iſt das Seelenheil der dem Amt Befohlenen, ihre 
Mittel find die des Amts, ihrer Methode nad ijt fie Hinleitung 
und Erziehung zum gefegneten Gebrauch der Gnadenmittel. Sie 
bedingt die rechte Teilung des Worts, das forgfame und liebe: 
volle Eingehen auf die Bedürfniffe der Gemeinde und der Ein— 
zelnen; aber diefe Einwirkung auf einzelne Zustände und Bebürf- 
nifjfe will die Einzelnen unter den Bereich der Wirkſamkeit des 
Herrn in Wort und Saframent bringen; fie will nicht das Heil 
ſchaffen, jondern zu den Quellen und Vehikeln des Heils hin- 
führen; fie will nicht Gottes Wirkſamkeit in Wort und Sakra— 
menten ergänzen oder gar forrigieren, fondern die menfchlichen 
Herzen diefer Wirkſamkeit öffnen. Denn der alleinige Urheber 
des Heild bleibt Gott und die ausschließlichen! Mittelurfachen 
diefer göttlichen Heilswirkung bleiben die Gnadenmittel, der Geift- 
liche fann und darf nicht dazu noch davon thun, er darf nicht 
den Schein erweden, als bebürfte die objektive Heilskraft der 
Gnadenmittel einer Ergänzung von feiner Seite; er kann nur, ins: 
befondere durch die applicatio des Morts und durch die Vor: 
bereitung zum hl. Abendmahl (Beichte) die Hinderniffe zu befeiti- 
gen fuchen, welche den gejegneten Gebrauch der Gnadenmittel 
hindern; er gleicht dem Gärtner, der dafür zu forgen hat, daß 
jede Pflanze Licht und Wärme, Sonnenjchein und Regen erhalte, 
und daß ſchädliche Einflüffe ferne gehalten oder neutralifiert wer: 
den. Das Wachstum felbit ift Gottes Sache und Werk: da mit 
täppifcher Hand dreinfahren heißt Gott ind Werk greifen? Ma— 


i Damnant Anabaptistas et alios qui sentiunt, spiritum sanc- 
tum contingere sine verbo externo hominibus per ipsorum prae- 
parationes et opera. 

2? Darin liegt der weſentliche Unterſchied der evangelijch-lutheri- 
ſchen Seelforge von der methodiftiichen! 


2NR2 


— al — 





170 Köſtlin 


chen kann und ſoll der Seelſorger das Heil nicht wollen — hat 
er treulich geſorgt, daß jedem in der Gemeinde Wort und Sakra— 
mente nahegekommen ſind, ſo iſt alles Weitere des Einzelnen und 
Gottes Sache: der thatſächliche Mißerfolg kann nicht ihm, 
dem Seelſorger, auf's Gewiſſen gelegt werden, in dieſem Sinne 
iſt er nicht verantwortlich für das Seelenheil des Einzelnen in 
der Gemeinde, er iſt es nur ſo weit, als ſein Amt reicht, alſo 
nur ſo weit, als die Urſache des Mißerfolges in einem Verſäum— 
nis von ſeiner Seite liegt. 

In dieſem Sinne der treuen und gewiſſenhaften Verwaltung 
der Gnadenmittel in und außerhalb des Gottesdienſtes, der weiſen 
und von der Liebe Chriſti beſeelten Individualiſierung der Gnaden— 
verfündigung haben die Reformatoren nicht bloß ſelbſt Seelforge 
getrieben, fondern den Predigern auf’ Gewiſſen gelegt, wie ja 
die meisten Kirchenordnungen die Seelforge am Krankenbett wie: 
derholt einfchärfen. 

Bringt das Reformationgzeitalter auch Feine eigentliche Pa— 
itoraltheologie, fo bieten die Schriften der Reformatoren eine Fülle 
von Winfen und Fingerzeigen, von Weisheit und Erfahrung. Iſt's 
doch die herzliche Sorge um das Heil des gemeinen Mannes — 
was fchließlich die Triebfeder der Reformation bildet. So fteht 
vor allem Luther? jelbit, der Seelforger des deutfchen Volkes, vor 
un? ald das Mujterbild eines wahrhaft evangelifchen Seeljorgers. 


Eine entfcheidvende Wendung in dem Bemwußtfein der Evange— 
lifchen von der Kirche trat nach 1530, nad) erfolgter Konftituirung 
zur evangelifchen Kirche ein.? 

Denn die Thatfache der endgültigen Ausfcheidung der Evan: 
gelifhen aus der Fatholifhen Kirche und ihrer Konftituirung zu 
einer dem Gebiet und dem Recht nad abgegrenzten felbitändigen 


i Porta, Postorale Lutheri. Eisleben 1562. Nördlingen 1842, 
Bucer, De vera animarum cura etc. 


2 Ritſchl, a. a. O. ©. 85: „Die Ereignifje der Jahre 1537—1540 


find entfcheidend für die Feſtſtellung des kirchlichen Selbitgefühls der 
Reformatoren.“ 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 171 


Belenntnisfirhe nötigte die Evangelifchen dazu, einerfeits nad): 
zumweifen, daß die von ihnen fonftituirte Kirche (gliedlich organi- 
fterte Kirchen-Gemeinſchaft) dem von ihnen in der augustana, Art. 
7 und 8 aufgeſtellten Kanon entipreche, andererfeit3 Borforge zu 
treffen, daß die Grundlage diefer ihrer Kirche ficher geftellt, das 
Fundament, auf welches fie die Kirche wieder zurüdgeführt hatten, 
rein erhalten werde. 

Die Kirche war nach dem evangelifchen Bemußtfein und unter 
dem entſcheidenden Geſichtspunkt der Heilserfahrung die auf dem 
von dem Herrn felbjt gelegten Grunde fich erbauende, von dem 
Herrn Jeſu ſelbſt als dem unfichtbaren Haupte regierte Gemein- 
Ihaft der Gläubigen, die an und für ſich zu ihrer Realität und 
Einheit der mittlerifhen Hierarchie oder irgend einer beftimmten 
menfchlichen Rechtsordnung fo wenig bedurfte, wie der Einzelne 
zur Gemißheit feines Heils, vielmehr beides, ihr Wejensfundament 
und ihr Einheitsband in der Gnadenverfündigung des Evange- 
liums und in der Heildzueignung dur die Saframente als den 
gottgeordnneten Organen der Einwirkung Jeſu beſaß, während der 
äußere, gliedliche Organifation nur transitorifche Bedeutung bei- 
gemeſſen wurde. 

E3 war aljo nachzumeifen, daß die evangelifche Kirche auf 
diefe8 und fein andres MWefensfundament fi gründe; daß fie, 
indem fie von der mittlerifchen Priefterfchaft der fatholifchen Kirche 
fih emanzipiere, auf den alleinigen Grund der Kirche zurückkehre. 

Nun Eonftituirte fie ſich thatfählih auf dem Grunde des 
augsburgifchen Bekenntniſſes, welches den Ausdrud der gemein- 
famen Glaubensüberzeugung der Evangelifchen darftellte, und ganz 
naturgemäß die gefchichtlihe Borausfegung und Grundlage der 
rechtlichen Konftituirung bildete, da es ja den gemeinfamen Boden 
bezeichnete, auf welchem Alle, zumal in ihrem Gegenfat gegen 
Rom fich zufammengefunden und geeinigt hatten. 

Um aber jich ſelbſt darüber zu verftändigen und nad außen 
Harzuftellen, daß die Konitituirung der Kirche auf Grund der 
augustana nur die praftifche Anwendung des in der augustana 
aufgeftellten Kirchenbegriff3 ſei, die evangelifche Kirche alfo, indem 
fie fi) als Kirche Eonftituire, nicht eine Sekte bilde, ſondern die 
wahre Kirche im Gegenfat zur gefälfchten darftelle, mußte nad): 


172 Köſtlin 


gewieſen werden, daß die thatſächliche Rechtsgrundlage der evange— 
liſchen Kirche identiſch ſei mit dem, was als die Weſensgrundlage 
der Kirche beſtimmt worden war d. h. 

1. daß dieſe Rechtsgrundlage der äußeren Kirchengemeinſchaft 
als Weſensfundament der Kirche und damit des Heils nichts 
andres ſetze, als evangelium und sacramenta, nichts andres un- 
vermerkt als Heilsbedingung und Heilsvehikel zwiſchen Chriſtus 
und feine Gläubigen einſchiebe, daß ſomit die einzelnen Aufitell- 
ungen und Glaubensfäge der Grundanfchauung von Jeſu Chrifto 
ala dem alleinigen, ausfchließlichen und direften Grund des Heild 
nicht nur nicht widersprechen, fondern deren folgerichtiger Ausdrud 
feien, fomit durch diefe Sätze nicht neben oder wider oder 
über dad Wort und die Saframente gejegt werde als Bedingung 
des Heils und der Zugehörigkeit zur Kirche; diefer negative, 
apologetifche Beweis war zu begründen und zu führen dadurch, 
daß man 

2. die Summe der in der augustana vorgetragenen Sätze als 
Ihriftgemäß nachmwies, nicht ſowohl in der Abſicht, fte als den 
erjhöpfenden Ausdrud der Schriftlehre (Schrifttheologie) über: 
haupt aufzuzeigen, als vielmehr mit der Tendenz, fie ala genuine 
Schriftlehre zu erweiſen, als Säbe, welde die Meinung der 
Schrift (fpeziell des Evangeliums) in Bezug auf die wefent: 
lihen Bedingungen des Heild lauter und ungefälſcht 
zur Geltung bringen, das evangelium (die Gnabenverfündig- 
ung, die Heilslehre, die Rechtfertigung aus Gnaden allein, den 
evangeliihen Heilsweg) pure, reete docent (mit Ausſchluß 
aller menſchlichen Berdienfte und Heilsvermittlung). 

Indem man nachwies, daß die Formulierung der Glaubens: 
überzeugung in der augustana nad) Tendenz und Inhalt die genuine 
doctrina evangelii fein wolle und fei, rechtfertigte man es, daß 
die thatjächlihe Grundlage der Einigung zur Rechtsgrundlage der 
Belenntniäfirche erhoben wurde, und unwillkürlich interpretierte 
man das „reete“ inhaltlich = im Sinn und Geift, nad} der Tendenz 
und dem Lehrtypus der augustana, nicht in der Meinung, den 
formulierten Ausdrud der jchriftgemäßen Heilälehre über dieſe 
jelbjt und ihre unmittelbare Urkunde zu ftellen, fondern in Der 
fichern Überzeugung, daß man in der augustana den lauteren 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 173 


Ausdrud der evangelifhen Heilslehre befite, daß alfo die Rechts— 
grundlage der äußeren Belenntnisficche weſentlich übereinjtimme 
nah Tendenz und Inhalt mit der MWefensgrundlage der Kirche, 
dab das Rechtsinſtrument, auf dem man jich geeinigt hatte, nichts 
anderes fei, als die ausdrüdliche Faflung des Weſensfundaments, 
deſſen Bloslegung und Reinigung von aller Zuthat, die formelle 
Garantie dafür, daß nicht? andres an feine Stelle ſolle gejeßt 
werden; das Mefensfundament aber war und blieb im Bewußt— 
fein der Neformatoren das lebendige Gotteswort, im Sinne der 
Neformatoren das in die heilige Schrift bejchloffene in Chrifti 
Perſon und Wort fonzentrierte Heildwort, die Verkündigung der 
in Chrifto erjchienenen Gnade, nicht die menſchliche Formulierung 
desfelben, lettere bildete da8 Fundament der Befenntnisfirdhe und 
erwies diefelbe als wahre, evangelifche Kirche, quia et quatenus 
fie der Ausdrud des lebendigen Gotteswort3 war, diefem als der 
die Gläubigen erbauenden Kraft Raum ließ und freie Bahn ſchuf. 

Nun erlebte es aber die evangelifche Kirche, daß in ihrer 
eigenen Mitte, auf dem gemeinfamen Boden, abweichende Mein- 
ungen und Bewegungen ſich erhoben, welche der jungen Kirche mit 
Zerjplitterung drohten. 

Diefen gegenüber galt es im Intereſſe der Einheit und der 
Solidarität der evangelifchen Kirche, das gemeinfame Fundament, 
die Einigungsgrundlage dadurch zu fihern, daß man nachmwies 
nicht bloß (mie bisher) im apologetifchenegativen Intereſſe gegen: 
über der fatholifchen Kirche, daß die augustana nad) Tendenz und 
Inhalt die Mejensgrundlage der Kirche, das Wort Gottes in 
Evangelium und Saframenten lauter und rein zur Geltung bringe, 
nicht entjtelle oder vermifche mit menſchlicher Zuthat — ſondern 
aud im polemifchspofitwiltifichen Sinne, daß Die augustana nicht 
zufälliger Weife das Inſtrument der Einigung geworden fei, fon: 
dern deshalb, weil fie wirfli die adäquate Formulierung der 
evangelifchen Heilälehre fei, deren genuiner und präzifer Ausdrud, 
und daß ihr darum gegenüber von allen mehr oder weniger 
jubjeftiviftiich gefärbten, perſönlicher Liebhaberei entiprungenen 
Schriftauslegungen und Lehrformulierungen die Autorität nicht 
zwar der norma normans, wohl aber der norma normata zuzuer- 
kennen fei. 


174 Köftlin 


Nur durfte man nie vergeffen und in praxi hintanfeßen, daf 
die Superiorität und Autorität der augustana nicht eine unmittel- 
bare und abjolute, fondern nur eine mittelbare und abgeleitete 
war, bedingt durch das Maß ihrer Übereinftimmung mit der hl. 
Schrift, beziehungsmweife der evangelifchen Heilälehre. Man durfte 
nicht vergefien, daß die relativ vollfommenfte Formulierung der 
Heilsüberzeugung, die gewiß allen zeitgenöffifchen Abweich— 
ungen gegenüber ihre Autorität und Authentie durch Die 
Begründung aus der Schrift nachweifen und aufzeigen fonnte, - 
doch immerhin eine menjchliche Formulierung war und nicht zur 
Norm aller Formulierungen der Glaubensüberzeugung im abſo— 
luten, im erjchöpfenden und abfchließenden Sinne erhoben werden 
durfte, wenn nicht an die Stelle des lebendigen, als Kraft 
wirkenden Gotteswortes die menjchlihe Auslegung, die Magie 
des Buchſtabens geſetzt, die lebendige duvauıc des Evangeliums 
in die Formeln menſchlicher Schriftgelehrfamfeit, die Heilsverfün- 
Digung in die Feljeln der Schultheologie gebannt merden follte. 
Man mußte im Auge behalten, daß die Superiorität und norm— 
gebende Autorität immer von Fall zu Fall durch Prüfung 
ihrer und der von ihr abweichenden Lehrmeinung an der heiligen 
Schrift zu erweifen war, weil nicht die Abweichung von der 
augustana, jondern die Abweichung von dem evangelium eine 
Abweichung von dem Wefensfundament der Kirche und des Heils 
begründe, die erſtere nur eine Differenz der Lehre mit der Lehre 
der gefchichtlich eriten Einigungsgrundlage der evangelifchen Kirche 
bedeute; man durfte nie vergefjen, daß die evangelifche Bekenntnis: 
firhe als folche nad) Wefensfundament und gliedlicher Drganifa- 
tion nicht ſchlechthin und im ausjchließenden Sinn ſich dedfe mit 
der wahren Kirche, dab das Rechtsinſtrument, auf dem fie fich 
gegründet, nicht da3 Weſensfundament der Kirche ſelbſt, ſondern 
nur deſſen menſchliche Faſſung ſei. Theoretifch ift die evange- 
liſche Kirche ſich deſſen bewußt geblieben; nie ift die norma nor- 
mata der norma normans dem Range nad) ausbrüdlich und for: 
mell gleichgeitellt worden. Aber, obgleich; man prinzipiell auch bei 
Kontroverfen auf die hl. Schrift zurüdging, und damit diefe als 
die entfcheidende Norm anerfannte, las man diefelbe doch unmill- 
fürlih dur die Brille des Bekenntniſſes und fo wurde, nicht 


Der Begriff des geiftlihen Amts. 175 


abjichtlih, aber thatfächlich in praxi die augustana, die forrefte 
und adäquate Formulierung der Heilslehre als die Norm gehand— 
habt, an welder gemefjen wurde, was evangelifch oder nicht 
evangeliih, wahr oder falfch jet, nicht bloß in dem Sinne, 
daß es ſich nicht mit der formulierten Belenntnisgrundlage ver- 
trage, jondern im abfoluten Sinne, daß es überhaupt nicht nur 
von der Befenntnisfirche, fondern vom Weſensgrund der Kirche 
abweiche. Zur Stüßung der Lehre auf’3 Bekenntnis ſah man fich 
gedrängt durch den Umftand, daß die Sekten und Srrlehrer fich 
jelbft unmittelbar auf die Schrift beriefen, daß man aljo ihre 
Lehre als falfhe Schriftauslegung an der wahren aufzeigen, für 
die leßtere irgendwelden Anhalt und Mapitab" gewinnen mußte, 
diefen aber in dem eriten, gemeinfamen Bekenntnis der Kirche als 
dem reiniten Ausdrud des unmittelbar auf die Hl. Schrift gegrün- 
deten Heilsbewußtſeins am natürlichiten fand. 

Unwillfürlich veränderte fich dadurch die Bedeutung des Be: 
griff3 der pura evangelii doctrina, des recte docere evangelium; 
fiel dem Katholizismus gegenüber der Ton auf evangelium? in 
dem Sinne, daß folle gelehrt werden und durd alle fo oder fo 
formulierte Lehre gefördert werden nur evangelium — fo fiel 
den eigenen Abweichungen gegenüber der Ton auf pura, recte 
der Gegenſatz von lauter und gefälfht, von rein und vermifcht 
jeßte fih um in den von wahr und falfch, richtig und unrichtig, 
forreft und inforreft; die pura evangelii doctrina, urſprünglich die 
das evangelium voll, ganz, rüdhaltlos zur Geltung bringende 
Lehre (opp. Menfchenlehre), wird unvermerkt zur korrekten Schrift: 
auslegung im Gegenfaß zur falfchen, zum richtigen Zehrbegriff im 
Gegenſatz zum unrichtigen; und nicht fowohl im Begriff der Kirche, 
wohl aber in der praftiihen Handhabung desfelben wird der for- 
refte Lehrbegriff zum Wefensmoment, die richtige Formulierung 
der Heilslehre zur Weſensgrundlage gemadht. Der Sat: weil 
die augustana der volle und treue Ausdruck der evangeliichen 
Heilsgrundlage tft, fo darf die Kirche, welche diefes Bekenntnis zu 
ihrer Gemeinfchaftsbafis macht, fich als die wahre, auf dem rechten 
MWejensfundament ruhende bezeichnen, wird in den andern um: 


ı So treffend Ritihl a. a. O. 


176 Köftlin 


geſetzt: weil die augustana der einzig zutreffende Ausdruck der 
Heilälehre ift, jo hat jeder, der fie nicht anerkennt, von der Rechts: 
grundlage der evangeliihen Belenntnisfirche weicht, das Weſens— 
fundament der Kirche verlaffen: man kann nicht auf diefem ftehen 
und zugleich jenes verlafien. 

Damit iſt die Korreftheit des Glaubensbefenntniffes zum 
Unterfheidungsmerfmal der wahren und der faljchen Kirche gewor- 
den, die rechte Stellung zu dem Wort des Herrn und zu dem 
Herrn ſelbſt abhängig gemacht von der Übereinftimmung der per: 
ſönlichen Glaubensanſicht mit der Kirchenlehre, der rechtfertigende 
Glaube bedingt gedacht durch Nechtgläubigfeit, das Fußfaſſen auf 
dem Fundament der Kirche, die Gliedſchaft am Leib Chrifti Doch) 
wieder abhängig gemadt von der Stellung zur Rechtsgrundlage 
der irdiſchen Kirchengemeinichaft, von der Unterwerfung des Intel— 
lekts unter eine Lehrformulierung; das Grareifen der Gnaden— 
verfündigung im Evangelium und Saframent bedingt durch den 
Gehorſam gegen die menſchliche Rechtsgemeinſchaft und Lehrord- 
nung, Die communio sanetorum begründet nicht auf die perfön- 
liche Stellung der Gläubigen zu Chrifto, fondern auf die Stell: 
ung zur Belenntnisgrundlage der irdiſchen Kirchengemeinfchaft. 

Hauptgegenftand des Amtes wird damit die Lehre, die 
Verkündigung und Neinhaltung der doctrina evangeli. Da 
die Prüfung der Lehre bejtimmte wifjenfchaftliche Kenntnifje erfor: 
dert, jo muß die Lehre dem Stande der Theologen referviert werden: 
der Geiftliche als der Wächter der reinen Lehre, ala der „Priefter, 
defjen Lippen die Lehre zu bewahren“ haben, wird der Halt der 
Kirche, die communio der vere credentium bedingt durch Die 
communio theologorum, während dem Stand der Geijtlichen, Der 
die Kirche recht eigentlich Fonftituirt, die große Maffe als der 
„grobe Mann“, als das Volk gegenüberfteht, das belehrt und 
durch unausgefegte Belehrung bei der reinen Lehre erhalten, zur 
Zuftimmung zu der Lehre erzogen werden muß. 

In den Vordergrund trat demgemäß das lehrhafte Element: 
das Ziel der geiſtlichen Amtsthätigfeit wurde die Erzeugung einer 
gefchlofjenen, der Kirchenlehre entjprechenden Glaubensüberzeugung 
als der Bedingung wirkliher Zugehörigkeit zur Kirche und geſeg— 
neter Teilnahme an den Saframenten, 


Der Begriff des geijtlichen Amts. 177 


An und für ji) war das recht und gut und in den Verhält: 
nifjen begründet: die ftrenge Lehr zucht bildete gefchlofjene, wenn 
auch oft recht fcharffantige, theologische Charaktere. 

Bedenkt man, daß die den Evangelifchen gemachten, von den- 
jelben bis 1648 mühfam und nur Schritt für Schritt dem Kaifer 
abgerungenen politiichen Konzefjionen immer an die Zugehörigkeit 
zum öffentlich anerfannten Bekenntnis — alfo nicht an die evan- 
gelifche Überzeugung überhaupt — geknüpft waren, daß aljo der 
numerijche Bejtand der Kirche bedingt war durch Das treue Be: 
harren bei dem Befenntnis, jo wird man es als eine providen- 
tielle Fügung anerkennen müſſen, daß jene bewegte Zeit durch ihre 
jtrenge Lehrzucht und durch die fefte Überzeugung von der grund: 
legenden und für die Kirche entfcheidenden Wichtigkeit des Lehr: 
begriffs Theologen z0g, denen fein Opfer zu groß war, wenn es 
galt, die LZehreinheit zu wahren und damit den Rechtsboden der 
evangeliichen Kirche vor der Zerbrödelung zu fichern; und man 
wird gegen die männliche Tapferkeit und charaltervolle Entſchie— 
denheit der Streittheologen gerne ihre cholerifche Reizbarkeit in 
Kauf nehmen, die einen edlen Erflärungsgrund darin findet, daß 
jene Männer um die Grundlage der Erijtenz der Kirche jtritten, 

Zum Schaden gereichte die einfeitige Hervorfehrung der Lehre 
nur und erjt dann, wenn man die theoretiiche Glaubensüberzeug- 
ung nicht bloß als die wejentliche Vorausfegung des Chriftentums 
anjah, jondern mit diejem identifizierte, wenn man vergaß und 
außer acht ließ, dab das Wort, die Gnadenverfündigung nicht 
Selbjtzwed fei, fondern Gnadenmittel, daß die Predigt nicht 
bloß richtige Glaubensanfichten, ſondern lebendiges Chriftentum 
zu erzeugen habe. Daß neben der Sorge für die reine Lehre 
dieſes praktiſche Ziel im Auge behalten wurde, bemweist die ein- 
zige Verfönlichkeit eines Johann Arndt. 

Sm Großen und Ganzen freilich trat das feelforgerlich er: 
ziehende Moment im Amt zurüd hinter dem der Belehrung. Die 
Predigt vereinjeitigte jich zur Populartheologie, fie wurde vielfach 
zur bloßen Mitteilung der Lehre, welche ſich weniger an das 
Gewiſſen, als an den Intellekt wandte. Es ſank das Intereſſe an 
dem feeljorgerlihen Erziehungsmittel des Beichtinftituts ; die Beichte 
wurde zur mechanischen VBerrichtung. So tft e& leicht erflärlich, 

Theol. Etubien a, W. VI. Jahrg. 12 


178 Köftlin 


daß 3. B. ein Nik. Hemming (F 1600) zur reformierten Kirche 
neigte, weil in der Iutherifchen Kirche die Geiſtlichen „mores 
hominum cum doetrina emendare non potuerunt“, das Lehramt, 
der Theologe den Seeljorger abgelöst hatte, wodurd der Omni— 
potenz der Predigt im Kultus, zunächſt der Mechanifierung der 
Liturgie, Bahn gebrochen wurde. 


Zu vollerer Geltung fam das Moment der Tirhlichen Er— 
ziehung in der reformierten Kirche. Auch fie ſcheidet ftreng 
zwifchen der Kirche im ftrengen Sinne des Wortes und ber Kirche 
als empirischer Eirchlicher Gemeinſchaft. Aber die Unterfcheidung 
geht aus nicht wie bei Zuther von der Neflerion auf den Heils— 
grund, auf das, was die bedingende, reale Urſache des Heils ift, 
Sondern von der Neflerion auf die Verfchiedenheit der Heilswir— 
fung ‚2 des thatfächlichen Erfolgs der Gnadenmittel; aljo von 
der Reflexion auf die Thatfache, daß die Gnadenmittel nur bei 
einem Teil derjenigen, welche fie gebrauchen, volle Wirkung haben, 
bei einem andern Teile aber nicht: nur die erjteren, ihrer Perſon 
und Zahl nad) eine unſichtbare Gemeinfchaft, bilden innerhalb der 
fihtbaren Kirchengemeinſchaft die Kirche im eigentlichen Sinne, 
deren Mitglieder dies eben dadurch find, daß fie die Gnadenmittel 
nicht bloß gebrauchen, ſondern deren Kraft auch bewähren. 

Eben darum giebt erſt das Borhandenfein des in der Liebe 
thätigen Glaubens die Gemißheit, daß innerhalb der fichtbaren 


1 Die erjtere ift (nach der erjten Basler Konfeffion) congregatio 
fidelium in spiritu, welche Chriftum befennen al3 das Lamm Gottes 
und diejen ihren Glauben durch die Liebeswerke beweiſen, die leßtere 
ift der coetus derer, welche Christo nomen dederunt. 

Bon Zwingli ſtammt bekanntlich die Unterfheidung von ecclesia 
visibilis und invisibilis. 

2 Das Interefje, weches der Reformierte an der Kirche Hat, ift 
nicht bloß darauf gerichtet, daß er in ihr die objektiven Garantien und 
Verfiegelungen der Verfühnung Habe, fondern darauf, daß er in ihr 
zur vollen Gewißheit der Erwählung komme, indem er die Nealität 
der Gnadenwirkung an ſich erfährt; ohne diefe reale Frucht weiß er 
nie, ob jein Glaube nicht auf bloßer Einbildung beruft, Worfpiegel- 
ung, Selbfttäufhung it. 


- Der Begriff des geiftlihen Amts. 179 


Kirche die unfichtbare real vorhanden jet ald Beitand von Perſo— 
nen: es genügt nicht, um eine Kirche als die wahre nachzuweiſen, 
wenn man zeigt, daß fie auf dem rechten Weſensfundament 
von Wort und Saframent begründet it, ſondern e8 muß nad: 
gewiefen werden, daß die Heildurfachen auch innerhalb der Kirche 
wirken, die Weſensfunktionen wirklich Heil erzeugen, indem in 
der Kirche die Garantie für die Erziehung von saneti durch das 
Vorhandenſein anftaltlich-disziplinaren Wirkens der Kirche auf ihre 
Glieder aufgezeigt wird, wenn auch die einzelnen sancti als foldhe 
nicht empirisch nachgewiefen werden können. 


Daher gehören (nach der Conf. belgie. Art. 29, val. Conf. 
Basileensis prior Art. 5, bei Niemeyer ©. 92) zu den Weſens— 
merfmalen der Kirche: 

1. pura evangelii doctrina; 
2. sincera sacramentorum administratio; 
3. recte uti diseiplina ecelesiastica ad corrigenda vitia. 


Die Kirhe erfcheint dem Neformierten nicht bloß ala das 
Drgan der Heilsvermittlung, fondern weſentlich als das Gebiet, 
innerhalb defjen er die Objeftivität und Realität feiner 
Erwählung vor fi felbit und vor den Menſchen zu 
bethätigen hat. Die Kirche hat Wert und Bedeutung für 
das Bemußtfein des Neformierten nicht bloß ala SHeilsanftalt, 
fondern als religiög-fittlihe Geſellſchaft, beziehungsmeife als 
religtögsfittlihe Erziehungsanftalt, fie fommt in Betracht nicht bloß 
nach ihrem Weſens grunde als Urſache des Heils, fondern wejent- 
ih in ihrer glieblihen Form als Zweck des Firchlichen Handelns. 
Der Begriff der gliedlichen Gemeinſchaft kommt auf diefem Gebiete 
daher zu vollerer Geltung als innerhalb der lutheriſchen Anfchau- 
ung, welche durch die Reflerion auf den Grund und die Garan— 
tien des Heils beherrſcht wird; die gliedliche Gemeinfchaft bildet 
nicht bloß den geometrifchen Ort für die ecclesia proprie dicta, 
fondern fie ift deren Auswirkung, wenigftens der objektiven Lebens: 
norm nad, welche fid in der firchlichen disciplina darftellt; oder 
die ecelesia visibilis ift nicht bloß der Bereich der Gnadenkräfte 
der ecelesia invisibilis, fondern die ecelesia visibilis ift als ſolche 
Dbjeft der ecclesia invisibilis. 


12* 


180 Köſtlin 


Das Amt gewinnt hier eine neue Bedeutung. Subjekt des 
Amts iſt ſelbſtverſtändlich, wie nach der lutheriſchen Auffaſſung, 
in letzter und höchſter Inſtanz der Herr ſelbſt als der Herr der 
Kirche; aber ſofern der Träger des Amtes nicht bloß die von Gott 
geſetzten Weſensfunktionen der Kirche, die religiöſen Faktoren (Wort, 
Sakramente) zu verwalten, ſondern die von der Gemeinde und an 
der Gemeinde zu handhabende disciplina, den ethiſchen Faktor in 
Wirkſamkeit zu erhalten hat, iſt er im Grunde der Vertreter der 
idealen Gemeinde. 

Objekt des Amtes iſt ebenſo nicht bloß der Einzelne, ſondern 
die gliedliche Gemeinſchaft als ſolche; der Einzelne iſt Objekt wie— 
derum nicht bloß nach der religiöſen Seite, ſondern nach allen 
ſeinen ethiſchen und ſozialen Beziehungen als Glied der Gemein— 
ſchaft. Kurz, das Amt iſt nicht bloß das vermittelnde Glied 
zwiſchen dem Heilsgrund und den Einzelnen, ſondern es iſt Organ 
zur Realiſierung der écclesia invisibilis in der éecelesia visibilis, 
zur Verwirklichung des Gemeinſchaftsideals, melches weſentlich 
theokratiſch, alſo weſentlich religiös, normiert ift. Das Wort 
Gottes iſt nicht bloß Heilgmittel, Gnadenmittel, Erbauungsquelle, 
fondern weſentlich Lebensnorm, Gemeinfchaftsgefeg. Der Diener 
des Morts ift nicht bloß der Priefter, der die Gnadenmittel den 
dürjtenden Seelen zumendet, fondern aud) der enıoxonog, der 
das Leben und den Wandel der ihm Befohlenen zu überwachen 
bat. Nur ift die Norm für die Disziplinierung der Gemeinſchaft 
nicht der Wille der Kirche, nicht Menfchengefet, fondern das Wort 
Gottes, das ebendamit unter den Gefichtspunft eines Gefeßes fällt. 
Kurz dem Prieſter und Seeljorger iſ hier der Sittenwächter koordiniert. 


Mit der reformierten —— teilt der Pietismus die 
Reflerion auf die Heils wirkung, auf den realen Effelt der 
Gnadenmittel alö den vollen Ermweis von dem Dafein und Bor: 
handenfein der Kirche Chrifti auf Erden: es genügt nicht, daß 
Wort und Saframente da find und verwaltet werden, es müfjen 
auch Menfchen da fein, die ſich wirflih dadurch heiligen laſſen. 

Uber während das Intereſſe der Neformierten darauf gerichtet 
it, die Realität der unfichtbaren Kirche innerhalb der gliedlichen 
Gemeinfchaft der fichtbaren Kirche durch die Aktualität der Lebens— 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 181 


und Gemeinſchafts-Norm der unfichtbaren Kirche, durch die Aktua— 
Ität der das Wort Gottes als Lebensgeſetz zur Geltung bringen: 
den Disziplin, zu erweifen, ift für den Pietismus das leitende und 
bejtimmende Intereſſe das der perfönlichen, fubjeltiven Heilsgewiß— 
heit, weshalb in dem Intereſſe des Pietismus das deal der durd) 
eine objektive Norm disziplinierten Gemeinſchaft (Kirchen = Jpeal) 
völlig zurüdtritt hinter dem der chriſtlichen Verfönlichfeit und des 
freien Zuſammenſchluſſes ausgereifter ſich gegenfeitig fördernder 


chriſtlicher Perſönlichkeiten. Bei aller Ähnlichkeit des Heiligungs— 


ſtrebens, wie es den Pietismus kennzeichnet, mit dem der Refor— 
mierten ſteht er doch völlig auf dem Boden der lutheriſchen An— 
ſchauung und iſt trotzdem, daß reformierte Einflüſſe auf die Bewegung 
eingewirkt haben, als die Frucht der Entwicklung des lutheriſchen 
Bemwußtjeins anzuſehen, ſofern in ihm der tiefe ſittliche Ernſt des 
an der heiligen Schrift gefchärften Gemifjens, wie er einjt Luther 
zur That getrieben hatte, reagiert gegen die fittliche Schlaffheit, 
welche das dem Dreißigjährigen Kriege folgende Zeitalter charak- 
terifiert, und fofern das perfönliche Heiläinterefje fich auflehnt gegen 
die einfeitige Überſchätzung der Nechtgläubigteit, welche gleichjam 
das Opfer des Intellekts, welches diefer durd die Unterwerfung 
unter die Belenntnisformel bringt, ex opere operato als Heils- 
bedingung und Heilsgrund anrechnet. Es war gewiß ‚volljtändig 
im Geiſte Luthers gedacht, wenn man vom menſchlich formulierten 
Bekenntnis mit aller Energie zurüdging auf die hl. Schrift und 
diefe nicht bloß als Duelle und Belegfchrift für theoretifche Heils- 
wahrheiten und Erfenntniffe angejehen, ſondern als Gnadenmittel, 
als Heild: und Heiligungsmitttel gebraucht haben wollte. Und 
wenn ausprüdlid die Heiligung der Perſon als Erweis von der 
Wirklichkeit des perſönlichen Heilgempfangs gefordert wurde, jo 
war damit nur in Form einer ausdrüdlichen Forderung ausge: 
ſprochen, was fih für Luther ganz von ſelbſt verftand, mas 
man aber einem Zeitalter und einem Gefchlechte gegenüber aller: 
dings ausdrüdlich erjt wieder ald Forderung ins Gemifjen legen 
mußte, welchem die Vorausſetzung des fittlichen Ernſtes ebenſoſehr 
abhanden gefommen war, wie die Plerophorie des Heilsbewußtſeins. 
Ginem Geſchlechte, welches mit voller Zuverficht das perjönliche 
Heil auf die Anerkennung der Kirchenlehre durch den Intellekt 


182 Köjtlin 


jtüßte, mußte im Sinne Luthers in Erinnerung gebracht werden, 
daß die Gnadenverfündigung des Evangeliums und die Gnaden— 
verfiegelung durd die Saframente den Ernſt der Buße und das 
Heiligungsitreben zur Worausfegung habe und völlig wirfungs: 
[08 bleibe da, wo die poenitentia, die contritio, Die conscjentia 
perterrita, aljo die jubjeftive Bedürftigkeit und Empfänglichteit fehle. 
Bon Luther wih man erit dadurd ab, daß man das, was 
für Luther die ſelbſtverſtändliche Worausjegung, der 
ethifchepfychologifhe Hintergrund war, das treibende 
Motiv der das Heil in Wort und Saframent ergreifenden fides 
nun zum bewußten, irgendwie und irgendwann im eigenen per- 
jönlichen Leben aufzuzeigenden Kriterium der Heilögewißheit 
machte, zum entjcheidenden Merfmal für die Mchtheit und damit 
für die gnadenerlangende rechtfertigende Kraft des Glaubens! 
Damit aber ift die jubjeftive Heilögewißheit bedingt Durch 
die unausgejegte Neflerion auf die Beichaffenheit des Inneren, 
insbefondere auf den Charakter und den Grad der contritio. 
Über diefer fortwährenden Neflerion auf die innere Zuftänd- 
lichfeit fommt es nicht zur rechten Freiheit der Kınder Gottes, zur 
vollen Selbitgewißheit und Freudigfeit des Glaubens. An Stelle 
der ethiichen Thatkraft, wie fie die Neformatoren Fennzeichnet, 
begegnen wir einem fittlichen Ernite, einem Heiligunggeifer, der es 
zwar redlich meint, aber ſich erit von Fall zu Fall ängſtlich orien- 
tieren muß und dann und wann an fittliche Hypochondrie anftreift, 
welche dem jtrammen, objektiv Disziplinierten Geſetzeseifer der 
Reformierten (der PBuritaner) diametral entgegengefeßt ift. 
ı Sehr richtig Sadhfje, Urjprung und Weſen des Pietismus 
(Wiesbaden 1884) ©. 135, 136: Die contritio, durch das Geſetz her- 
vorgebradt als conscientia perterrita bringe die fides hervor; dieſe 
jelbjt erzeuge wieder ihrerjeit3 die contritio, aber al3 den Schmerz 
über die immer nod anflebende Sünde, Haß gegen die Sünde; deut- 
lich erhellt, daß der Begriff contritio, mit welchem die fides ing Ver- 
hältnis der Wechſelwirkung gefegt ift, amphibolifch gebraucht wird, — 
denn Schreden über die Sünde, als über die Urſache des Verderbeng, 
iſt etwas andre als der dur die Liebe zu Chriſtus erzeugte Haß 
gegen die Sünde; erſterer iſt eine pathologiſche, dieſer eine ſittliche 
Bewegung. 


* Em} 
CE) 


Der Begriff des geiftlihen Amts. 183 


Auf diefem Punkte allein, der ethischen Unjicherheit, welche 
das Bedürfnis der Anlehnung, des Geftüht: und Gefördertwerdens 
begründet, greift der im Pietismus vollendete und auf die Spike 
getriebene Indivivualismus und Subjektivismus über jich felbjt 
hinaus und fordert unter dem Geſichtspunkt der Ergänzung und 
Förderung des jubjeftiven Heilälebens das Amt und die brüder- 
lihe Gemeinjchaft. 

Freilih das Ant fommt nur in Betradht und hat pojfitive 
Bedeutung nur in diefer beftimmten Beziehung auf das perjönliche 
Heil, nit als Amt der Kirche, Der Prieſter tritt vollitändtg 
zurüd hinter dem Seelforger und Beichtvater, hinter dem Gewiſſens— 
berater; ja der Seelforger jelbit erſcheint ſelbſt nur als der ältere, 
erfahrenere, gereiftere Bruder,t! der dem ſchwächeren, dem 
Ihmwanfenden, dem unficheren Bruder Handreihung thut und Halt 
bietet. Daher tritt auch in der pietiftifchen Baftoral in den Vor— 
dergrund und Mittelpunkt die Perfönlichkeit, die „geiſtliche Geftalt“ 
des Predigers, deſſen religiös-ethiſche Beichaffenheit, während die 
Autorität des Firchlichen Amts, der Priefter, der Haushalter über 
Gottes Geheimnifje ziemlic außer Betracht kommt. Da es fid 
weniger um Belehrung über gewiſſe theoretiihe Wahrheiten, als 
um Orientierung über die Zuftände des Herzens und Gemifjens 
handelt, fo tritt die Forderung theologisher Schulung, wiſſen— 
Ichaftlicher Ausbildung zurüd Hinter der Forderung der Belehrung 
und der perfünlichen Erfahrung, die allein den Seelforger befähigt, 
Anderen Halt, Führer und Berater zu fein. So beſteht denn das 
Charisma des Pietismus auf dem Gebiete der Baftoraltheologie 
und Geelforge in der Entwidlung der geiltlihen Eigenſchaften, 
Bedingungen und Vorausſetzungen der feelforgerlihen Verfönlichkeit, 
ſowie in der Anſammlung kaſuiſtiſchen Materials (vgl. Burk), ihre 
Schwäche in der Indolenz gegen das Geſchichtlich-Gewordene in 
der Kirche, gegen Amt und Liturgie u. a. 

Denn aud die brüderlide Gemeinfchaft kommt ja nur in 
Betracht ala Erbauungsmittel, fofern fie geeignet ift, den Einzelnen 


1 Allerdings eine fpezififch Luther'ſche Bezeichnung des Beichtigers, 
die aber jegt in der Anjhauung vom Amt in den Vordergrund tritt, 
während da „ministerium“ zurüdrüdt. 


184 Kö ftlin 


in der Heiligung zu fördern. Daher fommt der durd) gemein- 
fames Heiligungsſtreben bejtimmten frei gebildeten Gemeinschaft 
der Brüder innerhalb der Kirche viel größere Bedeutung, und ein 
viel höherer Wert zu, ala der gefchichtlich gewordenen, durch Die 
Gleichheit des objektiven Befenntniffes umfchriebenen, gegen die 
geiftliche Beichaffenheit ihrer Glieder indifferenten Gemeinfchaft der 
Kirche. Beide zwar, ſowohl die Dogmatifchregulierte, wie die geift- 
(ih oder religiös-ethiſch regulierte, die durch die Gleichheit des 
Bekenntniſſes, wie die durch die Gleichheit der Gejinnung und des 
Strebend bedingte Gemeinschaft, die Kirche, wie das Conventikel 
find weſentlich Mittel zur Förderung des perfönlichen Heils — 
aber eben als folches jteht das Conventifel höher im Wert als Die 
Kirche, welche nur als die geihichtliche Inhaberin und Bewahrerin 
der das Heil erzeugenden, beziehungsweiſe vermittelnden Faktoren 
für den Einzelnen in Betradht fommt, während ſie als rechtlich 
organifierte Geſellſchaft, nach der Seite ihrer gliedlichen Organi— 
jation, für das Seelenheil des Einzelnen ſich indifferent verhält. 
Für den Rationalismus dreht ſich das Verhältnis um; 
(auch hier faffen wir den Nationalismus als Gefamterfcheinung ins 
Auge;) ihm geht das Verjtändnis für die fpezififch geiftliche oder 
religiöfe Bedeutung der Kirche, für den Hetlswert der Gnadenmittel 
verloren. Daher fällt ihm die Kirche außer Betracht nad) ihrem 
Weſensgrund als die das religiöje Heilsbewußtfein vermittelnde 
und verftändigende Heilsanftalt; wohl aber fommt die Kirche für 
den Nationalismus in Betracht nad) ihrer Erſcheinungsſeite als 
jozial gegliederter Organismus, als bejtimmte Form eines 
ethifchen Gemeinweſens. Die geſchichtlich bedingte, religiös-dogma— 
tiſche Beſtimmtheit erſcheint dem Rationalismus als das Unwe— 
ſentliche, als bloße Form, der nur transitoriſche Bedeutung 
zukommt; Prinzip der Gemeinſchaft iſt ihm die Gleichheit der Ge— 
ſinnung und des ethiſchen Strebens, dieſe zu erzeugen, die dog: 
matiſch⸗beſtimmte, rechtlich begrenzte Gemeinſchaft zur freien ethiſchen 
Gemeinschaft fortzubilden tft der Zwed der Kirche. So nimmt 
der Nationalismus die Idee der auf der Übereinftimmung der 
perfönlichen Gejinnung beruhenden Gemeinfchaft, wie jie im Con— 
ventifel enthalten war, vom Pietismus herüber, ftreift ihr das 
veligiöfe Gepräge ab und erweitert fie zur Idee des ethifchen 





Der Begriff des geiftlihen Amts. 185 


Gemeinweſens, indem er an die Stelle der das Innere beſtim— 
menden Hetldordnung, des Seligfeitsgefeges, das allgemeine Sitten= 
geje als Norm jet; wendet die Idee des durch das fchlechthin 
gültige Sittengeſetz normierten ethifchen Gemeinweſens auf Die 
geſchichtlich entſtandene Kirche an und ordnet fie derjelben als 
ihren eigentlichen Zwed über, löst alfo die Kirche aus ihrer ifolier: 
ten Stellung und ordnet fie ald Glied ein in das Ganze der 
ethiſchen Weltentwidlung. 

Die kirchliche Gemeinfchaft, beziehungsweife die chriftliche 
Geſellſchaft, war auch für Luther die Mutter, die jeden Chrijten 
gebiert und aufzieht („Christianorum communio mater est; haec 
quemlibet Christianum parturit ac alit per verbum“ cat. maj.); 
aber jie war dies weniger als communio, denn als die Inhaberin 
von Wort und Saframenten. Der Begriff der Gemeinjhaft, 
de gemeindlichen Organismus als folden, der Kirche als foztal 
gegliederter Gejellfchaft hatte in dem weſentlich durch das Heils- 
interefje beftimmten Bemwußtjein der Evangelifchen untergeordnete 
Bedeutung als Drt und Organifationsherd für die Sammlung der 
Gläubigen; die reale communio sanetorum jelbft trat ins 
Bewußtjein mehr unter dem Gefichtspunft des idealen Ziels der 
auf Erden nie zu erreihenden, daher aud nicht einmal verfuchs- 
weije' und in unvollfommener Weife zu realifierenden Aufgabe. 
So fam ein rechter, die Kirche tragender und zufammenfcließen- 
der Gemeinfhaftsgeiit nicht auf: der Wert und fpezififche 
Segen des brüderlichen Verbundenfeins, der gliedlihen Zufammen: 
gehörtgfeit trat nicht mit bejtimmendem Gemicht ind Bemwußtfein 
der Orthodorie, wirkte nicht weſentlich auf dasfelbe ein. Alles 
Intereſſe konzentrierte ji auf die Bewahrung der Befenntnis- 
grundlage als des Fundaments, auf dem eine wirffame Verwal: 
tung der Saframente doch allein möglich fei, auf die Erhaltung 
der: objektiven Grundlagen der Kirche; davor trat die fpezielle 
Sorge für die Belchaffenheit des Perſonenbeſtands der Kirche 
zurüd: man vertraute unbedingt der ftillen Wirkung des Worts 
und der objektiven Kraft der Saframente, und forgte nur, daß 
einerjeit3 die Mortverfündigung rein bleibe, andrerſeits (Beichte) 


ı Schon Luther fand „die Leute“ dazu nicht! 


186 Köſtlin 


die Kirchengenoſſen nicht unwürdig zum Tiſche des Herrn kommen, 
die objektive Wirkung des Sakraments zum Schaden erfahren. 

Dieſes Vertrauen auf die objektiven Faktoren der kirchlichen 
Gemeinſchaft, um deren willen fie überhaupt notwendig war und 
deren Segenäfraft überhaupt dem Leben in der Gemeinjchaft feinen 
Wert gab, — hatte der Pietismus jtarf erfchüttert. Denn er war 
von der Thatjache ausgegangen, dab das gepredigte Wort und 
der regelmäßige Gebrauch der Saframente die große Maſſe unbe- 
fehrt gelafjen habe; dat jomit Die objektiven Gnadenmittel nicht 
die zureichenden Mittel des Heils jein können, dies vielmehr nur 
unter der Borausfegung der Befehrung ſeien. Damit war noch 
jtärfer alö vorher das Thun des Individuums betont und wenn 
der Pietismus auch der Erjchütterung des Glaubens an den ab— 
foluten Wert der objektiven Faktoren des kirchlichen Lebens eine 
gewiſſe Wertſchätzung der brüderlichen Gemeinſchaft entgegenitellte, 
jo fiel doch letztere nicht mit der großen Kirchengemeinjchaft 
zufammen, ließ vielmehr diefe als ſolche, ala bloße rein zufällig, 
durd) die Geſchichte entjtandene congregatio noch wertloſer erſchei— 
nen, eben dadurch, daß fie ala die eigentliche communio vere cre- 
dentium, als ecclesiola, al3 die Sammlung des Lebens: und Trieb- 
kräftigen in der Kirche letztere als massa perdita im relativen 
Sinne betrachten lehrte. 

Zu der Loderung des lutheriſch-kirchlichen Gemeinſchaftsgeiſts 
durch den Individualismus der Heiligung, der ſich immer mehr 
von der objektiven, kirchlichen Organifation emanzipiert erachtete, 
fam die Ummälzung des Dentens dur die Philofophie, welche 
die Grundlage der Kirchengemeinfchaft, das Belenntnis in Frage 
jtellte, indem nun neben die im Bekenntnis wurzelnde Weltanfchau- 
ung und Lehre eine neue trat, welche dem Pofitivschriftlichen in der 
bisherigen Anſchauung um fo gefährlider wurde, ald man die 
Kirchenlehre einfeitig ala Objekt des Erfennens, ala Weltanfhaus 
ung, als Willens: Syfitem, nicht als Heilsanweifung anzujehen 
gewöhnt war, dem orthodoren Syjtem aber die Stimmung der 
Zeit entfremdet war, dagegen der neuen Anjchauung die Stimme 
ung der gebildeten Kreife entgegenfam.! Die Thatſache, daß die 


I Bol. die Ausführung bei A. Ritfchl, Die riftlihe Lehre von 
der Rechtfertigung und Verföhnung. (1870, I, ©. 344.) 


Der Begriff des geiftlihen Amts. 187 


Lehr⸗Unterſchiede der Konfeſſionen den Anlaß zu ſo bitteren und 
blutigen Kämpfen gegeben, die Religion, die Macht des Friedens, 
die Urheberin des Streits und Kriegs geworden, hatte namentlich 
bei denen, welche über die eigentliche Urſache des Kriegs, die Unver— 
ſöhnlichkeit der römiſchen Anſprüche mit der Thatſache des Prote— 
ſtantismus, nicht tiefer nachdachten, eine gewiſſe Verſtimmung und 
Abneigung gegen den Poſitivismus in der Religion hervorgerufen. 
Man wurde indifferent und indolent gegen den ſpezifiſchen Wert, 
die prinzipielle Eigentümlichkeit der poſitiven Religion und des 
beſtimmten geſchichtlich vererbten Bekenntniſſes und gewöhnte ſich 
unwillkürlich daran, dieſelbe als Verbildung, Verknöcherung, De— 
generation der Religion aufzufaſſen; einer ſolchen Stimmung ſchien die 
religiöſe Eintracht dadurch bedingt, daß man lernte über die tren— 
nenden Unterſchiede ſich zu einer höheren Einheit erheben. 

Die höhere Einheit konnte man zu gewinnen ſuchen entweder 
dadurch, daß man über das in der Religion oder Konfeſſion, was 
die Trennung veranlaßte, rechtlich und ſozial begründete, über die ein— 
zelnen Aufitellungen der Befenntniffe zurüdging auf den Urgrund, 
das Evangelium, und das, was das Heil fonftitutiv bedingte, als 
das Mejentlihe abhob gegen das Nebenfähliche — diefen Weg 
hatte der Pietismus betreten. 

Diefen Einen Grund und die auf demfelben gemonnene über 
die Schranken der Konfeffionen übergreifende Glaubenseinheit zum 
Prinzip praktiſcher Gemeindeorganifationen zu erheben, dazu jchritt 
erſt Zinzendorf fort (ſ. u.), allein das Heilsintereffe war doc 
nur der bejtimmende und leitende Geſichtspunkt der Minderheit, 
der Erniten, Stillen, um ihr Heil Beforgten. Die große Gefell- 
Ihaft jah im Glaubensbefenntnis die furze Formel (nicht einer 
Heilöverfündigung, fondern) einer beftimmten Welt: und Leben?- 
Anſicht, einer Summe von Gedanfen und Ideen, hatte doch der 
Drthodorismus durch feine einfeitig lehrhafte Methode entſchieden 
darauf hingewirkt, daß man fein Lehrgebäude (nicht mehr als für 
die Gewinnung des Heils zu verwertende Anmeifung, fondern) als 
MWeltanfchauung, die fi) an den Intelleft wendete, alfo nicht unter 
dem foteriologifchen, religiöfen Gefichtspunft des Heilsinterefjeg, 
ſondern dem der Erkenntnis anzufehen ſich gewöhnte. Nun ftanden 
Syſtem gegen Syitem (Religionäfyjtem d. h. Religionslehre gegen 


188 Köſtlin 


Religionslehre) — die höhere Einheit konnte nach der allgemeinen 
Anſicht nur beſtehen in dem allen gemeinſamen Gedankengehalt: 
ſtatt des Wegs, durch Zurückgehen auf das für das Heil Weſent— 
liche und Bedingende die Einheit zu ſuchen, betrat man den Weg 
der gewiſſenhaften Ausſcheidung der ſpezifiſch kirchlichen, ſpezifiſch 
konfeſſionellen, zuletzt der ſpezifiſch-chriſtlichen Elemente, und gelangte 
ſo zu einer farbloſen Abſtraktion, einem Vernunftglauben, der ein 
deſtillierter Abhub der lebendigen chriſtlichen Wahrheit war und 
in dem man die Quinteſſenz, die Summe und Subſtanz, den 
eigentlichen Kern des poſitiven Chriſtentums, die Religion des 
Menſchen, der anima naturaliter christiana zu beſitzen glaubte, Die 
über alle menschlichen Schranken und fonfeffionellen Engherzigfeiten 
erhaben tft. 

Eine Anfhauung, die in dem geſchichtlich Bedingten, in dem 
Konkret: Bofitiven des chriſtlichen Lehriyitens nur Berichalungen 
und PVerfteinerungen des reinen Gedankenkerns erblidte und es 
als die Aufgabe anfah, von dem geſchichtlich Poſitiven zum reinen 
Gedanfengehalt fortzufchreiten, den Kern aus der Umbülfung 
herauszufchälen, jegt voraus, daß in der Stimmung der Zeit fein 
Anfnüpfungspunft für das Spezififch - Chriftliche vorhanden war, 
daß man ſich nicht mehr veranlaßt, nicht mehr aufgelegt, ja gar 
nicht mehr im Stande fühlte, den eigentümlichen Wert der chrijt- 
lichen Zentral-Wahrheiten von Sünde und Erlöfung zu veritehen 
und zu begreifen. Die Philoſophie ſeit Leibnig brachte einen 
kindesfrohen, vertrauensvollen Eudämonismus zur Herrihaft, und 
e3 verband fi mit demfelben in der Popular - Bhilofophie der 
Aufllärungszeit ein fittliher Optimismus, der fein Verjtändnis 
mehr haben konnte für die jchweren, inneren Kämpfe, aus welchen 
heraus ein Luther, ein Spener, ein Franfe die Gewißheit des 
Heils hatten erringen müfjen: im Gottesbegriff trat die Borftellung 
der göttlichen Heiligkeit zurüd hinter den Begriffen der Güte und 
der Weisheit Gottes; dem entſprach die Abſchwächung des Sünden: 
begriff3, beziehungsmweife des Schuldgefühls, ſowie die Herab- 
ftimmung der religiössjittlihen Aufgabe: der Unterjchied zwiſchen 
der natürlichen Sittlichfeit (justitia eivilis) und der von der Hei: 
ligfeit Gottes geforderten, nur dur die Kraft der Heilägnade 
möglichen, ſchwand immer mehr im Bemwußtfein der Zeit: Sitt— 


Der Begriff des geijtlichen Amts. 189 


lichkeit wurde identisch mit chriftlicher Volltommenheit, Tugend 
das eigentliche Ziel der chrijtlichen Heilspädagogif. Dies aber, die 
Erziehung zur Sittlichfeit, und durch und mit diefer zur Glück— 
jeligfeit, war nicht ausschließlich die Aufgabe der Kirche, fondern 
auch der Philoſophie: fo erſchien die Kirche nunmehr als eine 
bejondre Schule der Sittlichfeit neben anderen. Wollte die Kirche 
fortan diefer Stimmung gegenüber eine jelbjtändige Bedeutung 
beanfprudhen, jo mußte fie die Berechtigung dazu darthun dadurd), 
daß fie fi ala Schule der Sittlichfeit, als eine die Menfchheit 
veredelnde Macht, als Organ der Humanität erwies: denn nad) 
der Anſchauung und Stimmung der Zeit war der Wert eines 
religiöfen Inſtituts bedingt durch das Maß, in welchem es ſich 
als Kultur-Drgan bewährte. 

Damit ift für die Kirche die religiöfe Aufgabe der moralischen 
untergeordnet, das Heil von der Sittlichfeit abhängig gemadht. 
Die Kirche ift nicht mehr religiöfe Heilsanitalt, jondern ethijche 
Schule!, der Wert der erjteren (als der hiftorifchen Form) beitimmt 
dur das Maß, in welchem fie die leßtere wird. Unvermerft 
wird jo die Aufgabe der Kirche, fo ideal fie gefaßt wird, doch 
auf die Diesfeitigfeit beſchränkt. Ihr deal iſt die Heritell- 
ung des ethifchen Gemeinweſens, oder wenn wir es biblijch aus: 
drüden Dürfen: des Neiches Gotte8 auf Erden als einer glied: 
lihen Gemeinfchaft, deren Geſetz das in die Herzen gejchriebene 
Gefe Gottes iſt; auch wird diefes Ideal auf Erden nie erreicht 
werden; aber zu einer jenfeitigen Entwidlung wird die Kirche vom 
Rationalismus in feine pofitive Beziehung gebracht; die Aufgabe 
der Kirche beſchränkt ji auf das Diesfeits,; ihr Gebiet ift die 
menfchliche Gejellfchaft überhaupt, ihr Objekt nicht der Chrift im 
Menjchen, fondern der Menſch im Chrijten. 

So beflagenswert nad) einer Seite die Herabitimmung und 
Berflahung der ſpezifiſch chriftlihen Wahrheiten durch den Ra- 
tionalismus fein mag, jo dürfen wir es demfelben doch nicht ver: 
gefien, daß er zumal in feiner von Kant vertieften Gejtalt einen 
Begriff wieder in das kirchliche Bewußtfein eingeführt, ja in den 

1 „Die ethiihe Schule fir die individuelle Tugendbildung und 
Pflichtthätigkeit“, ſ. Ritfhl a. a. O. I, ©. 363. 


190 Köſtlin 


Mittelpunkt des kirchlichen Lebens gerückt hat, der im 19. Jahr— 
hundert für die Erneurung des chriſtlichen Gemeinſchaftslebens und 
der Kirche als eines ſittlichen Körpers zu eminenter Bedeutung 
gekommen iſt: es iſt der Begriff des ethiſchen Gemeinweſens, 
welcher das Schema ergab für den Zentralbegriff des über alle 
Bekenntnisſchranken übergreifenden Reiches Gottes als des höchſten 
Guts und Zwecks der kirchlichen Arbeit und Entwidlung.! Indem 
ferner der Nationalismus den Gemeinichaftsorganismus der Kirche 
einordnete in die Entwidlungsreihe der ethifchen Organismen, hat er 
die Kirche eingejegt in ihre Weltmiffton, in ihre jittliche Kultur— 
Aufgabe. Wird die legtere auch weit nicht im hriitlichen Voll— 
jinn bejtimmt, vielmehr im Sinne einfeitiger Moralität aufgefaßt, 
ſo iſt doch einmal die Kirche aus der Iſolierung gerüttelt, ıjt ihr 
doc gejagt: „Der Ader ift die Melt“! es iſt ihr die Aufgabe 
geitellt, ſich als ethifche Wotenz im höchiten und volliten Sinne 
zu legitimieren und damit ihre geichichtliche Stellung als Zentral- 
Organismus des Geifteslebens zu rechtfertigen. 

Das Amt des Geiftlihen hat nach der Anfchauung des 
Kationalismus nur Wert, fofern und fomweit es fih als Organ 
der Humanität und Sittlichkeit erweist: der klerikale Charakter 
verſchwindet vollftändig hinter der Verfünlichfeit des Tugendlehrers 
und des ördererd des gemeinen Beſten. Vergeſſe man aber 
wieder dabei nicht, daß der Nationalismus, wenn er auch den 
Geijtlihen der Bibel und dem Belenntnis, der firchlichen und 
jeelforgerlihen Thätigfeit entfremdet, dieſe zum bloßen pädagogi- 
ſchen Mittel herabgejegt hat, dafür den Pfarrer aus der Studier- 
ftube aufgeſcheucht, aus der Safriftei herausgetrieben und mitten 
ins Bolfsleben geitellt hat, damit er in der Arbeit am Wohl 
des Volks die Superiorität des Chrijtentums bethätige. Iſt damit 
nicht der Keim gelegt für das Werk, welches das Charisma der 
hrijtlich wieder vertieften modernen Kirche bildet, das Merk der 
dıiexovıa im großen Styl, der inneren Miffion? Thats nicht 
not, daran zu erinnern, daß der Pfarrer nicht bloß Theologe 
jei und daß das Amt nicht bloß den Ermedten angehöre? Iſts 


ı Nun betonen wir nicht mehr bloß communio sanctorum, 
fondern auch communio sanctorum, 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 191 


nicht ein Verdienit, daß der Nationalismus unfer Amt uns an— 
jehen und gebrauchen gelehrt hat als Organ fräftiger, fittlicher 
Einwirkung auf das Volföleben, ala ein herrliches Privileg, 
zum Wohl der Mitmenjchen, zur. fittlihen Hebung unferer Um: 
gebung mit allen uns gegebenen Mitteln und Kräften beizutragen, 
uns nicht auf die Kultusverrichtungen zu befchränfen, fondern uns 
und in und das Evangelium zu ermweifen als Kraft, als Licht 
als Salz? Erwägt man dies, jo wird man fich gerne ausföhnen 
mit der biederen Hausbadenheit und vielfach fpiebürgerlichen 
Beichränfthett, mit welcher die rationaliſtiſche Paſtoral das geift- 
lihe Amt auffaßt; man mird nicht unbedingt darüber lächeln, 
wenn fie dem Pfarrer ans Herz legt, was er ald Menſch, als 
Bürger, ald Patriot der Ehre feines Amtes ſchuldig iſt, wenn fie 
dem „Bolfslehrer” alle die Aufgaben zumutet, welche das 19. Jahr: 
hundert den jetzigen „Trägern und Säulen der Volfsbildung“ auf 
die Schultern legt, wenn fie überhaupt ala Objekt der geiftlichen 
Amtsthätigfeit das ganze Leben der Gemeinde nad allen feinen 
Beziehungen, mit allen feinen fittlihen Bedürfniffen und Schäden 
anfieht. Verbarg fich vielfach hinter der Zumutung folcher im 
Dienite der Humanität zu betreibenden moAungayuoovvı jehr oft 
das Unvermögen, der ſpezifiſch geiftlihen Wirkſamkeit irgend welche 
Mertihägung abzugewinnen, weshalb man das nun dod einmal 
vorhandene Amt ſonſtwie nugbar zu machen, für die Kultur, für 
die allgemeinen Menfchheitsinterefjen auszumerten ſich bemühte, fo 
lag darin doc auch die Anerkennung der zentralen Stelluna, 
welche dem Amte des Geiftlicheninnerhalb des Volkslebens gebührt, des 
bedeutenden Einfluffes, welchen die Kirche auf die Phyſiognomie 
und Geitaltung des Volkslebens ausübt. 

Es fam nur darauf an, das Befondere diefes Einfluffes, die 
eigentümliche, der Kirche im Unterfchied von jeder anderen ethischen 
Gemeinschaft einmohnende Kraft in Zufammenhang zu bringen 
mit ihrer religiöfen Beftimmthett, mit der ihr gefchichtlich vererbten 
Miffion, beziehungsmeife aus diefer zu begreifen, um die Kirche 
in ihre volle Bedeutung ald Organ und Pflanzitätte des Reiches 
Gottes als der denkbar höchſten und umfafjenditen ethiſchen Ge- 
meinſchaft, ja als des abfoluten Ideals aller Gemeinſchaft einzu: 
fegen und die Aufgabe der Kirche fo zu beftimmen, daß fie, in— 


192 Köſtlin 


dem ſie das ihr eingepflanzte, ſpezifiſch kirchliche Gemeinſchafts— 
ideal, ihre eigene Idee realiſiert, ebendamit das abſolute Gemein— 
ſchaftsideal verwirklicht, daß ſie, um das letztere zu realiſieren, 
nicht von ihrer geſchichtlich ihr gewordenen Miſſion abzuſehen, auf 
die Herausſtellung und Entwicklung der ihr eigentümlichen Kräfte 
und Aufgaben — wie der Rationalismus meinte — zu verzichten 
habe, ſondern vielmehr gerade als Kirche ſich auswirken und ent— 
falten müſſe, und in dieſer Entfaltung und Auswirkung ihrer ſelbſt 
ſich erweiſe als der Brennpunkt und Herd, als die Quelle und 
zentrale Zuſammenfaſſung aller idealen Kräfte und Elemente. 

Es kam alſo darauf an, wieder ein Auge, ein Verſtändnis zu gewin- 
nen für die religiöſe Bejtimmtheit, welche die Kirche ſpezifiſch 
unterfcheidet von jeder anderen ethiſchen Gemeinschaftöform, oder 
alfo die gliedliche Gemeinfchaft der Kirche, ihre ſoziale, ethifche 
Dafeinsmweife in Beziehung zu ihrem Wefensfundament zu feßen, 
beziehungsmeife die felbftändige Bedeutung und den eigentümlichen 
Wert des religiöfen Faktor überhaupt und des pofitiven, gefchicht- 
lich bejtimmten Chriftentums an und für fih in Bezug auf die 
Gemeinschaft zu erfennen. 

Der Verſuch einer von den konfeſſionellen Unterſchieden ab- 
fehenden, nur auf die Zentral-Erfahrung der erlöjenden Liebesthat 
Chrifti gegründeten, durch die Stellung Aller unter Chriftus als 
dad Haupt und durch das Grundgejet der Liebe normierten, relt- 
giös beſtimmten Gemeinfchaft lag in der Brüdergemeinde vor; 
fie erwies die Religion als eine beftimmende, das Leben ordnende 
Macht, das pofitive Chriftentum ala geftaltendes Prinzip der 
Gemeinſchaft, während man gewöhnt worden war, die Religion 
immer nur als Sache der Erfenntnis oder des Thuns, für eine 
Form des Wiſſens oder der Moral anzufehen. 

Aufgewachfen in der Luft der Brüdergemeinde wies Schleier: 
macher den pfychologifchen Ort der Religion als einer jelbjtändigen 
Funktion des menſchlichen Geiſtes und einer weſentlich gemein- 
Ichaftbildenden realen Macht nad. Es iſt ferner mwejentlich die 
Gemeinfchaftsidee der Brüdergemeinde, welche ihm, vielleicht ihm 
unbewußt, das Schema abgiebt für die begrifflihe Zufammen- 
fafjung aller im Verlauf der Geſchichte in zeitlichem Nacheinander 
oder räumlichem Nebeneinander hervorgetretenen, einander ergän- 


:% 


Der Begriff des geijtlichen Amts. 193 


zenden, weil je für ſich Wahrheit und Jrrtum enthaltenden Einzel: 
firhen zur Gefamtheit der Kirche ald der weſentlich durch das 
Bewußtſein der Erlöfung durch Jeſus von Nazareth beftimmten 
(al Einheit nur auf dem Wege der Abjtraftion zu erfaflenden) 
Gemeinschaft, welche in diefer ihrer Gefamtheit, aber auch nur in 
diefer, das Abbild des durch die perfonbildende Vereinigung beite: 
henden Erlöfers ift, ja die unmittelbare und ausſchließliche Fort: 
ſetzung der erlöjenden Thätigkeit Jeſu, ſofern diefe fi von der 
Himmelfahrt an unmittelbar in die Thätigkeit der Kirche umfegt, 
Indem die einzelnen, gefchichtlich gewordenen Sonderkirchen zu der 
idealen Einheit eines in zeitlihem Nacheinander und räumlichen 
Nebeneinander ſich entfaltenden geiftigen Gefamt-Organismus zu: 
jammengefaßt werden, erfcheinen die Sonderlirchen in ihrer ſpezi— 
fiſchen religiöfen Bejtimmtheit und Ausprägung nicht mehr bloß 
als zufällig entjtandene Gegenfäße, gleichſam als die erratifchen 
Blöde einer entihwundenen Zeit, jondern als Glieder eines Ganzen 
und dieſes Ganze erfcheint dem betrachtenden Blid als die räum— 
lich-zeitliche Projektion der Stiftung Jeſu Chrijti, als die folge: 
richtige Fortfegung und Auswirkung der von Ihm vollbradhten 
Grlöfung: die Gejamtheit der chriftlihen Gemeinschaften iſt als 
organifches Ganzes begriffen und dieſes Ganze in die engſte Be: 
ztehung gefeßt zu dem gefhichtlichen Anfangspunft, der pojitiven, 
grundlegenden Erlöfungsthat Jeſu Chrifti. Indem die Mannig- 
faltigfeit der nach Chrijto ſich benennenden Gemeinschaften auf den 
Einen Anfangspunft bezogen und in diefer Bezogenhett auf den 
Einen Anfangspunkt bei aller Verfchiedenheit der den einzelnen 
eigentümlichen Ausprägung als Einheit begriffen und zujammen- 
geichaut wird, ift dasjenige, was die dhriftlihe Gemeinfchaft als 
folche im Unterſchied von jeder andewn Gemeinjchaft beitimmt, in 
feinem ſpezifiſchen Weſen erkannt, herausgehoben und bejtimmt, 
der Begriff der chriſtlichen Gemeinfchaft, der Kirche abgejehen von 
der £onfefjtonellen Sonderung und Verzweigung gegeben und damit 
die Einheit des chriftlich-firchlichen Gemeinſchafts- und Lebensideals 
gervonnen, welche ſich erft in bejtimmte Beziehung ſetzen läßt zu 
dem von der PVhilofophie unter der Vorausfegung der organifchen 
Einheit des Menſchengeſchlechtes geſchaffenen ethiſchen Gemein: 
ichaftö- und Lebens-Ideal, dem letzten Zwed der Welt, dem 
Theol. Studien a. W. VI. Jahrg. 13 


194 Köſtlin 


Menſchheitsziel, oder bibliſch ausgedrückt, dem Reiche Gottes. Da 
das letzte Ziel der Menſchheit nur Eines ſein kann, ſo muß das 
Gemeinſchafts- und Lebens-Ideal der Kirche in ſeinem Weſen 
identiſch ſein mit dem allgemeinen, ethiſchen Ideal und es fragt 
ſich nur, ob das kirchlich-chriſtliche Ideal die unvollkommene Form, 
gleichſam die Vorſtufe darſtellt für das rein ethiſche Ideal (Ra— 
tionalismus, Hegel), oder ob die Kirche als das ausſchließliche 
Organ der Verwirklichung des ethiſchen Ideals, als die ausſchließ— 
liche Pflanzſtätte des Reiches Gottes betrachtet wird gemäß Der 
Überzeugung, daß das Chriftentum nicht bloß „die höhere 
Vollendung des gemein menfchliden Bewußtſeins“ Daritelltt, 
jondern überhaupt erit die Idee des Neiches Gottes, bezw. Der 
wahrhaft ethifchen Gemeinschaft in dad Bewußtſein der Menſchen 
gepflanzt hat. Bei dieſer leßteren, dem gefunden chriſtlichen Selbſt— 
gefühl allein entfprechenden Auffaffung können Kirche und Reich 
Gottes auseinandergehalten werden entweder fo, daß man beide 
Gemeinschaften weſentlich identifiziert und nur nad ihrer Er— 
Iheinung ala Phaſen der Entwidlung, als ſich realifierende und 
al3 realifierte Gottesherrfchaft unterfcheidet, unter „Kirche“ „das 
Reich Gottes in der Unfichtbarfeit und Innerlichkeit anfänglicher 
Realifierung mit der Intention zur Erſcheinung feiner geiftigen 
Realitäten, und daher prinzipiell total und univerfal*,t unter Reich 
Gottes die Vollendung in der fichtbaren Erfcheinung feines Wefens 
als Totalität und Univerfalität der Gottesherrfchaft (entfprechend 


etwa dem Unterjchted der Fämpfenden und der triumphierenden 


Kirche) verjteht; oder fo, daß man den Begriff des Reiches Gottes 
als den weiteren, dem der Kirche übergeordneten, Begriff nimmt, 
das Neich Gottes als die „ertenfiv und intenfiv umfangreichfte 
Bereinigung der Menjchheit durch gegenfeitiges fittliches Handeln 
ihrer Glieder, welches über alle natürlichen und partifularen Be: 
ftimmungsgründe hinausgreift“, die Kirche als die religiös beftimmte, 
dad Neich Gottes nach der religiöfen Seite hin realifierende Ge— 
meinjchaft, als Kultusgemeinde im vollen Sinne des Wortes auf: 
faßt. Ob man dann wie Rothe die Kirche im Reich Gottes 
begrifflich aufgehen läßt, weil das Neligiöfe nicht Selbſtzweck ift, 


1Zezſchwitz, a. a. O. S. 13. 


Der Begriff des geiftlichen Amts, 195 


oder ob man mit Ritſchl'! in der Kirche als der gotteödienitlichen 
Gemeinde ein mejentlihes Glied nicht bloß em tranfitoriiches 
Drgan erkennt, bleibt injofern glei, als auch bei Rothe in Wirk 
lichfett die Kirche nie ganz im ethiſchen Organismus aufgehen 
wird, und als beiden Anjchauungen die Überordnung des Neiches 
Gottes, der abfoluten Gemeinschaftöform, über die Kirche, die 
Ipezififch gottesdienitliche Gemeinschaft, weſentlich tit, die lettere 
ihren Zwed nicht in fich jelbit, Sondern im Neich Gottes als dem 
höchſten Gut hat, welches jelbit als das Korrelat des Begriffs 
von Gott als der Liebe beitimmt iſt (ſomit auch als Ziel der 
Erlöſung, Joh. 3, 16.) 

Die Stürme, deren Frucht die Erneuerung des religtöfen 
Lebens in Deutſchland war, haben nicht bloß die religiöfe Stimm: 
ung überhaupt belebt, jondern im Zufammenhang mit dem neu 
erwadten Geſchichtsſinn, der das geichichtlich Gewordene als ſolches 
wertet, das konfeſſionelle Selbitgefühl mächtig geſtärkt, fo daß 
die fonfeljionellen Gegenſätze jchroffer denn je auseinandertreten. 
Auch die evangelifchen Kirchen haben ſich rechtlich ftreng abge: 
ſchloſſen (nicht bloß dem Belenntnisgrund nad), fondern als Ge: 
meinichaften, man denke an die Beitimmungen über die Miſch-Ehen 
u. a.). Dem innerhalb der empirischen Kirche als einer firchlichen 
Rechts⸗-Ordnung angeftellten Geiltlichen kann es daher nicht genü- 
gen, jih im Geilte über die Vielheit der getrennten Kirchen zu 
erheben, auf dem Wege der Abjtraftion zur dee und zum Be- 
mwußtjein der Einheit, der chriftlichen Gemeinschaft zu gelangen. 
Denn wenn er auch die trennenden Unterfchiede für feine Perſon 
ala unweſentlich anjieht, jo ergeben ſich aus denjelben beitimmte 
Verpflichtungen, über die er fich nicht ohne weiteres wegjeßen 
darf in dem Gedanken: ich diene ja nicht der Landeskirche, fondern 

1 „Kirche find die an Chriſtus Glaubenden, fofern fie im Gebet 
ihren Glauben an Gott den Vater oder fih für Gott als die ihm 
dur Chriſtus mwohlgefälligen Menſchen darſtellen — Reich Gottes — 
fofern fie, ohne die Unterſchiede des Geſchlechts, Stande, Volks an- 
einander zu beachten, gegenfeitig aus Liebe handeln und fo die in 
allen mögliden Abftufungen bis zur Grenze der menjchlichen Gattung 
fih außbreitende Gemeinjchaft der fittlihen Gefinnung und des fitt- 
lichen Gutes Hervorbringen.“ Ritſchl a. a. ©. II. ©. 245. 

13* 


196 Köftlin 


der Kirche Chriſti, oder für mich it nur mwejentlih, was der 
Schleiermacher'ſche oder Rothe'ſche oder Ritſchl'ſche Kirchenbegriff 
zum Weſensmerkmal ſtempelt. Für ihn erhebt ſich daher auf 
Schritt und Tritt das Bedürfnis: den durch Abjtraftion gewonne— 
nen Einheitsbegriff der Kirche jeden Augenblid mit dem Fompli- 
zierten Pflichtenfreis der konkreten Gemeinde zu verfnüpfen, und 
von diefem aus wieder die Brüde zur Einheit der Kirche zu ſchla— 
gen; oder er muß jich Har fein, was an und innerhalb feiner 
Kirhe ein Stüd der Kirche und was nur, wenn wir fo fagen 
dürfen, geſchichtliche Anſchwemmung iſt. Thatfählih nun wird 
jolhes, was dem Geiftlichen vielleicht nad feiner dogmatifchen 
Überzeugung das Unmefentliche, Nebenfächlice ift, innerhalb feiner 
eigenen Kirche geradezu zum Weſentlichen, zur bejtimmenden Grund: 
lage der Gemeinschaft gemadt und ihm fo auf das Gewiſſen 
gelegt. Dawider hilft weder die reservatio mentalis, noch Die 
Verſchanzung hinter den Slirchenbegriff der theologischen Schule. 
Es giebt nur Eine Inſtanz, welche über den Parteien jteht, vor 
welcher fich im entfcheivenden Falle auch die regimentlichen Organe 
der empirifchen Gemeinde zu beugen haben, das Zeugnis Chrifti 
und feiner erjten Zeugen, und jo haben wir das Gewonnene zu 
normieren an der hl. Schrift. Der gefchichtliche Überblid giebt 
uns dabei folgende Frageitellung an die Hand. 

Da alle Kirchengemeinichaften die Urfahe und das Necht 
ihrer Erijtenz auf Jeſus Chriftus zurüdführen und alle Kirchen- 
begriffe der theologischen Schulen darin übereinjtimmen, daß die 
Kirche ihrem Urfprung und Wefen nad) die Stiftung Chrifti ſei, 
jo fann es ſich nur noch fragen: 

1. in welchem Sinne ift die Kirche die Stiftung Jeſu — iſt fie es 
nur nad) ihrem Weſensgrund (evangelifche Anfchauung) oder 
auch nad) ihrer glievlichen Dafeinsform? Was an der leb- 
teren ijt direft von Jeſus in dem Begriff der Kirche mit: 
gefegt, nur die ethifhe Norm der Gemeinschaft d. h. der 
Liebe, oder auch Rechtsformen (Befenntnisformeln, Lehr: 
Ordnungen, Kultus-Ordnungen 20.) ? 

2. In weldem Sinne ift Jeſus als das Subjeft der Kirche 
zu fallen? Im Sinne der Transcendenz, jo daß feine erlö- 
jende Thätigfeit ſich völlig in die der Kirche umfeßt, fei es 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 197 


daß man die leßtere als die rechtlih von ihm beauftragte 

Teitamentsvollftrederin (kath. Kirche) oder ald die geſchicht— 

liche DVermittlerin feiner Offenbarung betrachtet, oder im 

Sinne der Immanenz, fo daß Chrifti Thätigkeit ſich innerhalb 

der Kirche aktuell fortjegt (Pietismus), eine direfte Einwirk— 

- ung feiner Berfon ftattfindet (Zuther). 

Aus der Beantwortung diefer zwei Hauptfragen ergiebt ſich 
der Kanon für die Beftimmung des Berhältniffes, in welchem die 
im Verlauf der Gefchichte hervortretenden Sonderkirchen zur Stift: 
ung Jeſu ftehen, und für die Unterfcheidung ihrer abjoluten, 
ewigen und ihrer gejchichtlich gegebenen zeitlichen Miſſion. 

Zugleich wird ſich nach diefem Kanon bejtimmen lafjen, wel- 
ches Maß von Bedeutung und verpflichtender Kraft die fonfefjionelle 
Ausprägung in Befenntnis und Lebensordnung zu beanfpruchen 
hat, und ob die Heritellung einer dereinjtigen Einheit auf Erden 
im Gefichtäfelde Jeſu liegt. 

Endlich wird fih nach diefem Kanon innerhalb des Amtes 
ausfcheiden lajjen, was unbedingt verpflichtender Dienjt des Herrn, 
und was bedingte, dem eriteren fchlechthin unterzuordnende Ber: 
pflichtung des empirischen Amtes ift. 


II, 

Die eine Hauptfrage, welhe uns der gefchichtliche Überblid 
über die Entwidlung des Bewußtfeins von Kirche und Amt an 
die Hand giebt, ift die: in welchem Sinne ift die Kirche die 
Stiftung Jeſu? daß fie dies überhaupt ift, verjteht ſich von felbit 
und tft in dem Bemwußtfein fämtlicher Parteien von der Kirche 
enthalten; Matth. 16, 18. und 18, 17. fpricht e8 der Herr felbit 
aus, daß er eine Gemeinde ſammeln und eine Kirche jtiften wolle, 
und er hat diejelbe mit der Sammlung der Jünger zu einer Ges 
meinfchaft thatfählich geitiftet. Es fragt ſich indeffen, wenn wir 
an den großen Gegenfat der römifch-fatholifchen und der proteitan: 
tiihen Auffaffung denken, in welchem Sinne die Kirche d. 5. 
Sammlung der Gläubigen zu einer jichtbaren, georbneten, alfo 
gliedlich verfaßten Gemeinde, beziehungsmweife einem Drganiämns 
von Gemeinden die unmittelbare Stiftung Jeſu Chriſti ift, ob die 


195 Köſtlin 


Stiftung der Kirche als Jeſu eigentliche Lebensaufgabe bezeichnet 
werden muß, ſo daß die Kirche als der „menſchgewordene Sohn 
Gottes“ erſchiene, die Thätigkeit Jeſu ſich in die der Kirche völlig 
und ausſchließlich umſetzte, oder ob die Sammlung der Gläubigen 
zu einer in die Sichtbarkeit tretenden, gliedlichen Gemeinſchaft ihm 
jelbjt nicht als Zwed, ſondern ald Mittel zum Zwed der Rea— 
liſierung feiner eigentlichen Aufgabe erſcheint. Denn von der Be- 
antwortung diefer Frage hängt die Entjcheidung darüber ab, 
worein Sefus das MWefen der Kirche gejett haben will, ob zum 
Weſen der Kirche die fichtbare Gemeinſchaft als ſolche gehört, oder 
nur das, was diefe Gemeinjchaft in den Stand ſetzt, Mittel zu 
werden für die Nealifierung eines höheren Zweckes. 

Wenn nun aud) fein Zweifel darüber bejtehen fann, daß 
Sefus eine fichtbare Gemeinschaft hat Itiften wollen! und das Da- 
fein einer ſolchen in bejtimmte Ausficht genommen hat, jo ift doch 
ebenfo gewiß, daß er dies nicht als feine eigentliche Lebensaufgabe 
als feinen Lebenszweck, als die ihm ala dem fleifchgemordenen 
Sohne Gottes zuftehende befondere Aufgabe und Miffton angejehen 
hat, wie denn auch feine der an der hl. Schrift normierten An= 
Ihauungen die Stiftung der Kirche mit dem Werke Chrijti iden- 
tifiziert. Chrifti Werk, feine Lebensaufgabe im engeren und 
eigentlichen Sinn iſt die Erlöfung und Verſöhnung der Menfchen 
(Joh. 1, 29. Matth. 20, 28. 26, 28. Joh. 17, 19.), ihre Ver: 
jeßung in das Verhältnis der Kindſchaft zu Gott (Joh. 1, 12.). 
Er iſt nicht gefommen, um das Neich Gottes zu ftiften oder zu 
gründen — denn das Weich Gottes iſt mit ihm „gekommen“, ift 
in feinem Beginn wie in feiner Vollendung dur einen Schöpfer: 
alt Gottes bedingt oh. 17, 21. 10, 14.—16. 21, 15.—17. 
Matth. 13. 19, 28. 25, 34. Act. 1, 6. ff., nicht erſt durch den 
Menſchenſohn zu begründen; er iſt gefommen, um das Reich ala 
daſeiendes zu verfündigen, die Menjchen zum Eintritt in das Neich 
Gottes zu nötigen, ihnen durd feinen Sühnetod den Weg in das 
Reich Gottes zu ermöglichen (Matth. 11, 12. Luc. 23, 43. 22, 16. 
u. a.). Seine Thätigfeit iſt daher zunächſt auf die Menfchen ala 
ſolche gerichtet, ihr Objekt ijt die einzelne Berfönlichfeit innerhalb 


1 Bergl. Julius Röftlin, a. a. O. ©. 27. 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 199 


der Gemeinschaft, nicht die Gemeinichaft ala ſolche. Sofern jedoch 
Ziel und Folge diefer Thätigfeit die Vereinigung der von Chriftus 
Erlösten im Reiche Gottes iſt (deſſen Umfang als Bacıksıa 
rov ovpavov die Menjchheit weit überfchreitet), Tann als Die 
Lebensaufgabe, als der eigentliche Lebenszweck Jeſu bezeichnet 
werden: die Einführung der Menfchen in das Gottesreich, oder die 
Realifierung des Gottesreihes in den Menfchen durch die Ber: 
fündigung feines Dafeins und feiner unverbrüdhlichen Normen und 
Ordnungen, jowie dur die Erfchliefung des Einganges in das 
Gottesreich für die Menjchen durch den freiwillig übernommenen, 
Gottes Ratſchluß realifierenden Sühnetod. 

Wie verhält fich zu diefer Lebensaufgabe Jeſu die von ihm 
dur die Sammlung der Jünger begonnene und Matth. 16 u. 18 
in Ausfiht genommene Vereinigung der von ihm Berufenen zu 
einer jichtbaren Gemeinfhaft? Wie verhält ſich die Kirche zum 
Werk der Erlöfung und Verſöhnung einerfeits, zum Neich Gottes 
andererjeits ? 

Das Neich Gottes iſt feinem Begriff nach die Gottesherrfchaft 
im abfoluten Sinne, diejenige Drdnung der Dinge, „da Gott mit 
feinem heiligen Willen regiert und als unendlich reicher und güti— 
ger Herrſcher eine unerfchöpfliche Fülle von befeligenden Gaben“ 
ausſpendet!. Dieſe die abſolute Gottesherrfchaft darftellende Ord— 
nung der Dinge iſt nicht etwa das durch die Reflexion höher ge— 
richteter Geiſter erzeugte Ideal der Gemeinſchaft, nicht ein bloßes 
Gedankenbild, ſondern ſie iſt real im Himmel, innerhalb der Welt 
der vollendeten Geiſter, weshalb das Gottesreich auch „Himmel- 
reich“ heißt, nicht blos nach feiner mefentlichen Herkunft, fondern 
nad) dem Umfang und Gebiet feiner derzeitigen vollen Verwirk— 
lichung?. Die volle Realität des Gottesreihes als der ver— 
wirklichten Gottesherrfchaft innerhalb der himmlifchen Welt 
ſpricht die dritte Bitte des Vaterunſers deutlih aus, die zweite 
feßt fie vorauß und jo wird man fomohl H. Schmidt a. a. D. 


ı 3%. Köftlin, das Weſen der Kirche ıc. ©. 80. 

2 So jedenfall nad) der Lehre des neuen Teftaments, die wir 
nicht unfern Begriffen, fondern der wir unfere Begriffe anzupaſſen 
haben, jo weit wir von neuteftamentlicher Theologie reden wollen. 


————— —— — —— — — 00.0.0. — 


200 Köſtlin 


S. 15 Recht geben, wenn er ſagt: „Das Gottesreich, das der 
Herr bringt, iſt das Abbild des ſchon beſtehenden himmliſchen 


Reichs“, als auch dem ſel. Bed, wenn er in feinen „Paſtoral— 


lehren des neuen Teitament3” ©. 101 mahnt: „Das Himmelreich 
(Matth. 4, 17.) hat man nicht als blos jenfeitiges zu ſchildern 
und noch viel weniger zu etwas blos diesfeitigem, zu einem bloßen 
Kirchenbeggiff zu machen, fondern als das nahende und nahe Über: 
irdifche und Überfinnlihe hat man es entgegenzubringen. Im 
Himmelreih ift das Gute in feiner höchſten Reinheit und Kräftig- 
feit zufammengefaßt, allerdings als unfichtbar, als geijtig gefaßt, 
aber darum nicht ala bloße Idee, ald bloßer Seelenzujtand, fondern 
als überirdifche Realität; auch nicht als etwas bloß DVereinzeltes, 
jondern als feitgeorbnetes Ganzes, als Lebensiyitem.” Die ob 
jeftive Realität ruht einerfeit3 in der abfoluten Lebensnorm des 
göttlichen MWillend, andererfeit3 in dem Vorhandenfein freier fich 
ſelbſt nach dieſer Lebensnorm bejtimmender, Gott und ein- 
ander in der Liebe dienender Geiſter. Inſofern ijt gewiß richtig, 
wenn Ritſchl das Weich Gottes bezeichnet ala „das Correlat des 
göttlihen Selbſtzwecks“, ala den „Zweck der Schöpfung und 
Leitung der Melt“; nur ift der Begriff des Reiches Gottes 
niht auf „dad aus den Menſchen zu bildende Reich 
Gottes" zu befchränfen, ſofern das vor der Criftenz der 
Menſchenweſen eriftierende Neich der höherne himmlifchen Geifter- 
welt mit in den göttlichen Selbitzwed und in den Zweck der 
nicht bloß die Erde, fondern auch den Himmel umfafjenden Welt- 
ihöpfung eingefchloffen ift; dagegen iſt das Weich Gottes auf 
Erden allerdings das „aus den Menfchen zu bildende Weich 
Gottes“, mit dem Reich Gottes identiſch nad) defjen ethifchem Be— 
griff, aber nicht nach deſſen Umfang. 

Für die Erde und die auf ihr wohnende Menfchenwelt ift das 
Reich Gottes ein „Tommendes“, ſowohl der Art, als der Zeit und 
dem Umfang nad. Der Art nad infofern, ala weder die dee 
der vollendeten Gottesherrfchaft in Form einer Durch das Weſens— 
geſetz Gottes, die Liebe (Matth. 5, 48.), beftimmten Gemeinfchaft, 
noch deren Verwirklichung das Ergebnis rein menſchlicher Entwid: 
lung fein fann, vielmehr ſowohl die dee, wie die erjte Verwirk— 
lihung des Neiches Gottes ein völlig neuer Keim ift, der in das 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 201 


Bewußtfein, in den Boden der Menfchheit eingeſenkt wor— 
den ijt.t 

Das Reich Gottes iſt für die Erde ein fommendes, ferner der 
Zeit nad, fofern e& ſich auf der Erde in zeitlihem Verlauf all: 
mählich entwidelt und entfaltet: ala das höchſte Gut, für welches 
unfer Wefen organijiert iſt, als die Perle, die von jedem, ob er 
deß fich bewußt ijt oder nicht, gefucht wird, ift es eingeſchloſſen 
in das verborgene Sehnen des Menjchengetites nach einem höheren 
Dafein, und gegeben iſt es als Lebensordnung von abjoluter 
Giltigfeit im Gemiffen. Als der zum Gemeinſchaftsgeſetz erhobene 
fouveräne Wille Gottes erfcheint es in der altteftamentlichen 
Theofratie; in alljeitiger Verwirklichung als Gut (volle Harmonie 
des Seins, Seligfeit), und ala von freiem Willen der Berfönlich: 
fett ergriffene Lebensnorm, als volle Aktualität des Weſensgeſetzes 
Gottes, nämlich Seines Willend als des Willen? heiliger Liebe, 
in einem durch ſchlechthin freie Willensthat beitimmten Verfonleben 
erjcheint e8 in Jeſus von Nazareth (oh. 4, 34. 5, 30. 6, 38. 
Joh. 5, 19.). Er iſt demnach der Träger der Gottesherrfchaft in 
feiner Perſon, indem diefe fi) ausweist ald Sammelpunft über: 
weltlicher Kräfte (Matth. 12, 28, ff. Luc. 4, 21. 10, 18. Matth. 
11, 2.—6. u. a.); daher vertritt er mit klarem Selbſtbewußtſein 
in feiner Perfon die Drdnung und Norm des Weich Gottes 
(eyo de Matth. 5, 20. 22. 28. 32. 39. 44. u. f. f.), nimmt das 
Recht des Geſetzgebers und Herrn, das Necht zu binden und zu 
löfen, ala etwas Selbitverftändliches, ihm nach feiner Stellung ohne 
weiteres Zukommendes in Anfprud (Matth. 5.—7. oh. 2, 14. ff. 
Matth. 21, 12. ff. Joh: 3, 35. Matth. 11, 27. Matth. 28, 18. 
u. a.; dann: Matth. 9, 2.,—6. Luc. 7, 47.—50. u. Matth. 18, 18.2). 


1 So will es Ritſchl a. a. O. III. 242 hervorgehoben haben, „daß 
das Reich Gottes als der Endzwed in der Welt in feiner Weife ebenjo 
über die Welt Hinausgreift, wie Gott übermeltlich ift.“ Nur märe 
auf diefes Moment des Hinaudgreifens viel mehr Gewicht zu legen, 
ebenjo wie auf das der Überweltlichfeit Gottes, um manchem unbilligen 
Vorwurf und Mifverftändnis zu begegnen! 

? Ob unter „binden“ und „löſen“ die Vollmacht, Sünden zu be- 
balten und zu vergeben entiprechend der Stelle Joh. 20, 23., oder nur 
die Vollmacht, überhaupt im Namen Sefu bleibende Verfügung zu 


m ii en 


202 Köftlin 


ebendarum fordert er von den Menfchen den Glauben, dat Er 
der Träger der Gotteäherrfhaft im vollen und ausſchließlichen 
Sinne fei nicht blos als derjenige, in welchem die Norm und die 
Kräfte des Reichs Gottes allein und ausfchlieglih Perſon ge: 
worden find, fondern als derjenige, welcher für alle Menjchen der 
Führer zum Reich Gottes oh. 14, 6. im ausſchließlichen Sinne 
it, fo daß ohne Ihn niemand das Reich Gottes fehen Tann. 
Dabei ift e8 ihm nicht etwa um die formelle Anerkennung zu thun, 
daß er der Herr und Meſſias fei, um das bloße formelle Befennt- 
nis zu ihm (vergl. Matth. 7, 21.) nach feiner Stellung im Reich, 
fondern er fordert Anerkennung feiner Perſon, Glaube in diefer 
formellen Zufpisung, weil diefer Glaube Ausdrud und Beweis 
davon tft, daß der Emigkeitsfinn im Menfchen, an welchen allein 
die Erziehung zum Himmelreih angefnüpft werden Tann, aufge- 
Schloffen ift, mit der Kraft der Wahrhaftigkeit und Lauterfeit hin- 
durchdringt durch alle Widerfprüche des Augenſcheins und hinweg— 
fchreitet über alle Vorurteile der Zeit und über alle vorgefaßten 
Meinungen der Schule; daher kann er mit vollem Recht jagen, 
daß er auch mit der Forderung des Glaubens an Ihn als den 
Gottesfohn, den Träger und Mittler der Gottesherrfchaft, nicht 
feine Ehre fuche Joh. 5, 41. u. a. und daß, wer aus der Wahr: 
heit ift, feine Stimme höre; nur ein für die himmlische Wejenheit 
des göttlichen Reichs aufgejchlojjener Sinn, der zum Gehorfam 
gegen die Norm des ewigen Gotteswillend innerlich verbindet, 
weil die himmlifche Welt als die volle Realität ergriffen, ihr 


treffen, verſtanden ſei, laſſen wir dahingejtellt, wiewohl der Zuſammen— 
dang für die ältere Auffaſſung fpricht; für ung ift zunächſt die Haupt- 
ſache, dab als Vorausſetzung, gleihfam als Vorderſatz für die Ver— 
heißung voller Kraftwirkung ſowohl wenn ſie in Jeſu Namen binden 
und löſen als wenn ſie in Jeſu Namen beten, v. 20 beſtimmt ins 
Auge gefaßt werde, wornach als eigentliches Subjekt beider Handlungen 
der Herr ſelbſt erſcheint, deren Kraftwirkung eben darauf geſtützt wird, 
daß Er, der Träger der göttlichen Reichſsordnung, real da iſt, als der 
eigentlih Handelnde angefehen wird — nicht die Gemeinde, fondern 
die in jeiner Perſon zufammengefchlofjene Gemeinde, alfo nur 
joweit fie volles Organ Seines Willens ift, ſolche Gewalt Hat. Bgl. 
Jul. Köftlin a. a. DO. ©. 58—56, bei. ©, 56. 


Der Begriff des geiftlihen Amts. 203 


ganzes Gewicht ins Gewiſſen gefaßt wird, nur ein ſolcher Sinn, 
der nah oben fich ftredt Matth. 6, 33., fann im Sohne des 
Zimmermanns Joſephs, in dem von allen geiftlichen Autoritäten 
Verworfenen, mit der Lehre und Lebensauffafjung aller Schulen 
ji in Widerſpruch fetenden Galiläer die Herrlichfeit des einge: 
borenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit erkennen 
oh. 1, 14. - 

Vorausfegung des Glaubens an ihn iſt demgemäß Die 
ueravore als der entjcheidende, fittlich-religiöfe Akt, vermöge deſſen 
der Mensch fich prinzipiell der Wahrheit unterwirft, ihr prinzipiell 
Recht giebt und fo ihrer richtenden, wie ihrer befeligenden Wirk: 
ung fi fähig macht; die neravora als die von der abfoluten Wahr: 
heit bejtimmte, von allen Außerlichfeiten und Nebenrüdfichten, Be- 
Schönigungen und Selbfttäufchungen abjehende Selbſt- und Welt: 
beurteilung fchärft den Blid für das Göttliche, Überweltlihe in 
Chriſto und fchließt Herz und Gewiſſen dem auf, mas in Chriſto 
erfchienen ift und dargeboten wird. Die Probe der Aufrichtigfeit 
der ueravora und der Neellität des Glaubens iſt die Bethätigung 
des Gehorfams gegen Gott ſowohl in Bejchreitung des von 
Gott geordneten Heilswegs und demütiger Beugung unter Seinen 
Heilsratihluß, wie in dem Thun der Liebe (Marc. 3, 35. Matth. 
7, 21.31. 5, 17. 22, 36.—40. 5, 43.—48, Luc. 10, 29. ff.) 

So ift das Reich Gottes auf Erden nicht zunächſt ein räum- 
lich, zeitlich, oder juridifch abgrenzbarer Gemeinfhaftsorganiamus ; 
es ift real zunächſt in denjenigen Perſonen, welche die Lebensord— 
nung des Reichs Gottes durch Chriftum in ihr Perfonleben auf: 
genommen haben, alfo eine Gemeinschaft wirklicher Perfonen, die 
auf objektiven Normen ruht Luc. 1, 17. Matth. 5, 17. und nur 
infofern unfichtbar, ald das Auge der Menjchen diejenigen nicht 
bezeichnen und aufzählen fann, welche zum Reich Gottes gehören, 
und als das Band, welches die Reichsgenoſſen auf Erden unter: 
einander verfnüpft, ein unfichtbares ift; es ift eine geiltige Ge— 
meinfhaft nicht in dem Sinne, ald ob e8 nur im Bemußtfein des 
Einzelnen lebte und Beftand hätte, jondern in dem Sinne, daß 
es eine geiltig vermittelte, aber reale Gemeinfchaft ift, deren volle 
Realität den Einzelnen durch die geiftigen Mittel des Worts, des 
Gebets, des hl. Abendmahls zu vollem Bemwußtfein fommt. 


204 Köſtlin 


Im Begriffe des Reiches Gottes auf Erden wie im Weſen 
ſeiner geſchichtlichen Verwirklichung in der Perſon Jeſu Chriſti iſt 
es gegeben, daß es irdiſche Realität gewinne in dem Maße, als 
es in den einzelnen Menſchen Geſtalt und Leben wird. Sein 
Wachstum auf Erden iſt in erſter Linie bedingt durch Werbung 
und Erziehung von Menſchen für das Reich Gottes durch die rein 
geiſtigen Mittel der Verkündigung des Worts und der Erfahrung 
der Gemeinſchaft mit Jeſu, dem geſchichtlichen Erſtling und abſo— 
luten Organ des Reiches Gottes. Daher beginnt Jeſus mit der 
Berufung von Einzelnen, welchen er in engerer Gemeinſchaft ſich 
zu erkennen und zu erfahren giebt: das Weſen dieſer Gemeinſchaft 
liegt nicht in der Verbindung der Jünger untereinander, ſondern 
in der Verbindung und Gemeinſchaft eines jeden mit Ihm: nicht 
ſie erziehen einander zum Reich Gottes, ſondern Er iſt es, der ſie 
Alle erzieht. Daher löst ſich die Gemeinſchaft, als fie des Haupts 
und Wittelpunfts beraubt ift, auf und ſammelt fich dauernd erjt wieder, 
nachdem fie in dem auferftandenen und erhöhten Chrijtus ihr un— 
jihtbar gegenwärtiges Haupt gefunden hat. Nurt unter der Vor- 
ausfegung der perfünlichen Gegenwart des Herrn Matth. 18, 20. 
und des engiten Zufammenjchluffes der Gemeinde mit Ihm als 
dem bejtimmenden und Ienfenden Haupte erhält die Gemeinschaft 
von ihm die Vollmacht zu binden und zu löſen; weil Petrus durch 
das Bekenntnis Matth. 16, 16. ausfpricht, daß er prinzipiell von 
„Fleiſch und Blut“ fich emanzipiert, in Chrifto den Herrn er: 
griffen, durch alle Sünde, alle Schwachheit, alles Vorurteil hin: 
duch mit dem Herrn Fühlung gewonnen und jo wejentlid 
mit ihm fich verbunden hat, bezeichnet Jeſus ihn und Diejenigen, 
in welcher Namen er gejprochen hat, als den Grundftod? der 
Gemeinde, welche die erjte Anpflanzung des Reiches Gottes auf 
Erden außer Sefus felbjt bilden ſoll. 

So erſcheint die von Jeſus ſelbſt geitiftete und von ihm in 
Ausfiht genommene fichtbare, äußere Sammlung der Sünger, der 
zum Reiche Gottes Berufenen, unter dem doppelten Gefichtspunft, 
daß in diejer Gemeinfchaft einerſeits die Einzelnen durch das 


Vergl. Jul. Köſtlin a. a. O. ©. 56. 
? Vergl. Gottſchick, die fihtbare und die ah Kirche. Theol. 
Stud. u. Krit. 1873. ©. 73, 74 ff. 


Der Begriff des geiftlihen Amts. 205 


Mort Chrifti und durch die lebendige Erfahrung der Gemeinfchaft 
mit ihm immer tiefer in Sein Weſen hineingebildet, zum Reihe 
Gottes erzogen werden follen, und daß andererfeits dieſe Gemein- 
Ichaft die erjte Anpflanzung des Reiches Gottes, die erſte Samm— 
lung der dem Reiche Gottes Zuftrebenden, beziehungsweife von dem 
Herrn zum Reiche Gottes Berufenen daritelle, nit fo alö ob nun 
die innerhalb diefes äußeren Verbands befindlichen Schon alle als 
Vollglieder des Reiches Gottes anzufehen wären, jondern fo, daß 
fie prinzipiell in die befondere Heilsgemeinſchaft Jeſu, die engere 
Schule fürd Reich Gottes aufgenommen find (freilich, wie Judas, 
aus derjelben auc wieder fallen können). Die Gemeinjchaft hat 
ihr Weſen nicht in der gliedlichen Verbindung als jolcher, fondern 
in der Verbindung mit ihm, dem Haupt, und in der Aufgabe, dem 
Zwed, durch die glievliche Verbindung mit Ihm zu verbinden. 
Für die gliedliche Verbindung als jolche ift wejentlich, weil mit 
der jteten Beziehung auf das Haupt gegeben, das ethifche Geſetz 
der Liebe Joh. 13, 15. u. a. Oder die gliedlihe Gemeinjchhft 
ift Organ der erlöfenden Thätigfeit Jeſu, ſowie die erite Anpflanz- 
ung und Daritellung des Reiches Gotte8 auf Erden, nicht als 
Gejamtheit und in ihrer Gejamtheit, fondern in ihrer Weſensver— 
bindung mit Chrijtus und in der Verwirklichung des Grundgeſetzes 
der Liebe. 

So war e8 denn aud in der apojtolijchen Gemeinde, nur 
daß an die Stelle der fichtbaren Lebensgemeinjchaft mit dem im 
Fleiſche gegenwärtigen Herrn die geiftige Gemeinfchaft mit ihm 
als dem erhöhten Haupte, dem unfichtbar gegenwärtigen Herrn 
im heiligen Abendmahl tritt, deifen eier der Herr ſelbſt ange: 
ordnet hat als die weſentliche Vergegenwärtigung feiner ſelbſt in 
ver Gemeinde und als die Borausnahme, als das Angeld der 
einftigen, in der Zeit der Vollendung eintretenden Weſens- und 
und Liebesgemeinfchaft (Luc. 22, 16. Joh. 17, 22. 23.). 

Die Gemeinde felbjt war der Zuſammenſchluß der Getauften; 
fie umfaßte nicht blos die zur Vollkommenheit der Kinder Gottes 
Heranreifenden, die relativ vollfommenen Chrijten, fondern auch 
die Schwahen und Schwanfenden, die Anfänger und die faum 
Berufenen; fie fiel daher im Bewußtſein der Apoftel niemals zu: 
ſammen mit dem Reiche Gottes felbjt: dieſes ſelbſt in den Ge- 





206 Köftlin 


noffen der Gemeinfchaft durch gegenfeitige Förderung, durch 
die Erbauung aus dem Wort und die Pflege der Gemeinjchaft 
mit dem Herrn und untereinander immer mehr zu verwirklichen, 
wird ausdrüdlih als das zu erftrebende, alſo in der kirch— 
lichen Gemeinfhaft noch nicht verwirflichte Ziel bezeichnet, 
(Ephef. 4, 15. [Soh. 17, 21.] Epheſ. 4, 16. Col. 1, 18. 
Ephef. 2, 19.—22. 1 Petr. 2, 5. Offenb. 7, 15.) das in 
vollem Maß erit jenfeits der Weltentwidlung erreiht (1 Cor. 
15, 28.) wird. 

Um die Gemeindegenofjen diefem Ziele näher zu führen, be= 
darf e3 derjenigen Mittel und Normen, welche Jeſus felbit zum 
Anbau des Reiches Gottes in den Menfchen angewendet hat: der 
Berfündigung des Worts, der Pflege der Gemeinfchaft mit Jeſu 
durch Gebet (Matth. 18, 19. u. a.) und Abendmahl, der Bethätig- 
ung des Liebesfinns durch gegenfeitige Handreihung. Dieſe drei 
Thätigfeiten bejtimmen die Phyfiognomie der hriftlichen Gemein 
ſchaft, innerhalb deren fich die Neichögemeinde im engeren Sinne 
bildet als geiſtige Gemeinfhaft. Diefe allein find für die Ge— 
meinjchaftögliederung weſentlich und" von bejtimmender Bedeutung. 

Die foziale Konftruftion der Gemeinde aber ift, ſoweit fie 
nicht durch den Zweck der omodou durch Wort, Sakrament und 
Liebes-Handreichung bedingt ift, diefen nicht hemmen darf, fondern 
fördern muß, nicht wefentlich ; fie fällt dem freien Ermeffen anheim, 
und geitaltet fi) daher je nach den lokalen Berhältniffen ver- 
jchieden, anders in Serufalem, anderd in Antiochien, anders in 
Corinth. Die im Feuer der erften Liebe auch im Gebiet des 
äußeren Lebens durchgeführte Liebesgemeinſchaft der apoftolifchen 
Pfingftgemeinde nahm bald eine andere Form an, ohne daß die 
Hriftlihe Phyfiognomie der Gemeinde gelitten hätte. 

Sp kann vor den Worten Sefu und vor dem Bild der Ur- 
gemeinde in gar feinem Falle die Meinung bejtehen, als ob der 
Herr eine bejtimmte Gemeinfhaftsform geftiftet hätte: er hat 
Jünger gefammelt, er hat fie zufammengehalten, er hat gewollt, 
daß fie und diejenigen, welche durch fie befehrt würden, eine Ge- 
meinſchaft bilden; aber dieſe ift nicht Selbſtzweck, ſondern Mittel 
zum Zweck der Verwirklichung des Reiches Gottes, und mefentlich 
it für fie nur, daß fie die Mittel des MWorts und der Saframente 


Der Begriff des geiftlihen Amts. 207 


verwalte, ſowie daß fie in ihren Formen das Grundgefeh der 
Liebe ausgeſtalte. So haben auch wir innerhalb der von der 
kirchlichen Rechtsordnung umfchriebenen Gemeinde dad, was fie 
zur Gemeinde Chrifti macht und die Erziehung der Gemeindege: 
nofjen zum Neiche Gottes bedingt, wohl zu unterfcheiden von 
ſolchen Ordnungen und Formen, welche die Gemeinde in ihrem 
rechtlichen Dafein ſchützen und fie als befondere religiöfe Körper: 
Tchaft gegen andere abgrenzen. Die Erziehung zur Neichögemeinde 
durch Wort und Gemeinfchaftspflege ift der oberite Zweck — zu 
welchem ſich alle gemeindlichen Ordnungen ald Mittel verhalten ; 
je mehr die lehteren diefen Zweck fördern, defto mehr nähern fie 
fich dem Ideal wahrhaft hriftlicher Gemeindeorganifation ; anderer: 
feit3 jo lange fie jenen oberiten Zwed nur nicht hindern, zerjtören 
fie auch den Charakter der Gemeinde ala einer chriftlichen nicht 
und find, wenn fie auch recht unvollfommen find und die Arbeit 
meitläufig, vielfchichtig, mühfam machen, bis auf weiteres in Ge: 
Duld zu tragen. Daraus ergiebt fich der Kanon für die perfönliche 
Stellungnahme zu Fragen der Berfaffung und des Belenntnifjes 
von ſelbſt; die Entwidlung der Marimen für die Anwendung des— 
felben auf einzelne Fälle ift Sache der Baftoraltheologie und 
würde hier zu weit führen. Verfaſſung und Bekenntnis — letz— 
teres als die formulierte Rechtsgrundlage der beſtimmten gefchicht- 
lich bedingten Kirche, haben doch in letter Beziehung den Zweck, 
den Einzelnen in die rechte Stellung zu Jeſu zu bringen, das Be: 
fenntnis befonders will nicht blos ala Rechts-Inſtrument gefaßt 
fein, fondern als der annähernde Ausdrud der Stellung, melde 
die Gemeinde zu Chrifto einnimmt, der Stellung, melde für die 
Erlangung des Heild mefentliche Bedingung und Vorausſetzung 
ift: nicht das Intereſſe der Spekulation, fondern das Intereſſe des 
Heils, das foteriologifche nterefje, hat zur Formulierung der Be: 
fenntnifje geführt! : ebendarum ift auch innerhalb des einzelnen Be- 
fenntniffes zu unterfcheiden der gefchichtlich bedingte Ausdruck, die 
Form und Faffung von der weſentlichen Beitimmung felbjt, von 
dem Zentralgedanfen, der für das Heilsbemußtfein von beitimmen- 
der Bedeutung iſt und zu deſſen Sicherung und Wahrung das 


Vergl. Kattenbuſch, Luthers Stellung zu den ökumeniſchen Sym- 
bolen. Gießen. 1883. 


208 Köftlin, Der Begriff de3 geiitlihen Amts. 


Befenntnis formuliert worden ift. Diefer Zentralgedanfe giebt dem 
Bekenntnis feinen Typus und bildet dejjen Motiv und Kern; er ift, 
wie 3. B. in der augustana, das Ergebnis der das ganze Heilsbe- 
wußtſein beherrichenden Erfahrung, fo daß er dieſes vorausſetzt, 
mit ihm fteht und fällt; es verjteht ſich von felbit, daß, wer die im 
Bekenntnis ſich Ausdrud gebende Grunditellung zu Jefu und feinem 
Heil nicht teilen kann (alfo 3. B. in der evangelifchen Kirche die Be- 
gründung des Heils allein auf Chriſtus und fein Wort), innerhalb 
der auf dem Boden des Bekenntnifjes ftehenden Kirche ein Lehramt 
nicht verwalten fann. Die Verzweigung des entſcheidenden Grund: 
gedankens, der mit dem Heilsbewußtſein im engiten, unmittelbaren 
Zuſammenhang fteht, in die einzelnen Afte und Spiten des Lehr: 
ſyſtems ift nicht mehr das Werk des unmittelbaren Heilsbewußtjeinz, 
das an der frifchen Erfahrung normiert worden, jondern die Arbeit 
der Theologen, trägt daher je nah Umijtänden das Gepräge der 
theologiſchen Schule, jedenfalls aber das der Zeit-Theologie. Die 
einzelnen Beitimmungen haben daher nicht alle diefelbe Kraft der 
Verbindlichkeit, lettere bemißt fich vielmehr nad) dem näheren oder 
ferneren Verhältnis, in welchem die Einzelbejtimmung zum bejtimmen- 
den Grundgedanten fteht. Es ift ſehr wohl denkbar, Daß gerade die 
ſchärfere Faſſung und treuere Verfolgung desfelben in die Peripherie 
des Syſtems Abweichungen im Einzelnen von den peripherifchen 
Beitimmungen des Syſtems bedingt; dann aber find leßtere Feines- 
wegs Symptom der Abweichung vom Bekenntnis, fondern der recht 
verjtandenen Befenntnistreue. Denn nicht das die Befenntnisfirche 
als deren Rechtsinjtrument bedingende Bekenntnis formular, fon: 
dern der in diefem niedergelegte und zum Ausdrud gebrachte Glaube 
an Jeſus macht die Belenner zu Gliedern des Reichs, oder — und 
damit fommen wir zur zweiten Frage — in melchem Sinne der 
Herr das Subjekt der Kirche ſei — über unfer Heil entfcheidet feine 
kirchliche Rechtsordnung, fondern nur der Herr. Denn nad dem 
neuen Teftament, fowohl nad den Äußerungen des Herrn felbit, 
al3 nach denen der Apojtel ift Jeſus das Subjekt der Kirche im 
vollen und abfoluten Sinne. Matth. Kap. 18 ift das „ih bin 
mitten unter ihnen“ die bedingende Vorausſetzung für die Wirfung 
des Bindens und Löſens und des Betens in Seinem Namen; diefes 
„mitten unter ihnen jein“ als ein ideelles, geijtiges, alö ein Sein 


Weiß, D. neuere Wendung d. Wiſſenſchaft u. d. Theologie. 209 


in ihrem Bemwußtfein, etwa als gefchichtliche Nachwirkung, zu faffen, 
verbietet der Ausdrud, wie die jonjtige Redeweiſe Jeſu. Matth. 16,18. 
nennt er die Gemeinde „uov rnv exnAnorav” feine Gemeinde und 
bezeichnet damit fi) al den Herrn der Gemeinde, ſowie mit dem 
Worte „oıxodounow“ ſich als denjenigen, der die Gemeinde baut. 
(Schluß folgt.) 


— — —— 


Die neuere Wendung der Wiffenfhaft und die 
Theologie. 


Bon Profejjor Dr. Weif in Tübingen. 
Zweiter Urtifel, 


6; it Schon im eriten Artikel angedeutet worden, daß etwa 
jeit 1870 vom Boden des Empirismus ſelber aus eine 
entſchiedenere Reaktion gegen denjelben hervorgetreten fet. 
Namentlich erhob fich das Fritifche Bewußtſein gegen die naive 
Zuverjicht, womit auf der Baſis der Naturmifjenfchaften eine em— 
ptriftifchenaturaliftifiche Weltanfhauung aufgebaut werden jollte. 
Zu derjelben Zeit als Strauß im „alten und neuen Glauben“ in 
Ausficht ftellte, Daß die Naturwiffenjchaft, welche die Verwandlung 
von Bewegung in Wärme und umgekehrt nachgemiefen habe, auch 
die Verwandlung von Bewegung in Bewußtſein noch aufzeigen 
werde (1872), erinnerte Dubois:-Reymond an „die Grenzen 
des Naturerkennens“ und fand damit bei allen befonnenen Natur: 
forfchern Beifall. Überhaupt erkannte die Naturwiflenfchaft gerade 
durch ihre hervorragenden Vertreter an, daß ihr ganzes Objekt, 
die ſinnliche Erfeheinungswelt, auch wenn fie fich desfelben bereits 
vollitändig bemädhtigt hätte, was ja keineswegs der Fall fei, doch 
feine ausreihende Bafis für eine umfaffende Weltanfhauung ab: 
geben würde. 

Aber namentlid in der Philoſophie mußte die Fritifche 
Selbitbefinnung nod tiefer gehen, und die Philoſophie fieng 
an, neue Beachtung zu finden, weil das tiefere Bewußtſein der 
Zeit überhaupt folder Selbtbefinnung fi zumandte. Als ein Be: 
weis dafür kann auch die faft allgemein ablehnende Haltung gelten, 
welcher die naturaliftifche Wendung in Strauß altem und neuem 

Theol, Studien a, W. VI. Jahrg. 14 


210 Weiß 


Glauben begegnet war, aber nicht minder diejenige, welche dem 
Häckel'ſchen Materialismus, ſowie dem Hartmann’fchen Peſſimismus, 
nach kurzem oberflächlihem Erfolge derjelben, ſich entgegenitellte. 
In der Befinnung auf fein eigenftes Weſen reagierte der Geift 
des Menschen ſchon zu feiner Selbfterhaltung gegen jede Art von 
naturaliftifihen Monismus, welde man im Namen der Erfahr: 
ungswifjenfchaften ihm aufreden wollte. Die höhere Eigentüme 
lihfeit des Geiſteslebens, fpeziell des fittlich-religiöfen 
Lebens im Unterfchiede vom Naturleben trat wieder ſtärker ins 
Bemwußtfein, und auch die Wiſſenſchaft fcheute ſich nicht, wenigſtens 
für die vorläufig dem Menfchen angemwiefene Stufe der Erkenntnis 
den thatfächlihen Dualismus zwiſchen Geift und Natur anzuer- 
fennen. Troß der vielen und eingehenden Berfuche, das Geiftes- 
leben nad der Methode de Empirismus oder Poſitivismus in 
empirifcher Anthropologie, Völkerkunde, Gefhichtfchreibung, Socio— 
logie als eine einfache Fortfegung des Naturlebens darzuitellen, 
war es nicht gelungen, dasfelbe in den Mafchen dieſes Nebes ein- 
zufangen, fein fpezififcher Charakter wiberftrebte durchaus einer nur 
äußerlihen Befchreibung und einer naturgefeglichen Erklärung. 
Gerade wenn man von allen vorgefaßten Theorien und Spekula— 
tionen, aud von einfeitig naturaliftifchen abjehen und ſchlechthin 
das Mirklihe auf dem Gebiete des Geilteslebend anerkennen 
wollte, jo begegnete man hier einer Realität, welche nicht blos 
überhaupt mit ihrem Grunde und mit ihren legten Strebungen in 
die Tiefe und Höhe einer unfichtbaren Welt im jtrengen Sinne 
des Mortes hineinreichte, fondern welche insbefondere noch mit 
ihrem Freiheitsbewußtſein, ferner mit dem Bewußtſein fittliher Be- 
ſtimmung und unbedingten Wertes dem Gefete der Kaufalität 
und allgemeinen Naturverkettung ſchlechthin ſich entgegenitellte. 
Übrigens wollte man auch jet noch das Geiftesleben durchaus 
geihihtlih und infofern immerhin noch ganz empirisch auf: 
faffen, von der Menfchheit im allgemeinen oder von einem aprio— 
rifhen Inhalte des Geiftes follte nicht wieder die Nede fein. Aber 
die gejchichtlich höher entwidelte, befonders die chriftliche, vollends 
die moderne Menfchheit zeigte ſolche Züge geiftigen Weſens und 
Lebens, welche nur durch den Gedanken der felbjtändigen fittlichen 
Verfönlichfeit einheitlich fi ausdrüden und hinreichend erflären 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 211 


ließen. Damit war man jedenfall über die bloße Erſcheinungs— 
welt und das Weich der Naturgefeglichkeit hinausgeführt. Die 
Anthropologie im tieferen und umfajjenderen Sinn des Wortes 
fonnte nicht ala Teil der Kosmologie behandelt werden, wenn das 
eigentümliche Weſen des Menſchen zu wilfenichaftlicher Erkenntnis 
gebracht werden follte, 

Bon hier aus ſchon lag die Erinnerung an den Standpunft 
von Kant und Fichte nahe genug, welche durd ihre Analyfe 
des menjchlihen Bemußtfeind vor allem die Wirklichkeit und Selb: 
ftändigfeit der fittlihen Berfönlichfeit gegenüber von allem 
Naturdafein oder von der gefammten Erfcheinungsmwelt feitgeitellt 
hatten. Aber diefe Selbjtändigfeit war ja von Kant zuerſt Schon 


auf dem Gebiete der Erkenntnis nahgemwiefen worden, und 


Fichte hatte hieraus ſogar die Konfequenzen des fubjektiven 
Idealismus gezogen. Lebtere lagen natürlih dem immer nod 
weſentlich empirijtiichen Standpunkte der Wiſſenſchaft feit 1870 
zu nächſt gänzlich ferne. Aber was Kant über die Erfahrung ge- 
lehrt hatte, begriff man aufs neue, wenn man auch über die Trag: 
weite und den legten Sinn feiner Lehre verſchiedener Anficht war. 
Die Erfahrung, jo jagte man ſich jegt aufs neue, iſt ja zumächit 
nicht? anderes ald die Welt der Eriheinungen in unje 
rem Bemußtjein, und dad Bemwußtfein liefert zur Bildung 
derjelben einen jo mejentlichen, zwar gejeßlich bejtimmten, aber eben 
doc feinem Inneren entijtammenden, aljo fubjeltiven Beitrag, daß 
über die Dinge an fih, von welchen die Eindrüde als der Stoff 
der Erfahrung ausgehen, gerade auf dem Wege der Erfahrung gar 
feine Einficht gewonnen werden fann. Der Empirismus, welcher 
die Melt zu erkennen behauptet, enthüllt ſich fomit als bloßer 
Phänomenalismus, und wenn ed feine weiteren Inſtanzen giebt, 
um und über das Wirkliche aufzuklären, als die Erfahrung, fo 
fommen wir gar nicht über den unficheren Reflex desfelben in der 
Erfcheinungsmelt unferes Bewußtſeins hinaus. Auf diefem Stand: 
punkt wollte man in jener Zeit im ganzen verharren, die Objekti— 
vität der Eindrüde erfchien zum mindeſten als zweifelhaft und nicht 
zu Fonjtatieren, und da man auch das Denken nur in der geje: 
mäßigen Neflerion über den in der Erfahrung gegebenen Bemußt: 


14* 


* 


212 Weiß 


ſeinsinhalt aufgehen ließ, demſelben aber Recht und Kraft felbitän- 
diger Produktion durchaus abſprach, fo follte das theoretifche Er- 
fennen überhaupt darauf verzichten, mehr ala die Bearbeitung der 
einzelnen Erfahrungsgebiete zu liefern, es galt jedenfallö für un- 
fähig, and) nur die Grundzüge einer allgemeinen Weltanſchauung 
zu entwerfen oder die Prinzipien, Grundideen für eine ſolche dar: 
zubieten. Jeder Verſuch der leßteren Art erjchien auch dem kriti— 
ſchen Empirismus als ein trandcendierendes aspoßarsın oder, wie 
man jest mit Vorliebe ſagte, um die Wertlofigfeit der Spekulation 
zu bezeichnen, als phantajtifche bodenlofe Metaphyſik. Aber im 
fittlidhen Geiſte hatte man ja aufs neue eine Duelle unmittel- 
barer Selbjtgewißheit entdedt, und diejer, welchen Kant die prafs 
tiſche Vernunft genannt hatte, follte ſich als die Realität und zu— 
gleich ala die beitimmende Macht für die Bildung einer Weltan- 
Ihauung erfajjen. 

Der Anfhluß von Kant war für die gefchilderte Richtung 
unter allen Umftänden maßgebend, man fonnte aber auch von da 
aus leicht zu einem Standpunfte fortjchreiten, welcher bereitö dem— 
jenigen von Fichte wieder näher ftand, man fonnte von Jakobi 
und Anderen das Element des religiöjfen Gefühles entlehnen, um 
von demfelben aus zu dem perfönlichen Gott fich erheben zu 
lafien, man fonnte endlich dasjenige aufnehmen, was Herbart 
hierin zufammentreffend mit Ausführungen Kants in der Kritik 
der Urteilskraft, über die dem menjchlichen Geiſte anhaftenden un= 
willfürlihen Werturteile und die ihm eigene teleologifche Betradht- 
ungsmeife gelehrt hatte. Während aljo die theoretiihe Erkenntnis 
eingeſchränkt blieb auf das unvollitändige Gebiet der äußeren Er- 
fahrung und auch in ihren wirklich vorliegenden Ergebnifjfen über 
das Weſen der Wirklichkeit doch keinen ficheren Aufſchluß gab, 
befaß der Menfchengeift in feinem fittlihen Selbſtbewußtſein, im 
Bemwußtfein feiner Freiheit und des unbedingten Sittengejeges, in 
feiner Richtung auf einen abfoluten Zweck und in der unmillfür- 
lihen Empfindung für den volllommenen Wert der eigenen Perjon 
und zufammenhängend damit des höchſten Gutes, endlih in ber 
Beziehung auf Gott als den Urheber des Sittengejeges und Bür- 
gen des höchiten Gutes die Grundprinzipien einer unumſtößlichen, 
zugleich wirklich umfafjenden und abjchließenden Weltanfchauung, 


Die neuere Wendung der Wiffenfchaft und die Theologie. | 218 / | 


welche für fich feititand, als höchfte Norm der Beurteilung und des 
Handelns, auch wenn das theoretifche Erkennen diefelbe nicht 
weiter zu ftügen und die Vermittlungen für jene in das Über: 
finnlihe hineinreihende praftifche Erklärung des Sinnes und der 
Bedeutung der Welt, fpeziell der Stellung des eigenen Berfon- 
lebens in ihr, nicht weiter auf empirifhem oder auf ontologifchem 
Wege nachzuweifen vermochte. Im höchſten Verſtande follte das 
Wort Geltung haben: stat pro ratione voluntas, 

Nicht Welterfennen,, fondern Selbfterfenntnis, oder, 
wie man jet zu jagen liebte, Selbftbejinnung, führen zur Er- 
fenntnis der Wahrheit, und dieſe Selbitbefinnung ſei weſentlich 
praftifche, fittlich-religiöfe, wie fie namentlich von Kant, vorahnend 
ihon von Sokrates, gemeint gewefen fei. In derjelben Richtung 
fchien der urſprüngliche und tiefite Sinn des Chriftentums, vor 
allem Jeſu felber zu liegen, dann auch, was befonders Dilthey her: 
vorhebt, die Grundtendenz eines Auguſtin, namentlich) aber die— 
jenige der Reformatoren, wenn fie alle chriftlihe Erkenntnis auf 
die Selbitgewißheit des rechtfertigenden Glaubens gründen und be- 
ziehen wollten. Dagegen die mittelalterlide Scholaſtik, welde 
alle Zufammenhänge des empirischen und des transcendenten Seins 
erflären wollte, erſchien als das rechte für immer abfchredende 
Erempel unfruchtbarer Metaphyfif oder fonftruierender theoretifcher 
Weltanfchauung. 

Der Standpunkt, wie wir ihn gefchildert haben, iſt auf phi- 
loſophiſchem Gebiete neueftens wieder nicht ganz gleichartig, aber 
doc in der Grundanfchauung übereinjtimmend, durh Dilthey 
in feinem Buche „Einleitung in die Geiſteswiſſenſchaften“ (Band 1. 
1883), fodann durch Windelband in feinen philofophifchen 
„Präludien“ (1884) in höchſt interefjanter Weife entwidelt worden. 
Auch Lotze fteht demjelben nahe, hat aber außerdem Elemente 
von ganz anderer Bedeutung und Richtung. Auf theologiſchem 
(Hebiete ift derfelbe vertreten durch Ritſchl, am entſchiedenſten 
durh Herrmann, mit weniger Entfehiedenheit duch Kaftan 
und Gottfhid. Durchweg wird der „Traum der Metaphyſik“ 
verworfen, d. h. jeder Verſuch durch eine Spekulation oder aud) 
vom Boden der Erfahrungsmwiffenfchaften aus, alſo überhaupt auf 
theoretifhem Wege, eine Weltanschauung bilden, über Weſen und 


214 Weiß 


Zuſammenhänge der Dinge an ſich, über das Ganze und das 
Transzendente, über die letzten Prinzipien und Ziele alles Seienden, 
insbeſondere über Gottes Weſen und Walten etwas ausſagen zu 
wollen. Gemeinſam dagegen iſt das Beſtreben, den nah Wahr: 
heit verlangenden Menfchengeiit auf die innere Welt des Gemütes, 
des Gewiſſens, der Freiheit, des praftiichen Selbſtgefühls, der 
Werturteile, kurz des inneren Erlebniſſes, wie man dort jtatt 
innere Erfahrung zu jagen vorzieht, zu verweilen. In dem „inne: 
ven Erlebniß“ findet man zugleich das Produkt der freien Spon— 
taneität des Geiſtes, wenn auch einer gejegmäßig beftimmten. 
Windelband beipridt in feinen Präludien nur das fittliche und 
das äjthetifche Bewußtjein!. Dilthey berüdjichtigt auch das 
religiöfe Erlebnis, zeigt ſich ſogar geneigt, demjelben die beherr: 
ihende Stellung für die Bildung einer Weltanfhauung zuzu: 
weifen, von den genannten Theologen ftellt Herrmann daß fitt- 
liche Selbitgefühl voran, verfnüpft aber das religiöjfe aufs engite 
damit, Kaftan nimmt umgekehrt feinen Ausgangspunkt einfeitig 
von der auf Leben gerichteten religiöfen Tendenz des Subjeftes 
und fucht erſt jpäter auf höherer Stufe des Bewußtſeins in ganz 
empirischer Weife die fittliche damit zu vereinigen, 





ı Windelband: „Die Vhilofophie ift die kritiſche Wif- 
fenfhaft von den allgemeingiltigen Werten... Sie ftellt 
nicht fowohl Urteile auf als Beurteilungen, und zwar folde, 
welche abjolut gelten, auch wenn fie gar nicht oder nicht allge- 
mein thatfächlich zur Erfcheinung fommen (logiſche, ethiiche, äſthetiſche). 
. +. Sie gründet fi) auf ein (vorgefundenes) normales Bewußt- 
fein, deſſen Wejen für und darin bejteht, daß wir überzeugt find, 
ed folle wirklich jein, ohne jede Nüdficht darauf, ob es in der nature 
notwendigen Entfaltung des empiriihen Bewußtſeins wirklich ift... 
Der biftorifche Prozeß des menschlichen Geiftes läßt fich unter dem 
Geſichtspunkte betrachten, dak in ihm allmälig mitten unter der Arbeit 
an den einzelnen Problemen in dem Wechjel feiner Intereſſen, in der 
Verjhiebung feiner einzelnen Fäden das Bewuhtjein der Normen 
zum Durchbruch gekommen ift, daß er im feiner fortfchreitenden Be- 
wegung ein immer tiefere& und umfaſſenderes Ergreifen 
des Normalbewußtſeins bdarftellt (a. a. O. in der eriten Ab— 
handlung über „was iſt Philojophie?“). 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologte. 215 


Bon einer Seite her muß man dem eben entwidelten Stand, 
punkte entfchiedene Sympathie entgegenbringen, jedenfalls bildet er 
ein wertvolles gefchichtlihes Moment in der neueren Geiftesent: 
widlung. Er jtellt noch immer einen Teil jener naturgemäßen 
Reaktion des menfhlichen Geiftes gegen die Einfeitigfeit und 
Überfpannung des Intellektualismus oder Logismus dar, welder 
in der Periode des fpefulativen Idealismus die Geiſter beherrſcht, 
teilmeife tyrannifiert und verwirrt hat. Und nicht minder reagiert 
darin das Selbitgefühl der fittlihen Perjönlichkeit in der Gewiß— 
heit ihres abjoluten Wertes, jpeziell daB überweltliche Freiheits- 
bewußtfein des fittlichereligiöfen Menfchen, vollends des Chriften, 
gegen die rohe Weltanſchauung des empiriftifchen und naturalifti- 
ihen Mehanismus. Am Gegenſatz nun gegen den fpefula- 
tiven Logismus und gegen die Konftruftionen des naturaliftifchen 
Mechanismus vertritt die genannte Richtung wichtige Wahr: 
heiten: das menfchliche Erkennen ſoll namentlich dem Überfinn- 
lichen gegenüber feiner Schranten ſich Har bemußt bleiben, es joll 
fich zuerit auf den Boden der oberjten Thatfachen und des prafti- 
Then Bebürfniffes im höchſten Sinn dieſes Wortes ftellen; die 
Totalität des im Prozefje der Gefchichte zu feinem vollen Reich: 
tum entwidelten Menſchengeiſtes, die praftifchen Inſtanzen der 
inneren Erfahrung und damit die tiefite Realität und die fich da— 
rin offenbarende Zwedbeitimmung follen ala maßgebende Grund: 
lage und beftimmende Prinzipien für die Feltitellung der Wahr: 
beit, für die Bildung der Weltanfhauung anerfannt werden. Bor 
allem ſoll der Menſch felber nicht Schon in feiner Intelligenz, welche 
fih mit einer gewiffen Naturnotwendigfeit entwidelt, fondern erft 
in feiner fittlichen Perfönlichfeit, zu welcher er fich durch Freiheit 
erhebt, die eigentliche Realität und den Kern feines Weſens finden. 
Diefe Grundfäge ſtehen in naher Verwandtſchaft zu dem chrift- 
lihen Grundprinzipe des perfönlichen Glaubens, fie find, ſoweit 
fie nicht überfpannt werden, der Ausdrud eines gefunden geiftigen 
Realismus, welcher die Idealität keineswegs ausschließt, Tondern 
fie bewahrt, und fie empfehlen ſich noch beſonders dadurch, daß in 
ihnen die Stimme des unmittelbaren populären Menfchheitsbewußt: 
feins, fpeziell wie e& innerhalb der evangelifchen Chriftenheit lebt, 
wieder zur Geltung fommt gegenüber von eingebildeter Ariftofratie 


216. Weiß 


des Geiſtes oder genauer des Wiſſens und Dentens bei den Phi— 
loſophen oder überhaupt den Gelehrten oder auch gegenüber von 
doktrinärem Dogmatismus bei den Theologen. 

Wenn Schleiermacher ſeiner Zeit alle religiös Fühlenden 
eingeladen hatte, um den Altar ihres religiöſen Gefühls als eine 
einige Gemeinde ſich zu ſanmeln und alle Differenzen theoretiſcher 
Weltbetrachtung vorerſt dahinten zu laſſen, ſo läßt die genannte 
Richtung einen ähnlichen Aufruf an unſere theoretiſch ſo zerklüftete 
Geſellſchaft ergehen, daß alle diejenigen, in welchen ein beſtimmter 
praktiſcher Jdealismus für die Auffaßung und die Behand— 
lung des Lebens entwickelt und auf dem Grund eigenſten Erlebens 
zur oberſten Gewißheit geworden ſei, um dieſe Weltanſchauung ſich 
ſammeln und darin den Ausdruck der abſoluten Wahrheit, ſoweit 
ſie für den Menſchen überhaupt zugänglich iſt, erkennen ſollen, 
während ſie alles Forſchen in der Erfahrungswelt von Natur und 
Geſchichte ſeinen unabhängigen Verlauf nehmen laſſen und auf 
alles konſtruierende Begreifen des Überſinnlichen ein- für allemal 
verzichten. Ein ſolcher Aufruf muß umſomehr Anklang finden, 
wenn zugleich darauf hingewieſen wird, daß jene Richtung nur den 
Hort der edelſten und bewährteſten ſittlich-religiöſen Überlieferungen 
der Menſchheit, ſpeziell der Chriſtenheit feſthalten und dieſelben 
gegen einen falſchen Intellektualismus und Doktrinarismus feiner 
Freunde wie feiner Gegner ſchützen wolle. Nimmt man hiezu, 
daß auch auf philofophifcher Seite wenigſtens die Tendenz befteht, 
als den Kern jener Überlieferungen die Teleologie ober geradezu 
den VBorfehungsglauben, den ethifchen Monotheismus, in weiterer 
Ausdehnung die hohe Trias des Glaubens an Gott, Freiheit, 
Unfterblichkeit, endlich die Beltimmung der Menfchheit für ein fitt- 
lich geſtaltetes Oottesreih zu bezeichnen, fo liegt in der MWahr- 
ung und Erneuerung folder Pofitionen, welche dann die Theolo- 
gen enge mit der Offenbarung Gottes in Chrifto zu verknüpfen 
ſuchen, immerhin eine wertvolle Errungenschaft gegenüber von 
Pantheismus und Materialismus. Wenn gerade die Wiflenfchaft 
auch für ihre Zmwede kräftig an das praktiſche, ſittlich— 
religiöfe Bemwußtfein und Erleben der Menſchen appelliert und 
deſſen Ausfprühe und Poftulate als oberfte Normen und Prin— 
zipien aller Wahrheit anerkennt, fo muß dies in höchitem Grabe 


Die neuere Wendung der Wifjenihaft und die Theologie. 217 


willkommen geheißen wetden und kann gegenüber von früherer 
Mißachtung oder doc Verfennung der genannten Inſtanz nicht 
ohne freudige Zuftimmung und fegensreihe Wirkung bleiben. 
Dennoch kann der geſchilderte Standpunkt, welcher den von 
Kant proflamierten und in ber Theologie niemals völlig aufge: 
gebenen, wenn auch öfter® zu wenig behaupteten, Prinzipat der 
praftifchen Vernunft oder der fittlich:veligiöfen Erfahrung und Er— 
hebung in jchroffer Einfeitigfeit wiederum geltend macht, nur als 
ein bedeutfamer Übergangsftandpuntt angejehen werden, 
und die allgemeine Entwidlung der Wiſſenſchaft hat auch bereits 
eine Richtung genommen, welche über denjelben hinausführt, wie 
fie feiner Zeit über Kant hinausgeführt hat und hinausführen 
mußte. Der menfchliche Geijt verträgt auf die Dauer den Dua- 
lismus nicht, welchen _jene Richtung zwifchen feinen praktiſchen 
Überzeugungen und feinem theoretifchen Erkennen befejtigen will, 
und die Kraft des letteren iſt auch in ihm zu mächtig angelegt 
und entwidelt, ald daß es fich von der fchöpferifchen Mitwirkung 
bei der Produktion umfaflender Weltanfhauung ganz verdrängen 
ließe. Dabei kann die Wiffenfchaft nicht ftehen bleiben, daß fie 
theoretifch dem einfeitigen Empirismus oder Hiſtorismus und da— 
neben noch einem extremen Kritizismus huldigt und dann von der 
praktiſchen Subjektivität fi) den höchſten Anhalt des Bewußtſeins 
13 einen objektiv nicht weiter zu begründenden und zu begreifen- 
den geradezu oftroiren laſſen joll.* Wenn das theoretifche Er- 
tennen völlig ausgefchloffen bleibt von der Bildung der Weltan- 
fhauung, dann gewinnt man den Eindrud, daß die praftifche Sub- 
jetttvität entweder dasjelbe fürchte und alfo den eigenen Aufitellungen 
nicht völlig traue, oder daß fie es defpotifch unterbrüde, weil fie in 
ihrer behaupteten Souveränität überhaupt von einer objektiven 
Geltung und Rechtfertigung ihrer Sätze nichts wiffen will. Und 
abmwechfelnd tritt nun auch bald das eine, bald das andere zu 
Tage, das heißt: jene einfeitig praltiſch ſubjektive Richtung mans 


t ®gl. auch in Lut har dt's ev.-lutherifher Kirchenzeitung 1878 
Nr. 13 den Aufjag über „Die legten Gegenjäge zwiichen der Dogıma- 
tik ded modernen Nationalismus und der biblifhen Weltanſchauung“ 
Rr. IV. 


Sn 


218 Weiß 


delt immer zmwifchen den Abgründen der” Skepſis und denen des 
fubjeftiven Idealismus hin und her, fucht fich daneben dann auch 
noch auf diefer gefährlichen Bahn zu halten am Geländer des 
(firhlichen) Autoritätsprinzipes oder des Trabitionalismus. Da 
nun ein folcher Wandel auf die Dauer für die Wiffenfchaft un: 
möglih ift, jo wird man demnach dur die Konfequenz jenes 
Standpunftes notwendig weiter getrieben. Laſſen wir den Trabi: 
tionaliamus bei Seite, auf welchen völlig einzulenfen doch dem 
wiſſenſchaftlichen Charakter jener Richtung wibderftreitet, jo ergibt ſich 
eine dreifache Möglichkeit des Weiterſchreitens. Entweder man er: 
giebt fi der völligen Stepfis, beziehungsweife dem reinen 
Phänomenalismus und Alufionismus, oder man erhebt das Pa— 
nier des fubjeftiven Idealismus im Sinne Fichte, oder 
aber, und dies ift der gewiefene Weg, man fett auch das theo- 
retifhe Erfennenmwieder in fein verweigertes Recht 
ein und läßt fich gerade auch dur feine praftifche Vernunft 
überzeugen und belehren, daß auch unfer theoretifches Erfenntnis- 
vermögen als eine Gabe des Schöpfer8 oder als ein Ausfluß der 
höchften Vernunft Zutrauen verdiene und bei normalem Gebrauche 
desfelben zur Bildung der Weltanfchauung felbftändig mitzumirfen 
berufen fei. 

Die ſteptiſche Konfequenz ift von diefem Standpunkte aus 
namentlid durh A. Lange in feiner Gefchichte des Materialis- 
mus gezogen worden.! Für ihn find auch die fittlichen und die 
religiöfen Überzeugungen oder Ideale, beziehungsweiſe die mit 
demfelben zufammenhängende Weltanfhauung ein edler fchöner 
Traum, von welchem wir nicht laffen können und follen, der uns 
aber nicht im geringjten berechtigt, diefelben für objektiv begründet 
und wahr zu halten. Diefe Auffaffung ift edler als diejenige von 
Feuerbach, fie ruht aber auf derfelben erfenntnistheoretifchen 
Grundlage, und man kann ſich nicht verwundern, daß fie von 
Feuerbah der grundlofen Willkür und des abfurden Dualismus 
bejhuldigt worden ift. Nur wenn jene Auffaffung ihre Skepſis 


! Bol. auch O. Pfleiderer: Silhouetten aus der Religions- 
wiflenfchaft der Gegenwart. Proteftant. Kirchenzeitung 1877 Nr. 22 
und 28. 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 219 


ganz fonfequent auch gegen die religiöfen und die jittlihen Ideale 
wenden würde, fünnte fie fich retten vor dem Andringen des em: 
piriftifchen Mechanismus, welchen fie für Schein zu erklären ge: 
neigt ift, welchen fie aber nicht befeitigen fann, weil fie ihn 
niht auf dem Gebiete des Welterkennens felber 
objeftiv überwunden hat. Wird die objektive Melt des— 
halb für Schein erflärt, weil fie für das Bewußtſein nichts anderes 
darbieten foll als die mechanifch verfettete Reihe der Erſcheinun— 
gen, jo ift nicht einzufehen, mit welchem Rechte der Geiſt ſich 
jelber und feinen Produktionen auch nur eine fcheinbare Realität 
dadurch zu fichern vermöge, daß er den fubjeftiven Wert 
diefer Produktionen für fein geiftiges Xeben behauptet. Warum 
follen diefe Produktionen nicht reine Smaginationen und Jllufionen 
jein, warum joll unter den angenommenen Vorausfegungen der 
Geift nicht im eigenen Bewußtfein das Schickſal der Welt teilen ? 
Wenn aber dies, dann verfallen auch der Geift und feine fittlichen 
und religiöfen Produftionen der Wertlofigkeit, weil ihnen feinerlei 
Realität zulommt. Das Ende ift, wenigften® objektiv angefehen, 
der ffeptifche Nihilismus. 

Die tiefere und energiſche Selbjtbefinnung findet nun aller: 
dings auch von dem oben gefchilderten Standpunkte aus einen 
anderen Weg, auf welchem fie zunächſt die Realität des Geiſtes 
und feiner praftifhen Produktionen zu retten vermag. Sie kann 
fortfchreiten zum fubjeltiven Idealismus im Sinne 
Fichtes.t Dem Empirismus gegenüber bleibt fie dann dabei, 
daß die Erfahrung nur Erfcheinungen darbiete und nicht als 
Quelle für die Erkenntnis deſſen dienen fünne, was hinter den Er: 
fcheinungen liege. Wohl aber erfaßt und fett ſich das Bewußt⸗ 
fein, das ch felber unmittelbar ala Realität und nit nur als 
folche überhaupt, fondern als den produzierenden Faktor der ge 
famten im! Bemußtfein gegenwärtigen Erſcheinungswelt. Mag es 
ein Nichtich geben, eine Welt des Stoffes, von welcher die Ein- 


ı Wir jagen nur „im Sinne Fichte“, um anzudeuten, dab es 
ſich nicht um eine Wiederholung des Fichte'ihen Syftemes handle, jon- 
dern nur um eine Bewegung des Denkens oder umfafjender des Gei- 
ſtes in ähnlicher Richtung. Mit voller Konjequenz ift freilich diefe 
Richtung von feinem Neueren verfolgt worden. 


220 Weiß 


drücke ausgehen, welche das Subjekt in der Erfahrung auffaßt, 
geſtaltet und verknüpft: Dieſe Welt bleibt in ihrem Anſichſein für 
das Subjekt ewig fremd, die Grenze ſeines Bewußtſeins, eine Art 
von um ov. Denn da ſie ihr ganzes Soſein doch nur im Bewußt— 
fein durch deſſen Zuthun empfängt, fo ift fie auch in ihrem Da: 
fein, welches ohne jenes Soſein ein bloßes Anfichfein ift, für das 
Sch eigentlich nicht vorhanden. Was willen wir von jener Welt der 
Dinge, wenn Subftanzen, Kaufalverfnüpfung, Zmedmäßigfeit u. f. f. 
doch nur dur unſeren Geiſt in dieſelbe hineingetragen find ? 
Aber der Geiſt hat Realität für ſich felber nicht blos durch das 
unmittelbare Innewerden feiner felbft, ferner dadurch, daß er fich 
erfaßt als die produzierende Kraft für die Melt des Bewußtſeins 
und als die Willensmacht für die Melt des perfünliden Han- 
delns, fondern ſchließlich dadurch, daß er eine Geſetzes mäßig— 
keit ſeines theoretiſchen Produzierens und ſeiner praktiſchen Wil— 
lensaktion in ſich vorfindet, welche ſchlechthin konſtitutiv und nor- 
mativ ijt für das geiftige Zeben, für Erkennen und Handeln, 
welche ſich alſo darin geltend macht als ein Unbedingtes, ſchlecht— 
hin Allgemeines und abfolut zu Setzendes. Mag die Logik oder 
umfafjender die Erfenntnistheorie im einzelnen immer wieder eine 
Revifion an den abſoluten Denkgeſetzen, beziehungsweife 
an den apriori geltenden Kategorien des Verſtandes vornehmen: 
einige derjelben muß fie immer hinſtellen und in denfelben abjo- 
lute Prinzipien für die Bildung aller Erkenntnis, welche der Geift 
vermöge einer inneren Nötigung ſeines Weſens jest und geltend 
macht und deren Anwendung ihm in formaler Hinficht zunächſt die 
Erkenntnis der Wahrheit verbürgt. Und wie fünnte der Geift den 
Gedanken zurüdweifen, daß jene Gefete zugleich Konftitutive PBrin- 
zipten des GSeienden enthalten, nämlich in dem Sinn wie er nun 
unter allen Umftänden ein Geiendes in der Welt feines Bewußt- 
ſeins anerfennt, indem er die gejegesmäßig beftimmte und gebil- 
dete Erkenntnis von aller bloßen Jmagination, von regellojfem 
Träumen unterfcheidet? Schon diefe theoretifche Seite der Selbft- 
erfenntnis oder Selbftbefinnung führt alfo hinaus über die bloße 
Stepfis, für welche es gar fein Seiendes giebt. | 
Uber noch weiter führt in diefer Richtung die Selbftbefinnung 

nah der Seite der praktiſchen Gefegmäßigfeit des Gei- 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 221 


ftes, deren Ergebnifje derjelbe in unmillfürlicden Werturteilen und 
praftiichen PBoftulaten ausdrüdt. Wiederum ift e8 ein Seinfollen: 
des von unbedingter Geltung, was der Geift hier in ſich vorfindet, 
beziehungsweiſe was er vermöge der inneren Nötigung feines We— 
ſens fest oder produziert, aber in dem Seinfollenden offenbart ſich 
ein Seiendes, jedenfall hinfichtlih der Natur und Grundtendenz 
des Geiſtes. Den Mittelpunft aller diefer Urteile und Poftulate 
bildet die Ausfage des Geiftes, daß ein abfolut Gutes fein fol, 
und zwar gerade aud dur das Subjelt, und daß das Subjelt 
in der Einheit mit diefem abſolut Guten unbedingten Wert habe, 
man wird aber damit den weiteren Gedanfen alsbald verfnüpfen 
müfjen, daß diefes abfolut Gute nicht bloßes Geſetz und Poftulat 
bleiben fönne, fondern daß es zur Nealifierung fommen und in 
feiner Realifierung aud) die Vollkommenheit des Dafeins, alfo auch 
die volllommene Befriedigung oder Glüdfeligfeit für dad Subjelt 
herbeiführen müſſe. So erfaßt fi dad Subjekt nad) einer Seite 
bin als gebunden an das abjolute Weltgefeß oder die moralifche 
MWeltordnung, nad der anderen Seite auch als die gejeßgebende 
Gewalt über die Melt, als fittliches denkt es ſich notwendig ein- 
geihlofien in dem abfoluten Weltzwed. Diefer Gedanke bildet den 
Gipfel des fubjektiven Idealismus, derfelbe ift, wie auh Windel- 
band bemerft,' nur von diefer praftifchen Seite aus verftändlid. 
Das abjolute Ich ift der Ausdrud von der abjoluten Geltung des 


Sittlihen gegenüber von der Wertlofigleit und fozufagen Nichtig- | 


feit eines Weltdaſeins und Weltlaufs, welche nur den Zujammen: 
bang und Ablauf des zwingenden Kauſalnexus darftellten. Das 
abjolute Ich iſt identifch mit dem Gedanken der Freiheit des Get: 
ftes, es hätte aber nicht nur fein Recht, jondern gar feinen Sinn, 
wenn diefe Freiheit nicht eo ipso gedacht wäre ala gebunden an 
das abfolute Geſetz, welches freili das innerfte Gejeß des Sub- 
jeftes felber als Perfönlichkeit, ala geiftigen Weſens tt. 

Als fittliches behauptet das Subjekt feine fchlechthinige Gelt- 
ung und da es fih nun doch in unauflöglihem Zufammenhang 
findet mit der Welt feines empiriſchen Bewußtſeins, fo trägt es 
in diefe Welt alle jene Ideen und Urteile Binein, 


ı „Bräludien“ S. 274. Dilthey, Einleitung u. ſ. w. J. S. 7 f. 


222 Wei 


welche diefelbe alö übereinftimmend daritellen mit feinem fittlichen 
Selbftbewußtfein, feinen fittlihen Zwecken, Anſprüchen und Er: 
wartungen. Die fittlihen Urteile treffen auf die Ausſagen des 
objeftiven Erkennen ; aber wenn im einzelnen fich feine Meberein- 
ftimmung oder gar ein Konflikt ergeben will, fo wird doch für 
das Ganze der Prinzipat der fittlihen Beurteilung feitgehalten. 
Sp mwird 3. B. das Ganze der Welt unter dem teleologifchen Ge— 
fichtspunfte aufgefaßt, wenn auch das Einzelne in Natur und Ge: 
ſchichte zunächſt nur eine Kaufalreihe darftellen jollte, jo wird 
überhaupt nur im Intereſſe eines abfoluten Weltzwedes auch ein 
zufammenftimmendes Weltganze geſetzt, während das objektive Er- 
fennen nur einzelne Erfcheinungen oder Gruppen von Erfcheinun: 
gen vorfindet. Freilih wird daran feitgehalten, daß diefe Auf- 
fafjung und Beurteilung der Welt doc eigentlich Feine objektive 
Erklärung derfelben fei, daß die praftifchen Prinzipien der Welt— 
anfchauung nicht eigentlich fonjtitutive, fondern regulative Bedeut— 
ung haben, nicht ontologifch oder metaphyfifch, fondern vielmehr 
im Sinn von Poſtulaten zu deuten feien, nicht ſowohl Urteile m 
Sinne von Ausfagen als vielmehr nur notwendige Formen oder 
Normen der Beurteilung darjtellen. Und wenn man nun hiemit 
Ernft machen und zugleih dem Illuſionismus wie dem Dualis- 
mu3 entgehen will, enthüllt fich wieder als legter Hinter: 
grund der fubjeftive Idealismus. Jene praftifchen 
Prinzipien und Poſtulate find auf diefem Standpunkte nicht 
metapbyfifche Grundlagen einer objektiven Welt der Dinge an 
fh, weil e8 eine jolche überhaupt nicht giebt, außer etwa als ein 
unbefanntes X, welches und nicht? angeht, fie behaupten aber den 
Prinzipat gegenüber von denjenigen Formen der Erkenntnis, 
durch melde die objektive Welt des empirifchen Bewußtſeins 
gebildet wird, weil wir e8 in diefer leßteren ja nur mit Erfchei- 
nungen zu thun haben, während in dem fittlichen Selbſtbewußtſein 
und feinen praftifchen Urteilen und Poſtulaten die gewifje Reali- 
tät und Melt des Geijtes fich offenbart. Weiterhin wird dann 
noch angedeutet, daß wir auch den Geift felber nicht ſowohl als 
ein Sein, fondern ald reinen Willen zu veritehen haben, und 
jo haben wir auch die Welt durchaus fo zu deuten, daß fie den 
Vorderungen des abjoluten Willens entfpreche, deſſen fortfchreitende 


Die neuere Wendung der Wiflenfchaft und die Theologie. 223 


Manifeitationen oder Th aten der Weltprozeß, fpeziell die Menſch— 
heits geſchichte zur Erſcheinung bringt. | 
Dieſe zulegt ausgeſprochene Wendung führt indejfen be 
reits wieder hinaus über den fubjeltiven Idealis— 
mus und erinnert daran, Daß diejenigen, welche denfelben, ob 
auch in unvollftändigem Verfuche, erneuert haben, urfprünglich vom 
Empirismus oder genauer vom Hiftorismus ihren Ausgang ge 
nommen haben. Es tritt nun aber überhaupt zu Tage, daß diefer fub- 
jeftive, noch mehr praftifch gemwendete Idealismus ebenfowenig 
haltbar tft, al e8 derjenige von Fichte gemefen ift, wie denn ja 
Fichte felber noch ihn verlaflen hat. In demfelben Subjefte, wel- 
ches auf Grund feiner fittlichen Selbftgewißheit fich die Melt als 
eine Melt des fittlichen deals Fonftrutert, welche der eigenen 
Perfon ihre Vollendung verbürgt, machen fih drei Inſtanzen 
übermädtig geltend, welche e8 nicht auf dem Standpunkt des fub- 
jeftiven Spealismus beharren lafjen. Einmal fann e8 nur durd 
den Glauben an Gott als den Urheber und Lenker der Welt fih 
die Gemißheit fichern, daß der Lauf derfelben mwirklih und ſchließ— 
lich der abfoluten Zweckbeſtimmung diene, fodann muß es Die 
Begründung feines fittlihen Selbftbemußtfeins und feines eben 
bezeichneten Glaubens in Gott fuchen, wenn diefelben nicht wan- 
fend werben follen, endlich muß es die Vorausfegung feititellen, 
Daß die Ergebniffe des fubjeftiven theoretifchen Welterkennens, 
welche dur Erfahrung und Nachdenken gewonnen werden, gleich 
falls einen integrierenden Beftandteil bilden in der Weltanſchau— 
ung, welche der Menfchengeift durch die allfeitige Bethätigung 
feiner Grundfräfte, d. 5. durch den normalen Refler derfelben in 
feinem denfenden Bemwußtfein fi erringt. Herrmann 3. B. 
fagt zunädjft, die Welt des Glaubens müfje im Grunde ibentifch 
fein mit der Welt des Menſchen als einer fittlichen Perfon 
(a. a. D. ©, 207). Aber gerade durch den fpezififchen Inhalt 
der Religion, ohne welche auch die Sittlichleit doch nur eine un: 
wirkliche Abftraftion wäre, wird das Subjeft über die eigene 
innere Welt hinausgeführt. Herrmann fügt dort bei: „Der 
Grundgedanke aller Religion, daß der Menſch von einem all 
mädtigen Willen getragen ift, der den Widerſtand der 
Welt gegen fein höchſtes Gut bemältigt, fucht die Lebensbe— 


224 Weiß 


dingungen der Perſon, welche an der praktiſchen Energie des 
höchſten Gutes ſich ihres Selbftfeins bewußt wird, im Über- 
natürliden.* Nun fol es freilich von Gott ala dem Welt: 
grund und von der Welt des Übernatürlichen feinerlei objektive 
theoretifche Erfenntni® geben. Da fühlt man aber doc auf diefem 
Standpunkte zu fehr das Gewicht drs Einwandes, daß jener 
Glaube des Subjektes ihm felber wieder zweifelhaft werden müſſe, 
wenn er nicht noch anderweitig begründet fei als nur im Sub- 
jekte felber. Deshalb refurrieren die Theologen zunächſt auf die 
chriſtliche Gemeinde, von da auf Ehrijtus felber und ſchließlich auf 
die Anerkennung der abfoluten Offenbarung Gottes in ihm. Das 
Faktum diefer Offenbarung ift aber nach Ritſchl und feinen Schülern 
für den Chriften nur deshalb vorhanden, weil e8 von ihm auf 
dem Grunde feines inneren Erlebniſſes in Übereinftimmung mit 
der hriftlichen Gemeinde unter diefem ſpezifiſchen Werte 
anerfannt wird, eine objeltive Vergemifferung darüber durch 
theoretifches Erkennen giebt e8 nicht. Am allerwenigiten kann Die 
Thatſache und der Inhalt diefer Offenbarung aus allgemeinen Er- 
fenntnisprinzipien des menfchlichen Geiftes abgeleitet oder dadurch 
begriffen werden. Aucd empfängt der Chrift feine direfte Ver— 
fiherung durch den Geift Gottes in feinem Innern von der Wahr- 
heit der Offenbarung, weil Gott überhaupt iu feiner unmittelbaren 
Beziehung zu demjelben fteht und auch nicht Durch Chriftus in eine 
ſolche tritt. 

Aber hier ift nun eben der Punkt, wo jene ganz 
fubjeftiv idealiftifhe Auffaffung mit zmwingender 
Gewalt über fi ſelbſt hHinaustreibt. Bon feiner fub- 
jeltiven Bernunft wird der Geift hingeführt zur objektiven, von 
jeinem fittlihen Bemwußtfein zum Sittengeſetz und zu deſſen Ur- 
heber, von feiner religiöfen Erhebung zu Gott ala dem Grund und 
Ziel diefer Erhebung, alfo von allen Seiten feines höheren Be- 
wußtſeins zu dem höchſten Sein, welches ſich als das letzte Objekt 
und den unbedingten Grund jenes Bewußtſeins offenbart, defien 
Eriftenz, Geltung und Wirkſamkeit allein dem vernünftigen, fitt- 
liden und religtöfen Bewußtjein des Menfchen feinen fpezififchen 
Wert verleiht und garantiert, Schon der Philoſoph nimmt 
deshalb an, daß ein Ewiges, Anfihfeiendes und Allge 


Die neuere Wendung der Wilienfhaft und die Theologie. 225 


meines dem vernünftigen Menfchen vor allem von der praftifchen 
Seite her im Laufe der gefchichtlichen Geiftesentwidlung aufgehe 
oder ſich offenbare in feinem Normalbewußtfein, zuvörderſt in den 
fittlihen Ariomen, Imperativen und Werturteilen. Aber, wie 
jedenfalls Windelband ausführt, um die gefchichtlich im Be: ' 
wußtfein ſich herausbildenden Ariome in ihrer inneren Gültigkeit 
feitzuftellen, bedarf der Menfh eines inneren fritifchen 
Mapitabes, weldhen er alſo feinenfalla ausfchließlih durch die 
Gefchichte empfangen Tann. „Um die Vernunft in der Ge 
ſchichte nachzuweiſen, muß man nicht nur die Gefchichte, fondern 
aud die Bernunft fennen“ (a. a. o. ©. 268). Diefer wid; 
tige Satz, welcher zunädjit gegen den Empirismus oder Hiftoris- 
mus gerichtet ift, führt auch hinaus über den ibealiftifchen Sub: 
jektivismus und über das Lavieren zwifchen diefen beiden Me: 
thoden. Der Menſch fennt die Vernunft, wenn er, ob auch unter 
dem Einflufje gefchichtlicher Bildung, das urfprüngliche Vermögen 
derſelben im Wefen feines Geijtes entdedt und nun gerade auch 
als fritifches gegenüber von der geſchichtlichen Überliefernng zur 
Entfaltung bringt. Der Inhalt der Vernunft aber ftellt jich von 
felber dar ala ein Allgemeines, welches nicht von den Subjekten 
produziert wird, fondern mit dem Charakter der Notwendigkeit und 
Allgemeingiltigfeit in ihnen ji) produziert und bei normalem Ver: 
halten derfelben feine unmillfürlihe Anerkennung herbeiführt. 
Denn ohne diefe Anerkennung fünnten die höheren, normgebenden 
Funftionen des Geijtes (das Denken, das fittlihe Bewußtſein 
u. ſ. w, fi) gar nicht vollziehen, fie fönnten ihren Zwed nicht 
erfüllen. Das Bernünftige wird von dem Menfchen fchließlich 
unmillfürlih als das ſchlechthin Gewiſſe und unbedingt Geltende 
anerfannt, weil es feine UWebereinjtimmung mit dem Grundmefen, 
dem Grundbedürfnijje, der Grundbeitimmung, der normalen Funk— 
tionierung feines Geiftes in der Totalität desfelben ausweiſt. 
Auf diefem Wege gewinnt der Inhalt der Vernunft für das Sub: 
jett ven Charakter der Wahrheit, und auf diefen Vorausſetz- 
ungen beruht die Möglichkeit und der Anſpruch, daß die Wahrheit 
von allen denen, deren Vernunft normal und voll entwidelt ift, 
anerfannt werde. Nun weiſt aber jenes Anfichfeiende und Allge: 
meingiltige in der fubjektiven Vernunftsthätigkeit Thon für fi) 


Theol. Studien a, W. VI. Jahrg. 15 
XXE 


2. 
*— 


2268 Weiß 


auf die objeftive Urvernunft hin ala den Grund derſelben. 
Und denfelben Grund müfjen wir vorausfeßen, wenn wir eine 
„Bernunft in der Geſchichte“ zunächſt aud nur in dem Sinne 
anerkennen, daß die Kulturgeſchichte dem Ziele vernünftiger Erfennt- 
ni? und vernünftigen Lebens der Menfchheit zuftrebe. Eine ob— 
jeftive Vernunft muß hier walten, welche nicht nur in den Sub: 
jeften, fondern auch für die Subjefte offenbar wird, welche die 
Geihichte beherrſcht. Der Menfchengeiit aber, welcher diefe Ver— 
nunft in der Geſchichte herausfindet und anerkennt, muß hen 
feinem anerfhaffenen Wefen nad an ihr teilhaben 
und aus dem fontinuirliden Zufammenhang mit 
ihr die Wahrheit feiner Erkenntnis und die Normalität feines 
Lebens oder Verhaltens herleiten. 

Damit ift nicht im geringiten behauptet, daß der Anhalt der 
Vernunft fertig im Menfchengeiite liege, auch nicht, daß der Men- 
Ichengeift überhaupt je den vollen Inhalt derſelben oder die ab- 
folute Wahrheit ganz fpontan aus ich heraus zu produzieren 
vermöge. Wir find feineswegs gezwungen zu diefer pantheiftifchen 
Borausfegung des abjoluten Idealismus, welcher den Menſchen— 
geift in feiner höchſten Entwidlung mit der abjoluten Vernunft 
identifiziert, zurüdzufehren. Nur das iſt behauptet, daß der Men- 


ſchengeiſt ſchon von Haus aus in feiner urjprünglihen Anlage 


derartig teilnehme an der abjoluten Vernunft, daß er gemilje 
Grundzüge der Wahrheit aus ji) "entwideln und daß er inäbe- 
fondere die weiter auf geſchichtlichem Wege ſich ihm offenbarende 
Wahrheit als ſolche erfennen und aufnehmen, aud in 
jelbftändiger Weife reproduzieren könne. Auch darüber 


. it noch nichts entfchieden, bis zu welcher Grenze während des 


irdiſchen Standes diefer ganze Prozeß überhaupt fortfchreite und 


- fortzufchreiten vermöge. 


Die theologifhe Auffaffung des aufgeftellten Sachver— 


haltes ergiebt nun freilich ein weit bejtimmteres Nefultat. Wenn 


die Theologie die Konfequenzen zieht aus ihrem Glauben an die 
Vollkommenheit der Offenbarung Gottes in Chrifto und durd ihn 
auch im Geifte der Gläubigen, jo muß fie zwei Annahmen aus— 
Ihließen, zwifchen welchen die Auffaffung der Offenbarung fpeziell 
in der Ritſchl'ſchen Schule fih hin und her bewegt. Die Offen: 


"2 


— 
R 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 227 


barung kann nicht wie ein dem Menſchengeiſte völlig Fremdes 
und in dieſem Sinn abſolut Neues oder rein Supernaturales 


auf gänzlich empiriſche Weiſe an den Menſchen gelangen und von 


ihm aufgenommen werden, ſonſt wäre fie nur eine mit dem Siegel 


' göttlicher Autorität verjehene zufällige Geichihtswahrheit. Ebenſo— 
; wenig aber fann ihr wejentliher Inhalt von dem Menjchen felber 


in fubjeftiv-idealiftifcher Meife produziert fein auf dem Grunde der 
gefchichtlihen Anregungen, welche er in dem ihm eigentümlichen 


„religiöſen Kreife vorfindet. Die beiden hier ausgeſchloſſenen Auf: 


f4 


faſſungen der Offenbarung, die rein empiriftiiche und dabei äußer- 


—lich fupernaturaliftiiche und die fubjeftiv idealiſtiſche treffen darin 


* L 


— 


= * 
io 
# 


Zuſammen, daß Gott felber höchſtens in entfernter Weife an der 
‚- Offenbarung beteiligt-ift. Diejelbe tft in Gefahr nur als menſch— 
‚liche Überlieferung zu erfcheinen, wenn auch mit dem Hintergrunde 
göttliher Urheberihaft und Autorität. Dagegen nah der wahr: 


Rp haft theologischen Auffaſſung ftellt fi) die Offenbarung deshalb 
„als wirkliches Produkt Gottes im menjchlichen Geifte, vor allem 


/ 


im Geiſte Chriſti, dar, weil Gott und der nad) feinem Bilde ge: 


ſchaffene Menfchengeift von Haufe aus wejensverwandt find und 
»-. weil Gott vollends in Chrifto und durd ihn in das innigfte Ver- 
— hältnis der Gemeinschaft und Mitteilung zum menschlichen Geifte 


ii >» 
* 


“getreten iſt. Vor allem Chriſtus ſelber, welchen doch auch die 


Ritſchl'ſche Schule weſentlich als Menſchen faßt, mußte in dem 
göttlichen Logos, das heißt in der vollkommenen Gottes— 


aoffenbarung an die Menſchen, welche den ſpezifiſchen Grund ſeines 


Bewußtſeins und Lebens bildet, die Erfüllung des urſprüng— 


—“ lich im Menſchen angelegten und dann in Iſrael weitergebildeten 


Gottesbewußtſeins und Gemeinſchaftsverhältniſſes mit Gott er: 


* 
5 


kennen, um jener abſoluten Offenbarung in feiner Perſon gewiß 


zu fein, und der analoge Prozeß muß ſich von Chriſto aus fort— 
ſetzen in den Gläubigen. Nach dieſer Auffaſſung wird alſo der 
/Offenbarung ihr Charakter als ſolcher nicht durch ein ſubjektives 


* Werturteil der Gemeinde oder des Einzelnen verliehen, ſondern er 


ruht auf dem göttlichen Zeugniſſe des Geiſtes in dem Gläu— 
bigen, alſo auf einer wahrhaft objektiven Grundlage. 

Wir erkennen an diefem Punkte den tiefiten Hinter: 
grund der Differenz, um welche es fich handelt. Alles be 


15* 





228 Weiß 


zieht ſich auf die Stellung, welche dem menſchlichen 
Geiſte zu Gott und welche dementſprechend der Wirk 
ſamkeit Gottes bei der Ausbildung des menſchlichen 


Geiſteslebens angewieſen wird. Faßt man im Anſchluß 
an Kant und Herbart dieſe Stellung der Hauptſache nach im 


Sinne des Deismus, weil man der pantheiſtiſchen Immanenz 
nicht anders entgehen zu können glaubt, ſo kommt der Charakter 
der Offenbarung, der göttlich begründeten Wahrheit, wie er im 
elementaren Sinne ſchon dem Gemwiffen und dem Gottesbewußt: 
fein des natürlichen Menſchen eignet und eignen muß, nicht zu 
feinem Recht. Auch alle gefchichtlid ausgebildete Erkenntnis 
Gottes erfcheint mehr als eine ſubjektive Anfchauung oder Über: 
zeugung denn als ein von Gott felber angezündetes Licht, worin 
er wirklich dem Bemwußtfein gegenwärtig und wirkſam fich erweilt. 
Hierauf hat ſchon Daub gegen Kant mit allem Nahdrud hin: 
gewiefen in feiner noch immer interefjanten und lehrreihen „Ein- 
leitung in das Studium der drütliden Dogmatif (1810). Er. 
macht mit größtem Nachdruck geltend, daß die unfere Welt: und 
Lebensanfchauung beherrfchenden Ideen von Gott, Freiheit, Sitten- 
gefes nicht ala bloße Produfte des Subjektes auftreten fünnen, 
in ſolchem Falle würde ihnen die Signatur der höchſten, objel- 
tiven Wahrheit abgehen. Vielmehr müſſe vor allem die Religion 
oder dad Gottesbewußtjein in uns von feinen elementaren An: 
fängen an bis zu feiner Vollendung in Chrifto Gott felber 
zum Urheber und Grunde in unferem Bemwußtjein 
haben, und diefer Grund müfje von uns gewußt und weiterhin in 
Vhilofophie und Dogmatit als folcher wiſſenſchaftlich erfannt 
werben. 

Wir wollen auf den zweiten Teil diefer Ausfage, welcher die 
wiflenfchaftliche Erfenntniß betrifft, erft unten noch einmal näher 
eingehen, hier wollen wir nur feftitellen, daß der erite Teil der- 
jelben eine unumftößlide Wahrheit enthalte Pſychologiſch 
und gefhichtlich betrachtet erjcheinen freilih das Bewußtſein 
Gottes, des Sittengeſetzes und der Freiheit ald Produkte menjch- 
licher Subjektivität, aber fachlich find fie gar nicht anders denk— 
bar denn als Manifeftationen und Wirkungen Gottes felber in 
dem dafür eigentümlich organifierten Geiſte de Menſchen; dies 


Die neuere Wendung der Wiffenfhaft und die Theologie. 229 


gilt auch von der Freiheit, fobald fie im höheren, matertalen 
Sinne veritanden wird, Man kann nicht bei der Anſchauung 
jtehen bleiben, daß nach Gottes Willen und etwa noch nach feiner 
uns nicht weiter verftändlichen Veranftaltung jene höheren Über: 
zeugungen von den Menjchen gebildet oder erarbeitet worden 
feien, man muß zu der in der Natur jener höheren Über: 
zeugungen und in der inneren Erfahrung von der Genefis und 
Bedeutung derjelben begründeten Gemwißheit und Einſicht fort: 
Ichreiten, Daß Gottes Gegenwart und Wirkfamfeit im Geifte der 
Menſchen der objektive und abfolute Grund jener Überzeugungen 
fei. Daß auch Schleiermacher dem überwiegenden Charakter 
feiner Lehre nad) auf diefer Seite jteht, ift ſchon im erjten Artikel 
nachgemwiefen worden, in der neueren Zeit haben neben Dorner 
und Frank DO. PBfleiderer und ganz befonder® Bieder— 
mann! durch die energifche Vertheidigung der hier in Rede 
jtehenden Bofition fich ein hohes Verdienſt erworben. 

Man hält von der anderen Seite entgegen, diefe Anſchauung 
feße eine pantheiſtiſche Gottesvoritellung voraus oder doch, es 
werde Gott dabei als eine Art von Naturfaufalität gedacht, welche 
unmittelbar in das Geiftesleben des Menfchen hereinwirfe, und 
dies widerjpreche gerade dem Weſen des Geiſtes, der Perfönlich- 
feit und des geiftigen Verfehres zwifchen Perfonen. Diefe Einwend— 
ung ijt aber unzutreffend, diejelbe ift nur geeignet, und vor den 
Verirrungen des Pantheismus oder falfcher Myſtik zu warnen. Ein 
inniger und lebendiger Zufammenhang zwifchen Gott und dem nad) 
feinem Bilde gefhaffenen Menfchen kann und muß aud) vom Stand: 
punft des Theismus aus angenommen werben. Stellen wir uns ge: 
rade auf den Boden jener Betradhtung, daß es ſich bei der Bild- 
ung der höchften Überzeugungen des Menfchen keineswegs bloß 





1 Obgleich ich, wie die vorliegende Ausführung zeigt, nicht nur 
in entfcheidenden materiellen Bunkten, jondern aud in der Auffafjung 
de3 Erfenntnißprogefieg mit Biedermann nicht übereinftimme, ſo 
iheint mir doc die neue Auflage feiner chriftlichen Dogmatik (1884) 
einen hervorragenden Beitrag zu einem tieferen Eindringen in bie 
Grundfragen der heutigen Theologie zu liefern. Es iſt fchmerzlich zu 
betfagen, daß der Verfaſſer vor der Vollendung der neuen Ausgabe 
abgerufen worden ift. 


230 Weiß 





um theoretiſche Erkenntniſſe, ſondern vielmehr in erſter Linie um 
die perſönliche Stellung und Lebensrichtung des Subjektes handle, 
ſo müſſen wir nur noch dringender erwarten, daß Gott als die 
wahrhaft beſtimmende Macht für jenen Zweck an dem Menſchen 
ſich offenbaren und wirkſam erweiſen werde. Dieſe Vorausſetzung, 
welche ſchon aus dem allgemeinen Begriffe der Religion und Sitt- 
lichkeit herfließt, fobald wir eben beide nur im Zujammenhang 
mit dem Dafein und Walten des perfönlichen Gottes denfen, findet 
aber ihre höchfte Beftätigung in dem chriftlihen Glauben an die 
Erlöfung in Chrifto, von welcher auch die Offenbarung ſchon 
ihre urfprünglihe Richtung empfängt, in welchem fie jedenfalls 
ihre abjchließende Vollendung findet. ! 

Der riftliche Glaube, welcher Gott allerdings als den voll: 
fommenen Urheber des höchſten Gutes, als den volllommenen 
Willen der Liebe und des Heils auch für die fündige Menfchheit 
erfährt und weiß, hütet ſich zwar mit Recht, diefen Willen wie 
einen unmittelbaren Naturgrund oder wie eine unmiberftehliche 
Naturmacht im Menfhen wirkſam zu denken, weil dadurch der 
fittlihe Charakter der Erlöfung aufgehoben wäre; aber er muß 
auf der anderen Seite den Willen Gottes doch als einen den 
fündigen und dunkeln Menfchengeift ſchöpferiſch anfafjenden 
und durchdringenden und fo wahrhaft erneuernden, erleuchtenden 
und befreienden fich vorftellen. Nur diefe Vorſtellung entfpricht 
der hriftlichen Erfahrung und der Idee der Religion, dem Wefen 
volllommener Gottesgemeinfhaft. Nur unter diefer Borausfegung 
fann auch eine chriftlihe Gewißheit und Erkenntnis entftehen, 
welche auf der einen Seite abjolut ſicher ift, weil fie nicht blos 
der Überlieferung oder fubjeftiver Selbitthätigfeit entfpringt, fon- 
dern objeftiver Bezeugung Gottes, und welche auf der anderen 
Seite auch abfolut felbftändig tft, weil fie fich dem Subjelte 
auf dem Grunde eigenften perfönlichen Erlebniffes gebildet hat. 
Die Welt des Glaubens ift, wie Herrmann fagt (vgl. auch 
Dilthey aa. O. ©. 7 f.), im Grunde identifch mit der Melt 
des Menſchen als einer fittlihen Perſon. Davon 


! DBgl. meine Abhandlung über „Das Wefen des perjünlichen 
Chriſtenſtandes“ in den theol. Studien und Kritiken 1881. 9. 3 und 
1885, 9. 3. 








Die neuere Wendung der Wilfenfhaft und die Theologie. 231 


wollen au wir ausgehen. Aber der Chrift, welcher fich felber 
als fittlihe Perfon im Sinn der Gotteskindſchaft erfaßt, findet in 
feiner inneren Welt vor allem Gott gegenwärtig als den 
ſchöpferiſchen Grund feines fittlihen Perfonlebens und damit auch 
als den objektiven und gemwiffen Grund aller der Glaubensüber: 
zeugungen, welche auf eine notwendige Weife mit dem Erlebnis 
und der Gewißheit feiner Gottesfindfchaft zufammenhängen, Aller: 
dings ermeitert fich ihm fein perfönliches Bewußtſein zu demjent- 
gen der chriftlihen Gemeinde, von welchem es getragen ift; aber 
nur deshalb und nur fo meit teilt er mit der empirifchen Ge: 
meinde diejelben Glaubensüberzeugungen, weil und ſoweit er die 
Gemeinde beitimmt weiß von derjenigen Selbitbezeugung Gottes, 
welche ihm der unerfchütterlihe Grund feiner Gottesfindfchaft ift. 
„Mm die Vernunft in der Gefhichte nachzumweifen, muß man nicht 
nur die Gefchichte, fondern auh die Bernunft fennen“ fagt 
Windelband. So fagen wir nun für das Gebiet der chriftlichen 
Mahrheit: um diefelbe in der Kirchen: und Dogmengejchichte nach⸗ 
zumeifen, muß man fie zuvor aus dem Zeugniſſe Gottes im 
eigenen Inneren kennen gelernt haben (1 Joh. 5, 6.). Nur wenn 
der Geiſt des Chriften zuvor durch und in Gott felber auf dem 
Grunde feiner Offenbarung in Chrifto richtig orientiert tft, Tann -» 
er jih an den gefchichtlichen Zeugniffen der Gemeinde weiter ficher 
und richtig orientieren. Auf proteftantiihem Boden bleibt das 
testimonium spiritus sancti der Grund aller Glaubensgewißheit, 
wenn es auch fchmwierig ift, das Verhältnis desfelben zu dem 
Zeugniffe der Schrift und der Kirche, welche organisch damit ver: 
bunden find, genau feitzuftellen. 

Nunmehr können wir das Reſultat ziehen aus unferer ge- 
famten Ausführung. Diefes geht dahin, daß ſchon die Philo— 
ſophie die allgemeine Weltanfhauung als ein Syitem Der 
Wahrheit,fomit objeftiver Erkenntnis aufzuftellen und 
zu entwideln habe, und die Theologie, unter entfprechender Modi: 
fifation gemäß ihrer fpezififhen Grundlage und Aufgabe, die 
gleiche Anforderung erfüllen und denfelben Anſpruch erheben 
müſſe. Wir wollen zuerft noch einmal ind Auge faſſen, wie ſich 
diefe Aufgabe vom Boden der allgemeinen Wiſſenſchaft oder der 
Philofophie aus näher geftaltet. Von apriorifcher Konftruftion 


232 Weiß 


des Syſtems dur das „reine Denken“ und von dem Anſpruche, 
daß auf diefem Wege die abjolute Erkenntnis mit logiſch zwin- 
gender Notwendigkeit produziert werde, ijt feine Rede mehr, Durch 
zwei Inftanzen ift diefe Einbildung für immer befeitigt: nur auf 
dem Grunde der Erfahrung im weitelten Umfange des Wortes, 
alſo auch der geſchichtlichen Ausbildung des menſchlichen 
Geiſtes gewinnt das Denken jenen Inhalt, welchen es zur Er— 
kenntnis der Wahrheit verarbeiten kann und ſoll; ſodann erreicht 
der menſchliche Geiſt nur durch die ſpezifiſche ſittlich-religiöſe 
Erfahrung und Erhebung, wie ſie gerade vollends innerhalb der 
chriſtlichen und ſpeziell der evangeliſchen Kulturſphäre ermöglicht 
ift, Die gemiffe Überzeugung und das Verſtändnis von jenen 
oberiten praftifchen Prinzipien, von jenen unbedingten Werten 
und Realitäten, von jenen oberften Normen und PBotenzen, welche 
den Prinzipat bei der Leitung der Weltanſchauung behaupten 
müſſen. Es iſt alſo eine durch fpezififchen fittlichereligiöfen Auf: 
Ihwung gewonnene, daher nicht für jedermann logisch deduzierbare 
Glaubensüberzeugung und laubenserfahrung, von wel- 
her die MWeltanfhauung gerade ihre beherrfchende Grundlage und 
Richtung empfängt; die fpezififhe Welt des Geiftes, welche ihr 
die maßgebenden Prinzipien liefert und ihre eigentliche Heimat 
bildet, öffnet ſich als wahrhaft überfinnlide Welt nur der freien 
veligiös-fittlihen Betrachtung, nur der „praftiihen Bernunft“. 
Somit fünnen bei der Bildung der Weltanfhauung weder die 
finnlihe Erfahrung, etwa der Naturalismus, noch das abitrafte 
Denen, der Intellektualismus, das entſcheidende Wort führen, fo- 
mit fann aud von einer abfoluten Erkenntnis im Sinn allge: 
meiner Bemweisbarfeit oder auch im Sinne lüdenlofer Vollftändig- 
feit feine Rede mehr fein. 

Un diefen Borausfegungen muß ſchlechthin feitgehalten werden, 
an denfelben will aud jede befonnene Philofophie fefthalten. 
Sinnlihe Erfahrung und reines Denken tragen feinenfalld die Er: 
fenntniß der ganzen Welt in ihrem Schoße, ja fie befigen nicht 
einmal den Schlüffel zum Heiligtum der Erfenntni® überhaupt; 
dieſer Schlüffel liegt in der Hand der ſittlich— teligiöfen Erfahrung 
des Glaubens. Aber nun müffen wir e8 für einen Irrtum er: 
Hären, wenn die zunächſt von der fittlich- religiöfen Erfahrung 


Die neuere Wendung der Willenihaft und die Theologie. 233 


erfaßten und ausgefprochenen Ariome, Werturteile, Boftulate, Im— 
perative und Normen einfeitig in ihrer praftifch=jub- 
jeftiven Geltung belaffenundnidht zugleid als Er— 
fenntnijffe und Ausfagen von dem wahrhaft Wirk 
lihen und Seienden verjtanden, gewertet und ver: 
wertet werden. Nicht blos die höchſten Werturteile findet der 
Geiſt in ſich, fondern zugleich die höchſte Realität, nicht blos 
die oberjten Normen der Beurteilung, fondern zugleich die 
oberjten Brinzipien de8 Seienden. Als wirklide Offenbar: 
ung des höchſten Seins treten Freiheit, Sittengeſetz, abſolute 
Zwedbeitimmung, höchſtes Gut, Einheit und Vollkommenheit der 
Melt, ja Gott felber im Bemwußtfein auf, in diefer Bedeutnng 
wollen fie von demfelben auch anerkannt fein. Namentlich. das 
Gewiſſen und das Gottesbemußtjein erfcheinen als Manifeltationen 
der höchſten objektiven Realität und Macht im Geijte des Men- 


ſchen, e& genügt nimmermehr, diefelben als fubjeftives Urteil, ob 


auch vom höchſten Werte, auszudeuten. Deshalb offenbaren ſich 
alle die genannten Inſtanzen nicht blos in der praftifchen, fondern 
zugleich in der theoretifchen Vernunft des Menfchen, in feinem 
Denken, und bier gewinnen fie ala Begriffe und Ideen 
die Geitalt von objektiven Erfenntniffen. Und zwar erhalten 
fie diefen Charakter nicht blos durch die immanente Notwendigkeit 
ihres reinen Gedankeninhaltes, welchen das Denken an ihnen ent- 
widelt, jondern insbejondere noch durch die notwendige Verknüpf— 
ung, melde von dem Denken zwiſchen ihnen und zwijchen den 
aus dem äußeren Erfahrungsgebiete gewonnenen Erkenntniſſen 
nachgemwiejen wird. Als befonderes Beifpiel für Ddiefen ganzen 
Prozeß kann das Verfahren dienen, welches die Erkenntnis in den 
„Beweifen für das Dafein Gottes“ einjchlägt. 

Nur dur eine durchaus willfürlihe, künſtliche Abjtraftion 
fann man die theoretifche und die praftifche Seite des Menfchengeijtes 
in der Richtung auf die Erfaffung der höchſten Wahrheitsprin- 
zipien fo von einander ifolieren, daß man die praftijche auf die 
intenfivfte und erfolgreichite Weife in jener Richtung agieren läßt 
und dabei die PVorftellung heat, ald ob die theoretifche hiebei 
völlig unthätig oder doch impotent fich verhalten würde. Bet nor: 
malem Vollzug der entjprechenden Geiftesthätigfeit treten fittlich- 


234 Weiß 


religiöfe Erfahrung und Erhebung ftet3 im innigften Bunde mit 
der objektiv vorftellenden, auf höherer Stufe der denkenden oder 
nachdenfenden Thätigkeit in Aktion, man muß nur hinzufügen, 
daß beide zufammen noch, wenn die Aktion zu foldher Höhe fich 
zu erheben vermag, in einem Dritten fi) vollenden, nämlich in 
jöiner Art von Schauen der hödjiten Wahrheit, welches pral- 
tiſches und theoretiſches Verhalten in der intenſivſten Form ihrer 
Bethätigung unmittelbar vereinigt. Auch gegen die aus der finn- 
lichen oder überhaupt äußeren Erfahrungswelt fommenden Er: 
fenntniffe fann ſich die zunächſt durch praftifche Erhebung gewon- 
nene Glaubensüberzeugung keineswegs fo exkluſiv verhalten, daß fie 
diefelben einfach ignorieren würde. Wir möchten alfo behaupten, 
daß 3. B. die teleologifche Weltbetradhtung von der praftifchen 
Vernunft nimmermehr als Wahrheit aufrechterhalten werben 
fönnte, wenn nicht auch das Denken diefelbe als vernünftig er: 
fennen würde, und wenn nicht Naturwiffenfhaft und Gefchichte 
wenigſtens die MWahrfcheinlichkeit derfelben durch empirischen Nach: 
weiß zu ftüben im ftande wären. Es mag zugegeben werden, daß 
die Kategorie der Zweckmäßigkeit zuallererft in unferem praftifch 
urteilenden Geifte erweckt werde, ähnlich wie die Empfindung und 
die Idee ded Schönen, und daß fie zunächſt von jenem hineinge: 
getragen werde in die Außenwelt; aber mitbeteiligt ift bei dieſem 
Gedanken und Urteil jedenfalls auch das objektive Denken, ja mit: 
beteiligt find auch bei dem Urteil der Zweckmäßigkeit fo gut mie 
bei demjenigen der Kaufalverfnüpfung die äußeren Eindrücke 
felber, welche gerade nur in diefer Form, Regelmäßigfeit u. ſ. w. 
auftreten. Es ift eben auch Vernunft in den Dingen und in den 
Eindrüden, melde von ihnen ausgehen, und diefe Vernunft wirkt 
erregend auf den Geiſt des Menfchen, welcher ihr homogen ift, 
weil er demfelben Grunde entitammt, und mwedt dort die entipre- 
chenden Formen vernünftiger Auffaffung und erzeugt dur das 
Zufammenftimmen diefer Auffaffung mit den normal ſich fund: 
gebenden Eindrüden die Gemwißheit von der objektiven Realität der 
Dinge mit ihren Qualitäten und Relationen, alfo die Gewißheit 
ihrer Erkenntnis. In noch mweit höherem Grade treffen die Offen: 
barung des Wirklihen im Geifte und ihre homogene Auffaffung 
durch den Geift zur Erkenntuis der Wahrheit zufammen, wenn in 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 235 


dem Menfchen von ausgebildeter Empfänglichkeit gerade die religiös- 
fittliche Melt fich erfchließt, mie dies oben ſchon entwidelt worden 
it. Es ift eben doch etwas an jener alten Rede, daß der Menſch 
als der Mikrokosmus und vermöge feines Anteild an dem gött: 
lihen Logos die Anlage in ſich trage, alle Dinge, ja fogar Gott 
felber, in feinem Geiſte abzubilden. Gerade in ber innerften Ge- 
famtbewegung des Menfchengeiftes erhebt und offenbart fich auch 
fein urfprünglicher Anteil an dem unendlichen Geiſte und feine 
Beitimmung dafür, daß diefe Anlage zur Teilnahme an dem Un- 
endlichen, welche hineingebannt ift in die Schranken der Endlich— 
feit und der Sünde, durch Entwidlung, Erfüllung, Erlöfung zur 
Vollendung geführt werde. 

Co hat nun alſo ſchon das philofophifhe Denken die ge- 
mwonnenen Prinzipien der Wahrheit oder die aus ihnen gebildeten 
Begriffe und Ideen nach ihrer immanenten logifchen Geſetzmäßig— 
feit zu einem objeftiven Syſteme der Erkenntnis im Zufammen- 
hang zu entwideln, es nimmt in diefen Zufammenhang alle be- 
währten Ergebnifje der Erfahrungswiſſenſchaften im weiteſten 
Sinne diefes Mortes auf und fucht gerade ihren Inhalt darin fo 
zu reproduzieren, daß er zugleich als zufammenjtimmendbe Einheit 
begriffen wird. Nur bleibt e8 fich deffen bewußt, daß es nicht ı 
alle Zufammenhänge nadhzumeifen vermag und daß in allem Bo: 
fitiven, welches die Erfahrung darbietet, noch ein letter Reit übrig 
bleibt, welcher nicht im Begriffe aufgeht, e8 hütet fich eben daher 
vor gemaltthätiger Syftematijierung und läßt der Bereicherung 
und Berichtigung die Thüre offen. Aber warum follten nicht vor _ 
allem Ethik und Religionsphilofophie fi vollenden in einer fpe- 
fulativen Theologie, zu welcher dann auch Gefchichte und Natur: 
wiffenfhaft ihre Beiträge lieferten, fobald diefe Theologie nur 
nicht mit der Prätention des abfoluten Wiſſens auftreten würde! 
Und warum follte dann nicht wieder das ganze Syitem ber Er: 
fenntnis in das Licht diefer Theologie gerüdt werben, da ja über- 
haupt von einer objeftiven Weltanfchauung nur da die Rede fein 
kann, wo über Gott und fein Verhältnis zur Welt, fpeziell zur 
Menfchheit, deutliche Ausfagen gemacht werben, welche wenigitens 
die entfcheidenden Grundlinien feititellen. Und fo ftrebt denn auch 
die heutige Miffenfchaft offenbar mit neuer Zuverficht einer folchen 


N 


236 Be iß 


objektiven Weltanſchauung zu, deren innerſten Kern der ethiſche 
Gottesbegriff bildet, aber nicht als ein blos ſubjektives Poſtulat, 
ſondern als das objektive Zentrum, nicht wie ein Fixſtern, welcher 
nur an der Grenze des Horizontes noch aus unendlicher Ferne im 
Dunfel herüberleuchtet, fondern als die Sonne, welche nad allen 
Geiten hin die Welt wirkſam erhellt und vor allem das Auge des 
Beichauerd mit ihrem eigenen Olanze erfüllt. 

Diefem Zuge der allgemeinen Wiſſenſchaft, welcher ſich not- 
wendig einjtellen mußte, fobald man überhaupt den Glauben an 
eine MWahrheitserfenntnis nicht aufgeben wollte, wird nun auch Die 
Theologie unzweifelhaft mit neuer Entjchiedenheit folgen, ohne 
darum in die alte Selbfttäufhung und Unbejonnenheit dogmati- 
fierender Scholaftif oder reiner Spekulation zurüdzufallen. Auch 
fie wird vor allem ihre religiögfittlihe und zugleich) empirtjche 
Slaubendgrundlage feithalten und zwar in der ganz fpezifiichen 
Beitimmtheit als Erfahrung oder Bewußtſein von der Erlöjung 
dur Ehriftum, von dem neuen Thatbejtande, welcher durch ihn 
in den Chriften ald That und Offenbarung Gottes gejeßt- worden 
it. Diefe fpezififche Erfahrung bildet den Grund, den Kern und 
den Schlüffel des ganzen theologischen Syſtems. Aber nun kann 
die Theologie unmöglich dabei ftehen bleiben, diefe ihre fundamen- 
tale Glaubensausfage nur wie einen hiſtoriſchen Sat durch Re— 
flerion als empirifches Religionsſyſtem zu eingehender Daritellung 
zu bringen oder nur in einer Neihe von Urteilen zu entwideln, 
welche nichts weiter als ſubjektive Werturteile bedeuten follen. 
Sie muß vor allem ihren Ausfagen über Gott und fein Verhält- 
nis zu dem Menfchen, über Chrijtus und über die Offenbarung in 
ihm, über den Menſchen als Objekt der Erlöfung u. |. w. die 
Bedeutung von objektiven Außfagen oder Erkennt— 
niſſſen beilegen, welche innerhalb der denkenden Betrachtung und 
im Berhältniffe zu den Ergebnifjen äußerer Erfahrung aud als 
ſolche fich ermweifen, Jobald nur der wiſſenſchaftliche 
Forfher feinen Standpunkt niht außerhalb,-fon- 
dern innerhalb ver Friſtlichen Erfahrung-oder der 
Selbjtbezeugung der driftliden Wahrheit einnehme 
und einzunehmen innerlich befähigt fei. Wiederholt ift 
im Laufe unferer Ausführung darauf hingewiefen worden, daß für 


Die neuere Wendung der Wifjenjchaft und die Theologie. 237 


den Chriften fein Glaube die Bedeutung einer wirklichen Er— 
fenntni® babe, worin Gott durch Chriftum dem Gläubigen in 
ſpezifiſcher Weiſe offenbar geworben ift, und diefe Erkenntnis Hat 
nicht nur im Verhältnis zu Gott felber, fondern auch im Verhält- 
nis zur Welt deshalb die Bedeutung eine® zentralen Erkennt: 
nisprinzipes, weil darin der mit Gott geeinigte Mensch oder 
genauer die in Chrifto befaßte und mit Gott geeinigte neue Menſch— 
beit zugleich als der Mittelpunkt der Welt, foweit fie unferem Be: 
mußtfein überhaupt zugänglich ift, oder als der Mittelpunft und 
letzte Endzweck der auf die Welt gerichteten Thätigfeit Gottes er: 
fcheint. Was nun mit diefem Mittelpunfte des Glaubens nicht 
enge und notwendig verfnüpft iſt, alle Erkenntnis, welche nicht 
wenigſtens ihre Wurzeln hat in der inneren Melt des Glaubens, 
welche aljo nicht zugleih Heils wahrheit ift, bildet freilich fein 
Element des theologischen Syſtems, fogar wenn diefelbe fachlich 
mit einzelnen PBofitionen desfelben nahe zufammenftimmen follte. 
Wohl aber muß die Theologie ihrerfeit® Grundlinien und Vor— 
ftufen ihrer ſpeziflſchen Erkenntnis auch in der natürlichen Erfennt- 
nis des Menſchen auffuhen und nachmweifen und weiterhin die be- 
währten Refultate mweltlicher Wiffenfchaft zu dem Zwede in fich 
aufnehmen, damit fie bei der näheren Außgeftaltung ihrer fpezifi- 
fhen Grunderfenntnis, bei der Hineinbildung ihres Heils— 
bewußtjein® in das Meltbemußtein oder aud in 
das urfprünglid menſchliche und infofern wahrhaft 
univerjelle Bewußtſein gerade den wiffenjhaftliden 
Anforderungen entjprehe. Daß die Theologie die Rejultate ge: 
Ihihtliher Forſchung in diefer Weiſe zu berüdjichtigen habe, be- 
ftreitet doch eigentlich niemand. Aber zu den meilten philofophi- 
ſchen Disziplinen fteht fie in einem ähnlichen Verhältniffe und 
aud von den Naturwiſſenſchaften hat fie zu lernen. Sie begibt 
fich deshalb diefen Wifjenfchaften gegenüber noch nicht in ein Ver: 
hältnis unfreier Abhängigkeit, fie hält dabei ihre eigene Grundlage 
in voller Selbftändigfeit aufrecht und fie weiß überdies, daß, wenn 
eine vollflommene Weltanfhauung gebildet werden follte, fie 
felbft au für alle meltlihe Wiſſenſchaft die höchſten Geſichts— 
punkte darzubieten hätte, welche jene von fi aus gar nicht zu er- 
reichen vermag. 


238 Weiß 


Wenn übrigens die Theologie in der oben bezeichneten Weiſe 
ſich im Umfange ihrer Erkenntniſſe weſentlich einſchränkt auf den 
Kreis der Glaubens- oder Heilswahrheiten, fo bekennt ſie auch 
noch nach einer anderen Seite hin ihre Schranke. Sie iſt ſich 
wohl bewußt, daß ſie auch von den Heilswahrheiten weder eine 
lückenloſe, noch eine volllommen adäquate, alſo in keiner Bezieh— 
ung eine erſchöpfende Erkenntnis zu liefern vermag. Nicht nur iſt 
ihre Erkenntnis gerade als wiſſenſchaftliche fortwährend abhängig 
von temporellen Einflüſſen, iſt im ganzen eine erſt fortſchreitende: 
die Natur ihrer Objekte, welche als überſinnliche auch der geiſtigen 
Erfahrung und dem dieſelbe durchdringenden Denken doch immer 
noch mehr oder weniger transzendent bleiben, bringt es mit ſich, 
daß die Theologie dieſelben, vor allem Gottes Weſen und Wirken, 
ſelber niemals adäquat und nach allen Seiten ihrer Beziehung 
aufzufaſſen und darzuſtellen vermag. Wohl iſt ſie nicht darauf 
beſchränkt, bloß die ſubjektiven Auffaſſungen und Urteile über Gott 
und ſein Wirken, wie ſie im Bewußtſein des gläubigen Chriſten 
ſpezifiſch ſich bilden, in ihrem Zuſammenhange zu beſchreiben, oder 
blos teleologiſch die legten Ziele, auf welche der Wille des Chri- 
jten gerichtet ift, in ihrer Verknüpfung mit dem abfoluten Zwecke 
Gottes zu entwideln, fie vermag e8 auch weſentliche Wahrheit, 
ontologifhe und ätiologiſche Erkenntnis mitzuteilen. 
Aber fie kann das allerdings nur in unvollfommener Weife leiften, 
und deffen fol fie weit entfchiebener als es viele Sahrhunderte 
hindurch gefchehen ift und als manden noch heute einleuchten will, 
eingeben? bleiben. Auh auf dem Grunde der volllommenen 
Dffenbarung in Chrifto und der mefentliden Heilßerfenntni® un- 
ferer evangelifhen Kirche und trotz ber fortgefchrittenen wifjen- 
ſchaftlichen Einficht der neueren Zeit gilt für die theologia viato- 
rum, welche nur im Glauben wandeln und nit im Schauen 
(1 Sor. 13, 9 ff), das apoftolifhe Bekenntnis: er ueoovg 
yıyvooxo. Bei ganz wefentlihen Stüden der Lehre kann die 
Theologie doh nur dad „Daß“ der Wahrheit in näheres Licht 
ftelen und dasfelbe in feinem Zufammenhang mit den übrigen 
Hauptftüden begründen, fie kann auch nach recht? und links falfche 
Auffaffungen ausfchließen, aber das innerfte „Wie“ und das eigent- 
liche „Werden“ der Sache kann fie nicht begrifflich erfaffen und 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 239 


formulieren, fie kommt auf diefem Gebiete jedenfalls nicht über 
mangelhafte Verſuche oder über Ahnungen hinaus. So inäbe- 
fondere in ſolchen Lehrftüden, melde nach rüdwärts oder vorwärts 
über alle Erfahrung ſchlecht hin Hinaußliegen, wie in den Lehren 
von der Schöpfung, der Erwählung, dem Urftande und Sünden: 
falle (der Entftehung der Sünde) oder von den legten Dingen. 
Auch in dem erfahrungsmäßig Geficherten (mie z. B. in der Lehre 
von ber Belehrung und Wiedergeburt) vermag fie mande Anti: 
nomien (alfo im genannten Falle dad Zuſammenwirken von | 
Gnade und Freiheit) nicht oder doch nicht völlig aufzulöfen, fie 
fann nur nachmeifen, wie fie ſich in ber lebendigen Erfahrung des 
glaubigen Chriften als gelöft darftellen. Von jeher ift darauf 
bingemwiefen worben, daß es dem Charakter der Glaubensmwahrheit 
gerade angemeflen fei, wenn diefelbe ſich für die volllommene Auf- 
löfung in ein Syitem begrifflichen Wiſſens unzugänglich ermeift. 
Die Wahrheit, welche die höchften Objekte unferer Verehrung und 
den tiefiten Grund unferes religiös-fittliden Leben® unferem Geifte 
darbietet, fol wohl auf der einen Seite für den erfennenden, wie 
für den fühlenden und mollenden Menfchengeift als ein helles Licht 
von durchdringender Klarheit ſich darftellen, aber fie foll auf der 
anderen Seite ebenfo den Eindruck undurchdringlicher Erhabenheit 
und eines tiefen Geheimniffes in dem Gemüte ermeden und 
dauernd erhalten, fie fol niemals die Geftalt einer dem gemeinen 
Verſtande logiſch demonftrierbaren oder Durch äußerlihe Empirie 
nachmweißbaren und fo zugleich die Freiheit der Aneignung aus: 
Ichließenden BVerftandeserfenntnis annehmen. An diefem Sinn 
fol die Theologie immerhin und immerdar den praftifhen 
Prinzipat des Glaubens uud des perfünlichen Chriften- 
ftandes aufrechterhalten nah dem Schlußworte des Apoftels: 
vovı ÖE ev nuorig, EArG, ayanr, Ta TEIE ravra. yEılov 
de rourovu n ayann. 


Nachtrag. 


Die „Neuen Beiträge zur miffenfhaftliden 
Grundlegung der Dogmatil“ von Lipfius in den Jahr: 
büchern für prot. Theol. 1885 9. 2 u. 3 (ganz befonders Ab: 
ſchnitt M. über „Metaphyfit und Religion“), melde erft nach dem 





240 Weiß 


Abſchluſſe der vorſtehenden Studie erſchienen ſind, greifen ſo un— 
mittelbar und in ſo intereſſanter Weiſe in die dort behandelten 
Fragen ein, daß hier noch ein kurzes Wort über dieſelben ange— 
fügt werden muß. In dem hervorgehobenen dritten Abſchnitte 
ſetzt ſich Lipſius hauptſächlich mit Herrmann, gelegentlich auch 
noch unmittelbar mit Ritſchl oder mit Kaftan auseinander. 
Bei ſeiner gründlichen Auseinanderſetzung ſcheidet nun Lipſius 
ſeinerſeits ſeinen Standpunkt noch ſchärfer als früher von dem— 
jenigen Ritſchls, ſowie von demjenigen der beiden genannten 
Schüler desſelben, wobei er mit Recht auf die erkenntnistheoretiſchen 
Differenzen innerhalb der Schule hinmeist, doch hebt er auch noch 
Grundanfhauungen hervor, weldhe er namentlich mit Herrmann 
teile, nur daß er fie in der Hauptfache anders deutet oder ver: 
wertet. Zugleich ift er, wie man bei der Vergleichung feiner Dog- 
matik (2. Aufl. 1879) annehmen muß, im Begriffe, feine erfenntnip- 
theoretische Anſchauung genau in derjenigen Richtung fortzubilden 
oder doc in demjenigen Sinne näher zu präzifieren, welche in der 
obigen Studie als entfprehend der neueften Wendung 
der Wiffenfhaft überhaupt für die Fortbildung der Theo- 
logie marfiert worden find. — Er befämpft den abfoluten Dualis- 
mus zmwifchen theoretiihem und praftifhem oder zwifchen faufalem 
und teleologifhem Erkennen und fucht die natürlichen und not: 
wendigen Beziehungen zwifchen beiden nachzumeifen, er madt auf: 
merkſam auf das unfichere Fundament bloßer „Werturteile” für 
die Theologie, welche das fchlichte Wahrheitögefühl unficher machen 
und verfennen, daß alle Werturteile auch ein Seinsurteil ein: 
ſchließen. Er zeigt auch das relative Recht einer einheitliden 
Weltanfhauung, wie fie innerhalb beitimmter Grenzen ſchon 
dur die Philoſophie unter Berüdfichtigung. der Thatfachen des 
natürlichen fittlichereligiöfen Bewußtſeins entworfen werden kann 
und notwendig auf eine richtig verftandene Metaphyfif hinaus: 
fommt. Die Weltanihauung behält ihm allerdings noch einen ge: 
willen fubjeltiven Charakter, fie hat nicht ſchlechthin die Dualität 
des objektiven, auf die äußere Erfahrung bezogenen Wiſſens, fie 
kann nicht ala notwendige Wahrheit andemonftriert werden, aber 
fie ift darum feineswegs leere Einbildung, weil fie auch da, wo 
fie von der fittlich-religiöfen Erfahrung ausgeht, auf einen erfahrenen 


Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 241 


Thatbeitand fich gründet, auf (freilich überfinnlihe) Reali— 
täten fich bezieht und einer inneren Nötigung des Geiftes 
ala ſolchen folgt, weil fie überdies fih in Übereinjtimm- 
ung zu ſetzen ſucht mit dem durch die äußere und allgemeine 
Erfahrung und Erforfhung feitgejtellten und anerkannten Wiffen. 
Die Weltanfhauung ift ſomit auch fein bloßes Weltbild, fon- 
dern fie iſt mwohlbegründete Welterflärung. Im analogen 
Sinne bildet nun auch die Dogmatik eine chriftlihde Weltanſchau— 
ung, in welcher die chriftliche Erfahrung den Herzpunkt bildet, 
oder fie fann fie menigitens bilden, nad) einer Seite hin eine 
weit vollfommenere als die Philofophie, weil fie am chriftlichen 
Glauben den Grund ſpezifiſch höherer religiös-fittlicher Erfahrung 
hat, wie ſie von Chrijtug aus den Chrijten vermittelt ift, auf der 
anderen Seite aber eine folche, welche als fpezififche Glaubensan- 
Ihauung noch beftimmter den Charakter fubjeftiver und partifulärer 
nur den Chriften zugänglicher Überzeugung an ſich trägt und aud) 
noch deutlicher fich bewußt fein muß, daß gerade ihren höchiten 
Ausfagen über die trandzendenten Glaubensobjefte immer nod) 
etwas Inadäquates, Bildliches anhaftet, weil das Mefen derfelben 
aus ihren erfahrenen Wirkungen oder Relationen heraus doch nicht 
adäquat erfchlojfen und fonftruiert werden kann. 

Durch diefe vorfichtigen Einfhräntungen will Lipfiuß die 
Miederfehr fpekulativen und dogmatiſchen Konftruftiond: und 
Syftem-Wahnes abwehren. Wenn mir ihm hierin auch zunädjt 
nur beiftimmen können, fo will uns doch jcheinen, daß ſich auf 
dem von ihm betretenen Wege noh weitere Konfequenzen 
für die Bildung einer einheitlichen riftlihen Weltanfhauung im 
Sinne objeftiver und fyftematifher d. h. zugleid 
fynthetifher Erkenntnis ergeben, freilih Feiner abſo— 
luten Erkenntnis und feinerlogifh andemonftrierbaren, 
weil jenes den Grundbedingungen menſchlicher und diejes dem 
Weſen aller höheren, namentlih aller fittlih:religiöfen Er: 
fenntnis widerftrebt. 

Auch die gegen Herrmann gerichtete Abhandlung von A. Krauß 
in der genannten Zeitfchrift 1883, II. u. diejenige von Wegener 
über „die philofophifhen Grundlagen der Ritſchl-Herrmann'ſchen 
Theologie“ dort 1884 II. dienen zur Orientierung in berfelben 

Theol. Studien a. W. VI. Jahrg. 16 





242 Weiß, Die neuere Wendung der Wiſſenſchaft und die Theologie. 


Richtung wie diejenige von Lipftus.1 Man kann aus den von 
allen Seiten her angeftellten Unterfuchungen den erfreulihen Ein- 
drud gewinnen, daß die Theologie ernftlich fih bemüht, auß dem 
empiriftifchen Subjeltiviamus herauszulommen und namentlich den 
bedenklichen Schein doppelter Buchhaltung im erneuerten Streben 
nah Feitftelung der objeltiven Wahrheit von ſich abzu- 
wehren. 


ı Seine Abhandlung Liegt im 4. Hefte der genannten Jahrbücher 
jegt vollendet vor und bietet gerade auch in ihren zwei letzten Ab— 
Ihnitten über die Wahrheit des Chriftentums noch trefflihe Aus— 


führungen. 


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Druck von Greiner 4 Ungeheuer in Ludwigsburg. 





Theolonifche Studien 
aus Württemberg. 


Unter Mitwirkung 


von 
Hoflaplan Dr. ph. Braun in Stuttgart, 
Diafonuß Lie. th. Hirn in Befigheim, Prof. Dr. ph. Kittel in Stuttgart, 
Diafonus Knapp in Tuttlingen, 
Profeſſor Dr. ph. Lie. th. Neftle in Ulm 


herausgegeben 


von 


Theodor Hermann, Diatonus Lie. th. Paul Zeller, Diatonus 
in Schlenningen,  . in Maiblingen. 


VII Jahrgang 1886. 





£udwigsburg. 
Ad. Heubert’sche Buchhandlung (9. Aigner). 
1886. 


Bucddruderei von Öreiner & Ungeheuer in Ludwigsburg. 





Inhalt, 


Boffert, Briefe und. Akten zur a der fränkischen 

Reformation . . 
— Zur Geſchichte des Evangeliums in Dberfhwaben 

Färber, Die hl. Taufe im württ. Confirmationsbüchlein 
und deſſen Quellen I a a 

Fiſcher, Zu Römer 2,13 ff. .. 

Gaiſer, Synefius von Cyrene, fein Beben und fein She: 
rakter als Schriftiteller und ala Menſch 

Hertlein, Zum 82. Palm . . . 

Säger, Zur Lehre Jeſu von der fictbaren Kirche . 

Sehle, Die LZutheranität der Probebibel . 

Kittel, Die Herkunft der Hebräer nach dem A. Zeftmen 

Neftle, Kleinigkeiten. De a th 


und £ 


Reuß, Naturgefe und Wunder. . . 
Riefer, Das chronologiſche Verhältnis von Auferftehung 
und Himmelfahrt Chriſti 
Schröder, Über den Artikel von Sehle „Die Sutheranität 
der Probebibel” in Heft 2 dieſer Zeitſchrift 
und 
Umfrid, Die Lehre Jefu vom Lohn nad) dern Synoptifern 


Berichtigungen . TE 
und 


Ber Begriff des geiſtlichen Amts. 


Bon Dr. Seinrih Adolf Köflin in Friedberg. 


en 


Schluß.) 

Ho hat Er thatſächlich die Kirche gegründet — freilich nicht 
durch die Entwerfung und Verkündigung einer Geſellſchafts-Ver— 
faſſung, ſondern durch die Berufung und Sammlung von Jüngern, 
durch die Erziehung und Durchbildung lebendiger, chriſtlicher Per— 
ſönlichkeiten, zum Beweis, daß das Weſen der Kirche nicht in der 
objektiven Form des Zuſammenſchluſſes der Individuen zur Ge— 
meinſchaft liegt, ſondern in der Urſächlichkeit Jeſu und in der 
Verbindung der Einzelnen mit ihm; ſowie daß das Reich Gottes 
zunächſt nicht gebaut wird durch äußere Ordnungen und Formen, 
in ſo naher Beziehung ſie zum Reich Gottes ſtehen mögen, ſondern 
durch die Erziehung chriſtliche Perſönlichkeiten und Charak— 
tere, Er ſelbſt iſt der Hirte, der die Heerde leitet. Joh. 10, 14. - 16. 
vergl, Offenb. Joh. 7, 17. und Parall. 

Die von ihm ermählten Jünger rüden nad feinem Tode 
feineswegd in dem Sinne an feine Stelle, daß fie fraft einer 
ihnen verliehenen Vollmacht auf eigene Fauft weiter gründeten 
oder die Autorität des Herm als nunmehr auf die Gefamtgemeinde 
als auf das Kolleftiv-Subjeft der Kirche übergegangen gedacht 
hätten. Nur feine Organe find fie: der Herr iſt's, der als das 
Haupt die Gemeinde regiert, nicht blos als gedachtes Subjekt, 
ſondern thatfählih Act. 1, 24. 26., den zunächſt aus den Apofteln 
beitehenden Grundjtod!) vermehrt Act. 2, 47. 39.; 11, 21.5 — 
15, 8., den Apoftel Baulus direft beruft Act. 9, 11.15., jih an 
der Gemeinde als den lebendigen Herrn bezeugt Act. 3, 6. 7. 
4, 31. und a. m. 

Somit jtimmt mit der Anſchauung de neuen Tejtament3 die: 
jenige Auffaffung des Berhältnifjes Chriſti zur Kirche nicht, welche 
den Herrn nur als den idealen Herrn der Kirche anfieht, eigentlich 
aber an feine Stelle im Regiment der Kirche Menfchen ſetzt, fei 


1 So nad) Gottſchick, die fihtbare und unfihtbare Kirche. Theol. 
Stub. ad Kritiken 1873 ©. 74 zur Stelle Eph. 3, 19.—22. 


244 Köſtlin 


es, daß man ſich die Autorität und Kraftwirkung Chriſti gleichſam 
durch Rechtsabtretung auf den Inhaber eines von Ihm geſtifteten 
Amtes übertragen denkt, ſei es, daß man die Aktualität Chriſti 
einfchränft auf das Fortleben feines Bilds und Worts im Be: 
wußtjein der Gemeinde, eine perfönliche Einwirkung des erhöhten 
Chriſtus auf die Kirche aber in jeder Form ausſchließt. 

Dies fürt und auf die Frage, wie denn, vorausgejett daß der 
erhöhte Chrijtus als das aktuelle Subjekt der Kirche gefaßt werde, 
Seine Aktualität nun ſich verhalte zu der Thätigkeit derjenigen, welche 
er doch ausdrücklich Matth. 18, 19.20. Marf. 16, 16. mit der Auf: 
gabe, das Reich Gottes auszubreiten, Menſchen für dasjelbe zu 
werben (Matth. 4, 19.; Luk. 5, 10.), betraut hat. 

Sie find nicht feine Stellvertreter, nicht die Volljtreder feines 
Teftaments, fondern feine Diener und Organe, dies wieder nicht 
im bildlichen, fondern im wörtlichen Sinn: Er ift es, der fie aus— 
fendet, in deſſen unmittelbarem Auftrag fie reden und handeln, 
Seine Kraft it es, welche fie durch die von ihnen ausgehenden 
wunderbaren Kraftwirkungen ermweifen Matth. 10. 1. Zuf. 10, 1. 
Mark. 3, 14. oh. 4, 38.; 17, 18.; 20, 21.; 21, 15.—17.; und 
Er ift es, der fie außrüftet, freilich nicht mit einem Schat von ver: 
ſchiedenen, nach Graden abgeituften Heilsgaben und Heilsgnaden, 
Saframenten und Saframentalien, wohl aber mit außerordentlichen 
Kräften und Gaben des Geiſtes, wie fie der bejtimmte Auftrag, den 
er ihnen giebt, erheiſcht Matth. 10, 19. So tft Paulus Alt, 9, 15. 
oxsvog exAuyys, nennt fih dırzoroc, SuvAog des Herrn 1 Cor. 
3, 5. 2 Cor. 6, 3. Ephef. 3, 7.; 1 Tim. 1, 12. Col. 1, 23; 
Phil. 1, 1. und Botichafter an Ehrifti Statt 2 Cor. 5, 19. 20. 
u.a. m. Er, der Herr ift das eigentliche Subjeft ihrer Wirk- 
famfeit, fie betrachten fih nur als feine Organe und unmittel- 
+ Wenn er ihnen die „Macht“ giebt über die unjauberen Geifter 
und über die Krankheiten, jo giebt er ihnen diejelbe einmal ad hoc 
als begleitende, ihre Worte als Seine Worte und Gottedworte legi- 
timierende Vollmacht, jodann unter der Voraudjegung der unmittel— 
baren Bezogenheit ihres Nedens und Thuns auf Ihn, alſo nicht ala 
eine nunmehr an ihrer Perſon als folder haftende, ihnen für immer 
verliehene bleibende Gabe vergl. Marf. 9. 18. 19. 28., alfo nicht als 
„laframentale Amtsgnade“, fondern als Ausrüſtung für den bejon- 
deren, außerordentliche Legitimation fordernden Auftrag. 


Der Begriff des geiftlihen Amts. 245 


baren Werkzeuge: ihre Thätigfeit löst nicht die Thätigfeit des 
Herrn ab, jo daß die leßtere ſich etwa in die eritere umjeßte, fon: 
dern fie ift die menfchlich vermittelte, ordnungsmäßige Fortſetzung 
Seiner Thätigfeit, neben welcher die legtere hergeht Act. 9. und 
in welcher jie ſich mantfejttert: mie Jeſus das in ihm perfönlic 
erfchienene Reich Gottes in der Welt anpflanzte, dadurch daß er 
Menſchen fammelte und für das Reich Gottes erzog, jo erfolgt 
die Fortfegung feines Merfs naturgemäß dadurch, daß die von Ihm 
Gemworbenen und Geſchulten fih als Seine Organe ermweifen, 
Menſchen fiihen, immer mehr Berfonen dem Reiche Gottes zu: 
führen, beziehungsmeife das le&tere in denjelben anbauen, alfo 
durch Wirken von Menſchen auf Menjchen, von Berfönlichkeit auf 
Verfönlichkeit, von Gewiſſen auf Gewiſſen durch das Mittel des 
Morted. Wohl nimmt die Gemeinschaft dabei eine bedeutende 
Stelle ein ald Mittel, um die Gemwonnenen zu fammeln, zu be: 
fejtigen, zu vertiefen, zur Gliedfchaft am Reiche Gottes und zur 
Gemeinſchaft mit Jeſu zu erziehen durch die von und in der Ge- 
meinfchaft gepflegte Wefensverbindung mit Jeſu, ſowie durch die 
in der Gemeinfchaft gegebene gegenjeitige Förderung und Hand— 
veihung; aber die Eingliederung des Belehrten in die Gemein- 
ſchaft durch die Taufe ift, objchon der notwendige Durchgangspunft 
und Anfangspunkt für die Gliedſchaft am Reiche Gottes, doch nicht 
identijch mit der leßteren (f. 0.) und innerhalb der Gemeinfchaft 
felbft iſt es nicht Diefe, fondern find es die Einzelnen, alſo wieder 
die geifterfüllten Verfönlichkeiten, von welchen die erbauende Hand- 
reihung ausgeht, welche als die Organe des erhöhten Chriftus 
anzufehen find, als folche legitimiert teils mie die Apojtel durch 
ihre befondere gefchichtliche Stellung, die ausdrüdliche Berufung 
und Ausrüftung dur den Herrn jelbit, teils wie in den paulini- 
ſchen Gemeinden durch die ihnen verliehenen verjchiedenartig ab— 
gejtuften Geiltesgaben 1 Cor. 14, jo daß die Gemeinjchaft ala 
jolde das ordnungsmäßige Organ für die erbauende gegenfeitige 
Handreihung und Förderung ericheint, dieſe felbft aber als die 
durch geijtbegabte Perfönlichkeiten vermittelte Wirkung des Herrn 
felbit. 

Hieraus erhellt, daß weder das Recht noch die Fähigkeit, die 
Gemeinde zu erbauen, in ſakramentaler Weiſe an ein bejonderes 


246 Köftlin 


Amt gebunden fein fann, fondern bedingt iſt durch die Berufung 
und Ausrüftung von oben. 

Wenn die Apoftel Act. 6, 5. fich den Dienft am Wort und 
Gebet vor andern zufprechen und vorbehalten, jo thun fie es aus— 
drüdlich unter dem Gefihtspunft der Zweckmäßigkeit und Ange: 
mefjenheit (oux aprorov gurıw), mit Rüdficht auf ihre perfönliche 
Stellung zu Jeſu Chrifto als feine unmittelbaren Sünger, als 
Augen: und Ohrenzeugen, als die von Ihm perfönlich Berufenen 
und Ausgerüfteten, jomit zum Amt der Lehre vor andern Be- 
rufenen und Tüchtigen; aber fie nehmen den Wortdienjt und Ge: 
betsdienſt nicht ala ein ihnen als foldhen zukommendes „Recht“, 
als eine Prärogative ihres Apojtelamtes in Anfpruch, wie jie denn 
einem Bhilippus feine Lehrthätigfeit nie verwehrt oder überhaupt 
im Auftreten von Lehrern, die nicht dem Apoſtelkreis angehörten 
oder nicht von demfelben legitimiert waren, einen Eingriff in ihre 
Thätigfeit nie erblidt haben. In den paulinifchen Gemeinden er: 
ſcheint das „Amt“ der Lehre noch deutlicher gebunden an Die 
innere Berufung, deren Kriterium das Charisma ift 1 Cor. 12, 28. 
u. a., alfo als ein Dienft, den nicht die Gemeinde verleiht, Jondern 
als Dienft des Herrn an der Gemeinde — und jo finden wir's 
noh in der YAıdayn tov AnooroAov, daß die Befugnis, im 
Namen des Herrn das Wort zu verfündigen, nit an ein be= 
ftimmtes Amt gebunden tt, fondern bedingt erfcheint durch die un: 
mittelbare Berufung und Ausrüftung dur den Herm. Wenn 
die Gemeinde dort angewiefen wird, die göttliche Legitimation der 
von Gemeinde zu Gemeinde ziehenden Sendboten zu prüfen, jo 
wird fie damit nicht etwa als höhere Inſtanz der unmittelbaren 
Berufung dur) den Herrn gegenübergeftellt', in dem Sinne, 
als ob letztere erſt volle Gültigkeit erhielte durch die Sanftion 
von Seiten der Gemeinde beziehungsmweije ihrer ordnungsmäßigen 
Drgane? ; vielmehr handelt die Gemeinde, die Kolleftiv-Einheit der 

1C. 11. „Wer nun zu euch kommt und euch dad Alles, was 
da eben gejagt ift, lehrt, den nehmet auf. Wenn aber der Lehrende 
jelber in Berkehrung eine andere Lehre lehrt, jo daß er jenes auflößt, 
den höret nicht; lehrt er aber, jodak er Gereditigfeit und Erkenntnis 
de3 Herrn vermehrt, jo nehmet ihn auf wie den Herrn,“ 

2 „Aber jeglicher Prophet, erprobt und wahrhaftig, der da handelt 
in Hinfiht auf das Geheimnis der Kirche hinieden, dabei aber die 


Der Begriff des geijtlihen Amts. 247 


Gläubigen, bei diefer Prüfung nicht als das eigentliche Subjekt, 
fondern alö dad Organ des Herrn, Seinen Dienft zu wahren 
gegen eigenmächtige und geminnjüchtige! Anmaßung und Aus— 
beutung. Es iſt die der Gemeinde wohlvertraute Lehrnorm des 
Herrn ſelbſt, wornach fie zu fonftatieren hat, ob derjenige, der ſich 
als den Gefandten des Herrn einführt, dies auh wirklich it — 
es it aljo des Herrn Wort felbit, welches dur die Gemeinde 
über die Legitimation des Lehrers entjcheidet, nicht das Gutdünfen 
amtlicher Organe als folder; es ift ferner das aus dem Wort 
des Herrn und feiner Apoftel gewonnene, im Gemifjen abgeprägte 
Bild eines von Chrifto gefandten Lehrers, dem ein Lehrer nicht 
geradezu widerſprechen darf, wenn die Gemeinde feine göttliche 
Legitimation anerkennen ſoll; alſo auch hier wieder der al3 gewiß 
und authentiſch erfannte und bewährte Wille des Herrn felbft, an 
welchem al3 an der unbedingt ſicheren Inſtanz zu prüfen ift, was 
jih ala Wille des Herm vorerjt nur ausgiebt, aber als folcher 
noch nicht bewährt ift?, denn Chriftus kann fich nicht ſelbſt durch 
einen wirflid von ihm gefandten Propheten desavouiren lafjen. 
Damit iſt freilich vorausgefeßt, daß die Gemeinde nicht blos 
im Beſitz diefer Norm ſich befinde, fondern diefelbe auch zu hand— 
haben in der Lage fei, beziehungsweiſe, da ein Kolleftivum als 
ſolches nicht handelndes Subjekt fein kann, Organe befite, welche 
mit der Aufficht über die Reinerhaltung der apoftolifchen Über: 
lieferung betraut zu denken find, kurz, daß dem Mortdienft der 


Andern nicht lehrt zu thun, was er felbjt thut, — der foll bei euch 
nicht gerichtet werden; denn bei Gott jteht fein Gericht.“ 

ı „Wenn der Apojtel wieder augzieht, jo nehme er nicht? mit fich 
al3 eine Tagesration Brot; verlangt er Geld, jo ift er ein Pſeudo— 
prophet.“ — — — — 

„Aber nicht jeder, der „im Geiſte“ redet, ift ein Prophet, fondern 
nur wer das Betragen des Herrn aufweist. An dem Betragen alfo 
wird der Pjeudoprophet und der Prophet erkannt.“ 

— — fein Prophet, der, im Geifte redend, eine Mahlzeit beftellt, 
ißt von derjelben, er jei denn ein Pfeudoprophet. Der Prophet ferner, 
der die Wahrheit lehrt, ift, wenn er, was er lehrt, nicht jelbft thut, 
ein Pjeudoprophet. — — — 

2 So ja jhon Nöm. 12, 6. &ıre npognreier, zera ınv avak)yıwy 
ins mıarews. 1 Cor. 12, 10. diexzgiwis ww nvevuerwr. 





248 Köſtlin 


unmittelbar von dem Herrn durch charismatiſche Ausrüſtung Beru—⸗ 
fenen innerhalb der Gemeinde ein feſtes Amt gegenüberſtand, deſſen 
Aufgabe zunächſt nicht die Ausübung des Lehramts war, ſondern 
die Wahrung der Ordnung und Zucht im Gemeindeleben, ein 
Amt, das aus dem Bedürfnis, dem apoftolifhen Worte 1 Kor. 
14, 40, nachzukommen, hervorgeganaen und als deſſen verleihen- 
des Subjekt die Gemeinde ala Kollektiveinheit zu denken it. Ein 
ſolches Amt war das der Diafonen Act. 6, 1 ff., die denn aud) 
von der Gemeinde gewählt und ins Amt geſetzt werden, ohne daß 
der Herr wie bei der Einſetzung des Matthias direkt gefragt wird. 
Ihr Dienst ift zunächſt ein Gemeindedienft, ein Dienit, den jie 
im Namen und Auftrag der Gemeinde an der Gemeinde thun. 
Die Wahrnehmung der Ordnung bei den gottesdienjtlichen Ver: 
fammlungen fiel naturgemäß den Alteften zu, denen in Anbetracht 
der Würde des Alters die Gemeinde ihre Stellung zunächſt im 
Sinne einer Bertrauensftellung eingeräumt haben mag. Die feitere 
Drganifation des Gemeindelebens ſchuf auch hier bald an der 
Stelle des PVertrauenspoftens ein normiertes Amt, dasjenige des 
eroxonoc, und auch diefes Amt als Gemeindeamt hatte zunächſt 
die Aufgabe, über die Ordnung des Gemeindelebens nad allen 
jeinen Teilen zu wachen. Als das pneumatifche Leben mehr und 
mehr verfhmwand, die Propheten immer feltener wurden, war es 
das natürlichite, dem Bifchof, der ohnehin über die Lehre zu wachen 
hatte, die Ausübung des Lehramts, den Wortdienit ordnung®- 
mäßig zu übertragen, wie ſchon die Lehre der Apoftel die Gemeinde 
mahnf, Bischöfe und Diafonen zu beftellen, welche in Ermanglung 
von Propheten und Lehrern diefen Dienft leiften können (vuuv 
yag Aeırovpyuvam xaı avroı nv Atırovoyıav ror TEOPNTAT 
xaı dıdaonakov). Es war das rein praftifche Bedürfnis, welches 
dazu führte, den Dienjt des Worts, den Dienft des Herrn einzu- 
faffen in dad Gemeindeamt und mit diefem als feiner kirchen— 
rechtlihen Form zu verfnüpfen. Daß beides prinzipiell verjchieden 
it und die Vereinigung des Lehramts mit dem Gemeindeamt in 
der Perſon des Biſchofs zwar jehr erwünfcht und nad Umſtänden 
von praftifcher Wichtigkeit ift (meshalb 1 Tim, 3, 2, vom Biſchof 
gefordert wird, daß er dıdaxrıxoc fei), jedoch nicht notwendig im 
Begriff des Lehramts oder des Auffichtsamts liegt, beweist ein 


u 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 249 


Blid auf die Entwidlung des bifchöflihen Amts, wie die That: 
jache, daß auf höherer Stufe beide wieder auseinandertreten in 
Kirchenregiment und theologische Schule. 

Wir haben aljo nach biblifcher Anſchauung zu unterfcheiden 
den unmittelbaren Dienſt des Herrn und das Gemeindeamt. 

Der Dienjt des Herrn iſt an fich nicht gebunden an ein Amt, 
das Menfchen verleihen können; die Legitimation dazu beruht auf 
der Berufung durch den Heren, welche fich teils durch die natür: 
fihe Ausrüftung und Begabung, teils unter bejfonderen Verhält: 
niffen durch außerordentliche Winke und Führungen zu erfennen 
giebt. Subjekt diefes Dienites ift ausfchließlid der Herr, dem 
wir in letzter Inftanz für die Übernahme und Verwaltung diefes 
Dienjtes verantwortlich find; Norm und Richtfehnur ift des Herrn 
Wort und Wille, Mittel ift allem das Wort, Zweck und Aufgabe 
ift, „Menschen zu fifchen“, ins’ Reich Gottes zu führen durch Ein: 
fügung in die Gemeinfchaft mit Jeſus, oder wie J. T. Bed a. a. 
D. furz und fchlagend ausführt: „Die Grundaufgabe des Pfarr: 
amts im biblifhen Sinne ift: durch Lehren, durd Leiten oder 
VBorangehen, und durch Dienen eine Lebensverbindung mit Ehrijtus 
in den Menjchen und unter den Menfchen zu begründen” — — 
die Leute dahin zu bringen, daß ſie Glieder am Leibe Chrüfi, 
Genofjen des Reiches Gottes werden. 

Die Übertragung diefes Küngerdienits an Einzelne ift begrün- 
det in der Berfchiedenheit der menjchlichen Begabung einerfeits 
und in der irdischen Eriftenzform des Reiches Gottes andrerfeits. 
Der dee nad) jteht das Recht wie die Pflicht, in der Gemeinde 
erbauend zu wirken, jedem Glied der Gemeinde zu und es bleibt 
auch neben der Aufftellung befondrer Lehrer und Seelforger Necht 
und Verpflichtung für jeden Einzelnen beftehen, in feinem pflicht- 
mäßigen Kreife und nad Maßgabe der ihm verliehenen Gaben 
und Kräfte zur Erbauung der Gemeinde zu wirken, ohne daß er 
dem für das Lehramt und Seelforgeramt ausdrücklich Beitellten 
in das Amt greift. In Wirklichkeit aber befaßt die Kirchen: 
gemeinde in jich alle Stufen und Grade der Reife für das Reich 
Gottes, und da die Kirche als Organ und Pflanzitätte des Reiches 
Gottes auf Erden ihrer Beitimmung und ihrem Begriff nad) dem 
Einzelnen die Schule werden foll, melde ihn für das Reich Got- 


250 Köſtlin 


tes erzieht und tüchtig macht, ſo ergiebt ſich für die Kirche die 
Notwendigkeit, dafür Sorge zu tragen, daß durch Lehre und 
Unterweiſung von den dazu Berufenen und Tüchtigen auf die erſt 
im Wachstum Befindlichen gewirkt, der Dienſt der Erbauung nach 
beſtimmten Geſichtspunkten Einzelnen übertragen werde, welche ſich 
irgendwie als vom Herrn hiezu wirklich Berufene und Ausgerü- 
ſtete ausweiſen. Der unmittelbare Dienſt des Herrn an den 
Seelen verknüpft ſich daher naturgemäß mit dem Amt der Gemeinde, 
die auf die einzelnen chriſtlichen Perſönlichkeiten gerichtete, dieſe zu 
Gliedern am Leibe Chriſti erziehende (ſeelſorgerliche) Thätigkeit mit 
der im Auftrag, Namen und Intereſſe der Gemeinde als eines 
gliedlich verfaßten Ganzen auf ſie ſelbſt gerichteten amtlichen Thä— 
tigkeit; deren eigentliche und oberſte Aufgabe ſich aus dem Ver— 
hältnis der Kirche oder Gemeinde zum Reiche Gottes, aus dem 
Begriff der Kirche, bezw. der Gemeinde als des Organs und der 
Pflanzſtätte des Reiches Gottes ergiebt und weſentlich darin beſteht, 
darüber zu wachen, daß die Gemeinde das bleibe und in immer 
vollerem Maße werde, was ſie ihrem eigenen Begriffe nach ſein 
ſoll, Organ und erſte Anpflanzung des Reiches Gottes auf Erden. 
Dieſe Aufgabe ſchließt insbeſondere die Pflicht in ſich, dafür 
Sorge zu tragen, daß der Gemeinde die unveränderlichen Grund— 
züge, welche ihre Phyſiognomie als die einer chriſtlichen Gemeinde 
beſtimmen, nicht verloren gehen, daß diejenigen Weſensthätigkeiten, 
durch welche ſich die Gemeinde als Organ des Reiches Gottes 
und als eine, wenn auch viele Schwache und Unreife enthaltende, 
doch wirkliche Anpflanzung desſelben ausweiſt: die Verkündigung 
des Worts Kol. 3, 16., die Pflege der Gemeinſchaft mit dem Herrn 
in Gebet und Herenmahl, und die Bethätigung diefer Weſensgemein— 
haft mit ihm durch die Übung der Liebe (Diakonie), fortgehen. 
Das Auftrag erteilende Subjekt des Gemeindeamts ijt die Gemeinde 
wie fie nad) dem Willen des Herrn fein fol, aljo die Gemeinde 
nad) ihrem Weſen und Begriff, und der Träger des Aufſichts— 
amts erjcheint fo als das verkörperte Gewiſſen der Gemeinde. 
Der Dienst des Herrn und das Amt der Gemeinde iſt end: 
lich eingefaßt in das konkrete, rechtlich umfchriebene und geordnete 
Amt einer empirischen Kirchengejellihaft. Diefe iſt niemals die 
rein logische Folge der Stiftung Jeſu, ſondern das Ergebnis einer 


Der Begriff des geiftlichen Amts. 251 


langen geſchichtlichen Entwidlung, welche durch allerlei, der reli- 
giöfen Gemeinfchaft an und für fich fremde Faktoren und Einflüffe, 
durch territoriale Berhältniffe, durch geſellſchaftliche Verwicklungen, 
durch fpezififche, tief einfchneidende Erfahrungen Einzelner oder 
ganzer Kreife beſtimmt ift. Darum finden fich in jeder Kirchen: 
gemeinschaft neben den unveränderlichen Grundzügen, melde jie 
als eine chriftliche beftimmen, auch ſolche, welche die Folge gefchicht- 
Iiher Vererbung find, und fo dürfen wir uns auch der evange- 
liſchen Kirche, in specie der Landeskirche gegenüber der Erkenntnis 
nicht verjchließen, daß fie — ob fie auh im Großen und Ganzen 
auf dem Fundament, das Chriftus gelegt hat (1 Kor. 3, 11.), 
jteht und die Grundzüge Seiner Gemeinde trägt — doch eine 
Reihe von Formen und Ordnungen enthält, melde jih aus 
der Stiftung Sefu nit unmittelbar und nicht mit notwendiger 
Konfequenz ergeben, daß überhaupt in dem Antlit, welches die 
Kirche der Gegenwart trägt, ſich neben den ehrfurdhtgebietenden 
Zügen des Bildes Chriftt auch allerlei Züge finden, in welchen 
mir die nachgelafjenen Spuren nit blos ihrer eigentümlichen 
Gnadenführungen und Gnadenerfahrungen, jondern auch heißer 
und ſchwerer Kämpfe und unfeliger Verkettungen zu erfennen haben. 
Der Ausdrud diefer gefchichtlihen Beſtimmtheit ift die Kirche in 
ihrer rechtlich geordneten Geftalt, durch welche einerjeits die Weſens— 
thätigfeiten der Kirche formal und umfänglid näher beftimmt find, 
andrerfeit3 die Kirche ala ein gefchloffener fozialer Körper von 
den übrigen fozialen Organismen ſich abhebt. 

Die rechtlihe Drdnung der empirifchen Kirche bejtimmt ein- 
mal den Umfang und das Gebiet, ſowohl der jeelforgerlichen, wie 
der gemeindedienjtlichen Thätigfeit, indem jie den Umkreis des 
geiſtlichen Amts abgrenzt; jie bindet ſodann die Verkündigung des 
Mortes an die Grenzbeftimmungen des kirchlichen Bekenntniſſes, 
die Pflege der Gemeinfchaft an die Formen der Gottesdientord- 
nung, die Liebesthätigfeit an Normen und Gautelen, wie fie nicht 
blos aus der dee der Gemeinde als einer Gemeinde Jeſu, ſondern 
auch aus anderen Rückſichten, insbefondere aus den Beziehungen 
der Kirchgemeinde als eines befonderen geſellſchaftlichen Organis— 
mus zu anderen mit ihr vielfach durchflochtenen Organismen ſich 
ergeben, alfo mehr die Frucht weltkluger Überlegung als der rüd- 


252 KRöjtlin, Der Begriff des geiftlichen Amts. 


haltlos dienenden Liebe find. Diefe, durch die Geſchichte der Kirche 
und dur ihre ganz befondere Führung geheiligte Rechtsordnung 
fordert von demjenigen, der von den rechtlich befugten Organen 
der Kirche ein Amt annimmt, in erjter Linie Bietät. Was der 
Gemeinihaft als Ausdrud ihrer befonderen Heilserfahrung und 
ihres Verhältniffes zum Herrn heilig ift, wie Bekenntnis und Kultus: 
ordnung, das muß über die Eingriffe ſubjektiviſtiſcher Willkür 
hinausgehoben fein. Dennod) ist die aus der Pietät ſich ergebende 
Reihe von Pflichten denjenigen Pflichten unterzuordnen, welche ſich 
aus dem Begriff des Dienftes Jeſu an feiner Gemeinde ergeben, 
denn nur diefe find unbedingte Gewiſſenspflichten, welchen je nad) 
Umftänden d. h. dann, wenn die empirische Kirchengemeinfchaft, 
beziehungsweife deren Organe in Miderfpruch treten mit Chrifti 
Wort und Wille und menſchliche Ordnung prinzipiell über Chrifti 
Wort jtellen, die Pietätspflichten zu weichen haben. So ftellt 
jih uns jeinem Wefen nad) das Pfarramt dar alö der von den 
ordnungsmäßigen Organen der empirischen Kirchengemeinfchaft 
einem Einzelnen nad) Maßgabe der dafür beftehenden rechtlichen 
Ordnungen übertragene, an die rechtlich beftimmten Formen gemie- 
fene Dienit Jeſu an den Seelen innerhalb eines räumlich und 
rechtlich abgegrenzten Umfreifes. Immer ift und bleibt e8 in letter 
Linie der Dienjt, den mir im Namen und Auftrag des Herrn 
führen und für deſſen Führung wir Ihm verantwortlich find; die 
Gemeinde, beziehungsmweife deren Organe, fann uns nur in den 
Dienit des Herrn einweiſen und die Thätigfeitsformen beitimmen, 
niemals aber jic) aufmwerfen zum Subjekt des Amtes; oder fie iſt 
nur Herrin des Platzes, Herrin der Stelle und dejjen, was die 
Stelle rehtlih und finanziell fichert, aber niemald Herrin des 
Dienſts ſelbſt; wir find nicht Firchliche Beamte, jondern das 
kirchliche Amt ift nur die rechtliche Form und Einfaffung des Dienfts 


Jeſu: wir jind und bleiben Haushalter über Gottes Geheimnifje,. 


Botjchafter an Chrijtus Statt. 


Raufher, Des Separatiften ©. Rapp Leben und Treiben. 253 


Bes Separatiften G. Kapp Leben und ®reiben. 
Bon Pfarrer Rauſcher in Iptingen. 





Murttemberg ſpielt im Verhältnis zu der Größe des Landes 
eine nicht unbedeutende Rolle in der Geſchichte des religiöſen und 
kirchlichen Lebens von Deutſchland. Stimmen aus den verſchiedenſten 
Zeiten haben es als die Heimat lebendiger Frömmigkeit und wahrer 
Gottesfurcht gepriefen. Und in der That, wenn die Religion in 
den Tiefen des Gemütes ihre Wohnung hat, jo jcheint das ſchwä— 
bifhe Wolf, vermöge der ihm eigentümlichen Innerlichkeit und 
(Semütlichkeit für dieſelbe bejonders veranlagt. Es begnügt ſich 
nicht, das Evangelium als bloß äußere LYebensordnung oder Lebens— 
form zu haben, jondern ſtrebt darnach, feine göttliche Lebenskraft 
zum innerlidjiten, perſönlichſten Eigentum zu machen. Hiezu fonımt 
die Neigung unſres Volkes zum Grübeln, das Verlangen, den 
legten Gründen der Dinge nachzuforfchen und aus ſich felbit heraus 
eine eigentümlihe Welt: und Lebensanfhauung ſich zu bilden. 
In jener Innerlichkeit und in diefer Liebe zur Spekulation dürfte 
der Grund liegen, daß es im ſchwäbiſchen Volk eine jo große 
Mannigfaltigfeit religiöfer Jndividualitäten giebt. Hat man ja 
Württemberg geradezu das Elaffiiche Land religiöfer Individuali— 
täten genannt. Je ausgeprägter aber ein religiöjes Driginal ift, 
deito größer wird feine Anziehungskraft auf andre fein, dejto leichter 
wird es einen Kreis verwandter Geiſter um ſich ſammeln, um ihnen 
das innerlich Erlebte und Gefchaute mitzuteilen. Wenn nun foldhe 
fleinere oder größere Kreife jich in fich ſelbſt abjchliegen und gegen 
die bejtehende Kirche eine aleichgiltige Stellung einnehmen, fo liegt 
die Gefahr nahe, daß fie auch den lebten Schritt thun, fich von 
der Kirche abzufondern und dadurch zur Sekte zu werden. Kein 
Land hat im Lauf der Gefchichte verhältnismäßig fo viel Selten 
aufzumweifen, als Württemberg; wurde ja doch ſchon zur Zeit der 
Reformation die Klage gehört, es gebe im Lande fo viel Sekten 
al Häuſer. Im nachfolgenden möchten wir verjuchen, das Leben 
und Treiben eines Mannes darzuftellen, welcher als Sektenhaupt 
gegen Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts im 
Vaterland Auffehen erregt und dur fein jpäteres Wirken in 
Amerifa eine gewiſſe Berühmtheit erlangt hat, es iſt dies ber 


254 Rauſcher 


Führer der Separatiſten, Johann Georg Rapp aus Ip— 
tingen. Was ſich über ſein Treiben in der Heimat bei Grüneiſen 
(Abriß der relig. Gen. Württ. 1841) Hauber (Recht und Brauch 
©. 205) und Palmer (Gem. u. Sekten Württ.) findet, iſt allzu 
fompendiös, daher erjcheint e& als eine nicht ganz undankbare Auf- 
gabe, dafjelbe aus den Iptinger Kirchenkfonventsprotofollen, ſowie 
aus den Akten des Baihinger Dekanat und des evang. Konſiſto— 
riums ausführlicher zu bejchreiben. Seine amerikanische Wirkfam- 
feit ift Schon öfters (val. die Werke von Löher, Körner u. A. über 
Amerika) eingehender gefchildert, doch mehr unter dem fozialpolitt- 
Ihen als dem religiöſen Geſichtspunkt; in letterer Beziehung 
ftunden uns nicht uninterefjante ſchriftliche Mitteilungen von Dr. 
Späth in Philadelphia zu Gebot. 


Schon am Anfang des 18. Jahrhunderts war in Württem- 
berg eine feparatiftiihe Richtung aufgetreten, welche im Volksleben 
tiefere Wurzeln gefchlagen hatte, weshalb am 12. Auguft 1706 
ein Herzogliches Reskript wider „die einreißende Separatifterei” 
erging. Die treibenden Gedanken und Beitrebungen. derfelben er: 
fennen wir am beiten aus der auf württembergifchen Synodalbe- 
fehl ım Jahr 1707 angeftelten „Prüfung des einreißenden „Se- 
paratismi“ welche ſechs Punkte hervorhebt um fie einer gründlichen 
MWiderlegung zu unterwerfen. Dieſe lauten: 1) Der Verfall 
unfrer Kirche fei fo groß, daß fie nicht mehr für die wahre Kirche 
Chriſti zu achten, zu deren Gemeinschaft ſich rechtichaffene Chriften 
halten und befennen jollen, fondern für einen ſolchen Haufen Volks, 
von dem dieſe ſich wirklich abzufondern verbunden, damit fie ſich 
anderer Sünden und gewiß auch erfolgender Strafgerichte nicht 
auch teilhaftig machen. 2) In der evangelifchen Kirche werde die 
Lehre des Evangelium® nur nad) dem äußern Bucjftaben und 
nicht in feiner Kraft, Ordnung und Bolllommenheit vorgetragen, 
weswegen jo gar feine Früchte bei den Zuhörern fi finden. 
3) Es ſtreite mit der hrijtlichen Freiheit, wenn chriftliche Obrig- 
feiten, um jhädliche Neuerungen der Lehre zu verhüten, beſonders 
die Kirchendiener an gemijje libri symboliei ernitli verbinden. 
4) Ein Prediger, der nicht wieder geboren, vermöge nicht Gottes 
Wort mit einigem Nußen und Erbauung der Gemeinde vorzu— 


Des Separstiften G. Rapp Leben und Treiben. 255 


tragen, daher ſolle man einen ſolchen auch nicht einmal hören, 
nod) feines Amtes ſich bedienen. 5) Die von Chriſto eingefegte 
Taufe gehöre nicht für unmündige Kinder, die Kindertaufe fei als 
bloße Menfchenfagung abzubeitellen und zu unterlaffen. 6) Nicht 
jeder erwachſene Chriſt habe nötig, das heilige Abenpmahl als 
göttliches Gnadenmittel zu gebrauchen, man könne jich deſſen mit 
gutem Gewiſſen auch enthalten. — Bei diefen radikalen Anſchau— 
ungen über Kirche und kirchliches Amt, Bekenntnis und Sakra— 
mente ift e8 nicht zu verwundern, wenn das durd feine Milde 
berühmte Normaleditt vom Jahr 1743 den Separatiiten das Ber: 
fammlungsrecht abſpricht.“ Gleichwohl erhielten ſich nicht nur die 
feparatiftifchen Ideen, fondern traten gegen Ende des 18.und 
in den zwei erften Dezennien des 19. Jahrhunderts 
in noch verftärttem Maß hervor. Hatte aber früher die Oppofition 
weſentlich gegen die Kirche und ihre Lehre ſich gerichtet, fo trat 
jegt nicht felten hier ſchwächer, dort ftärfer, zu der firchlichen die 
Dppofition gegen die beftehende jtaatlihe Ordnung hinzu. — Ber: 
gegenwärtigen wir uns furz die politifhen und kirchlichen 
Verhältniſſe in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 
Der tatholifhe Herzog Karl Eugen (1744—1793) hatte zwar beim 
Antritt feiner Regierung feierlich gelobt, als ein rechtichaffener 
Vater des Vaterlands treuherzig zu handeln und nad) den Rechten 
und Ordnungen des Landes zu herrfchen, doc) ſtunden feine Thaten 
n durdaus feinem Einklang mit feinen Worten, Sein Vorbild 
war das franzöfifche Regiment, nad) welchem des Fürften Wille 
als das Landeögefet galt. Das Volk wurde durh übermäßige 
Steuern gedrüdt, die Ämter ums Geld verkauft, die Rechte der 
Stände mit Füßen getreten, das Kirchengut beraubt, Die Aus— 
gaben für Sänger, Tänzer und Muſiker aus letterem beftritten, 
die Männer, welde für das gebeugte Recht kämpften, ohne alles 
Recht gefangen gehalten. Am Hof herrfchte offen und ungefcheut 
ein ausfchweifendes® und zuchtlojes Xeben. Vom Hof verbreitete 
fid) da3 Sittenverderben auf Stadt und Land. „Stuttgart war 


Es ſollen feine jolche Perfonen weder bei fi Verfammlungen 
halten, noch zu andern in die Verſammlung kommen, welche fid) von 
der öffentlichen Gemeinde, von dem Beſuch der Kirche und dem Ge— 

rauch der Saframente jelbft abgejondert. 


256 Rauſcher 


damals der Schauplatz ungemeſſener Pracht und Lüderlichkeit, Bälle 
und Konzerte, Landpartien und Geſellſchaften, üppige Gaſtmale und 
verſchwenderiſche Uppigkeit in Bug und in der Kleidung zerrütteten 
den Wohlitand auch der untern Klaſſen und ihre Folgen waren 
Betrügereien aller Art, häufige Vergantungen und gänzlide Ver: 
armung vieler Familien.” Hand in Hand mit joldyer Verderbnis 
ging, ebenfalls vom Hof ausgehend, „ein knechtiſches, charakterlofes 
Wefen, unterwürfig und niederträhtig gegen Höhere, ſtolz und 
übermütig gegen Niedere.“ Dur dies alles fühlten fich Die 
ernften, frommen Gemüter im Lande aufs tiefjte verleht. 

Sn firhliher Beziehung ftund ed damals in Württem— 
berg unjtreitig beſſer, als in den übrigen evangelifchen Ländern 
Deutfchlands, aber darum war der Stand des kirchlichen Lebens 
feineswegs ein blühender. Zwar hatte Spener, der Vater des 
Pietismus, welcher auf innerlihe Belebung und praftifche Bethä- 
tigung des Chriftentums drang, durch feinen perfönliden Umgang 
wie durch feine Schriften ebenfo zahlreiche al einflußreiche Freunde 
im Lande gewonnen, die Regierung ging ihn öfters in Firchlichen 
Dingen um feinen Rat an, auf fein Betreiben wurden die Kınder- 
lehren eingeführt und religiöſe Privatverfammlungen zunächſt unter 
Zeitung des Geiftlichen empfohlen, eine Reihe angefehener Männer, 
wie. Dfiander, Hedinger, Reudlin, wirkten in feinem Geift. Als 
Franke, Spenerd Nachfolger, einmal ind Land kam, glich feine 
Reife durch Württemberg einem Triumphzug, „überall wurde er 
foftenfrei gehalten.“ Und auch, nachdem die „hallifche Art für den 
Geift der Zeit zu Fury geworden,” war Bengel aufgetreten, 
welcher den trodenen Begriffen der orthodoren Dogmatik, ſowie 
den abgeblaßten philojophifhen Zeitmeinungen gegenüber ben 
Realismus der Schrift geltend machte und diefe ald ein Ganzes 
lebensvoller Wahrheit für den ganzen Menſchen darſtellte. Durch 
jeine achtundzwanzigjährige Wirkſamkeit als Klofterprägeptor und 
durch feine ſchriftſtelleriſche Thätigkeit war e8 ihm gelungen, frudht- 
bare Keime lebendigen Schriftverftändnifjes : in die Gemüter der 
theologijchen Jugend und des Volks auszuftreuen. Sein biblifcher 








t Durch Bengel wurden auch die iliaftifhen Ideen angeregt, 
welche die Separatijten fo lebhaft bewegten. 


Des Separatiften G. Rapp Leben und Treiber. 257 


Realismus war von einer jtattlichen Reihe von Schülern vertreten, 
von welchen die einen, wie die beiden Rieger, Steinhofer, Flattich, 
Hiller, Burk, eine mehr praktiſch erbauliche, die andern, wie Otinger, 
eine theofophifche Nichtung vertraten. So ſehr aber die Wirkfam: 
feit und die Erfolge diefer Männer zu dem Schluß auf einen ge: 
Junden Stand des Firchlihen Lebens im Land zu berechtigen 
jheinen, jo dürfen wir nicht vergeljen, daß um die Mitte des 
18. Sec. die „Neologie“ in Deutjchland die Oberhand gewann 
und ihr Geiſt auch an Württemberg nicht fpurlos vorüberging. 
Zwar hatte der Nationalismus, welcher den gemeinen gelunden 
Menſchenverſtand zum oberften Richter in Glaubensſachen machte, 
das Ghriftentum feines ſpezifiſchen Inhalts entkleidete und auf 
die allgemeinen religiöfen Ideen von Gott, Freiheit und Unſterb— 
lichfeit reduzierte, in der theologiſchen Fakultät Tübingens feinen 
Bertreter gefunden, vielmehr wird diefe (Storr) „als die damals 
fräftigjte und frifchejte Pflegerin des Supranaturalismus“ 
gerühmt, welcher die Bekämpfung des Nationalismus fich zur Auf: 
gabe geſetzt. Doc ift der Supranaturalismus nicht mit Unrecht 
der wiljenjchaftliche Halbbruder des Nationalismus genannt worden, 
jofern er ſich „von den Geiftern, die er befämpfen wollte, ummalten 
ließ“. Dies zeigt ſich nicht bloß in der intelleftualiftiichen Faſſung 
des Begriffs der Religion, welche objektiv ald Lehre, als eine ge— 
wife Summe theoretischer Wahrheiten, fubjeftiv als verſtandes— 
mäßige Annahme verfelben betrachtet wurde, fondern auch in der 
jemipelagianifchen Abſtumpfung der chriſtlichen Grundbegriffe von 
Sünde und Gnade. Nun Elagten die theologifchen Lehrer in 
Tübingen, daß die ftudierende Jugend von der Wolfiſchen Philo- 
Sophie, — welche nad) Tholuds Ausdrud kaum dazu hinreichte, 
einen Studierenden „zu einem nüchternen, vechtichaffenen Philiſter“ 
zu maden, — ganz bethört und dur fie zum geiftlichen Amt 
unbrauchbar gemadt werde. Wenn ſich aber die Sünglinge auf 
das Studium der Wolfifchen Bhilofophie auch mit allem Fleiß 
demjenigen der fupranaturaliftiihen Theologie ergeben und mit 
Kenntniffen wohl auägeftattet ins praftifche Amt traten, jo konnte 
es nicht fehlen, daß in Predigt und Jugendunterricht vielfach ein 
verftändiger, trodener, nüchterner Ton herrichte. Statt dad Chriften- 
tum als Sache des Gemüts zu treiben und als perjönliche Lebens: 


Theol. Studien a. W. VI. Jabrg. 17 


258 Raufder 


gemeinfchaft mit Chrijto zu verfündigen, begnügten fich viele Geift- 
liche damit, das chriſtliche Volf über die übernatürlich geoffenbarten 
Wahrheiten zu belehren und fie dem Berjtand anzudemonftrieren. 
Den Predigten fehlte das myftifche Element, das Warme, Unmittel- 
bare, Lebenöfrifche, fie ftiegen in den Kopf, aber ließen das Herz 
oft leer, fie glichen mehr „der Falten Sanuarfonne, ald der er: 
märmenden und belebenden Maiſonne“. Bezeichnend in diefer 
Hinficht heit es in einem Generaljynodalrezek vom 26. Mat 1786, 
„die Geiftlichen möchten allen Fleiß anwenden, daß fie die Kirche 
nicht mit Menfchentraum, jondern mit göttlicher himmlifcher Lehre 
unterrihten und die heiligen prophetifhen und apoftolifchen 
Schriften, welche mit göttlichen, himmlischen Wunderzeichen beftä- 
tigt wurden, predigen und lehren.” 

Mar das Konſiſtoxium bisher mit Anhängern des kirchlichen 
Belenntnifjes befest, fo drang im Jahr 1786 mit Griefinger der 
Geijt ver Aufflärung, welder auch der Fürft des Landes 
huldigte, in dasfelbe ein. Wohl ſaß in diefem feit 1783 K. 9. 
Rieger, in welchem die frommen Kreife des Landes ihren Freund 
und Fürfprecher erblidten, doch übte Griefinger mehr und mehr 
den bejtimmenden Einfluß im Kollegium aus. Die fprechenditen 
Denkmale feiner theologischen Geiftesrichtung find zwei unter feinem 
Einfluß eingeführte Firhlihde Bücher, das neue Geſangbuch 
vom Jahr 1791 — in melden manche Kernliever mit Rückſicht 
auf „den Damals verfeinerten Geſchmack“ eine völlige Umänderung 
erfuhren und die moralifhen Lieder den größten Raum einnehmen 
— und der Braunfhmeiger Katehism us, deifen Haupt: 
inhalt die Pflichtenlehre ift. Sn einem Generalresfript vom Jahr 
1791 leſen wir: „Die Kirchendiener follen fi mit der neuen 
Literatur befannt machen, die in dieſer Zeit Jo häufig gewagten 
Anfälle auf die chriftliche Keligion kennen und widerlegen lernen, 
überhaupt mit dem Geift des Zeitalters fortfchreiten, nach wahrer 
Aufflärung ftreben und foldhe zu verbreiten fuchen, den hie und da 
einreißenden Srrlehren und Religionsfchwärmereien ernitlich jedoch 
mit Klugheit begegnen, beſonders aber auf Ausrottung des in 
manchen Orten jtart hervortretenden Aberglaubens bedacht fein.“ 

Die Aufklärung, deren Verbreitung die Geiftlichen hienad) fich 
jollen laſſen angelegen fein, bejtund wefentlich in einer Ausleerung 


Des Geparatiften G. Rapp Leben und Treiben 259 


der vollen biblifhen Begriffe, da viel von Tugend, moralifcher 
Ausbefjerung, Glüdfeligfeit, aber nicht von Rechtfertigung, Befeh: 
rung, Wiedergeburt geredet wird. Wenn nun die Religion in 
eine fraftlofe Moral verwandelt und jtatt der fubitantiellen, fern: 
haften Schriftwahrheit die abgezogenen, ſtrohernen Begriffe des 
menschlichen Verjtandes verfündigt wurden, jo konnte e& leicht ge: 
Ichehen, daß gerade von den Exnitergefinnten im Wolf die einen 
von der Kirche ſich zurüdzogen, die andern aber, das Kind mit dem 
Bad ausfchüttend, die Kirche ald eine im Grund verdorbene ver: 
läjterten und ſich berufen glaubten, diefer gegenüber fich felbit 
al3 die wahre Chriftengemeinde zu organifieren. Die Separatiften 
waren es, in melden die Unzufriedenheit mit den krankhaften 
firhlichen Berhältniffen der damaligen Zeit und die Protejtation 
gegen diejelben ihren ſchärfſten Ausdrud fand. Bedenken wir end- 
lich, daß die in der franzöfifchen Revolution von 1789 proflamier: 
ten Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auch in 
Deutſchland Eingang fanden, fo begreift es fich leicht, daß die 
Oppofition der Separatiften mehr und mehr aud eine politische 
Färbung annahm. Lernen wir jeßt den Führer der Separatiften kennen. 

1. Rapps Treiben in der Heimat (1785—1803). 

Sohann Georg Rapp wurde am 1. November 17574) zu 
Iptingen, damals Defanats Dürrmenz und Oberamt Maulbronn 
geboren. Sein Vater, Johann Adam, war ein unvermöglicher 
Bauer und der Knabe zeichnete ſich in der Schule durch aufge- 
wecktes, aber auch eigenfinnige® Weſen aus, er verriet auch frühe 
eine religiöfe Anlage und hervorjtechende Herrichergabe. Dies be- 
weist folgende Anekdote. Wenn er von feinen Eltern beauftragt 
wurde, dad an den Rainen frei wachlende Gras zu jammeln, fo 
vermochte er einige feiner Schulfameraden, dies Geſchäft für ihn 
zu beforgen, während er in der Zwifchenzeit von der Höhe eines 
Baumes feinen jugendlichen Freunden predigte. Nach feiner Kon: 
firmation im Jahr 1771, in welchem er den Vater verlor, erlernte 
er die Leineweberei und begab ſich auf mehrere Jahre in die 
Fremde. (Wohin er ging, ift nicht befannt), Im Fahr 1783 


i) Als Geburtsjahr wird vielfach (mie 3. B. in Holtzmanns Kir—⸗ 
chenlexikon) irrtümlich 1770 angegeben. 
17° 


260 Rauſcher 


trat er mit Chriſtine, Tochter des Heiligenpflegers Johannes Ben— 
zinger von Friolzheim in die Ehe, in welcher 2 Kinder, ein Sohn, 
Johannes, 1783, und eine Tochter, Roſine, 1786 geboren wurden, 
welche beide am Tag nach ihrer Geburt in der Kirche die Taufe 
empfingen. Er war von hoher, kräftiger Geſtalt und hatte einen 
„prodigiöfen” Blick. Eine Zeit lang befuchte er die in den jechziger 
Jahren von Pfarrer Götz gegründete religiöfe Privatverfammlung 
des Orts, zog fi) aber von diefer zurüd, weil, wie er ſagte, ihr 
Leiter, der Bauer Weber, dem Geiz ergeben fei und einer den 
Teufel zuerjt bei ſich ſelbſt austreiben müffe, ehe er ihn bei andern 
austreiben fünne. Bald hielt er ſich auch von Kirche und Abend- 
mahl fern und begann einen Kreis von Anhängern um feine 
Perfon zu ſammeln. Pfarrer Iud ihn deswegen zu einer Privat-, 
beſprechung ein, da aber diefe vergeblich war, wurde er nad) einem 
ſchon länger für Separatijten giltigen Geſetz im April 1785 vor 
den Rirchenfonvent gerufen. Hier erklärte er, er ſei entſchloſſen, 
jih der Kirdhe und des Abendmahls zu enthalten, 
weil er ein befferes Licht befommen und die Quelle und 
den Körper felbit, der in Chriſto fei, gefunden habe; er fei vom 
Geiſt Gottes gelehrt, von Büchern befige er nichts als die Bibel 
jeiner Mutter und den fiebten Band von Luthers Schriften; alles 
Studierte aber, welches Geld gefoftet, müfje verbrennen. Auf Die 
Aufforderung, feine Anftöße an der Kirche fchriftlich anzugeben, 
überbrachte er dem Pfarramt zwei Tage darauf folgendes Schrift- 
ſtück: | 

„Beil es FTirchenfonventlid von mir begehrt worden, den 
Grund und Urſach aufzufesen, warum ich von der Kirche fern ge= 
blieben, jo bin ich willig gewejen, e8 zu thun. So mar eritlich 
mein voriges Leben ganz irdiſch und eitel, furz, ich war der Sünde 
Knecht. Bei all dem fühlte ich eine geheime Unruhe in mir, aber 
der Feind war mir zu ſtark, bis endlich das Mort Hiob am 33. 
it an mir erfüllt worden: Er jchredet den Menjchen, daß er ihn 
von feinem Vornehmen wende, und das alles thut Gott zwei— 
oder dreimal mit einem jeglichen, daß er jeine Seele herumhole 
u. f. w. Dann 1780 hatte ich eine jo ſtarke Überzeugung, mich 
Jeſu zu übergeben, aber die Melt war mir noch zu lieb. Gerade 
ums Sahr 1781 hatte ich diefe Unruhe noch ſtärker, war aber 


Des Separatijten G. Rapp Leben und Treiben. 261 


wieder nicht treu. As nun 82 um eben diefe Zeit der Herr fich 
meiner wieder erbarmte, da wurde mir die Welt ganz bitter, denn 
der Zug des Vaters war mir zu ftark, da war mir die Liebe 
Jeſu fo teuer, weil er zum drittenmal feine Barmherzigkeit ermwiefen 
und mich geſucht. Wie es aber gemeiniglich bei Anfängern geht, 
daß fie beim eigen fromm jein wollen anfangen, fo hab ich ein 
ganzes Vierteljahr mir viel Mühe gegeben, bis ich mühjfelig und 
beladen gewejen bin. — Einsmal aber war id an einem Tag 
ganz in der Stille, da arbeitete der Geift Jeſu fo ſtark an mir, 
daß ich e8 zuvor nie fo erfahren habe und wurde mir der Spruch 
Sefu and Herz gelegt, Dff. 3: „Siehe ich ftehe vor der Thür; 
jo jemand meine Stimme hören wird“ u. ſ. w., da ward ich fo 
in einem Kleinfein, daß ich die Augen nit aufthun mochte; als: 
dann fah ich, dag in Chrifto Jeſu allein die Seligfeit war und 
jah auch wie notwendig e8 war, in der Stille zu fein und auf 
jein Herz zu merken; ich war demnach überzeugt, daß der Seelen 
eigenes Leben, fo gering es fe, in de Tod müſſe, daß Sefus 
ihre Auferitehung und Leben werde. Bin auch felbige Zeit nicht 
in die Kirche gefommen, weil mein Jeſus als des 
Lebens Wort hell in meinem Herzen geleudtet hat 
und ich font nichts gebraucht habe, weil ich Jeſum gefunden. 
Aber weil der Herr meine Schwacdhheit gejehen, jo iſt mir dieſes 
wieder verdunfelt worden. Mir hat e8 aber viel Kummer und 
Sammer verurfaht, denn mein Freund war meggegangen und 
ſchaute durchs Gitter. Denn das Leiden und Trübfal, jo auf die 
Abfonderung folgt, jagte mir ein Grauen ein und konnte mich 
nicht dazu verjtehen, aber von dort an hat der Herr mich wohl 
wiſſen lafjen, daß in der Ewigkeit nichts gilt als Kleinheit und 
Reinheit, und mir gezeigt, daß er in feinem Menſchen wahrhaft 
bleibe, er habe ihn denn durch taufenderlei Proben bewährt ge: 
macht und dies hab ich wohlerfahren müſſen, bi3 ich endlich meinen 
Millen Gott überlaffen, daß mein Wille fein Wille, und fein 
Mille mein Wille geworden ift. Da faßte ich wieder neuen Vor: 
fa, in der Stille und Einſamkeit jo viel möglich zu bleiben, weil 
ih von den vielerlei Meinungen, die man über das Wort Gottes 
hatte, mehr entfräftet ald erbaut wurde. Und dies ift die Urſach, 
warum ih von der Kirche geblieben, weil ich dajelbit 


262 Raujder 


mehr von Kraft als zu Kraft fam. Dies hab ich nicht 
gethan aus Eigenfinn oder Hochmut, wie man es mir ausdeutet 
und viele lieblofe Urteile über mich ergehen; denn ich hab die 
Gnadenmittel fo lang gebraucht, bis ich Jeſum, das Waſſer felber 
gefunden habe. Wenn aber das Abendmahl gar wenig oder jelten 
gehalten würde, fo wäre ich der erite, mit Chrifti Gliedern oft 
und viel dazu zu gehen zum Gedächtnis. (sie.) Denn dies einzige 
Vergnügen finde ich noch in der Welt, wenn ich zu rechtfchaffenen, 
treuen und redlichen Seelen fommen Tann, je ernftlicher, je lieber. 
Hier ift furz der Grund. Wann ih mid nun von diefem ent: 
ziehen würde, jo müßte ich mich von Sefu, feinem Geilt, Weg und 
Wahrheit abziehen und es für einen Verſuch-Geiſt halten und dies 
wäre mir eine Sünde zum Tod und könnte e8 auch nicht thun, 
weil mir Jeſus Schon fo viel Treue ermwiefen und noch täglich er: 
weist. Will es aber jemand der Vernunft vorlegen, jo thue er 
es auf feine Verantwortung. Das Pfand und Siegel des heiligen 
Geiftes iſt mir zu teuer, will deromegen lieber aller Menfchen 
Feindſchaft leiden, als einen Punkt mwijjentlich verleugnen. Denn 
Recht muß doch Recht bleiben und dem werden alle frommen 
Herzen zufallen, Euer unterthäniger 

Iptingen, 17. April 1785. Joh. ©. Rapp.“ 

Im November 1785 verweigert N. beim Nuggericht den. 
Huldigungseid, läßt aber im Februar 1786 auch fein zweites 
Kind Rofine in der Kirche taufen. Am 13. November 1786 er: 
hielt das Pfarramt durch Synodal:Erlaf den Auftrag, „Rapp 
und Konforten zuzuſprechen, daß fie doch ſich wieder zur Kirche 
halten, weiter ſich feine Anhänger machen, noch weniger eigene 
Berfammlungen halten, was der Kirche Gottes, mithin dem Reich 
Jeſu Chrifti nachteilig ſei. Nach erfolglofer Privatunterredung 
wurde R. mit 3 feiner Genofjen, Chrijtian und Johannes Hörnle, 
Mich. Konzelmann am 23. Januar 1787 vor den Kirchenfonvent 
gerufen, wo er erklärte, er beharre auf feiner Gejinnung, zum 
Kirchenbefuch könne er ſich nimmer verjtehen, zum Abendmahl gehe 
er nicht, weil e8 ein Götzenopfer fei und das Halten von Verſamm— 
lungen lafje er fi nicht wehren, Als der Pfarrer ihn im Namen 
Gottes und gnädigjter Herrſchaft ermahnte, ſich der Ordnung zu 
fügen, erwiderte er, er erkenne den Pfarrer in feinem Stüd 


Des Separatiften G. Rapp Leben und Treiben. 263 


für einen Diener Gottes an. Kein Geiſtlicher habe mehr 
den Binde: und Löſeſchlüſſel, mithin könne auch feiner im Namen 
Gottes Sünden vergeben.') Rapps Genoſſen bringen vor, es fei 
ihnen von Gott verboten, in die Kirche und zum Abendmahl zu 
gehen, jie haben weder von Predigt noch vom Abendmahl eine 
Kraft gehabt, die Kirche fei nicht die wahre, weil nicht alles wie- 
dergeboren fei. Während der Pfarrer. das Protofoll über diefe 
Berhandlung dem Defanatamt überfendet, richten die bürger- 
lihen Kollegien an das gemeinfchaftliche Dberamt Maulbronn 
und Dürrmenz die Bitte, 1. es möchte dem Pfarrer Ganter, der 
während feiner fiebenjährigen Wirkſamkeit in Lehre und Leben ſich 
eifrig, fleißig und exemplariſch verhalten, bezüglich der ehrenkränfen- 
den Äußerung Rapps Satisfaltion verſchafft; 2. e8 möchten N. 
und Konforten, welche verächtlih von Kirche und Abendmahl reden 
und alle die für Heuchler erklären, welche zur Kirche fich halten, 
von den bürgerlichen Benefizien jo lange ausgeſchloſſen werden, 
bis jie fich eines Beſſern befinnen. Das Oberamt antwortete, die 
Separatijten jollen vor Läfterung der kirchlichen Ordnung ver- 
warnt, mit Entziehung der bürgerlichen Benefizien bedroht, R. zu 
öffentlidher Abbitte der gethanen Beleidigung auf: 
gefordert, die Häufer der Separatijten durch Mitglie— 
der des MagiftratS unvermutet beſucht und die vorhandenen 
Schriften, aus denen fie ji erbauen (mit Ausnahme von Bibel 
und Schulbüchern) abgefordert werden. Als diefer Erlaß feinem 
erften Zeil nad den Betreffenden auf dem Rathaus eröffnet 
wurde, benahmen fie ſich trogig. NR. jagte ex abrupto: „in der 
Schrift jteht, fiehe dich um unter allem Volk nad) redlichen Leuten, 
die Gott fürdten, wahrhaftig und dem Geiz feind find“ (2 Mofe 
18, 21.) Auf die Entgegnung, das jet griffig wider die Obrigfeit 
geredet, ſagte er: „mag ſein; wenn es vor den Herrn kommt, ſo 
wollen wir reden, er mag ſolche Leute, wie wir ſind.“ Die Zu— 
mutung, die beleidigende Außerung über den Pfarrer zurückzu— 


1) Der ſeparatiſtiſche Sporergeſelle Roſenbach hatte im Anfang des 
18. Jahrhunderts geſchrieben, die Prediger könnten unmöglich ein gutes 
Gewiſſen bei ihrem Amt haben, ſo lange ſie meinten, ſie wären Chriſti 
Diener. Römer, Kirch. Geſch. Württemb. S. 383, 2. Aufl. 


264 Raufder 


nehmen, wies er mit den Morten ab, er wolle den Pfarrer 
für das erfennen, für was ihn Gott anfehe Als nun 
der verjtärfte aus zwei Richtern, einem Bürger und dem Dorfihügen 


beftehende „Umgang* am nädjten Sonntag in Chriftian Hörnle's 


Haus fam, wo die Separatiften fi zu verfammeln pflegten, wur— 
den fie mit den Worten empfangen: „Ahr fommt vom Bater 
dem Teufel und wollt uns ftören.” Sie hatten die Bibel vor 
fih und übergaben auf Verlangen einen Traftat „Thomä Wil- 
kocks föjtliche Honigtropfen? aus dem Felſen Chrifto“ und ein 
Büchlein von der Belehrung eines Schafhirten Herming Cuje. 
Hörnle drohte, in Zukunft werden fie das Haus vor dem Umgang 
zufchließen, auch fein Büchlein mehr hergeben. R. fügte hinzu: 
„Uns gewinnt ihr nichts ab, mit uns könnt ihr nichts anfangen, 
in Stuttgart find andre Leute, als wir, auch Separatiften.” 
(Rieger ?) 

Am 20. März 1787 erfolgte ein von U. Ruoff und €. 9. 
Rieger unterzeichneter Konftftorialbefheid, man müſſe mit 
möglichfter Gelafjenheit den Unterfchied beachten, ob es ſich bei 
den Separatiften um eine Sade des Gewiſſens, eine perfönliche 
Überzeugung handle, — in diefer Hinficht feien fie ein mit vieler 
Schonung und Mitleid zu behanvelnder Gegenftand — oder ob fie 
darauf ausgehen, ihre Denfungsart auszubreiten und fi) gering: 
ſchätziger Ausdrüde gegen das bedienen, was im Gemifjen ihrer 
Mitbürger ehrwürdig und heilig ift — in letterer Hinficht ſeien 
fie ala Störer der öffentlichen Ruhe zu betrachten und ebenjo gut 
zu richten, wie diejenigen, welche ihre Mitbürger im Beſitz ihres 
bürgerlihen Eigentums jtören, 

Eine nochmalige Dehortation einzelner oder fämtlicher Sepa- 
ratiften, welche das gemeinfchaftlihe Oberamt bei Überſendung 
diefes Erlafjes empfohlen, unterläßt das Pfarramt, weil jede Cita- 
tion von jenen als Jubeltag angefehen werde. 

Die Separation begann nun auf die Schulordnung ſich 
audzudehnen. Schon im Herbit 1786 hatte der dreizehnjährige 
Sohn des Ehrift. Hörnle ſich in der Schule gemweigert, zu rechnen 


1 Aus dem Englifchen überfegt, in Stuttgart 1830 neu gedruckt. 
W. war Zeit- und Gefinnungsgenoffe Bunyans. 


Des Separatiften G. Rapp Leben und Treiben. 265 


und ausmendig zu fehreiben und wenn er mit feinen Kameraden 
aus der Schule in die Kirche gehen follte, fich eilig davon gemadht. 
Seit Ditern 1787 blieb er von der Schule ganz weg und ant- 
wortete, darüber zur Rede gejtellt, dem Schulmeifter, Gott habe 
ihm geoffenbart, er folle nicht mehr in die Schule gehen, ſonſt 
fönne er ihn nicht reinigen. Vor den Pfarrer bejchieden, fagte er 
beim Eintritt in dad Studierzimmer ftatt de Grußes: „Weiß er, 
für men ich ihn anfehe? Er fommt mir vor wie der Rieſe Goliath 
und ich bin der kleine David, jett wird es darauf ankommen, 
wer den andern überwältigt.” In die Kirche und Schule, fuhr 
er fort, gehe er nicht, weil ſie Baalsgögen feien und vor dieſen 
wolle er nicht niederfnieen, wie auch Sadrad, Mefah und Abed— 
nego nicht gethan. Auf den Vorhalt des Pfarrers, wenn er jo 
brav fein wolle, warum er nicht nach dem Spruch thue: „gehorchet 
euren Lehrern,” antwortete er: „E3 giebt feine rechten Lehrer 
mehr.” — Warum? „Sie ftudieren ja, die Apoftel aber haben 
nicht ftudiert. Die jebigen Pfarrer (und wie er auch einer ift,) 
hat nicht der Heiland, fondern der Weltgeift gemacht.“ 

Einen Schritt weiter auf dem Weg der Separation bezeichnet 
die Weigerung der Separatiiten, ihre neugeborenen Kinder in der 
Kirche taufen zu laffen. Den Anfang machte im Mai 1787 
Johannes Hörnle. Diefer erfchien vor dem Pfarramt mit der 
Erklärung, er habe mit feinen übrigen Freunden jein Kind gleich 
nad) der Geburt eingefegnet, das fei genug. Die innere Taufe 
gelte, nicht die äußere, auch finde er feine Gevatterleute, in welchen 
die Werke des Teufels zerftört feien, und welche daher für fein 
Kind gut Sprechen können. Pfarrer fuchte ihm das Recht und 
Pflicht der Kindertaufe aus der Schrift nachzumeifen, aber gegen 
alle Beweiſe ftund er „ceu Marpesia cautes.“ Zuletzt bat ihn 
Pfarrer fogar unter Thränen, er möchte doch annehmen, mas 
göttlihe Wahrheit jei, damit beide einmal vor dem Richtſtuhl 
Chrifti mit Freuden beftehen fünnen, worauf Hörnle in diefem 
Betreff pastorem für fi und feines Kindes Seele freifprechen 
will. Zweimal vor dad Oberamt Maulbronn geladen, fpricht er 
jih dahin aus, Gott habe ihm geoffenbart, fein Kind nicht taufen 
zu laſſen, wider fein Gewiſſen und Gottes Willen fönne er nicht 
Handeln, lieber wolle er jich zu Gottes Ehre aus dem Land jagen 


266 Raufder | 


oder in den Turm und Zuchthaus ſtecken laffen; habe man aber 
Macht und Gewalt, fein Kind wider feinen Willen zu taufen, fo 
wolle er es nicht hindern, das Kind foll dann den Namen „Sofeph“ 
erhalten, denn es werde dereinft viel leiven müſſen. Zu allge- 
meiner Freude der Gemeinde wurde das Kind nad der Bußtags- 
predigt am 8. Juni 1787 in der Kirche getauft, Batenftelle ver: 
traten die Großeltern. 

Während diefe Angelegenheit verhandelt wurde, fand auf 
dringendes Erfuchen des gemeinſch. Amtes am 17, Mai und 5. Juni 
1787 eine Unterfuhung der Separatiſtiſchen Sade 
in Sptingen ftatt, wobei im ganzen vierzehn Perſonen verhört 
wurden. Rapp gab an: 1. der Grund feiner Separation fei der 
eingerifjene Mißbrauch im Gottesdienft, da man Ehriftum mit dem 
Mund befenne, aber heidniſch lebe. 2. Er befenne fich zu Feiner 
Religion, wie fie jest fei, wer Chriftum liebe, der werde jelig aus 
allerlei Volt. Auf den Namen komme es nicht an. Nicht Chrijten, 
nit Zutheraner, nicht Pauliſch, nicht Kephiſch, das errege nur 
Krieg und Blutvergiefen. Die Augsburger Konfeffion fei ihm 
unbefannt, wenn fie mit der veinen Lehre und der Freiheit nad) 
dem Getjt übereinftimme, befenne er fih zu ihr, anders nicht. 
3. Bor zwei Jahren habe er Brüder in Tübingen beſucht und 
von Mich. Hahn in Altdorf den Rat befommen, daß er die Stufen 
der Reinigung durchlaufen müfje durd das Feuer und den Geift. 
Auf die Separation fei er felbjt gefommen. 4. Der Weg der 
Reinigung, die aud das Fleifch verzehre, ſei viel fchmäler, als 
man in der Kirche predige; letteres möge für andere gut fein, für 
ihn aber ſei es zu leicht, fein Weg jei jo ſchwer, daß es auf ihm 
leicht Krüppel gebe. 5. Die Kirche müfje ſich allein treiben und 
bewegen lafjen von ihrem Bräutigam, der Geiſt lafje fih nicht in 
einen Zirkel bannen. 6. Vom Predigtamt laſſe er den Grund 
ftehen, er verwerfe nur den Mißbrauch. Die Biichöfe ſeien nicht 
unfträflid. Wenn der Pfarrer andern recht ſei, jo habe er nichts 
dawider, er erfenne ihn für feinen Diener Gottes, weil er feine 
Liebe habe, Chriftus aber voll Liebe jei. Seit die Geiſtlichen ein 
Herrenftand geworden, jeien fie feine Diener Chriſti mehr, heut 
zu tage fünne nur, wer Geld habe, Pfarrer werden und werde es 
nur um des Gewinnes willen. 7. Die Taufe laffe er ſtehen, aber 


Des Separatiften &. Rapp Leben und Treiben. 267 


er glaube nicht, daß die jeßige Taufe, mo alles unter einander 
gemifcht, Kinder der Frommen und der Unbefehrten, getauft wer: 
den, Gott gefalle, um fo weniger, da die meilten fie für die 
Miedergeburt halten. Die Apoftel haben die Zeremonien ab: 
geihafft, ebenfo Luther die Konfirmation, jebt führe man fie wieder 
ein und bleibe daran hängen. 8. Das Abendmahl halte er auch, 
aber nicht äußerlich, ſondern innerlich durch den Ausfluß des hei- 
ligen Geijtes, ohne das innere Abendmahl könne niemand leben. 
Je näher die Sonne komme, defto kleiner werde der Schatten. 
Der Ausfluß des heiligen Geiſtes fei die Nahrung der Geele, 
aber nicht der Leib Chrifti. Das äußere Abendmahl möge auch 
gelten, wenn würdige Gäfte dazu da wären, die meijten aber 
führen ein heidnifches Leben und opfern dem Teufel, er aber 
wolle nicht des Herrn Tiſch und des Teufels Tifch zugleich dienen, 
9. Er halte feinen eigentlichen Gottesdienft, er prüfe alle Hand- 
lungen, ob fie aus Gott feien, und wenn der Geiſt Amen dazu 
fage, fo fei dies fein Gottesdienft. Auf-den Vorhalt, er halte ja 
Privatverfammlungen, gibt er zu, daß feine Freunde am Sonntag, 
Mittwoh und Freitag mit ihm zufammenfommen, wo er meiftens 
lefe und wo fie über ein Kapitel aus der Bibel oder aus dem 
Herzen ſich mit einander unterreden. Hiezu kommen auch Leute 
aus andern Orten, wie Wiernsheim, Lomersheim, Gärtringen, 
Ehningen, Nufringen. Diefe Berfammlungen laſſe er fich nicht 
verbieten, weil Johannes fchreibe, wer aus Gott geboren fei, 
der liebe die Brüder. Es werden nicht nur hier, fondern auch 
anderwärts viel Unruhen entjtehen, die rohen Gemüter müjjen er: 
ſchüttert werden, weil jo viel Redens von ihm fei und es heiße, 
man werde ihm dies und das thun. 10. Auf den Borwurf, daß 
er mit den Seinen die andern ſpotte, wenn fie bei der Betglode 
beten, bemerkte er, die Leute ſchwatzten vorher und nachher elendes 
Zeug, und darüber bezeugen fie, daß dies Gott ein Greuel jei. 
Er habe das Beten zu bejtimmten Zeiten nicht nötig, weil er alle- 
zeit an Gott denke. Nur rechte Jünger Chrijti fönnen das Bater- 
unfer beten, jest bete e8 jeder Narr. 11. Er und feine Freunde 
jtehen nicht mehr unter dem Geſetz, andre aber ſeien Tiermenjchen 
und haben die äußere Religion nötig, bis jte den rechten Weg 
finden. 12, Er leugne nicht, den dreizehnjährigen Sohn des Chriſt. 


268 Rauſcher 


Hörnle, der ſich ſelbſt mit David, den Pfarrer aber mit Goliath 
verglichen (S. 265) vor ſeiner Citation inſtruiert zu haben, er habe 
ihm aber gejagt, er möge nur dann fo reden, wenn er Freiheit 
dazu habe. 13. Den Huldigunggeid habe er verweigert meil er 
in feinem ganzen Zeben feinen Eid ſchwöre. Mit dem Leib ge— 
horche er der Obrigkeit, in allem aber, was das Gemiffen angehe, 
jet er frei. 14. Zur Kirche wolle er dann zurüdfehren, wenn fie 
eine chriftlihe Kirche fei, Eine® Sinne und Geiftes mit Gott. 
Das Übrige (aufer ihnen) jei Babel. worin ein Feuer angezündet 
jei, wer nicht herauägehe, werde mit verbrannt. 15. Um das 
Ärgernis, das er geben folle, fümmere er fih nit. Die Welt 
fönne nicht noch ärger werden, als fie fchon ſei. Dem Fleiſch 
nach möchte er auch in der Duldſamkeit und Ruhe fein, aber wenn 
er jchmeige, fo habe er im Innern feine Ruhe. Daß feine Sade 
vecht fei, bemweife der Friede, den er fpüre, und der Eifer, mit dem 
er das Böſe überwinde. Er beharrt mit großer Heftigfeit auf der 
Göttlichkeit feiner Sache. 

Auf Rapp folgte im Verhör Chrift. Hörnle, um ſich zu— 
erſt über die Läſterreden zu verantworten, die Taufe fei dem den 
Schweinen gehörigen Zwetſchgentroß zu vergleichen, das heilige 
Abendmahl aber jei ein Streichfäfe und Schmierpflafter für den 
alten Menjhen. Bon feinen zwei Söhnen, dem neunzehnjährigen 
Sirael, und dem dreizehnjährigen Chriſtian giebt er an, er habe 
fie zum Schulbefuch angehalten, biß er geſpürt habe, daß fie eine 
lebendige Überzeugung haben, dies Gewiffenshalber nicht mehr 
thun zu fönnen. Namentlich) habe der jüngere drei Tage nichts 
gegefjen und getrunfen, jondern immer geweint, wenn er habe in 
die Schule gehen jollen. Er habe gerechnet, aber es fei ihm fünd- 
lich vorgefommen, weil e3 zur Welt gehöre und in der Welt habe 
man wenig Zeit zu verlieren, font fomme man in der Emigfeit 
zu fur. So lange feine Kinder in ihrem natürlichen Zuftand 
bleiben, müfjen fie in Kirche und Schule,saber wenn der Geift fie 
vom Gejet frei mache, könne man nicht widerftreben, davon fei 
fein Alter ausgenommen. 

Nah dem Bater treten feine beiden Söhne ſelbſt ein: 
der ältere beteuert, Bott habe ihm geoffenbart, daß er fein Lehrer 
jein wolle, lieber wolle er daS Leben lafjen, als in die Sonn- 


Des Separatiften G. Rapp Leben und Treiben. 269 


tagsſchule und Kinderlehre gehen; der jüngere will die Rede, 
Kirche und Schule feien Baalsgötzen, (f. 0.) von Gott geoffen- 
bart befommen haben, fonfirmieren lafje er fich nicht, weil ihn 
Gott fonfirmiert habe. 

Witwe Konzelmann nad dem Grund ihrer Separation 
befragt, beruft ji) auf Dffb. 18, 4. Aus obigen Angaben erhellt, 
daß Rapp nur die von den Separatijten am Anfang des 18. Sahr- 
hundert3 vorgebradhten Meinungen (©. 254 f.) wiederholt hat. Die 
Kirche ift ihm ein dem Untergang gemweihtes Babel, auö dem man 
ausziehen muß. Die Diener der Kirche find bloße Lohndiener, 
ihre Predigten enthalten bloße Schulgelehrfamfeit und machen den 
Meg zur Seligfeit nicht fchmal genug. Kirche und Schule find 
gefeglihe Zuctanftalten für den natürliden Menſchen. Die 
Saframente find überflüffig „je höher die Sonne, dejto Kleiner ift 
der Schatten.” Die Separatiften find die rechten Geiftesmenfchen, 
welche über dem Gefeß jtehen und den fichern Bergungsort gegen 
die demnächft hereinbrechenden Gerichte bilden. 

Wenn Rapp behauptet hat (©. 266), er fei durh Mid. 
Hahn auf feinen Weg gebradht worden, fo iſt nicht befannt, daß 
er mit diefem fpäter in weitere perfönliche Beziehung getreten fei. 
Eine gewiſſe Verwandtſchaft beider Männer ift nicht zu ver: 
fennen, fofern 3. B. Hahn 1. von feiner Religion jagt: „Wer 
die Wahrheit liebt und übt, ift mein Bruder und Schweiter, er 
jei wer oder wo er wolle“ (vgl. S. 266), 2. Den orthodoren Zirkel 
zu eng findet (ibid. 5), Sculgelehrfamfeit und unmittelbar 
von Gott eingeitrahltes Wiffen einander gegenüberftellt und die 
Meinung befämpft, ala ob durch das bloße Studium die Tüchtig- 
feit zum geiltlihen Amt erlangt werde (ibid. 6). 3. In der 
firhlihen Lehre das Dringen auf den SHeiligungsernit vermißt 
(ibid. 4). Der weſentliche Unterfhied aber zwiſchen 
beiden bejteht darin, daß Hahn 1. das Gute in der bejtehenden 
Kirche anerkennt („da Kind mit dem Bad ausfchütten, ift ganz 
und gar nicht meine Sache, es ift in allen Kirchen etwas Gutes“) 
2. jich felbjt von der Kirche nicht trennen und auf den Genuß des 
jaframentlihen Abendmahls nicht verzichten will („wenn ich gleich 
das geiftlihe Abendmahl alle Tage und Stunden haben fünnte, 
fo würde ich doch das ſakramentliche aus zwei Gründen mithalten, 





270 Rauſcher 


a. aus Liebe zu Jeſu und Gehorſam gegen ſein Wort: das thut 
zu meinem Gedächtnis, b. aus Liebe zu den Nebenmenſchen, die 
das noch nötig haben und durch mein Wegbleiben irre gemacht 
würden“), 3. ausdrücklich gegen den Dünkel der Separatiſten pro— 
teſtiert. („„Es iſt der Unterländer Separatiſten Sache, ſich von 
niemand etwas ſagen zu laſſen, es muß mit dem Kopf durch die 
Wand gefahren fein — daß fie zu viel Sektirerei ſpüren laſſen 
und fehen andere gering an und jeten ſich weit über fie hinauf, 
das gefällt mir bitter übel. — Ferner gefällt mir der Ernſtlichſten 
Erfenntnisgrund nicht am beiten, wovon fie Doch felbjt jo gar viel 
halten. Denn ich fand zwar Worte befonderer Art, aber wenig 
Geift, wenig. Licht und wenig Lebensnahrung darin. Sie wollen 
mit ihren Worten zu verjtehen geben, als hätten fie das Zentrallicht, 
aber ich darf ed vor Gott befennen, daß ich es noch bei feinem ver- 
jpürt habe. — Ich würde, wenn man taufchen fönnte, doch den 
zehnten Teil nicht für ihr Ganzes geben.“) — mit einem Wort den 
Seften, welche er verwirft, als fein Ideal die Pflege eines tiefern, 
religiöſen Gemeinſchaftslebens gegenüberitellt. 

Auf die — auffallender Weiſe erſt am 28. April 1790 er— 
folgte — Einſendung eines Protokollauszuges über das Iptinger 
Verhör vom 17. Mai bis 5. Juni 1787 verlangt das Konſiſtorium 
am 11. Mai 1790 zunächſt eine Ergänzung des Berichtes. 
Da Hörnle erklärt habe, daß die Iptinger Separatiſten zumal von 
der Kirche ſich abgeſondert haben, weil der Pfarrer einmal ſo ſehr 
gegen fie gepredigt habe, jo ſolle dieſer zu einer jtandhaften 
und umſtändlichen Erläuterung veranlaßt werden. Pfarrer 
erklärt Hörnles Angabe für eine freche Züge. Rapp, Hörnle und 
Sonzelmann haben fih laut Kirchenfonventsprotofoll ſchon vor 
jeiner — allein in Betracht fommenden — Predigt am Sonntag 
Invocavit fepariert. Veranlaßt durch die Läjterrede Hörnle’s, das 
hl. Abendmahl jei ein Gößenopfer und Streichpflafter, habe er an 
der Hand der Einſetzungsworte die doppelte Frage beantwortet: 
ob das Abendmahl, wie es in unferer Kirche gehalten werde, ein 
wahres Abendmahl ſei? ob einer von denfelben wegbleiben jolle, 
auch wenn unmwürdige unter den Kommunifanten jeien? Geine 
Predigt habe die Separation nicht ſowohl bewirkt, als vielmehr 
gehemmt. Während nämlih die Separatijten ſelbſt angegeben 


u 
2 B 


Des Separatiften G. Rapp Leben und Treiben. 271 


haben, es warten ihrer noch 60, um gleichfalls aus der Kirche 
auszutreten, jo feien die Wankenden durch feine Predigt befeftigt 
worden und benfen nicht mehr daran, fich zu trennen. Er babe 
geglaubt, mehr für feine bisher beſonders gutgeartete Gemeinde 
Fürforge und Eifer zeigen zu müſſen, als für die mutwilligen, ab- 
trünnigen Berächter des Heiligtums. Sollte er aber in feinem 
Eifer um Gottes Chre und feiner Zuhörer Heil zu weit gegangen 
fein, fo hoffe er vor Gott und gnädigiter Herrfchaft gütige Ver: 
zeihung zu erhalten, da er freilich mit Paulo flagen müffe: „wer 
wird ſchwach und ich werde nicht Schwach, wer wird geärgert und 
ich brenne nicht ?* 

Das Konſiſtorium (A. Ruoff und E. H. Rieger) erteilt hierauf 
dem Pfarrer einen Verweis, daß er die unter vorwaltenden 
Umjtänden doppelt nötige Vorfiht und Klugheit nicht beobachtet 
habe und fpridht die Erwartung aus, daß er in Zukunft ſowohl 
in Zehrvortrag als Privatumgang ſich mehrer Klugheit befleißen 
und angelegen fein lajjen werde, alle jchidliche Gelegenheit, ihnen 
ihre Zweifel auf eine liebreihe und überzeugende Art und be- 
ſonders durch Erweifung wahrer Menfchenliebe, Gefälligfeit und 
Gutthaten zu benehmen, zu ergreifen und fomit jich und fein Amt 
in mehrere Achtung und Liebe zu feßen. 

Ein Erlaf des Konfiftoriums in der Separatiftenfache 
erfolgte erjt am 8, Februar 1791. An feiner Spike wird die Er: 
mahnung wiederholt, die Separatiften durch Janftmütige Belehrung 
von ihren Irrwegen zurüdzuführen, follte aber dies fruchtlos fein, 
jo müßte man nad Maßgabe der beftehenden Verordnungen ihnen 
den Aufenthalt in den Herzogl. Landen verbieten. 
G. Rapp, Chrift. und Joh. Hörnle, welche feit einiger Zeit ein 
befonderes Gefhäft daraus gemacht, nicht nur den kirchlichen Ord— 
nungen fich zu widerſetzen, fondern auch durch verächtliche Außer: 
ungen über Kirche, Sakrament und, firliche Gebräuche und durd) 
Ausbreitung ihfer Grundfäbe andere auf gleiche Irrwege zu ver: 
ſuchen, würden die erften fein, bei welchen die angedrohte Ent: 
fernung zum Vollzug gebracht würde, Inzwiſchen jolle dem Rapp 
und Chrift. Hörnle nicht ſowohl in Abficht auf Korreftion dieſer 
ſchwärmeriſchen Leute, ala vielmehr zu öffentlicher Bezeugung des 
gerechten Mißfallens über jene ffandalöfen Außerungen jenen eine 


272 Raufder 


zwei-, diefen eine eintägige QTurmitrafe zuerkannt 
werden. Endlich foll das Oberamt darauf bedacht fein, daß ſämt— 
liche Separatiften ihre Kinder wieder zur Schule fchiden, fie ſollen 
aber mehr durch dienliche Vorjtellungen ala durch weltliche Zwangs— 
mittel dazu angehalten werden, maßen mit folchen der Zeit nicht 
fürgefahren werden joll. 

Als diefer Erlaß zu Maulbronn im uni 1791 den Se: 
varatiiten der Diözefe eröffnet wurde, erklärten fie laut, daß fie 
dem gegebenen Befehl fich nicht fügen und lieber Haus und Hof 
im Stich laffen wollen, als daß fie nimmer zufammenfommen 
follten. Rapp trat hervor und ſagte mit „vielem Stolz und ſelbſt— 
gefälliger Ampertinenz“: „Was fann ih dafür, daß die 
Leute von allen Drten des Landes fih zu mir 
drängen: wenn fie von euren Öeiftlihen im Lande 
etwas Gutes hören fünnten, fo würden fie nicht zu 
dem armen NRäpple im Zmildfittel nah Sptingen 
laufen.” Auf das Bedeuten des Oberamtmanns, er habe als 
Unterthan den Drdnungen des Landes fich zu fügen, ſprach er: 
„Wo find denn eure gehorfamen Unterthanen ? aber e3 wird anders 
werden, es wird noch Lärm genug im Lande feßen und Gott 
wird Euch fchon heimfuchen.” Da ihm der Oberamtmann zu 
ſchweigen gebot, weil er fein Prophet fei, erwiderte er: „Sch bin 
ein Prophet und habe den Beruf dazu.“ Bei der Ankündigung 
der Turmitrafe für Rapp und Hörnle verlangten alle Separatiften, 
mit in den Turm geführt zu werden, wovon fie nur mit Mühe 
abgebracdht wurden. Bei der Entlafjung aus dem Gefängnis be- 
merkte Rapp auf die wiederholte nahdrüdlihe Ermahnung zum 
Gehorfam, er werde thun, was der Geift Gottes ihnen 
heißen werde, deſſen Negungen und Eingebungen 
er nicht widerjtehen dürfe.” 

An dem folgenden Sonntag war das Haus Rapp’ wieder 
voll von fremden Separatijten. Die Bürger, welche im Auftrag 
des Schultheißen die Verfammlung verbieten follten, wurden nicht 
eingelajjen und mit der Antwort abgefertigt, fie werden auseinander- 
gehen, wenn e3 ihnen beliebe. 

Wie nun einerſeits Rapp's Anhang zufehends wuchs und 
Leute zum Teil aus weiter Ferne herbeifamen, um den „Mann 


Des Separatiften G. Rapp Leben und Treiben. 273 


Gottes” zu hören, fo fteigerte fich auf der anderen Seite bei dem 
firhlih gefinnten Teil der Gemeinde die Erbitter: 
ung gegen dad Rapp'ſche Treiben. Dies trat beſonders bei der 
Kirhenvifitation im Mai 1792 zu Tage. Der gefamte 
Magijtrat beklagte fi) aufs heftigite bei dem Dekan, daß die ©e- 
paratiften immer größere Verwirrung anrichten, an den Sonntagen 
fommen ganze Scharen von Fremden, darunter fogar mehrere 
Maldenfer, fie höhnen die Anhänger der Kirche ins Angeficht, 
jchleihen oft bi3 Mitternaht in den Käufern umher und fuchen 
immer mehrere zu verführen, fie jagen ungejcheut, niemand habe 
ihnen etwas zu befehlen, was fie auch durch die That bemeifen. 
Sei nun jenen alles erlaubt, jo folle es bei ihnen auch fo fein. 
Siewollen einmal wiffen, ob fie oder jene auf dem 
rechten Glauben jeien; feien fie auf dem rechten Meg, fo 
folle man jenen das Handwerk legen, feien e8 aber jene, jo wollen 
fie auch zu ihnen übertreten. Weil ihre feit ſechs Jahren vorge: 
bradten Klagen ohne Erfolg geblieben, jo habe jich eine ziem- 
liche Zahl Bürger entfchlofjen, vor Seine Herzoglide 
Durdhlaudt in Hohenheim unmittelbar zu treten 
und ihre Beſchwerden in die ficherften Hände jelbft zu übergeben, 
ob Höchſtdieſelbe fich ihrer erbarmen wollte. Bon diefem Vorhaben 
brachte der Dekan den Gemeinderat nur durch die Vorftellung ab, 
fie werden al3 unruhige und hitige Köpfe angefehen werden, fo: 
wie durch das Verſprechen, die vorgebrachten Klagepunfte direkt 
an den Herzog einzufenden. 

Schon einige Monate früher — Dezember 1791 — hatte der 
Herzogl. Synodus an die Regierung dad Anfinnen 
geitellt, daß Rapp der ihm gemachten Drohung gemäß, jedoch mit 
Überlafjung von Hab und Gütern, und mit Vorbehalt des Re- 
greſſes im Befjerungsfall weggemwiefen werde. Diefer, im Januar 
1792 zu einer beftimmten Erflärung darüber veranlaßt, ob er fich 
in Zufunft ruhig verhalten oder es darauf ankommen lafjen wolle, 
daß die gedrohten mißliebigen Mafregeln an ihm vollzogen werden, 
müſſen, fpricht fih dahin aus, wie er bisher gehandelt und 
gewandelt, dabei bleibe er und fönne ſich auf feinerlei 
MWeife durh Widerruf oder fonjten davon abbringen 
laſſen. Er ſei auch in feinem Gemifjen überzeugt, daß er recht und vor 

Theol. Studien a. W. VI. Jahre. 18 


274 Rauſcher 


Gott gewandelt, und, was er gethan, nicht ſeine eigene, ſondern Gottes 
Sache geweſen, er auch nicht ſeine, ſondern Gottes Ehre darunter 
ſuche. Er könne daher nicht zum voraus verſprechen, was er in Zukunft 
thun oder nicht thun werde, ſolle oder nicht ſolle, indem er nicht 
anders handeln könne, als wie der Geiſt des Herrn ihm eingebe und 
vorſchreibe, wonach er auch bisher ſich einzig gerichtet, denn anders 
zu thun, als wozu er Drang und Trieb in ſeinem Inwendigen 
fühle, würde er ſich in ſeinem Gewiſſen zu größter Sünde machen. 
Übrigens ſei es auch nicht ſo, wie er oft beſchrieben und angeklagt 
werde, daß man ihn für einen Betrüger und Phantaſten ausgebe. 
Er ſei jet fo, wie er ſei und könne ſich nicht ander& machen, 
müfje daher ſich gefallen lafjen, was über ihn verhängt werde 
und e3 als den Willen des Heren annehmen. Wollte man aber 
ihn des Landes verweilen, jo müßte man drei: bis viertaufend 
Mann aus dem Land jagen, was man wohl bleiben laſſen werde. 

Auf diefe Erklärung hin erwidert die Herzogl. Regierung 
dem Synoduß, da Rapp's Neligionsgrundfäge Feine dem Staat 
nachteilige Marimen enthalten, wolle man vorerjt von Landes— 
verweifung abfehen, die Heilung diefer kirchlichen Krankheit 
müfje man der Zeit und Vernunft, welche am Ende doch immer 
ihre Rechte behalten, überlaffen. Ühnlich lautet der Herzogl. Be- 
Iheid auf die Immediateingabe des Iptinger Magiftrats, man 
wolle gegen Rapp nun noch die Milde walten laffen. Die Drts 
obrigfeit folle indes genauefte Aufficht darüber führen, daß die 
Sektierer feinerlei der bürgerlichen Ordnung und Sittlichkeit nach— 
teilige Grundfäße verbreiten. Diefelben jollen nicht nur zur Er» 
füllung der Bürgerpflidten, jondern auch der nega= 
tiven Kirhenpflihten — Vermeidung der Störung anderer 
in ihrem Gottesdienit — ſowie der kirchlichen Zwangsmittel — 
PBräftation aller Arten für Kirchen: und Schuldiener — ange- 
halten: ihre Zufammenfünfte während des öffent- 
lihen Gottesdienſtes und bei Nadt verboten, die 
verbotenen Konventifel diefer Art nötigenfalls 
mit Gewalt auseinandergetrieben, die fremden 
Separatiften, befonders deren Führer, fogleihauf: 
gehoben, namentlid aber joll Rapp bei der erjten Gelegenheit, 
wenn er wieder ald Haupt eines verbotenen Konventikels erſcheine, 


Des Separatiften G. Rapp Leben und Treiben. 275 


zum Dberamt Maulbronn eingeliefert werden. — So ſtreng diefe 
Verordnungen teilmeife lauteten, fo blieben fie doch vielfach nur 
auf dem Papier. Die VBerfammlungen werden in Rapp’3 oder 
Chrift. Hörnle's Haus am Sonntag mährend des öffentlichen 
Gottesdienftes gehalten und dauern oft bis Mitternacht; Separa- 
tiften finden fih zu ihnen nicht blos aus den benachbarten Orten, 
wie Wiernsheim, Großglattbadh, Lomersheim, Sllingen, Enfingen, 
. Tondern aud) aus entfernteren, wie Nufringen, Gärtringen, Ehningen, 
Calw, Schorndorf, Strümpfelbad u. a. ein. Rapp wird in feinen 
Läfterreden immer feder; die Kirche, fagte er 3. B., ſei nicht 
von Gott, fondern von dem Teufel, er für feine Perfon gebe für 
Kirche, Schule und all ihr Singen und Beten Teine Putzſcheere 
(Zichtfcheere), die gefamte Geiftlichfeit gehöre zur babylonifchen 
Hure. Offb. 17. Zu einem Bürger, welcher ihm gegenüber äußerte, 
er habe ſchon manchen Segen in der Kirche durch das Hören des 
göttlichen Wortes erfahren, ſprach er, wie denn reines Waſſer aus 
einer unreinen Quelle fommen könne. Endlich, ald einmal in 
feinem Haufe Kommunion gehalten wurde und feine noch zur 
Kirche haltende Mutter zu ihrem Sohn, welcher Brot und Wein 
blos feinen Genofjen reichte, fagte: „fo mir allein giebit Du 
nichts,” erwiderte er: „Du gehört zu den Deinigen und Dir ge 
hört des Teufels Kelch und des Teufel Tiſch.“ 

Rapp hielt ſchon feit 1789 feine zwei fchulpflichtig gewordenen 
Kinder vom Befuh der Ortsſchule zurüd und unterrichtete 
ſie nebft einigen anderen Separatiftenfindern ſelbſt. Im September 
1792 zur Bezahlung der angejegten Strafen für Schulverfänmnifie 
aufgefordert, fpottete er vor Kirchenkonvent, er wolle die Bezahl: 
ung fo lange anjtehen lafjen, bis die Strafe hundert Gulden be: 
trage, dann wolle er Kapital und Zins zumal bezahlen. jeder 
Monition, feine Kinder zur Schule zu fchiden, fette er beharrlichen 
Widerſpruch entgegen; dasfelbe thaten einige feiner Anhänger. 
Im April 1796 an die enbliche Bereinigung der längjt verfallenen 
Strafen erinnert, erklären fie einmütig, fo wenig fie Freiheit 
haben, ihre Kinder zur Schule zu fhiden, in welder 
fie der Verführung durch andere Kameraden preißgegeben feien, 
jo wenig haben fie die Freiheit, die angefeste 
A Name einer geringern Traubenjorte. 

" 18* 


276 Raujder 


Strafezugeben: übrigens überlafjen fie Hab und Gut Gnädigiter 
Herrichaft, jo viel ihr alsdann gefällig fei, davon zu nehmen.! 
Sn den Sahren 1797, 1798 und 1800 tauften die Sepa- 
ratiiten Fr. Kocher, ©. Bentel und Joh. Walz, um der Kirchen: 
taufe zuvorzulommen, ihreneugeborenen Kinder eigenmädtig 
zu Haufe. Diefe wurden nun nachträglich in der Kirche unter 
Anwendung folgenden Formulars vorgetragen: „Das Kind, das 
hier vorgetragen wird, ift zwar nicht aus Not, fondern aus Mip- 
verjtand feines Vaters, jedoch, wie genugjam bezeugt, nach dem 
Befehl Chrifti mit Waſſer auf den Namen Gottes des Vaters, 
des Sohnes und des hl. Geiltes getauft und N. N. genannt 
worden oder ſoll N. NR. genannt werden. Damit nun dies Saframent 
und Gottes Wort nicht gemißbraucht werde, fo foll es bei Dieter 
Taufe bleiben und das Kind nicht wieder getauft, dergleichen eigen- 
mächtige, geſetzwidrige Privattaufen von niemand, wer es auch fei, 
fünfttg vorgenommen werden.” Während Kocher „wegen geſetz— 
widriger Handlung“ um zehn Reichsthaler gejtraft wurde, wurden 
die beiden andern blos mit Strafe bedroht. Auch in andern Ge- 
meinden nahmen die Separatiften eigenmäcdhtige Selbittaufen ihrer 
Kinder vor, was öfters längere Firchenfonventlihe Verhandlungen 
veranlaßte.2 — Wie die Taufe, jo verichmähten die Separatijten 


ı Nach den vorhandenen Brotofollen beirug die Gejamtjumme der 
Strafen für die Schulverjäumnifje feiner beiden Kinder bei Rapp 
zweiundjechzig Gulden, er ſelbſt giebt fie in einem Verhör zu Maul- 
bronn zu fünfundfiebenzig Gulden an. Sm Dezember 1799 wurde 
Rapp um zwei Pfund Heller — ein Gulden dreißig Kreuzer gebüßt, 
weil er während de3 jonntäglihen Vormittagsgottesdienſtes Brannt- 
wein gebrannt und Holz gefpalten Hatte. Bu feiner Rechtfertigung 
bradte er vor, der Sonntag jei eine jüdifche Zeremonie und verbinde 
feinen Gewiſſenshalber zu feiner eier. 

2 In Eberdingen z. B. weigerte fih Joh. G. Wagner (Vater des 
Verfaſſers der Geſchichte der Harmoniegefelihaft, Jonathan Wagner, 
1833) fein Kind vortragen zu laſſen und Paten zu ftellen und be- 
gründete vor dem Kirchenfonvent feine Separation teil® mit einem be— 
fondern Ruf de3 Herrn, teild mit einer ftattlihen Zahl von Bibeljtellen 
wie Mattd. 6, 6. Luc. 17, 21. Joh. 4, 23. 15, 5. 6, 14, 23. Matth. 
10, 37. 38. 1 Cor. 6, 19. und als dieje nicht als beweisgiltig erfunden 
wurden, mit Offenb. 18, 4. 


“= 


Des GSeparatiften G. Rapp Leben und Treiben. 277 


auch die kirchliche Konfirmation ihrer Kinder. Schon im Jahre 
1791 war infolge eine® Spezialfalls, da die vierzehnjährigen 
Töchter des Chrift. Hörnle und Joh. Böhringer gegen Schullehrer 
und Pfarrer den lebhaften Wunſch nad ihrer Konfirmation aus- 
gedrüdt hatten, ein Konfiftorialveffript ergangen, daß diefe, wofern 
fie auf ihrer guten Entſchließung beharren, der Proteftation ihrer 
Väter ungeachtet zur Konfirmation zuzulafien, gegenteiligenfalls 
aber ihnen auf feinerlei Weife Zwang angethan werden folle. 
Die vor das Pfarramt zitierten Väter obiger Kinder erklären fich 
bereit, in die Konfirmation unter der Bedingung zu willigen, daß 
der Pfarrer aus ihren Kindern „Bekehrte“ mache; jchließlich ver- 
zichten die legtern auf ihren Wunfh, um nit dem Willen der 
Eltern entgegenzubandeln. 

Mas für ein Geift in der feparatiftifh=beeinflußten 
Jugend ſich zu regen begann, dürfte am beiten aus einem Brief 
erhellen, welchen zwei Brüder aus der der Separatifterei ſehr er- 
gebenen Gemeinde Olbronn, der vierzehnjährige Jakob und der 
jechzehnjährige Gottlieb Scholle um die Zeit der Anmeldung zum 
Konfirmandenunterriht im Dezember 1801 an den Pfarrer ge- 
Schrieben haben. „Weil der Pfarrer etliche Kinder der Schuljugend 
nicht will aus Babel ausziehen lafjen noch von Menfchenfagungen 
ausgehen, jo wird ihm geantwortet: „E3 iſt wahr, was er gejagt 
hat, Jeſus fei im zwölften Jahr in den Tempel gegangen, aber 
was ijt der heutige Tempel? Prüfet, wer wohnt darinnen, was 
lehrt man darinnen? Hat Gott auch Wohlgefallen an eurem 
Gottesdienſt? Nein, denn er ſpricht Amos 5, 21: „ich bin euern 
Feiertagen gram und verachte fie und mag nicht riechen in eure 
Verſammlung.“ Was hilft e8 mir, daß ich mit dem Namen ein 
Chriſt bin und gehe in die jteinerne Kirche, laſſe mir die Ohren 
und das Gehirn füllen mit leerem Getön, dabei aber die armen 
Geelen verfhmadten? War doc Chriftus in feiner Jugend nicht 
als ein Zuhörer, fondern ala ein Lehrer in die Schule gegangen, 
da er ſchon alle Weltgelehrte an Verſtand und Weisheit über- 
troffen. Hier lege ich an den Tag das mir von Gott gegebene 
Erkenntnis, daß ich freudig ausrufen fann: „Sch bin gelehrter, 
denn alle meine Lehrer (Pi. 119, 99.). Sehet nur all 
ihr Vernunftgelehrten, die ihr allein Lehrer fein wollt und 


278 Rauſcher 


euch für Geſandte Gottes ausgebt, daß es uns durch das Licht 
offenbar wird.! Und daß er auch wieder geſagt hat: „Auf Moſis 
Stühlen ſitzen die Schriftgelehrten und Pharifäer, denſelben fol 
man gehorchen;“ fo antworte ih: was feid ihr, die ihr euch fo 
hoch gejeßt habt? Seid ihr nicht die Baumeifter von dem Turm 
zu Babel, aus dem Geift der Buchitaben geboren, ald aus der 
Ungleichheit, jo ift jeder ein Heuchler, ein Liebkoſer derer, die ihn 
ſchmücken, ein Spötter derer, die ihn in feiner Form nicht ehren, 
eine äußere Figur und gemalter Chrift, er will andere 
lehren und ift doch felbft ungelehrt von Gott, er lehrt nur aus 
der Form der fompaftierten Geifter der Buchjtaben. 

Alfo haben wir dem Pfarrer gefchrieben, nicht daß wir ihn 
verachten oder verdammen wollen, fondern wir legen dar unjer 
Befenntnid und reden jo, wie fich’& gebührt, mit neuen Zungen 
wie die Apoftel am Pfingfttag aus der Salbung, die uns alles 
lehrt, nit aus Eigenfinn, fondern aus unferer Mutterfprache. 
Zum Beihluß fage ich ihm den Dienft auf und fage ab allem, 
was meinem Geift nicht jchmeden will und will lieber mit dem 
verlorenen? Sohn umkehren und die fäuifche Weide verlaffen, ich 
weiß einen Tempel, darein darf man mich nicht treiben, in den— 
jelben will ich gehen, bis Leib und Seele fcheiden.“ 


ı Über die Buchſtäblichkeit der Schrifterflärung bei den Selten 
(welche mit Allegorie abwechfelt, ſiehe m. Seite 285) vergl. H. Schmidt, 
Die Kirhe ©. 19. 

2 In einem Separatiftenlied „Serufalem, mein Vaterland“ nimmt 
der neubefehrte Separatift von der Kirche Verd 4 und 5 folgenden 
Abſchied: 

Was achtet's der verlorene Sohn, 

Ob grunzen gleich die Schwein; 

Daß er vor ihnen lauft davon 

Und nicht mehr denkt zu ſein 

Ihr Tiſchgenoß. 

Der Sautrog ſteht mir nicht mehr an, 

Zu freſſen Träber mit, 

Da ich's doch beſſer haben kann; 

Nein, nein, es ſchmeckt mir nit 

Die rauhe Koſt, bringt ſchlechten Troſt. 
Koch, Kirchenlied I ©. 3, 2. Aufl. 


Des Geparatijten &. Rapp Leben und Treiben. 279 


Der Brief ift ohne Zweifel von dem Untervorfteher Beder 
in Olbronn den Brüdern Scholle diftiert worden, obwohl diefe 
verfichern, ihn „aus eigenem Grund“ gefchrieben zu haben. 

An Ölbronn wurden mehrmals fonfirmierte und nicht Ton- 
firmierte Söhne und Töchter von Separatiften wegen Verfäumnis 
der Sonntagafhule und Kinderlehre vor den Kirchenfonvent ge: 
rufen, wo fie u. a. angaben, „fie finden in der Kirche feine Still: 
ung ihres Geelenhunger3; weil man Gott im Geift und in der 
Wahrheit anbeten müfje, fo feien für fie äußerliche Zeremonien 
wie das Kirchengehen, nicht mehr nötig, fie fuchen ftatt des äußern 
Chriftus den innern durch Leiden und Sterben mit ihm, vom 
Abendmahl bleiben fie weg, weil zum würdigen Genuß ein ganz 
wiedergeborener Menfch erfordert werde, aber als folder fühlen 
fie jih noch nicht. 

Sm Jahr 1797 wurde die zwanzigjährige Tochter des Chrift. 
Hörnle, 1803 die fiebenzehnjährige Tochter des Mich. Conzelmann 
in Sptingen privatim in der Sakriſtei Fonfirmiert. Der 
Grund der nadträglihen Konfirmation lag aber nicht ſowohl in 
einer Sinnesänderung der Konfirmanden, als in dem Wunfch, da: 
durch ein Ehebündnis mit Nichtfeparatiften zu ermöglichen. Sm 
zweiten Fall hatten die Vertreter der Gemeinde eine fehr ange- 
legentliche Bitte um öffentliche Konfirmation an das Konſiſtorium 
gerichtet, weil der Vater früher einer der ftärfiten Gegner der 
Konfirmation gewejen und andere dadurd von der Separation ab- 
gejchredt würden, aber vergebens. 

Die Separatiften verſchmähten endlich aud bei Trauer- 
fällen die Firhliche Sitte. Dies zeigte ſich 3. B. bei der Beer- 
digung der Witwe Conzelmann im September 1803, da fie abends 
in der Stille beim Glodenläuten ohne alle Zeichenbegleitung von 
zwer Söhnen und zwei Tochtermännern auf den Kirchhof getragen 
wurde, welche den Sarg dem Totengräber übergaben und ohne 
alles Gebet, nachdem jeder zwölf Kreuzer geopfert, ſofort nad 
Haufe zurüdfehrten. ! 

ı Bengel jagt in diefer Beziehung: „Die beneficia ecclesiastica 
C. 9. Das Begräbnis auf dem Kirchhof läßt man den Separatijten 
nicht angedeihen. Man muß hier simulata duritie Handeln. Kirchhof 
ift etwas ad communionem ecclesiasticam pertinens. Einem Sepa— 





280 \ Rauſcher 


Wir ſtehen am Anfang des neunzehnten Jahr— 
hunderts. Den Stand der Rapp'ſchen Bewegung lernen wir 
aus einem Bericht des Oberamts Maulbronn vom No— 
vember 1802 kennen. „Leute aus einer Entfernung von zwölf bis 
fünfzehn Stunden, welche glei Soldaten zu ſechs, acht, zehn Per— 
jonen vor und nach den Verfammlungen in den Häufern der Se— 
paratiften einquartiert werden, fommen an Sonn: und Felttagen 
nad) Sptingen. Rapp teilt das hi. Abendmahl aus, die damit 
verbundenen Liebesmahle dauern bis in die Nacht hinein. Bei 
den Feiten fallen jechzig bis achtzig Gulden Opfer, die zur Unter: 
ftügung der Armen dienen follen, bei welchen Rapp — jebt einer 
der vermöglichiten Bürger des Orts — fich jelbft nicht vergißt. 
Die Fremden bringen die Naturalien im Überfluß und bejtellen, 
da fie öfter mehrere Tage bleiben, die Rapp’ichen Güter. Sein 
Anhang tft durch das ganze Land verbreitet und ſoll 
zehn= bis zwölftaufend Mann ftarf fein, was nicht un- 
mwahrfcheinlich fein dürfte, da er fchon vor zehn Jahren von drei: 
bi8 viertaufend Mann geſprochen habe. (©. 274.) Aus dem Be- 
nehmen der Separatiften während des letzten Freiheitskriegs laſſe 
fh ſchließen, daß fie fih mit revolutionären Gedanken tragen. 
Bei der Publikation eines Konfiftorial-Erlaffes, welcher ihre Un- 
ordnungen rügte, fagte Rapp trogig, man hätte damit wohl nod) 
ein Vierteljahr warten können, da werde fich viel verlaufen, und 
dergleichen Dinge gar nicht mehr nötig fein. Die Ortsvorſteher 
gejtehen ſelber zu, daß von Seiten der Obrigfeit wenig gegen die 
Unruhen gethan worden, entjchuldigen ſich aber damit, daß es 
ihnen an Kraft und Nachdruck aus Mangel an höherer Unter- 
ſtützung gefehlt habe. Es iſt zu befürchten, jchließt der Bericht, 
daß die Sefte bei ihrer jtarfen Vermehrung dem Staat bedenklich 


ratiften liegt auch nicht3 daran. Sieht er e8 an als honorem civilem, 
jo muß man ihn demütigen. Was foll er Ehre fuchen? er foll fie 
verleugnen. Sieht er fie an als rem ecclesiasticam, fo gehört fie 
ihm ja fo nicht zu, weil er ſich von derfelben getrennt. Überhaupt ift 
die Erde ded Herrn und liegt nichts daran, we man begraben ift. 
Sa Separatiften follten nicht einmal bei jo vielen Gottlofen und 
Heuchlern wollen liegen.“ 


Des Separatiften &. Rapp Leben und Treiben. 281 


werden und in einer gen Zeit gefährliche Unternehmungen 
wagen möchte. 

Die au politiſch bedenkliche Seite der Bewegung hebt der 
Pfarrberiht von Knittlingen fchon auß dem Jahre 1801 
hervor. „Es giebt Xeute hier, welde gerne die Auf: 
tritte des Bauernfrieges vom Jahre 1525, die Un: 
ruhen Th. Münzers und die Münfter’fhen Unruhen 
zu erneuern gedädten. Schneider giebt es hier, welche gerne 
Johann von Leyden wären und andere Leute, welche die Gefinn- 
ungen eines Anipperdolling, Krehling und Nottmann haben. 
Diefe jtehen hinter dem Vorhang und heben das übrige Volk auf, 
geben vor, daß fie mit geiftlihen, das übrige Volk mit weltlichen 
Maffen kämpfen müfjen, damit alle Füriten, alle obrigfeitliche 
Perſonen des jogenannten getitlihen Standes möchten vertilgt 
werden. Alsdann werden fie, die aus dem Volk, welche jett blos 
mit leibliden Waffen jtreiten, ebenfo gut wie fie, Kinder Gottes 
und Heilige werden, welche nach dem Ausſpruch des Apoſtels die 
ganze Welt, mithin alle Fürften, Obrigfeiten und geijtliche Berfonen 
rihten werden. Die Thoren behaupten, daß die Stellen der 
Propheten, welche dem ißraelitifchen Staat und deſſen Prieftern 
den Untergang drohen, jet noch an allen Fürften, Obrigfeiten 
und Geiftlichen erfüllt werden müßten und daß die felig würden, 
welche fi von Gott zur Ermordung jener gebrauchen laſſen.“ 

Im Februar 1803 hielt Rapp bei einem Befuh in Knitt- 
lingen in der vor der Stadt gelegenen Ziegelhütte drei Ver: 
fammlungen, zu welchen die Leute jo zahlreich zufammenftrömten, 
daß Fenfter und Thüren ausgehoben werden mußten. Deswegen 
vor das Dberamt Maulbronn am 20. April 1803 geladen, 
befennt er ſich offen ala das Oberhaupt und den Biſchof eines 
großen Teild der Unterländer Separatijten. Schon feit fünfzehn 
Jahren, fagt er, fommen ermwedte Leute, welche ein tieferes Gefühl 
ihrer Sündlichkeit haben, zu ihm und erfuchen ihn um Nat und 
Zroft. Indem er foldden aus eigener Erfahrung zugefprodhen, 
Habe er bei den Leuten ein großes Zutrauen gefunden. Diejes 
und das Geläufe an jedem Sonntag fei ihm oft ſelbſt zumider 


Vergl. Münzer in Burk's Luther ©. 215. 








282 Rauſcher 


geweſen, ſodaß er manchmal davon gegangen und Gott gebeten 
babe, er möge es fo leiten, daß niemand zu ihm komme; dann 
aber fei bei feiner Rüdfehr fein Haus meift voller geweſen, was 
er für ein göttliches Zeichen habe anfehen müſſen. Wenn in den 
Separatijtengemeinden Unruhen vorfommen, welche jene nicht ſelbſt 
beilegen können, oder wenn ein Glied ausgeſchloſſen werden folle, 
fo berichte man ihm die Sade. Er laffe dann einige feiner 
Brüder fommen, lege ihnen die Sache vor und entfcheide fie. 
Untervorjteher in der Gegend von Knittlingen fei Jak. Beder von 
Ölbronn, die übrigen feien noch nicht geprüft genug, um ihnen 
das Amt eines Vorftehers überlafien zu Fünnen. Die unter feiner 
Auflicht ftehenden Separatijten gehören folgenden Gemeinden an: 
Iptingen mit 25, Knittlingen mit 40, Ölbronn 60, Großglattbach 8, 
LZomersheim 5, Dürrmenz 3, Gündelbad 20, Unterrieringen 5, 
Baihingen 6, Markgröningen 7, Winterbah 2, Schnaith 10, 
Rohrbronn 5, Höslinswart 4, Fellbad 8, Schornbach 10, Ditzingen 
und Weil im Dorf je 1, Heimerdingen 5, Eberbingen 3, zuf. 228. 
Es könnten wohl an einzelnen Orten mehrere herumſtecken. Auf 
den Vorhalt, daß er die Stärke feiner Geſellſchaft viel zu Klein 
angegeben habe, da er jchon vor zehn Sahren von dreis bis vier: 
tauſend geredet habe, ermiderte er, er rechne diejenigen nicht, welche 
noch in der Gährung feien und fünne nur im Leichtfinn die Zahl 
feiner Anhänger fo hoch angefchlagen haben. — Die fonntäglichen 
Berfammlungen finden gewöhnlih erſt nad dem öffentlichen 
Gottesdienst ftatt und mögen fechzig bis achtzig Perſonen in 
feinem Haufe beifammen fein. Zuerſt werde ein Lied aus einem 
Geſangbuch „Davidifches Pſalterſpiel der Kinder Zion“! betitelt, 
gefungen, dann ein Kapitel aus der Bibel gelefen, wobei jeder 
feine Meinung jage, er aber gewöhnlid den Anfang mache. 
Weitere Hilfsmittel zur Erklärung der Schrift brauchen fie nicht, 
nur felten werde aus Taulerus vorgelefen. Das Abendmahl 
werde, weil es in feinem Haufe an Raum fehle, in mehreren Ab- 
teilungen gehalten, im le&ten Jahr 3. B. feien am Oſterfeſt die 

1 1718 herausgegeben von Eberh. Ludw. Gruber, früher Diakonus 
in Großbottwar, fpäter Borfteher der Separatiften in Schwarzenau. 
Dasjelbe enthält 225 Lieder voll „übertriebenen myjftiihen Spielwerks.“ 
Koch, Geich. des Kirchenlieds II ©. 3, 2. Aufl. 





Des Separatijten G. Rapp Leben und Treiben. 283 


Separatijten auß Sptingen, Lomerdheim, Großglattbadh, zwei 
Wochen jpäter diejenigen von Vaihingen und Rieringen, vierzehn 
Tage darauf die noch Entfernteren erjchienen. Dem Abendmahl 
gehe ein Liebesmahl voran, wozu der Reiche zweimal jo viel bringe, 
als er für fich nötig habe, damit auch der Arme mitejjen könne. 
Er jelbft verlefe die Einfegungsmorte, präfentiere dann jedem den 
Teller mit Brot und laffe das Glas mit Wein herumgehen. Die 
Separatiften in Knittlingen, Ölbronn, Gündelbach, wo die Zahl 
größer, halten das Abendmahl in ihren Verfammlungen. Die 
Dpfer feien lange nicht jo bedeutend, ald man ſage: am Sonntag 
drei bis vier Gulden, an Kommuniontagen zehn Gulden. Das 
Geld werde zur Beftreitung der gemeinfchaftlihen Ausgaben, mie 
für Licht, Papier verwendet, der Reit unter die Armen verteilt; 
was aber nicht augenblidlich zur Verteilung fomme, bewahre der 
ich bei ihm aufhaltende Maurer Fr. Reichert auf. Verleumdung 
ſei e8, daß er die Beilteuer feiner Brüder ſich zu nußen mache, 
er efje fein eigenes Brot, feine Weinberge haben ihm in einem 
Jahr dreihundert Gulden abgemorfen und zugleih habe er durch 
Verkauf von Obſt und Vieh einige hundert Gulden gewonnen. 
Wenn Separatiften feine Güter bauen, fo erhalten fie doppelten 
Lohn. — Er forrefpondiere ind Remsthal, in die obere Gegend 
von Balingen, überhaupt im ganzen Land herum, ferner mit dem 
Buchhändler Salzmann aus Straßburg, der ihn kürzlich bejucht 
habe. — Der Gegenftand feiner Korrefpondenz bilden die mander- 
lei Führungen u. a. Sein Auftreten in Knittlingen anlangend, 
jo habe er, um Aufjehen zu vermeiden, die dortige Ziegelei zum 
Berfammlungsort gewählt. Wegen des großen Zulauf habe er 
ven Ziegler gebeten, den größeren Teil zum Gehen zu veranlafien, 
jener habe aber feine Bitte mit dem Bemerken abgemiefen, daR 
ihm ſonſt Thüren und Fenfter eingefhlagen würden. Mittags 
habe er über 1 Pet. 1., abends über Röm. 8. geredet, nachts 
zwölf Uhr feien fie auseinandergegangen. 

Offener als Rapp fprachen ſich bei demfelben Verhör die 
Knittlinger Separatiften aus, welche fi) wegen mehrerer: 
teild in Rnittlingen, teils in dem zwifchen Knittlingen und Olbronn 
gelegenen Schüllingswald gehaltener Berfammlungen zu verant- 
mworten hatten. Sie jagen, Gott habe fie im Geiſt zufammenge: 


284 Rauſcher 


führt, darum können fie ſich nicht durch Menſchen trennen laſſen. 
Sie müſſen dem Worte Chriſti Matth. 10, 28. folgen und wenn 
gleich alle Teufel hier wollten widerſtehen, ſo können ſie Gott 
keinen Widerſtand thun. Zur Bezahlung rückſtändiger Emolu— 
mente an den Schulmeiſter für Taufen und in der Stille gehaltene 
Zeichen aufgefordert, erklärte einer derſelben, Jak. Zimmermann, 
fie laffen fih nit mehr an die erlogenen Kirchen— 
geſetze binden, in der Schrift ftehe nichts davon, daß man die 
Toten unter Glodengeläute begraben folle, freiwillig zahlen fie 
nidt3, man jolle fie entweder in Ruhe lafjen oder fortjagen. 
Die Androhung der Turmitrafe machte fie zur Entrichtung der Ge— 
bühren bereit. 

Rapp wurde aus dem Maulbronner Berhör mit einer ernft- 
lihen Berwarnung wegen feines Erfcheinens in einer fremden Ge- 
meinde entlafjen, den Knittlinger Separatiften das Halten von 
Berfammlungen, namentlich die Aufnahme ausmärtiger Glieder 
aufs neue unterfagt. Als gleichwohl am 23. Mai 1803 eine 
größere Verfammlung zu Knittlingen im Haufe des Jak. Zimmer: 
mann ftattfand, wurden die dabei betroffenen vier Ölbronner Se: 
paratiften, darunter Untervorfteher Beder, durch den Polizeidiener 
und zwei Kondukteurs, unter der Begleitung von fünfundzwanzig 
bis dreißig Brüdern zum Oberamt Maulbronn geliefert. Zimmer: 
mann und Beder erhielten eine vierundzwanzigjtündige Turmitrafe, 
außerdem mußte leßterer mit den drei übrigen Olbronnern dem 
Polizeidiener und den zwei Kondukteurs den Lohn mit einem 
Gulden zehn Kreuzer zahlen. Beder rief, fie wollen entweder 
Freiheit oder Tod, der Antichrift fei der kirchlichen Obrigkeit nicht 
mehr gehorfam, ihre VBerfammlungen werden fie nicht einftellen. 
— Der Bericht über da3 Maulbronner Verhör mit Rapp und den 
Knittlinger Separatiften erfchien dem Konfiftorium fo wichtig, daß. 
es von allen Orten, in welchen ſich Separatiften befanden, ge- 
nauere Berichterftattung über die neueften Vorkommniſſe einver- 
langte. Unter diefen verdient der Bericht des gem. Oberamts 
über das am 23. Juli 1803 mit den Separatiften von 
Nordheim angeftellte Berhör befondere Beachtung. Die Führer 
der legtern, welche Rapp ausdrücklich als ihren Vorfteher aner— 
tennen, Peter Häfelen und Chriftoph Greulich haben ihre Bekennt— 


a _- 


Des Separatiften G. Rapp Leben und Treiben. 285 


nifje und Erfahrungen in einem Büchlein „hriftlicher Perlenſchatz“ 
niedergelegt. Häfelen fagt vor dem Dberamt in Bezug auf die 
Selbittaufe feiner Kinder, jeder Chrift dürfe ala geiftlider 
Priefter fein Kind felbit taufen, die Apoftel haben die manderlei 
Zaufen für aufgehoben erklärt, die Taufe aber, von der Chriftus 
ſpreche Matth. 20, 23., befomme auch er und feine Brüder, da 
fie täglih, wie Chriftuß, vor Pontio Pilato herumgeführt und 
von Pharifäern und Schriftgelehrten, wie Mardochai von Haman 
fälfchlih angeklagt werden. Die Anzeige von dem Tode feines 
Kindes bei dem Pfarrer habe er unterlaffen, weil ja der Tod 
Chrifti felbjt dem Bilato und nicht der Geiſtlichkeit durch 
Sofeph von Arimathia befannt gemadht worden fei. 
(Häfelen hatte beim Schultheißenamt den Todesfall angezeigt.) 
Weil Chrijtus fein Seelforger ei, Jo brauche er feinen Pfarrer. 
Auf den Vorhalt, er hätte die Anzeige bei dem Pfarrer, als 
Führer der Kirchenbücher machen follen, rief er wütend: „Wir 
wollen eben gar nichts von der Hure zu Babel, fie 
ift Gott ein Öreuel, mie in der Offb. Soh. fteht.” Chriſt. 
Greulich giebt an, den Anfang des Separatismus in Nordheim 
habe Gott der Herr gemacht und ſei jet die Zeit von Erbrechung 
des fiebenten Siegeld. Die Schrift laſſen fie gelten, aber verjtehen 
fie nicht blos nach dem Buchſtaben, fondern nad) dem Geift. Der 
Buchſtabe jet des Geiſtes Bildnis, e8 fer mit ihm, wie wenn ein 
Baum feinen Schatten werfe, jo man aber beim Schatten ftehen 
bleibe, werde der Baum nicht erreicht. Er bleibe bei dem, mas 
er in feinem Büchlein? und ſonſt vor Amt gefagt und das, fo 
wahr Gott lebe, der Himmel und Erde gemacht hat, fonft wäre 
er ein Zäfterer des hi. Geiſtes. Wegen ihres Glaubendgrundes 
habe er nah Bari an Bonaparte, der ihr Bruder fei, 
geſchrieben, aber feine Antwort erhalten. (Während die Pie: 
tiften in Napoleon den Apollyon der Offb. erblidten, nannten ihn 
die Separatiften den Sohn Gottes, der alle zu Separatijten um: 
zufchaffen habe. Manche grüßten fi mit den Worten: „Oelobt 
fei Gott und fein Sohn Bonaparte,” Ein Nordheimer ſchließt ein 

ı Die Separatiften lejen gerne in der Berleburger Bibel. 

? Hier Hatte er u. a. gefhrieben: „Ih bin ein Patriot in 
Chriſto und liebe die Freiheit, Gleichheit und Bruderſchaft.“ 


286 Raujder 


Schreiben an den Pfarrer betreffs Vortragung feines Kindes, 
ſolches bleibe bis zur Entjcheidung Napoleons. Ein anderer nannte 
fein Kind „Napoleon“ und verlangte fogar den Namen „vivat 
Napoleon“ und ala der Pfarrer das erite Wort wegließ, jagte er, 
man fehe, der Pfarrer wolle niht an Gott hin, ſonſt hätte er auch 
„vivat“ getauft) Die Separatijtin Kath. Widenmaier fast, 
fie fpreche mit dem Oberamtmann per Er, zu zeigen, daß fie feine 
Menſchenfurcht befite, fie fürdte und ehre Gott allein, zu dem 
man im Gebet nicht nur „Er“, fondern ſogar „Du“ fagen dürfe. 
Ihre Rede, das Abendmahl ſei eine Mijtpfüge, ſei nicht jo greu- 
lih, da fie ja nur die Babelöfirche gemeint habe. Zaf. Wen- 
ninger endlich, welcher unter Hinweiß auf den von ihm abge- 
legten Huldigungseid zum Schulbeſuch feitens jeines Kindes auf: 
gefordert wurde, erwiderte, er wolle nichts von der Regierung und 
fümmere fih nicht um ihre’ Befehle. Chriftus, der König 
aller Könige, fei fein einziger Herr und nur ihm 
wolle er unterthan fein.' 

Der immer anwachſenden feparatijtiichen Bewegung gegenüber 
Jah jich die Regierung genötigt, ihren Standpunkt aufs neue zu 
normieren, um fo mehr, als fie ſich überzeugt hatte, daß die bis— 
herigen gejeglihen Beltimmungen für die Seßtzeit nicht mehr 
zwedentiprechend feien und daher in deren Handhabung teilmeife 
eine ſchwankende Stellung eingenommen hatte (vgl. oben). Dies 
gefhah in dem Generalresfript vom 27. Dezember 1803. 
Dasjelbe erklärt die chiliaftiihen Hoffnungen vom nahen Anbrud 
des taujendjährigen Reiches Chrifti, ſoweit es fich dabei um bloße 
Meinungen handelt, ald außerhalb dem Bereich der Regierung 
liegend, und hält es für die Aufgabe der Getjtlichen auf Läuterung 
der ſinnlichen Erwartungen hinzuwirken. Dann unterjcheidet es 
ſolche Separatiften, welche unter dem Vorwand der Neligion die 
bürgerliche Ordnung zu ftören fuchen, und ſolche, welche fich bloß 
durch religiöfe Meinungen unterfcheidven. Die Erfteren dürfen feine 


ı Al3 im Jahr 1810 in Nordheim ein Brand ausbrach, welcher 
die Kirche nebft neunundfünfzig Gebäuden einäjcherte, wurde allgemein 
den Separatijten die Schuld gegeben, da das Feuer in der Scheuer 
des Schultheißen ausbrach, welcher die ihnen unbequemen Verordnungen 
zu vollziehen Hatte. 





Des Separatiften &. Rapp Leben und Treiben. 287 


Berfammlungen halten, diejenigen welche fich darin betreten laffen, 
find zu einer Gefängnisftrafe von einigen Tagen zu verurteilen, 
gegen die Nezeptatoren der Gefellfchaft und beharrlich Ungehor- 
famen find höhere Strafen vorbehalten. Die Zmeiten follen 
zwar nicht die Befugniffe einer Eonftituierten Gefellfchaft und feine 
Oberen mit geiftlicher Gerichtöbarfeit haben, dürfen aber Verfamm: 
lungen mit rein religiöfer Abzwedung halten. Die Verfammlung 
fol nicht über fünfzehn Perfonen zählen, nicht während des öffent- 
lichen Gottesdienftes noch bei Nacht Itattfinden, auch find fie in 
der Mahl der geiftlichen Bücher nicht zu befchränfen. Die Geift: 
Iihen follen fich bemühen, ihr Zutrauen zu gewinnen, daß fie von 
Zeit zu Zeit ihre Berfammlungen befuchen können, aber ſich nicht 
mit Gewalt aufbringen. Bezüglich ihres Berhältnifjes zum Staat 
genießen jie die wejentlichen bürgerlihen Rechte und Freiheiten, 
auf die außermefentlichen Rechte, wie das Recht der Amterbeflei- 
dung haben fie feinen Anjprud. Die feparatiftiichen Eheweiber 
fönnen nicht Hebammen werden. . Statt der Ablegung der körper— 
lichen Eide genügt die Ablegung der Handtreue. In Anfehung 
ihres Verhältniffes zur Landesfirche fönnen fie zu den eigentlich 
geiftlihen Handlungen, die Taufe ausgenommen, nicht gezwungen 
werden, dagegen haben fie alle kirchlichen Laſten, wie Frohnen, 
Pfarraufzugsfoften zu tragen, auch Stolgebühren und Emolumente 
zu entrichten. Die Selbittaufe der Kinder ift nicht geftattet, follte 
dies gefchehen, jo iſt das Kind vorzutragen, den Kontravenienten 
das erftemal eine „Strafe von zwei Kleinen Freveln” anzufegen. Die 
Eltern haben ihre Kinder in die Schule zu ſchicken, diejenigen, 
melde fie von der Schule zurüdhalten, das Doppelte der ſonſt 
auf Berfäumnis gejegten Strafe zu zahlen. Bei beharrlicher 
Renitenz ift das Kind durch den Dorffhügen auf Koften des 
Renitenten in die Schule zu führen. Zur Konfirmation ihrer 
Kinder aber follen die Separatiften nicht genötigt werden. Das 
Befragen der Kinder von Seiten der Geiftlichkeit, ob fie nicht 
gegen den Willen ihrer Eltern fonfirmiert werden wollen, joll in 
Zufunft bei den Mädchen im achtzehnten, ftatt wie bisher im vier- 
zehnten, bei den Jünglingen im zwanzigiten, jtatt im achtzehnten 
Lebensjahr ftattfinden. Als diefe Verordnung befannt wurde, war 
Rapp bereits außer Lands, um für fi und die Seinigen neue 


288 Raujder 


MWohnfige zu ſuchen. Durh die Auswanderung eines größern 
Teils feiner Anhänger im Jahr 1804 fand eine nicht unbedeutende 
„Entladung“ des jeparatiftiihen Zündſtoffs jtatt, doch blieben im 
Zand über ein Jahrzehnt „Spannungen“ zurüd, welche durd Die 
im Sahr 1816 und 1817 nachgefolgte Auswanderung von Sepa- 
ratiften nah Nordamerika (©. unten) und Südrußland aufge: 
[löst wurden. Es liegt nicht in unfrer Aufgabe, den Berlauf 
der feparatiftifhen Bewegung nad) dem Wegzug Rapps genauer 
zu verfolgen, nur anhbangsmweife möchten wir aus. demjelben 
einzelne charakteriftiiche Punkte hervorheben. Die Separatiften 
fuchten fi) durch das Tragen von Kofarden an den Hüten und 
von Sternen auf der Bruft ala befondre Geſellſchaft kenntlich zu 
machen, dutzten jedermann und erjchienen vor Amt mit dem Hut 
auf dem Kopf. Hiegegen verordnete ein Zirkularreffript vom Jahr 
1806, wenn ein Separatiſt vor der Obrigkeit erfcheine, jolle der 
Amtödiener herbeigerufen, durch diefen dem mwiderfpenftigen Sepa— 
ratijten jedesmal der Hut abgenommen und erſt nad der Amts— 
handlung wieder zugeitellt werden. Das Tragen von Kofarden, 
Sternen und andern Unterfcheidungszeichen ſolle nicht einmal in 
ihren VBerfammlungen geduldet, fondern diefe Zeichen mit Gewalt 
abgenommen und zeritört, der Tragende das erftemal mit drei, 
da3 zweitemal mit achttägiger Inkarzerung bejtraft, die Reiteration 
gerichtlich angezeigt werden. Ferner wurde im Jahr 1808 be- 
jtimmt, die Kinder der beharrlich renitenten Eltern follen, damit ie 
nit in Rohheit und Halsftarrigfeit aufwachſen, von ihren Eltern 
getrennt gegen verhältnigmäßiges Koftgeld ins Waifenhaus gebracht 
werden, nach der Konfirmation nicht zu den Eltern zurüdfehren, 
jondern bei Zehrmeiftern oder in Dienften untergebracht werden. 
Mehrere Separatiften verbüßten ihr beharrliches Widerſtreben gegen 
die Geſetze mit längerer Zuchthaus: oder Feitungsftrafe. ? 


1 Bol. Schmid, die ſchwäbiſchen Kolonien in Trangfaufafien. Bei- 
lage zum Württ. Staatdanz. Nr. 19. 

2Als Napoleon bei feinem Bejuh in Ludwigsburg am 2. Oft. 
1805 einige derjelben in Sträfling3fleidern vorgejtellt wurden, bebiel- 
ten fie den Hut auf dem Kopf, einer jagte zu ihm: „Bis hieher ſollſt 
du kommen und nicht weiter u. ſ. mw.“ 


Des Separatijten &. Rapp Leben und Treiben. 289 


Als ſolche Drte, in welchen Separatiften ſich befanden, 
die ſich nicht ausdrüdlich unter die Aufficht Rapps geftellt hatten, 
jind zu nennen: Frauenzimmern, Mösingen, Hochdorf, Reutlingen, 
Besingen, Pfullingen, Unterhaujen, Genfingen, Urach, Albers: 
haufen, Schafhof bei Göppingen, Stetten im Remsthal, Dettingen 
bei Heidenheim, Rothenader (mo der Revolutionsſchwindel feinen 
Höhepunkt erreichte, vgl. Beilage zum Württ. Staatsanz. 1881, 
Nr. 20 und 21). In Genfingen erklären die Separatiften, der 
Befuh der Kirche ſei für fie unnötig, weil der Buchſtabe jich bei 
ihnen in Geift verwandelt, das heilige Abendmahl überflüffig, weil 
ed, wenn nur einmal würdig genofjen, feinen Segen beim wahren 
Chriften auf die ganze Lebenszeit ausbreite.e Zudem habe man 
aus dem Abendmahl ein Morgenmahl gemacht, durch die gewöhn— 
lihen Hoftien werde den Satten wie den Hungrigen die gleiche 
Portion beftimmt, was der Sache nicht angemefjen fei, endlich 
fönne man zu Haufe mit jedem Biffen Brot und jedem Trunf 
Maffer das Abendmahl mit Chrifto halten. Ein Dikinger 
Separatift jagt, die Schule jet unrein, weil darin nicht bloß das 
Chriftentum, fondern auch das Rechnen und andere Vernunft: 
wahrheiten gelehrt werden, wie jedes A-B-C-Büchlein unanftändige 
Morte, wie Hund, Kate u. a. enthalte. Die Hohdorfer Se: 
paratijten nennen die Gewalt der höhern und niedern Obrigkeit 
Teufelswerk, den Eheitand einen Hurenftand, den Altar des Herrn 
des Teufels Tiſch. Schreiner Lutz daſelbſt gab ſich für einen 
Apostel und Propheten aus, der größer ſei als die übrigen, ja ein 
folder Wundermann, der mit Gott ſchon öfters perfünlich geredet, 
und trug Stern, rote und weiße Kleidung. In Stetteni. R. 
ftörten die Separatijten die dreihundertjährige Feier des Reforma- 
tiongfeftes am 31. Dftober 1817, indem fie am frühen Morgen 
auf öffentliher Gaſſe alltäglihe Gefchäfte verrichteten, in den 
ſchmutzigſten Kleidern umberliefen und laut äußerten, die Hure 
habe heute Hochzeit. In Sptingen erhielt fih, auch nachdem 
im Sahr 1804 im ganzen jiebenundzwanzig Perſonen, — fieben 
Männer, fieben Weiber und dreizehn Kinder — Rapp nachgezogen 
waren, noc über drei Jahrzehnte ein nicht unbedeutendes Häuf— 
lein von Separatiften, welche feine kirchenkonventlichen Verhand— 
[ungen veranlaßten, (fofern fie ihre Kinder zur Schule fchidten, 


Theol, Studien a. W. VI. Jahrg. 19 


290 Rauſcher 


jedoch von der Konfirmation zurückhielten) wegen ihrer Sittenſtrenge 
bei der Gemeinde im Anſehen ſtunden und viele Beſuche von 
auswärts erhielten.t Im Jahr 1837 wurden fie durch den da— 
maligen Vikar Blumhard, nahmaligen Pfarrer in Bad Boll für 
die Kirche wieder gewonnen, (Val. Blumhards Leben von Bündel 
©. 51 und 52, 2 Aufl.) 

Zwei Monate nad feinem Verhör in Maulbronn, hatte Rapp 
Iptingen verlaffen, nachdem er zuvor den achtundzwanzigjährigen 
Steinhauer Friedr. Reichert aus Endersbach als feinen Stellver- 
treter beftellt hatte. Mit feinem zwanzigjährigen Sohne Johannes, 
der fih zum Geometer ausgebildet und zwei Anhängern, dem 
Schullehrer Friedr. Schmid und Chriftoph Müller reiste er über 
Holland nad) Amerika, ala dem von Gott zur Sammlung feines 
Boltes beftimmten Land. Er predigte dort den Deutfchen in und 
um Baltimore mit großem Beifall und erhielt namhafte Geld- 
unterftüßung. Nachdem er Maryland, Penjylvanien und Ohio 
durchſtreift, Faufte er nahe bei Pittsburg gegen 6000 acres mildes 
Land. Auf die Nachricht hievon brachen ungefähr 700 feiner 
Anhänger in Württemberg, welche ihre Güter bereits flüſſig 
gemacht hatten, auf und kamen in zmei Abteilungen, die einen 
im Juli 1804 in Baltimore, die andern im September in Phila— 
delphia an, wo jie beidemal von Rapp empfangen wurden. Die 
Auswanderer gehörten den Orten: Sptingen, Aurih, Großglatt- 
bach, Eberdingen, Vaihingen, Horrheim, Ober: und Unterrieringen, 
Hochdorf, Lomersheim, Ölbronn, Dürrmenz, Anittlingen, ſowie dem 
Remsthal an. Die Abreife von Sptingen gefhah am 1. Mai 
1804. Die Abziehenden erklärten, daß fie einen innern göttlichen 
Ruf zum Auswandern erhalten haben, dem fie wider ihren eigent- 
lihen Willen folgen müßten und wie eines jeden Lauf durch dieſe 
Melt von Ewigkeit beſtimmt fei, fo fei auch dies in ihren Zauf 
verwebt, daß fie nach Amerika ziehen follen. Die Weiber waren 
noch ſchwärmeriſcher als die Männer und gaben vor, wenn ein 
Ehemann nicht mitziehen wolle, weil er nicht von gleichen 


1 Über einen Beſuch des Sprechers Chrift. Hörnle, der einen jehr 
fangen Bart trug, bei Pfarrer Machtholf in Möttlingen, vgl. Lebder- 
hoſe, Leben Machtholfs ©. 60, wo irrtüimlicherweife Hörnle der Vater 
des gleihnamigen Miffionard genannt wird. 


‚4 


Des Separatijten ©. Rapp Leben und Treiben. 291 


Geift befeelt ſei, jo dürfe man fih von ihm ſcheiden und um 
Chrifti willen müfje man auch den Ehegatten verlaffen. Thatfächlich 
hat diefen Grundjag die Ehefrau des Jak. Flattih, Anna 
Maria geb. Wild von Sptingen befolgt. Ste war vor dem Pfarr: 
amt mit der Anzeige erjchienen, daß ſie einen göttlihen Ruf 
erhalten habe, nad) Amerika zu ziehen. Da nun ihr Mann nicht 
mitgehen wolle, fo möchte fie anfragen, ob dies höhern Orts 
berichtet werden müſſe. Als der Pfarrer letzteres bejahte und 
bemerfte, der Hare göttlihe Ruf an fie fei, bei ihrem Manne zu 
bleiben und ihr Hausweſen mohl zu bejorgen, erklärte fie ji zum 
Bleiben bereit, was fie auch bald darauf vor dem Kirchenfonvent 
betätigte. Gleichwohl reiste fie, unter dem Vorwand, ihren 
Bater, der ohne feine Frau fortging, bis Knittlingen begleiten zu 
wollen, am 1. Mai mit den Sptinger Ausmwanderern ab und 
fehrte nicht nad) Haufe zurüd. Dagegen fprad fie in einem 
zurüdgelaffenen „Scheidebrief” unter Dankesbezeugung für alle 
ihr ermwiefene Liebe und Freundfchaft ihren Ehemann „wohlbedächtig 
von all den Pflichten, die er gegen fie gehabt, ganz frei und los 
und will die eheliche Verbindung als nicht geichehen anfehen.” 
Die Flattichin jtarb bald nad) ihrer Ankunft in Amerika (Dez. 1804). 
Ihr Vater, ©. Wild, kehrte im Jahr 1810 nad) Sptingen zurüd, 
wo er das Leben der Harmoniten unter Rapps Tyrannei mit den 
düfterften Farben fchilderte, 


H. Rapps Treiben in Amerifa. 


Um ein vollitändiges Bild von Rapp und feinen Ideen zu 
gewinnen, iſt es nötig, feine amerifanifche Wirkſamkeit mit in 
Betracht zu ziehen. Tritt in der Heimat mehr die negative, 
oppofitionelle Seite feines Treibens hervor, jo entfaltet er in 
Amerika eine pofitivfchaffende Thätigkeit und diefer hauptfächlich 
dankt er die Erwähnung feines Namens in mehreren tirchen: 
gefhichtlihen Werten, wie Hafe, Kurs u. a. Stellen mir die 
Hauptmomente der leßteren zuſammen, fofern fie zu feiner Charaf- 
terifierung als Sektenhaupts dienen. — Nach der Ankunft von 
ca. 700 Anhängern aus Württemberg gründete Rapp im Jahr 
1805 mit Überwindung ungeheurer Schwierigkeiten in einer meift 
aus Waldland beitehenden Gegend, acht Stunden von Pittsburg 

ı9* 





292 Raufder 


entfernt, feine erjte Niederlaffung, welche nad) Act. 4, 32. a. den 
Namen Harmony erhielt. Seine Gefellfchaft follte ein Nach— 
bild der eriten Chriftengemeinde zu Serufalem fein. 
Mie hier die Gläubigen ihre Güter zu den Füßen der Apojtel 
legten und alle Dinge gemein hielten, jo übergaben die Rappiſten 
ihr fämtlihes Vermögen an Rapp, welder den Betrag der 
einzelnen Einlagen in einer befondern Urfunde verzeichnete. Aus 
der Gütergemeinfhaft ergab fich als zweiter Grundſatz Der 
Gefellihaft die Arbeitsgemeinſchaft, jeder follte nad) feinen 
Kräften und Fähigkeiten ohne allen Eigennug zum Wohl des 
Ganzen arbeiten. Demgemäß wurden die Arbeiter nad ihrer 
Beihäftigung in Gruppen eingeteilt, an deren Spitze ein Vormann 
die Ordnung der Arbeit beftimmte! Was durch die gemeinjame 
Arbeit gewonnen wurde, war Eigentum der Gefellfchaft, welche 
den einzelnen ald Belohnung die Wohnung nebjt den nötigen 
Lebensbedürfniſſen an Nahrung und Kleidung, namentlich aber 
das Recht gab, den Predigten Rapps anzumohnen. Starben Die 
Eltern, jo follten deren Kinder von der Geſellſchaft verforgt werden. 
Rapp war der geiftliche, fein Adoptivſohn Fried. Neichert der 
weltliche Vorſtand, welchem 7 Ültefte beigegeben waren. Die 
Eintracht zwifchen den Harmoniten follte bald genug gejtört werden. 
Es gab teil3 wegen der fchledhten Koft, teils wegen der harten 
Arbeit? Mißhelligkeiten, infolge deren mehrere und zwar Die 
1Es fand indes feine freie Berufswahl ftatt, jondern einzelne 
mußten je nad) Bediirfnis ihre Berufgart wechjeln. 3. B. mußte einer, 
welcder die Gerberei erlernt, fpäter Fuhrmann werden, um jchlieklich 
dad Hutmachergefhäft zu treiben (vgl. Markworth: Die Nappifchen 
Kolonien, Beilage zum Sonntagsmorgen, Cincinnati, Juli 1882). 

2 Über das Leben der Harmoniten jagt ein langjähriges Mitglied 
der Geſellſchaft, Jonath. Wagner im Jahr 1830 (Geſchichte der Har- 
moniegejellichaft 1833): „Die Arbeit dauert von 5 oder 51/, Uhr morgens 
bis 7 oder 8 Uhr abends. Frei ift nur eine halbe Stunde zum Früb- 
jftüd und eine Stunde zum Mittagejjen. Die Leute befommen nur 
fo viel zu effen, daß fie zur Arbeit tüchtig bleiben. Das Frühſtück 
beiteßt aus Maisbrei oder einer gefhmälzten Waſſerſuppe, das Mittag- 
ejien aus Gemüſe oder einer Mehlipeije, dad Abendefien aus Suppe 
oder aus Kartoffeln und Milh. Außerdem erhalten fie im November 


Des Separatiften G. Rapp Leben und Treiben. 293 


Mohlhabenderen ihr Vermögen zurüdverlangten und, nachdem fie 
e3 durch richterlihen Spruch zurüderhalten, unter Führung eines 
3. Heller die Kolonie Blumenthal gründeten, mo jeder für fi 
jein Vermögen befaß und für fich arbeitete. 

Die Harmoniten trieben Ader: und Weinbau, fomwie die 
gewöhnlichen Handwerke, befondern Fleiß verwandten fie auf die 
DVeredlung der Schaf, Rindvieh- und Pferdezudt. Obwohl das 
Bermögen der Gefellihaft innerhalb zehn Jahre fich verfünffacht 
hatte, verfaufte Rapp wegen Mangels an guten Verkehrswegen 
und weil der Boden zum Weinbau weniger geeignet war, Har— 
mony im $ahre 1815 um hunderttaufend Dollars und faufte 
an der Weſtgrenze von Indiana am MWabashthal ein Land von 
dreitaufend acres. Der ausdauernde Fleiß der Rappiften machte 
die faſt undurchdringlichen Wälder und die vielen Sümpfe in 
furzem urbar. Diefe zweite Niederlaſſung erhielt den Namen 
„Neu-Harmony“. Aber das heiße Klima in Verbindung mit 
der übermäßigen Anftrengung raffte einen größern Teil der Gefell- 
Ichaft weg. Die dadurch entitandene Lüde wurde durch einen 
Zuzug von hundertdreißig Ankömmlingen aus Württemberg im 
Sahre 1817 ergänzt.! Troß der großen Fruchtbarkeit der Felder 
. und Weinberge, ſowie des guten Standes der Fabrifen und des 
fih bis Neu-Orleans erftredenden Handels verkaufte der nun 
fechsundfechzigjährige Rapp im Jahr 1824 Neu-Harmony an den 
Schottifchen Sozialiften Robert Dwen, Tehrte mit einem Vermögen 
von einer halben Million Dollars nah Penſylvanien zurüd und 
gründete jehs Stunden von Alt-Harmony entfernt, auf einem 
Hügel des Ohio die dritte Niederlafjung, welche die zwei erjten 


und um Weihnadten je 35—40 Pfd. Fleifh für eine Perfon über 
14 Sabre, ald Vorrat für das ganze Jahr. Zum Getränke Haben fie 
nichts als Wafjer, nur vom Mai biß September befommen fie nach— 
mittags nicht ganz einen Schoppen Bier. Das Bett bejteht nur aus 
einem mit Stroh gefüllten Sad, einem Leintuch und einer Federdecke, 
fo daß nur die Müdigkeit die Ruhe auf einem ſolchen Lager angenehm 
madhen konnte.” 

1 Unritige Angaben bei Kurk EKgeſch. S. 688 3. Aufl.) und 
Holgmann (Lexikon für Theol. 574); jener verwechſelt Ekonomy mit 
Neu⸗Harmony, diejer nimmt Alt- und Neu-Harmony für eine Kolonie, 





294 Raufder 


an Zwedmäßigfeit der Einrichtung übertraf und allgemein als 
eine Muftermwirtfchaft gepriefen wird. Der Name „Ekonomy“ 
follte die Rappiften als die Anfänger der dritten Ofonomie, der 
des hl. Geijtes, bezeichnen. Hier lebte Rapp noch dreiundzwanzig 
Jahre und ftarb, bis an fein Ende körperlich und geiſtig frifch, 
als ein faſt neunzigjähriger Greis am 7. Auguſt 1847. 

In feiner mehr als vierzigjährigen Wirkfamteit in Amerika, 
da feine LZandesgejege mehr hindernd feinen Plänen im Wege 
itunden, tritt der Charakter Rapps erſt in fein volles Licht. Dem 
Namen nad) war er nur das geiftliche, in der That aber auch 
das weltlihe Haupt feiner Gejellfhaft. Er weiß fih in Mitten 
derfelben ala den Repräfentanten Gottes, ja als einen der 
zwei Zeugen,? welde Macht haben, den Himmel zuzuſchließen 
und die Erde mit allerlei Plagen zu ſchlagen. Off. 11, 3. Als 
folder ift er unantajtbar und jteht über allem Geſetz, dagegen 
jind alle Glieder der Gejellihaft zum unbedingten Gehorfam gegen 
alle feine Anordnungen verpflichtet. „Mein Wille“, pflegte er 
zu jagen, „ift Gefeß, fonft giebt es feines, und darf 
von feinem gebroden werden.” Willenlofigfeit it 
die erite Tugend der Geinigen. Widerfpruc gegen feine Befehle 
ift Sünde wieder den h. Geift und wird in diefer und jener Welt 
mit den fchärfiten Strafen geahndet? Er ließ fi) von den Seinen 
zwar Vater nennen, aber jtatt väterlicher Milde zeigte er gegen 
fie defpotifche Strenge. Während diefe troß des gehobenen Wohl— 
ſtandes der Kolonie der härteften Arbeit ſich unterziehen und mit 
geringer Nahrung ſich begnügen mußten, hatte Rapp für ji und 
feine Samilie einen guten Tifch, fpeiste auf filbernem Geſchirr, 
bewohnte ein jtattliche8 mit feltenen Bildern gefhmüdtes Haus, 


1 Auf dem Feld der Landwirtfhaft wie der einfachen Induftrie 
hat kaum irgend eine deutfhe Anfiedlung mehr geleiftet und ein 
beſſeres Beifpiel gegeben, ald Elonomy. Körner. 

2 Ym Jahr 1748 gaben fi) die zwei Brüder Köhler zu Brüggeln 
für die zwei Beugen der Dffb. aus, vgl. Kurk. Kgeſch. ©. 589. 
3. Aufl. 

3 Rapp behauptet, Gott habe ihm auch das Gericht übergeben, ja 
er wäre ein ungerecdter Gott, wenn er jemand felig machen follte, 
ohne ihn zu befragen. (Wagner, Geſch. der Harm. Geſellſch.) 


Des Separatijten &. Rapp Leben und Treiben. 295 


und ließ in dem großen dasſelbe umgebenden Garten mit Anlagen 
von Weinbergen und Drangerien einen koſtbaren Thron errichten, 
wo er fich den Seinen unter den Klängen der Mufif zeigte. Er 
hielt vier Pferde und zwei Kutſcher. Sommers begleitete er die 
Arbeiter zu Pferd und fommandierte fie bisweilen unter fürchter- 
lihen Drohungen im Feld herum (Wagner a. a. D.) Die All: 
gewalt feines Willens zeigte Rapp befonders dur die Einführung 
der Ehelofigfeit bei feinen Anhängern. In den zwei erften 
Sahren der Anſiedlung in Harmony mar die Ehe noch geitattet, 
fein eigener im Sahr 1811 verjtorbener Sohn Sohannes verheiratete 
fih mit einer WMürttembergerin, Joh. Diehm, aus welcher Ehe 
eine noch jet lebende Tochter Gertrud jtammt,! aber im Jahr 1807 
predigte er, die Ehe fei wider Gottes Willen. Seine Gemeinde 
fei das in die Müfte geflüchtete Weib der Dffb. 12, 1., wo fie 
eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit erhalten werden 
foll, wa3 einen Zeitraum von vierundzwanzigeinhalb Sahren aus: 
made (eine Zeit — fieben Jahren), Da nun Ddiefe mit dem 
Bundezfeft am 15. Februar 1805 begonnen, fo werde Chrijtus 
am 29. Auguſt 1829 wieder fommen?: und nur die Chelofen 
werden vor ihm beitehen. Die Eheleute wurden fortan getrennt, 
„die Männer mußten im obern, die Weiber ım untern Teil der 
Häufer wohnen, aller eheliche Verkehr war verboten. Wer gleich: 
wohl die Ehe fortfegen, oder in fie eintreten wollte, mußte die 
Gejellihaft verlafien, oder wurde aus ihr ausgeſtoßen. Rapp 
drohte diefen, fie werden unter den letzten die bodenlofe Hölle 
verlaffen und erit nah Millionen Sahren voller Leiden Ber: 
gebung finden. Mit dem Austritt aus der Gefellfchaft verloren 
diejelben allen Rechtsanſpruch auf Entſchädigung für das beigebrachte 
Vermögen und die geleifteten Dienſte. So ftreng Rapp das 
Cölibatsgeſetz gegen die Mitglieder feiner Geſellſchaft handhabte, 


1 Die vielverbreitete Sage, Rapp Habe feinen eigenen Sohn ent- 
mannt, ift nach guten Beugnifien unwahr. 

? „Die Sekte hat eine injtinftive Neigung zum ————— 
H. Schmidt, die Kirche S. 202. 

3 Rapp benutzte beſonders die Privatbeichte, um den jungen Leuten 
alle Heiratsgedanken auszureden. 


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296 Raujder 


fo wurde er doch felbit unlauterer Beziehungen zu mehreren Frauen 
bezichtigt. (Mardworth a. a. D.) Eine andre, freilich leichtere 
Form der Asceſe als die Chelofigfeit führte Rapp durd das 
Verbot des Rauchens ein.! Um die Harmoniten (oder Efonomiten) 
leichter beherrfchen zu fünnen, hatte er das Erlernen der englifchen 
Sprache, ſowie den Umgang mit Leuten außerhalb der Kolonie 
verboten. 

Im Jahr 1820 that er einen neuen Schritt, um die ganze 
Gemeinde in feine Gewalt zu bringen, indem er fih zum all: 
einigen Eigentümer des Gefamtvermögens derfelben 
machte. In einer Predigt am Bundesfeit (15. Februar) 1820 
über Ap. 4, 32. 33. zeigte er, daß mit diefer Stelle die im Jahr 
1805 aufgejegte Urkunde, in welcher das Vermögen der einzelnen 
nad) den Betrag ihrer Einlagen verzeichnet war, im Widerſpruch 
jtehe, denn in Jerufalem babe niemand etwas fein eigen genannt. 
AS nun hierauf mehrere fagten, fie wollen nicht wiſſen, daß fie 
mehr al3 die andern eingelegt haben, erklärte er jene Urkunde für 
unnüß, verbrannte fie in der VBerfammlung, und faßte eine neue 
ab, durch welche die Mitglieder der Gejellfhaft all ihr 
VBermögen in Geld und Gütern, das fie fhon be— 
faßen und noch erwarteten, an Rapp und feinen 
Adoptivfohn,— diefer vertrat die Gefellfhaft nad) außen, und 
auf feinen Namen gefchahen alle Einträge bezüglich des Vermögens 
und der Handelägefellfhaft — abtraten, im Fall des Austritts 
aber auf jeglichen Anſpruch an Entihädigung verzichteten. Das 
neue Dokument hieß „die Urkunde des Lebens“, Daher ſäumte feiner, 
feinen Namen darin zu unterzeichnen. Auf diefe Weife war Rapp 
unumſchränkter Herrfcher in feiner Gefellfehaft, er war Herr über 
die Leiber, die Seele und das Vermögen der Seinigen. Das 
Leben der Rappiiten felbit können wir am fürzejten (mit Haubers 
Recht und Braud ©. 205) durd die drei Worte: Willenlofigkeit, 
Ehelofigfeit, Eigentumslofigfeit bezeichnen. Ein fehr tüchtiges Werk— 
zeug bei Ausrichtung feiner Pläne fand Rapp an feinem ſchon 


ı Die Bonfelder Wiedertäufer gaben das Rauchen auf, weil fie 
fanden, daß es direlt vom Teufel jtamme. (Palmer, die Gem. und 
Sekt. Württ. ©. 160.) 


Des Separatijten G. Rapp Leben und Treiben. 297 


mehr genannten Adoptivfohn Friedrich (Neichert), dem zu 
lieb jedes andre Mitglied der Kolonie den Namen „Friedrich“ 
aufgeben mußte. Hatte diefer jchon in Württemberg den Verkauf 
der Güter der ausmandernden Rappiſten beforgt und ihren Auszug 
geleitet, jo verwertete er in Amerika nicht nur feine guten Kennt- 
niffe als Steinhauer und Architeft beim Bau der Häufer und 
den ſonſtigen Anlagen, jondern trieb auch die Handelsgefchäfte 
mit großem Geſchick und machte viele und weite Reifen." Das 
Verhältnis zwiſchen Bater und Sohn war aber keineswegs immer 
ungetrübt. (S. 301) In ſeltſamem Kontraft zur Erwartung des 
nahen Endes der Welt und der perfönlichen Wiederfunft Chrifti 
ſtund der Eifer, mit welchem irdiſche Schätze in Ekonomy auf: 
geipeichert wurden. Hiebei wurden auch fchlehte Mittel nicht 
verihmäht. Es ift durch mehrfache gerichtliche Zeugenausfagen 
erwiejen, daß auf Anftiften ©. und Fr. Rapps mehrere Urkunden- 
fälfjhungen — ſei e8 zur Erlangung von Erbſchaften aus Württem— 
berg, fei e8 zur Abweiſung von Entſchädigungsanſprüchen — vor: 
genommen wurden (vgl. Mardworth a. a. D.). Die Schäbe wurden 
in den Kellern des Rappiſchen Haufes, welches für den Fall der 
Gefahr mit unterirdifchen Gängen verfehen war, aufbewahrt. 

Mit großer Spannung ſah man in Elonomy dem 15. Aug. 
Des Jahres 1829 entgegen. Der Tag fam, aber die erwartete 
Miederkunft Chrifti trat nit ein. Die Unzufriedenheit zumal 
unter den Jüngern, welche die Heiratsgedanfen nicht vermwinden 
fonnten, wuchs und die Klage wurde laut, daß fie betrogen worden 
feien. Die Lage war fritiih. Da fam als Netter in der Not 
ı m Jahr 1811 reißte er 3. B. nad) Spanien und bradte von 
da zwei Schiffe der feinſten Merinofchafe zurüd. 

2 ntereffant ift darin eine Angabe, welche Rapps Nachfolger, 
Rom. Bader, bei der Vermögensabſchätzung der Gejellichaft in einem 
Prozeß über eine Barfumme von fünfhundertzehntaufend Doll. gemacht 
Hat, das Geld fei von Rapp als Kirchen- und Refervevermögen betrachtet 
worden, wie das jchon im Alten Tejtament gejchehen, daß die Kinder 
Sirael zur Wiedererbauung und Erhaltung des Tempel3 Beiträge 
fammeln und diefe in die Hände von Verwaltern legen follen, ohne 
von ihnen — nad 2 Kön. 12, 15. und 22, 7. — Rechenſchaft zu 
verlangen. (Mardworth a. a. O.) 


298 Raujder 


ein Schreiben von einem Dr. Gäntjen aus Frankfurt a. M., welder 
unter großer Chrfurcdtsbezeugung gegen Rapp anfündigte, daß 
der Gefandte und Gefalbte Gottes mit feinen Anhängern demnädjt 
anfommen werde, um entweder der Rappſchen Kolonie ſich anzu— 
Schließen oder eine eigene Gemeinjchaft zu bilden.‘ Bereitwilligft 
jagte Rapp den feltiamen Gäſten Aufnahme zu, den Unzufriedenen 
und Zmeiflern aber in feiner Gemeinde rief er zu: „hr jeht 
jet, daß ich ein Prophet bin (aber ein fchlechter, wie ſich bald 
zeigte), daß meine Zeitrechnung eingetroffen ift; geht hinaus in Die 
Welt, wenn ihr wollt, Gott giebt mir andre Leute, durch welche 
ih meine Pläne ausführen kann.” Nac längerem Warten traf 
„ver Gefalbte Gottes“ in der Perſon eines kühnen Abenteurers, 
welcher in der Gegend von Frankfurt a. M. eine geiftliche Welt- 
monarchie mit Güter: und Weibergemeinſchaft verkündet und durd) 
die Flucht den Verfolgungen der Polizei fich entzogen hatte, von 
Haus aus Bernhard Müller hieß, ſpäter Proli und jest Graf 
Leon ih nannte, in Elonomy ein und hielt hier hoch zu Roß, 
ein Schwert an der Seite, an der Spite von fechzig Getreuen 
unter Pauken und Trompetenfhall am 18. Oktober 1831 feinen 
Einzug. Vergebens wartete man auf eine Anſprache des Gaftes 
in der Kirche. Rapp trat mit ihm in Unterhandlung, aber jchon 
nach zwei Wochen ftunden die beiden einander als bittere Feinde 
gegenüber. EinerfeitS war Rapp ärgerlich darüber, daß Xeon fein 
Geld mitgebraht — er hatte zwar vorgegeben, in New-York 
jieben Millionen Dollars zurüdgelaffen zu haben, in Wirklichkeit 
hatte er nur Schulden, — andererfeitö klagte diefer jenen offen 
an, daß er feine Leute wie Sklaven behandle, ihnen troß Der 
vorhandenen Mittel jeden Lebensgenuß verfümmere und die Che 
verbiete. Rapp forderte den Grafen zum Verlaſſen der Stadt 
auf, aber Ddiefer weigerte fih, da er zum Kommen eingeladen 
worden und viele jüngere Gfonomiten auf feine Seite traten. 
Über den Abfall der lettern geriet Rapp in die äußerfte Wut, 


1 Unterjhhrieben war der Brief: „Im Auftrag des Gejandten und 
Gejalbten Gottes vom Stamm Juda, aus der Wurzel Sfai, gejchrieben 
von Samuel, einem geheiligten Diener Gottes in der profanen Welt, 
Hauptbibliothefar in Frankfurt Dr. phil, et theol. Joh. &. Gäntjen.“ - 


Des Separatijten G. Rapp Leben und Treiben. 299 


fhalt Leon den außgeborenen Antidrijten und den 
Draden, Off. 12, 3., und ſetzte ihm einen dreitägigen Termin 
zur Abreije, was eine offene Empörung veranlakte. Schließlich 
wurde eine Abjtimmung darüber bejchlofjen, wer der alten Ordnung 
unter Rapp treu bleiben und mer der neuen unter Leon folgen 
wolle. Für erſtere erflärten ſich 500, für letztere 178 Berfonen. 
Bei der Nachricht über diefe Abjtimmung rief Rapp: „Der 
Schwanz des Drachen zog den dritten Teil der Sterne 
und warf fie zur Erde, Offb. 12, 4. (Die Gegenwart 1879. 
©. 38. Die communiftifhen Gefellfchaften der Union.) Bon den 
Austretenden, für welche eine Abfindungsfumme von 105000 Doll. 
ftipuliert wurde, gingen einige in die weite Melt, der größere 
Teil aber fiedelte fich unter Zeons Leitung wenige Stunden von 
Ekonomy entfernt, in PBhilippsburg an und legte jih den Namen 
„Neu-Jeruſalem“ bei. Der Grundfaß der Gütergemeinjchaft wurde 
beibehalten, aber der Cölibat aufgehoben. Der Beitand der Kolonie 
war nur von Furzer Dauer. Es entitunden Ötreitigfeiten und 
das mitgebrachte Geld war bald aufgezehrt. Da die legte Rate 
der Abfindungsfumme von Rapp nicht auf den beftimmten Tag 
bezahlt wurde, unternahmen die Neu-Jeruſalemiten einen Kriegszug 
gegen Elonomy, 80 Bemwaffnete rüdten von verfchiedenen Seiten 
ein, vor Rapps Haus murde eine Kriegserklärung verlefen. Als 
aber auf Rapps Anſuchen aus dem benachbarten Beaver County 
eine Kompagnie Soldaten erjchien, ergriffen fie die Flucht. Leon 
floh bald darauf aus Philippsburg und ftarb in bitterer Armut. 
Rapp verbot den Seinigen bei Strafe der ewigen Verdammnis, 
einen der Ausgetretenen je in ihr Haus aufzunehmen. 

Die Nachricht von den Streitigfeiten zwiſchen Rappiften und 
Leoniften war auch nad) Württemberg gedrungen. Rapp richtete 
daher an die dortigen Separatiten, welche ihn um genauere Aus- 
funft über diefelben angingen, folgendes Schreiben: „Laßt eud) 
nicht irren, daß falfche Nachrichten ausgejtreut find ; denn jo mußte 
es fommen, daß in den lesten Tagen die Schriften des Alten 
und Neuen Teitaments erfüllt würden und alles ans Ziel laufe. 
Alle Schidjale, welde wir erlebt, find nur Entwidlungen 
zu einem höhern, geijtlihen Leben hinaufdeitilliert 
zu werden, welches immer eine Feine Zahl ausmacht, welche 


300 Raufder 


die breite Straße verlaffen und den ſchmalen Fußpfad der Nach: 
folge Chrifti freimillig erwählen. Der Geiſt Chrifti will uns zu 
einer höhern Bildung in das geiftlihe Haus des urfprünglichen 
Lebens bereiten. hr habt mit euren Vorwürfen recht nach den 
Borurteilen unfrer Feinde, aber nicht gut gezielt noch weniger gut 
getroffen. Ach erkannte Broli (Leon) auf den eriten Anblid, daher 
er in den eriten zehn Tagen die Stadt verlafjen follte. Aber böfe 
Buben, denen der Weg der Befehrung zu ſchmal und zu eng mar, 
vereinigten fi mit ihm und feinen Konforten bei 40 Berfonen, 
er verſprach, Geld zu machen, alle Geheimnifje, die er befite, ſeien 
ihm von Gott anvertraut. Er fei gefandt als Borjteher der Har— 
monitengemeinde und einen großen Tempel zu bauen für die Stadt 
Gottes, das neue Serufalem, zu dem ich der Mann nicht jei, da- 
her müfje ich abaefchafft werden. Der größere Teil der guten 
Menſchen war mit uns, die Feinde wurden zu Spott, die Gerichte 
Gottes haften ſchwer an ihnen. Gäntjen, ihr Advokat, erfann 
allerlei Bosheit über mich, welche die Gottlofen beſchwören follten. 
Nun iſt weiter nichts gefchehen, als daß der Leib unfrer Gemeinde 
vom Unrat gereinigt und unterdejjen fein Wachstum defto frifcher 
befördert wurde. Unfer Grund, den wir vor dreißig Jahren ge: 
gründet, daß niemand nichts Eigenes hat, jondern 
allesGeiftlihe undXeiblihe gemeinfhaftlich Ay.4,32.) 
bat fih bisher unter taufend Stürmen erhalten, 
daran wir die gewaltige und mächtige Hand des Herrn erkennen. 
Denn weil die gemeinfchaftlihe Sache der Kirche Chrifti nach dem 
eriten Mufter der Apoftelzeit etwas ganz Fremdes und Neues ge: 
worden iſt der jegigen Melt, welche nur auf äufere Moral der 
Selbitheit baut und die politische Freiheit und Aufklärung nur zu 
gewiß den Abfall befördert, dadurch die Religion Chriſti nad und 
nach unachtſam wird, deito mehr gebührt uns zu wachen, und wer 
noch einen Funfen vom großen Urlicht befitt, (vgl. S. 270 unten) 
möge es durch den empfangenen Geilt nach Joh. 14, 16. durch 
eine völlige Übergabe vermehren, und eine himmlifche Erde finden, 
daß der Lebensbaum drein verpflanzt werde, welcher bald Früchte 
bringen mag für und und unfer Brudergefchlecht, welches unfre 
Gemeinde in einem kleinen Ertrag genießt und foftet und für alle 
Widermärtigfeiten, welche fie jest ſchon duldet, reichen Erſatz ein- 


Des Separatiiten ©. Rapp Leben und Treiben. 301 


erntet, weil groß Fried und Einigkeit unter ung wohnt, denn die 
Anfechtung vereint gleiche Dulder.“ t 

Damit feine ungünjtigen Nachrichten über feine Gemeinde nad) 
außen dringen, diktierte Rapp die Briefe, welche abgejchidt wurden, 
entweder felbft oder unterfuchte fie wenigſtens vorher genau, die 
von auswärts einlaufenden aber erbrady er, las fie und behielt fie 
je nad) Erfund zurüd, Wie wenig feine Behauptung, daß unter 
den Seinigen großer Friede und Einigkeit wohne, mit der Wahr: 
heit übereinftimmte, beweijen abgejehen von den Leoniſtiſchen 
Streitigfeiten, den wiederholten Austritten und Ausftoßungen aus 
der Gemeinde, folgende zwei Vorkommniſſe mit feinem Adoptiv: 
fohn. Als Friedr. Rapp einmal einem von feinem Bater an einem 
Mitglied begangenen Unrecht wehren wollte, ſchalt ihn dieſer vor 
der ganzen Gemeinde einen Lügner und Betrüger. Daraufhin 
drohte der Sohn dem Vater, er wolle ihm feine Gewalt zeigen 
und ihn aus dem Haufe jagen, (da auf Fr. Rapps Namen das 
Bermögen der Geſellſchaft eingetragen war). Troß der erfolgten 
Ausföhnung erhielt dur diefen Auftritt der Glaube an Rapps 
erhabene Würde einen Stoß. Cine noch ärgerlichere Scene aber 
ereignete ſich unmittelbar vor dem Tod des Fr. Rapp. Diefer 
war, von einer Gejchäftsreife zurücgefehrt, in eine fchwere Krank: 
heit verfallen und berief im Vorgefühl feines nahen Endes Die 
Alteſten von Elonomy, um ihnen zu eröffnen, daß alle Gefchäfte 
bisher unter feinem Namen betrieben und das ganze Vermögen 
der Gefellichaft gerichtlich ihm zugejchrieben ſei, er fünne nicht im 
Frieden jterben, ohne fie hievon in Kenntnis zu jeßen und ihnen 
als den rechtmäßigen Beſitzern das ganze Vermögen zurüdzugeben. 
Als G. Rapp dies erfuhr, verfammelte er die Gemeinde in der 
Kirche und Schalt feinen Sohn einen höllifchen, teufliſchen Menfchen. 
Das Zeichen dafür, daß, was diefer gethan, falſch und gottlos fei, 
werde dies fein, daß er noch vor Abend jterben werde, was denn 
auch wirklich geſchah. (8. Juli 1834). Died machte die Ekono— 
miten um fo milliger, eine Urkunde zu unterzeichnen, in welcher 
Rapp als alleiniger Befiter der ganzen Kolonie famt allem aus— 
wärtigen Eigentum feitgejeßt und bejtätigt wurde. 


1 Ehriftenbote Jahrgang 1834 und 1835. 


302 Raujder 


Rapp überlebte feinen Adoptivfohn um dreizehn Jahre und 
wußte jich fein Anjehen bis an fein Ende zu erhalten. Faft neun: 
zigjährig erkrankte er an einer ſchmerzhaften Krankheit und predigte 
no einmal vom Kranfenzimmer aus der im Garten verjammelten 
Gemeinde. Er ftarb am 7. Auguft 1847 mit den Worten: 
„Wenn ich nit fiher wüßte, daß es des Heilands 
Wille fei, ih folleeud ihm voritellen, vannglaubte 
ih faſt, mein legtes Stündlein habe gefhlagen“ 
(In Gegenwart 1879, ©. 39) und murde neben den übrigen 
Mitgliedern auf dem als DObjtgarten angelegten Kirchhof, welcher 
eine prächtige Ausficht auf den Ohio gewährt, beerdigt. Kein 
Leichenſtein bezeichnet feine Ruheſtätte, ja man bemühte fich den 
Begräbnisplag verfchwinden zu machen, damit nicht der Blid der 
Seinigen an der Erde haften bleibe. Dem Rapp folgte als geift- 
licher Borfteher der Gemeinde Romelius Bader, ein umſich— 
tiger und milder Mann, welcher den Ekonomiten auch befjere Koft 
und Kleidung zufommen ließ. Seit 1871 ift das Regiment in 
ven Händen von Jak. Henrici, melder feine Ausbildung auf 
einem Schullehrerfeminar in Deutjchland erhalten, und Rapp, 
wenn auch nicht an Anfehen, doch an fanatifchem und deſpotiſchem 
Geiſt ebenbürtig ift. Der Haß Rapps gegen die Geiftlichfeit der 
Landeskirche ift auf ihn übergegangen und blidt er auf jene als 
„handwerksmäßige Beter“ mit Verachtung herab. 

Die meiften Berichte über die amerikaniſche Wirkſamkeit Rapps 
jind voll von feinem Lob und feiern ihn als einen der Männer, 
welche Deutihland im Ausland Ehre gemadht und von jedem 
Amerifaner mit hoher Achtung genannt werden. Rapp hat — fo 
wird gefagt — durch feine große Energie und Gejchäftsfenntnis 
Ekonomy zu einer Mufterwirtichaft, zum unerreihten Vorbild vieler 
ähnlihen Unternehmungen gefchaffen (alle Erzeugnifje der Erde 


ı 2, Weil (Zehnder) berichtet von Henrici bezüglich feiner Eltern, 
die Efonomy verlafien und fih in Pittsburg niedergelajjen, zwei be- 
zeichnende Ausſprüche. ALS die totfranfe Mutter den Sohn vor ihrem 
Ende noch einmal zu ſehen wünjchte, ließ er ihr die Antwort zufommen: 
„Weib, was hab ih mit dir zu ſchaffen?“ Auf die Einladung zur 
Zeilnahme an der Beerdigung jeine® Vaters jchrieb er auf einen 
Bettel: Luc. 9, 60. 


Des Separatiften G. Rapp Leben und Treiben. 303 


find dort in der größten Vollkommenheit vorhanden, die Tiere, 
Schafe, Rinder, Pferde aufs beite gepflegt) der in ausgedehnten 
Feldern, Kohlenminen, Erdölquellen, Fabriten und Eifenbahnen 
beitehende Reichtum der Kolonie ift außerordentlich, aus den ziwanzig- 
taufend Dollars, welche die Einlage der Rapptiten im Jahr 1805 
bildeten, find im Laufe von etlichen und fiebenzig Jahren elf bis 
zwölf Millionen Dollarö geworden.* Doch das feltene Organija- 
tionstalent und die großen Leitungen Napps auf dem praftifc 
indujtriellen Gebiet gerne zugegeben, welches war denn fein reli: 
giös-ſittlicher Charakter? In dieſer Hinſicht jtehen ſich 
entgegengeſetzte Urteile gegenüber. Während er den einen ein 
verſchmitzter Heuchler iſt, welcher unter dem Schein der Freiheit 
und Gleichheit die Mitglieder ſeiner Geſellſchaft in ſchmählicher 
leiblicher und geiſtiger Knechtſchaft hielt, ein eigennütziger, herzloſer 
Menſch, welcher für ſich in großer Herrlichkeit lebte, den Seinen 
aber das härteſte Leben zumutete, und nur durch die Vorſpiegelung, 
der Vertraute Gottes und bei der Wiederkunft Chriſti der Richter 
der Seinigen zu ſein, die Gewalt über dieſe nur künſtlich zu be— 
haupten wußte, ein in religiöſen Nimbus gehüllter Sklavenhalter 
(Wagner), erſcheint er den andern als ächter Gottesmann und 
Glaubensheld, deſſen bloße Annäherung Ehrfurchtsſchauer erweckte, 
— „böſe Gedanken vermochten nicht vor ihm ſtand zu halten, wenn 
wir Schlimmes vorhatten und begegneten ihm auf der Straße, ſo 
änderten wir unſer Vorhaben und gelobten in der Stille gut zu 
fein,“ — das Vorbild lauterſter Selbſtloſigkeit und Opferwillig— 
keit, ein eigentlicher Heiliger und zugleich ein Vater voll herzlicher 
Liebe, dem alle in unbegrenzter Ehrfurcht anhingen. (Die Gegen— 
wart 1879, S. 83). Wir können uns keinem von dieſen beiden 
einander entgegengeſetzten Urteilen ohne weiteres anſchließen. Rapp 
war immerhin — dies dürfte ſchon aus dem Gegenſatz der Urteile 
über ihn erhellen, — eine bedeutende Perſönlichkeit, ein Mann von 
hellem, klarem Verſtand und feſtem, eiſernem Willen, daneben beſaß 
er religiöſe Begabung, chriſtliche Erfahrung und große Beredſam— 
keit — wie hätte er ſich ſonſt über vierzig Jahre als Haupt der 


1So Pfleiderer, amerik. Reiſebilder. Andre taxieren das Ver— 
mögen noch höher. 


304 Raujder 


Geſellſchaft in fait ungeſchwächtem Anfehen behaupten können ? — 
Der hervorftehendfte Zug aber in feinem Charakter ift ein unge- 
mefjenes Selbitgefühl, vermöge deflen er fich von feinen 
Gemeindeglievern dur eine weite Kluft gefchievden mußte. Aus 
diefem Selbitgefühl entwidelte fi eine maßloſe Herrſchſucht, 
weshalb Dr. Mann von ihm fagt, e3 fei ein Papſt an ihm ver- 
loren gegangen. Die Sade der Seinigen ijt e8, blindlings wie 
eine Herde Schafe von ihm ſich leiten zu lafjen. Seiner alle 
andern weit überragenden Stellung giebt er dadurch eine religiöfe 
Unterlage, daß er fi für ein höheres, der Gottheit näher ftehen: 
des Weſen, für eine Mittelsperfon zwiſchen Gott und den Men: 
ſchen (val. S. 294) außgiebt und fich das Gericht bei der Wieder: 
funft Chrifti zufpridt. Wir möchten jene hohe Meinung von fi, 
weldhe er bis an fein Ende feithielt (S. 302), einen religiöfen 
Größenwahn nennen. Aus dem Hochmut fam die rüdfichtslofe 
Härte und Kälte, mit der er jeden Widerfpruch gegen feine Per- 
jon niederdonnerte und mit den ſchwerſten Strafen in diefer und 
jener Welt bedrohte. Ein befonders fprechender Beweis herzlofer 
Kälte ift fein Benehmen gegen feinen fterbenden Adoptivfohn (©. 
301). Ein weiterer Zug in Rapps Charakter ift der irdiſche 
Sinn. Diejen zeigte er nicht bloß durch den großen Eifer, mit 
dem er troß der erwarteten nahen Zukunft de Herrn auf die 
Sammlung wdiisher Schätze bedacht war, fondern noch vielmehr 
dur fein Wohlleben in Pracht und Herrlichkeit, während er den 
Seinigen zu ihrer Vollendung ein ftreng adcetifches Leben zumutete. 
So wenig daher Rapp nad) dem Bisherigen als ein Heiliger er- 
Icheint, jo wenig dürfen mir ihn einen Schwärmer nennen, er war 
eine durch und durch realijtifche Natur. Andererfeit3 wäre e8 un- 
gerecht, ihn geradezu für einen Betrüger zu erklären, der unter der 
Maske der Religion feine Herrfchergelüfte zu befriedigen gefucht 
hätte. Er ift von religiöfen Motiven ausgegangen und eritrebte 
die Miederheritellung des apoftolifhen Chriftentums, aber die 
chriſtlichen Motive wurden bei ihm immer mehr von felbitifch- 
weltlihen Elementen überwucdert, fo daß wir bei ihm eine mehr- 
fache Verzerrung der hriftlihen Wahrheit finden, nachdem er im 
Geift angefangen, hat er im Fleifch geendet. Seine Leiftungen 
auf dem ölonomifhsinduftriellen Gebiet mögen 


Des Separatijten G. Rapp Leben und Treiben. 305 


alles Lobe 3 wert fein, aber als Charakter betradtet 
erfheint er uns nicht als eine fittlih imponierende, 
fondern als eine abjtoßende Perſönlichkeit. 

Bliden wir von feiner Perſon auf feine Gemeinde. 
Diefe erklärt er für das mit der Sonne bekleidete und in die 
Müfte geflüchtete Weib Offb. 12, 1. 6. d. h. die wahre Kirche, 
welche das längjt verlorene urapoftolifche Leben aufs neue vermirf- 
ficht hat und in der Gemeinfamfeit aller leiblichen und geiftlichen 
Güter die Früchte des himmlischen Zebensbaums in einem Keinen 
Ertrag genießt.” (S. 300) Aber zu einer apoſtoliſchen 
Geijtesgemeinde fehlen Efonomy ſehr wefentlide 
Momente Mo der Geiſt des Herrn tft, da iſt Freiheit 2 Cor. 
3, 17. ftatt evangelifcher Freiheit finden wir jedoch dort geſetzliches, 
knechtiſches Wefen. Während die Chriſten zu Serufalem das 
freie Verfügungsrecht über ihr Vermögen hatten Ap. 5, 4. wurden 
die Rappiſten zu WVerzichtleiftung auf jegliche Entſcheidung über 
dasſelbe genötigt. Auch mar der unevangelifhe Cölibat eine 
Zwangseinrichtung, bei welcher ärgerliche Vorfälle nicht ausblieben 
(Mardworth a. a. D.). Wie aber die Freiheit, jo fehlte in Efo- 
nomy die brüderliche Gleichheit. Die Apojtel wußten ſich trotz 
ihrer fpezififchen Stellung innerhalb der Gemeinde, doch Hinficht- 
lih des Heilsgewinns in gleicher Abhängigkeit von Chrijto. Rapp 
dagegen vindiziert fich eine Mittlerjtellung zwiſchen Gott und den 
Menfhen und fnüpft an den unbedingten Gehorfam gegen alle 
feine Befehle die Seligkeit der Gemeindeglieder, er nimmt im Kreis 
der Seinigen diefelbe Stellung ein, welche der Papſt im großen 
Ganzen der Tatholifhen Kirche inne hat. Die richtige Analogie 
für Ekonomy finden wir daher vielmehr in der Fatholifchen Kirche 
al3 in der urchriſtlichen Gemeinde; die Rappiſtiſche Geſellſchaft iſt 
im wejentlihen ein unbeabfichtigte® Nachbild des Mönchslebens, 
welches die potenzierte Form der Fatholifchen Frömmigkeit darftellt, 
oder find die oben genannten drei Prinzipien der Gefellfchaft, 
Willenlofigfeit, Eigentumslofigfeit, Chelofigfeit nicht ganz dasſelbe, 
mas die drei Mönchsgelübde, Gehorfam, Armut, Keufchheit be- 
ſagen? 

Ekonomy wird oft und viel wegen ſeiner ſozialiſtiſchen 
Geſellſchaftsordnung genannt und namentlich in amerikani⸗— 

Theol. Studien a. W. VI. Jahre. 29 


306 Raufder 


ſchen Berichten als der bejtgelungene Verſuch eines praftifch durch: 
geführten Sozialismus gepriefen. Die Rappiiten, jagt man, find 
dadurd, daß jie in brüderlicher Gleichheit, Güter- und Arbeitäge- 
meinfchaft lebten, zum größten Wohlitand gelangt. Wir haben 
aber oben gezeigt, wie wenig dort brüderliche Gleichheit beitund, 
jofern alle Glieder der Geſellſchaft nur Arbeiter im Dienſt Rapps, 
des einzigen Eigentümers des Gejamtvermögend waren. eine 
Reichtümer verdankt Ekonomy hauptjächli der großen Selbjtver- 
leugnung der Glieder, welche Jahrzehnte lang bei harter Arbeit 
mit geringer Koſt vorliebnahmen, aber auch die Ehelofigfeit dürfte 
hieber nicht ohne Einfluß gewejen fein und mit gutem Grund wird 
behauptet, Rapp fer zur Einführung derfelben nicht allein durch 
religiöfe Motive, fondern auch durd) die Erwägung bejtimmt wor- 
den, daß durch die Ehe das Vermögen verringert werde. Die heu— 
tigen Sozialiften würden ſich mit ihren Anfprüchen an den gleichen 
Genuß und den gleihen Anteil aller an das Gefamtvermögen in 
die Rappifche Ordnung nie zu fchiden mwiffen. Die Rappifche 
Geſellſchaft ruht ferner im Gegenfat zur heutigen Sozialdemofratie, 
welche das Chrijtentum haft, „weil es das Proletariat mit Wechfeln 
auf den Himmel betrüge”, durchaus auf religiöfer Grundlage, der 
Glaube, daß fie „die Leibgarde des Heilandes“ feien, und die -» 
Hoffnung, ! daß der Herr demnächſt vom Himmel fommen werde, 
war dad Band, welches die Glieder zufammenhielt und vor Zer— 
itreuung bewahrte. Endlich ift zu bedenken, daß Die Rappiſche 
Gejelihaft eine Singularität geblieben und nicht vermocht hat, 
ji) weiter auszudehnen, vielmehr jett nach achtzigjährigem Beſtehen 
ihrer Auflöfung nahe ijt.‘ 

1 Manche Wohnungen in Ekonomy ſtehen verödet, die jetzige Stille 
daſelbſt macht auf den fremden Beſucher den Eindruck, wie wenn die 
einſt ſo blühende Niederlaſſung „der Kirchhof eines bedeutenden Mannes 
ſei.“ Nach einer Mitteilung des Pfarrer Müller in Beaver Fall be— 
fanden ſich vor zwei Jahren in Ekonomy noch ſiebenzig Perſonen, im 
Alter von ſiebenzig bis neunzig Jahren, von denen ein Viertel Männer, 
drei Viertel Weiber ſind, jetzt ſind es noch weniger, einzelne adoptieren, 
um nicht zu ſehr zu vereinſamen, Kinder von ihren Arbeitern; das 
Vermögen der Geſellſchaft iſt auf den Namen des obengenannten Hen— 
rici eingetragen, dem als weltlicher Vorſteher ein gewiſſer Lenz zur 





Des Separatijten &. Rapp Leben und Treiben. 307 


Fügen wir noch einige Bemerkungen über das kirchliche 
Leben und die dogmatiſche Lehrweiſe der Rappiften an. 
Die Kirche in Elonomy, in Mitten der Stadt gelegen, erinnert an 
eine württembergiſche Dorfkirche. Die Lieder werben bei dem 
Gottesdienft meift jehr fchnell und zum teil nad Luftigen Weiſen 
gefungen. In der Predigt wird viel allegorifiert, als Lieblings— 
buch gilt die Dffb. Joh. Sonntag? finden zwei Gottesdienfte 
ftatt. An Sonntag Nacmittagen oder Abenden hört man öfters 
ihre Mufitbanden fpielen, eine Freiheit bezüglich des amerifantfchen 
Sabbat3, welche in andern chriftlichen Kirchen unerhört if. Am 
Montag Abend kommen die Männer, am Donnerstag die Weiber 
im untern Saal de Muſeums zufammen, um fi” mit einander 
über ihre inneren Erfahrungen zu beſprechen. Außer den chrift: 
lichen Hauptfeiten begehen fie von Gefellfhaftswegen drei Fefte: 
die der Gründung am 15. Februar; das Erntefeft früh im Herbft 
und eine Agape mit dem heiligen Abendmahl verbunden, Ende 
Dftoberd. Bei den Agapen joll ein ſehr heiterer Ton herrfchen und 
follen diefe mehr einer ſchwäbiſchen Kirchweih ähnlich fein. Ein 
bei folhen Feiern gefungenes Lied (Gefangb. Nr. 246) beginnt 
mit den Worten: 

In froher Eintracht find wir Hier, als Bürger, Freunde, Brüder, 

Aus Einer Kaffe leben wir und fingen Freudenlieber, 

Wir bringen uns in freier Ruh, Gefundheit und Vergnügen zu, 
Lebt, lieben Brüder, Iebet! 

Während die in Ekonomy geborenen Kinder gemieteter Ar- 
beiter durch den Pfarrer aus dem benachbarten Beaver Fall ge 
tauft werden, vollzieht Henrici ohne Bedenken die Konfirmation 
derjelben. Die Vorbereitung auf das heilige Abendmahl tft ſtreng 
und wird auf Verfühnung und Ausgleihung aller etwaigen Strei- 
tigteiten nad Matth. 5, 23. gedrungen. Die Privatbeichte wird 
in Fällen befonderer Verfündigung noch aufrecht erhalten, aber 
nicht mehr in dem Umfang wie zu Rapps Zeiten geübt. Das 
Abendmahl wird nicht in der Kirche, ſondern im Mufeumzfaal ge: 
feiert, wobei die Gäſte um den Tifch fiten, die Vorfteher aber mit 
Brot und Wein herumgehen, bei jedem die Einfegungsmworte mwie- 
Seite fteht. Schon feit mehreren Jahren ift ein großartiger Erbichafts- 
prozeß gegen die Rappiften eingeleitet. 

20* 


308 Raufder 


derholend. Der Kirchhof enthält feinen einzigen Grabftein oder 
irgend eine Inſchrift, nur ein kleiner Blumenſtock oder Strauch 
deutet den Ruheplatz eines Abgeſchiedenen an. Die Gemeinde ver- 
fammelt fih nad Art der Herrnhuter jährlih einmal auf dem 
Kirchhof, wobei ihre Lieblingslieder unter Muſikbegleitung gefungen 
werden. 

Hinfihtlid der dDogmatifhen Lehrweiſe begegnen 
wir bei den Rappiften den myſtiſch-theoſophiſchen Ideen 
des Saf. Böhme 3.3. mwird daß tohu vabohu 1 Moſ. 1,2. 
auf das durch Luzifers Fall aus früherem xoouog entitandene Chaos 
gedeutet. Aus diefem halbchaotiihen Zuftand hat fich die Erde nie 
herausgearbeitet und alle Revolutionen der Naturfräfte, welche die 
Ruhe und Drbnung ftören, find aus jenem Fall abzuleiten. Der 
Urftand Adams wird als ein doppelgefchlechtlicher gefaßt. Das 
Weibliche war auch in ihm. Die Luft zur Separation, zur Heraus: 
ſetzung des Weiblichen in ihm, erregt durch den Anblid der zwei Ge- 
jchlechter bei den zur Namengebung vorgeführten Tieren, ift der 
Anfang des Falls. Der tiefe Schlaf, in melden Adam verfiel, ift 
dad Refultat vorangehender großer Erregung, Während deffen 
findet die von Adam begehrte Separation des weiblichen Elements 
ftatt. Der 1 Mof. 3. erzählte Sündenfall ift die naturgemäße Folge 
und Vollendung des ſchon vorher begonnenen Falls. Ein himmelan- 
ftrebender Same oder göttlicher Funke ift auch in dem gefallenen Men- 
ſchen zurüdgeblieben, das Verlangen nach Licht, ob fte ihn doch ſuchen 
und finden möchten. Das göttliche Gebot 1 Mof. 1, 28. gilt für 
den Urftand Adams, da das Männliche und Weibliche in ihm ver: 
einigt war. Die Fortpflanzung des Menſchengeſchlechts würde 
nach diefem Gebot in einer nicht näher beftimmten Weife aus Adam 
ſelbſt ftattgefunden haben. Die Leiblichkeit Chrifti, ſowie der Heili- 
gen der eriten Auferjtehung tft diefelbe, mie diejenige Adams im 
Urftand. Der Begriff „Wiedergeburt“ wird im umfafjendften Sinn 
genommen, als völlige Wiederheritellung des göttlichen Ebenbilds 
im Menſchen, mie fie fich erjt in der zufünftigen Welt vollendet. 
Die ſchließliche Vollendung wird im apofataftatifchen Sinn erwartet. 
Auch die Gläubigen müſſen, wenn aud nur auf kurze Zeit, nad) 
dem Tod durch das Fegfeuer gehen und felbjt die Gottlofeften 
werden, wenn vielleicht erſt nach unzähligen Leidensjahren, die boden- 





Des Separatiften G. Rapp Leben und Treiben. 309 


Iofe Hölle verlaffen. Die hiliaftifchen Hoffnungen find, wenn auch 
jeit Rapps faljcher Berechnung etwas abgekühlt, Doch nicht aufge- 
geben. Als den Zeitpunkt der Wiederkunft Chrifti fcheinen fie 
nun das fiebente Jahrtauſend, das große Weltfabbatjahr zu halten. 1 
Bei dem Beginn des taufendjährigen Reichs wird u. a. die Wie- 
derfehr der Juden nah Paläſtina und ihre Gefamtbefehrung zu 
Chriſto ftattfinden. (Dr. Späth jchriftlihe Mitteilungen). 

Zur befjern Kenntnisnahme der religiöfen Dent: und An- 
ſchauungsweiſe der Rappiften dient auch ein Blid in das im Jahr 
1827 verfaßte und jegt noch im Gebrauch befindlihe „Harmo:= 
niihe Gefangbud”, welches — teild von andern Autoren, 
teild neu verfaßt — 518 Lieder enthält, zum Gebraud für 
Singen und Muſik nah Geſchmack und Umftänden zu wählen. 
Bon diefen 518 Liedern find etwa fechzig einer ältern Penſylvani— 
Ihen Duelle entlehnt „Paradieſiſches MWunderfpiel, welches fich in 
diejen legten Zeiten und Tagen in denen Abendländifchen Welt- 
teilen als ein Vorfpiel der neuen Welt hervorgethan, beftehend in 
einer Sammlung andädtiger und zum Lob des großen Gottes 
eingerichteter geiftlicher und ehebefjen zum teil publizierter Lieder ; 
Ephratae. Typ. et consensu societatis A. D. 1766. Rapp hat 


% Eigentümlih ift die bee, dab dem Kommen Chriſti fieben 
Hungerjahre vorangehen werden und, um in diefen nicht zu verhungern, 
jollen die Rappiften wenigitens in frühern Sahren die Vorkehrung 
getroffen haben, daß fte einen Teil der Früchte im geröfteten Zuſtand 
aufbewahrten. 

2 Diefe ältere Sammlung zerfällt in drei Abteilungen, am Schluß 
der erjten (445 Lieder enthaltend) fteht die Bemerkung: Hier endigen 
fi die Lieder des in Gott ehrwürdigen Vaters Friedfam Gottrecht, 
Aufſehers der Gemeinde Jeſu Eprifti in Ephrata und zugehörigen 
Orten. Die zweite Abteilung enthält die Lieder der Gefellichaft ber 
ehrwürdigen einfamen Brüder, darunter das 250 Berfe lange 
„Schwefternlied” ein Preis der geiftlihen Jungfrauſchaft. Die dritte 
Abteilung enthält die Lieder die Gott zu Ehren und zu gemeinfchaft- 
licher Erbauung von der hriftlihen Gemeinde verfertigt, die zu Ephrata 
zugehört, Die Ephratenfer verwerfen zwar nicht geradezu den Ehe- 
ftand, aber Hatten doch zwei fürmliche Klöfter für die „einſamen 
Brüder“ und die „einfamen Schweitern”, nur durch einen Heinen Fluß 
getrennt. 





310 | Rauſcher 


die entlehnten Lieder auf die Hälfte der Verſe und noch mehr 
reduziert. An den großen Liederdichtern der evangeliſchen Kirche, 
wie Luther, Hermann, Gerhard, Hiller geht er ganz vorüber. Von 
Klopſtock hat er das Lied „Zeig dich uns ohne Hülle“, von Ramler 
„Du deflen Augen floßen” (Württ. Gefangb. Nr. 135) von Schu: 
bart „Urquell aller Seligkeiten” (Württ. Gefangb. Nr. 21) von 
Prätorius „Triumph, Triumph, er kommt mit Macht“ aufge- 
nommen, Rapp hat fich vielfach felbft auf dem Gebiet der Dicht- 
tunft verfucht. Doch werden von Kennern feine Lieder geiftige 
Mißgeburten genannt, wie fie ſich mohl in feinem andern religiöfen 
Liederſchatz finden dürften. (Kein Wunder, wenn die Harmoniten 
ihr Gefangbuh mit Argusaugen hüten). Wo ihn fein eigener 
Genius im Stich ließ, verfchmähte er es nicht, feine Zuflucht zu 
Schiller, Göthe u. a. zu nehmen. Wir treffen 3. B. die Schiller’- 
fhen Worte: „D zarte Sehnfucht, ſüßes Hoffen u. ſ. w.“ und 
au der Zauberflöte den Tert: „In diefen beil’gen Hallen kennt 
man die Rache nicht.” Eine bedeutende Rolle in dem Harmoni- 
ſchen Geſangbuch fpielt die Freimaurerifhe Phrafe mit 
ihrer Hohlheit und Schmwülftigfeit. Dies beweijen z. B. folgende 
Strophen aus dem Lied Nr. 219: 


1. Jeſus Chriſtus ift der Tempelbauer, 
Salomo3 und Davids Sohn, 
Mich durchweht der Zukunft Heil’ger Schauer, 
In dem Blick auf deinen Thron 
Seh ich die Verheißung ganz erfüllt 
Und das Allerbeiligfte enthüllt. 
Mir ift jego offenbar, 
Was fonft tief verborgen war. 


2. Ein® bei Brüdern, foll ein Tempel werden, 
Wo der Geift im Dunkeln thront, 
Bo die Seel entbunden von der Erden 
Innig vor dem Vorhang wohnt. 
Abgefhieden und in Heil’ger Stille 
Mertet tief, was ihr dein Liebeswille 
Jederzeit zu thun gebeut 
Und des Thuns fi kindlich freut. 


Des Separatijten &. Rapp Leben und Treiben. 311 


3. Brüder kommt, erhebet das Gemüte 
Auf des Tempelberges Höh, 
Ob ihr Schon des neuen Tempels Blüte 
In dem Geift von ferne jeht. 
Rauter Tebensvolle Bäume fprofien, 
Libanon erhabene Cedern ſchoſſen, 
Steine wachſen, glei Kryſtall, 
Die aus Felfen überall. 


4. Wann wirft du, o Salomo erjheinen ? 
Alles blickt zu dir hinauf, s 
Bann wirft du aus lebendvollen Steinen 
Bauen deinen Tempel auf? 

Schau, ung drüden kummervolle Zeiten, 
Löw aus Juda, fomm für und zu ftreiten, 
Komm befteige deinen Thron 

Salomos und Davids Sohn. 


5. Dann wird erſt der Tempelbau beginnen, 
Alles wartet drauf von außen und von innen, 
Und man fieht in kurzer Zeit 
Strahlend ſich die Binnen Hoch erheben, 
Türmen gleich zum hohen Äüther ftreben, 

Und in ihren Spigen bricht 
Sich das fiebenfarb’ge Licht, 


Die Beziehung der Rappiften zu freimaurerifhen Ideen ſcheint 
aud durch das eigentümliche Anfehen bezeugt, in welchem ein 
ſeltſames Dofument bei ihnen fteht, betitelt: .„Hirtenbrief an 
dieädhten und wahren Freimaurer alter Ordnung 
im Jahr 5785*. Dasfelbe wurde im Jahr 1855 wieder abge: 
drudt und in den einzelnen Wohnungen verteilt. Obwohl felbft 
feine Freimaurer, jo halten die Rappiſten doch dieſes Schriftitüd 
wegen der darin enthaltenen af. Böhme'ſchen Theofophie hoch in 
Ehren. Unter der Rubrif „Bon der wahren Weisheit” 
findet fih in dem Geſangbuch eine Reihe fehmwülftiger und über- 
ſchwänglicher Ergüffe an Sophia. (Wer mit dem Namen Sophia 
in ihre Mitte fommt, muß ihn ablegen und einen andern annehmen. 
Kein Menſch fol diefen Namen tragen). Es ftehen hier die An- 
fangszeilen eine® Sophienlied3. 


Oo — — — 


312 


Raufder 


fe 


. Angenehme Lieblichteiten find der Sophia gemein. 
. Hier ftund Sophia, die Lüfte haben Heilig fie berührt. 
. Im stillen Thal da ftund voll Reizen mir Sophia im 
Mondenfdein. — 
(Mit dem Refrain: 
Nichts, o Sophia, ohne dich, 
Ich liebe dich, 
Reih du mir deine Bruft.) 
4. D Sophia beim frohen Reiz des Lenzen. 
5. D Sophia mein Licht und Lebenspforte. 
6. D Sophia, teur Holde, deren Anblid mich entzüdt, 
Götterfreiheit hallts in Lüften, 
Götterfreude ruft der Bad, 
Götterhuld u. j. w. 
7. D Sophia, warın bie Liebeshände 
Durch der Dornen rauhen Roſenbuſch 
Mir die Bahn mit deiner Vorſicht wende, 
Lab mir ſchweben meinen Schattenbufd (!!) 


> m 


Die Krone diefer Sophienlieder ift aber dasjenige, welches 


mit den Worten beginnt: 


Als mir der Abend graute, Sophia bei mir ftand, 

Und forfhend auf mich ſchaute, noch über'm Felſenland u. f. w. 

Sch ſah auf fernen Sprofien, der Felsruinen Lag, 

Wie magisch ausgegofien, den filberweifen Tag, 

Wo ale Geifter fchweigen und wie ein Schlummergrab, 

Wo ihre Wünſche fteigen, Wie Thränen ftill herab. 

Im ftillen Haingetöne, Wann ftill das Weltgemühl, 

Und aud die Mondsmaſchine (!) Sit fanft wie das 
Gefühl. 

Wann dämmerndes Vergeſſen, Was in Verweſung 
geht, 

Von himmliſchen Cypreſſen, der Oſtwind zu uns 
weht — — 

So hat ein tiefes Sehnen, Mir Sophia eingeflößt, 

Und ein Gefühl von Thränen die Ahndung aufgelöst. 


Diefer Gallimathiad wird nah der Weife „Befiehl du deine 


Wege” gefungen. Dr. Späth, dem wir diefe Mitteilungen ver- 
danten, bemerkt, ein Blid durch das Harmonifche Geſangbuch zeige, 
wie die ehelofen Brüder und Schweitern Elonomys ihre geiftlichen 


Des Separatiften &. Rapp Leben und Treiben. 313 


Ziebeslieder in der glühendften Sprache des Hohenlieds nur ohne 
feinen Geift und Poeſie — die Brüder an Sophia, die Schmweitern 
an Salomo — fingen. 

Die mitgeteilten hymnologifchen Proben dürften hinreichen, 
um und die Sprahe und den Geift des Harmonifchen Gefang: 
buchs zu veranfchaulichen. Die Form ift gefehmadlos, die Sprache 
oft verworren und hohl, der Inhalt vielfah unevangeliih. Wenn 
Rapp die klaſſiſchen, evangelifchen Liederdichter ganz ignoriert, da— 
gegen aus Schiller und Göthe Lieder zur religiöjen Erbauung 
erborgt, wenn er den Freimaurerifhen, auf der Religion des 
natürlichen Menſchen bafierten Ideen einen fo breiten Raum ver: 
ftattet und von Götterfreiheit und Götterfreude fingt, jo erinnert 
und dies an ein Wort Bengels, daß, wenn man nad) der Sepa- 
ratiften Prätenfion Kirche, Predigt und Katechismus abjchaffen 
wollte, innerhalb fünfzig Jahren eine ſolche Barbaries fein würde, 
daß man nimmer wüßte, der Sohn Gottes fei auf Erden gemejen. 

Mir hoffen, den Lefer durch unfre ausführlide Darftellung 
nicht allzufehr ermüdet zu haben. Sit e8 ja doch neben dem 
jeftengefchichtlihen und fozialpolitifhen auch ein eminent pjychole- 
gifches Anterefje, welches Rapp und feine Stiftung in Anfprud 
nehmen darf. Nicht nur zeigt fi) uns bei ihrem Gründer fait 
unentwirrbar verſchlungen für menjchliches Urteil ein Ineinander 
von fleifchlihen und geiftlihen Motiven, welches das gerechte Ab- 
wägen faft unmöglich macht, wir fehen auch, welche Kraft jelbit 
auf weltlihem Gebiet dem religiöfen Gedanken auch in feiner 
Verzerrung und Trübung noch innewohnt, wir fehen, zu welchen 
beifpiellofen Opfern die rückſichtsloſe Energie eines einzigen religiös 
erregten Willen? ganze Scharen von Menjchen hinzureißen ver: 
mag, zugleich aber offenbart fich in der Gefchichte der Rappifchen 
Sekte auf? neue die alte Wahrheit, wie wenig auf die Dauer ein 
Losreißen von den gottgeordneten Bedingungen des natürlichen 
Lebens ſich haltbar erweist, und wie die Sfolierung vom größern 
Ganzen der Kirche, weit entfernt, etwas Volllommeneres zu jchaffen, 
zulegt zur Unfruchtbarkeit und Erftarrung führen muß. 


314 Schneider 


Die Ricdenvifitation von 1551 und 1558 


in Stadt und Amt Stuttgart. 
Bon Dr. Gugen Schneider. 


I. 


Am 1. Auguft 1551, alfo noch während des Interims, erhielt 
M. Martin Cleß, genannt Ühinger, Prediger bei ©. Leonhard 
und Spezialfuperattendent zu Stuttgart, den Befehl, Stadt und 
Amt zu vifitieren. Er follte fragen nach der Lehre des Pfarrers, 
nad Katechismus, jonntäglicher und feiertäglicher Predigt, Gebet 
vor und nad derjelben, Palmen und Lobgefängen, Nadhtmahl 
und Privatabfolution der Kranken, Leichenpredigten, Nachtmahl 
in der Gemeinde ſamt vorhergehender Exploration; beizuziehen 
waren überall der Schultheiß und zwei des Gerihts. Der Bericht 
wurde am 16. Dezember im Beifein des Johann Brenz und des 
Kaspar Gräter angehört. Cleß zog am 10. Auguft in aller Stille 
zu Blodhingen bei einem gottesfürdtigen Mann ein, mit dem 
er ſich der Kirche halb freundlich befprad. Der Probſt von Nel- 
lingen als Kollator hatte einen Michael Widmaier als Pfarrer 
dahin verorbnet, der dad pure alte Babjttum wieder angerichtet. 
In der Lehre Hat diefer den Hiob einen Propheten genannt, 
Pſalmenſtellen nennt er Worte des Petrus, das Bild, daß der 
Satan umbergehe wie ein brüllender Löwe, hat er dem Evange- 
liften Lukas zugefchrieben. Er bat den Diterftod um das Feld, 
da8 Sakrament um den Eich getragen und den SHerrgott gen 
Himmel fliegen laſſen. Die neuen Eheleute zwingt er zur Ohren 
beichte. Sein Leben ift nicht? als Saufen und Praſſen. Noch 
iſt der alte evangelifche Pfarrer vorhanden, der mehr ala zwanzig 
Sahre die Pfarrei innegehabt, Kaspar Kner; er hat feither feine 
Güter bewirtfchaftet und in der Bibel ftudiert. Man follte mit 
dem Probft von Nellingen handeln, daß dieſer wieder angeftellt 
würde, um jo mehr al3 der jegige Pfarrer eine gute Pfründe in 
der Schweiz hat. Der Probſt hat ja auch zu Hebelfingen einen 
evangelifhen Pfarrer geduldet, — Verzehrt an eigenem Geld vier 
Batzen. 

Am 11. Auguſt wurde zu Obereßlingen der Pfarrer 
Johann Butzmann als rechtſchaffener Diener der Kirche befunden. 


Die Kirchenvifit. v. 1551 u. 1558 in Stadt u. Amt Stuttgart. 315 


In der Kirche iſt Fein Taufitein, jo daß alle Taufen im Haus 
gehalten werden, was abbeitellt wurde. Da feither Werktage: 
predigten nicht üblich waren, ift dem Schultheißen befohlen worden, 
einen geeigrieten Tag dem Pfarrer anzuzeigen. Das Pfarrhaus 
ift baufällig; der Heine Zehnten wird fahrläffig gereicht. 

Am 12. Auguft ift der Spezial in Plieningen. Der 
Pfarrer M. Zahariad Hübler aus Heideläheim in der Pfalz, ein 
rechtichaffener. Diener der Kirche, hält das Abendmahl in der Ge- 
meinde nur zwei bis drei mal jährlich, jtatt ſechs bis acht mal; 
ebenjo unterläßt er die Werktagspredigten. Der Schultheiß neigt 
mehr zum Abt von Bebenhaufen und feiner Neligion; der beben- 
häuſiſche Pfleger liefert dem Pfarrer die Befoldung unregelmäßig. 

Nah Plieningen iſt auch der Pfarrer Johannes Miller von 
Kemnath mit Schultheiß und den zweien des Gericht befchie- 
den worden. Auch er ift ein rechtichaffener Diener der Kirche, 
hält aber gleichfall8 Feine MWerktagspredigten und feiert unregel- 
mäßig das Nachtmahl. Er hat Rohrader fait ein Jahr verfehen, 
ohne etwas dafür zu erhalten. Sein Weib braudt dad Maul 
gegen die Leute. Der Zehnten wird fahrläffig gereicht. 

Am 13. Auguft wird in Bernhaufen vifitiert: Pfarrer 
Chrijtoph Sachs ift ein rechtichaffener Diener der Kirche, hält aber 
auch das Nachtmahl unzeitig. Das Pfarrhaus ift baufällig. Sie 
haben fünf arme Waifen im Dorf und bitten um Miedererftatt- 
ung der einen Kaplanei zu deren Unterhalt. Die Kinder müſſen 
über Feld zur Schule, und doch ift es ein frommes, gottesfürd;- 
tiges Völklein und hat viele feine Kinder, die gerne zur Schule 
gingen. 

In Bernhaufen find zugleih die Pfarrer von Sielmingen, 
Bonlanden, Plattenhardt und Echterdingen erjchienen. In Siel: 
mingen ift neben dem Pfarrer Johannes Schopff ein eigener 
Schulmeifter. Die Leute der ganzen Gegend laufen einem Bau: 
berer in Holsgerlingen zu. In Bonlanden it Pfarrer Michael 
Baumeifter fehr fleißig , hat etwa ſechszig Kinder in der Schule. 
Keine Wochenpredigten, unzeitiges Halten des Nachtmahle. In 
Plattenhardt iſt Bartholomäus Kaifer ein rechtfchaffener 
Diener der Kirche, hält feine Wochenpredigten. Ein Chorrod ift 
nicht da. Das Pfarrhaus ift baufällig. Die Leute laufen zum 


316 Schneider 


Zauberer nach Kappishäufern. Sie bitien um einen Schulmeifter. 


In Ehterdingen ift Jodokus Scholl ein rechtichaffener Diener 


der Kirche. 

Bon Bernhaufen reitet der Spezial um zwei Baben nad 
Stuttgart, um am folgenden Tage, 14. Auguft, m Walden- 
buch diefe Pfarrei und die von Steinenbronn zu vifitieren. Pfarrer 
Beit Engel ift ein rechtfchaffener Diener der Kirche. Der Scult- 
heiß von Waldenbuch fagt: weil man dieje Lehre haben wolle, 
fo fei ihm der Pfarrer ein guter Lehrer. Pfarrer Georg Jäger 
aus Reutlingen in Steinenbronn hat nicht fonderlich jtudiert; 
er weiß wenig, ift aber fromm. Er geht mit Büchfen um und ift 
Glaſer. Seit Pfingften, zu welcher Zeit er gekommen, hat er 
fein Nachtmahl in der Gemeinde gehalten. Ein Chorrod ift nicht 
da. Das Pfarrhaus iſt baufällig. Dem Schultheiß befiehlt der 
Spezial, die Lafter beſſer zu jtrafen, „wiewohl ih nicht ein 
Vogt bin.” 

In Degerloh wird an demjelben Tage Pfarrer Balthafar 
Büs von Gruibingen aufgefudt. Er ift ein fehr kranker Mann; 
hat feither aus einem Beden getauft ftatt aus dem Taufftein; 
hält feine Mochenpredigten. Sein Weib hat einen räjen, herben 
Mund. 

Wieder zu Roß um zwei Batzen heimgefehrt, vifitiert Cleß 
am 21. Auguft Stuttgart. Hier find: D. Matthäus Alber, 
Stiftsprediger und Pfarrer, M. Martin Ele, Ühinger, Prediger 
bei ©. Xeonhard, M. Georg Udal, Diakon auf dem Tournier- 
ader und im Hofpital, Michael Scholl von Göppingen, Diakon 
in der Eßlinger Vorſtadt bei ©. Leonhard, Sebaftian Redele, 
Diakon in der Stadt, Leonhard Pürrle, Subdiafon in der Stadt. 
Lateiniſcher Schulmeifter ift M. Alexander Merkle von Marbach 
mit drei Kollaboratoren. Zwei deutjche Schulmeifter find von der 
Stadt angenommen; daneben hält ein gewiſſer Stürmle deutfche 
Schule (Privatſchule), ebenfo die Beginen. Über den Unfleiß der 
Obrigkeit betreffend Gottes Wort wird geklagt. Die Meßpfaffen 
jtören den Gottesdienft, wenn ihnen die Predigt zu lange währt. 
Die lateinifchen Schüler — superattendens scholae ift der Pfarrer 
— verieren die Priefter, wenn fie Meß fingen. In der lateini° 
ſchen Schule, die außerhalb der Stabt fteht, weit von der Kirche, 


Die Kirhenvifit. v. 1551 u. 1558 in Stadt u. Amt Stuttgart. 317 


auf dem Tournierader in unferer Frauen Borftadt, im alten 
Beginenhaus, wird der Geſang nicht geübt, weil Fein Lehrer dazu 
da iſt. Der Rat klagt, daß unter den Schülern feine Disziplin 
herrſche, daß in der Stiftskirche fo viele Stühle geftellt und die 
Gänge verftellt werden. Die Schulmeifter beflagen fi, daß 
Stürmle auch Schule halte, der feinen Katechismus lehre und mit 
den Schülern nicht in die Kirche gehe; dadurch ziehe er mehr 
Kinder an, deren Eltern nicht Luft zu Gottes Wort haben. Fer: 
ner Hagen fie, daß die Beginen Schule halten; aber diefe haben 
nur Mädchen und lehren fie treulih den Katechismus; befuchen 
auch fleifig Predigt und Nachtmahl. Meßner Stedle hat acht 
zu geben, wenn Rinder zu taufen find u. dergl. und hat es dem 
Diakon, der Wöchner ift, anzuzeigen. 

In Feuerbach (25. Auguft) ift Pfarrer Johann Brigel 
ein vechtichaffener Diener der Kirche. Die Schweſter des Schult— 
beißen jei aus Mähren zurüdgelommen (mohin viele Wiedertäufer 
ausgewandert) und mie ihr Bruder elf Jahre nicht zum Nacht: 
mahl gegangen. Auch der Bruder des Schultheißen, ein Vorfteher 
der Wiedertäufer, fomme oft nah Feuerbach. In den Vogt— 
gerichten verlieft man den Artikel der Wiedertäufer; aber niemand 
ftraft’3. Der Schultheiß fagt, einigen Leuten, den Päbſtlern, 
gefalle die Lehre des Pfarrer nicht. Die Gemeinde begehrt, wie 
Thon beim Vogtgericht, einen eigenen Schulmeifter. 

An demfelben Tage wird Bothnang vifitiert: Pfarrer 
Johann Schi von Baden ift ein alter Ordensmann aus Herren: 
alb. Er ift tüchtig, hat aber Feine Bücher; jet will er opera 
Brentii in Lucam faufen. Das Pfarrhaus ift ganz baufällig. 

Baihingen (29. Auguft) ift eßlingiſch, der dortige Kirchen: 
ja vom Stift Sindelfingen her mwürttembergifh. Hier wurde 
darum auch vifitiert, weil die Orte Rohr und Musberg, die 
nah Möhringen eingepfarrt find, feine Luft haben zu dem von 
Eßlingen eingefeßten katholiſchen Pfarrer zu gehen, vielmehr nad) 
Baihingen kommen. Pfarrer Jakob Bock von Eßlingen ift ein 
rechtichaffener Diener der Kirche, 

Heslach, das feit Menſchengedenken eine eigene Pfarrei hatte, 
beſitzt jeßt weder Kirche, noch Pfarre, noch Pfarrhaus; das Ein: 
fommen fällt den vazierenden Pfründen anheim. In die Pfarrei 


318 Schneider 


gehört der Weiler Böhmisreute mit etlihen Mühlen. Sie bitten 
um einen Pfarrer. 

Berg hatte gleichfalle ſeit Menfchengedenken eine eigene 
Pfarrei zufammen mit drei Mühlen, Gaisburg und Gablenberg. 
Auch fie bitten um einen Pfarrer. 


u 


Auf Grund einer im Jahre 1558 durch die verordneten Räte 
vorgenommenen Bifitation find in der Generalfuperintendenz, der 
die Berichte vorgelegt wurden, folgende Mängel der Stadt Stutt- 
gart befunden worden. Die Trinfftuben werden dem Hofgefinde 
zulieb während der Predigt nicht geichloffen (der Herzog befiehlt, 
das Hofgefinde zu ftrafen). Fälle von Unzudt und Aſotie wer- 
den berichtet, welche von den Räten dem Herzog zur Beltrafung 
vorzulegen find, In der Stadt nimmt das Zutrinten ab, das 
Volltrinfen zu; Gottesläftern iſt jehr verbreitet. Vier Perſonen, 
welche die Predigt nicht mehr befuchen und nicht fommunizieren, 
werden vor Brenz und Alber geladen, freundlid nad) den Grün- 
den angejprochen und ermahnt, fi als Chrijten zu zeigen; wenn 
dieſes nicht verfängt, fol man nah Gebühr mit ihnen handeln. _ 
Einer Wiedertäuferin im Gefängnis wurde auferlegt, die Predigt 
zu befuchen; da fie nicht gehorcht, ſoll fie wieder prozeſſiert 
werden. 

III. 

Einem weiteren Bericht von 1558 über die politiſche Viſita— 
tion im Amt Stuttgart, der zugleich mit den Entſcheidungen des 
Herzogs, bez. feiner Räte dem Synodus vorgelegt wurde, iſt fol- 
gendes zu entnehmen. 

In Ehterdingen find Pfarrer und Dekan untadelig; 
Boll- und Zutrinfen nimmt ab. In Plattenhardt laufen 
viele zum Zauberer nad Holzgerlingen. (Befehl: zu warnen, 
dann zu jtrafen). In Sielmingen gebraudt der Pfarrer derbe 


1 Das vorliegende Bruchftüd zeigt, ähnlich wie viele fonftige 
Nachrichten, die ftrenge Unterjcheidung zwiſchen kirchlichen und welt— 
lihen Zudtmitteln (vgl. auch die obige Bemerkung des M. Cleß „wie- 
wohl ih nit ein Vogt bin“). Die Regierung bekämpfte jeden 
Übergriff. 


Die Kirchenpifit. v. 1551 u. 1558in Stadt u. Amt Stuttgart. 319 


Ausdrüde auf der Kanzel. (Befehl: vor die Kirchenräte zu fordern.) 
In Blieningen find ein Gerichtömann, der alte Schultheiß und 
etlihe Bürger noch päbftlih. (Befehl: der Schultheiß ift zu 
zitieren und es ift mit ihm zu handeln, weil die andern ein Auf: 
ſehen auf ihn haben; der Pfarrer foll freundlich mit ihm reben.) 
Alle abgöttiſchen Bilder, Altare und Tafeln, auch die Ampel find 
noch vorhanden; da3 Sakramenthäuslein ift nur vermanert, feine 
Krone fieht heraus. (Befehl: die vergoldeten Bilder und Tafeln 
find abzufchaben, der Erlös davon dem Armenkaften zu geben; 
die Krone ift zu entfernen) Ein Mann und ein Weib gehen mit 
Segenfprehen um. (Befehl: bei Leibesftrafe zu verbieten.) Für 
Geriht und Rat find in der Kirche feine Stühle da; fie wollen 
aud) feine. (Befehl: die Stühle find innerhalb beftimmter Zeit 
anzufhaffen) In KRemnath ift der Pfarrer alt und ein Organift 
und fonft hartnädige Bauern, fo daß es wohl eines ernitlichen 
und gelehrten Pfarrers bedürfte. Die Gemeinde zecht viel. Der 
Zehnten wird fahrläffig gereicht, fo daß der Pfarrer und feine 
Hausfrau oft mit ihnen in Hader fommen. Als die Verordneten 
mit Schultheiß und Gericht darüber geredet, ift einer vom Gericht 
troßig germorden, worauf er des Gerichts entlaffen und vom Herzog 
mit dem Turm beftraft wurde. In Bernhaufen ift der alte 
Schultheiß jet abgefchafft worden. Auf dem Kirchhof ftand nod) 
ein abgöttifcher Olberg, davor die PVifitetoren ein rauenbett 
gefunden; er ift abgefchafft worden. In Nellingen it ein 
guter eifriger Pfarrer. Der dortige Kuhhirte hält Schule mit 
foldem Fleiß, daß er die Knaben wunderlic mit dem Katechismo, 
Singen, auch Lefen und Schreiben inftituirt. Jung und Alt hat 
eine gute Drbnung mit dem Kirchengehen. In Plochingen hat 
es Pfarrer und Schulmeifters halb feinen Mangel. Gericht und 
Rat find gufherzig; nur einer des Rats ift, weil er acht Jahre 
nicht zum Nachtmahl gegangen, des Rats entjegt worden. In 
Dentendorf geben ſich Probft, auch Gericht und Rat gegen: 
feitig ein gutes Lob. An Zell: Altbad ift der Pfarrer etwas 
fahrläffig im Studium. In Heumaden fteht es mit Pfarrer, 
Schulmeifter, Geriht und Rat gut. In Ruith ift ein feiner, 
gelehrter, fleißiger Pfarrherr, auch eine feine Ehrbarkeit, die fleißig 
zu Kirche und Nachtmahl gehen. Ein Mann, der fi) gebrannt, 





320 Schneider, Die Kirchenpiftt.v.1551u.1558inStadt u. Amt Stuttgart. 


hat einen Segen gebraudt, wofür er um drei Pfund in den 
Armenkaſten geftraft wurde; der ſegnenden Frau wurde für das 
nächſte mal fünfzig Pfund Strafe angedroht. In Gaisburg 
ſteht e8 mit Schultheiß, Gejchworenen und Gemeinde wohl. In 
Feuerbad ift der Pfarrer fleißig; daher auch bei der Gemeinde 
wenig Mangel. Eine Frau, die nicht zu Predigt und Nachtmahl 
geht (offenbar Wiedertäuferin), ift früher belehrt worden und jollte 
jetzt nad) Stuttgart beſchieden werden; aber der Schultheiß hat ihr 
fortgeholfen, weshalb er ftatt ihr zu Stuttgart im Gefängnis fit. 
Sn Steinenbronn fönnte der Pfarrer wohl lehren, hält aber 
im Winter den Katehismus nicht, fondern geht nad) Ehlingen und 
beladet ſich mit Wein; er ift ſchon von zwei Pfarreien abgejchafft 
worden und ein Sahr oder drei vom Minifterium fufpendiert und 
auf Beſſerung wieder angenommen worden. (Befehl: fol, wenn 
er ſich nicht befjert, entlafjen werden.) In Waldenbucd jteht 
es mit dem Pfarrer wohl. Gericht und Nat gehen fleißig zu 
Predigt und Nachtmahl, aber ihr Trinken lafjen fie nicht. 


ea 


— — — — — — — — — nn a — — — 


Buchdruckerei von Greiner & Ungeheuer in Ludwigsburg. 


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Briefe und Akten zur Geſchichte der Fränkifchen 


Beformatoren. 

Mitgeteilt von Pfarrer Bofert in Bädhlingen. 

Im Sahr 1831 hatte das Konfiftortum in Ansbah als Sy: 
nodalaufgabe ausgefchrieben: Die Geſchichte der Pfarrei, bei welcher 
ver Verfaffer angeltellt if. Da war der als Pfarrer zu ©. Jakob 
in Nürnberg 1858 verftorbene Alb. Fr. Pürfhauer, damals noch 
ein junger Kandidat, daran gegangen, die Gejdhichte der evange: 
Lifchen Kirche Dinkelsbühl zu bearbeiten, indem er namentlich die 
ihm zugänglichen Urkunden und Alten des Stabtarhivs und der 
Kirchenpflege benützte. Das verleiht feiner Arbeit, welche er auf 
mehrfahen Wunſch in den Drud gab, einen dauernden Wert, 
der um fo höher anzufchlagen ift, als Pürkhauer noch manche 
Duelle zugänglich war, über deren Verbleib gegenwärtig unauf: 
gehelltes Dunkel herrfcht, wie die fehr wichtige Sammlung: Etlich 
Ratſchläg, Miffiva und Verträg von 1530 an. Dagegen jcheint 
Pürfhauer den Sammelband, welchem die nachfolgende Serie von 
Briefen entnommen ift, nicht gefannt und benüßt zu haben. Diejer 
giebt in feiner erften Hälfte Religionsakten von 1568— 1623, in 
feiner zweiten dagegen Briefe, teild zur Gefchichte der Reformation 
Dinkelsbühls und zwar die Originale, welche in der Stadt ein: 
gingen, und die Konzepte der Schreiben, die ausgingen, teils eine 
bunte Zufammenftellung von Briefen anderer Männer der Refor- 
mationszeit wie Bußer, Brudner, Sleivan, den Brief von Herzog 
Ulrich an feinen Sohn Chriftoph vom 1. November 1537, ſowie 
einen Brief Markgraf Albrechts nad der Schladht bei Sievers— 
haufen. Lebtere Brieffammlung giebt wenige Originale, vielfach 
Abſchriften und meilt Auszüge, die beiden leßteren von einer 
geſchickten Hand aus dem Anfang des fiebenzehnten Jahrhunderts. 

Theol. Studien a. W. VII. Jahrg. 1 


2 Bofjert 


Die Briefe, welche der Rat in Sachen der Reformation ausgehen 
ließ, enthielt der obgenannte Band: Etlich Miffiva ff. in Abſchrift, 
unfer Sammelband giebt die Driginalfonzepte des Kirchenpflegers 
M. Michel Bauers, die wörtlich mit den von Pürkhauer aus dem 
Miffivenband Fol. 37b und 38 mitgeteilten übereinftimmen (©. 16 
und 17). Der Miflivenband aber kann mit unferem Sammelband 
nicht identifch fein, mas fchon die verfchievdene Paginterung und 
der aus den Miffiven zitierte Brief Bauerd an den Bürgermeifter 
Röffer vom 6. Januar 1534 ©. 19, welcher in dem Sammel: 
band fehlt, Har beweifen. So jehr zu wünſchen wäre, daß dem 
Miffivenband allenthalben nachgeſpürt würde, da derjelbe ohne 
Zweifel au die von Ad. Weiß gefertigte und von Augsburg nad) 
Dinkelsbühl gefandte Abfchrift der Augsburgifchen Konfeſſion ent- 
hält und ficher noch eine reiche Anzahl anderer nicht auf die Re- 
formation Dinfelsbühls bezüglicher Briefe giebt, jo wertvoll ift doch 
dad, was uns in dem Sammelband erhalten ift. 

Die Briefe Martin Frechts aus feiner Gefangenjchaft habe 
ih in den Mürttembergifchen Bierteljahräheften 1882 und 1883 
veröffentlicht. Hier folgen nun Alten und Briefe, welche fich auf 
die fränkische Heformation beziehen und zwar mit Ausnahme von 
Nr. 16 auf die Dinfelsbühls. 

E3 möchte auf den erften Anblid ſcheinen, ala ob diefe Schrift- 
jtüde nur lofalen Wert hätten. Allein Schon die Ergänzung, welche 
die Brieffamnlungen unferer Reformatoren erhalten, wird ben 
Forſchern willkommen jein. 

Die von Th. Preſſel geſammelten und in den Anecdota 
Brentiana veröffentlihten Briefe von Brenz erhalten im Folgen: 
den eine ſchöne Bereiherung. Von Lachmann in Heilbronn 
befigen wir bis jeßt nur ganz wenig aus feiner fiher umfafjenden 
Korrefpondenz, umſomehr willtommen ift das kurze Briefchen Nr. 
17. Adam Weiß, nahezu unbekannt im Kretfe der Neformations- 
hiftorifer, die nur aus der Dürftigen Lebensſtizze Veefenmeyers 
(Ki. Beiträge zur Gefchichte des Reichstags in Augsburg ©. 116 ff.) 
etwas von ihm wifjen, früher Lehrer der Theologie an der Uni— 
verfität Mainz, dann Reformator in Crailsheim und einflußreicher 
Berater des frommen Markgrafen Georg von Brandenburg: An3- 
bach und deſſen Begleiter auf die Neihätage zu Speyer 1529 und 


Briefe und Alten zur Geſchichte der fränf. Reformation. 3 


Augsburg 1530, gewinnt, je mehr man ıhn aus feinen Briefen 
und zahlreichen Gutachten kennen lernt. Vgl. die Zufammen- 
ftelung ſonſt befannter Briefe von ihm in den Theol. Studien 
aus Württemberg Jahrgang 3, ©. 315 f. und die Briefe an ihn 
ib. ©. 317 ff. Jahrgang 4, 32. Die nachfolgenden Briefe und 
Alten bilden auch, wenn ich recht ſehe, im Kleinen eine willfom- 
mene Waffe zur Verteidigung unferer deutjchen Reformations- 
geichichte, wie fie neuerdings notwendig geworden. 

Maren wird von alter Zeit gemöhnt, gegen das Werk der 
Reformation und feine Urheber von römischer Seite die ſchwerſten 
Anklagen, oft tolle Ausgeburten einer unfauberen Phantafie, vor: 
gebracht zu jehen, jo hat nun Sanfjen mit feinen Nachfolgern dieſe 
Arbeit mit feinern, aber fchärfer gefchliffenen Waffen der neueren 
Schule übernommen und das mit einer erftaunlichen Formgemandt- 
heit, die e8 befonder3 mit der Vorficht hält und gewichtige An- 
Hagen nur halb andeutet, um auf jede Reklamation hin zu 
erklären: Sp wars nicht gemeint. Nach der Anfchauung diefer 
Hiſtoriker war die Reformation etwas ſehr Überflüffiges, denn mit 
Befeitigung der Mängel in der Disziplin wäre all den Jahrhun— 
derte langen Klagen der Chriftenheit abgeholfen gemefen. 

Nur Bosheit, Selbjtüberhebung und beſonders Eigennutz 
waren die Triebfedern der Reformation. In Württemberg begann 
„vie chriſtliche Ordnung“ mit Kirchenraub, der vor feiner Gemalt- 
that zurüdicheut. Ja ſelbſt der Reformator Schnepf will einen 
Teil der Beute haben. Daß die Reformation einem tiefernten 
Sehnen des Volkes entfprochen habe, ift eine Flunferei der 
bisherigen Geſchichtsſchreiber. — Bon heiligem Gemifjensernft, von 
treuer Hingebung an ein Werk, das nad) ihrer Überzeugung Gottes 
Werk war, von Belonnenheit und Umficht wird fo wenig als nur 
irgend möglich bei den Neformatoren anerkannt. Diejelben zu den 
Beiten unferes Volles zu zählen, ift ein unberechtigter Anſpruch. 

Diefe Anſchauungen der ultramontanen Hiſtoriker müſſen fich 
auch bei der Neformation im Kleinen bewähren, hier im Kleinen 
läßt ji) genauer prüfen, was Wahrheit if. Nun befehe man 
einmal die vorliegenden Akten und Urkunden aus Dinkelsbühl, die 


t So Janſſen. 
1* 


4 Bofjert 


zugleih die Maffe an die Hand geben, mit der man diefe Art 
von Hiftoriker, die fih in den Mantel der Duellenmäßigfeit Heiden, 
befämpfen muß, nämlich den ftreng urfundlichen Beweis. Wo 
find hier die Gemaltafte? Um 1000 fl. Gold erwirbt der Rat 
zu Dinkelsbühl das Beſetzungsrecht der Pfarrei und damit die 
Möglichkeit, einen evangeliihen Pfarrer zu beftellen. Ernftlich 
warnt Adam Weiß vor aller Überftürzung. Welch Heiliger Ge- 
wiffensernft fpricht aus feinem Brief Nr. 1! Die Gemeinde jehnt 
fih nad der Ankunft des neuen Pfarrers und nimmt feinen Anſtoß 
daran, daß er mit Weib und Kind kommt. Einer ſolchen Gemeinde 
wird doch das Evangelium nicht aufgedrungen. Bei der Wahl 
des Pfarrers fehen wir Brenz und Weiß alle Treue und Hin: 
gebung, große Weisheit und Umficht an den Tag legen. Und der 
erite evangelifhe Pfarrer macht den beiden Männern alle Ehre. 
Ein gereifter Mann, bewährt im Kirchendienft, den er unter Auf- 
gabe eines bequemen, fetten Kanonikats übernommen, weiß er fi 
bald das Vertrauen von Nat und Gemeinde zu gewinnen, ja auch 
entfchiedene Gegner auf andern Sinn zu bringen (Pürkhauer 
©. 19). Als Dinkelsbühl nach des Kaifers Sieg bei Giengen 
1546 den eriten Anprall der Kaiſermacht auszuhalten hatte und 
fich ing Interim bequemen mußte, da zieht der betagte Mann mit 
Weib und Kind ins Elend und ftirbt in Württemberg. 

Nehmen wir noch dazu den Kirchenpfleger Bauer und den 
Gaftwirt Harfcher, der theologifche Schriften ftudiert, auf deffen 
Tüchtigkeit und Redlichkeit Weiß alles hält, und mir befommen 
die Freudigfeit, den Gegnern der Neformation zuzurufen: Wohl- 
auf, zeigt ung auf eurer Seite auch folche Theologen und folche 
einfache Laien in der NReformationzzeit. Halten wir dagegen die 
Schilderung ihres „Beſten“, wie Juftus Jonas ihn in feinem 
Beriht über das Gefpräh in Worms nennt (Kamerau, Brief: 
mechjel des Juſtus Jonas 1, ©. 422 ff.), Johann Eds, jehen 
wir nur, wie er bei einer fo wichtigen Verfammlung wie in 
Worms auftritt, und wir wiffen, daß jede weitere Forſchung in 
den Quellen nur das Eine beftätigt: 

Das Wort fie follen laſſen ftahn 
Und kein Dank dazu haben. 


Er ift bei und wohl auf dem Plan 
Mit feinem Geift und Gaben. 


Briefe und Akten zur Geſchichte der fränf. Reformation. 5 


1. Adam Weik an Harſcher. 

Der Nath zu D. joll ſich der Verantwortlichkeit in Beſetzung 

der Pfarrei bewußt werden, Ordnung von Privatangelegenheiten. 
Crailsheim, 1532. März 10, 

Dem Erbarn Hank Harſcher, Burger und Gaftgeber zu 
Dintelspühel, meinem bejonder vertramten Freund zu eigen Hand. 

Gottes Gnad zuvor und mein ganz willige Dienft. Lieber 
Harſcher, befonder guter Freund, nachdem ir mich zum öftern 
gebeten und erfucht habt, etlichen gutherzigen auß dem Nath zu 
Tchreiben und ermaren, daß fie ire arme troftlofe underthan mit 
einem gotäfurchtigen gelerten Hirten wölten verforgen, dieweil das 
pfarrlehen nun in iren Senden ſey ff., hab ich der fach baß nad): 
gedacht und kann bei mir nit erfinden, das ichs mit gutem gemifjen 
und frucht thon könn oder mög auß urfachen: dieweil einem 
pfarrherrn vil mer gepurt nad) dem befelch Chrifti nit allein zu 
leeren als ein prediger, fonder auch mit ernſt on forcht eyniger 
menjchen thetlich zu handeln als mit abftellung der gotzlejterigen 
Seel: und ander winkelmeſſen, todten und heiligen fürbitten 
und anruffen, und uffrichtung des waren gebrauchs der heiligen 
Saframenten ff., meld aber feinem (beforg ih) von ewer 
Oberkait geftattet mögt werden. So wurd auch Fein frummer 
Mann die pfarr ander annemen, man vergönne im dann nad 
der Leer Chrifti zu leeren und auch handeln. Darumb wuo emwer 
Dberfeit nit wölt zulafjen, nad dem Wort on ſchew zu handeln 
(al ft vor Gott fchuldig fein, dieweil das pfarrlehen nun an 
fie fommen ift), jo wer in vil befjer und vor Gottes gericht 
treglicher, daS andere fich vergriffen in annehmung oder uffegung 
eins wolff3 oder mietlings über wie herd Chrifti dann, das fi ſelbs 
(weil ji e8 macht haben) jolten auß menſchenforcht irer unterthan 
edle und mit dem blut Chriſti erfauften feelen befelhen einem 
Teufels apoftel und bauchdiener. Gott geb inen zu erkennen, was 
großen und fürglichen ampts (nemlich ein diener und außteiler 
der geheimniß Chrijto zu erwelen) fi fih unterfangen haben. Dann 
wuo fi nun die hohen gnad und fegen Gottes wurden (das ich 


1 Ym 28. Februar 1532 hatte das Kloſter Roth (Mönchsroth) 
das Batronat der Pfarrei Dinkelsbühl an den Rat abgetreten. 


6 Boffert 


nit hoff) nit achten und Gottes wort fein raum und gang nit 
lafien, jo wurt nad dem wort des propheten anftat des ſegens 
fluh und ewiger zorn Gottes über ji fommen, davor ji Gott 
allezeit bemwar und verleyhe in von bergen zu bitten umb einen 
getrewen arbaiter in der ernd Chrifti, wölchs das gemijejt mittel 
ft. Mit unfer vernunft, weyßheit und menſchlichen anjchlegen 
werden wir nichts fruchtbarlichs ausrichten. Gott helf uns allen. 

Sch Hoff alles guts zu etlichen frommen qutherzigen bei ewch 
des Rats als Mor. Michel, Statfchreiber, und wen ihr ſonſt 
fennt, recht zu Gott gefinnt fein. Der Herr verley feim Heinen 
Heufflin furtruden oder wie Nicodemo in gotlofe Handlungen je 
nit bemilligen. Amen. 

Lieber Harfcher, ir mögt die vorige fchrifft meilter Michel 
und andere, den ir verbramet, wol lafjen lefen, wer weiß, was der 
Herr thon will. Für das pferd ſchickt mir, was es werd iſt, es 
foftet mich erjtlih 12 fl. So hab ichs ſider Martini ſchwerlich 
erhalten. Man fagt mir hie, es het mir gern 15 oder 16 fl. 
golten; mit ewch mark ich nit. Gebt 4 fl. von meinetwegen 
ervrem jchwager Hans Abel und Lenhart Götzen! fagt, das er zu 
mir fum, ehe er jebo gen Frankfurt ziehe, jo will ih in auch 
bezahlen. Hiemit Gott befohlen. Ewch und ewer liebe Hauß— 
frauen grüfjen wir freuntlich. 

Dat. Suntag Mitterfaften im 32. jar. 

A. Weyß, pfarrher. 
(Dintelsbühler Stadtarchiv Ref.Acten 1566 — 1623, BI. 161 —162). 


2. Weiß an Harſcher. 

Weiß Gattin reist nach Nürnberg. Des Bürgermeilterd in 
D. Borgehen. Die Schrift des oh. Campanus. Weiß bittet 
um neuerjchienene theologiſche Schriften. 

Crailsheim, 1533. April 24. 
Hanken Harfcher, Burgern zu Dinfelspühel. 
Gottes Gnad zuvor. 
Lieber Harfcher, befonder guter freund. Ich hab mich laſſen 


i Bon Hans Abel kauft Weiß nah jeinem Haushaltungsbuch 
1530 für 4 fl. Tud, von Lenhart Götz allerlei Spezerei, auch; Ingwer 
für 3 fl. 2 Pfund. Delanatäregiftr. in Crailsheim. 


Briefe und Alten zur Gejchichte der fränk. Reformation. 7 


bereden, das ich mein hausfrawen mit des pfarrherd zu Rosfeld 
mweib gen Nürnberg zu irem Haußwirt füren laß. Bitt euch, wöl- 
lends nit auffhalten. Im widerferen möcht fi übernadht bei euch 
bleiben. 

Ewers burgermeifters ungefhidt Handlung, in der Firchen 
geübt, hab ich vernommen und lob Got, das ſolchs der unfern 
fainem widerfaren tft; man halt nur til. Si werben fich felbs 
wol zu fhanden machen und grewlih anlauffen an dem editein 
gewißlich. 

Es hat der Sathan abermals erregt einen niederlender Joan— 
ned Campanus t genannt, welder im büchlin (das er nennt Reiti- 
tucion göttlicher fchrifft) gremliche götslejteriche irrthumb außſpeyt 
wiber die heiligiten Dreyainickait, wider die ewige gothait Chriftt ff., 
haiſt den edlen Zuthern ein verfluchten gottes, belt mit feiner 
Sect vom Sacrament des leibs und bluts Chrifti ff. und mer nit 
gut, dad es unter die ainfeitigen außköme, alſo ſchen verjtelt fich 
der teufel darinnen, das in nit ein jeglicher merken fann. Aber 
ich hoff, der Herr werd in dur fein ermwelte werfzeug Luther 
und Philipſen ans liecht bringen und offentlich zu ſchanden maden. 
Amen. Sölchs mogt ir wol anzeigen meinem lieben Herren und 
freundt M. Michel Bawern, welchen jampt allen frommen Gott- 
liebenden Chrijten bei euch der Herr woll jterfen und erhalten 
bi8 anf end bei feiner warhait. Amen. Habt ir ein vbrige ent- 
ſchuldigung der predicanten zu Frankfurt ubers Luthers ſchrifft' 
und was funft news ift, ſchickt mir. Hiemit Gott befolhen. 


Dat. Dunderstag nach Georgi. Im 33. jar. 
Adam Wei. 


(Dintelsbühler Stadtarhiv Nef.-Acten. 1566—1623. Bl. 163). 


1 Bal. Hagen Geift der Ref. 2, 311. 


2 Bol. Steig im Arhiv für Frankfurts Gefhichte. N. %. 5, © 266. 
Die Schrift ift von Butzer verfaßt. 


8 Boſſert 


3. Bürgermeiſter und Kirchenpfleger an Brenz. 
Brenz und Weiß mögen ſich nach einem evangeliſchen Pfarrer 
für Dinkelsbühl umſehen. 
Dinkelsbühl 1533, September 18. 
Dem Erwirdigen Herrn Joanni Brentio predigern zu Schwä— 
biſchen Hall, unſerem lieben Herrn und freund zu aygen Handen. 
Gnad und fride in Chriſto unſerem erhalter, auch unſer 
gang freuntlich und willig Denſt ſend euch zuvor an bereytt. 
Erwirdiger Herr und freund. Es iſt euch zu gutten maſſen 
wol bewißt, wie unſere Herren, ain E. Rathe, mit groſſer muhe 
und arbayt das Juspatronatus und collation der pfarr zu Dinkel— 
ſpuhel eroberet haben. Nach ſolchem Hat ſich ain E. Rathe von 
ains pfarrherrn wegen mit anander befragt, nach ainem gotſeligen 
und gelerten man zu trachten, damit ain oberkayt und ain ganze 
gemainde bey uns im haylſamen wort gottes und chriſtenlicher leer 
und predig erhalten würde. Uff ſollichs iſt unſer dienſtlich und 
nachbarlich bitt an euch, wöllet uß chriſtenlicher Liebe und guter 
nachbaurſchaft euch in ſolcher großer ſach bemühen und nach ainem 
man, ſo zu ainem ſollichen pfarrampt geſchickt und tugelich were, 
doch alles uff unſren koſten, forſchung haben. So ir dann nun 
wiſſen hetten von ainem, der ain begird zu uns trüge, das ir 
uns ſollichs wöllet zuſchreiben, wöllten wir alßdann das daſich 
(sie) ainem E. Rathe furtragen und uff das furderlichſt mit Ime 
handlen. Der beſoldung halb verſehen wir uns gentzlich mit Ime 
wol außzukomen. So ir aber ditzmals aines ſollichen mans dhain 
wiſſen trugte (sie) und in mitler zeyt ainen erkieſen wurdet, iſt 
unſer gantz freuntlich bitt wie vor an euch, wöllet ſollichs uffs 
erſt uns zu wiſſen thon, und ſchreyben wir auch dergleychen eurem 
und unſerem Herrn und freund Adam Weyſſen, pfarrherrn zu 
Cralßheim, das Sr beed wöllent allen nutzlichen vleis dig ortö 
fürwenden. Das mwöllen wir umb emwr Eermwirden mit gantem 
willen und ungeſparts Dienſts vleif zu verdienen nummer vergefjen. 
Nit mer, dann feyt Got bevolhen. 
Geben zu Dinkeljpühel am 18. tag Septembri® anno des 
XXIII. Mathias Röſſer, alter Bürgermayſter, 
Michael Baur, Kirchenpfleger zu Dinkelſpühel. 
(Dinfelsbühler Stadtarchiv Ref.:Act. 1566—1623, ©. 164). 
Gleichlautend am gleihen Tag an Weiß in Crailsheim. 








Briefe und Alten zur Gejhichte ber fränk. Reformation. 9 


4. Brenz und Weik an Röſſer und Bauer. 
Antwort auf den Brief vom 18. Sept. 

Brenz und Weiß übernehmen den fchwierigen Auftrag und 
ermahnen zum Gebet für diefe Sache. 

1533. September 20. 

Den Erbarn weyßen und fürfichtigen Herren Mathiß Röſſer, 
alten bürgermaifter, und M. Michel Bawer, firchenpfleger zu 
Dintelspühel, unfern gönjtigen, lieben Herren. 

Erbar, weyß und furfichtig, Gottes gnad durch unfern Herren 
Jeſum Chrift ſampt unferem allzeyt willigen beraiten Dienft zuvor. 
Gönftig liebe Herren, wir haben E. W. fchreiben, die verfehung 
des pfarrambt3 zu Dinfelöpühel belangend, vernommen, und nad): 
dem wir mit befonder frolodung unſers Herzens vermerken, das 
ain Erbar weyßer Radt zu Dinfelspühel, unfer günftig liebe 
Herren, zu diefer Handlung ains ganten chriftlichen, ehrlichen und 
löblichen furnemens ift, verfehen wir unß ganz tröftlicher hoffnung 
zu unjerm Herren Gott, er werde auß feiner unerförfchlicher barm— 
hersifait hieerzu feinen göttlichen fegen und reylich gedeyen gne: 
diglih mittailen. So mwöllen auch wir ſölchs allmeg mit unjerm 
armen gebet vor Gott zu furdern gefliffen fein. 

Und domit wir unfern dienftlihen vleyk auch mit der that 
darzuthuen, Jo ſeyen wir auff E. W. beger ganz willig und ur- 
puttig (sie) nad) einem feinen, ehrlichen, gelerten und frommen 
mann, der daß pfarrampt in der löblichen Stadt Dinkelspuhel 
chriſtlich zu verfehen tugenlich fei, vleifig nachzudenken und E. W. 
uffs fchiereft, jo ung möglich, widerumb anzuzeigen, wiewol E. W. 
ung biemit nicht mit ainer fchlechten geringen forge und bürde 
beladen hatt. Dann wir uns wol erinnern mögen, das zu 
jölchem pfarrambt und newer zarten kirchen nicht ein Yyeglicher 
nemwling noch vil weniger Sturmer, Bolderer oder ſunſt unerfarner 
und ungejchidter man zu furbdern ſey. So will auch allberaidt 
anfahen, an feinen, ſitſamen firchendienern mangel zu jeyn. Yedoch 
jöll an unferm vleiß, ob Gott will, nicht feelen. Und dieweyl 
getrew arbeyter in der chriftlichen kirchen mit ernſtlichem gebet von 
Gott zu erlangen jeyn, verjehen wir unß, E. W. und alle fromme 
Chrijten zu Dinkelspuhel werben hiezwiſchen mit ihrem gebet gegen 
Gott embfiglich anhalten (dasſelb au in den predigen von den 


10 Bofiert 


tirchendienern on underlaß gefchehen fol), damit eins erbarn weyjen 
Radts göttlich fürnemen, auch irer Seelen hail und nutz deſter 
frucitbarlicher fortgehe und zu einem feligen end gedeye. Hiemit 
unferm Herrn Gott befolhen, und was mir einem Erbarn Radt 
auch E W. und gemainer Stadt Dinkelspuhel gehorjamlichen 
dienft und freundtfchaft erzaigen können, möllen wir allmegen 
ungefparter williger mühe erfunden werben. 
Dat. am Abend Mathei des heiligen Apoſtels im ar 
MDXXXHI. 
€. W. allezeyt willige 
Johann Brenz, prediger zu Schwäbiſch Hall.t 
Adam Weyh, Lic. pfarrher zu Creilsheim. 
(Dinfelsbühler Stadtarhiv. Ref.-Act. 1566— 1623, ©. 165). 


5. Weiß an Röſſer und Bauer. 

Brenz erbietet fich, einjtweilen nach Dinkelsbühl als Prediger 
zu gehen und dort zu reformieren. 

1553. Oftober 1. 

Den Erbarn, fürfichtigen und weyßen Mathis Nöffer, altem 
Burgermeifter, auch M. Michel Bawer, Tirchenpfleger zu Dinfels- 
puhel, meinen gunjtigen lieben Herrn zu Handen. 

Gottes gnad und alles gut3 zuvor ſambt meinen gank millt- 
gen Dienften. Erbar, weyß, furfichtig, gönftige, liebe Herren. Als 
nechjt verjchiner tag E. W. meinem geliebten freund Her Johann 
Brenten, auch mir, verfehung der pfarr in Ewer Stadt belangend, 
gang chriftlich gefchriben und auch daruff unfer antwurt entpfangen 
haben, iſt mir herzwifchen von gedachtem Herrn Brenten gefchriben, 
welchs ih E. W. als frommen, gutherzigen chrijtlichen Herrn zu 
furderung ewers gotjeligen begerens vertramter mainung nit hab 
mwöllen bergen, und ſchreibt mir neben anderm nemlih, das er 
ewers chriftlihen furhabens ein ſölch freyd hab entpfangen, das er 
wolt ehe weib und Find ein zeyt lang lafjen und helffen, ewer 
gemaind mit predigen und warem gotsdienſt jelb3 verforgen. Geb 
der lieb Gott, das es möge gefchehen. Nun mögen aber €. ®. 


ı Weiß hat den Brief gefchrieben und auch für Brenz unter- 
jehrieben. 


Briefe und Alten zur Geſchichte der fränt. Reformation. 11 


fölcher hoher fach mit ernit fambt andern ewren radtäfreunden 
nachtrachten, ob es bei feinen Herren zu Hall zu erheben were, 
als ich hoff, man wurdt den man Eud ein zeyt lang, chriftlich 
Ordnung anzuridten, nit verfagen, darumb er dann auch uffs 
höchſt fol angefucht werden. So will auch ich darneben bei im 
hefftig anhalten, das die fach furtgehe, zuforderft aber mwöllend 
bei ewern Tirchendienern verfchaffen, da® man on underlaß bey 
Gott mit gemainem gebett anhalt zu feliger endſchaft dißer ſach. 
Dann der Satan mwurbt fi nit feumen, ſolch chriſtlichs furnemen 
durch wunderlich weyſ zu hindern. Der Herr wöll im meren. 
Amen. Doch in dem allem wollend mich nit vermehren! (sic), 
jonder als für euch ſelbs handeln, wie ir zu thun wol wifjend. 
Befehlend E. W. hiemit der gnaden Gottes und mid; Euch ala 
meinen bejonder lieben Herren, welchen ih nad allem vermugen 
zu dienen allezeyt ganz willig und berait bin. 

Dat. Mitwochs Remigii im XXX jar. 


E. W. milliger 


Adam Weyß, Lic. pfarrherr zu Greilfheim. 
(Dintelabühler Stadtarchiv. Ref.-Acten 1566—1623, ©. 167). 


6. Röſſer und Bauer an Adam Weiß. 
Antwort auf das Schreiben vom 1. Dftober. 

Das Anerbieten von Brenz fann nicht angenommen werden. 

Dem Ermwirdigen und Hochgelehrten Herrn Adam Wei, 
Licentiaten und pfarrheren zu Greilßheim, unjerem lieben Herrn 
zu Handen. 

| 1533. Oktober 3, 

Gnad und frid in Chrifto zubevor und unfer freundliche 
und ganh geflifjen Denſte. Erwirdiger Herr, Emr Schriften, deren 
Datum helt Mittwoch nad Remigii, haben wir mit fondern freuden 
empfangen und ires inhalts vleyßig vernommen und geben Ewr 
E. bierauff zu verjteen, daz wir fur uns ſelbs von bergen und 
mit großer dankbarkeit daz chriftlich erbietten und den nachbaur— 
lichen willen des Ermwirdigen Herrn Joannis Brentii wollen an- 
nemen, daß fein Er (wö es mit bewilligung feiner Herren zu Hall 





1 Bon Märe Sinn: wollt mi nicht nennen. 


12 Bofjert 


möchte befchehen) in aigner perfon mit verlafjung weib und finder 
ein zeitlang fih zu uns möllte verfügen, damit unfer firchen und 
gemain mit dem rainen wort gotte® und waren gottesdenften 
hriftlich gelert und recht angericht würde, Des wir gegen fein 
Gr. hohes vleif bedanken. Dieweil aber unfere Herren und rate- 
verwanten nit ainerley gefinnet, wiſſen wir fur uns ſelbs ſolchs 
deö Herrn Brensen ganz hriltenlich furnemen bei ainem Erjamen 
Nat jegtmals nit zu erhalten, wiewol wird fur unfer perfonen 
herziglihen und gern fehen wöllten, ſondern mit allem ernjt wir 
freundlich bitten und begern, laut unfers vorigen ſchreibens E. E. 
jampt dem Herrn Brentzio auß chriſtenlichem gemüt und verjtand, 
Ir wollt uns in dißem unferem und unferer firchen merklichen 
anliegen nit verlafjen, ſonder ewr nachbaurlich hilf und getreuen 
Rat mitteilen, daz wir möchten zu furberung unſeres pfarrdienits 
ein gelerten, frommen man befommen, der uns und unferer gemain 
mit heyljamer leer und heyligem leben vorgieng. Wo dann wir 
euch in mindern oder mereren fruchtbarlich wilfaren und gedienen 
fundten, folltet Jr uns gant ungefpart willig und gefliffen haben. 
Geben Freitag nach Michaelis anno im 33, 
Mathias Röffer, alter Burgermeifter, 
Michel Bauer, firhenpfleger zu Dinfelöpühel. 
(2. c. ©. 166. Concept.) 


7. Brenz und Weiß an Röſſer und Bauer. 


M. Bernhard Wurzelmann wird zum Pfarrer in Dinkelsbühl 

vorgejchlagen. 
1533. Oktober 22. 

Gottes gnad durch Jeſum Chrift fampt unferm alzeit willigen 
Dienſt zuvor. Erbar, weiß, gönjtig liebe Herren. Auf E. W. 
nechitgethone Beger haben wir unſers müglichen fleiß zum aller: 
getreulichiten um ein hriftlichen tauglichen pfarhern gen Dinkelfbühel 
E. W. anzuzeigen nachgedacht. Und möcht vielleicht fein, das 
ettlich jung und der funft halben gelert gnug, aber doch unerfarn, 
der fyrchenempter ungeübt menner erfunden wurden, jo fi des 
pfarrampt3 in der löblichen Stadt Dinkelſpühell underziehen woll— 
ten. Aber wan mir bedenken die gferlichen leuff, den glauben 
betreffend, fo fich zu dißer zeit täglich yemehr und mehr yetzt mit 


Briefe und Alten zur Geſchichte der fränf. Reformation. 13 


diefenn yetzt mit jhenen fchädlichen verdbammlichen und auffrürifchen 
Irrthumben einreißen, fo wiſſen wir auß vielen urfadhen E. W. 
jet Fein jungen ungeübten man zu einem pfarrherrn zu furdern. 
Hierauff haben wir mit unferem fleifigen nachforfchen einen from: 
men, gelerten, ſitzamen und ziemlich betagten man aufgebretten mit 
Namen Meiſter Bernhardt Wurtelman!, der weyland ein Cano— 
nick des Stiffts im tal zu Wimpffen gmejen und dafelbft das 
Ganonicat vor ettlihen Jaren allein von der urſach wegen willig- 
lich verlaſſen, das er nad feinem beruff das heilig Evangelion 
hriftlich predigen mödt. Iſt demnadh in dem Mark genannt 
Schweiger, ligt ein meill wegs under Heilbrun auf dem Creichgaw, 
der Evelleut von Neyperg zugehörig, ein pfarher worden. Da: 
jelbjt hatt er das pfarrampt mit chriftlicher leer und erbarem 
erempell feines lebens dermaſſen biß auff difen tag verjehen, das 
beid jein Oberfeit und pfarräinder im mit fonderem gunft geneigt 
jeyen. 

Zu dem, das er in den Irrthumben den glauben belangendt 
fih unſers erfarens allwegen jo gſchicklich und chriftlih gehalten 
hatt, daß darauß fein wolgegründter verftand in der rechten hrift- 
lichen leer von meniglich gfunds glaubens wol gefpüret ift worden. 
Nachdem wir nun diefen eegenannten Meifter Bernhardt Wurkel- 
mann zu dem pfarrampt zu Dinkelfpühel für vill ander tauglich 
und nützlich geachtet, haben wir in deshalb erfucht und befunden, 
das er föllih pfarrampt auff leidenlich weiß anzunemen und feines 
ganzen vermögen? durch gottes gnad und hilff zu verfehen willig 
und bereit fein wöll. Hierauff zeigen wir denfelben E. W. hiemit 
zuvor an, darmit E. W., fo es fie für gut anfehe, im ferner, ehe 
weiter handlung mit im fürgenommen, nachfragen und feines 
weſens mehr kuntſchaft erfaren möge. Was mir auch fürthin 
hierin auff E. W. beger erfchiklich fein könden, wollen wir getreu 
außrihten. Dann E. W. dienftlichen (vleiß)? allmegen zu erzeigen, 
wöllen wir yeber zeit ungefpart3 fleiß willig und bereit erfunden 
werden. SHiemit unferm HERRN Gott bevolhen. Der wölle 


1 Bol. Luthers Brief De Wette 4, 645. Wurzelmann ift 
Schnepfs Schwager, deſſen Gattin feine Schwefter. 
2 Bruch im Papier. Es ftand wohl „vleiß“ an der Stelle. 


14 Boſſert 


ſeinen göttlichen Segen zu dem ganz chriſtlichen fürnemen eins 
Erbarn Radts zu Dinkelſpühell, unſrer gönſtig lieben Herrn, gne— 
diglich verleihen. 
Dat. Mitwoch poſt Urſule anno XXXIII. 
E. W. allzeit willig 

Johann Brentz, prediger zu Hall, 

Adam Weyß, Lic. pfarher zu Creilsheim.! 
(D. St.A. Rel.Acten ſ. c. ©. 267) 


8. Brenz an Bauer. 
Begleitjchreiben zu Nr. 7. Brenz dankt für überfandten Käje. 


Hal, 1533. 22. Oftober. 

Dem erbarn weifen und fürfichtigen Herrn Micaeli Bauer, 
burger und des Radts zu Dinkelfpühell, meinem lieben Herrn. 

Gottes gnad durch Jeſum Chriſt fampt meinem alzeit willi- 
gen dienft zuvor. Weiſer, gönſtiger, lieber Herr, Ich hab die zween 
Greutfeeß?, mir zur vererung von euch zugejchidt, entpfangen und 
gebürt mir fo vill dankbarlich gegen euch zu fein, jo vill Jh mid) 
unverdient erkenne. Darum wa ed mir müglich fein würdt, will 
Sch follich vereerung von euch zu beſchulden alleweg gefliſſen fein. 
Ich hab auch hieneben fampt meinem lieben herrn und bruder 
pfarher zu Creilßheim dem alten burgermeifter und euch gejchriben 
und ein tauglichen pfarheren gen Dinfeljpühell anzeigt. Was nun 
einem Erbarn Radt zu Dinkelfpühell, meinen gönftigen herren, 
gelegen fein wurdt, wündſche Sch unfer® HERRN gottes gnad 
darzu. Wölle auch gern auf ewer mideranfuhung und bevelh 
ſolchen angezeigten man gen Dinkelſpühell ſchicken, das er ſich da- 
jelbjt jehen, hören und mit Ihm handeln laß. Hiemit got bevolben, 

Dat. Zu Hal mitwoch poft Urfule anno XXXIH. 

Johann Brentz, ecelesiastes Hallensis, 
ewer alzeit williger. 


1 Der Brief ift won Brenz gefchrieben und dann von Weiß mit 
unterzeichnet. 

2 Kreuzkäſe, die vom Klofter zum heiligen Kreuz bei Douauwörth auf 
feinen Schwaigen gefertigten Käſe waren beſonders berühmt. Schmeller. 


Briefe und Alten zur Geſchichte der fränk. Reformation. 15 


9. Weiß an Bauer. 

Begleitfchreiben zu Nr. 7 und 8 Weiß dankt für Safe. 
Grüße an Harfcher und den Schulmetiter. 

Crailsheim, 1533. Oktober 23. 

Ornatissimo viro M. Michaeli Agricole, senatori ac aedili in 
Dinkelspuhel, patrono et amico summe observando. 

Salus a domino Jesu. Que cum hoc cursore, ornatissime 
vir, Breneius et ego ad vos hujus causae primarios scribimus, 
videbis in litteris nostris. Polliceemur omnem operam. Vos 
nunc vestra diligencia rem procurabitis pro Christi gloria et 
urbis vestrae perpetuo commodo. Agite viriliter, confortetur 
cor vestrum, Dominus dabit foelix huie plantacioni et rigacioni 
incrementum. Amen. Exspectamus responsum, 

Pro caseis nuper missis agimus ego cum costula mea 
ingentes gratias, non erimus aliquando ! ingrati. Vale foelieis- 
sime cum uxore dulciesima, quam et reverenter salutamus. 

Datae die Severi Anni XXXII. Amieissimum mihi homi- 
nem Joannem Harscher et uxorem salutare non dedigneris, 
reliquos item pios, cum primis fidelem scolae vestrae minis- 
trum etc. T. deditissimus | 

Adam Weiss. 
(D. St.A. Rel.Act. S. 169.) 


10. Röſſer und Bauer an Brenz.? 
Dinkelsbühl, 1533. Oktober 24. 


Gottes Gnad fampt unferen gefliffen Denſten. Ermirdiger 
Herr, Eur Schreiben von wegen ains pfarheren, den Sr ernennt 
habt, haben wir feins Inhalt? vernommen und fondere grojit 
freud drüber empfangen; der allmedhtig wol feinen gedeien dazu 
geben mit angehenkter bit, wöllet auch aus chriftenlicher lieb vleyffig 
zu got flehen und bitten, damit ſolch chriftenlich furnemen gefur: 
dert werd. Dann wir gedenfen wol, wie fi der Satan hertigk— 
lich darmiderfegen werde, fol furgenommen handlung zu hindern. 

Auch wöllten wir euch bei diefem bitten ein gründlich ant- 


1 Die Vorlage hat aliqü. 
? Gleihlautend auch an Weiß. 


16 Boffert 


wurt geben haben, haben wir ung noch nicht mit den unfern under: 
redt, daß ſolchs uff den ratstag nit fürtragen ift worden. Aber 
ufs erft fo wir fünnen oder megen, joll euch die antwurt, ſo ſich 
ein E. Rate ainigt, zugefchriben werben. Berfehen uns auch, ain 
E. Rat werd ſolchs gar nit abſchlagen. Wir bedanfen uns aud 
höchſts vleiß gegen E. E. folder großer mühe und arbeit in folder 
handlung von unfertwegen zu haben, wöllen aud) ſolchs umb €. €. 
mit ganzem willen verdienen. Nit mer, dann feit got bevolhen. 
Geben Dinfelspühel Freitag nah urjule anno 33. 
Euer €. willig 
Mathias Röffer, alter bürgermeijter, 
Michel Bauer, kirchenpfleger. 
(D. St.A. Rel. A. ©. 179. Concept.) 


11. Bericht Michel Bauer? an den Rat über feine Unterhandlung 
mit Matern und Bernhard Wurzelmann auf Allerheiligen 
1. November 1583. 

Nahdem Ich gen Hal kommen und dem Herrn prediger 
dafelbjt mein abfertigung von meinen gunftigen lieben herrn, ainem 
E. Rathe zu Dinfelspuhel, des angezaygten Magifter Bernharts 
Wurgelmanns halben zum pfarrampt gen Dinkelspuhel zu beruffen 
und zu handeln furgehalten, hat er mir angezeygt, daz der Stat— 
ichreiber zu Hal ſey Maifter Bernhartd bruder und hab von Im 
beſcheyd und gemalt von feinetwegen zu handlen. Als nun der 
Statſchreyber durch den prediger beruft und Ime die urjach meiner 
anfunft furgetragen, hat er fich von feins pruders wegen der ſache 
underfangen und darauff gefordert, Ime zu eröffnen, jo fein pru- 
der Maifter Bernhart gen Dinkelfpühel zum pfarrampt berufft ſöllt 
werben, ob er auch Caplön oder helfer halten, ob funft die pfarr 
ander foften tragen mufje. Hab ich geantwurbt, er werde mufjen 
ain helfer in dem pfarchoff mit koſt und belonung erhalten, ſonſt 
wiffe ich feinen frembden often, dann maß feiner aigin perfon 
zugehörig fein werde. Hab demnach von dem Statjchreyber begert, 
mir anzuzeygen, wz fur die befoldung gefordert werde. Alſo Hat 
er fi) gewaygert, zerften! zu fordern, mit der anzeyg, er hab fein 


ı Bum erften. 


Briefe und Alten zur Geſchichte der fränk. Reformation. 17 


wiffen, wie theur es zu Dindelspuhel ſey. Hat von mir begert, 
ime anzuzeygen, was meine Herren ainem pfarrheren fur fich und 
ainem helfer zu geben gemilligt feyen. Und als dißer Strit ain 
weyl gewertt und weder der Statjchreyber fordern noch ich etwas 
anbietten wollte, hab ich doch zuletit zwanzig und hundert gulden 
angebotten mit diefem anhang, das ich erhoffe, nach dem es wol— 
feyle Zerung zu Dindelöfpuhel jey, es werden ſich zwuo perjon, 
pfarrherr und helfer, eerlih darvon wol erhalten mögen. Das 
hab nun der Statjchreiber etwas meit geworfen und furgemwendet, 
wie Mayſter Bernhard uff feiner teßigen pfarr bey den hundert 
gulden ainfommens uff fein aigen perfon hab und getrau, weyter 
mit denjelben gulden zu Schweygern zu kommen, dann zu Dindel- 
fpubel mit hundert und dreiffid, und wo er von qutten freunden 
mit gottlihem beruff darzu nicht bewegt und geren wollt helffen 
mit allem feinem vermugen, gottes glori und eere zu furdern, jo 
ſöllt In fein fondere grofje befoldung bemegig gemacht haben. 
Hierauff hat er angezeygt, es gedeucht In, ain E. Rathe ſöllt ſich 
nit bejchweren, zweyhundert gulden ainem pfarrherren für fich und 
ainen helfer zu geben. Dz hab ich mi nun fer befchwert, es 
fey zu Dindeljpuhel unerhört, ain ſolch gros gellt ainem pfarr- 
herren zu geben. So feye auch die pfarr ainem Erbaren Rathe 
Tchwerli mit großen foften anfommen. Göllte (sie) dann meine 
Herren ainem pfarrheren fovil geben, wurde (sie) fie in ein zwi: 
fachtigen fojten gefuret. Auch jo verfehe ich mich, Maifter Bern: 
hard werde ſich dermaßen in anforderung der bejoldung hallten, 
damitt man nicht fpreche, die pfaffen feien geytzig, es Funde ſie 
niemant3 erfüllen. Darauff mir geantwurt worden, man trage 
gutt willen, das bißhieher ain pfarrherr an ainem ſchlechtern ortt 
dann zu Dindelsjpuhel von opfern, von feelmejjen, von votiven, 
von facramenten u. f. w. mer dann zweyhundert gulden gehapt, 
was föllt dann ainem pfarrheren in fo ainer loblichen reychſtat 
zugejtanden fein, und jo Maifter Bernhard ie fein nuß oder geytz 
ſuchte, mwöllte er wol der pfarr zu Dindelöfpuhel müffig geen, 
dweyl er iebt uff feiner pfarr ain eerlich ainfommen hat und teg- 
lichs von feinem Junkhern, der Ime mit jondern gunſten genaygt, 
mer gewertig fein möchte. Zudem fo verfehe er fi, ain E. Rathe 
werde ain pfarrherrn nicht allein nach wirde und verdienft feiner 
Theol, Stubien a. W. VII. Jahrg. 2 


— — — Zu 


18 Bojjert 


des pfarrherrns perfon, fonder vil mer nad) der eer ains E. Raths 
befolden, dann ein pfarrherr hab dannacht vil anlaufs, bed von 
frembden und anhaimiſchen. Söllt er nun nicht vermogen, ainem 
armen ain ſtuck prots oder ainem andern ain trunf weyns mit: 
teylen oder, jo er daſſelb thet, ich in ſchuld zu fchlagen, das wurde 
ainem E. Rathe fchimpflich fein. Auch ſey Maifter Bernharden 
fein ießige pfarr fein Leben lang verfchriben, dife Handlung aber 
mit der pfarr zu Dindeljpuhel eritrede fich alla uff ain Jar zur 
verfuchung, wie wol nun Mayiter Bernhard dasfelb nichtzit ab: 
ſchlecht. Es jeyen auch ietzund jterbend leuff zu Dindelfpuhel, 
wie wol er das nichzit fcheucht, jo wiſſe er Statjchreiber feines 
pruderd halb nicht weniger dann zweyhundert gulden zu fordern. 
Das alles hab ih nun nad) meinem beiten vermugen meines 
Heinen verjtands nad) ainander verantwurt und uff ditzmal alſo 
befchloffen, darmit man doc feche, dad ain E. Rathe, meine gün— 
itigen herren, gerren der fach recht theten, jo wölle ich mich von 
meiner herren wegen begeben, anderhalb hundert gulden ain ar 
zureihen. Das hat aber einmal nicht ftatt wöllen finden, ıjt nad) 
vil red und gegenred bis uff die hundert und achtzig gulden kom— 
men ſampt der beholzung und heimfart, das dann ich bewilligt, 
und ift darbey abgerett worden. Als ich nun gen Haylprun 
fommen und Maifter Bernharden zu mir gefordert, hat er in fold 
handlung bewilligt und uff weyhnadten will er mit der goghilf 
uffziehen. 
(Din. St. U. Rel.Fol. 177 f.) 
12. Bauer an Brenz.! 
Dinkelsbühl 1533, November 11. 

Dem erwürdigen und von got gelerten Herrn Joanni Breneio 
Ecclesiastae zu Schwäbiſch Hall, meinem lieben Herrn zu Handen. 

Gotte grad ſampt meinen willigen Denften zu bevoran. 
Erwirdiger Herr, die Beftallung Maifter Bernhart Würkelmans, 
jo zu unjerem pfarrheren von euch ernennt ift, uff den beveld 
und gewallt von meinen Herm, aim €. Rathe mir gegeben, hab: 
ih montag? vergangen meinen Herrn und freunden eröffnet und 





wie E. Ermirden und mein Herr Statfchreiber mit mir der befol: 


1 Concept von Bauer. 
2 10. November. 


| 


Briefe und Alten zur Gefchichte der fränk. Reformation. 19 


dung halb gehandelt und abgerett, alfo haben jie e& willig und 
gern angenommen. Dabei ſoll es beleiben. Auch iſt ein groß 
verlangen nad) maifter Bernhart, wann er ſich ſchon acht tag vor 
Weyhnachten zu uns gethet. 

Auch bedanken fie ſich gegen E. Erm. höchſts vleiß der großen 
mühe und arbeit, fo ir zu folder Erkieflung eines pfarcheren 
gehapt, wollen auch ſolchs mit willen umb euch verdienen. Hiemit 
got befohlen. | 

Datum Martini p. Anno im 33. 

E. €. mwilliger 
MihelBawr, B. zu Dinkelöpuhel (geftrichen: und gaftgeber). 
(D. St.A. Rel.A. S. 171). 


13. Bauer an Matern Wurzelmann, Stadtjchreiber zu Hall, 
Bernharts Bruder. 
Dintelspühl 1533, November 11. 

Dem Erbarn und achtbarn Herrn Materno Würzelmann, 
Statjchreiber zu Hall, meinem lieben Herten und freund zu Handen. 

Gottes gnad jampt meinen allzeit willigen Dieniten zuvor. 
Lieber Herr und freund, nachdem ich freitagß! vergangen von euch 
geritten, bin ic) am famdtag zu nacht heim gen Dinfelspühel kom— 
men. Am montag ift Rat gemefen, alfo habe ich meinen Herrn 
und freunden unfere Handlung der befoldung halb Eures pruders 
Meiſter Bernhards, unferes pfarcheren, fürtragen und ift alfo, got 
hab lob, bey der abred belieben, mie wol ſich der Sathan heim: 
licher weyß mit feinen böfen lügen und liſten geren darwider geſetzt 
bet? Das hab ich euch guter mwolmeinung nit wöllen bergen; 
dann eud und den euern zu gedienen, bin ic) ganz willig. Hiermit 
gott befohlen. 

Datum Martini (ep.) 1533. 

Euer williger 
Michel Bauer, Burger zu Dinfelspühel. 
(D. St.⸗A. Rel. A. ©. 171. Concept.) 
t 7. November. 


? Den Sag: Zum andern fo hab ich unſerm Burgermeifter Hanjen 
Eberharten den brieff überliffert, hat Bauer geftrichen. 


ax 


20 | Bofiert 


14. Bauer an Weiß. 
Dinkelsbühl 1533, November 12. 
Dem erwirdigen und hochgelerten Herrn Adam Weißen, ic. 
pfarrherrn zu Grelßheim, meinem lieben Herrn zu aigen Handen. 
Gottes gnad fampt meinen allzeit willigen Dienjten. Ermir: 
diger Herr, die bejtallung Meiſter Bernharts Würtzelmanns, fo 
E. €., auch mein Herr Johann Brent und zu ainem pfarrherrn 
angezeigt, hab ich meinem Herrn aim E. Nat furtragen und Die: 
jelbig alfo, wie Irs gelefen, willig und gern angenommen und 
darbey lafjen bleiben; darbey bedanken ſich meine Herren gegen 
E. €. fonders vleiß der mühe fo Sr unferd pfarrers gehapt, 
mwöllen auch ſolchs mit ganzen willen umb euch verdienen. Das 
hab ih euch nit wöllen verhalten. Dann €. E. in dem oder 
gleichen zu gedienen, bin ich ganz willig. Hiemit got befolhen. 
Dat. Martini papae am Jar 33, 
Mihael Baur, Burger zu Dinkelspühel. 
(D. St. Ref.A. S. 71. Concept.) 


15. Bernhard Wurzelmann an Bauer. 


Schwaigern 1533, November 25. 

Dem erfamen und weifen Michel Bauer, einem des Rats zu 
Dinfelspühel, meinem lieben Herrn zu Handen. 

Gottes gnad fampt meynen jchuldigen und willigen Dieniten 
bevor. Günſtiger lieber Herr. Nachdem ich von Brentio bin 
bericht worden, das meyn beitallung zum pfarramt zu Dinkelfpüell 
und, was durch Eurer Weyßheyt deshalb verhandellt worden ift, 
von meynen Herrn, eynem Erbarn radt fey bewilligt und ange: 
nommen worden, hab ich ſollichs dem Ernveiten Ludwigen von 
Neyperg, meynem gnädigen Junkhern, eröffnet, der ime dann Die 
Handelung auffs heit hat mißfallen lafjen und mit ungnaden 
angenommen, mir darauf zu verftehen geben, das ich in betrach: 
tung vielveltiger gutthat, von feynem brueder jel. und ime mir 
bewieſſen, ſollt demnach ſollichs billich auſſerhalb ſeynes wieſſens 
nit gethan haben, aber durch Brentzen ſchreyben, meyn verant- 
wortung, auch guter herrn und freundt underhandlung iſt er 
dahin beteydingt worden, daß umb fürderung göttlicher glorie und 
Erhe auch in anſehung des chriſtenlichen und löblichen fürnemens 


Briefe und Akten zur Geſchichte der fränf. Reformation. 21 


eines erbaren radts zu Dinkelfpül (er) mich mit gnaden will ziehen 
lafien. Sp mid) nun der allmedtig Gott darzu berufen, daß ich 
euer pfarcher feyn ſoll, will ih mich verhoffen, unangefehen, daß 
ih mich zu follihen hohen ampt untüchtig erfenn und weyß, er 
werd mich durch feyn geyit erleuchten und ſterken, dieſſen beruff 
zu ſeyns namens glori, zur beſſerung ſeyner gemeyn auszurichten, 
tüchtig machen, dieweil er doc), was töricht ijt, vor der Welt erwelt, 
auf daß er die weyfen zu jchanden made, und was fhmwad tft 
für der Welt, ermwelet, auf das er zu fchanden made, was jtarf 
it. Ferners auf das ich vor Weyennachten bey euch fein mocht, 
fo wer derhalb mein fleyffid bitt, wo es meyner Herrn gelegen: 
heyt jeyn wurdt, mir auf zufunftig fronfajten eyn fur zu fchieden, 
auf das ich zwei bett, meyne bucher und was ich zu berlicher not: 
turft nit geradten kundt, mit mir mocht hinaufbringen, oder ob 
ich gemelte fur, e& wer eyn karch oder wagen, bey mir beftellen 
jollt, beger deshalb von euch als meynem günftigen Herm eyn 
ichriftlih antwort, mich darnach haben zu richten. Hiemit got 
befolhen, der euch zu feines namens glori und Erhe bei gefundt: 
‚heit wöll erhalten. 
Geben auf Katherine Anno im 33. 
E. W. gehorfamer 
Bernhard Würzelmann. 
(D. St. A. ©. 172. Original.) 


16. Bauer an Bernhard Wurzelmann. 
Dinkelsbühl 1533, Dezember. 6. 

Dem wirdigen und molgelerten Herrn Bernhard Wurzelmann, 
pfarrherr zu Schwaygern, meinen lieben Herrn und freund zu 
aigen Handen. 

‚Gottes gnad jampt meinen allzeit willigen Dienften zuvor 
an. Lieber Magijter Bernhardt, Euer fchreiben montag nad) 
Andree! mir zufommen, hab ich feins Inhalts vernommen und ein 
fondere freud darob empfangen, das der edel und ernveſt Ludwig 
von Neyperg euch mit gunſt und genaigtem willen von Ime left 
fommen, deßhalb ich (wie euch und Brengio wohl bewißt) ain 
große jorge getragen hab, aber wie Ir dann fchreibt, durch guter 
Herrn und freund unterhandlung folihe ungnad bei ime abgelain 

1 1. Dezember. 


22 Boffert 


ift worden, das ich dann meinen Herren und ratöfreunden ange: 
zeigt, darvon fie ein befonder gefallen gehabt mit erbietung, ſollichs 
um fein Ernvefti mit willen zu verdienen. Zum andern der fur 
halben, jo ir mir fchreibt, ſchick ich euch aine bei zeigern di 
brief3, werdet Ir aber noch ainer darku bedorffen, gemwinnet die- 
jelbigen, dann meine Herrn ains E. Raths meinſtens jemals 
nach wein ausgefaren und ich euch nurt ein fur hab mugen zu— 
ſchicken, wie wol Ir allain mir von ainer geſchriben, das Ir nichtzit 
dann, ſo euch zum notwendigſten, hinuffzuſchicken willens ſend 
geweſen. Sieht mich vor gut an, das Ir alles ſo Ir mugent, 
wöllent laſſen füeren ausgenommen dieß: betſtat, pelternt, und 
das ir bei euch theur genug verkaufen könnten, doch bei uns in 
einer ſolichen pelten? gut neu ding darfür mügent bekommen. Iſt 
mir wol eingedenk, wie Brentius und Ir mit einander verlaſſten 
(sie ?), das Ir ein zeitlang ewer weib und finder emperen wölltet, 
die nit anfangs mit zupringen, will ich euch nit verhalten, das 
ſolch mein gutbedünken were, ye er ihr mit einander kompt, je 
beſſer es were, ſo irs anders ſchicken könnten, dann es bei ainem 
erbaren Rathe, auch ainer gemainde kain ergernus, wie wir dann 
ſorg hetten, bringen wurdt. Weiter beladent dieſen furmann wol, 
dann wir haben mit ime gedingt umb ain ziemliche belonung. 
Wie Ir mit ainem andern furman zu dem werdet überainkom— 
men, ſo ir anderſt noch ains notdürftig werdet, wöllen wir mit 
ime der belonung halb auskommen. Iſt auch mein vleißig bitt 
an euch, wöllet euch aufs erſt mit herauff verfügen, dann ain 
gemaind bey uns ain gros verlangen zu euch ift tragend. Hyemit 
jeyt got bevolhen. Datum Samstag nad) Barbarä Anno in 33- 
Euer mwilliger 
Michael Bauer, Bürger zu Dintelöpübel 
(D. St.:U. Rel.A. ©. 173. Concept.) 


17. Weiß an Bauer. 
Weiß empfielt einen zum Abfall vom Evangelium neigenden Mönch. 
Crailsheim 1533, Dezember 11. 
Praestanti viro, domino Michaeli Agricolae, senatori ac 
aedıli in Dinkelspuhel, prudentissimo amico sibi valde colendo. 


i peltern, Behälter, fränkiſch — Schrank. 
2 Bälde, Kürze. 


Briefe und Alten zur Gefhichte der fränt. Reformation. 23 


Salus a Domino. Exiticius ille monachus', qui has literas 
ad te fert, ormatissime vir, vix ex papismo egressus jam rursus 
vult ventris tantum caussa in eum locum pergere, ubi rursus 
missare et uxorem abnegare cogitur, Doleo valde et corripui 
hominem, sed frustra. Rogo itague tuam humanitatem, digneris 
et tu quoque, hominem acriter objurgarc, adhibe Harscherum 
nostrum,. Tentate omnia, si forte per vos Dominus aliquid 
efficere dignetur. Ego, si ejus pertinaciam novissem, non 
recepissem eum hospitio. Jam plura scribere non potui, nes- 
ciebam enim, quod ad te divertere vellet. Thunts beft, ob 
man dem teufel möcht den elenden man entziehen. Vale foeli- 
cissime cum uxore et omnibus piis. Uxor mea diligentissima 
(sie) te cum conjuge duleissima salutat. Cursim XI. Decembris 
Anni Christi XXXIU. 

Tuae humanitati deditissimus 
Adam Weyss, licent. 
(D. St.A. Rel.A. ©. 175.) 


18. Lachmann an Bauer. 
Heilbronn 1533, December 12. 


Dem Erſamen und Achtbaren Michell Bawherren, radts und 
burgern zu Dinfelspüll, meinem befundern günftigen Herrn und 
Freundt. 

Die gnad gottes durch Chriſtum Jeſum mit uns. Erſamer 
günſtiger Herr, es wil Meyſter Bernhardus dem Beruf gottes 
nachkommen. Gott verleyhe Sterk und ufferbawung, iſt nit von 
noten, inen euch befelhen als ein Fremdlin und an diſſem ort 
onbekannten. Dan einem bald lauffigen pferd iſt ſporens verge— 
bens. Sein Junkherr hat in mit traurigem Herzen faren laſſen, 
deshalb auch vor gutt anſehe, das die Herren von Dinkelspull 
gegen dem Junkhern bedankten ſich. Solt Irs im Beſten ver- 
fteen, weil genanter Edelman vaſt bei dem Churfürſten dafornen 
und eyn anſehens hat ꝛc. Darneben iſt meyn vleyſſig bitt, die 
ausſtendig ſchuld bei Jacob Meyers ſeligen verlaßne Witwe ewren 
knecht fordern laſſen angeſehen, das ich ſo lang gebetten. Hatt 
gemelts Jakob Meyers Schwiger verheyßen vur ein fl oder ſechs 


24 Bojjert 


Bed (? sie) zu ſchucken; wo ſolchs vorhanden, jhud die Fraw 
und lad am gelt abgeen. Euch in großerem zu dienen, folt ir 
mid (mit Gott) gutwillig finden. Damit Gott dem Almechtigen 
mit ganzem Dinfelfpull trewlich befolhenn, der mol das angehept 
werk jeins heyligen Evangelions voljtreden bis an das end Im 
zur Glory, den armen betrübten gewiljen zur jterf. Amen. 

Aus Heylpronn uff Freytag nah Nicolai Anno 33. 

Joh. Lachmann, e. williger. 

Grüſt mir D. Conraten mein alten conjtanten (sie)!. Grewlich 
new Meer vom Land Wirtemberg und Heydelberg wurd euch Jagen 
M. Bernhart. 

(D. St.A. Rel.⸗A. ©. 174.) 


19. Weiß an Bauer. 
Wegen Abichaffung des Diafonus Blaſius. 
Crailsheim 1534, Januar 10. 

Eximio viro M. Michaeli Agricolae, senatori in Dinkelspuhel, 
suo domino et amico syncero. Salus a Domino. Petit nuper, 
ornatissime vir, M. Bernardus parochus vester, cum mecum 
pernoctabat, ut interea tecum agerem de abjieiendo diacono 
vestro Blasio, referebatque caussas, cur id jam in ejus absencia 
commodius fieri posset. Cogitavi dein de ea re diligencius et 
videbantur adhuc aliqua obstare, quo minus id tuto fieri poterat 
(sic), quae omnia singulatim perscribere non consultum vide- 
batur. Indicavi igitur mentem meam huice communi amico nostro 
Alberto Berlin, qui quiequid in hoc negocio tecum loquetur, 
per me datum crede. Siquid dein tu pro tua pia prudencia 
amplius significare volueris, semper poteris. Vale foelix. 

Die Agathe anni XXXII. Tuns Adam Weyss. 

(D. St.-A. Rel.⸗A. ©. 176.) 


20. Bauer an Weiß. 
Dinkelsbühl 1534, Juli 8. 
Dem ermwirdigen Herrn Adam Weißen pfarrherrn zu Creilßheim. 
Gnad und fride von Chrifto unjerem herren und heyland ſampt 
meinen allzeit willigen Dienjten zuvoran bereit. Ermirdiger Her, 
Lachmanns unlejerlihe Hand erjchwert die Lejung Es läge 
nahe, companen zu lefen. 


Briefe und Alten zur Gejchichte der fränk. Reformation. 25 


Em. Er. follt wol vermeinen, ich het das Ciperlein in hend erfriegt, 
daz ih uff Em. vielfeltig jchreiben E. E. fogar nicht gefchriben, 
it warlich dhain ander urſach, denn meine größte tregin!, daß ich 
jo ungern fchreibe. Nun foll E. E. vermeinen, nachdem Sr mir 
Her Hans Hüfelin? angezeigt habt, wo wir ains Diafoni würden 
notürftig fein, daß wir mit ihm verforgt wern, und wie wir ine 
haben angenommen, will ic) euch nit verhalten, daß er dieſe Fleine 
Zeit ain folchen guten ruff überfommen hat und nit genugjam 
der ler und wejens halb von der gemaind gepriefen fann werden, 
welches mich fonderlich erfreut hat, dann Blafius mit feinen felt- 
zamen praftifen, der gemaind bey uns verporgen, auch bei ihnen 
am anfehen het und ich nit vermeint het, dennodht fein alfobald 
zu vergefjen wern. Denn ich fürdht, er fei noch der alten opinion, 
die reliquias sacramentorum betreffend, wie er fie mit unferm 
pfarrheren gehalten, iſt wol nit von nöten, vil davon zu fchreiben. 
Sch vermein aber, er fol fih zu Jagſtheim anderſt halten, fo er 
jelb8 iſt dominirend. Er kann warlich unter dhainem fein. Item 
wie fie unjer pfarrher M. Bernhard thut halten, und waß guts 
gerüchts und gefunder ler er ijt, ift meniglid) wol wiſſent, daß es 
zu erzelen unnot ift. Der allmedtig wol Emw. Er. und Herm 
Brenz den ewigen lon geben. Zum andern ijt es warlich Frucht: 
barlich und erfchießlich, daß Ir, auch mein Her Brenz, unfer firchen 
einmal bejehent, wie wol ich nit zmeifel, es werdt das wort 
gotted darinnen rein dem völflin von unferen Tirchendenern fur: 
getragen. Yedoch tragen fie etlid Handlung des Capitels, auch 
anderer jachen halb zu die Ceremonias belangent; was darinnen 
fürzunemen oder anzuridhten, wurt es hoch von nöten, daß Ir 
beed euch zu und thonet. Deshalb ift mein denſtlich bitt an E. E. 
bis freitag zunächſt, jo es anderit euer gelegenheit wurd fein, bei 
uns einzufommen, auch einejt uns mit anander zu erlieben, und 
wie wol ich mich des orts dhains abſchlags verjeh, beger ich doch 
von E. E. bey dißem botten ein verjchriben antwurt. Dergleichen 
hab ih auch unfrem Herrn und nachbaurn Joanni Brenten 


1 Trägheit. 
2 Hüfelin von Ellwangen, bis 1534 Pfarrer in Jagftheim, kam 
nah Dinkelsbühl als Diakonus, während Blafius als fein Nachfolger 


nah Sagftheim ging. 


26 Bofjert 


geſchriben. Nit mer! Dann feit Got befolhen und grüßent mir 
eure geliebte Hausfrau ganz freuntlich. 
Dat. Dinkelspühel, Kiliani episcopi im Jahr 1534. 
E. €. allzeit mwilliger 
Michael Baur, Burger zu Dintelsbühl. 
(D. St.A. Rel.A. ©. 185. Concept.) 


21. Gutachten Wurzelmanns über die Pfarrrechte zu Schopfloch. 

Es befigen unfjer hern und obern, eyn erbar radt zu Dinfels- 
bühl, ala rechtmeſſick paftore® der kirchen zu Schopfenlod das 
pfarrlehen desfelbigen ortts. Non haben aber fie mitt des woll— 
gebornen herren Herrn Ludwigen graffen zu Dttingen, des gnabt 
die jurisdiltion zu Schopfloc hatt, ala ordentliche paftores eyn 
Evangelifhen pfarrhern in vermelte pfarr geſetzt. Non hatt aber 
N. von Hirnheym, der dan in gedachtem fleden ettlich hinderſeſſen 
und viliall hatt, in follihe pfarr gehorid, denfelbigen verbotteu, 
das man dem verordnetten pfarrhern eyns erbaren radts wedder 
großen noch kleynen zehenden geben fol, fpoliert allfo widder 
unfjer bern inhabendt brieff und figell, auch langmwirigen recht: 
meffigen befieg und jeyn ſelbs bekanndtliche eyns erbarn radts 
gerechtigfeit ir zehendend aus mechtiger vermeyntter urſach, viel: 
gemellter pfarrher jey nit der allten religion, geb auch nit nad) 
hriftenlihem praud die hochwirdigen Sacramentt. 

Hiemitt iſt der von Hirnheym hiemitt ſchmelich Innryren 
allen chriftenlichen jtenden der augspurgiſchen confefjion, ala ob 
fie feger, auch fich der Saframent nit driftenliche geprauchten, fo 
er doch hierinnen gewaldt und unrecht thutt, auch das mwiedder- 
jpiell offendtlich am tag liegt und diefje Stendt irrer rechten chri— 
ftenlichen religion die höchſten zeugniß haben, nemlich das heylia 
gottlih wortt, wellichs jhe onlaudbar war ift. 

Dorzu dasjennig, fo der von Hirnheym attemptirtt, ift endt- 
gegen und zumwiebder dem Nurnbergifchen friedenftandt, auch feyfjer- 
licher majeftedt Deklaration, wellicher Hlerlich ayngeleybt, dad man 
zehenden, gullten, zinß und rendten geben fol an die ortt und 
endt, wie von alteröher onangefehen, was religion eyn idlicher jey. 

So ift auch im beyerifchen bundt, in wellichem aud das bij- 
tumb Augspurg, auf das er fich referirtt, under anderren irrer- 





Briefe und Akten zur Gefchid;te der fränk. Reformation 27 


bundniß capittell diefjes eyngeleybt, das fie follen und wollen 
den geyftlichen die zehenden, gullten, zyns und rendt geben und 
reychen an ortt und endt wie von alter her onangefehen, mas 
religion eyn idlicher jey. 

Es hatt fih auch kunickliche majeftedt in furftentumb Wirt: 
temberg lautt vermelt3 capitellö zu thon niehe geweygertt. Dan 
wan eyner dem andern der ftrittigen religion, halb nit bezahlen 
dorfft, wuſſten ſiech die unfjern zu irem nuß follicher erception 
auch geprauchen. 

Wie wer aber den fahen zuthon? Reſp. So unfer hern 
und obern an der fchmalkaldifchen eynnigung weren, bedorfft es 
nit viell beradtfchlagung, dan man bedurfft follich den haubt- 
leutten der pundtnniß alleyn zu ſchreyben, fo wer den ſachen ſchon 
geradten. 

Dieweyl aber unffer hern in gedachter eynnigung nit jeyen, 
mochten fie fiech dies von dem von Hirnheym am Gamergeriecht 
beflagen, fo glaub ich, unangefehen, was bis hieher von innen par: 
theyifcher weys gehandellt worrden, dieweyll unffer bern fie nit 
vecuffirt haben, fie follten ſiech hirin unverweyßlich und der decla: 
ration gemeß halten. 

Es mer auch gut, das man fiech bey denen von Nurnberg 
befragt, die auch, ob fie Schon nit Schmalfaldifche feyen, von wegen 
der religion auch (sie) haben das beneficium des friedenftandts 
der keyſſerlichen Declaracion, mas fie doch in gleychem fall thon 
welltent, dorzu hierin Irs radts begeren. 

(D. St.A. Rel.A. Fol. 269 f.) 


22. Neue Beftallung Wurzelmanns 1538, Februar 4. 

Anno 38 Pfarrerd alhie jüngfte Beſtallung. Actum Montag 
nah Lichtmeß. 

Iſt Bernhardt Wurzelmann, damals pfarrer zu Dinkelspuhl, 
vor befammleten Raht erſchinen, under anderm anzaigend, nachdem 
ſich uf ſchierſt Funftig Weyenacht fein Zeit, fo er von einem Erbf. 
Raht ufgenohmen, enden wurde, bete er Ihne zu verjtendigen, ob 
ein Raht ihne lenger zu einem pfarrer behalten wolt oder nit. 

Darauf er auszutreten gehaißen, widerumb eingelaffen und 
die Zeit ala nemblid, ob er fein lebenlang alhie bey einem Raht 


28 Bojiert 


beleiben woll oder nit, in feinen willen geitellt worden. Uf ſolches 
Pfarrer angezatgt, es möcht Gott fein gnad entzihen, darvor doch 
Gott guediglich fein well, daß es zu folcher enderung gerathe, daß 
er einem Raht ferner nit gelegen noch zu gedulten fein. Derhal: 
ben er etlich bejtimbte Jahr leiden möchte. 

Darauf ift er von einem Erb, Naht mwiderumb inmaßen wie 
vor, nemblich daß er nichzit ander8 dann, was er mit biblifcher 
göttlicher heiliger Fchrifft alhier vor den menfchen vertödigen und 
zuvorab gegen Got dem allmechtigen verantworten well, ſechs 
Jahr lang die nechiten uf und nad) einander folgend angenohmen 
worden. 

Deßaleichen it uf ſolchen tag von einem Naht befchlofjen 
und nad gewohnlicher Umbfrag ein lauter Mehrer worden, daß 
furohin die firchenpfleger und der pfarrer den helfer uf etliche 
Jahr annehmen und die firchenpflege des gelt ihme dem Helfer 
geben jollen, 

Abſchrift aus dem alten weißen pergament gebundenen Bud): 
Statuta zufammengezogen in Gerihts und ander fellen anno 1538, 
gefertigt im dreißigjährigen Krieg. 

(Dink. St.A. Rel.A. Fol. 175b.) 


Zur Geſchichte des Evangeliums in GOberſchwaben. 
Von Pfarrer Boſſert in Bächlingen. 


Hhüchtern gebe ich die nachſtehenden Notizen aus der Hand, 
denn ich betrete damit den mir fehr entlegenen und etwas fremden 
Boden oberſchwäbiſcher Geſchichte, aber vielleicht laffen fi dadurch 
Andere ermutigen, die Gefchichte der Reformation in Oberſchwaben 
neu anzufafien, eine Arbeit, die fiher lohnt. Wohl befigen wir 
für die Ulmer Reformationsgefhichte die ſchönen Arbeiten von 
Veefenmeyer und Keims Mufterwerk. Aber die von Veefenmayer 
gefammelten Reformatorenbriefe, die er mit feiner leferlihen Hand 
jauber aus den Driginalen der Simlerſchen Sammlung mühjam 
abgejchrieben, harten noch der Veröffentlihung. Von Fredts 
Briefwechfel habe ich ein Bruchſtück mit Hilfe eines befreundeten 
Kollegen herausgegeben, aber feine übrigen Briefe find noch ſämt— 
lih unbelannt.e Das überaus injtruftive Protokoll der erften 


ee EEE ET nn 


Zur Gefhichte des Evangeliums in Oberfhwaben. 239 


Ulmer Kirchenvifitation ift noch gänzlich im Archiv vergraben, und 
doch würde dieſes Protofoll und ein Licht über die firchlichen Ge- 
meindezuftände, über Sittlihfeit und Sitte im Ulmer Landgebiet 
geben, wie e3 in unjerer Zeit hocherwünfcht fein. muß. Für 
Biberach find wir auf das dürftige Buch von Ejfih angemiefen. 
Und mas bieten Leutlich und Isny an Darftellungen ihrer Re: 
formationsgefdhichte, welche den Bedürfniffen und den berechtigten 
Anfprühen der Wiſſenſchaft entiprähen? Das Büchlein von 
Hafner über Ravensburg ift wertvoll, man muß es dem Berfaffer 
hoch anrechnen, daß er fih an die Entzifferung der Urkunden des 
ſtädtiſchen Archivs gemacht, aber er wird auch noch die bisherigen 
Forfhungen auf andern Gebieten für die Ravensburger Reforma- 
tion verwerten müfjen. Und mie jteht es mit der Bodenjeegegend, 
wie mit der Donaugegend um Riedlingen? Auf Philipp Melhofer 
von Erisfirh, eine völlig unbekannte Berfönlichkeit, habe ich in 
Luthardts Zeitfchrift für kirchliche Wiffenfchaft Jahrgang 1884 
aufmerkſam gemadt. Aber wer weiß etwas von Dr. Zwicks 
Schrift an die Riedlinger (Weller, Rep. typogr. falſch: Reutlingen) 
„Seihrifft Doctor Johanns Zwiden an feyne yhm von got be: 
vohlen vunderthonen zu Rüdlingen, anzöugend, auß was vnrect- 
mefjigen vrfachen er von der Pfarr dafelbit abgeftoffen und ain 
anderer eingetrungen feye worden mit angehendter getremer ver: 
manung, wie jye fi) fürohin gegen dem neumen vermaintten 
pfarrer vnd feiner Ieer halten föllind, darinn er fie auch 
väterlich aller feyner leer in ayner ſumm erinneret vnd bey der— 
jelbigen zu bleyben getrungenlih vermandt. Anno M.D.XXVJ 
jahr.” 6 Bogen (Weller) oder 22 Blätter (Kuezynski)? Wie mert- 
voll Zwicks Briefe aus Riedlingen an feine Freunde für die ober- 
deutfhe Reformation wie für die Gefchichte Niedlingens fein 
müßten, bedarf feiner weiteren Begründung. Ungemein lehrreich 
müßte eine Geſchichte der Fatholifchen Kirche Oberſchwabens und 
vollends eine aftenmäßige Kultur: und Sittengefchichte dieſes Ge— 
biet3 von der Reformation bis 1800 fein, felbft wenn fie erſt aus 
Bruchftüden erwüchfe, die fih auf einzelne fleinere Gebiete be: 
Schränften. Die Theſe Janſſens, die in ultramontanen Kreifen jo 
ſtark auögebeutet wird, daß die katholiſche Kirche Religiofität, 
Sittlichfeit und Wohlftand hebe, der Proteftanttismus ſie unter- 





30 Boſſert 


grabe, würde ſo eine Beleuchtung erhalten, die bei allen Freunden 
der Wahrheit auf den wärmſten Dank rechnen dürfte, beſonders 
bei denen, welche die Frage nach den Grundlagen des Staats: 
wohls verfolgen. Die nachfolgenden Kleinen Notizen, welche meift 
nur nebenbei abgefallen find, als ich die Archive und ältere Drud- 
Schriften für die Geſchichte Rottenburgs während der Neformations- 
zeit benügte, dürften mit ihrem unbefannten Material vielleicht in 
der oberſchwäbiſchen Diafpora eine freundliche Aufnahme finden. 
Boran ſtelle ich eine Frage, deren Beantwortung in Ulm wohl 
gelingen wird. 
1. Der Berfafler des Sendbriefs eines jungen Studenten zu 
Wittenberg an feine Eltern im Land zu Schwaben. 

Am Montag nad Lätare 1523 ſchrieb ein junger Student 
in Wittenberg einen, fo viel ich jehe, bis jett wenig befannten 
Brief an feine Eltern in Schwaben, um Luthers Lehre zu vertei: 
digen. Der Brief wurde unter dem Titel: Ain Sendbrief von 
aym ungen Studentten zu Wittenberg an feine öltern im land 
zu Schwaben von wegen der Lutherifchen leer zugefchrieben. Im 
Jar M.DXXIU (6 Bl.) in den Drud gegeben. Keim hat feine 
Notiz von demfelben genommen, ob Beefenmeyer ihn kannte, kann 
ich nicht feitjtellen, mir ijt er bei Abfaffung der Abhandlung „Luther 
und Württemberg” entgangen, was ih um fo mehr bevaure, als 
er gerade in die freudige Begeifterung und den jtarfen Glaubens: 
mut der jungen Schwaben, welche zu Luthers Füßen faßen, einen 
Blick thun läßt. 

Unfer Student hatte mit der Eltern Erlaubnis die Univer: 
jität Leipzig bezogen, die ftarfe Vertreterin des alten Glaubens, 
die bei der Disputation Ecks ſich unzweideutig auf defjen Seite 
gejtellt. Bald aber ward ihm flar, daß auf der hohen Schule zu 
Wittenberg „der rechte lautere Brunnen der göttlichen Wahrheit 
baß durchgraben und erfucht fei, auch reiner aus dem Grund her— 
für gejtrihen wird.” Darum zog er nach Wittenberg, wo er „die 
vechte Arznei der Seele ergriff“ und wohl gelernt, „fich felbft und 
andere Kranken meltliher Schäden der Seel zu gut“ zu helfen. 
Solches vernahmen fein Vater und feine Mutter mit Betrübnis, 
denn fie hingen noch der alten Lehre an, deren Loſung ift: „gib 
her”. Sie vermeinten, ihr Sohn habe gar ein groß Übel und 


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Bur Gefhichte des Evangeliums in Oberſchwaben. 31 


eine böfe Sache gethan, daß er zu Luther, „ven Verführer der 
Welt”, gezogen. Darauf ſchrieb ihm die Mutter einen heftig 
erregten Brief, in dem fie feinen Irrtum hoch beflagte, ihn bat, 
von Luthers Lehre wieder zu weichen, und ihn ermahnte, alsbald 
von Wittenberg abzuziehen, denn man werde Luther und die von 
Wittenberg überfallen und belagern und dann werde die Kuh mit 
dem Kalb gehen, d. h. der Verführer werde mit den Verführten 
verderben. In treuer mütterlider Sorge fchidte fie dem Sohn 
ein Amulet, um fi vor Verwundung durd Gefhüb und anderer 
Gefahr zu fhüsen. Den Brief hatte die Mutter ihrem Sohn 
durch einen Kaufmann von Ulm geſchickt: dieſem gab der Sohn 
die Antwort mit, in der heiterer Studentenhumor und tiefer 
Glaubensernft ſich miſchen. Die Beforgnifje der Mutter, daß 
Mittenberg überfallen werden möchte, widerlegt er mit der voll 
fommenen Ruhe in Wittenberg. „Die ſächſiſchen Bauern hießen 
einander nur mit Bierfannen und Knadmwürften.” Luther und die 
Wittenberger tragen feinen Harnifh, ihre Ringmauer, die der 
Sturm drei Tage vor Thomä 1522 eingerifjen!, haben fie nod 
nicht gebaut. Die Steine dazu müßten wohl erjt im Thüringer 
Wald auf den Bäumen wachen, da die Ringmauer nur von Hol; 
jei. Alle die böfen Mähren feien von „hochjchreienden Gottes- 
verfolgern” erfunden. Man lüge von einem Dorf ins andere, 
warum follte dann nicht von Sachſen bi8 Schwaben gelogen wer— 
den? Gott werde fein Wort, das Luther und die von Witten- 
berg verteidigen, verfechten. Schon früher hatte der Sohn feiner 
Mutter gefchrieben, fie follte um ihn feine Sorge haben, er wohne 
unter frommen, tugendhaften, friedfamen Leuten, und es gehe ihm 
durhaus wohl. Sie folle nur allein fih „mit Gott“ befümmern 
und ihn ohne Unterlaß um göttlihe Gnade und Fräftigen Glau— 
ben bitten, dann würden fte mit einander hier und dort heilig und 
jelig fein. „Ob wir gleich aller Mönche und Pfaffen Gugel und 
Kappen, Mäntel und Chorhemden, Fajten und Metten, Beten und 
Machen, auch aller alten Weiber Roſenkranz, Pfalter und Sturtz 
(Zrauerjchleier) angeftreift, auch viel geplappert und vollbracht 
hätten, möchte uns das nicht um dad mindeite Pünktlein zur. 
Seligfeit helfen.” Das Vertrauen auf ſolche Dinge fei die größte 
Sunde auf Erden. Denn Gott macht aus Gnaden felig, die auf 
ı Ein mir unbelanntes Ereignis. 


32 Bofjert 


ihn vertrauen und glauben. Chriftus hat uns mit feinem Tod 
das ewige Leben erfauft, aber die ungelehrten Hirten und die 
geizigen Mönche haben gelehrt, wie wir mit guten Werfen als 
Falten, Beten, Beichten, Mepftiften und Kirchenbauen den Himmel 
verdienen follen, damit fie reih, groß, wohl gehalten und auch 
wohlgemäftet bleiben. „Was wir anfahen im Glauben und im 
Anfehen Gottes, ift alles gut und Gott angenehm. So wir zu 
Ader gehen oder fonft im Schweiß getreulich arbeiten, auch mit 
Kinderfäugen, Wifchen oder Wafchen oder was Arbeit es ift, das 
iſt viel taufend mal befjer, dann jo ein Mönd oder Nonne fie: 
benzig Jahre im Klofter geftedt ift.* Aus dem rechten Glauben 
fließen die guten Werfe der brüderlichen Liebe Mat. 25 von felbit. 
Anrufung der Heiligen, die von der Erde abgefchieven, deren Geiſt 
in Frieden bei Gott wohnt, ift heibnifcher Gößendienft. Verkehrt 
ind Wallfahrten nah Nom, St. Jakob, Aachen oder Einfiedeln. 
„Beh einer in feines Nachbars Haus, jehe, was ihm fehlt und 
anliegt, helfe ihm, rate ihm und diene ihm, das heift die Schrift 
die Heiligen heimfuchen und ehren.” „Liebe Mutter, mein lieber Vater 
hat mir auch gefchrieben, wie er auch ein guter Chrift fei, den 
Glauben in Gott habe, das Evangelium wifje und oft gehört 
habe, wiffe au, was er thun fol. Wollte Gott, es wäre fo. 
Sch habe feinen Brief etliche Hochgelehrten heiliger Schrift leſen 
lafjen, fie fönnen nicht? vom Glauben in feinem Brief merken 
und jagen, er fei ein irriger Mann, der noch im verführerifchen 
Gefängnis liege, für den man Gott bitten müfje, daß er ihn aus 
den böſen Striden losmache.“ Für das Wächzlein mit dem drin 
verborgenen Agnus Dei, das ihm die Mutter forgfältig verwahrt 
gefchiet, und das vor Schiefien, Stechen, Hauen, Fallen und allen 
derartigen Schäden bewahren könne, dankt der Sohn, denn er 
erfennt darin die mütterliche Liebe und freundlichen guten Willen. 
Uber ſolch Wachs helfe nicht mehr al3 anderes Wachs und jei ebenjo 
Zauberei wie Palmen, gemeihte Rauten, geweiht Salz und Waſſer 
und Wachslichter. Daher bittet er, feinem Bruder kein ſolches 
Wächslein zu geben. Launig bemerkt der Sohn, ein weſtfäliſcher 
"Bauer habe ihn neulich eine befjere Kunſt gelehrt, die vor Geſchütz, 
Streihen, Wafjer und Feuer ſchütze. Das fei eine Wurzel, die 
man hinter dem Dfen grabe, und heiße: Weit hintan. Eine gute 











Zur Geihichte des Evangeliums in Oberjchwaben. 33 


Kunft wüßte er noch für die Mutter, wenn fie nämlich den Vater 
bäte, daß er ihn noch länger in Wittenberg lafje. Das Neue 
Tejtament, das Dr. Martin Luther verdeuticht und er der Mutter 
offenbar früher gejchidt, möge die Mutter lefen und es männiglich 
lefen lafjen. Der Sohn will demnädit nad) Leipzig auf den 
Markt ziehen und, wenn der Markt ſich gut anläßt, daß er viel Geld 
löfe, innerhalb vier Mocen einen braunen Filz faufen. Mit 
einem Gruß an den Vater, die Schweiter und Brüder und alle 
Freunde jchließt der Brief. 

Dem Berfaffer diefes Briefes begegnen wir noch einmal, denn 
er ift der junge Student, welchem Heinrich Kettenbach, ala er auf 
feiner Flucht von Ulm nah Wittenberg fam, fein Balete, feinen 
Abfchiedsfermon an die Ulmer, zum Drud übergab. Allg. D. 
Biogr. 15/677. Es ift fein Zweifel, daß der Student feine Hei- 
mat in Ulm hatte. Der Bater jcheint ein Kaufmann geweſen zu 
fein, dejjen Waren der Sohn in Leipzig verfaufen half. Er ftu- 
dierte, wie es fcheint, Medizin. Hätten wir eine Matrifel von 
Leipzig, jo würde eine Vergleichung mit der Wittenberger Matrifel, 
die Förftemann herausgegeben, bald Gemißheit über den Berfafler 
geben. So muß es der Ulmer Lofalgefhichte überlaffen bleiben, 
die Frage nach dem Verfaſſer zu löſen. 


2. Ser Einfluß der Ulmer Reformation anf die Umgegend. 


1) In Göttingen, einer Patronatspfarrei des Klofters 
Miblingen, hatten die Ulmer dem altgläubigen Pfarrer die fernere 
Haltung des katholiſchen Gottesdienftes unterfagt. Am 26. Auguft 
1531 erhielten die Fugger als Inhaber der Grafſchaft Kirchberg, 
unter deren Schirm das Klofter Wiblingen ftand, den Befehl, das 
Klofter im Genuß feiner PBatronatspfarrei zu fügen und dem 
Pfarrer zu befehlen, die Meſſe und alle alte chrijtliche Ordnung 
weiter zu halten, allein die Ulmer fragten nichts nach dem Befehl 
der öfterreichifchen Regierung, da fte unbeftritten die hohe Obrigfeit 
in Göttingen hatten. J 

2) Sn Talmeſſingen, Dellmenſingen, einſt einem Haupt: 
herd der Bauernbewegung des Baltringer Haufens, hatte der 
Ulmer Patrizier Jakob Gred ſchon 1538 einen „zwingliichen“ 
Prediger eingeſetzt; ohne Zmeifel hatte derfelbe ununterbrochen 

TheoL Studien a. W. VII. Jahrg. 3 


34 Bojjert 


evangelifche Nachfolger. So hören wir, daß Phil. Jakob Gred 
1555 in Dellmenfingen einen „ſektiſchen“ Prediger hatte, nur heißt 
derſelbe jett lutheriſch. Oſterreich drang auf Abſchaffung desſelben, 
ohne etwas auszurichten. 

3) In Weiler, einem Filial von Unterkirchberg, Oberamt 
Laupheim, heute Unterweiler, war bisher nur eine Kapelle geweſen. 
Im Jahr 1545 hören wir, daß die Ulmer einen „neu ſektiſchen“ 
Prediger dafelbit angejtellt und für Ddenfelben auf ihren Gütern 
ein Häuslein gebaut hatten, worin Öfterreich einen Eingriff in 
jein Hoheitsrecht fieht, da Weiler zur Graffchaft Kirchberg gehörte. 

4) Im Sahr 1555 wird geflagt, dat Erasmus Rot zu 
Slerrieden und Eitelhans Befjerer zu Shnürpflingen 
evangelifche Pfarrer haben, welche Ofterreich vergeblih zu ver- 
drängen ſuchte. Die Oberamtsbefchreibung kennt erit 1580 einen 
evangelifhen Pfarrer in Schnürpflingen, von llerrieden und 
Dellmenfingen weiß fie nichts. 

5) Georg Beflerer hatte auch einen lutherifchen Prediger zu 
Rohr angeftellt. Die Lage dieſes Ortes weiß ich nicht zu beftimmen. 
Der Fatferlihe Landvogt Hans Werner von Naittenau war in 
Rohr eingefallen und hatte den Prädikanten gefangen genommen 
und weggeführt. Am 31. Juli 1563 erklärt die öfterreihifche 
Regierung, Ferdinand werde fchlechterdingd keinen lutherifchen 
Prediger in Rohr dulden. 

6) Auffallend ift, daß K. Ferdinand am 3. September 1563 
erflären läßt, er werde die Anftellung eines lutherifchen Prädi— 
fanten in Holzheim, d. h. Oberholaheim, Oberamt Laupheim, 
dur die Ulmer nie und nimmer zulaffen. Nach der Oberamts— 
bejchreibung Laupheim hatte der Spital zu Biberach das Patro— 
natsrecht in Holzheim. Sollte vielleicht die Dorfobrigfeit in den 
Händen der Ulmer Umgelter und Roth geweſen fein ? 


3. Der reformatoriiche Einfluß Biberach: auf die Umgegend. 

1) Am 19. Dftober 1531 mirft die öfterreichifche Regierung 
den Städten Waldfee, Riedlingen, Saulgau, Munder: 
fingen und Mengen vor, daß fie die föniglihen Mandate 
gegen die Iutherifche Sefte ganz „liederlich“ halten. Etliche ſechs 
oder jieben Bürger von Riedlingen waren in Biberach zum „vers 


Zur Geihichte des Evangeliums in Oberſchwaben. 35 


meintlichen” Nachtmahl gegangen. Zwar hatten die Riedlinger 
diefe Kommunifanten nad) ihrer Rüdfehr gefangen genommen, aber 
jie ohne weitere Erfundigung und ohne jegliche Strafe der Haft 
entlaffen. Etliche von Munderlingen waren auch in die Städte 
gegangen, wo man „die verführerifche Sekte hält“, um die Predigt 
zu hören, hatten in Munderfingen deutſche Gefänge angejtimmt, 
über Glaubensſachen disputiert und das hochwürdige Saframent, 
d. h. die Meſſe verachtet, ohne daß man diefelben zum Berhör 
oder zur Strafe eingezogen hätte. Man hatte ihnen Alles ruhig 
nachgejehen, da fie den Ratöfamilien verwandt waren. Schon 
hörte man in den Donauftädten die Glaubenzfreiheit als Grund- 
jat verteidigen, man dürfe es nicht verbieten, Gottes Wort zu 
hören. 

2) Sn Zaupertshaufen, Oberamt Biberach, war der Pfarrer 
c. 1533 oder Anfang 1534 „vom chrijtlichen Glauben gejtanden“ 
und hatte angefangen, wider die Mefje zu predigen. Seine Wohn: 
ung hatte er in Biberah genommen, da er wahrſcheinlich ein 
Biberaher Stabtfind war und vor den Angriffen des öſterreichi— 
ſchen Zandvogt3 im Pfarrhauſe in Zaupertshaufen nicht ficher war. 
Zu den Gottesdieniten begleiteten ihn die Biberacher nach Lauperts— 
haufen. In der Gemeinde war feine Anhänglichfeit an den alten 
Glauben. Selbſt der Ammann (Schultheiß) hatte am Sonntag 
in der Ernte Garben gebunden, und etlihe Bauern in Ellmanns: 
weiler hatten an dem altlirhlichen Feiertag Mariä Magdalenä 
gearbeitet. Oſterreich, unter deſſen hohe Obrigkeit Zaupertshaufen 
gehörte, verbot am 17. März 1534 den evangelifchen Gottesdienit, 
ob jhon damals mit Erfolg, kann ich nicht Fonftatieren. 

3) Sn Bühl bei Roth, Dberamt Laupheim, predigte ein 
einfältiger Schäfer die Iutherifche Lehre und griff die „hriftlichen 
Aufſätze und löblichen Bräuche der wahren Religion“, wie man 
in Innsbruck ſich ausdrüdte, heftig an. An glaubigen Zuhörern 
fehlte es nicht. Deshalb erhielt der öjterreichifche Landvogt am 
8. Juni 1534 den Befehl, den Schäfer ohne Rumor gefangen zu 
nehmen und ihn nad Ravensburg zu führen. 

4) In Stafflangen hatte der Biberadher Bürgermeifter 
Chriſtoph Greter den alten Pfarrer abgeſetzt, die Meſſe abgejchafft, 
das gemweihte Taufwaſſer weggefhüttet, die Bilder hinweggethan, 

3* 


36 Boſſert 


das „Hochwürdige“ ſamt dem heiligen DI aus den Kapſeln und 
filbernen Büchſen geleert und fie in Sädchen und Geſchirren dem 
alten Pfarrer um den Hals gehängt und ihm gedroht, wenn er 
diefe Dinge nicht aus der Kirche entferne, wolle er noch anders 
wider ihn verfahren. Vfterreich verlangte 1539 die MWiedereinfeb- 
ung des alten Pfarrers, aber 1545 war noch ein Iutherifcher 
Pfarrer ungeftört im Amt. Es jcheint, daß die ganze Sade in 
Innsbrud Sahre lang vergefjen blieb, denn am 25. April 1545 
befam der Landvogt einen Verweis, weil er nicht berichtet habe, 
daß Greter den alten Pfarrer vertrieben und einen „ver neuen 
Zehre anhängigen“ eingefeßt habe. Sehr zweifelhaft jcheint mir, 
daß Stafflangen fhon 1548 wieder fatholifchen Gottesdienft hatte, 
wie die Oberamtsbeſchreibung Waldfee S. 213 angiebt. 

5) Bon den Nonnen in Gutenzell, die im vielfacher Be- 
ztehung zu Biberach ftanden, machte ſich 1542 die Bejorgnis gel: 
tend, ſie möchten, nachdem fie mit ihrem Vermögen übel gehaust, 
vom Ffatholifchen Glauben abfallen und der ganze Konvent möchte 
auseinander gehen. 


4. Die evangeliichen Herren von Freyberg in Juftingen. 

1) Es iſt befannt, daß Georg Ludwig von Freyberg in 
Juſtingen einen evangelifchen Prediger hatte, wie er denn auch zu 
den treueften Freunden Kaſpars von Schwenkfeld gehörte. Der 
lutherifche Pfarrer in Juftingen aber wußte aud) in ES helflingen 
Anhänger zu werben, fo im Wirtshaufe und in andern Häufern, 
weshalb ihm von der öfterreichifchen Obrigkeit das Betreten des 
Orts 1537 verboten wurde. 

2) In Griefingen hatte das Klojter Salmannsweiler, heut- 
zutage Salem, den Pfarrfag von Herzog Albrecht von Vfterreich 
geſchenkt erhalten, die Freyberg aber hatten dort Unterthanen. Da— 
rum hatte Zub von Freyberg in Griefingen jedenfalls vor 1540 einen 
„neuſektiſchen“ Prädikanten angejtellt, die Altäre abgebrochen, die Ta- 
feln mit Bildern entfernt und die Ornate weggenommen. Er hatte ſich 
darauf berufen, daß der Abt einen zum Pfarramt völlig untauglichen 
Mann, einen Schreiber, nad) Griefingen gejegt habe. Der Abt, 
darüber von Öfterreich zu Rede geftellt, entfchuldigte fich, der Kloſter— 
pfleger in Schemmerberg habe den Mann nur einjtweilen in den 





Zur Gefdhichte des Evangeliums in Oberjchwaben. 37 


Pfarrhof gejebt, bis ein Pfarrer vom Abt ernannt fer, um den Pfarr: 
hof faktiſch im Beſitz zu behalten. Wie es jcheint, jtand die 
Bevölkerung auf Seiten des Freybergerd, Oſterreich verlangte 
aber wiederholt 10. Dezember 1540 und 4. April 1541 Wieder— 
anjtellung eines katholiſchen Pfarrers. Der reyberger mußte 
nachgeben. 

3) Auch für feine Unterthanen in Heufelden, das bisher 
Filial von Ehingen gewejen war, aber einen Kaplan hatte, war von 
Zug von Freyberg ein lutherifcher Prädikant angejtellt worden, 
der ſich nicht damit begnügte, den Heufeldern das Evangelium zu 
predigen, fondern auch den herfömmlichen Glauben und bejonders 
die Saframentenlehre der katholiſchen Kirche ſcharf befämpfte. Des: 
halb erhielt der als Feldherr berühmt gewordene Konrad von 
Bemelberg, „der kurze Heß“, welchem Ofterreih die Herrſchaft 
Schelflingen verpfändet hatte, den gemefjenen Befehl am 15. Sep: 
tember 1541, den Prädikanten, wo er ihn betreten könne, gefangen 
zu nehmen. Aber Bemelberg jcheint fein Glück gehabt zu haben. 
Der Pfarrer blieb. Am 11. Januar 1546 mußte von Ge, Zub: 
wig von Freyberg aufs Neue verlangt werden, daß er einen ka— 
tholiſchen Priefter nach Heufelden ſetze. Nach des Kaijers Sieg 
im Schmalfaldiichen Krieg mußte ſich Freyberg bequemen, einen 
Vertrag wegen Heufelden abzufchließen, mit dem Öfterreih 1548 
befriedigt war. 


5. Die Einwirkung der Reformation auf die katholiſchen 
Herrichaften und ihre Unterthanen. 


- So fehr ſich Ofterreih in der Landvogtei Oberſchwaben famt 
den zahlreichen oberſchwäbiſchen Prälaten gegen die Reformation 
fträubte und dieſelbe verfolgte, den Geift der Reformation konnten 
fie nicht bannen, fein Hauch drang auch über die Grenzpfähle und 
wirkte zunächſt auf die Unterthanen, aber zwang auch die Herr: 
Ihaften, in mandem Stüd die alten Bahnen zu verlaffen und ein 
Neues zu pflügen. Das zeigte fich nach verfchiedenen Seiten. 

1) Die Wiedertäufer. Die Predigt und den regelmäßi- 
gen evangeliichen Gottesdienjt konnte die katholiſche Obrigkeit ver: 
bieten, aber das Verlangen nad Gottes Wort ließ ſich nicht ver- 
bieten noch unterdrüden. Die Sehnſucht nach Beſſerung der 


38 Boſſert 


Kirche war auch in Oberſchwabens katholiſchen Gebieten erwacht, 
aber ohne Befriedigung geblieben. Was ſich allenthalben beob— 
achten läßt, daß ſich, je weniger ſolche Sehnſucht auf ordnungs— 
mäßigem Weg gejtillt wird, umfomehr die Seftiererei regt, trat 
auch hier ein. Die Fatholiichen Machthaber erwieſen fih als 
machtlos, die Täuferei von ihren Gebieten ferne zu halten. Aber 
es bemwahrheitete fi), was der feurige Andreas Keller in Rotten- 
burg am Nedar gepredigt: Den Römischen ift nicht gut wider: 
ſprechen noch mit ihnen disputieren, denn fie haben ſcharfe Argu— 
mente, nämlih Ccheiterbeugen und ſpitze Schwerter. So hören 
wir denn aus den Miedertäuferchronifen, daß ſchon in den Jahren 
1527—31 zu Waldfee vierzehn Wiedertäufer mit Waſſer und 
Schwert gerichtet wurden, ebenfo acht zu any mit Feuer, Waſſer 
und Schwert. (Bed in den Fontes rer. Austriac, 43, ©. 311). 
Aber all diefes Hängen und Würgen half nichts. Öſterreich ver- 
lor nur Unterthanen, ſchädigte jeine Einnahmen an Steuern durd) 
die Hinrichtung und Verbannung der Täufer, erntete Haß und 
tiefe Verachtung aud bei den Altgläubigen, denen bei diejen 
Blutgerihten graute. Darum war man froh, auf andere Mittel 
zu fommen, mit denen man über die Keberei Herr zu werden 
hoffte, Mittel, zwar weniger blutig, aber nicht minder graufam 
und unmürdig und immer wieder ein Beweis, daß man nichts 
von der Macht in fich fühlte, von der der Apojtel jchreibt: Unfer 
Glaube ift der Sieg, der die Welt überwindet. Sm Sahr 1535 
wurde ein Oberſchwabe Georg Staiger ala MWiedertäufer eingezogen. 
Seine Heimat tft nicht genannt. Es wurde befohlen, bei ihm ein 
fonft von der vorderöfterreihifchen Regierung probat erfundenes 
Mittel anzuwenden, um ihn zum Widerruf zu bringen. Man 
jollte ihn mit Sailen binden, ihn entblößen, ihm darauf mit Sai— 
len die posteriora bearbeiten und endlich ihn mit Ruthen ftreichen. 
(20. Zuli 1535 an den Landvogt von Schwaben.) Wirklich blieb 
der Erfolg bei Staiger nicht aus, er widerrief, man hatte ihm 
buchjtäblich den Fatholifchen Glauben eingebläut. Aber damit war 
man nicht zufrieden. Er mußte am Sonntag während der Meſſe 
von der Kanzel aus die Miderrufsartifel, die ihm der Pfarrer 
Wort für Wort vorfagte, nachſprechen und in einer Urfehde 
befhmwören, daß er fünftig feiner Sefte mehr anhängen wolle. 





Zur Geihichte des Evangeliums in Oberſchwaben. 39 


Aber eine Schwalbe macht noch feinen Sommer. Die Neigung 
zur Geftiererei war mit der exemplarifchen Behandlung Stat: 
gers und feinem Widerruf nicht niedergefchlagen. Faſt im Herzen 
der Landoogtei, in Waldfee, tauchte 1561 eine geheimnißvolle 
Gemeinschaft auf, deren Charakter aus den Akten nicht Klar her- 
vorgeht. | 

Nur jo viel ift flar, daß es religiöfe Motive waren, was 
die Leute zufammen führte. Die öfterreichifche Regierung vermutete, 
daß fie es hier mit heimlichen Wiedertäufern zu thun habe, fie 
nennt diefelben die ärgerliche Gartenbrüderfeite. Sie ariff jtar! 
um fih. Ihr Führer war Hans Praun, Keßler in Waldjee. Der 
Keßler, befahl die öfterreihifche Regierung am 31. San. 1561, 
follte gefangen genommen und wegen feines Glaubens, bejonders 
„ver wiedertäuferifchen Sekt halb“ eraminiert werden. Seine 
Hüter follten inventarifiert und feinem Weib und feinen Kindern 
ein Vormund beftellt werden. Ebenſo jollte es mit feinen Jüngern 
gehalten werden. Sollten fie ſich dadurch nicht abjchreden laſſen, 
dann follte man fie der Stadt verweifen. Mehr geben die mir 
zugänglichen Quellen nicht, aber es fcheint der Mühe wert, diejer 
eigentümlichen Sekte etwas weiter nachzugehen. 

2) Die Shärfung des fittlihen Urteils und Die 
Befjerung der Sitten. Es ift erftaunlih, die Unzahl von 
Mordthaten zu lefen, die ſich in Oberſchwaben in jener Zeit ereig- 
neten und denen auch Pfarrer zum Dpfer fielen. Se wurde 
1532 der Pfarrer Veit Scherpfer von Schemmerberg von einem 
Bürger aus Altheim ermordet, ebenjo 1535 der Pfarrer von Hoc 
dorf in der Vogtei Warthaufen. Es waren das nicht Märtyrer 
ihres Glaubens, die heute ficher in dem an Heiligen jo armen 
Oberſchwaben in den Adelſtand der Beati und Saneti erhoben 
wären, und deren Name zur jchwarzen Anklage gegen die Evange- 
lichen dienen könnte, fondern Opfer von Streitfuht, Wirtshaus: 
(eben und anderen Dingen, die nicht gerade priefterlich find. Über 
unpriefterliches Leben war viel zu Hagen. Man muß es Oſterreich 
zugeftehen, daß e3 in ehrlichem Eifer für den alten Glauben ein: 
ftand und darum auch den Klagen, die ſich gegen den Prieiter: 
ſtand und fein ärgerliches Leben erhoben, ſowie den Klagen über 
Aberglauben und Mißftände im Leben des Volkes abzuhelfen juchte, 


40 Bojjert 


jo gut es einer katholiſchen Obrigkeit ohne Hilfe der Biſchöfe mög- 
ih war. Denn auf Sittenzudht von Seiten der Biſchöfe von 
Konſtanz war nicht zu zählen. Sie. bedurften felber derſelben. 
Auch das fittliche Urteil der Laien war geſchärft; wollte die geift- 
liche Obrigkeit nicht einfchreiten, fo griff eben Scultheiß und 
Gericht felber zu. In Waldfee hatten im Auguft 1557 ein Mezger 
von Waldjee und ein Mönd von Weißenau Unzudt und Frevel 
begangen. Da bejannen fi die Waldfeer nicht lange und feßten 
nit nur den Laien, fondern auch den der weltlichen Obrigkeit 
entnommenen geijtlichen Herrn gefangen, um ihnen den Lohn ihrer 
Thaten zu geben. 

Ohne weitere Bedenfen jtellte die öſterreichiſche Regierung 
Klöfter unter ihre Aufiiht und nahm PVifitationen vor, zu denen 
man wohl ab und zu auch einen bifchöflichen Commifjär erbat, 
um nicht unhöflich zu fein, die man aber auch ganz ohne geijtliche 
Mitwirfung vornahm. So wurde zunädjit 1542 Klofter Gutenzell 
unter Aufficht genommen, weil die dortigen Nonnen übel hausten, 
bald folgte das Frauenklofter Löwenthal im heutigen Friedrichs: 
hafen, das feine jhönen Wälder verwüjtete, um Mittel zum wei: 
teren Wirtjchaften im alten Stil zu befommen. Bejonders ging 
man der ärgerlichen Unfeufchheit der Priefter und Mönche zu Xeibe. 
Selbjt die Säule des alten Glaubens, der gewaltige Abt Germig 
Blarer von Weingarten, dem Ofterreih auch noch zur Prälatur 
von DOchjenhaufen verhalf, mußte am 28. Januar 1545 von der 
Regierung hören: Etliche Conventsbrüder führen mit „Frauens— 
bildern“ ein ärgerlihes Leben, lafjen denjelben freien Wandel ins 
Klojter, ja gewähren ihnen Wohnung und Weſen bei fich. In 
eriter Linie galt das freili dem Herm Abt, dem Oheim des 
Reformators Ambrofius Blarer, ſelbſt. Denn er war mit feinen 
„Mönchsmägden“ ſtark berüchtigt, auch in Tatholifchen Kreifen erzählte 
man ſich die äraerlichiten Geſchichten über fein Treiben, ſelbſt Not- 
zucht gab man dort ihm ſchuld, vgl. die Chronif von Zimmern 
im Regijter. Prior und Gonvent waren dem Abt im Eifer für 
den fatholifchen Gottesdienjt nicht ähnlih. Als das Schmalkaldifche 
Heer gegen die Donau zog, hatte weder der Abt noch irgend 
jemand im Klofter den Mut, ein Märtyrer des Fatholifchen Glau- 
bens zu werden. Der Abt hatte fich beeilt, feine teure Perſon 


Zur Gefhichte des Evangeliums in Oberſchwaben. 41 


in Sicherheit zu bringen und feine Herde zu verlaffen, Prior und 
Convent aber hatten den katholiſchen Gottesdienft eingejtellt und 
auch nicht wieder aufgenommen, als längjt feine Gefahr mehr von 
den Schmalfaldenern zu befürdten war. Ebenfo war e8 in dem 
nahen Weiffenau ; diefem Klofter mußte am 3. Januar 1547 gedroht 
werden, daß jämtliche Früchte des Kloſters in der ganzen Land— 
vogtei mit Beſchlag belegt würden, bis fie den Fatholifchen Gottes: 
dienjt wieder aufnehmen würden. 

Überhaupt war, fobald das Schmaltalbifche Heer ſich nahte, 
wenig treue Anhänglichfeit an die Gebräuche der Fatholifchen Kirch: 
unter dem Landvolk zu finden. Die Unterthanen der Klöjter 
Heggbach und Gutenzell, aud die Bauern zu Schnaittenbach hatten 
an den Apofteltagen und den gebotenen Feiertagen während des 
ganzen Schmalfaldifchen Krieges gearbeitet. Die Bauern in Mie- 
tingen hatten ſich gegen das Klojter Heggbach freventlihen Hoch— 
mut erlaubt. Wahrjcheinlich waren es die Nonnen von Heggbadh, 
welche die Biberadher und den lutheriſchen Prüädifanten in Mie- 
tingen als Urheber dieſes Berhaltens der Bauern verantwortlid) 
maden mollten. | 

Der oben angeführten Mahnung an den Abt von Weingarten 
vom 28. Januar 1546 war am 24. Januar ein ähnliches Schrei: 
ben an den Bifchof von Gonftanz voraus gegangen, worin über 
das Leben der MWeltpriefter ernitlich Klage geführt wurde. Die- 
jelben leben öffentlih in ſchändlichem Goncubinat mit ihren 
Köhinnen und Mägden, fie bringen diefelben ungefcheut mit zu 
Ladſchaften (laſſen fich mit denjelben zu Gaſte laden), zu Hochzeiten 
und andern ehrlichen Gaftungen, was beim gemeinen Mann großes 
Ärgernis errege und beſonders der Jugend Anlaß gebe, fich deito 
eher in ärgerliches Wefen zu begeben. Im Jahr 1563 war die 
öfterreichifche Regierung zur Erkenntnis gefommen, daß eine Bifi- 
tatton des Kloſters MWiblingen notwendig jei, da der Abt Auguftin 
Widmann wegen übler Haushaltung berüdhtigt war. Schon im 
Februar war die BVilitation geplant, aber es hielt ſchwer, die 
bifchöfliche Curie dazu zu bringen, daß fie einen Bifitator abjandte 
und einen Tag dazu feitfegte. Am 11. Auguſt 1563 follte die 
Viſitation wirklich jtattfinden. Die öjterreichifche Regierung gab 
dem bijchöflihen Commiffär zwei ihrer Beamten Chrijtoph Vöhlin 


42 Bofiert 


und Dr. Kefjenring bei. Diefe waren ſchon am 28. Juli injtruiert 
worden, da die Abfegung des bisherigen Abts als jicheres Er: 
gebnis der BVilitation in Rechnung genommen wurde, fie jollten 
verhindern, daß der Biſchof einfeitig von ſich aus einen neuen 
Abt einjege und dazu einen fremden Mönd aus emem andern 
Klofter berufe, von dem zu befürchten wäre, daß er noch übler 
hauſe als der alte Abt, auch follten fie das ordentliche Wahlrecht 
des Convents aufrecht halten. Dieſe Inſtruktion ıft bezeichnend 
für das Vertrauen, das die öfterreichtiicehe Regierung in die Um: 
jicht und die Gemiffenhaftigfeit des geiftlichen Oberhirten Marcus 
Sittich jeßte, der allerdings Anlaß genug zu ſolchem Vertrauen bot. 

Auch andern Mißſtänden ſuchte die öſterreichiſche Regierung 
unter dem Druck des reformatoriſchen Geiſtes zu begegnen. Bei 
S. Veitskirchlein auf dem S. Veitsberg bei Ravensburg war an 
©. Beitötag große Kirch- oder Wallfahrt. Solche Kirchfahrten 
waren überall ſtark ausgeartet und dienten mehr der Liederlichkeit, 
dem Bettel und der Verſchwendung ſtatt der Erbauung. So hatte 
denn auch der Landvogt Hans Wilhelm von Laubenberg am 
27. April 1542 nad Innsbruck berichtet, daß ſich bei S. Veits— 
Kirhfahrt durch das zufammenjtrömende Volt „viele Tchändliche 
Übungen zutrügen‘, und der Negierung den Gedanken an eine 
Aufhebung diefer Kirchfahrt nahe gelegt. In Innsbruck wagte 
man zwar auf dieje radifale Mafregel nicht einzugehen, aber man 
befahl, an ©. Veitötag den Gottesdienſt zu halten, aber nach dem 
Gottesdienſt ausrufen zu lafjen, dat Scholderer, Spieler, Tänzer 
und das durchitreichende Bettelvolf und andere unnüße Leute, 
ſowie diejenigen Krämer, melde nicht Baufeldnotdurft (die für 
den Aderbau notwendigen Geräte) feilhaben, fich zu entfernen 
hätten und ſich nicht auf dem Kirchtag finden lafjen dürften. Dem 
Landvogt war damit nicht genügt. Nicht nur die Kirchfahrt, ſon— 
dern der ganze ©. Beitsfult war ihm zumider. Das jpricht ſich 
Har in feinem Vorſchlag vom 30. März 1544 aus, man joll das 
„irdiſche“ Bild ©. Veits aus der Kapelle entfernen und durd) 
ein Crucifix erfegen. Dieſer Vorſchlag eines kaiſerlichen Landvogts 
an die öſterreichiſche Regierung beweist ganz klar den ſtillen Ein— 
fluß evangeliſcher Anſchauungen auf katholiſche Kreiſe. Die öſter— 
reichiſche Regierung trat dem Vorſchlag keineswegs entrüſtet ent- 





Zur Gejchichte ded Evangeliums in Oberſchwaben. 43 


gegen, wagte aber auch nicht, darauf einzugehen, da fie fürchtete, 
ſich dem Vorwurf der Bilderftürmerei auszufegen, da man fagen 
würde, ©. Veitsbild fei umgeftürzt und hinweggethan worden. 
Sie befahl darum, man folle ein neues Crucifix neben ©. Veits— 
bild auf den Altar feßen, dann würde mit der Zeit S. Veit3bild 
abgehen können. 

Man fieht, die öfterreichifche Regierung war bemüht, das 
Verlangen der Unterthanen nad) Reformation und Befjerung des 
riftlihen Standes einigermaßen zu befriedigen und fo zum 
Schweigen zu bringen. 


6. Der Prediger der Glaubendgerechtigleit in Ehingen a. D. 


Das Tridentiner Konzil war im Dezember 1563 auseinander 
gegangen, aber die Neftauration des Fatholifhen Glaubens und 
die Befeitigung evangelifher Anfchauungen im Kreife der Fatholi- 
ſchen Prieſterſchaft war damit noch lange nicht gelungen. Im 
Sahr 1563 mußte der Pfarrer zu Rottenburg Abraham Gattler 
wegen des allerdings nicht genügend begründeten Verdachts lutheri— 
ſcher Lehre befeitigt werden. Ähnlich ging ed in einer andern 
vorderöſterreichiſchen Stadt, in welcher die Univerfität Freiburg 
das Patronatsrecht ebenfo hatte, wie in Rottenburg, nämlich in 
Ehingen. Bürgermeifter und Rat von Ehingen hatten nad dem 
Tod ihres Predigers Georg Schaller einen Ehinger Bürgersfohn, 
Marr Mant, auf die Kanzel in Ehingen berufen. Mant war 
bisher Nachprediger (Prediger nach der Meſſe) bei den Barfühern 
in Überlingen gemwefen. Zu diefer Stelle hatte ihn der dortige 
Pfarrer Mag. Balth. Wurer (von Schömberg gebürtig), ein gelehrter 
Vertreter des Fatholifchen Glaubens und fpäter Weihbifchof in 
Konstanz mit dem Titel eines Bifchof3 von Askalon, empfohlen. 
Mant hatte bald einen großen Zulauf des Bolfes befommen ; 
je mehr der freifinnige Prediger in der Gunſt des Volkes jtieg, 
um fo mehr wandte fih der Haß des Bolfes gegen den jtreng 
altgläubigen Mag. Wurer, der mit Recht oder Unrecht Mans als 
den Urheber diefer nichtgünftigen Volksftimmung anfah und darin 
einen ſchweren Undank desfelben fand. Bald befam die Univer- 
fität Freiberg von Wurer Berichte über die Predigten des Bar- 
füßerpredigers, die ihn ſtark verdächtigten. Er bringe die obſchwe— 


44 Boſſert 


benden Kontroverſen auf die Kanzel und „gieße dabei ſeinen 
Unverſtand aus.“ Gegen die altkirchlichen Zeremonien hatte ſich 
Mantz ſehr vermeſſen geäußert. Ja er ließ ſich vernehmen, er 
wolle die Überlinger erſt den rechten Glauben lehren, und dieſer 
Glaube ſei der, welcher ohne Werke gerecht und ſelig mache. Die 
evangeliſche Tendenz in dieſen Predigten iſt unverkennbar, 
ebenſo die Hinneigung der Überlinger zum Evangelium, da der 
große Anhang, den der Mann gegenüber dem einflußreichen und 
bisher hochangeſehenen Wurer fand, ſonſt unerklärlich wäre. 
Wurer, der den Geiſt in Mantz Predigten bald erkannte, ruhte 
nicht, bis die Barfüßer die Predigten in ihrer Kirche durch ihre 
Ordensbrüder thun ließen und der Rat den Mantz abſchaffte. 
Aber nun war Mantz nach Ehingen gekommen, und es iſt kein 
Zweifel, daß er dort in demſelben Geiſt predigte. Die Univer— 
ſität Freiburg zögerte nicht, alsbald bei der vorderöſterreichiſchen 
Regierung Mantz wegen Irrlehre zu denunzieren. Dieſe nahm 
die Sache ſehr ernſt. Sie ſetzte voraus, daß die Ehinger Mantz 
bona fide als katholiſchen Prediger angeſtellt haben. Am 20. Juni 
1567 benachrichtigte ſie den Hauptmann Albert Schenk v. Stauf— 
fenberg in Konſtanz von der Sache und befahl ihm, ſelbſt nad 
Ehingen zu gehen und mit Bürgermeifter und Rat wegen Ab— 
ihaffung des Mans zu verhandeln und, falls fie ſich nicht willig 
zeigten, mit der Ungnade der Regierung zu drohen. Gleichzeitig 
befahl fie Bürgermeijter und Rat in Ehingen, ohne die Sache, 
um Die es ſich handelte, näher zu bezeichnen, dem, was der Haupt: 
mann perjfönlid mit ihnen verhandeln werde, genau nachzukommen, 
und feste am 26. Juni 1567 den Gardinalbiihof Sittih in 
Konſtanz in Kenntnis, daß jie von den Ehingern die Abjhaffung 
ihres Predigers verlangen wollen. Die weitere Entwidlung dieſer 
Sache, die überrafchend genug über die Ehinger fam, war mir 
nicht möglich zu verfolgen, aber ala ficher ſteht feit, daß im Jahr 
1567 zu Ehingen in der Pfarrkirche gepredigt wurde: Man wird 
gerecht und felig durch den Glauben und nicht durch die eigenen 
Werte. 
7. Der Pfarrer zu Wangen. 

Der öjterreihifche Hof liebte eS, die Prediger am Hof aus 

den vorderöfterreichiichen Landen zu beziehen, jo 1536 Gall Müller 


Zur Gejhichte des Evangeliums in Oberfhmaben. 45 


von Fürftenberg, den gemwefenen Profeffor in Tübingen, 1542, 
Heinrich Müelih, 1549 Chriftoph Wertwein von Pforzheim, in den 
fechziger Jahren Propſt Michael Zanger von Ehingen am Nedar 
und 1578 Andreas Koler von Rottenburg. Nun hatte K. Fer: 
dinand mwahrfcheinlih zu Ravensburg am 24. Januar 1563 einen 
Prediger von Wangen, defjen Name in den Akten leider nicht 
genannt ift, einen Wangener Bürgersfohn, predigen hören, der 
ihm ſehr mohl gefiel und von jeiner Umgebung gelobt wurde. 
Nah Ferdinands Tod ſuchte man einen Hofprediger für Mien. 
Man erinnerte fi des gefeierten Schwaben in Wangen, zog aber 
bet der Wichtigkeit der Stelle vorher Erkundigungen über den 
Mann ein und zwar beim Landvogt von Schwaben, einem hoch— 
gefhätten ruhigen Mann mit klarem Urteil, Georg Slfung von 
Tragberg, bei den Grafen Haug und Ulrich von Montfort und 
endlich bei Abt Gerwig Blarer von Weingarten, dem getjtigen 
Haupt der Katholifen der ganzen Konftanzer Diözefe. Die Berichte 
diefer Männer find überaus charafteriftiich für jene Zeit. Ilſung 
berichtete am 26. Auguft 1564, der Prediger zu Wangen fei ein 
faſt beredter, „mwefentlicher” und ganz verftändlicher Prediger, der 
megen feiner gemwaltigen Memoria, feiner fchönen Dispofition, 
Drdnung und Art im Predigen wohl zu loben fei, fol auch diefer 
Zeit etwas mehr denn zuvor eingezogen leben und fich eines ehr- 
baren Wandels befleißen, alfo daß er nicht einen gemeinen, fon: 
dern einen fürnehmen Prediger abgebe. Aber er fei an Jahren 
noch ziemlich jung, faum über fechsunddreißig Jahre alt. Sodann 
habe er fein Leben lang feine Grammatik ftudiert und fein Latein 
allein ex usu gelernt, auch fei er in patribus, wie bei jebiger 
Melt wohl von nöten wäre, nicht befonder8 verfiert und belefen. 
Deshalb trägt Ilſung Sorge, daß er für ein „Solch hohes Drt“, 
wo ein Prediger erforderlich fei, der nicht allein zierlich predigen 
fönne, fondern auch gelehrt, belejen, geſchickt und refolut fei, feine 
Lehre gegen Jedermann zu verteidigen, und fonft in täglich vor: 
fallenden Sachen bei diefer Zerrüttlichfeit chriftlihe Antwort und 
Beſcheid zu geben wüßte, noch etwas zu weich ſei. Graf Haug 
von Montfort zu Tettnang berichtete, der Pfarrer zu Wangen fei 
„ohne fonder Klag“ vier Jahre fein Pfarrer in Tettnang gemefen; 
als die Pfarrei Wangen erledigt worden, habe er um feinen Ab— 


46 Boſſert 


ſchied gebeten, um die Pfarrei in ſeiner Vaterſtadt zu übernehmen. 
Dieſen verhältnismäßig milden Urteilen ſtehen zwei andere gegen— 
über. Graf Ulrich von Montfort zu Gwigg hat an dem Pfarrer 
von Wangen drei „fürnehme“ Mängel gefunden, nämlich 1) die 
Hoffahrt, die ihn dahin bringe, daß er ſich ſelbſt beredet, es könne 
niemand etwas, denn er; 2) daß er mit Weibern ein unprieſter— 
liches Weſen und ärgerlich Exempel führe; 3) daß er auf der 
Kanzel und ſonſt nicht allweg in ſeinen Worten beſtändig ſei: 
„denn ich ſelbſt hab ſo viel von ihm gehört, daß ich nit glaub, 
daß er im Grund gut katholiſch ſei.“ Sonſt habe der Pfarrer 
ein treffliches Ingenium, habe gleichwohl nicht ſonderlich ſtudiert, 
aber er habe eine gute Ausſprache auf der Kanzel, daß es ſchade 
ſei, daß er ſein gut Ingenium und Ausſprechen zu Zeiten übel 
anlege. Noch ſtärker als das Urteil des Grafen Ulrich klingt das 
des Abts Gerwig Blarer über den berühmten Prediger: homo 
est, qui plus loquentiae quam eloquentiae habet, plus etiam 
naturalis facundiae quam eruditionis. Er ſei nicht befonders 
gelehrt und des Luthertums fehr verdächtig. Daß er in Gegen: 
wart des Kaifers fel. Gedächtnis in feiner Predigt etwas befcheiden 
gewefen und feine Trennung von der katholiſchen Kirche verheim- 
licht, habe er ob reverentiam et presentiam Caesaris studiose 
gethan, das Gift behalten und den Mantel nad) „den Luft“ 
gehängt, aber zuvor und jeither hat er fich mit feiner Doctrin 
und anderem feinem Thun und Lafjen nit katholiſch erzeigt und 
ſich unterftanden, die Sache dahin zu bringen, daß er in der 
Woche etliche chriftliche und katholiſche Mefien und Ämter unter- 
laſſen und eingejtellt und allein fein Predigen anjtatt derjelben 
als das rechte Wort Gottes gehört werden folle, deſſen dann die 
fatholifhen Bürger, deren noch viel zu Wangen!, zum höchſten 
bejchwert feien. „Desgleichen bin ich glaubwürdig berichtet, daß 
er vitae dissolutae mit feiner Haushälterin, auch daneben diejelbige 
zu beehlichen nit wenig bejchreit ift, melches zweifeldohne an den 
Tag kommen wird.“ | 

In Wien verzichtete man auf diefe Berichte hin darauf, den 
Pfarrer von Wangen zur Hofprädicatur zu berufen. Die fernere 


Alſo e8 gab auch andersgefinnte in Wangen! 


Zur Gejhichte des Evangeliums in Oberjhwaben. 47 


Entwidlung des offenbar unfertigen Charakters diefes Mannes it 
wie fein Name bis jet unbefannt. Aber bemerkenswert iſt auch 
hier wie bei Nr. 6 die Zutherophobie, die ich alsbald erhebt, 
fobald ein Geiftlicher nicht ganz ſich in denfelben ultramontanen 
Kreifen bewegt, wie ein Gerwig Blarer, von dem allein wunder: 
bar ift, daß er, der in einem Glashaus wohnte, auf einen andern 
den Stein des Verdachts difjoluten Lebens mit feiner Haußhälterin 
zu werfen wagte. Man darf wohl jagen, daß jedes freier ſich 
entwidelnde Talent auf dieſem Boden leicht in den Verdacht des 
Lutheranismus fam und eben durch ſolchen Verdacht um jo mehr 
aus der römischen Kirche hinausgetrieben wurde. Daß fich aber 
diefer Verdacht fo leicht erheben Fonnte, beweist, daß auch inner: 
halb des Fatholifchen Klerus Oberſchwabens lutherifche Anſchau— 
ungen und Tendenzen vielfach verbreitet geweſen fein müſſen. 


8. Die evangeliiche Gemeinde Kirchheim, O.A. Ehingen. 


Über die Reformation in Kirchheim, Oberamts Ehingen, hatte 
ihon die Oberamtsbeſchreibung Ehingen ©. 144—146 und auf 
Grund davon Jäger (?) in den Studien der evangelifchen Geift- 
lichkeit MWürttembergs 1, 277 Nachricht gegeben. Hier mögen 
einige ergänzende Notizen Plab finden. Hans von Remchingen 
hatte als Gemahl einer Anna Spät den Befit des Dorfes Kirch— 
heim erworben und 1566 einen lutherifchen Prediger angejtellt. 
Die hohe Obrigkeit mit Gebot und Verbot jtand ihm ala Grund- 
herrn zu, aber das Kloſter Marchthal hatte den Pfarrſatz in 
Kirchheim. Auf Grund des Augsburger Religionzfriedens hatte 
v. Remchingen das Necht zu reformieren und, wenn Klofter March: 
thal feinen evangelifhen Prediger anitellte, von ſich aus einen 
Pfarrer aufzuftellen, dem das Klofter die Einkünfte reihen mußte, 
wie bisher. Klofter Marchthal wollte fih dem nicht ohne meiteres 
fügen, da die Verhältniffe in Kirchheim ſehr verwidelt mwaren. 
Denn auch die Stadt Ehingen hatte Hinterfaßen in Kirchheim und 
das Filtal Deppenhaufen gehörte der Stadt Munderkingen. So 
feste denn Klofter Marchthal für die Unterthanen diefer Städte, 
die eine Reformation nicht wollen fonnten, da fie öſterreichiſch 
waren, einen Tatholiichen Prieſter. Der Abt von Marchthal klagte 
an Laurentii 1566 bei der öfterreihiichen Regierung über das 


48 Bofjert 


Vorgehen ded Ritters, erhielt aber den wenig tröftlichen Beſcheid, 
daß Hans v. Remchingen Fraft des Augsburger Religionzfriedens 
das Necht zur Reformation habe, da die Obrigkeit in Kirchheim 
ıhm gehöre, aber die Unterthanen anderer Herren fönnten anders 
wohin gepfarrt werden. Der Abt von Marchthal war darüber fo 
wenig erfreut, daß er nun den Pfarrfat an Bernhard v. Stein 
verfaufte. Schwierig war die Frage, wen die Hinterfaßen anderer 
Herren den Zehnten geben follen. Die Ehinger fragten darüber 
bei der Regierung in Innsbruck an und erhielten den Beſcheid, 
wenn die Ehinger ber ihre Unterthanen auch die Obrigkeit hätten, 
dann dürften fie auch ihre Unterthanen anhalten, den Zehnten dem 
evangelifchen Pfarrer zu verweigern und einem katholiſchen Priefter 
zu reichen. (31. Juli 1566.) Wenn fie aber gleih den andern 
Einwohnern unter der Obrigkeit Hand von Remchingen ftanden, 
dann wäre diefer berechtigt, den Zehnten für den Iutherifchen Pre- 
diger zu verlangen. Anders lag die Sache in Deppenhaufen, das 
ganz unter der Obrigkeit von Munderkingen jtand. Am 21. Aug. 
erging an die Stadt Munderkingen der Befehl, ihre Unterthanen 
anzuhalten, daß fie die Gottesdienfte des evangelifhen Predigers 
in Kirchheim, zu denen fie bisher gegangen waren, meiden follen. 

Über den weiteren Verlauf der Dinge in Kirchheim berichtet 
die Dberamtöbefchreibung Ehingen, daß der Ort 1621 an Zwie— 
falten fam, das die Gegenreformation durchführte. Es wäre wohl 
der Mühe wert, der Gefchichte der evangelifchen Gemeinde in Kirch: 
heim von 1566 an und befonders die Geſchichte der Gegenrefor- 
mation weiter zu verfolgen. 


9. Zur Ravensburger Reformation. 


Zu Hafners Gefchihte der evangelifhen Kirche in Ravens- 
burg habe ich mir einige biographifhe Notizen zur Ergänzung 
gemacht, die ich hier für andere Freunde der Reformationsgeſchichte 
Ravensburgs mitteile.. Gabriel Krötlin, der einflußreihe Stadt- 
ichreiber und Chronift, war um 1490 geboren und ſtudierte 1508 
in Heidelberg. Der altgläubige Pfarrer Wolfgang Wiedemann 
itammte von Heimöheim und hatte 1513 die Univerfität Freiburg 
bezogen, (W. B. 3%. 3, 186. Nr. 1013), ift aber kaum identiſch 
mit Wolfgang Widmann, der 1502 in Tübingen ftudierte. Konrad 


Bur Gejhichte des Evangeliums in Oberſchwaben. 49 


Konftanzer ftammte von Ehingen a. D. und fam 1536 auf die 
Univerfität Freiburg. Konrad Willing ift wohl der Vater des 
Johann Willing, jpätern Hofpredigers des Kurfürften Friedrich 
von der Pfalz. Der Vater hatte gehofft, bei den Grafen von 
Hanau im fogen. Hanauer Ländchen (bei Buchsmweiler im Elfaß) 
Anftellung zu finden, und wird von dort nad der Pfalz gefom- 
men jein. Bon den ©. 14—17 aufgeführten Prieftern ift Barth. 
Lanz von Weingarten 1518 in Freiburg W. V. J. 3, 187. Nr. 
1088. Georg ©ienger von Ulm jtudierte 1522 in Tübingen, 
Chriftoph Schreiber ala Chr. Scriptoris von Überlingen 1518 in 
Tübingen. Der Pfarrer Simon zu St. Jodokus ift wahrfcheinlich 
Simon Hagemann, der 1513 in Wittenberg ftudierte. Matthias 
Degenfhmidt (nicht Gegenſchmidt) von Wangen ftudierte 1516 in 
Heidelberg. Blafius Stödlin oder Stödel war erſt Eifterzienfer- 
mönd in Bebenhaufen und bezog als foldher 1515 die Univerfität 
Heidelberg, dann muß er in den ftrengeren Orden der Karthäufer 
übergetreten fein und wurde Karthäuferprior in Nürnberg, feine 
folgenden Amter giebt Medicus in feiner Gefchichte der evangeli- 
Then Kirhe Bayerns ©. 26 Anm. Sohann Lenglin, der aus 
Röhrichs Geſchichte der Reformation befannte Straßburger Bre- 
diger, ſtammte aus Binsdorf und hatte 1521 in Tübingen ftudiert. 
Über Thomas Tilianus oder Lindner, der aus Bohuslavit 
ftammte und 1538 in Tübingen ftudierte, ift der Abjchnitt über 
die Reformation in Gengenbach bei Vierordt, Geſchichte der Refor: 
mation in Baden ©. 318 zu vergleichen. Der ebenfalld von 
Gengenbach herübergefommene Lorenz Montanus war 1567 Rat 
de3 Grafen v. Hanau-Lichtenberg. Bierordt I. c, ©. 397. Wendel 
Schempp von Ulm ift jener treue Genoſſe Frechts, der in feiner 
Gefangenschaft zu Kirchheim die Gorrefpondenz Frecht3 mit feiner 
Gattin vermittelte und ihm diente, wo er konnte. 

Der Schulmeifter Saufenbrat hieß eigentlih Martin Suſſen— 
brot (Süßbrot) und ftammte von Wangen. Er ftudierte 1511 in 
in Freiburg. Georg Bart aber war von Saulgau und ftudierte 
1534 in Tübingen. 

Zur Charakteriftif Mehlhorns geben einige Aftenjtüde des 
Reichsarchivs München wertvolle Beiträge. Georg Mehlhorn war 
zu Altenburg in Sachſen geboren und hatte in Wittenberg ſtudiert. 


Theol. Studien a. W. VII. Jahrg. 4 


50 Boſſert, Zur Geſchichte des Evangeliumd in Oberſchwaben. 


Im Jahr 1553 hatte ihn Melanchthon der Stadt Augsburg zum 
Pfarrer empfohlen. Er wurde ald Pfarrer an die Barfüßerkirche 
dafelbft berufen. Aber bald Fam es zwiſchen ihm und den übrı- 
gen Pfarrern zu dem jchweriten Konflilt. Er befchuldigte feine 
Kollegen des Zwinglianismus, fie warfen ihm Tapernaitifche Vor: 
jtellungen in der Abendmahlzlehre vor. Mehlhorn bemies fi 
ala ächtlutherifchen Streittheologen, wie ſich foldhe damals mehr 
und mehr unter der Leitung von Flaciuß und Genofjen heran: 
bildeten. Die Kanzeln tönten in Augsburg wieder von gegen: 
jeitigen Verfegerungen, ſodaß ſich endlih der Nat zu Augsburg 
genötigt jah, am 30. Mai 1555 Mehlhorn durch Anton Rudolph 
eröffnen zu laffen, daß er megen feines lutherifchen Eifers des 
Amtes enthoben fei. Am Sonnabend vor Pfingjten teilte nun 
Mehlhorn dem Rat mit, daß er vor drei Wochen eine anfehnliche 
Vokation nad) Ravensburg erhalten habe. Er wünſchte noch eine 
Abjchiedspredigt zu halten, was ihm aber abgefchlagen wurde, da 
man befürchtete, er würde die Gelegenheit benügen, um noch ein- 
mal feine Kollegen anzuflagen. Was ihm auf diefe Meife nicht 
möglih war, that er in einem Schreiben aus Ravensburg am 
6. Auguſt 1555. Er beichuldigte hier in einer förmlichen Anklage 
Iichrift die Prediger in Augsburg des Zwinglianismus. Sohann 
Höldt, ein alter Prädifant, ſei Zwinglis Schüler. Derjelbe habe 
am 29. November 1554 im Prediger-Konvent, ald man dem ent: 
lafjenen Lutheraner Herrn Martin Rhaw ein Zeugnis geben follte, 
geäußert, Zwingli und Ofolampadius feien feine Seftierer, fondern 
treue berufene Lehrer und gelehrte Männer geweſen, gegen welche 
unjere armen Schügen faum das Maul hätten aufthun dürfen. 
Johann Medhardt, Pfarrer zu St. Anna, habe in einer Predigt 
Zwingli, Ofolampad und Karlſtadt ehrwürdige, hochgelehrte, acht: 
bare und erfahrene Männer genannt und habe ihre Schwärmerei 
„gar zierlich ertenuiert.” Johann Ehinger habe empfohlen, man 
jollte die Augsburger Studenten nicht nad Wittenberg, fondern 
nad Bafel ſchicken. Leonhard Bächlin, der neunundzwanzig Jahre 
neben Michael Keller als Helfer gedient und zweimal Prediger in 
der Schweiz gemwejen fei, pflege das Abendmahl nur das ſakra— 
mentale Brot zu nennen. Er befämpfe befonders die gleich Mehl: 
horn aus Sachſen gekommenen Prediger Jakob Rulichius und 


— 
a en En ! 


Gaijer, Syneſius von Cyrene ıc. 51 


Peter Ketzmann. Medhardt habe auf der Kanzel behauptet, 
Mäuslin (Wolfgang Musculus), Bonifacius Wolfahrt, Michael 
Keller und Johann Höldt haben zwanzig Jahre lang zu Augsburg 
nad der Augsburger Konfeſſion gelehrt, während fih Mehlhorn 
anheifchig macht, auß dem bei Philipp Ulhart gedrudten Anticoch— 
läus zu bemeifen, daß Mäuslin noch 1544 zminglifch gelehrt habe. 
Der Stadtbehörde wirft Mehlhorn PBarteinahme für diefe Zwingli- 
fchen Prediger vor. Denn 1554 Freitag nah Michaelis fei durch 
die Kirchenpfleger Johann Rudolph und Sohann Heinzel befohlen 
mworden, daß man die Sakramentsſchwärmer Zwingli und Okolam⸗ 
pad nicht mehr auf der Kanzel nenne. Mehlhorn faßt ſeine 
Anklage gegen die Augsburger dahin zuſammen: alle Augsburger 
Prediger, einen ausgenommen, ſind Zwingli nicht abhold, ſondern 
feine vermummten Schüler. Ste werfen den Sachſen vor, fie 
- wollen Chriftum ins Brot bannen. Nah den Borftellungen der 
Sadjen müßte Chriftus den Himmel voll Blut haben, und mie 
viele Zentner wohl fein Leib habe? Sie haben auch zwinglifche 
Prädifanten und geborne Schweizer neben jich geduldet, wie Haller, 
der in Bern Prediger ift, aber rechte Iutherifche Prediger, mie 
Dr. Regius, Agrikola, Froſch, Foriter und ſchließlich Mehlhorn 
haben fte nicht dulden können. 


Syneſius von Cyrene, fein Leben und fein Charakter 
als Schriftſteller und als Menfd.' 


Bon Dr. €. Saifer in Reutlingen. 


An einem Platz, den heute weidend und jagend nomadifierende 
Beduinen durdjtreifen, dem jogenannten Plateau von Barfa, hatte 
im fünften vorcriftlichen Jahrhundert die von Thera aus gegrün- 
dete Niederlaſſung Cyrene die fchönfte Zeit ihrer Blüte, und heute 
noch follen zahlreihe und teilmeife großartige Spuren von dieſer 


t Anm. der Red. Diefe Arbeit, urſprünglich als Vortrag für 
eine Philologenverfammlung ausgearbeitet, aber ficherlich auch für theo- 
logiſche Leſer von Intereſſe, ruht, wie der Verfafjer ausdrüdlich bemerkt 
wiſſen möchte, teilmeife auf Volkmann, Syneſius von Cyrene, Berlin 
1869, weicht aber in mandem Stück von deſſen Auffaffung und 
Urteil ab. 


4* 


52 Gaifer 
vergangenen Herrlichkeit zeugen. Aber Naturereigniffe und politi- 
ſches Mißgeſchick hatten die ſchöne Blüte gefnidt und im fünften 
Sahrhundert nach Chrifto tft fie eine tief gefunfene Größe. Durch 
die Reichsteilung des Theodofius der öftlihen Hälfte zugeiiefen, 
benützte fie die fürzlich erfolgte Thronbefteigung des Arkadius, um 
in ihrer durch Steuerdrud und ſchlechte Verwaltung herbeigeführten 
traurigen Lage, nad) dem Recht, das Munizipalitädte hatten, eine 
Gefandtfchaft an den Kaiſer nad) Konftantinopel zu ſchicken. Es 
geſchah diefes am Ende des Jahres 397 oder anfangs 398. Als 
der geeignetjte für eine ſolche Miſſion, jowohl weil er vermöglich 
genug war, eine Jolche Liturgie auf fich zu nehmen, ala weil ihm 
das erforderliche Talent und ein reiches Maß von Bildung zu 
Gebot ftand, wurde der ungefähr im dreißigjten Lebensjahr jtehende 
Synefius von Cyrene erfunden, deſſen Leben und Charakter als 
Schriftiteller und ala Menſch der Gegenjtand diefer Blätter fein fol. 
Bon vornehmer Familie abjtammend, welche ihren Stamm: 
baum bis auf Herakles zurüdführte, durd feine Vermögensver— 
hältnifje unabhängig geftellt, hatte Syneſius feine Studien, ins— 
befondere philofophifche und rhetorifche, in Alerandrien gemacht, 
wo er zu den Füßen der gefeierten Tochter Theons, Hypatia, der 
Lehrerin der Mathematit und neuplatoniichen Philoſophie jaß, in 
Gemeinfchaft mit feinem älteren Bruder Euoptius, Die Verhält- 
niffe der Hauptitadt freilih waren, als er nad) Konftantinopel 
fam, fehr wenig dazu angethan, um günftige Ausfichten für eine 
Beſſerung der Lage feiner Vaterjtadt zu bieten. An der Spitze des 
Staates fteht ein gutmütiger, aber ſchwacher Regent, unfähig, das 
von Stürmen und Wellen gepeitfchte Staatsfchiff zu lenken, um: 
geben von kriecheriſchen und ränkfefüchtigen Höflingen, von denen 
einer dem andern eine Grube gräbt, um ſelbſt hineinzufallen. So 
hatte der niederträchtige Eunuch Eutropius den Rufinus gejtürzt 
und war felbit den Ränken des gothijchen Heerführers Gainas zum 
Dpfer gefallen. Der Mann, der die Unterfuchung gegen ihn 
geführt und zum praefectus praetorio ſich emporgeſchwungen hatte, 
Aurelian, erfreute fich jet der allgemeinen und mohlverdienten 
Achtung. So lagen die Dinge, als Synefius dem Kaifer, um 
Audienz bei ihm zu erlangen, den. goldenen Kranz feiner Vater: 
ſtadt Cyrene überbrachte. Die Rede, die er dabei vor verfammeltem 


Syneſius von Cyrene ac. 53 


Hofe hielt, und die ung aufbewahrt ift, freilich wohl nicht in der 
Geſtalt, in welcher fie gehalten wurde, unterfchied fi) von anderen 
Reden diefer Gattung, welche nichts ala Kriechereien und Schmeiche- 
leien enthielten, durch edlen und freimütigen Ton, ſowie durch die 
Erhabenheit und Gediegenheit der Grundſätze; fie war nicht ſowohl 
ein Aoyog Bacıkıxuc, als ein Auyog neo Bavıkeac, aud) in 
formeller Hinficht den höchſten rednerifchen Leiftungen der fpäteren 
Sophiſtik, den Erzeugniffen eines Libanius und Themiftius eben: 
bürtig. Der Inhalt ift folgender: Das freie Wort wirkt auf Die 
Seele eines jungen Königs wie das Salz auf das Fleiſch; darum 
fol Arkadius dem Wort der Wahrheit fein Ohr nicht verfchließen. 
Außeres Glück, Reichtum, Truppen, Zahl der Städte macht den 
Fürften preiswürdig; lobenswert aber wird er erjt, wenn er diefe 
günjtigen Umjtände benüßt, feine Tugend zu bewähren, um ein 
rechter Hirte feines Volks, ein Abbild der himmlischen Vorſehung 
zu fein. Dazu iſt aber vor allem erforderlich, daß er, eingedenk 
des himmlischen Königs, den er über fich hat, Herr fei über fich 
felbit und feine Leivenfchaften der Vernunft unterwerfe. Die dar: 
aus entjpringende innere Harmonie wird ſich dann nad außen 
bethätigen in den Beziehungen des Verkehrs, in welche er zu den 
verjchiedenen engeren und weiteren Lebenskreiſen fommt. Zu feinen 
Freunden wird er nur diejenigen machen, die dazu dienen, ihn 
wirflid zu ergänzen — denn nur Gott iſt fich felber genug, nicht 
aber ein Gefindel von Zwergen, Spaßmachern und Eunuchen, die 
mit ihrem faden Geſchwätz feinen Sinn berüden. Vor dem Volke 
wird er fich nicht verbergen, wie die Eidechfe vor dem Sonnenlicht, 
und durd die Kluft einer den Zutritt erſchwerenden Etikette fich 
abſchließen, oder, wenn er einmal dem Volke fich zeigt, in feiner 
Erfcheinung einem bunten Pfau gleihen, nur den mit Goldftaub 
beftreuten Boden mit dem Fuße berührend. Seine Soldaten, 
denen er nicht erſt durch Maler befannt wird, und deren Führer 
wird er nicht aus den Barbaren, fondern aus dem Volke nehmen, 
denn erjt wenn die Reichäheere wieder Volksheere find, wird er, 
diejenigen feiner Vorgänger, welche in fchlichter Kleidung an die 
Spige ihrer Heere ſich ftellten und fo den Reichsfeinden Achtung 
und Screden einflößten, nahahmend, dem Bürger für Sicherheit 
des Aderbaues und des Verkehrs zu forgen im Stande fein. Die 


54 Gaifer 


Provinzen und Städte feines Reichs wird er felber bereifen oder 
ihre Anliegen durch Gefandtfchaften ſich vortragen lafjen, um ihre 
Bebürfniffe kennen zu lernen, und ihnen die nötigen Erleichter: 
ungen zu verichaffen, um zu verhüten, daß die Soldaten die Städte 
und Zandleute ausplündern und den Hunden gleichen, welche die 
Wölfe nur darum von der Herde verjagen, um ſelbſt dejto befjer 
über fie herfallen zu fönnen. Bor allem wird er von fi aus 
die Unterthanen nicht mit Abgaben drüden; denn ein habgieriger 
Fürft ıft Schlimmer ala ein Krämer; das Krämervolf aber — edit 
antif — ift noch verächtlicher, als die Ameifen, welche den Erwerb 
nach dem Bedürfnis des Lebens, nicht das Leben nach dem Erwerb 
bemejjen. — Dies der Hauptinhalt der Königsrede. Schon um 
nicht anzuftoßen, mußte fie fih, fo viel man auch zwifhen den | 
Zeilen herauslefen fonnte, inöbefondere die mitten in den Ereig- 
nifjen jtehenden Zeitgenoffen, in der Höhe abjtrafter Allgemeinheit 
halten. Anziehend aber darin ift Doch neben dem Adel der Ge: 
finnung, die fie belebt, der uns daraus unverkennbar entgegen: 
mwehende Hauch hellenifcher Frifche und jenes naiven Optimismus, 
der auf die Macht der erfannten Wahrheit Felfen baut, nicht nur 
die Herzen der Könige zu lenken, wie die Waſſerbäche, ſondern 
auch morjch gewordene Staatsgebäude im Handumdrehen zu neuem 
Leben zu erweden. — So fehr fih Synefius Mühe gab, um 
feiner Baterftadt ſich nüßlich zu erweifen, namentlih auch durch 
den Einfluß hochgeitellter PBerfonen, den er aufbot, fo klein "war 
der Erfolg; denn am politifchen Horizont war es wieder einmal 
dunfel geworden. Dem Barbaren » Anführer Gainad, dem aria- 
niſchen Gothen und Werkzeug des Stiliho war es gelungen, den 
Präfekten Aurelian, des Synefius Gönner und Haupt der natio= 
nalen Partei, der auf eine Regeneration des Reichs aus eigenen 
Mitteln ohne Zuziehung der Wejtrömer und der Barbaren hin— 
arbeitete, aus jeiner Stellung zu vertreiben. Mit zwei Konſu— 
laren mußte er in die Verbannung. Und Gainas führte noch 
Größeres im Schild: auch das Oberhaupt felbit jollte durch feine 
Perſon erjegt werden. Aber diefes freche Unterfangen des fühnen 
Abenteurerd jcheiterte an dem nationalen Widerjtand: Gainas ging 
unter und Aurelian mit den Seinen fehrte zurüd, — Auf dieſe 
geihichtlichen Ereigniffe, die wir mit manigfachen Differenzen bei 


Syneſius von Eyrene ꝛc. 55 


Zofimus, Sokrates und Sozomenos gefchildert finden, auf die 
mir hier nicht weiter einzugehen haben, nimmt auch die nunmehr 
zu befprechende zweite Hauptfchrift des Synefius: über die Ägypter 
oder über die Vorjehung Bezug. Schon der Titel fennzeichnet fie 
als allegorifch-philofophifchen Roman mit hiftorifchem Hintergrund. 
Den äußeren Rahmen bildet die Geſchichte von den zwei unglei- 
chen Brüdern: Oſiris und Typhos. Beide Brüder wachen neben 
einander auf, der eine ein Mujfter in der Tugend, der andere in 
der Schlechtigfeit. Als der Vater, im Begriff, zu den Göttern 
entrücdt zu werden, Priefter und Vornehme aus allen Städten des 
Reichs zur Wahl eines Nachfolgers beruft, an welcher auch die 
Götter teilnehmen, erhält der würdige Dfiris alle Stimmen. Den 
Ratſchlag des Vaters, der den gefährlichen älteren Bruder mit 
Gewalt befeitigt mwiffen möchte, Folge zu leiften, bringt Oſiris 
nicht über Herz; er glaubt ihn durch Werke des Edelmuts befie- 
gen zu können. Mber in diefer Hoffnung wird er- getäufct. 
Typhos, noch aufgeftachelt durch feine Gattin, faßt den Gedanken, 
mit Gewalt den Thron an fich zu reifen. Diefe macht jih an 
die Frau des damals im Krieg gegen eine abtrünnige Provinz 
abmefenden Heerführer8 der Barbaren und fpiegelt ihr vor, welche 
Gefahr ihr und ihrem Mann, fowie auch ihren eigenen Angehöri- 
gen, von Oſiris drohe. Die als das einzige Nettungsmittel an: 
empfohlene Empörung wird in Szene gejeßt. Zwar wird die 
Hauptitadt von dem ihr zugedachten Verderben gerettet; aber Dfiris, 
dejlen Hinrichtung verlangt wird, geht in die Verbannung. Schwer 
liegt die Hand des Tyrannen auf dem Agypterland ; aber alles 
verhält fich ſtumm; nur einer, welcher der Philoſophie fich geweiht 
bat, wagt es, öffentlich zu Gunsten des VBerbannten aufzutreten. 
Zulegt jcheut fi Typhos nicht, auch die zu Recht beftehende 
Gottesverehrung anzutaften. Das Strafgeriht aber läßt nicht 
lange auf fih warten. Ohne äußeren Anlaß, nur weil ſie ſich 
nicht jiher glauben, verlafjen die Barbaren die Stadt; die zurüd: 
gebliebenen werden überfallen und niedergemadt; Typhos, der Die 
Rückkehr der abgezogenen vergeblich betreibt, wird in’3 Gefängnis 
gejeßt, und nur durch die Fürfprache des zurüdgefehrten und 
wiedereingejeßten Bruders vor der Volkswut gerettet. Ein neueß, 
goldenes Zeitalter unter der Regierung des Oſiris nimmt feinen 








56 Gaiſer 


Anfang. So viel von dem Inhalt der Agypter mit Beifeite- 
lafjung des erft in anderem Zuſammenhang zu berüdfichtigenden 
philofophifchen Elementes in demſelben. — Welche gefchichtlichen 
Perſonen und Ereigniſſe liegen dieſer Schrift zu Grund? Daß 
bei Dfiris an den Präfelten Aurelian, bei dem Philofophen, der 
e3 wagt, offen zu feinen Gunjten zu fprechen, an Synefius felbft 
zu denfen ift — darüber fann wohl fein Streit fein. Aber wer 
ift Typhos? Die einen haben auf Gainas, andere auf Stilicho 
geraten, wieder andere mit Berufung auf eine von Synefius felbft 
herrühren jollende erflärende Vorrede auf einen Bruder Aurelianz 
felbft. So viel diefe bei den Neueren beliebte Deutung auch fonft 
für fi) haben mag, fo hat fie doch die Schwierigkeit, daß fie 
genötigt ift, einen fonft nicht befannten Bruder Aurelians zum 
Träger einer gefchichtlihen Rolle zu machen, die nicht er, fondern | 
Gainas gefpielt hat; auch wird fie dem Nechte der dichterifchen 
Phantafie, die Gefchichte frei nach ihrem Bedürfnis zu gejtalten, 
zu wenig gerecht werden. Darnach werden wir überhaupt darauf 
verzichten müflen, in den im Roman auftretenden Perfonen ent- 
Iprechende geſchichtliche Perfönlichkeiten in der Art zu fuchen, daß 
die einzelnen Züge auf beiden Seiten fich genau deden. So ent- 
hält das Bild des Dfiris aud) Züge des Biſchofs Chryfoftomus 
in fi), da& des Typhos aber außer dem Gainas auch den Aure- 
lian, jo daß die bedeutenditen und hochgeitellten Perfonen am | 
Hofe von Byzanz im Maßſtab der Vergrößerung idealifiert oder 
farifiert wieder erjcheinen. So viel von dieſer zweiten Haupt: | 
Schrift des Synefius. — Auch nad) der Rückkehr Aurelians blieb 
er noch eine Zeit lang in der Hauptitadt. Aber ala mehrere Erd— 
jtöße fich fühlbar machten, und die Menjchen, während der Boden 
unter den Füßen ſchwankte, auf die Kniee fielen zum Gebet, da | 
hielt Synejius das Meer für ficherer und befchleunigte die Heim: 
reife über Mlerandrien. Unterwegs aber an der Küfte von 
Marmarica litt er Schiffbrud. Vom Hafen Azarios aus feßte 
er feinen Bruder Euoptiuß in einem launigen Brief von dem 
erlebten Abenteuer in Kenntnis. (Vgl. Vollmann.) 

Der Brief, der wie alle Briefe des Synefius als Fleines 
Kunſtwerk gefchrieben ift, Schließt mit den Worten: 





Syneſius von Cyrene ı. 57 


„Lebe wohl und grüße deinen Sohn Dioscoros mit feiner 
Mutter und Großmutter, die ich liebe und als meine Schweitern 
betrachte. Empfiehl mich der überaus ehrwürdigen und gottgelieb- 
ten Bhilofophin, und dem glüdlichen Kreis, der auf ihre erhabene 
Stimme lauft. Über Gajus, der ung geiftig fo nahe fteht, wirft 
du gewiß ebenfo denken, wie ih, und ihn wie einen Berwandten 
anjehen. Grüße ihn menigjtens, mit ihnen auch den Theodofios, 
den trefflihen Grammatiker, obſchon er mir feine Sehergabe ver: 
beimlicht hat. Denn er fah voraus, wie e8 mir gehen würde, und 
gab deshalb die Abſicht auf, mit mir zu reifen. Dennod babe 
ih ihn lieb und laffe ihn grüßen. Mache niemals eine Seereife, 
und wenn du es einmal durdhaus mußt, dann wenigſtens nicht 
in der zweiten Hälfte de8 Monats.” — Die unglüdliche Seereife 
war gleichfam ein Vorbote deſſen, was den Syneſius in der Heimat 
erwartete. Zwar der gemwünfchte Steuernadhlaß wurde bewilligt; 
aber die Mifftände, die mit der verkehrten Militärverwaltung ver: 
bunden waren, dauerten fort. Von den Gouverneuren — drei 
werden genannt — war der eine unfähiger als der andere, alle 
gekauft und Fäuflih und nur darauf bedacht, fich zu bereichern; 
die Grenzfaftelle verfielen, die Soldaten zogen fi) in die Städte 
zurüd und fielen den Bürgern zur Laft. Die Bemühungen des 
Synefius, die Pentapolis mit Ügypten zu vereinigen und Die 
Fremden, nur auf ihren Gewinn bedachte Kaufleute, aus dem 
Heere hinauszufchaffen, waren erfolglos. Da die Barbaren ihre 
Einfälle erneuerten, jo machte Synefius von der Pflichtver— 
aefienheit des Befehlshaber in der Hauptitadt Anzeige und fein 
Senfluß am Hof, ſowie beim praefectus Augustalis in Alerandrien 
brachte es dahin, daß dem jchamlofen Treiben einzelner Beamten 
gefteuert wurde, Auch organifierte er eine Art Landſturm unter 
den Bürgern der Pentapolis und ftellte ſich felber an die Spitze. 
Doc gelang es ihm nicht, den räuberifchen Einfällen der Mareten 
ein Ziel zu fegen, und einer derfelben hatte fogar die Folge, daß 
er von feinem Landfig für immer vertrieben wurde. Syneſius 
befaß nemlich landeinwärt3 ein reizend gelegenes Landhaus, wo 
fein Leben, wenn er nicht in der Stadt oder auf Reifen war oder 
äußere Störungen die ländliche Stille unterbrachen, in ungetrübter 
Heiterkeit dahinfloß. Seine Neifen gingen meiften® nach Alerand- 





rien, eine führte ihn nah Athen. Er konnte der Verfuchung, 
diefen heiligen Boden zu betreten, nicht länger widerſtehen. Aber 
er fand, daß die Leute in Athen von anderen Sterblichen ſich in 
nicht3 unterfcheiden, wenigſtens was das Verſtändnis des Plato 
und Aristoteles betrifft, dennoch aber, meint Synefius, wandeln jte 
unter den andern Menfchenfindern wie Halbgötter unter Halbefeln, 
weil fie die Mfademie, dad Lyceum und die Stoa gejehen haben, 
die freilich jegt feine bunte mehr ift, feit der Profonful fie ihres 
Schmudes beraubt hat, um zu verhüten, daß fie auf ihre Weis— 
heit fih zu viel einbilde. Synefius genoß nach Möglichkeit das 
Leben in Athen und fpürte auch, daß er um mehr als fünf Singer 
Breite gefcheuter geworden war. Er befuchte die merkwürdigen 
Orte in der Umgebung; aber das jetige Athen, meint er, gleiche 
nur noch der Haut eines gefchlachteten Opfertiers; jett iſt Agypten 
der Drt, wo die Saaten aufgehen. Früher war Athen ein Herd 
der Weifen, jet iſt es nur durch feine Bienenzüchter berühmt. — 
Sonſt ereignete ſich wenig in dem zurüdgezogenen Leben des Syne— 
ſius. Das Einzige, was wir hören, ift, daß er wahrjcheinlih im 
Jahr 403 aus den Händen des Patriarchen von Alerandrien eine 
höchft wahrſcheinlich chriftliche Frau empfing, die ihm drei Söhne 
ſchenkte. Einer derjelben wurde gemeinfam mit zwei Neffen von 
Hauslehrern erzogen, mit denen er verfchiedene Erfahrungen machte, 
aute, aber auch fehr ſchlimme. Sonſt war dasfelbe ein echt patriar- 
halifches, wie zu den Zeiten Noah's, ehe die Gerechtigkeit unter: 
drüdt wurde. Herden von Pferden, Ziegen, Schafen und Rindern 
gab es; man hatte vortrefflichen Honig, Weizenbrot und allerlei 
Dbit, dazu MWildpret in Menge und treffliches Olivenöl. Nachbar: 
(ich unterjtügte man fich in Feldarbeit. Die Zandleute waren ein 
heiteres Völkchen. Zu einer primitiven Lyra fangen fie ihre ein: 
fachen Lieder. Ein tüchtiger Zudtbod, ein Schaf, das reichlich 
Lämmer geworfen, ein Fräftiger Jagdhund mit gejtugtem Schwanz, 
der die Hyänen nicht fürchtet und den Wolf an der Gurgel padt, 
der Jäger, der Meinitod, die Feige werden von ihnen gepriefen ; 
dazu fommen Gebete und fromme Gefänge. Diefe Leutchen hatten 
von der weiten Welt nicht mehr als die Scholle ihres heimatlichen 
Dorfes gejehen. Dft ließen fie fih von Synefius vom Meer 
erzählen, ein Schiff mit Segeln befchreiben und hörten das alles 





58 Gaiſer 


Run 
| 


Syneſius von Cyrene x. 59 


mit lächelndem Mund und ungläubigen Bliden. Fifche, die er 
ihnen zeigte, hielten fie für giftige Schlangen und fürchteten jich 
vor Floffen und Gräten. Wie das Salzwafjer denn dem Men: 
Ihen Nahrung liefern könne, da doch das Quellwaſſer nur Fröfche 
und Kröten hervorbringe? Daß es einen Kaifer gebe, wußten 
diefe Leute, weil der Steuereinnehmer es alljährlih ihnen zu 
Gemüt führte; fonft wollten fie von Bolitif nichts wiſſen. Einige 
glaubten, es herrjche noch heute der Atrive Agamemnon und von 
den Abenteuern des Odyſſeus, des verfchmigten kahlköpfigen Alten, 
erzählten fie, als ob fie erjt geftern gefchehen wären. Sn folcher 
Umgebung verfloffen in träumerifcher Sorglofigfeit die Tage des 
Synefius. Ein guter Wirtfchafter, dem es darum zu thun gemejen 
wäre, vorwärts zu fommen, war er nicht; im Gegenteil verfchlang 
jeine mit großer Liebe gepflegte und auch Seltenheiten enthaltende 
Bibliothef ein Güthen nah dem andern. Sein Leben gehörte 
den Studien, zu welchen er ſich durch zugleich Abwechslung und 
Erholung bezwedende körperliche Befchäftigungen, wie Jagd und 
Gärtnerei, die nötige Spanntraft zu erhalten wußte. Aber auch 
in der geiftigen Arbeit wußte er einen Unterfchied zu machen zwi- 
ichen Ernft und Spiel. Zu dem Ießteren können im wefentlichen, 
fofern fie dem leichteren Genre angehören, auch feine von den 
Späteren jo jehr bewunderten Briefe gerechnet werden, die teils 
an feinen Bruder, teils an feine Lehrerin Hypatia, teild an jeine 
Freunde und Gönner in Alerandrien und Konjtantinopel gerichtet 
find; denn Synefius hatte eine ſchwärmeriſche Empfänglichkeit für 
Freundichaft, und der briefliche Verkehr war ihm ein Erja für 
die ihm in feiner Einſamkeit abgehende geiltige Anregung durd) 
perfönlicde Begegnung. Seine Briefe waren aber darum nicht 
nur leicht hingeworfene Ergüfje des Augenblids, fondern refleftierte 
Kunſtwerke, fophiftifche uereru im eudog emioroAıxor; Denn 
Syneſius befaß ein bedeutendes formales Talent. Ein Beleg 
dafür, aber auch für fein Befangenfein im Gefchmad der fpäteren 
Sophiftif ijt fein „Xob der Kahlheit“. Diefe Schrift gehört der: 
jenigen Gattung der epideiktiſchen Literatur an, in welcher Dinge 
gelobt werden, an denen eigentlich nichts zu loben ift. Die nächite 
Beranlafjung bildet eine Zobfchrift des von ihm mit großer Pietät 
verehrten Dio Chryfoftomus auf die Haare; ihr ftellt er im Schmerz 


60 ®aifer 


über die bei ihm ſelbſt fich einftellende und überhand nehmende 
Kahlheit, der durch Dio's Schrift aufs neue geweckt worden ift, 
ein Zob der Kahlheit entgegen. Ein fahler Mann hat fich feiner 
Kahlheit nicht zu ſchämen, wenn er nur ein zottiges Herz hat. 
Das Haar ijt überhaupt etwas totes, darum hat Achill feine Locken 
dem toten Freunde gefpendet. Die unvernünftigen Tiere find 
darum überwiegend behaart, der Menſch unbehaart mit Ausnahme 
einiger Teile, damit er fich nicht zu jehr überhebe.. Wer aber 
jelber an diefen Teilen nicht behaart it, verhält fich zu den andern 
Menfhen wie der Menfh im ganzen zum Tier, darum iſt das 
dicdwollige Schaf das dümmſte Tier; das ungerechte Roß an dem 
Zweigefpann, welches bei Plato die Seele Ienft, ift an den Ohren 
zottig und taub; bei der trunfenen Bacchusfeier ift alles behaart, 
außer dem meifen Silen; fein Wunder, daß Sofrate® auf die 
Apnlichkeit mit ihm fich etwas zu gut thut; denn wer nicht Fahl 
ft, ift auch nicht weife, darum find alle Vhilofophen Kahlköpfe 
gewejen. Und das iſt auch das Allergefündejte. Schon Homer 
weiß, daß das befte und härtefte Holz auf den Scheiteln der Berge 
wählt, wo ed den Stürmen und dem Wetter am meiſten aus— 
gejeßt if. So ift ein der Sonne und den Winden ausgeſetzter 
Schädel bald eifenfeft und gegen alle Krankheit geftählt. Die 
jeythiichen, Ianghaarigen Sklaven find am Kopf überaus empfind- 
lich; giebt man ihnen eine Obrfeige, fo iſts um fie gejchehen. 
Dagegen fann man auf der Bühne Schaufpieler jehen mit Tahl- 
gejchorenem Haupt von folcher Feitigkeit, Daß es den Stoß eines 
aus weiter Ferne anprallenden Widders mit Leichtigkeit aushält. 
Das Haar madt alfo feinen Befiter ſchwächer. Darum iſt von jeher 
das ſchwächere Weib auf die Pflene des Haares bedacht geweſen und 
wird nicht fahl, wenn ihm auch infolge von Krankheit zuweilen die 
Haare ausgehen. Bon den Lacedämoniern, die dad Haar vor der 
Schlacht bei den Thermopylen jorgfältig ſchmückten, fam feiner nad 
Haufe; die Mazedonier und Griechen dagegen, die mit Alerander 
zogen, ließen fich vor der Schlacht bei Arbela jämtlich ſcheren und 
errangen einen herrlichen Sieg. Das alles hat nun feinen tieferen 
Grund. Das Seiende ift einfach, je mehr es dem Nichtfeienden ſich 
nähert, deſto mannigfaltiger wird es bis zur Materie herunter. Wirb 
nun in diefe der göttliche Keim eingefenft, fo umkleidet er ſich mit 


Syneſius von Cyrene ꝛc. 61 


aller Buntheit der Natur, bis er als Frucht gezeitigt iſt; dann 
fallen alle Blätter und Blüten ab, und die Frucht, die Keime des 
weiteren Lebens umſchließend, liegt in kahler, ſchmuckloſer Hülle 
da. So iſt es auch mit dem in das menſchliche Haupt geſenkten 
göttlichen Keim. Erſt wenn das Haar entſchwunden iſt, kann die 
Frucht ſich entfalten; darum ſchert der ägyptifche Prieſter fein Haar. 
Mas diefer künſtlich erreicht, hat der Kahlköpfige von Natur. Auch 
das Göttliche, fomweit es in den himmlischen Sphären: Sonne, 
Mond und Sterne ſich darftellt, erfcheint als kahle Kugel. Behaarte 
Sterne giebt e8 nicht; die Kometen, welche fommen und gehen, 
find feine eigentlichen Sterne, und das Haar ift ein fo großes 
Übel für fie, daß es ihnen ein fterbliches Los bereitet. Alſo Kahl: 
heit ift ein Beweis von Gottähnlichkeit, daher man vom Mond: 
Schein des Hauptes fpricht; einen vollflommenen Kahlfopf könnte 
man auch Sonne nennen; denn leuchten fann e8 nur, wenn es 
frei von Haaren it. Zwar haben Phidias und Homer den Zeus 
mit lodigem Haupt dargeſtellt; aber die nahahmende Kunft nimmt 
es mit der Wahrheit nicht genau, fondern fpefuliert auf den Bei: 
fall der Menge; auch die ägyptifchen Priefter halten ihre Götter- 
bilder geheim und fpeifen die Menge ab mit Sperbern und Ibis— 
fchnäbeln. Dio beruft fi immer auf den langlodigen Achill, 
bedenkt aber nicht, daß er zwar font ein frefflicher, aber doch 
unreifer und zornmütiger Süngling war, der mit der Zeit jedenfalls 
fahl geworden wäre; vielleiht war er es fchon in der Jugend; 
denn e3 heißt, was Dio wohlweislich verfcehweigt: Athene fer, als 
fie den Peliden am Haare faßte, von hinten an ihn herangetreten ; 
wozu brauchte fie das, wenn er vorne Haare hatte? Und bedenkt 
man nicht, daß Paris, der unheilvolle Ehebrecher und alle feine 
unfeufhhen Kameraden, die Diener der Cybele und MWeichlinge jeder 
Art, Lockenköpfe waren? Ein Lob der Kahlheit kann alfo auf 
den Beifall der Priefter und Propheten in den Tempeln, ber 
Lehrer und Philofophen in den Schulen, der Centurionen und 
Staatömänner, furz der Verftändigiten und Beiten rechnen; ihnen 
alſo foll e8 gewidmet fein. — Das Lob der Kahlheit ift das 
treffendfte Beispiel für das, was Syneſius mit einem glüdlichen 
Ausdrud: onowdaceın neoı ra naryvıa in der Literatur nennt. 
Aber mit diefer feiner Geiftes- und Geſchmacksrichtnng hatte Syne— 


— 


62 Gaiſer 


ſius Angriffe nach verſchiedenen Seiten hin abzuwehren. Bei den 
neidiſchen Sophiſten hieß es, er habe nur Talente für literariſche 
Spielereien; aber auch die Philoſophen und chriſtlichen Theologen 
zuckten die Achſeln; für die einen war die Beſchäftigung mit Rhe— 
torik und Poeſie überhaupt eitler Tand, und auch die andern, mit 
denen Syneſius übrigens darin einverſtanden war, daß man die 
Schätze der eigentlichen Weisheit vor den Blicken des vulgus pro- 
fanum forgfältig verbergen müffe, erflärten Vhilofophie und Schön- 
rednerei für unvereinbar. Gegen alle diefe Gegner fchrieb er feinen 
Dion als Schußrede für die Mufen gegen ihre Verächter. Die 
Schrift ift dem von ihm erwarteten Sohne gewidmet, der erfahren 
fol, was der Vater von den einzelnen Schriftftellern und ihren 
Merken denft und wer ihm befonders befreundet iſt. Das tft nun 
insbefondere der trefflihe Dio, der, von Philoftratus in feinen 
Lebensbefchreibungen unter die Philofophen gerechnet, anfangs ein 
Sophift und Verächter der Philofophie, ſpäter ein ebenfo entjchie- 
dener Verehrer derfelben, die männliche Ethif der Stoa zu der 
jeinigen gemacht Hatte. Seine Schriften ftehen fo recht in ber 
Mitte zwifchen eigentlicher Philofophie und den notwendigen Bor: 
jtudien zu derfelben. Denn daß die Philofophie, wenn fie Königin 
der Wiffenfchaften bleiben will, mit den einzelnen Wiſſenſchaften 
und Künften in Yühlung bleiben muß, daß der Philofoph auch 
Philologe fein joll, das zeigt jchon der Vorgang Plato’3. Auch die 
Mufen werden ja nicht einzeln, ſondern im Chor genannt, und ihr 
Vorſteher Apollon fingt nicht nur allein fein heiliges und geheimnis- 
volles Lied, fondern auch im Verein mit ihnen und ihnen den 
Ton angebend. Und wäre e3 nicht Jeltiam, wenn jemand in Bezug 
auf Großes weife wäre, der es im Kleinen nicht zu fein vermag? 
Mie Gott die Verförperungen der Ideen, die Bilder feiner unficht- 
baren Kräfte ind Dajein treten läßt: fo muß auch eine Seele, Die 
im Befit des Schönen tft und die Kraft zur Erzeugung des Edel- 
ften hat, es nad) außen mitzuteilen fähig fein. Selbft im Schweigen 
it der dialeftifich und encyklopädiſch Gebildete dem andern über: 
legen; denn er weiß, wo er zu ſchweigen und wo er zu reden hat. 
Durch Benügung der rhetorifchen und dialektiſchen Kunftformen 
aber wird er mit dem, mas er redet, den Wifjenstrieb rege machen. 
— Auch dem Weſen der menfhliden Natur ift der Dienft der 


Synefius von Eyrene x 63 


Muſen ganz entjprechend. Unausgefett auf den Höhen abgezogener 
Kontemplation zu verweilen, iſt der menfchliche Geift zu ſchwach; 
‚denn der Menſch ift nun einmal nicht reine Vernunft, fondern 
Vernunft in einem lebendigen Organismus; da it von Zeit zu 
Zeit eine Erholung erforderlich und jedenfalls zwedmäßiger, wenn 
er jich nicht alsbald der Komödie oder den Erzeugniffen der Rhe— 
torif zumendet, damit der Nachlaß in der geiftigen Spannung ein 
jcehrittweifer und ftufenmweifer ſei. Die Beichäftigung mit dem 
Schönen bewahrt die Seele vor einem Verſinken in das bunte 
Mannigfaltige; dad Schöne ift das Schmungbrett, von dem aus 
er fich ins Weich der überfinnlihen Wahrheit wieder zu erheben 
vermag; das Leben wird dadurch zu einer rhythmiſchen, zwiſchen 
Fallen und Steigen regelmäßig mechjelnden Bewegung. Auch die 
riftlichen Barbaren, die Mönche, welche dasfelbe Ziel, mie die 
Vhilofophen, die Kontemplation vor Augen haben, die fih darum 
von der menschlichen Gefellihaft zurüdziehen, getrennt von einan- 
der leben, ehrwürdige Gefänge, heilige Symbole, beftimmte Stun- 
den, in denen ſie der Gottheit dienen, jtrenge Falten haben, auch 
fie, trogdem daß fie ausdauernder als die Hellenen find, können 
es im jtetigen Anblid der intelligiblen Schönheit nicht aushalten, 
auch bei ihnen macht die Natur ihre Rechte geltend, und fie bejchäf: 
tigen fih, dem Müßiggang zu entgehen, mit Korbflechten und 
anderer Handarbeit. Da ift e8 denn doch viel vernünftiger, wenn 
der Grieche feine Erholung auf einem dem reinen Geiftigen benach— 
barten Gebiet fucht; denn zwifchen der Beichäftigung mit Reifig 
und dem Ergreifen des Höchſten findet doch Fein innerer Zuſam— 
menhang ftatt. Wir find alfo den großen Rednern, Dichtern und 
Gefchichtfchreibern zu Dank verpflichtet, daß fie ihre Geiſteswerke 
der Nachwelt Hinterlafien haben, damit wir von der Arbeit des 
Denkens zur Erholung zu ihnen zurüdfehren und zu erneuter 
geiftiger Anftrengung neue Kraft fchöpfen können. Über den 
Schwan jtaunen wir. zwar nicht fo fehr wie über den in feinem 
Flug bis in die höchſten Regionen des Sichtbaren ſich erhebenden 
Adler; aber auch er erfreut und durch feinen Anblid, und gerne 
laufchen wir feinem Gefang. Hat der Adler feinen Pla beim 
Beus, fo iſt doch auch der Schwan einem Sohn de Zeus geweiht 
und des Dreifußes gewürdigt. Wenn alfo die Mönche den Weg 


64 Gaiſer 


durch die Schönheit zur Wahrheit verachten, ſo heißt das im 
Sprung zum Ziele gelangen wollen. Nun ließ die Ausſaat des 
Kadmus zwar geharniſchte Männer am ſelben Tage aus der Erde 
wachſen, aber kein Mythus weiß von Theologen zu melden, die 
im Umſehen aus der Erde gewachſen wären. So wird der Philoſoph 
weit ſicherer auf ſeinem Weg zu ſeinem Ziele gelangen, als der 
chriſtliche Aſcet auf gar feinem; dazu gehört eine ausnehmende 
geiftige Organifation, die feltener fein dürfte als der Vogel Phönir. 
Und zu alledem fommt, daß der Chrift in der Vorhalle, der Tugend, 
welche die Seele zwar reinigt, die Anlage zum Guten mwiederher- 
ftellt, fie aber nicht zum göttlich) Guten emporführt, ftehen bleibt. 
— Troß den ſchiefen Urteilen und Anfichten, die inäbefondere über 
das chrijtlihe Mönchtum in diefer Schrift gefällt werden, deren 
Einfeitigfeit einmal darauf beruht, daß die mweltflüchtige neuplato- 
nifche Philoſophie, der er huldigt, in ihrer praftifchen Konfequenz 
auf die möndifche Lebensweiſe hinaus kommt, fodann aber auch 
darin, daß der hellenifche Intellektualismus fein Verftändnis hat 
für die relativ felbjtändige Bedeutung des Willenslebens neben 
dem Borftellungs- und Erfenntnizleben und darum auch nicht für 
den fpezifiichen Wert der Willensbeteiligung auf den verfchiedenen 
Gebieten des fittlichen Leben? — ift doch diefe Schutzrede für eine 
Verbindung des Afthetifchen mit dem Philofophifchen in einer 
Zeit doppelt wertvoll, in welcher das antife Geiftesleben völlig zu 
erlöjchen oder in getitlofem Formelfram zu erftarren droht, mie 
es in der That in den folgenden Jahrhunderten byzantinifcher 
Erudition ein nur mumienhaftes Dafein gefriftet hat. — Aber 
über dem Spiel jteht auch dem Syneſius der Ernft, über der 
Schönheit die Wahrheit und ihre Erkenntnis und ihr Organ ift 
die Philofophie. Diefe bildet denn auch im Studium des Syneſius 
den Mittel: und Herzpunkt. Zwar ift Synefiu fein origineller, 
philofophifcher Kopf geweſen, auch fteht das Bedürfnis nad Wahr: 
heitserkenntnis durch Löſung metaphufifcher Probleme nicht bei 
ihm in vorderiter Reihe, fondern das religiöfe des Herzens; er ift 
überhaupt mehr eine vorwiegend rezeptive Natur, unter dem Ein: 
fluß des Augenblid3 ftehend. In der Philofophie fieht er nur 
ein Mittel, das Göttliche im eigenen Innern zum urſprünglich 
Göttlichen emporzuführen. Nichts deſtoweniger will er aber Phi— 


Syneſius von Cyrene ıc. 65 


Iofoph fein und fpricht fich, insbefondere in einem Brief an feinen 
Studienfreund Herkulian, fehr entjchieven dahin aus, daß die 
Wahrheiten der Philofophie nicht für jedermann, insbefondere nicht 
für das gemeine Volk feien, daß das öffentliche Vhilofophieren nur 
die Verachtung des Göttlichen bemirfe, und er es felbjt darum 
für feine Pflicht halte, ein vorfichtiger Wächter über die Geheim- 
nifje der Philofophie zu fein. An dieſer Unterfcheidung zmifchen 
einer exoteriſchen und eſoteriſchen Wahrheit hat er auch ala chrift- 
Iiher Bifchof feitgehalten. Das philofophifche Glaubensbefenntnis 
des Syneſius, wie wir es insbefondere in den Agyptern nieber- 
gelegt finden, in der Rede, welche der Vater an feinen Sohn Oſiris 
hält, ift die neuplatonifche Lehre, welche in dem platonifchen Dua— 
lismus die Kluft zwifchen Seiendem und Nichtfeiendem, zmifchen 
Idee und Materie durch die Emanationsvorftellung ausfüllen und 
dadurch auch für die Götter des religiöfen Volksglaubens einen 
Raum gewinnen will. Das Seiende jtuft ich immer mehr ab und 
wird immer ſchwächer, bis es die Ordnung ftört. Das Göttliche 
fentt fich in die Natur, um das irdiſche Los zu verfchönern, wo— 
bei e8 ich aber fehr zu hüten hat, daß es durch die Berührung 
mit dem Befledten nicht ſelbſt befledt wird. Ein folcher göttlicher 
Keim ift die menfchlihe Seele. Auf ihre Vernichtung haben es 
die Elementardämonen abgefehen und nehmen ich Dazu die Leiden- 
Ichaften ala Dperationsbafis, welche ihnen denfelben Dienft thun, 
wie die Kohlen bei einem Feuerbrand. Werden fie dadurch ihrer 
nicht Herr, fo erregen fie ihre Kämpfe von außen. Dieſem Kampfes— 
Ihaufpiel fchauen die Götter zu. Sonſt ift ihr Blid nur dem 
Göttlichen, der intelligiblen Schönheit, zugewendet; daneben aber 
haben ſie doch auch die Aufgabe, das Seiende bis zu feiner unterften 
Stufe zufammenzubalten. So müfjen fie von Zeit zu Zeit gewiſſe 
Anregungen geben, damit die elementare Welt ſich wieder eine Zeit: 
lang fortbewegt, wie die Marionettenpuppen bei erhaltenem Anſtoß 
ſich fortbemwegen, fo lang die mitgeteilte Kraft fortdauert. Diefer An- 
ftoß erfolgt aber erft, wenn die geftiftete Harmonie ſich auflöfen will. 
Ein ſtets in der Materie gegenwärtige und wirkſames Göttliche, 
freilih ſchwach und unvolllommen eben infolge der Berührung 
mit der Materie, ift die menjchliche Seele, und aud) fie zeigt ſich in 
ihrer Göttlichfeit am meiften, wenn fie am meitejten von der Materie 
Theol Studien a. W. VII. Sabrg. 5 





66 Gaifer 


ab: und ihr felber nach der Innenſeite zugefehrt ift, nemlich im Traum, 
wie Synefius in der Schrift über die Träume dies ausgeführt hat. 
So hat Synefius, nicht zufrieden mit der frei gewählten Einſamkeit, 
in die geheimnisvollen Tiefen des Seelenlebens fich zurüdgezogen 
und ſich bemüht, da8 wache Leben zu einer Fortſetzung des Traum: 
lebens zu machen, weil er dem Göttlichen ſich in demfelben näher 
fühlt als im wachen Zuftand. 

Bekanntlich ift Synefius im Jahr 409 zum Bischof von Pole 
mais gewählt und gleichzeitig getauft und ordiniert worden. Wie hat 
ſich der Übergang zum Chriftentum für ihn vermittelt? Denn von 
einem förmlichen Bruch mit feiner Vergangenheit hören wir nichts. 
An äußeren Aufforderungen von joldhen, die einen jo talentvollen 
und fenntnißreichen, dazu bei Hof fo einflußreihen Mann, von ſolchem 
Adel der Gefinnung und aufopfernder Liebe für feine Vaterftadt zu 
gewinnen fuchten für die chriftliche Sache, hat es gewiß nicht gefehlt. 
Die Gewaltakte freilich, welche der Patriarch von Alerandrien an den 
Kunftwerken und Heiligtümern der Heiden verübte, fonnten den Syne- 
ſius nur in feiner Meinung beftärfen, daß die hriftliche Religion bar- 
bariſch, mit höherer, wiſſenſchaftlicher Bildung nicht vereinbar fei. 
Immerhin mochte er auch an diefem überwiegend weltlich gerichteten 
Kirchenfürſten die Feftigkeit des Auftretens und die Rüdfichtlofigkeit 
bewundern, mit der er die Intereſſen der Kirche verfolgte, und in der 
allgemeinen Unficherheit, da alles in Trümmer und aus den Fugen 
ging, mochte ihn hie und da die Ahnung befchleichen, ob nicht doch 
diefe Kirche das Einzige fei, was lebensfähig war und Zukunft hatte, 
was im Stande war, die Völker zu erziehen, auch die wildeften Ge: 
müter zu bändigen und insbefondere einen Damm gegen die Über- 
flutung durch die Fremden zu bilden. Diefe Gedanken erhielten 
Nahrung durch feinen Aufenthalt in Konftantinopel. Hier lernte er 
aus eigener Anfchauung die traurige Lage des Reiches kennen, einen 
ſchwachen Fürften, den Hof ala den Tummelplat von Intriguen, un: 
würdige Minifter und Beamte, Die Reichtverteidigung in den Händen 
der Barbaren, aber auch edle und fromme, patriotifch gefinnte Männer, 
welche Chriften waren, jo den Präfelten Aurelian, fo den Bifchof 
Johannes Chryfoftomus und fein großartiges Wirken, wie er den 
unglüdlihen Eutropius gegen die Wut feiner Feinde mit eigener 
Lebensgefahr ſchützte, wie er e8 wagte, in das Lager der arianifchen 


il. 


Synefius von Eyrene ıc. 67 


Gothen zu gehen und für Aurelian um Schonung zu bitten. Und 
diefer Mann war ein gefeierter Redner und Lieblingsfchüler des 
Libanius. Wir wiffen auch pofitiv aus einem Danfhymnus, den 
Synefius nad) feiner Rückkehr verfaßte, daß er in Konftantinopel 
chriſtliche Kirchen befuchte, um darin zu beten, daß er fogar die 
Heoı donornosg, die Heiligen und Märtyrer an ihren Gräbern 
befuchte und im Gebet auf den Knieen lag, feine Reife möge doc 
feine vergebliche fein. Auch der Einfluß feiner chriftlichen Frau, 
die ihm eine angenehme Häußlichfeit und ein glücliches Familien: 
leben fchuf, mag, wenn auch nur in der Stille wirkend, fo doch 
darum von nicht zu unterfchäßender Bedeutung gemejen fein, mie 
dies ein an den Sohn der Jungfrau gerichteter Hymnus von befon- 
ders chriftlicher Färbung, ein Gebet für ſich und die Seinigen ent- 
haltend, jchließen läßt. An Einmwirfungen alfo, die den Syneſius 
der neuen Religion näher zu bringen geeignet waren, hat e8 dem- 
nad nicht gefehlt. Wie weit hat ſich Synefius von ihnen beftimmen 
lafjien? Er war, wie ſchon gejagt, von Haus eine religiös angelegte 
Natur, und die Vhilofophie war für ihn eine Art Anleitung zum 
gottjeligen Leben, wie denn ja bei der ganzen nadariftotelifchen 
Philofophie und der neuplatonijchen insbefondere das praftifche 
Intereſſe ver Glüdjeligfeit die Hauptfache war. Auch an Analogien 
zwifchen der neuplatonifchen und chriftlichen Lehre fehlte e8 nicht, 
fo 3. B. zwifchen den drei Hypotheſen des Süntelligiblen als Eines, 
als Geift und Seele und der chriftlihen Trinitätslehre. Dennoch 
mar der Weg von dort zum Glauben an den fleifchgemorbenen 
Logos noch ein weiter. Denn für den Platoniker ift Gott das 
ſchlechthin unbewegte, in unveränderter Bolllommenheit und Seligfeit 
bei fich felbjt bleibende und in feiner Selbftanfchauung felige Zentrum 
der Welt; die Hypoftafen find emanierte Potenzen. Die Welt ift 
eine ewige, ohne Anfang und Ende in der Zeit, der Weltprozeß 
ein jtufenmweifes Sichentfalten von der Einheit zur Vielheit mit 
immanenter Notwendigkeit, nicht auf einem freien Schöpfunggafte 
beruhend; das Böfe in der Welt ald das Nichtfeiende ein notwen- 
Diges Korrelat des Seienden; das Menfchenleben ein ewig fi) 
wiederholendes Auf: und Abfluten der Seelen, ein Herabfallen 
aus der intelligiblen in die materielle Welt und Zurüdkehren zum 
Urquell des Seins; der Fall der einzelnen Seele ein vorzeitlicher 
5* 





68 ®aifer 


Akt und ihre Rückkehr Sache eines in der gottähnlichen Natur der 
Seele begründeten Entfchluffes. Die Berührung der von Haus 
aus guten Seele mit der Materie, dem Prinzip des Böfen, macht 
fie zmar mit Notwendigkeit fündig; ftreift fie den dadurch von 
außen an fie gefommenen Schmuß ab, fo gelangt fie wieder zur 
urfprünglihen Reinheit. Hilfreihe und freundliche Mittelmejen 
erleichtern ihr ihre Arbeit, die in Erfenntni® und Erinnerung an 
ihren früheren Zuftand befteht; aber benötigt ift te derfelben nicht. 
Die Seele kann fih durch fich felbit zu dieſem Mittelreich erheben, 
ja über dasfelbe hinaus fich ſchwingen zur völligen Gemeinjchaft 
mit Gott im ekſtatiſchen Schauen. Ein Herabfteigen Gottes aber 
ins Zeitliche und zeitliche Thaten des intelligiblen Gottes zur Er- 
löfung des gefallenen Sünders braucht es nicht und iſt dafür auch 
fein Raum im Syitem, in welchem jede Berührung des Göttlichen 
mit der Sinnenwelt dasfelbe notwendigermweife verunreinigt und 
befledt. Daß nun Synefius mit diefen Anſchauungen des Neu: 
platonismus jemals völlig gebrochen habe, tjt nicht nachweisbar. 
Keinenfalls ift er jemals in feinem Leben ein rechtgläubiger Chrift 
geworden. Eine gemwiffe Annäherung an die Sache des Chriften- 
tums ift zwar bei ihm nicht zu verfennen. Vor dem Prieftertum 
und Möndtum, wofern e8 die ihm geftellte Aufgabe wirklich löst, 
hat er zwar alle Achtung, nur hält er es, menigftens für den 
Hellenen, für ein unerreichbares Ideal. Wenn er daher einem ins 
Klofter übergetretenen Freund Johannes, vielleicht demfelben, dem 
er früher wegen ihm zur Laſt gelegter Teilnahme an einem Mord, 
jo lang er ſich nicht gereinigt habe, die Freundjchaft Fündigte, Dazu 
Glück wünſcht, daß er fo rafch ans Ziel gelangt fei, während er 
jelbit noch erſt an der Schwelle ftehe und vielleicht mit feinen 
Studien niemals ans Ziel fomme, fo ift darin Doch mohl nicht 
mehr als ein artiges Kompliment zu fehen, das, ein wenig ironifch 
gemeint, feinen allzu großen Wert hat. Mehr Chriftliches ift in 
feinen Hymnen zu entdeden, zwar nicht in den erften, Die noch 
voll von neuplatonifcher Myſtik find, wohl aber in den fpäteren, 
welche das chriftlihde Dogma von der Menjchwerdung und die 
wunderbaren Ereignifje im Leben des Erlöfers: Geburt von der 
Sungfrau, Auferftehung, Höllenfahrt und Himmelfahrt zu ihrem 
Gegenſtand haben. Nicht zu überfehen dabei ift aber der Unter: 


Syneſius von Cyrene ıc. 69 


ſchied zwiſchen bymnifch = dichterifcher und dialektiſch entwidelnder 
Behandlung. Bezeichnend in diefer Beziehung find die mytholo- 
giſchen Zufäße: der greife und alte Hades, der bei der Ankunft 
des Herrn erfchridt, und der gefräßige Höllenhund, der von der 
Schwelle der Unterwelt zurüdmweicht, welche darüber feinen Zweifel 
laffen, wie diefe Hymnen zu deuten find. Von dem chriftlichen 
Zentraldogma, dem Tod Chrifti und feiner Jühnenden Kraft, wird 
nie etwas erwähnt und der heilige Geift fällt ihm mit der neu: 
platonifchen Weltfeele zufammen. Daß Synefius den Neuplato: 
nifer und den Philofophen niemals, auch ala chrijtlicher Biſchof 
nicht, ausgezogen hat, dafür find einige feiner Briefe ein unzwei- 
deutiger Beweis, befonders einer an feinen Bruder Euoptius, der 
für die Öffentlichkeit, insbefondere dazu beftimmt war, dem neuen 
Dberhaupt, dem Patriarchen von Alerandrien befannt zu werben. 
Sie zeigen, welche Bedenten und Kämpfe es den Mann gefojtet 
hat, die auf ihn gefallene Wahl anzunehmen und aud nad einer 
jechsmonatlihen Vorbereitung fein Amt anzutreten. Nicht nur, 
daß e3 ihm Sorge madt, ob er perjünlich eines jo hohen Amtes 
auch würdig fei, ob ftarf genug, um die Laſt desfelben zu tragen, 
ohne daß er durch Berührung mit den weltlichen Händeln ins 
Srdifche herabgezogen wird — daß es ihm fchwer fällt, dem Spiel, 
der bisher fein Leben erheiternden und ihm Stärfung gebenden 
Hälfte feines Dafeins, für immer zu entfagen — daß er ſich aufs 
entjchtedenjte weigert, feinem teuerften irdiſchen Beſitz, feinem Weibe, 
zu entfagen — auch der Gedanke quält ihn, ob es mit den von 
ihm auf wifjenfchaftlihen Weg gewonnenen, ſchwer zu erjchütternden 
Überzeugungen fich vereinbaren laſſe, ein chriftlicher Biſchof zu fein. 
Nachdrücklich hebt Synefius hervor, daß er insbefondere den Glauben 
an eine Entjtehung der Seele nach dem Leib, an das Vergehen 
der Welt und an die fogenannte Auferjtehung des Leibes im Sinn 
der Menge für feine Perfon nicht teile. Er weiß nun zwar, daß 
für gewiſſe Leute der Irrtum von Nußen tft, wie für franfe Augen 
die Dunkelheit, und er will darum äußerlih den Mythen fich 
anbequemen, für feinen Hausbrauch aber nimmt er das Necht zu 
philojophiven in Anfprud, und nur wenn fi) das mit feinem 
Amt verträgt, will er es antreten. Wenn Synefius aber dennoch 
den allem nad) von allen Seiten ihm ftarf zufegenden Einflüffen 


— 2 2 0 = U. 


70 Jäger 


endlich nachgab und feine Gemifjensbedenten überwand, jo mochte 
ihm dies der Umjtand erleichtern, daß es im Schoß der chriſtlich— 
theologischen Wiffenfchaft felbft eine freiere fpefulative Richtung 
gab, melde von den von ihm nicht anerlannten Glaubensſätzen 
glexhfalls nichts wiſſen wollte: die Schule des Drigenes, ein ver: 
ſöhnendes Mittelglied zwiſchen Bhilofophie und Theologie; daß 
Syneſius den arianiſchen und arianifierenden Zehren jo jehr ab: 
geneigt war, hatte feinen Grund in der Abneigung des national 
römiſch gefinnten Mannes gegen die arianifch gothifche Auslän- 
derei. Was Synefius ald Prediger, wie als Kirchenoberhaupt 
feiner Diözeſe wirkte, ſoll hier als der Iofalen Kirchengefchichte 
zugehörig nicht weiter gefchildert werden; es genüge zu bemerken, 
daß dasjelbe ein durchaus erfprießliches und gemeinnüßiged mar. 
Freilich Fieß ihn allerhand Mißgeſchick: die immer trauriger wer: 
dende Lage der Pentapolis, allerhand Familienleiv, wie der Tod 
feines älteften Sohnes, nicht mehr zu der früheren Heiterkeit gelangen. 
Auch feine amtliche Thätigfeit gewährte ihm doch Feine rechte innere 
Befriedigung. Das Bemwußtfein des Zwieſpalts zwifchen dem, was 
er offiziell zu lehren hatte, und feiner inneren Überzeugung peinigte 
ihn. Er Hagte fih an, daß er als fündiger Menſch den Altar 
Gottes berührt habe, und fpricht ein mwehmütiges Sehnen nad) 
jeiner früheren Lebensweiſe wie nad) einem verlorenen PBaradieje 
aus. Alte Freunde laffen ihn feit feinem Übertritt im Stich, 
aber unverändert bleibt feine pietätövolle Verehrung gegen Hypatia. 
Bollends das Herz brach es ihm, als er auch feinen beiden übrigen 
Söhnen noch ind Grab jehen mußte. Der an Hypatia um 415 ver: 
übte Frevel drang an fein Ohr nicht mehr. Bon den Schiefalen der 
Pentapolis nach feinem Tod wiſſen wir nur fo viel, daß Juſtinian 
die Mauern der Städte wieder aufbauen ließ und die Bentapolis neu 
befiedelte. 100 Jahre jpäter ſank unter den verheerenden Tritten der 
Moslem das Kreuz und an feiner Stelle wurde der Halbmond auf: 
gepflanzt. 


Zur Lehre Jeſu von der fihtbaren Kirde. 
Eine Skizze von ©. Fir. Jäger, Dekan in Tuttlingen. 


1. An der Schwelle des Sünglingsalters jtehend, hat der 
Herr einit feinen Eltern einen deutlichen Winf darüber gegeben, 


Zur Lehre Sefu von der fihtbaren Rirde. 71 


wo fie ihn zu ſuchen hätten, wenn fie ihn ficher finden wollen, 
und mit den Worten: „wiſſet ihr nicht, daß ich fein muß in dem, 
das meines Vaters ift,“ einen Grundſatz bezüglich feiner Stellung 
zu allen der Sammlung des Volfes Gottes in öffentlichem Bekennt— 
nis dienenden Anitalten ausgeſprochen, den er mit bejonderem 
Nahdrud in feiner irdiſchen Berufsthätigfett vom erjten bis zum 
legten Tag befolgt und geltend gemacht hat. Der Herr war nicht 
überall leicht zugänglich, was ſogar feine eigene Mutter und feine 
Geſchwiſter etlihemal empfindlich zu fühlen befamen (Matth. 12, 46 ff., 
Marcı 3, 32 ff., Luc. 8, 19 ff., Soh. 7, 8—10.): aber am Sab: 
bath fonnte jeder ficher darauf rechnen, ihn in einer Synagoge 
nah jeiner Gewohnheit am Gottesdienſt teilnehmend und 
lehrend hören und jehen zu können. „Nach feiner Gewohnheit“ 
that er das, wie der Evangelift Lukas aus ficherer Überlieferung 
nachträglich berichten fann (4, 16.): alfo nicht blos in Rückſicht 
auf bejtehende Volksſitte oder auf vergängliche altteftamentliche 
Geſetzesordnung aus Zweckmäßigkeitsgründen, fondern weſentlich 
eine ihm ſelbſt zum perſönlichen Bedürfnis gewordene 
gottesdienſtliche Lebensordnung einhaltend: und mit welcher Be— 
geiſterung und inniger Hingebung er überall, wo er konnte, an die 
beſtehende Ordnung des öffentlichen Gottesdienſtes mit ſeinen neu— 
teſtamentlichen Bundesſtiftungen anknüpfte, verrät er noch beim 
letzten Paſſahfeſt in den Worten: „mich hat herzlich verlangt, dies 
Oſterlamm mit euch zu eſſen, ehe ich leide“ (Luc. 22, 14.). Selbſt 
das der ſpiritualiſtiſchen Umgeſtaltung des Lebensbildes Jeſu 
beſchuldigte Evangelium Johannis berichtet von der erſten mit 
Lebensgefahr für den Herrn verbundenen ſchneidigen Geltendmach— 
ung feines Majeſtätsrechts im Hauſe ſeines Vaters zu Jeruſalem 
und von einem Worte Jeſu, in welchem er den Tempel ſeines 
Leibes in Continuität ſtellt mit dem Tempelhauſe ſeines Vaters 
in Jeruſalem, ſo daß die Entwürdigung des letzteren folgerichtig 
auch zu einer frevelhaften Vergreifung an ſeinem perſönlichen 
Leibesheiligtum führen müßte. Auch in dem Geſpräch mit der 
Samariterin wollte nach dem Bericht des Johannes-Evangeliums 
der Herr es nicht verfchweigen, daß auf dem Tempel zu Jeru— 
ſalem, obwohl er durch eine Anbetung ohne Geift und ohne 
Wahrheit entwürdigt der Verödung verfallen müfje, Doch noch die 


"m 


72 Jäger 


durch göttliche Stiftung und durch dad Wirken des Meſſias auf: 
gepflanzte Völkermiſſionsfahne wehe (4, 22.). Derfelbe fpiritua- 
Iftifche Evangelift hält e8 nicht für unnötig zu erwähnen, daß er 
im Tempel lehrend am „Oottesfaften“ ſich feinen Gegnern zu 
Iharfem Wortwechjel geitelt habe, an derſelben Kontroleftation 
an welcher wir ihm auch bet Lukas begegnen, wie er die in den 
Gelbleiftungen fich erweifende Wertſchätzung des Heiligtums öffent: 
lich auf der Goldwage prüft (ob. 8, 20. cf. Zuc. 21, 1.): und 
abermals wird im Sohannes:Evangelium (10, 22.) mit umjtänd- 
licher Genauigkeit darauf hingewiefen, daß der Herr im Tempel 
in der Halle Salomonis in einer fat herausfordernden Weife 
Gelegenheit bot, jih mit ihm außeinander zu fegen. Der Tem: 
pel follte ihm der Hauptlampfplaß bleiben, auf 
dem er feines Vaters Recht und Ehre, wie fein eige- 
nes Recht, zur Geltung zu bringen habe, fo lange e3 
möglidh wäre. Dort im Tempel hielt er ſtand bis fie Steine 
gegen ihn aufhoben (oh. 8, 59. und 10, 39. verglichen mit 
10, 22.). Auch das Volk war bald daran gewöhnt, an den 
Feiten ihm in Serufalem beim Tempel zu begegnen und zeigte 
fh ungeduldig, wenn er nicht gleich zur Stelle war (Joh. 11, 56.). 
Nirgends aber finden wir auch nur eine Spur davon, daß er 
das Volk zu einer niederen Mertung des Tempels zu bewegen 
verfucht hätte: vielmehr ijt fein ganzes Wirken darauf gerichtet, 
mit Beharrlichkeit den letzten Verfuh zu machen, ob das Volt 
nicht zu einer ächten Heiligung des Namens feines himmlifchen 
Baterd eben in und an dem Tempel zu bringen wäre, der 
ja den Namen Gottes ala des in Iſrael fich offenbarenden in 
anfhaubarer und greifbarer Weife in Erinnerung brachte. In der 
Bergpredigt nennt der Herr eben um des darin befindlichen Tem— 
pels willen Serufalem die Stadt des großen Königs, und ver: 
ſichert noch in der legten öffentlichen Rede Matth. 23, 17., daß 
nit der Goldihmud den Tempel, jondern der Tempel feinen 
Goldſchmuck heiligt: und ähnlich jagt er von dem Altar im Tempel, 
daß er das Dpfer heilige, wie er denn auch in der Bergpredigt 
auf den Altar hinweist, ald auf eine Stätte, die entheiligt würde 
dur Opfer, welche nicht in dem Geiſt und der Wahrheit der 
Liebe wollten dargebracht werden. Ya jo hoch fteht dem Herrn 





Bur Lehre Jeſu von der jihtbaren Kirche. 73 


die der Sammlung eines Gottesvolfes zu öffentlichem gemeinſamem 
Gottesdienft dienende Stiftung, daß er Matth. 23, 21. geradezu 
verfichert, wer bei diefer Stiftung ſchwöre, ſchwöre bei dem, der 
darin wohne. Deswegen fieht der Herr auch die Zerſtörung des 
Tempel als ein Unglüd an, das als fchwere Strafe für Die 
Entweihung und den Mißbrauch des Heiligtums über das Volk 
fommen müſſe. — Daß nun diefer ftramme Anſchluß des Herrn 
an die dem öffentlichen Gottesdienft Iſraels dienenden Einrich— 
tungen und fein Eifer für ihren rechten Gebrauh auch für die 
Praris feiner Sünger in der neuteftamentliden 
Kirhenzeit vorbildlich bleiben folle, hat der Herr 
in beſonders auffallender Weife Fundgegeben durd 
jein Verfahren bei der Einſetzung des Abendmahls. 
Menn er nur die typiſche Beziehung des Oſterlamm-Eſſens auf 
da Abendmahl hätte hervorheben wollen, jo hätte er dies auch 
durch eine PBarallelfeier thun können im großen Freundeskreis zu 
Bethanten entweder Tags zuvor oder Tags darauf: es wäre durch 
eine folche Abendmahlitiftung in Bethanien zugleich auch die Selb: 
jtändigfeit und der Gegenjat des den Typus erfüllenden und 
entbehrlih macenden Abendmahls gegenüber dem altteftament- 
lihen Paſſahlamm-Eſſen veranfhaulict worden. Aber der Herr 
bat e8 aus guten Gründen ander gemacht. Er benüßte 
feine wunderbare Sehergabe, um in Serufalem Die 
ſchönſte und größte, bejtgerüftete unter den verjchiedenen für Die 
Bilger zum Bafjahmahle bereitgehaltenen Saalhallen für ſich und 
feine dazu befonderö gefammelten zwölf Sünger zu belegen. Diefe 
Säle ftunden ebenfo wie die Feier, zu der fie be: 
ftimmt waren, in einer fie weihenden Beziehung 
zum Tempel und zu dem im Tempel zu haltenden 
Feftgottesdienft. Der Herr begab fich alſo mit feiner neu— 
teftamentlihen Stiftung zugleich unter den heiligenden, ſie feier: 
licher machenden Schatten des Tempelö, obwohl er wußte und 
verfündigte, daß fein Untergang nahe fei: und wenn er überdies 
nod mit den Zmölfen eine an ſich unnötig große, ja geradezu 
durch ihre unverhältnismäßige Größe gegen die Kleine Schar grell 
auffallende Feithalle jich herauswählt, wenn er die Gewinnung 
einer ſolchen Stätte für fo wichtig hält, daß er dazu feine ſonſt 


74 Jäger 


jo fparfam gebrauchte und nur für befonders entfcheidende Fälle 
in Anfpruc genommene Sehergabe benüßt, jo hat er damit in 
handgreifliher Weife feinen Jüngern eingefchärft, daß das von 
ihm eingeſetzte Abendmahl feierlichjt zu verwaltendes und zu ge: 
brauchendes Kirchenfaframent fein fol. Es hat in den urdrift- 
lichen Gemeinden und aud im Kreife der Apoftel nit an Fon: 
ventifelhaften Neigungen gefehlt: die Verſuche, das Abendmahl 
aus dem Kreife des feierlichen öffentlichen Gottesdienftes in die 
engen Kreife vertraulicheren = chriftlihen Freundesverfehrs oder in 
die Borhofsgaftereien nach griechifch = heidnifcher Sitte hinüberzu- 
ziehen, find gemacht worden: aber der Eindrud der feierlichen vom 
Herrn gewählten Einfegungsform hat jchließlich doch durchſchlagend 
gewirkt. — Nicht blos die jerufalemifche Gemeinde hat, jo lange 
es ging, in den Tempel einzubringen verfucht, auch der Apoſtel 
Paulus hat die Synagogen zu erobern fich bemüht; er wäre froh) 
und dankbar dafür geweſen, wenn e8 ihm gelungen wäre: und in 
der Stelle 1 Eorinth. 11, 22. (vgl. V. 20) explodiert fein auf- 
gewachtes Firchliches Gewiſſen gegen die Vermifhung des Abend: 
mahls mit anderen Gaftereien. In der Zeit, in mwelder die ur: 
chriſtlichen Gemeinden infolge der göttlichen Gerichte über ifraeli- 
tifches Synagogen= und Kirchentum an die Luft gefegt waren mit 
ihrem gemeinde = gottesbienftlihen Leben, befam die Sünger: 
Ihaft des Herren zwar den Troft, daß wo der Glaube die Frucht 
ernftliher Anrufung des Herrn bei den zerjtreuten Häuflein Her: 
vorbringt, doch der Herr inmitten der wenigen in feinem Namen 
Berfammelten gegenwärtig tft. Aber daß eine derartige Heimat: 
lofigfeit und Formloſigkeit Fein Normalzuftand iſt und nicht als 
ſolcher feitgehalten werden dürfe, davon hatte auch die" Chriftertheit 
der apoftolifchen Zeit ein zwar noch nicht Deutlich entwideltes aber 
doch immer wieder durch die Erinnerung an die Kirchengeftalt des 
unter Iſrael wirkenden Herrn aufgefrifchtes Gefühl. Die Gemeinde 
zu Epheſus jamt dem Apoftel Baulus hat e8 der Bewahrung in 
danfbarem Andenfen wert geachtet, daß, nachdem ihnen die Pfor- 
ten der Judenſynagoge verjchloffen wurden, von dem Rhetor 
Tyrannus die Einräumung feines Hörſaales ihnen angeboten 
wurde. Apoſtelgeſch. 19, 9. 


Zur Lehre Sefu von der fihtbaren Kirche. 75 


2. Aber noh in einer anderen Form hat der Herr feine 
Süngerfchaft zur Ausprägung der Kirchengeftalt in einer zugleich) 
jeder Verknöcherung ausmeicdhenden Prariß angeleitet. Mit der 
befonder8 bei der Einfegung des Abendmahls ſehr auffallenden, 
folgenreih aber auch durch Falfchdeutung verderblich gewordenen 
Ausfonderung der Zmwölfe zum Apoftelamt hat der Herr fund: 
gegeben, daß er feine Jüngerſchaft unter Führern zufammenhalten 
und zu einer „Stadt auf dem Berge“ (Matth. 5, 14.) machen 
will, die nicht verborgen bleiben fann. Der Herr begnügt fich bei 
und nicht mit der verborgenen Buße und Olaubensinnigfeit des 
Gemüts: er verlangt bei Verluſt der Seelen Seligfeit 
von jedem feiner Jünger die Beteiligung bei dem öffentlichen Be: 
fenntnis ſeines Namen? vor den Menjchen im Anſchluß an die 
Miffionsthätigfeit feiner Apoftel (Matth. 10, 26—33.) und die 
Heereöfolge in dem melterfchütternden Kampfe für die Sache feines 
Reiches (Matth. 10, 34—42.). Dies hat fogar dem Apoſtel 
Paulus, der in eriter Linie den chriftlichen Individualismus zu 
beleben berufen war, das Zugeſtändnis abgenötigt, daß zwar ber 
Herzendglaube zur Gerechtigkeit vor Gott werde, aber erit das 
Befenntnis mit dem Munde zur Seligfeit führe (Röm. 10, 9 u. 10.): 
und daß dies bei ihm nicht blog eine flüchtige auftauchende Ein: 
räumung ift, beweist er damit, daß er diefen Grundjag in den 
folgenden Verſen weiter ausführt unter Berufung auf zwei alt: 
tejtamentliche Stellen, von denen die erjte den Segen, der dem 
Glauben zu teil wird, bezeichnet, die andere die Seligkeit denen 
verheißt, welche den Namen des Herren anrufen. Aud 1 Cor, 
1, 2b, findet ſich dieſe Betonung der Pflicht des öffentlichen Be: 
fenntnifjes des Namens Jeſu Chrifti sv navrı ron wieder, mo: 
mit der Apojtel verräth, daß er doch im Grunde nicht? weiß und 
nichts wiſſen will von der Selbitgenügfamfeit eine in der Ber: 
borgenheit feines Glaubens lebenden Privatchriften. Um dieſe 
Belennerpflict zu üben, wird der Sünger des Herrn Matth. 10, 
40—42. von demfelben zum Anſchluß an die Glaubens— 
genofjfen und die hervorragenden Führer gemwiefen 
und damit die fporadifche Erfüllung diefer Befennerpflicht ihren 
feften Mittelpunkt finde, hat der Herr das apoftoliiche Vorkämpfer- 
und Führeramt eingeſetzt und die Welteroberungsaufgabe zunädhit 


76 Jäger 


auf die Gemifjen feiner zwölf Apoftel gelegt, jedoch mit der ermun- 
ternden Verheißung, daß er bei ihnen fein werde alle Tage bis 
an der Welt Ende. Aber gerade mit diefer Verheifung bat er 
ihnen aud die Aufgabe geftellt, ihren Beruf nicht als eine blos 
perfönlihe Aufgabe anzufehen, fondern dafür Sorge zu tragen, 
daß, wenn der Herr jie vom irdifchen Arbeitsfeld abrufen merbe, 
andere treue uad taugliche Sünger bereit ftehen, zur Übernahme 
der Fortführung bis an der Welt Ende. Hierarchiſcher 
Krumm=:Deutung hat der Herr aber dadurd den Weg ver: 
legt, daß er nah der vom Lukas-Evangelium in Erinnerung 
gebrachten Überlieferung den Zmwölfen ſchon während feiner irdi- 
ſchen Arbeitszeit einmal eine Schaar von ftebenzig Jünger zu 
jelbftändiger Konkurrenz nachgefendet, in der Gleichnisrede Matth. 
20, 1 ff. den deutlichen Vorbehalt feines freien Berufungsredhtes 
gemacht hat und daß er nachher die verblüffende Überholung der 
Zwölfe dur den „Freibeuter » Apoftel” Paulus ala Hebel ein- 
gejegt hat. Auch ift vom Herrn die Auszeichnung des Petrus 
deutlich genug als Frucht feiner Entwidlung zu einer bahnbrechen: 
den Glaubens und Bekenntnis-Heldenperſönlichkeit bezeichnet, d. 5. 
als etwas, was fich nicht hierarchifch firieren läßt: weshalb denn 
auch ſpäter der Apojtel Paulus auf längere Zeit den Primat 
errang und den Petrus zu feiner Gefolgſchaft zurüditellen mußte, 
bis derjelbe zu weiterer Reife gelangte. Aber das liegt aller: 
dings in dem Wort des Herrin vom Primat des Petrus, daß Die 
Jüngerſchaft des Herrn die einheitliche Führung anzunehmen und 
den Poſten dazu offen zu halten hat, wenn der Herr einen dazu 
begabten und treuen Mann erwedt, in den Vordergrund führt 
und als probehaltig darjtellt. So wenig er für fich felbjt blinde 
Hingabe ohne Prüfung verlangt hat, fo wenig hat er irgend einem 
Führer feiner Jüngerſchaft das Recht eingeräumt, ſolche von feinen 
Mitchrijten zu fordern. „Wer euch höret, der höret mich“, Dies 
Wort fordert nur ehrliche Prüfung, aber nicht blindes Gehorſams— 
opfer. 

3. Um nun aud den Schwädjten im Glauben einen Meg 
zu zeigen, auf dem fie den Anſchluß an das vom Herrn befohlene 
Werk der öffentlichen gemeinfamen Verkündigung feines Wortes 
finden können, hat er Matth. 10, 40—42. die mittelbare Betei- 


— 


Bur Lehre Jeſu von der fihtbaren Rirde. 77 


ligung an demfelben durd Aufnahme der im Vordergrund Stehen: 
den befohlen und dazu die Verheißung gegeben: „wer euch auf: 
nimmt, der nimmt mich auf, wer aber mich aufnimmt, der nimmt 
den auf, der mich gefandt hat.” Wie ftreng es aber der Herr 
mit diefer Forderung nimmt bei allen denen, welche in Friedens 
tagen die Vorteile folcher Aufnahme genofjen haben, und darum 
einen Dank dafür auch in befchmwerlichen und gefährlichen Zeiten 
zu leiften jchuldig find, hat er Matth. 10, 14 f. durch eine ſchwere 
Fluchandrohung für Aufnahmevermeigerung bejtätigt. Dabei hat 
aber der Herr nicht blos Einzelnleiftungen im Auge, fondern er 
fordert Gefamtleiftung von „Haus* und „Stadt“, madt 
die Bolfamaffen verantwortlid und die Hauptſammel— 
punfte derfelben; vergl. die Worte über Chorazin, Beth: 
jaida, Kapernaum und Serufalem, defjen Kinder er fanft 
habe jammeln wollen unter feine Flügel. Aus diefem Grund 
hat der Herr auch der Verfnöcherung der gottesdienftlichen Sitte 
und Ordnung dadurch vorgebeugt, daß er fein öffentliches Wirken 
nicht befchränfte auf die regelmäßig wiederkehrenden Sabbath: und 
eftzeiten, auch nicht auf die Synagogen und den Tempel, obwohl 
er darauf ein befonderes Gewicht legt und noch im PVerhör vor 
dem hohen Nat dies geltend macht, daß er täglich öffentlich im 
Tempel gefefjen fei und gelehrt habe: fondern um auch die der 
gottesbienftlichen Ordnung ferner ftehenden Maſſen und das auf 
profanem Gebiet verlaufende Volksleben unter den Einfluß und 
in den Dienft des Gottesreiches zu fammeln, hat er die öffent: 
lihe Wanderpredigt bis zur denkbar höchſten Stufe der Aus— 
bildung geführt, zunächſt innerhalb der Grenzen des ifraelitifchen 
Volks, aber die Ausdehnung über alle Völker der Erde beſtimmt 
in Ausfiht nehmend und fordernd. Auch wenn er in Familien 
oder engeren familienartigen Kreifen mit feinem Wirken einfehrt, 
gefchieht es in der Regel fo, daß er ſich damit der Aufmerkſamkeit 
weiterer Kreife nicht entzog, etlichemale fogar in einer das Gerede 
der Feinde und Freunde herausfordernden Weife, jo daß auch die 
mit ſolchen Beſuchen Bedachten mit ihrem Verhalten dadurd unter 
die Augen und Zungen des Publikums hervorgezogen wurden. 
Die Zöllner und Sünder, bei denen er einfehrte, mußten jid’s 
gefallen laffen, daß ihre Beziehungen zum Herrn ftabt- und land- 





78 Jäger 


bekannt wurden. Leute, die heimlich bei Nacht hinter verſchloſſenen 
Thüren ſich mit ihrem Glaubensleben und ihren Gewiſſensanlie— 
gen herzumachten, hat er immer ſo behandelt, daß er ihnen ein 
Sicheinkapſeln in ſolches Stillleben auf längere Dauer verwehrt 
hat. Wie er ſelbſt ſeine ſtillen Stunden und Tage in der Ein— 
ſamkeit nicht willkürlich oder nach dem Geſetz der Trägheit gefun— 
den, auch jedesmal zur Vorbereitung für ſeinen öffentlichen Beruf 
ausgenützt hat, ſo hat er dies auch den an ihn Glaubenden 
gewieſen und ſogar Frauen durch einzelne Kundgebungen (wie z. B. 
durch ſein Wort über die That des Weibes, das ihn ſalbte zu 
ſeinem Begräbnis) herausgefordert, mit dem Bekenntnis des Glau- 
bens aus der Verborgenheit und den Schranken indirefter Mitleiſt— 
ung in felbjtändiger Weiſe zur rechten Zeit hervorzutreten. Wenn 
der Herr davor warnt, bei ſolchem Anfchluß zu gemeinfamem öffent: 
lihem Belennen feines Namens ſich der Führerſchaft falfcher Pro: 
pheten anzuvertrauen, und dabei fagt, daß nicht alle, die ihn 
„Herr, Herr“ nennen und in feinem Namen öffentlich wirken, von 
ihm anerfannt werden, jo hat er damit die Zurüdziehung und 
das Zurücdbleiben im ehrbar hriftlichen Stillleben nicht bevorzugen 
wollen, fondern nur die Probe des vollen Ernftes und der uneigen- 
füchtigen Hingabe in den Dienſt feines Reiches bezeichnet und die 
übereinftimmende Umgeftaltung des Privatcharafter und Privat- 
lebend von allen jeinen Belennern gefordert. Gerade weil das 
Bufammenftehen zu gemeinfamem Eintreten für den Herrn und 
fein Reich eine jo unbebingt geforderte Aufgabe der Glaubigen ift 
und volle Hingabe fordert, iſt es fo wichtig, zuverläßige Führer 
zu finden und unzuverläßigen den Anfchluß zu verfagen, fie auf 
die Übereinftimmung ihres Privatlebens mit dem öffentlichen Wir: 
fen und mit den in die Augen fallenden Kraftleiftungen zu prüfen, 
auch bei fich felbjt mit einer dem öffentlichen gemeinfamen Be- 
kenntnis entfprechenden Umbildung und Fortbildung der PVerfön- 
lichfeit und des Brivatlebens nicht zurüdzubleiben und über alle 
Halbheiten und Widerſprüche ſich hinaushelfen zu laſſen. Des: 
halb hat der Herr, jedoch unter der Vorausſetzung, daß jeder mit 
dem Befeitigen des Balkens aus dem eigenen Auge bei fich felbft 
anfange, den Gliebern feiner Jüngerſchaft Recht und Pflicht zu: 
geſprochen einander gegenfeitig die Füße zu waſchen und die Splitter 


a 


Bur Lehre Jeſu von der fihtbaren Kirche. 79 


aus dem Auge zu ziehen, auch gegen beleidigende Brüder ein nad) 
Umftänden bis zur öffentlichen Beſchwerde vor der Gemeinde fort: 
ichreitendes Mahnverfahren gewiefen und im Fall der Erfolglofigfeit 
dieſes Mahnverfahrens den trogigen Beleidiger neben Heiden und 
Zöllnern unter die verlornen und verirrten Schafe zu ftellen befoh— 
len. Denn der Herr will ebenjowenig Belenner, die ihn im Wandel 
verläugnen, als Gläubige, welche mit dem Munde und im öffent: 
lihen Verkehr verleugnen, was fie im Herzen glauben und im 
Verborgenen halten. Die Einen wie die Andern gelten dem Herrn 
als Heuchler. 

4. Aus diefem Grundſatz der Übereinjtimmung des glaubigen 
Befennend und befennenden Glaubens, des Gemeinfamen und 
Sndividuellen, der feiten Ordnung und der freien Bewegung in 
allem Gottesdienjtlichen und aus der Forderung der Wahrhaftigkeit 
im Verhältnis zwifchen der inneren Richtung und Bewegung des 
Geiſtes und dem äußeren Sichgeben und Darftellen und der Fort» 
bildung perfönlicher Würdigkeit nach dem Maß der Chriftenberuf3- 
würde ergab jich für den Herrn als felbitverjtändlich eine neue 
Stellung zu allem Zeremoniellen in der gottesdienitlichen Sitte und 
Drdnung. Der Herr kennt die hohe Bedeutung der Ge— 
bärdenfprade, hat fie ſelbſt angewendet und fich ihrer nicht 
geſchämt, wo fie bei ihm unmillfürlich aus der inneren Bewegung 
hervorquoll; ja fie zieht fih fogar hinein in Die hei- 
ligften GSelbjtmitteilungs= und Segnungdafte des 
Herrn, wird ihm bisweilen Organ für die Heilwirfung auf 
Kranke: aber eben deshalb geht er nicht nur über die Fleinlichen 
Künfteleien und formaliftifchen Duälereien der jüdischen Ceremonien- 
meifter hinweg, fondern weist auch finnvolle Zeremonienfitten, ſobald 
jie nicht mehr für die Erfüllungszeit paſſen, für ſich und feine Jünger 
ab. Er fordert für den neuen Moft neue Schläude und eine 
jugendliche Gejhmadsrichtung, welche die herbe Aufrüttelung aus 
der gedanfenlojen Bewegung in altgemohnten Geleifen und Formen 
veriteht (Luc. 5, 39.). Wo fich Heremonielles ihm in den Meg 
drängt, das freie Walten feiner erbarmenden Liebe oder die Befrie- 
digung individueller Bebürfniffe unnötig hemmend, da hat er es ala 
verächtliches Menfchengebot von fich gefchleudert. Wo Sabbathe- 
ordnung, Feitfitte u. dgl. deutlih und wirklſam der Sammlung zur 





80 Jäger 


gemeinfamen Andacht und Anrufung dient, da fehrt er den ftram: 
men Kirhdenmann heraus, aber alle weiteren Einſchnürungen 
hat er zerfprengt für feine Berfon und für feine Jüngerſchaft: aud 
die feſten Ordnungen und Einrichtungen find ihm nicht Selbſtzwecke, 
fondern dienende Mittel für die Erregung, Belebung, Sammlung 
und Erziehung der Geifter, je nad) Bedürfnis, weshalb er auch in 
befonderen Fällen wertvollfte Ordnungen auf Elaftizitätsproben ftellt, 
zum Beweis, daß erihr Herr und nicht ihr Knedt ift. Sogar 
Reinlichkeitsrüdfichten will er nicht in hemmender Weiſe geltend 
machen lafjen, mo die Natur felbjt für Unſchädlichmachung der ver- 
muteten Unreinheiten forgt oder die Barmherzigkeit e3 fordert, daß 
man fich durch Unreinliches hindurch den Weg bahnt (vgl. die Ge 
ichichte vom barmherzigen Samariter, in welcher doch wohl auch die 
abergläubifche Furcht des jüdischen Leviten und Priefters vor Berühr- 
ung mit Zeichenhaftem auf’3 Korn genommen wird). 

a 5. Schließlich ift noch zu beachten, daß der Herr der Obrigkeit 
gegenüber ſich volle unbeſchränkte Freiheit öffentlichen Redens und 
Wirkens und der Sammlung der Vollamafjen in und außer dem 
Tempel und den Synagogen um feine Perfon und Lehre heraus- 
‚genommen, auch bei der Ausfendung feiner Jünger Matth. 10 die 
Weiſung gegeben hat, zwar fich über die Würdigfeit des Herberge- 
haufes zu erkundigen, im Übrigen aber nicht weiter zu fragen, fon: 
dern es darauf anfommen zu laſſen, ob man fie dulde oder nicht, 
der Gewalt im Konfliftfall fich zu offenherziger Rechenschaft zu 
ftellen, Ausweiſungen zwar Folge zu leiften, aber nicht ohne deut: 
liche Kundgebung über den Fluch, der damit über Stadt und Land 
gebracht werde. Er fpricht ſich das Recht zu, jeder obrigfeitlichen 
Gewalt das Gewiſſen zu weden und hat ed ſowohl feinen jüdifchen 
Richtern als dem heidnifchen Statthalter gegenüber geübt, nicht blos 
durch deutliches Sprechen, fondern auch durch beredtes Schmeigen. 
Daß alle Dinge ihm von feinem Vater übergeben ſeien und er alle 
Gemalt von feinem Vater im Himmel und auf Erden empfangen 
habe, hat er in feierlichiter Weife feinen Jüngern verfündigt, ſowie 
daß er feiner Zeit jedermann ohne Anfehen der Verfon zur Rechen: 
Schaft ziehen werde an feinem Gerichtötage. Auch nationale Gegen: 
füge erfennt er nicht als hemmende Schranken an, die Schafe aus 
anderen Ställen wird er auch herzuführen und fie zur Herde fammeln 


Jäger, Zur Lehre Jeſu von der fihtbaren Kirche. 81 


als der gute Hirte, deſſen Eigentum die Schafe find und der fein 
Leben für fie einfeßt. Er fpricht es offen aus, daß fein Walten zur 
Sammlung der neuteftamentlihen Herde Gottes große politifche 
Ummwälzungen, wie aud) tiefgehende Erſchütterungen aller bejtehen- 
den Berhältniffe innerhalb der menfchlichen Gejellfchaft werde zur 
Folge haben müffen und er jomit nicht fofort in jeder Beziehung ein 
Friedensbringer werde fein fönnen. Aber wenn er jo Zeiten herbei- 
führt, in denen er das Schwert bringen muß, jo läßt er in dieſen 
auch feine Süngerfchaft nicht ohne Rat und Schu. Wo ihr 
gaftliche Aufnahme verfagt ift, hat fie das Recht der Selbſthülfe, zu— 
nächſt der Erwerbung irdifcher Befigmachtmittel und im äußerſten 
Notfall das Recht eines Schwertfaufes zum Schuß ihres Gemein: 
Tchaftöbeftandes und der freien Ausübung ihrer Befennerpflicht (Luc. 
22, 36.); damit hat der Herr einen Ausblid eröffnet auf Zeiten, in 
welchen obrigfeitlihe Gewalt in die Hände von Gliedern feiner 
Süngerfchaft fommen foll, welche mit der Gabe des Regierens aus- 
gejtattet, auch ſchützend dem öffentlichen Belennen des Namens Jeſu 
Bahn offen halten. Aber wie wenig es im Sinn des Herrn wäre, 
mit Gemwaltmitteln Menjchen ihm unterthänig zu machen, hat der 
Herr Schon damit gezeigt, daß er fogar die verblüffenden Eindrüde, 
welche die wohlthätige Anwendung feiner Wunderfraft auf die Volks— 
mafjen machte, immer wieder einfchränft, durch Zurüdhalten mit den 
ihm möglihen Machtkundgebungen Raum offen hält für freie Selbit- 
entjcheidung auch feiner Feinde, zugleich zur Erprobung der Treue 
feiner Jünger (Matth. 26, 53 ff.). — Vorfämpfer, welche mit äuße: 
ren Schredmitteln und äußerem Zwang die Leute zur Unterwürfig- 
feit gegen den Herrn und feine Sache bringen, haben feine Segens- 
verheißung von ihm befommen: ja der Herr weisjagt auf eine lebte 
Probezeit, wo auch der von ihm gemwiefene Schwertijchug wieder hin- 
wegfallen und feine Jüngerſchar jo ſchwere Prüfung ihrer Treue 
werde bejtehen müfjen, daß nur nod die Wiederkunft des Herrn zum 
Endgericht helfen könne. 


— — ; — 


Buddruderei von Greiner Ungeheuer in Ludwigsburg. 











Digitized Ay 
PR 4 


Bie Lutheranität der Probebibel. 
Bon Stadtpfarrer Jehfe in Ebingen. 


— — 


Mit dieſem der Kürze wegen gewählten Ausdruck iſt nichts 
weiter gemeint, als die Frage, ob die von der Reviſionskommiſſion 
vorgenommenen Anderungen der lutheriſchen Dolmetſchung auch 
in Luthers Sprache gegeben ſind. Hören wir über dieſen 
Punkt zunächſt einige Mitglieder der Kommiſſion ſich äußern. 

D. in H. ſchreibt (Allg. evangel.luth. Kirchenztg. 1884, 12): 
„Es war unfere “Pflicht, auf Luthers Spur zu bleiben, aljo ins: 
befondere aud in der Form der Rede nach Yuthers Vorbilde uns 
zu richten.” Eiſenacher Konferenz v. 1863 (Vorber. ©. XXXIU. 
Riehm, das 1. B. Mof. ©. 4): „die Änderungen möglichſt 
aus dem Sprachſchatze der Zutherbibel herzuitellen.“ 
Sit diefer Aufgabe Genüge geſchehen? Riehm fchreibt a. a. O. ©. 9: 
„Eine bejondere Aufmerkſamkeit und mühevolle Sorgfalt ver: 
wendet die Konferenz darauf, daß die Ausdrucksweiſe der Berich- 
tigungen fo viel immer möglich ift aus dem Sprachſchatze der 
Yutherbibel entnommen jet. Von manden Seiten wird ihr 
dies wenig gedankt, ja wohl gar als Pedanterei angerechnet 
werden. Aber in einer revidierten Bibel, die für den allgemeinen 
fichlihen Gebrauch bejtimmt it, würde ein mit Luthers Sprade 
vertrauter Leſer mit Recht Anjtoß daran nehmen, wenn ihn da 
und dort das Gefühl überfäme, alö ob neue Lappen auf ein altes 
und liebgewordenes Kleid geflidt wären. Die Konferenz hat darum 
mandmal auf den Gebraud eines unfrer heutigen Ausdrucksweiſe 


6* 





34 Sehle 


angemefjenen, durchaus zutreffenden Ausdruds verzichtet, weil er 
in der Qutherbibel nicht nachweisbar war, und einen minder 
üblichen, aber doch verjtändlihen und jchon von Luther in 
gleihem Sinne gebrauchten vorgezogen. Ste glaubt hierin jeßt 
ihon auf die Zuftimmung gerade der am meijten in und mit Der 
Bibel lebenden, und mit dem Wolfe! näher vertrauten Männer, 
und mit der Zeit auch auf allgemeinere Billigung ihres Ber- 
fahrens hoffen zu dürfen.” Grimm jchreibt (Furzgef. Gejchichte 
d. luth. Bibelüberſ. ©. 55 f.): „Die Berichtigungen müffen, um 
jede Modernifierung fern zu halten und die nachbejjernde Hand 
weniger bemerkbar zu machen, jo weit es nur irgend möglich it, 
aus dem eigenen Sprachſchatz der Yutherbibel oder feiner 
übrigen Schriften entnommen werden. Soll ein altertümliches 
Kunstwerk rejtauriert werden, jo muß das hiezu nötige Neue in 
Stil und Haltung dem Alten ſich anfchließen und ihm entjprechen. 
Es ift dies aber auch gar nicht leicht und hat uns in der Kon- 
ferenz oft viele Mühe gemacht. Denn der Lutherſprache fehlen 
Wörter, von denen man es gar nicht vermuten jollte, 3. B. 
Einſicht, Gottlofigfeit. Wo wir legteres nöthig hatten, jeßten mir 
„gottlojes Weſen“ (aber val. Sad. 5, 8!) .... Der Leſer 
dürfte nur felten merken, wenn eine Stelle geändert iſt. Und 
wenn einſt der jtrengtraditionelle Hengſtenberg das revidterte 
N. T. zu jchmähen meinte dur die Bemerkung: „überallhin 
begleitet den Leſer das unbehagliche Gefühl, daß er nicht weiß, 
ob er feinen alten lieben Luther oder die (Reviſions-) Kommiffion 
vor ſich hat“, jo hat er damit widerwillig ein Lob ausgeiprochen, 
wie wir es nicht glänzender wünſchen fünnen. Konnten wir aber 
auch bisweilen, um den Sinn klar auszudrüden, nicht umhin— 
ein wenigſtens nicht in der Bibel Luthers gebrauchtes Wort 
aufzunehmen, fo durfte es wenigitens feinen modernen Klang 


t Wer weiß beijer an da8 Herz des Volkes zu reden, als Luther, 
der eine wahre Jagd anftellte auf volksmäßige Ausdrüde. Er ging 
in die Werkſtätlen der Handwerker und Gemwerbäleute, auf den Marft, 
in die Wirtöhäufer, lie; ſich alles erklären und benennen, ſprach gern 
mit den Bauern auf dem Felde und trieb feine Freunde an, alles 
aufzumerfen, was jie Neues in Kerniprüchen aller Art hören möchten, 
da er Schloß- und Hofwörter nicht gebrauchen könne. 





Die LYutheranität der Brobebibel. 85 


haben... . Wenn man unfere revidierte Bibel ſpöttiſch als ein 
Flickwerk bezeichnet hat, jo wird man doch, wenn man nicht den 
jeither gemöhnlichen Tert behufs der Vergleichung neben den 
vevidierten legt, die Fliden nicht leicht bemerken.” ©. 66 f.: 
„Die Kommiffion iſt aufs Gemifjenhaftefte bejtrebt geweſen, jomeit 
es nur irgend ohne Schaden ded Verſtändniſſes gefchehen fann, 
die Eigentümlichfeit der Iutherifchen Bibelfprache zu wahren, St 
doch die Ehrwürdigkeit, Feierlichkeit, Schönheit und Kraft der 
lutheriſchen Bibelſprache nicht bloß in dem außerordentlihen Cha- 
vafter des Überfegers, fondern auch zu einem nicht geringen Teile 
in ihrem altertümlichen Gepräge zu ſuchen. Iſt doch die Kirchen: 
bibel der geeignetite Drt, das von unferen Vorfahren überfommene 
jpradhliche Erbgut, wo es in der jetzigen Sprache an Schönheit 
und Reichtum Einbuße erlitten hat, dem Bewußtſein des Wolfes 
zu erhalten.“ 

Es ift zu bedauern, daß die Kommiſſion für die Lutheranität 
ihrer Anderungen nicht im einzelnen den Nachweis geliefert hat. 
Hengitenberg iſt mit feinem Gefühl der Unbehaglichkeit gar nicht 
im Unreht. Wer fih ſchon in Luthers Schriften hineingelejen 
bat, den überfommt in der Probebibel in der That „da und dort 
das Gefühl, ald ob neue Lappen auf ein altes und liebgewordenes 
Kleid geflict wären.“ Man kann ſich hierin täufchen, kann meinen, 
eine Wendung fer unlutherifch, und man findet doch einen Beleg 
bei Luther dafür. Hätte die Kommiſſion jenen Nachweis geliefert, 
fo fönnte man ſich einfach überzeugen; jo aber iſt man zu einer 
ungemein mühfamen und zeitraubenden Unterfuchung genötigt. 
In dem nachftehenden Verzeichnis ift ja nur der kleinſte Teil der 
angeltellten Unterfuchungen enthalten. — Die Kommiffion iſt 
nicht „pedantifch” genug verfahren. Haben wir nicht die Kraft, 


1 Als moderne Wörter werden in Anfprud; zu nehmen jein: 
Erdharz, Kameljattel, Beiſaß, für immer, Ausſaat, Führerftab, ent: 
gegenjauchzen, Hausgößen, ausheben (Mannfchaft), Leibwächter, abjpülen, 
Entfündigung, hingießen, Aſchenſprüche, Mutterſchoß, Leere, Hauch, 
abjtrafen, abirren, Schakal, Blutegel, Haſchen, Mahlzeiten, Cyperblume, 
Innerſtes, Wuchs, Hängebette, ermatten, Machwerk, Erhöhung (— Höhe), 
Hofraum, (Gaſtfreund), Gaſtfreundſchaft, böslich (adj.), ſchroff, Knauſer, 
Himmelshöhe, Abhang, dreiſt, Lebensbuch. 


86 Sehle 


Luthers Sprache frei fchöpferifch wiederzugebären, jo müfjen wir 
eben ganz peinlich an feine Ausdrucksweiſe uns halten. Nach dem 
Dbigen oder nad) Vorberiht S. LXI fünnte es jcheinen, als ob 
e3 der unlutheriichen Ausdrücke verſchwindend wenige wären und 
für Ddiefe mit aller Mühe fich feine lutheriſche Faſſung finden 
ließe. Ob dem fo tit, möge die nachfolgende Unterfuchung erwetjen, 
die nichts weiter jein will, ald ein Verſuch, den oben aus: 
gefprohenen Grundfägen der Kevifionsfommiffion 
gemäß fejtzuftellen: 1) welde Änderungen ſich aus 
der Yutherbibel nicht belegen lafjen; 2) welde 
überhaupt in Luthers Sprachſchatz nicht nachzu— 
weiſen ſind; 3) welche ganz modern lauten, Bei 
allen 3Klafjen werden ſodann Vorſchläge gemadt, 
dem oberjten Grundſatz gereht zu werden, nämlid 
die Änderungen in der Sprache der Qutherbibel 
wiederzugeben. 

Borbemerfung : Riehm Schreibt a. a. O. S. 5: „Öeprüft und er: 
wogen wurden auch diejenigen Berichtigungen, welche v. Meyer und 
Stier in ihre revidierte Zutherbibel aufgenommen haben. Auch neuere 
Bibelüberfegungen, bejonders die von de Wette und Bunjen werden 
zu Rate gezogen.“ Der Verf. hat ebenfo v. Meyer, Stier und de Wette 
verglichen, und da ihm Bunſen nicht zur Verfügung jtand, Die revidierte 
Züricher Bibel, welche als auf Luther fußend und als Überjegung 
einer firchlichen Genofjenichaft alle Beachtung verdient. Auch die 
Elberfelder Bibel wurde beigezogen. Wenn Niehm a. a. D. ©. 9 
an der von Stier berichtigten Zutherbibel ausftellt, daß er nicht 
jelten unlutherifche Ausdrüde einjege, jo geht aus der nachfol— 
genden Unterfuchung hervor, daß nicht bloß ſachlich Meyer, Stier 
und de Wette ab und zu auf Zeiten Yuthers gegen die Kommiſſion 
jtehen, jondern auch ſprachlich — Wenn es im folgenden heißt, 
Luther habe einen Ausdrud nicht, jo will das nur befagen, der Vf. 
habe ihn in der Yutherbibel nicht gefunden oder in den Mörter- 
büchern von Dieß,!' das nur bis „Hals“ geht, und von Grimm, 


ı Im Nacfolgenden find angejührt außer den oben erwähnten 
Schriften von Riehm und Grimm und außer den Bibeln von v. Meyer, 
Stier, de Wette, Dettinger Bibel (d. h. Ausgabe der Stuttgarter 
privifegirten Bibelanftalt von 1856) hauptſächlich Ph. Dieg, Wörter- 


Die Lutheranität der Probebibel 87 


das im G nur bis „Gemüt“ und überhaupt nur bis „oder“ geht. 
Daß hiebei troß aller Sorgfalt und Mühe manches überjehen fein 
fann, muß der Vf. ohne mweiteres zugeben. Wird von der Kom: 
miffton nachgewiefen, daß ein Ausdrud doch in der Lutherbibel 
jteht oder — von A bis Ntroß Dieb und Grimm — fonft bei Luther 
jich findet, fo ift der Anftand gehoben und die Änderung geredht- 
fertigt. Die eigenen Borfjchläge des Bf. wollen nur ein Beitrag 
dazu fein, den Änderungen ſprachlich das volle Iutherifche Gepräge 
zu verleihen; wenn irgend möglich, jchloß er fich hiebei einer der 
oben erwähnten Überfegungen an, was aljo von diefen angeführt 
iſt, läßt ſich aus der Lutherbibel belegen. 


F 
1 Moſe. 


11,3. 14,10. Erdharz — hat 2.1 nicht. Erdpech (v. Meyer) 
wäre volfstümlicher, auch leichter auszufprechen (findet ſich 
bei Kant); man fünnte darum 2 Mofe 2,3. ganz wohl 
Erdharz fegen wie v. Meyer. 

15,12. hat v. Meyer wohl 2%. Sprachweife für fich gegen die 
Probebibel, vgl. 1 Kön. 22, 36. 2 Chron. 18, 34. 

19,5. fodern — bat 8. nie! Bilmar, pajtoral=theolog. 
Blätter, Band 8 ©. 80 ff. (ſprachlich-theologiſche Be— 
merkungen): „Der Begriff postulare, poscere, exposcere, 
requirere, exigere wird von 2%. ausnahmslos durch die 
Form foddern (d. h. fordern mit affimiliertem R.) ausge- 
drüdt. So in feiner Bibelüberfegung durchgängig bis zur 
legten Ausgabe feiner Hand (1545). Diefe Form ift aud) 
in der Bibelüberjegung bis in das 17. Jahrh. beibehalten 

buch zu Dr. M. Luthers deutfhen Schriften Nebſt einem ausführ- 

lihen, die Eigenheit der Sprache Luthers behandelnden Vorworte 

u. |. w. Leipzig 1870, 1872. Jak. und Wilhelm Grimm, deutjches 

Wörterbuch. Weigand, deutſches Wörterbud. 3. Auflage. 1878- 

Hopf, Würdigung der lutheriſchen Bibelverdeutfhung. Nürnberg 1847. 

' Stehende Abkürzung für Luther. W. B. — Börterbud. 

Zür. B. — Züricher (rev'dierte) Bibel. 


88 


21,23. 


31,34, 


49,14. 


49,19. 


Jehle 


worden. — Den Begriff exeitare, promovere, juvare 
dagegen drüdte L. ausnahmslos durch fordern aus, eine. 
Form, welche dem mitteldeutfchen fürdern entfpricht. Val. 
Grimm, W. B. IH, 1892. Die Form fordern hat jich 
im Gemeinhochdentih mit Necht Schließlich feſtgeſetzt (Für 
postulare), weil fie ältejten Urſprungs ift. Für exeitare, 
promovere, fürdern, fördern” u. f. w. Grimm MW. B. III, 
1865: mhd. vordern, ahd. fordarön. Dies Fordern hat 
jein anfängliches Necht wieder gewonnen (S. 1867). X, 
hat in der Bibel von 1545 ausnahmsweife auch fordern 
(S. 1865), 3. B. (vgl. Bindfeil I, 140. I, 52) 2 Moje 
11,2. Richt. 1, 14.; auc fördern im Sinn von postulare. 
Zu fördern im Sinn von juvare vgl. Sir. 33,12. Fodern 
it alfo in der Lutherbibel unter allen Umftänden faljch, 
dafür zu jegen entweder foddern (ſchwäbiſch: foddere) oder 
wie jest üblich und urfprünglid: fordern. Weigands 
W. B. ſcheint geradezu einen Proteſt gegen das „fodern“ 
der Probebibel zu enthalten. 

Enfel — hat 2. in der Bibel nicht, aber in feiner Vor: 
rede auf das Buch Sefu Syrach (vgl. Bindfeil VII, 419: 
ein Neff oder Endel). So wurde geändert 1 Moſe 36, 2. 14. 
Kicht. 12,14. Hiob 18,19. 1 Tim. 5, 4., wogegen ef. 14, 22. 
die Neffen für nin jtehen geblieben find. Warum nimmt 
man nicht, wo es paßt, das bei X. fo häufige Kindafinder ? 
vgl. zu Richter 12,14. die Stelle 1 Mofe 45, 10., zu 1 Tim. 
5,4. die Stelle Sir. 45, 16. Kautzſch nennt diefes Wort (in 
Schürers Lit. Zeitung) freilih eine Kafophonie, hat es 
aber in der Zür. B. auch jtehen lafjen (vgl. eben 21,23. 
und Grimm a. a. D. ©. 84). 

KRamelfattel — neues Mort (vgl. Zür. B.), ob 
lutherifche Zufammenfegung, da bei L. der Ton auf dem a 
lag? Grimm, W. B. hat es nid. 

knochig — hat L. nidt; ob nicht knochigt lutherifcher 
wäre? (Dal. Hiob 7, 5., doch knochig ſchon 1482.) 
Kriegshaufen hat &. in der Bibel nicht, aber bei 
Grimm, W. B. Gedud giebt er: Krieger, Kriegsleute 
(Hiob 19,12. geändert in Kriegsſcharen, das L. auch nicht 


en 


49,22. 


49,25. 


2,12. 


6,14. 


8,16. 


Die Zutheranität der Probebibel. 89 


hat), Kriegsfnechte, Näuber, Kriegsvolk, vgl. 1 Makk. 11, 3: 
Haufen Kriegsvolf ,; de Wette, Zür. B.: Scharen, Schar. 
emporjteigen — hat X. wenigitens in einer Var. zu 
Mark. 4,7. (ſ. Bindſeil VI, 84). 

racham giebt X. nie mit Mutterleib,. fjondern Mutter. 


2 Moſe. 


Luthers beſcharren iſt in verſcharren zu ändern, 
nicht aber in Sharren oder einſcharren, denn 1) X. 
überſetzt taman wohl mit verjcharren, nie aber mit fcharren. 
2) er braucht jcharren nicht tranfitio (auch bei Weigand 
fein Beleg). 3) einfcharren hat er nicht. 

Vaterhaus — it nicht bloß unlutheriih (ſ. Vorber. 
©. LXI) jondern mißverjtändlid, der. gemeine Wann 
veriteht darunter nicht einen Stammesteil, jondern die 
Heimat, wie Bj. 45, 11., begreift darum auch nicht, wie 
man davon eine Mehrzahl bilden kann; und warum ift 
1 Sam. 22, 22. nicht auch geändert? Luther hat Sipp- 
ihaft 1 Chron. 4 (5), 33. (auch Blutfippfchaft, vgl. Dieb). 
Oder wenn dieſer Ausdrud nicht genehm ift, wäre Sippe 
befier ala Waterhaus, oder wenn auch das nicht, mit 
de Wette: Stammbäufer. 

Stehbmüden — hat &. nicht, man wird jegen müjjen: 
(Ste) Müden. 


12,45 Beifaß — hat L. nicht, vol. Schröder zu Bi. 39, 13. 


Er fchreibt (E. U. 63, 24 }.): „Ih hab auch noch bisher 
fein Buch, noch Brief gelefen, da rechte Art deutfcher 
Sprach innen wäre. E3 achtet aud) niemand, recht deutſch zu 
reden, fonderlich der Herren Ganceleyen und die Lumpen— 
prediger und Puppenjchreiber, die ſich laſſen dunken, fie 
haben Macht, deutſche Sprade zu ändern, und dichten 
uns täglih neue Wörter, beherzigen, behändigen, 
erjprießlich, erfchießlich (oder erfchlieglih) u. dal. Sa, 
lieber Mann, es ijt wohl bethoret und ernarret dazu.“ 
(Dod vgl. Bacmeifter, Germaniftiiche Kleinigkeiten ©. 55. 
57 und Hopf a. a. D. ©. 297). Ferner (E. A. 37, 7): 
„Befeitiget, wollt ich gerne jagen. Aber ih bin neuen 





90 


Seble 


Wörterngram, folauts auch hie nicht wohl, gefeitiget vom 
Meſſia . . . .“ Angeſichts folher Nußerungen muß man 
außerordentlich ängftlih fein, neue Wörter in die Luther: 
bibel einzuführen. L. hat freilich jelbjt eine ganze Menge 
neuer Wörter gebildet, aber er hat diefen Kindern ſprach— 
Iihen Humors oder ſprachlichen Trotzes fein Heimatrecht 
in feiner Bibelüberfegung eingeräumt. Grimm W. B. J, 
1390 hat f. Beiſaß ald Quelle nur Niebuhr. Befjer 
wäre: Hinterfalfe, das die Zür. B. von 1530 für thoschab 
hat 1 Mofe 23, 4. und das ein jehr altes Wort it, val. 
Grimm, W. B. mhd. 


. am Leben bleiben — hat 2. nicht, dagegen leben 


bleiben, beim Leben bl., bei dem Leben bl., lebend bI., 
lebendig bl. 


. zurüdbhalten — hat 2. nit; warum ändern? Bal. 


Sir. 4,3. L. giebt Arıx auch mit aufhalten, ſäumen; alfo: 
mit... . fäume dich nit, vol. 2 Kön. 4,24., oder mit 
— jei nicht ſäumig, nad) 2 Petr. 2, 3. 

blau — hat 2. in der Bibel nicht, aber fonit. 

Afazie — hat X. nicht. 


. 31. 36. getrieben — hat 2. nicht; j. 3. Sir. 50, 10. 
. ih bezeugen — hat 8. in anderer Verbindung, val. 


Diet. Entweder mit der Zür. B.: fommen zu, oder mit 
de Mette: zufammenfommen mit. 


. Etbrett — hat 2. nit, auch Grimm, W. B. nid. 
. Hafen — hat 2. in diefem Sinn nicht, fonden _ Karit, 


doch in einem Brief — uneus, fonft Häflein. 


. Querjtäbe — hat 2. nicht. Beſſer mit de Wette bloß: 


Stäbe. 

PBurpurrod — hat. nicht, aber P.-Hauben, P.Kleid, 
B.: Mantel. 1 Sam. 28,14. ilt der ſeidene Rod ge- 
blieben, wo auch möil fteht. | 

Gurt iſt bei 2. gewöhnlich femin., wie im Schwäb., 
jelten mase. (Bar. 6, 43.). Weigand, W. B. hat beides. 
Faſſung — hat 8. nit (nah Weigand, W. B. mhd.), 
aber das Zeitwort V. 20, doch wäre Einfaffuna 
deutlicher, val. 25, 7. 


bay BEHEFE.e) 777 27.25 u-aut Zn nn (> >02 Oee Er, ee 20-0020 00 — 


Die Lutheranität der Probebibel. 91 


28,15. 2%. hat Amtjchildlein, nicht Amtsfchildlein, val. Grimm, 
MW. B.: „Amtjchreiber befjer ald Amtsfchreiber, Amtforge, 
nicht Amtsjorge, Amtjtube, nicht Amtsſtube“. 

28,17. Reihe — hat L. nit, Hopf wünſcht a. a. D. ©. 235 
Rige beibehalten , das durch die Turnkunſt ziemlich weit ver- 
breitet jet. 

28,7. 27. Schulterftüde — hat X. nidt. 

29,22. 26. 27. Füllung — wäre nicht der Deutlichfeit halben 
troß V. 31. 34. die Änderung in Füllopfer vorzuziehen 
nad) 3 Mof. 8, 22. 29? 

29,40. Zehntel — hat 2. nicht (Meigand nhd.). Warum tft 
fein Spracdhgebrauh aus 3 Moſe 5,11. nicht in allen 
Stellen beibehalten worden, wo die Einzahl jteht ? 

30,15. warum tft das „denn“ geändert ? 


3 Moe. 


10,3. ſich erweifen — hat X. nicht, e8 muß nad) Jeſ. 12, 5. 
bemweifen heißen. 

13,48. ff. warum ift Werft nicht belafjen? Das Wort ift noch 
gebräuhlih; vgl. Weigand und Wetzel s. v. Eintracht. 
Aufzug hat 2. in der Bibel nicht und ſonſt nur im 
Sinn von Auffhub, Berzug. 

13,49. grünlich — hat L. nit; Weigand hat nur grünlicht. 

16,8. ff. Aſaſel — hat 2. nidt. 

16,33. heiligit — hat &. in der Bibel nie, jondern immer 
allerheilioft. Sonjt hat er heiligſter Bater. 

17,5. Schladttier — hat 8. nicht. Warum nicht mit de 
Mette, Zür. B. Opfer laſſen oder mit v. Meyer: 
Schladtopfer? 

19,24. Breisopfer — hat L. nicht. Warum nicht mit v. Meyer: 
zum Preiſe dem Herrn ? 

25,5. 8. Sabbatjahr hat 2. nit. Warum nicht wie v. Meyer 
Feierjahr lafjen, das aus 26, 34. f. 43. deutlich iſt? 
vol. Feierabend. Dover mit de Wette: Jahr der Ruhe. 
Nach Bindfeil I, 261, hat L. tar Sabbath. 

25,23. 30. für immer — hat 2, nidt; Grimm, W. B. hat 


02 Seble 


feinen Beleg vor Göthe. V. 23: dab es nicht gelöit 
werden möge. V. 30: für und für. 

26,30. Sonnenfäulen — hat L. nicht (2 Chron. 14,4. Heſek. 
6,4.), es würde Bildjäulen genügen. 

26,31. Heiligtum — bat L. nicht in der Mehrzahl, vgl. 
1 Chron. 24,28. allerlei Heiligtum. Grimm, W. B.: der 
Plural it in der älteren Sprache dem Sing. gleih, erit 
die neuere braucht Heiligtümer. Borzuziehen: Heilige 
Stätten (vgl. Apg. 6, 13. f.). 

26,37. Da fie doch oder fo fie doch? 

27,16. Ausjaat hat L. nicht, aber ausfüen. Grimm, W. B. 
hat feinen alten Beleg. 


4 Moſe. 
10,3 ff. ſchlecht — ſ. 3. Prediger 7,13. 
20,15. behandeln — hat 8. nicht. Grimm, W. B. ahd. bloß 
hantalön, mhd. handeln. Nach ı Mofe 20,9. übel handeln mit. 
24,6. Hat X. Thale und Thäler? 
Aloebäume — hat X. nicht, wohl aber Aloe (daS bei 
Dieg fehlt), alfo mit der Zür. B.: wie Aloe, die... 


5 Mode. 

12,5. aufſuchen — hat 2. nicht. Entweder: beſuchen oder 
beſſer mit der Zür. B. die leichtere Anderung: an dem 
Ort... ihn ſuchen. 

26,5. (Spr. 31,6.). Das Umkommen hat L. nicht. Entweder: 
nahe dem Verderben (Untergang hat L. nur von Städten) 
oder: ſtund in Fahr des Lebens oder in Gefahr umzu— 
fommen, in Fahr, daß er umkäme (vgl. Apg. 19, 40). 

26,6. behandeln f. 3. 4 Moſe 20,15. 

28,5. 17. Badtrog — hat X. nicht. Nach Weigand ſchon 1482. 
x. hat auch Trog nicht (aber ahd. und mhd.). 

28,54. 56. mißgönnen — hat 2. nidt. Doch vgl. Grimm, 
W. B. bei Zwingli mit Gen. der Sade. Alſo: nidt 
gönnen oder ſchel jehen (Elberf. B.) oder neiden. 

33,17. Zehentaufend — als Hauptwort hat L. nicht. 

33,21. Anteil — hat L. nit, doc hält es Grimm für mhd. 
Warum nicht bloß Teil? 4 


11,17. 
11,17. 


Die Lutheranität der Probebibel. 93 


Joſua. 
kahl hat X. vom Haupt und von Bäumen. 
12,7. auffteigen — hat X, nicht in dieſem Sinn, eher: 
jich erheben oder emporjteigen. 


15,8. 10. 17,9.18,12.16. Mittagsjeite und Mitternadt- 


17,12. 


18,17. 


19, 29. 


1,36. 


3,7. 


5,11. 


5,14. 


5,22. 


8,2. 


12,9. 


13,19. 
15,14. 


15, 19. 


ſeite bat L. nicht. Beſſer entweder nah der Zür. B. 
oder mit de Wette: mittägliche Seite. Nah Grimm, W. B. iſt 
mittägig und mittäglich ahd. und mhd., während Mittags— 
feite nicht älter als Möſer erjcheint. Auch nördlich, 
nordenlich ericheint ſchon 1482; Norden tft ahd. u. mhd. 
Richt. 1, 27. 35. beharren — hat X. nicht mit nad): 
folgendem Sat. Entweder mit Stier: fingen an zu 
bleiben (um und ug) oder nad der Zür. B. oder 
nad) de Wette. 
gegenüber — trennt L. beim Dativ; allerdings nur 
ein Wort dazmwifchen. 
Gegend von — hat 2. nicht, ſondern ohne Präpofition 
oder am, um oder Genitiv. 

Richter. 
weiter hinauf — hat 2. nicht, aber aufwärts, wie 
de Wette und Zür. B. 
Aſcheroth — hat X. in der Variante (Bindfeil I, 56). 
Schöpfrinnen — hat %. nidt. 
Führerftab — hat L. nidt. Grimm, W. B., bei Herder. 
Sit die Auslegung unzweifelhaft? 
Sagen — hat L. nit als Hauptwort, dagegen Nennen 
(freilich in anderem Sinn) oder Treiben oder Stürmen ; 
Jagen empfiehlt ſich durch die geringe Anderung. 
Nachleſe — Hat L. nicht, aber nachleſen; vielleicht 
befjer mit der Zür. B.: das Nachleſen. 


hbinausgeben — hat 2. nit, fondern ausgeben 
1 Moje 29, 26. indd. Bibel: gaff he uth). 
Wunderbare — hat L. nid. Warum ändern ? 


Luthers Überſetzung ift deutlicher als die Anderung. 


entgegenjaudzen — hat L. nidt. Grimm, W. B., 
bei Klopjtod. Bal. Bi. 60, 10. 
Höhlung — hat L. nit; warum nicht Höhle? 


94 Sehle 


16,13. f. Gewebe — hat X. nicht (nach Weigand mhd., aber in 
welchem Sinn ?), aber Garn Geipinit, Faden. 

17,5. 8. 18. Hausgößen — hat L. nicht, ift auch nicht alt; 
warum nicht Götzen wie 1 Moje 31, 19. 34 f.; ebenso 
Bar. ſ. Bindſeil II, 91. 

18,25. hHinwegräumen — hat X. nicht, fondern wegräumen 
oder hinmwegraffen, hinwegthun oder hinraffen (Pi. 26, 9.). 
Aber aufräumen tt ja 1 Sam. 15, 6. auch belafjen 
worden für asaph. 

19,25. 2. hat Mutwillen üben an, treiben mit. Warum nicht 
nad der Var.: gingen fchendlich mit yhr umb? 


Ruth. 

2,1. Bermandter mit Genitiv hat X. nicht (Neh. 13, 4.), aber 
Gefreundter Joh. 18, 26., zugleich leichtere Anderung. 

3,8. ſich vorbeugen — hat X. nit; Zür. B.: beugte ſich. 
Warum nit nad der Var.: greyff umb fi? 

3,10. erweijen etwas — hat L. nicht; es muß entweder mit 
de Wette beweiſen heißen oder erzeigen; ſ. z. 3 Mofe 10,3. 

1 Samuel. 

5,8. f. dahin tragen — hat L. nicht; aber val. Tob. 5, 2. 
Beſſer Zür. B.: hintragen. 

8,11. hberlaufen — hat L. nicht in diefem Sinn; die Zür. B. 
behält hHertraben, oder mit v. Meyer bloß laufen. 

8,12. Kriegsmwehre vorzuziehen. 

9,11. Statt hbinauffteigen eher hinaufgehen oder ziehen. 

9,14. eintreten in — hat 2. nicht, jondern zur Stadt 1 Kön. 
14, 12. oder in die Stadt eingingen. 

11,2. Schmad bringen über — hat 2. nicht; eher: hänge 
ganz Sir. eine Schande an, val. Sir. 11, 34. Luther 
Nandglofje: richte eine Schande an unter ꝛc. 

14,32. entweder bloß fiel oder machte ſich oder ſtürzte ſich auf 
die Beute. 

18,27. Ob in voller Zahl lutheriſch iſt? Eher: die solle Zahl. 

19,13. Götzenbild — hat X. nit; die Zür. B. behält Bild. 
Oder warum nit Götze? wie 5 Mofe 12, 3; jo noch ge 
braudt, Mißverftändnis unmöglich. " 4 


Die Lutheranität der Rrobebibel 95 


21,13. Statt toben wäre rafen (v. Meyer) dem luther. Sprach— 
gebrauch entiprechender und noch mehr: unfinnig fein, 

23,25. Ob ſich hinabmachen mit acc. lutherifh it? Wäre 
nicht bejjer hinabjteigen oder nach Luk. 10, 31 hinabziehen ? 

25,18. u. a. St. Rojinen= und Feigenkuchen — hat L. 
nicht. Beſſer 1 Chron. 13, 40: Kuchen von ic. 

25,20. fam herab entgegen, nah 1 Ra. 2, 8. 

25,22. unnötige Änderung. L. hat nicht bis zu, fondern bis 
an, vol. V. 36. 

25,39. abhalten — hat L., aber ohne Zuſatz, vol. E. A. 42, 
158. Cr giebt chasak mit halten, wehren, jchonen, be: 
hüten, entweder nad) 1 Moſ. 20, 6. Pi. 34, 14 behüten 
vor oder halten von. 

31,4. Spott treiben mit — hat X. nicht, aber Gefpött, val. 
pr. 14, 9 (Bi. 69, 12). 


2, Samuel. 


„Das zweite Buch Samuelis“ iſt falſch. Grimm, W. B.: 
„Luther jagt überall „der andere” .... und er feßte: Das 
ander Bud Moſe, Das ander Buch Zamuel, das ander Buch der 
Könige, in welden Stellen Bindjeil u. Niemeyer ſich tadelhaft 
geitatten das zweite Buch.“ Die Probebibel hat das andere 
Buch Moſe, dagegen das zweite Buch Sam., Könige, Chron., 
Pſalter. Richtig: das andere Buch (Brief) der Makf., Korinth., 
Theſſ., Tim., Betr., Joh.; ebenfo in der Überfchrift von 2 Kön. 14. 

3,22. Streifzug — hat L. nicht (nach Weigand erit im 17. 

Jahrh.), aber Zug. Val. 4, 2. 

3,39. leichtere Anderung wäre: neugefalbter König, nach neu: 

geboren Matth. 2, 2. 

5,9. einwärts — hat X. nicht, inwendig tt in den andern 

Stellen für -n> beibehalten worden. 

5,24. zaue dich wünfht Hopf a. a. O. ©. 239 beibehalten. 

6,2. 7° gen? troß der Parallelitelle ? 

7,19. Menſchenweiſe — hat X. getrennt, val. Röm. 3, 5. 

8,6. unverjtändlich; entweder nad) v. Meyer, oder mit Starfe: 
in Syria um Damasfon oder ind damasfenische Syrien. 


1 Starke, Synopsis bibliothecae exegeticae in V. T. 1745 ff. 


- 


96 


14,14. 


15,2. 


18, 22. 


19,19. 
19,33. 


20,15. 


22,16. 


23,1. 
23,5. 


24,10. 


5,13. 
5,13. 
6,5. 


6,6. 


6,9. 


Jehle 


verſchliefen — ſollte geändert werden. Zür. B.: ver— 
ſiegen. Bei Bindſeil heißt es übrigens: verſchleifft, das 
belaſſen werden könnte, vgl. Dettinger Bibel. 

L. hat hier und an andern Stellen z. B. Tob. 4, 1. 
12, 1 einem zu ſich rufen. 

einbringen — hat 2. nidt im Sinn von nüßen, ein- 
tragen; dafür: Lohn haben, friegen, empfangen, oder nad) 
Nicht. 5, 19. Esra. 4, 13. Spr. 19, 19. 31, 18 Gewinn 
bringen. 

Fähre — hat %. nicht (aber nah Weigand ſchon alt), 
dagegen Floß. Zür. B.: Schiff. 


von großem Vermögen — hat X. nicht, vgl. aber 
die wörtliche Parallele 1 Sam. 25, 2. 
Vormauer — hat X. nit; für chel überall Mauer. 


Die Zür. B. bleibt bei Yuther. Er hat für Vormauer 
Zwinger, j. Regiſter. 
Bf. 18, 16. Bett — braudt X. nicht vom Flußbett. Beſſer 
mit der Zür. B.: Die Tiefen des Meeres oder des Maflers. 
hocherhoben — zu trennen wie Sir. 45, 2. 
Begehren hat 2%. nicht, aber Begehr, Begier (Bar. 
zu Hiob 31, 35), Begierde; de Wette hat Begehr. In 
den Var.: Luſt. 
2 Ko. 17, 21 das ſchwerlich iſt in Stellen wie Mark. 
10, 23 f. Apg. 28, 27 belajjen mworde:., wo e& doch 
auch mißverftändlich ift. 

1 Könige. 
ausheben — hat 2. nur im Sinn von auferre. Bei 
Grimm, W. B. ältefter Beleg: Voß. Aljo einfach: nehmen. 
Sronarbeiter — hat 2. nicht, aber Fronleute, wie 
9, 15. Iteht, vol. E. A. 23, 1. 
Seitengemad — hat L. nicht, nad) Heel. 41, 6 aus: 
einanderzulegen. 
eingreifen (Hefel. 41, 6) — hat L. nidt. Warum 
nicht bei v. Meyers leichter Anderung bleiben oder: fafjen 
wie L. ımx fonjt giebt? 
Sit Täfelwerk etwas anderes al Tafelwerk Bi. 
74, 6. Heſek. 27, 5. 41, 16? 


6,10. 


6,35. 


6,35. 


7,4. 


7,6. 


7,17. 
7,29. 
7,45. 
8,23. 
9,15. 
10,11. 
10,23. 


11,28. 


14,23. 
15,13. 


+5,13. 


21,10. 


Die Lutheranität der Probebibel. 97 


verbinden — hat L. nicht in dieſer Verbindung (oder 
Sir. 22, 192%). Beſſer Zür. B.: fügte das Haus mit 
Zedernholz zufammen. 

genau — bat 8. nidt in diefem Sinne. Beſſer de 
Wette: geichlichtet auf, vgl. MWeish. 13, 11. 

eingraben — hat X. nicht, fondern darein graben oder 
bloß graben; doch findet fich eingraben bei Hans Sad. 
Gebält — hat L. nicht, aber Gitter wie andere naw 
geben; oder Balken (Zür. B.). MWeigand: im 15. Jahrh. 
— Stockwerk. 

Heſek. 41, 25 Aufgang — hat L. nur von der Himmels— 
gegend. Beſſer: Schwelle (de Wette, Stier, Zür. B.). 
ff. Gitterwerk — hat 2. nicht, eher: Gegitter, Gatter. 
herabhangend, val. 6,34. 

2 Chron. 4, 16 polieren — hat %., aber man jollte 
jeine Fremdwörter mindern; bier nad) Se. 41, 7. Heſek. 
1, 7: glatt gemachtes Erz, oder glänzendes Erz (Zür. B.). 
Sit L.'s hunden - unten und nicht vielmehr - hie unten, 
wie es wenigſtens hier bejjer heißen würde ? 

21. 3. 5, 13. Fronleute hat %, aber nicht in der 
Bibel. 

f. Sandelholz — hat 2. nit, aber Sandeln, 
Randgl. zu 2 Chron. 2, 8. 

Warum das „mit“ ändern? 

Laſtarbeit — hat 2. nit, v. Meyer und Stier be- 
halten (wie Pſ. 81, 7 sebel) Laft; de Wette deutlicher: 
Zajtarbeiten. Oder mit Luther: Frone. 

Aſcherabilder — beſſer getrennt wie 2 Kön. 21, 7. 
Herrin — Grimm, W. B.: „Das Wort kann vor dem 
16. Jahrh. nicht nachgewieſen werden.” Meigand: bei 
Daſypodius. Beſſer v. Meyer. 

Greuelbild — hat L. nidt, aber Greuelgöße, 
Warum nicht bloß Bild? 

13 abſagen hat 2. in der Bibel nur Luk. 14, 33 in 
ganz anderem Sinn; fonjt hat er: Die Gemeinjchaft ab: 
jagen. Warum hier nicht nad) der Parall, 2 Mof. 22, 
28 fluchen? Randgloſſe: geläftert. 

Theol. Studien a. W. VII, Jahrg. 7 





38 


Schle 
2 Könige. 

3,25. Schleuderer — hat X. nit; Weigand: im 15. Jahrh. 
slewderer. 

6,10. auf der Hut ſein — hat L. nicht; Grimm, W. B. 
hat feinen alten Beleg dafür. Warum nit wie Stier ? 
vgl. aud) de Wette und Zür. B., die beide ſich an Luthers 
Ausdrud anfchliegen. 

7,9. Unnötige Anderung. 

8,15. Bettdede — hat X. nicht (Nibel. Bettedadh). Warum 
nicht bloß Dede, wie v. Meyer, Stier, Zür. B.? Oder: 
geflochtene Dede (de Wette). 

9,25. einen Sprud thun — hat L. nidt. Warum nicht 
mit v. Meyer, Stier oder nad) der Zür. B.? 

9,32.b. warum nicht bloß: Da wandten ſich ... . ihm zu? 

10,8. Königsfind — hat L. nidt; vgl. 3. Ser. 36, 26. 
Warum nicht: Der Kinder des Königs? Doch Thon mhd. 

11,2 Bettfammer — hat 2. nidt. Warum nicht Schlaf: 
fammer lalfen wie Stier, Zür. B. u. a.? oder blof 
Kammer oder jedenfall3: Kammer der Betten (de Wette). 

11,4. Leibwächter — hat 8. nidt. Grimm, W. B. hat 
feinen alten Beleg. Bejjer: Trabanten und Läufer (bei 
x. oft für pa). 

12,9. einwilligen — hat X. nidt; Grimm, W. B. bei Opitz. 
L. hat willigen, bewilligen, darein willigen. Alfo: willigten 
darein oder nach der Zür. B.: waren zufrieden, vgl. 2 
Maff. 14, 28. 

14,8. 11. fih mit einander meſſen — hat X. nicht, es 
müßte eher heißen: gegen einander, vgl. Jeſ. 46, 5. v. 
Meyer, Stier, Zür. B. behalten Luthers wörtliche Über: 
ſetzung, ähnlih de Wette, Aus 1 Maff. 10, 71 böte ſich: 
mit einander verfuchen. 

15,16. Die Änderung unnötig, jedenfalls fraglih ob lutherifch ? 
vgl. Stier. Zür. B.: an. 

16,18. Sabbatshalle — hat L. nicht. Warum nidt bloß Halle? 

17,21. ſ. 3. 2 Zam. 24, 10. 

18,23. eine Wette annehmen — hat 8. nidt. Dafür: 


verfuche es. 


19,23. 


21,16. 


22,4. 


22,9. 


23,5. 


24,17, 


25,4. 


25,8. 
25, 19. 


1,12. 


5,10. 


5,16. 


11,16. 


Die Lutheranität der Probebibel. 99 


Baumgarten — hat 2. nicht in der Bibel, aber E. A. 42, 
142. v. Meyer: Luſtgarten. Elberf.B.: fruchtbares Gefilde. 
aller Orten — hat 8. nidt. Warum nicht fein 
häufiges: an allen Enden, das er 10, 21. für so hat und 
wie Esra 9, 11. geändert worden iſt? 

abgeben — hat 2. in der Bibel nicht und fonft in 
ganz anderem Sinn, dagegen herausgeben (12, 12.) 
oder hergeben. 

warum nit nah 2 Chron. 34, 17. geändert? beide 
Male nathak. 

Gögenpfaffen (Hof. 10, 5. Zeph. 1, 4.) — hat L. in 
der Bibel nicht, aber font. 

Dheim — Amos 6, 10. hat 2. Ohmde, ſonſt wie im 
Schwäb. Vater Bruder, val. 3 Mof. 20, 20.; an 
den andern Stellen iſt Better belajjen (j. Regiiter). 
(Ser. 52, 7.) Statt der 3. ©. d. K. gehet fünnte man 
die Unbejtimmtheit des Textes wiedergeben: da man zum 
G. d. 8. gehet (vgl. 4 Mof. 13, 22.); der Satbau würde 
auch gefälliger. 

f. Hauptmann d. Tr. — ſ. 3. Jerem. 39, 9. f. 
(Ser. 52,25.) zum Heer aufbieten — hat L. nicht, 
ſonſt jtünde es 3. B. 1 Mall. 3, 27. 9, 63. 2 Mat. 
12,5. Man könnte wohl bei 2. bleiben und nur Heer: 
volf jegen jtatt Yandvolf; oder nach einer andern Stelle 
Luthers: dem Volk aufgebot in die Heerfahrt. 


1 Chronika. 


Die Änderung von aus kommen ift unnötig, oder leichtere 
Anderung: herkommen, vgl. 1 Mofe 4, 20. f. 
Morgenjeite — hat L. nidt, Grimm, W. B., nur 
Wieland. Beſſer Zür. B.: in der ganzen Gegend gegen 
Aufgang bei Gilead. 
Sluren — hat % nit. Vorſtädte iſt ja auch ſonſt 
beibehalten. Doc ift das Wort alt: ahd. und mhd. 
St. Schildwache nah 1 Sam. 10, 5, Schildwacht, wie 
Judith 14, 3. Scharwacht mwiederhergeitellt worden, doch 
1 Makk. 12, 27.: Schiltwache. 

7* 


100 


17,25. 


20,3. 


28,21. 


Seble 


Mut finden — hat L. nidt, jondern Mut faſſen 
oder das Herz finden. 

warum nicht auch 2 Sam. 12, 31. Dreijhwagen? Der 
hier wie dort und Amos 1, 3. Zaden (charizim). 

Warum hier und ſonſt oft, 3. B. Hiob 38, 21. Pi. 55, 
19. 97,1. Spr. 9, 11. 29, 2. Jerem. 46, 23. Heſek. 33, 
24. das vollstümliche ijt in der Bibel geändert? Bal. 
1 Kön. 18, 25.; dagegen Spr. 4, 10. 

17. Vorratshaus — har 2. nicht. Neh. 12,25. hat man 
fürasuppim Schwellen jtehen lafjen. Beſſer: Haus der Vorräte, 
vererben (Eära 9, 12. Spr. 13, 22.) — hat 2. nicht, 
dafür bloß erben, 3. B.: Adam den Tod und die Sünde 
auf uns geerbet hat. 

26, 32. Händel — |. 3. Helel. 27, 9. 


2 Chronika. 


2,6. 13. eingraben — |. 3. 1 Kön. 6, 35., hier deutlicher: 


4,6. 


8,6. 
9,29. 


10,7. 
11,5. 


13,15. 


19,8. 


20,16. 


Bildwerke zu ſchnitzen, nad Sir. 38, 28., vol. 3, 6. 
abjpülen — hat 8. nidt. Grimm, W. B. hat feinen 
alten Beleg. Spülen genügt, fo de Wette. 
Reiterftädte — hat. nicht. Warum nicht wie 1Kön. 9, 19.? 
Mie man hier Chronifa geändert hat, jo follte man 
es überall ändern, oder wenigſtens in den Stellen, wo es 
mißverjtändlih auf unfere Bücher der Chronika bezogen 
werden fann, wie bejonders in den Büchern der Könige. 
behandeln — ſ. 3. 4 Moſe 20, 15. 

bauen zu — hat 2%. nicht; entweder mit Stier nidt 
ändern, oder bloß: baute Feſtungen oder befeſtigte Städte, 
oder: aus Städten Feltungen, vgl. Dies, W. B. 

ein Geſchrei erheben (trans.) — hat L. nicht, jondern 
ein Geſchrei, Feldgefchrei machen. 

Streitfahen — hat 2. nicht, aber für rib 5 Moſe 
17,8.: zänkiſche Sachen, oder mit der Zür. B.: Gerichts: 
händel, j. Die, W. B. Oder : über allen Handel des Streits. 
enden — hat 2. nur tranfitiv oder refleriv: fich endet. 
v. Meyers Überfegung: am Ende des Thals — iſt gut 
lutheriſch. Oder: an des Thales Ende. _ 


31,12. 


32,30. 


36,15. 


Die Yutheranität der Probebibel. 101 


. aufnehmen — bejjer verzeichnet oder gekommen, nad 


1 Chron. 27, 24. (Stamm alah). 


‚in Sahr und Tag — ob lutherih? Die Zür. 8. 


bleibt bei 2%. Oder von Jahr zu Jahr, nah 3 Mofe 
25, 53. Die lutherifhe Wendung ef. 32, 10. läßt ſich 
hier nicht anbringen. 


.einbreden — hat 2. (intr.) nur vom Teufel und 


falfchen Zehrern. Dafür: einfallen, vgl. aud) 2 Cam. 23,16. 


. hat die Dettinger Bibel: über ihn, Bindfeil über ihm; 


wer hat reht? Die Dettinger Bibel ijt ſonſt zuverläfjig. 


. Königstohter — hat 8. nit; ſ. 3. Serem. 36, 25. 


auseinandergehen — hat L. nicht, fondern von 
einander gehen, wie im Schwäb. (und Zür. B.). 


. Belingen — hat 2. nicht ala Hauptwort; befjer Elberf. 


Bibel: es wird euch ja nicht gelingen, vol. 13, 12. 


. Geſchütze — ift collect. zu Schuß. Ob L. Weish. 5, 22. 


die Mehrzahl hat? 
ganz wie — warum nicht wie S5>> in der Parallel- 
jtelle 2 Kön. 15, 34: allerdinge. 


. Iofe handeln — hat 2. nicht; der Ausdrud wohl aus 


2 Moje 32, 25. Gonft hat 2. eine große Auswahl 
näherer Bejtimmungen zu handeln. 


. Entfündigung — hat %. nidt, nur dad Hauptwort: 


Entfündigen. Grimm, W. B., bei Klopftod. Beſſer Zür. 
B.: und entjündigten mit ihrem Blut auf dem Altar, 


‚ eifriger — das Wort hat bei 2. einen andern Sinn 


und fommt nicht im Komparativ vor. Beſſer: v. Meyer, 
de Wette, Stier: redlicher, oder redlihen Herzens . . . . 
mehr als, oder Zür. B.: aufrichtiger, oder: williger. 
zweite — hat L. nie, f. 3. 2 Sam. In Apg. 13, 33. 
(Eith. 10,3) hat man der andere ftehen lajjen, obgleich viele 
das Wort nicht im Sinn von der zweite verjtehen werden. 
glücklich — glüdfelig wurde ſonſt überall belajjen, 
fogar die glüdfeligen Shlahten 2 Makk. 15, 9,; 
glücklich hat für L. eine andere Bedeutung. 
immerfort — wird bei 2, ſtets getrennt und fort zum 
Verbum gezogen, fo it auch Sir. 20, 21. zu ändern, vol. 


102 


2,63. 


9,30. 


10,32. 
13,10. 


13,10, 


Jehle 


Bindſeil. Hier wäre zu ſetzen: frühe, für und für. Rand— 
gloſſe: zeitlich zuvor, allewege. 


Esra. 
Daß Sesbazar und Serubabel dasſelbe iſt und Thirſatha 
fein Titel (vgl. Regiſter), worauf die Parallelen 2, 2. 
weifen, fann nur eine Anmerkung klar machen. Der 
Artikel: den T. fagt dem gemeinen Mann noch nicht, daß 
das Titel ift und weſſen Titel. 
Grund — dafür bietet fih aus 2, 68: Stätte, 


. 2. hat: und fo fort an, was audh 3. 17. 7, 12, geſetzt 


werden jollte. 


.Königshaus — hat 2. nicht; iſt allerdings alt, ſiehe 


Grimm, W. B. Man könnte: fönigl. Haus ſetzen, wenn 
nicht mit de Wette u. a. Palaſt. 
über — ob lutheriſch? Die Zür. B. bleibt bei X. Bal. 
3. Hi. 24, 23. 

Nehemin. 
angenehm vor dir — für das perfönlidhe Verhältnis 
nah 1 Sam. 2, 26. befjer: bei dir. Leichtere Anderung 
der Zür. B.: und gefällt dir dein Knecht. 


. uns — lutherifh? Stier deutlicher. Die Zür. B. bleibt 


bei Zuther. 

Burgvogt — hat 2. nit; dafür: Vogt der Burg. 
Grimm, W. B. Beleg aus Ayrer. De Wette, Zür. B.: 
Oberfter der Burg. 


. Balfamzmweige — hat 2. in den Bar. (fehlt bei Dieb) ; 


warum niht Harzbaumazmeige gelajjen ? 


.Jih zurüdmwenden — befjer: fi ummenden, oder 


nah 2 Moſe 13, 17. wieder umkehren. 

verzogft über — ob 8. Sprachgebrauch nicht ein 
Objekt verlangt ? 

Handbeichwerung ? 

Nah Hopf a. a. D. ©. 321 ift waren urfprünglich 
lutherifch, ebenfo Dett. B. 

L. jagt: Gefchäft, Amt ausrichten, aber: Gefchäft des 
Amts thun. 


13,21. 
13, 31. 


3% 


4,11. 


5,8. 


a u — ea nn Run. 


Die Lutheranität der Probebibel. 103 


noch eins wurde Sir. 12, 6. 26, 1. nicht geändert. 
Dpfergabe — hat 2. nit; entweder mit der Zür. B. 
bloß Gabe oder nad 10, 35. Opfer des Holzes. 


@ither. 
von Mond zu Mond — hat L. nicht; aus Jeſ. 66, 23. 
bietet fih: von einem Mond nad) dem andern. 
Iſt Ejther 5, 2. nicht ace., alfo hier gegen ihn zu jegen ? 
Begehren iſt unlutherifeh (j. 3. 2 Sam. 23, 5.), hat 
auch Bindfeil und Dett. B. nicht (vgl. V. 7.). 


u, 
Hiob. 


1,5. ff. abfagen — ſ. 3. 1 Kön. 21, 10. NRandglofje: ohne 


3,9. 


(3,22. 


4,6. 


5,1. 


6,3. 


6,16. 
6,19. 
6,18. 


Scheu dir fluchen und läjtern. 

Wimpern — hat 2. in der Bibel nit, aber E. A. 
37, 259. Man fönnte aber jein Augbraunen (41,9. 
Augenlider) laſſen, wie an andern Stellen gejchehen; 
ſ. Diet, W. B. 

Mit Delisfch näher bei L.: die ſich ſehr — und fröhlich 
ſind, wenn ſie ein Grab finden). 

Unjträflihfeit — hat L. nit, unfträflih für on 
nur 5 Moſe 32, 4. Meiſt überjegt er Frömmigkeit (jo 
hier v. Meyer, Stier, Zür. B.), fonft: Einfalt, Unſchuld 
oder Vollfommenheit, Redlichkeit, Recht. 

jih an jemand wenden — hat L. nicht, fondern zu 
jemand (ebenfo de Wette, Zür. B.); aber warum nicht 
laffen: ji umfehen? oder anlaufen nah Bi. 34, 6. 
irre gehen — hat 2. nur von lebendigen Wefen; bejjer 
Stier oder de Wette: thöricht, oder voll Unmuts nad) 
1 Kön. 21, 5. 2 Kön. 6, 11. [Sind die Außsleger über 
die 1. Hälfte des Verſes einig ?] 

bergen — hat 2. ohne Zuſatz, bejjer: verbergen. 

Statt bliden befjer: jchauen. 

f. Reifezüge, Karawanen — hat %. nit. Xebteres 
nah Grimm, W. B. bei Fiſchart. Das Fremdwort fann 


104 


8,16. 


9,6. 


(9,9. 


9,11. 


9,13. 


Jehle 


aber vermieden werden, das hier ſtehende orach über— 
ſetzt Luther 31, 32. mit Wanderer. 


. berfallen — hat L. in der Bibel nicht, ſonſt im Sinn 


von fommen, ſich zutragen. Dafür: überfallen (jo Zür. 
B.), anfallen, ſich hermachen. 

a. Die Anderung ift nad) 35, 6. unnötig, vgl. 22, 17. u. Delitzſch. 
Karla — paßt nicht für Gott. Bloß: Dir zum Ziel, 
jegen jtatt machen, val. 16, 12. 


« Bapier — hat L. nicht; doch nad Weigand ſchon im 


15. Jahıh. Statt Nilgras beſſer mit de Wette, Stier: 
Kiedgras (nad) Meigand ahd. und mhd.); auch Delitzſch. 
Sonnenfhein — hat 8. nit; aber nad Weigand 
ſchon alt. Dafür nad) 2 Sam. 12, 11.: in der lichten Sonne. 
wegen — ijt eine unmögliche „Repriftination“ (nad) 
Meigand erlofchen); es müßte jedenfalls erklärt werden; 
Jeſaia 13, 13. hat man ja auh bewegen gelafjen 
(anders liegt die Sache Heſek. 38, 20. wegen ded Gleid): 
klangs). Und vollends Eph. 4, 14., wo durch das wiegen 
jedes Mißverſtändnis ausgejchlofien ift! Dazu fommt, daß 
8. wegen und wägen mit „e“ fchreibt, vgl. Hiob 28, 
18, 31, 6.; hat er Eph. 4, 14. nit aud) wegen ge 
ichrieben, aber mwägen gemeint? (Vorberidt ©. XLL) 
Nah Hopf a. a. DO. ©. 293 iſt wägen und wiegen eine 
der beliebten Verbindungen der Volksſprache. — Man 
bat Hoh. L. 1, 12. 2, 13. Hof. 14, 7. Gerudy gelegt, 
Itatt Ruh, während 3. B. Göthe diefes noch hat. 

Statt Drion aus der Randgloſſe: Jakobsſtab). 

L. hat nie vorbei, fondern immer vorüber. Will man 
das zweimalige vorüber vermeiden, obgleich %. folche 
Wiederholungen hat, fo bietet fih daS dem chalaph ent- 
Iprechendere „mwegeilen“ aus 1 Makk. 6, 57. 

26, 12. Rahab — ift feine glüdliche Änderung; L.'s 
Überfegung giebt doch einen Haren Sinn und würde befjer 
beibehalten, da die Deutung von Rahab nicht zweifellos 
ft. Mill man .einen jtärferen Ausdrud, als 2. hat, jo 
fönnte man die Stelle aus jeinem Sprachſchatz fo geben: 
Unter ihm müſſen ſich beugen trogige Junker. 


9,22. 


9,35. 


10,10. 
11,10. 


13,39. 


13,12. 


13,18. 


13,28. 


14,9. 


14,14. 


[14,16. 
14,22. 


15,8. 


Die Lutheranität der Probebibel. 105 


es ijt eind — zwar wörtlich, ob aber lutheriſch? Eher: 
Es ift ein Ding. 

Zu „fein folder“ wird bei X. eine nähere Erflärung ge: 
hören, wie Amos 9, 5. Beſſer: denn fo jteht es nicht um mid). 
hbingießen — hat L. nidt, aud bei Grimm, W. B. 
fein alter Beleg. Eher: hinfließen laſſen. 

gefangen fegen — hat 2. nicht, fondern gefangen 
legen, val. 3 Moſe 24, 12. 

Statt in Sicherheit Iutherifcher: ficher oder ruhiglich, 
St. Eith. 1, 2. 

Denkſprüche — hat 2. nicht, auch nicht Gedenk-, Merk-, 
Sinnjprud. Bei Grimm, W. B. fein Beleg vor dem 
17. Jahrh. Aſchenſprüche — fommt Grimm, W. B. 
gar nicht vor und iſt ein uns undeutliches Bild. Man 
fünnte den Sat geben: Eure Sprüche, die ich mir merfen 
joll (vgl. 4, 7. hebr., 5, 27. deutfch), verjtieben (ef. 19, 
7.) wie Ajche oder find wie eine Loderaſche (Weish. 2, 3.). 
Rechtsſtreit — hat 8. nicht. Der Ausdrud ift 23, 4. 
ungeändert geblieben. Oder: ich bin zum Gericht bereit, 
oder: zum Gerichtöhandel gerüftet. 

Moder — hat 8. nit, it aber nah Grimm, W. B., 
alt. Weigand hat aus dem deutfchen Brevier die Über: 
ſetzung der Stelle: ich bin zergänclich als dör moder 
und als daz gewant daz die milwen @zzent und die 
schaben, raquab giebt &. Hof. 5, 12.: Made, riquabon 41, 
18: faul Holz. 

erit hat 2%. nicht in diefem Sinn; eher: eben, das 
freilih zu Stark ift. 

Der Satzbau kann nicht belafjen werden, da man Streits 
von harren abhängig denten wird ; bejjer harren voraus 
wie bei Stier oder noch deutlicher (nad) de Wette, Delitzſch): 
alle Tage meines Streites wollte ich dann harren. 

Hat Delitzſch 2. fallen lafjen ?] 

b. Sit das „ihm“ Iutherifh nah Pf. 143, 4.? Entweder 
troß Grundtert zu Streichen, wofür Pf. 88, 4. ſpricht, 
oder: in ihm. | 

an fih reißen — hat 2. nidt, fondern zu fi r., 


106 


16,8. 


16,18. 


16,21. 


17,2. 


18,7. 


18,19. 


18,9. 


19,12. 


19,17. 


. 19,25. 


20,13. 


20,13. 


20,29. 


Jehle 


vgl. 20, 19. Dafür mit de Wette: an ſich ziehen oder 
mit der Zür. B.: in fi jaugen, oder: an dich gebradt. 
aufitehen wider — hat 2. nicht, fondern auftreten 
wider, wie de Wette, v. Meyer, Stier, Delitzſch haben. 
Ruheſtätte — hat 2. nicht. v. Meyer und Stier bleiben 
bei %.; will man ändern, jo muß es heißen: Stätte der 
Ruhe, vgl. Apg. 7, 49., oder mit de Wette: Aufenthalt 
(2 Makk. 5, 9.). 

entiheiden — L. hat eine Frage entjdheiden 
(nicht in der Bibel). 

weilen — hat L. nit (doch nah Weigand ſchon alt), 
auch nicht verweilen. Eher: haften, haften bleiben. 
Enge — hat 2. in der Bibel nicht als Hauptwort. 
Enkel — |. 3. 1 Mofe 21, 23. 

Schlinge — hat L. nicht, aber Garn, wie DB. 8. de 
Mette u. a. haben. Schlinge nah Weigand früher 
Schleuder, slenckerer -_- Schleuderer. 

25, 3. Kriegsiharen — ſ. 3. 1 Moje 49, 19. 
Warum nicht blog Scharen (de Wette) ? 

Beier: Mein Odem ift ein Efel meinem Weibe (4 Mofe 11, 
20.), dann im 2. Glied: Grauen, vgl. 7, 14. und Grundtert. 
Varianten: Mein weyb ſchewet fich für meynem Odem. 

f. E3 iſt unerhört, in einer Bibel, die auf Luthers Namen 
Anſpruch macht, das Gegenteil von Luthers Auslegung (das 
unbibl. leibloje Schauen Gottes) in den Tert aufnehmen und 
Luthers Überjegung anmerfungsweifedarunterjegen. Entweder 
muß Luthers Tert ganz weggelajjen werden oder muß eran 
feinem Ort ftehen bleiben und gehört die verbefjerte Überſetzung 
in die Anmerkung. Ähnlich Dan. 9, 25. f. Sad. 11, 7. 
hegen hat 2. nicht in der Bibel, Grimm, W. B. Hat 
ſonſt eine Stelle, dafür: herbergen. Delisich: jchonend 
pflegen, vgl. Eph. 5, 29. 

zurüdhalten — hat 2. nit, dafür: halten, feithalten 
oder behalten (Zür. B.). 

zufpreden — hat 2. nit im Sinn von zuerfennen, 
jondern zufagen. Beljer de Mette: bejchieden, oder Zür. 
B.: das Erbe, das ihm Gott bejtimmt hat, vgl. 2 Kön. 25, 30. 


21,21. 
21, 29. 


21,31. 


21,32. 


21,33. 


21,33. 


22,4. 
22,24. 
24,16. 


24,17. 


24,17. 


24,20. 


24,23. 


24,23. 


24,24. 


Die Lutheranität der Brobebibel. 107 


Statt gelegen jein wie 22, 3, liegen an (ebenjo 
Zür. 3.). 

2. hat nur fih befragen. Delisih gefragt, vol. 
schaal 38, 3., von L. aud mit nachforſchen gegeben. 
ins Angesicht jagen hat 2. nicht, aber unter Augen 
itellen (Bj. 50, 21.) oder nach der Zür. B. unter Augen 
jagen, vgl. Gal. 2, 11., vol. auch Weisheit 4, 20. 
14, 17; oder vorhalten LXX anayyeAA; ebenfo 1 Malt. 
15, 32. 

Wache halten — hat 2. nit bloß: wadht noch ... 
Schollen (38, 38.) — hat %. nicht, ſondern Klöße, 
Erdenflöße. Doch iſt das Wort ahd., ſ. Grimm, W. B. 
8. v. Erdſcholle und Weigand, Scholle. | 
vorangehen — hat %. nicht, aber voranziehen, vor: 
gehen, vorhergehen. Hier: die vor ihm hingegangen find, 
vgl. 1 Sam, 25, 19. 

wegen — hat L. nicht, fondern von wegen. Dafür: um. 
Dphirgold — hat. nicht, aber ophirifch Gold 28, 16. 
einbrechen in — hat 2. nit, ſ. 3. 2 Chron. 21, 17. 
Er hat einbrechen zu ꝛc. Hier bloß brechen (de Mette), 
vgl. Matth. 24, 43. 

wie wenn — bat. nicht, fondern gleich ala wenn. 
befannt mit — bat 2. nit. Dafür: es find ihnen wohl 


befannt 2c. oder fundig, nad 2 Chron. 8, 18. 


Mutterfhoß — hat L. nidt. Grimm, W. B., Hat 
feinen alten Beleg. Schoß braudt L. nur im Sinn von 
gremium. Mutter genügt oder Mutterleib, wie 
de Wette, v. Meyer, Stier, Zür. B. 

Stütze (tützen) — hat X. nicht (doch nad Weigand ſchon 
alt); er giebt schaan mit fich lehnen, ſich verlajfen 
u. ſ. w. Für Stüße müßte jedenfalld Yehne jtehen. 
Die Augen find über — hat. nit. Nach 34, 21. 
wird zu ſetzen fein: feine Augen fehen auf ihre Wege (fo 
auch Zür. B.), wenn man „Thun“ nicht beibehalten will. 
hoch erhöhet — hat 2. nicht, fondern ſehr erhöhet oder 
(jehr) hoch erhaben, oder: fie find hochkommen (1 Moſe 
49, 9. Spr. 3, 35). 





108 


24,24. 


26,7. 


26,13. 


27,3. 


27,15. 


27,22. 


28,4. 
28,4. 
28,4. 
29,4. 
30,4. 
30,5. 


30,6. 


30,11. 
30,11. 


30,29. 


31,2. 
31,24. 


Sehle 


hbinfinfen — hat 2. nit, Grimm, W. B., bei Maaler, 
Mitte des 16. Jahrh. Luther hat dahinſinken (fo 
Zür. B.) oder niederfinfen. 

Das Leere — hat 2. nicht, gehört überhaupt der Neu: 
zeit an. Nah Grimm, W. B., it die Leere zu fegen, 
wie de Wette hat. 

flühtig — hat 8. als Adjektiv, aber nicht in der Bibel. 
Hauch — hat X. nicht, überhaupt ein neues Wort, vgl. 
Grimm, W. B. Geijt wird man bei Nafe nicht jehen 
wollen ; alfo: jo lange mein Zeben in mir tft und der Odem.... 
ins Grab bringen — hat 2. nicht, fondern in die 
Grubebringen (1 Mofe 42, 38.) oder zu Grab bringen. 
immerfort — f.3. 2 Chron. 36,15. Hier: immer wegfliehen. 
Schacht — hat 8. nit; doch nad Weigand ſchon mhd. 
Hat 2. von aus? Beſſer Stier. 

Der Bergefjene — hat 8. nidt. Dafür: als Die 
vergejjen find. 

Reife — hat 2. nicht, doch nach Weigand jchon ahd. rifi. 
Ob dafür Höhe, Mittag, Sommer ? 

Ginſter — hat L nidt, doch nah Weigand jchon alt. 
Starke: Pfrieme, holländ.: der brem. 

Mitte — hat &. nicht, doch ift das Mort ahd. und mhd.; 
hier: Gemeinſchaft oder Gejellfchaft. 

graufig — hat 2. nicht, aber nad) Weigand ſpät-ahd. 
griusig. Entweder muß man graufam laffen wie 5 Moſe 
1,19. 8,15. Pf. 40,3. 1 Mall. 6,41. Weish. 5, 2., 
oder mit Starfe: in den Klüften der Thäler, oder erfhred- 
lich, wie L. in der Bar. zu 5 Mofe 8, 15. hat. 

löfen — hat 2. nicht in diefem Sinn, fondern auflöfen, 
vgl. 38, 31. 39, 5. Apg. 27, 40. So auch Zür. B 
abthun — 2. hat: vor Chrifto das Baret abthun. Beſſer 
mit v. Meyer: abmwerfen. 

Schakal — hat 2. nit. Jeſ. 13, 22.: wilde Hunde. 
Marum nicht auch fonft geändert, 3 B. Jerem. 14, 6. oder 
unter Drachen im Regifter vermerkt ? 

Als Teil? oder für mein Teil? 

Warum ändern ? de Wette, v Meyer, Stier bleiben bei *4 





31,27. 


31,30. 
31,35. 


31,35. 
32,18. 


32,20. 


32,21. 
32,22. 
32,22. 


33,14, 
33,23. 


34,13. 


Die Lutheranität der Probebibel. 109 


Luther. Oder: hab ich auf das Gold meine Zuverficht ge: 
jegt? oder fich tröften (Pf. 49, 19.) oder fich vertröften 
(Zür. 8.) Ebr. 11, 13. 

Küffe zuwerfen — hat, nit. Bei Grimm, W. B., 
ältejter Beleg: Gellert 1784. Etwa: meine Hand füffend 
fie zu grüßen, vgl. Grimm, W. B., s. v. füffen, II, a. 
verwünſchen — hat %, nicht; entweder nicht ändern, 
wie v. Meyer, Stier, oder: arges wünſchte ... feiner Seele. 
anhören — hat 2, nicht (in der Bibel), fondern zuhören 
(jo de Wette) oder horchen, merfen auf. 
Unterfhrift— hat L. nicht. Dafür: Zeichen 2 Thefi. 3, 17. 
f. das Innere — hat L. nicht in der Bibel, fonft: das 
Innerde. Entweder mit Stier Bauch zu belaffen, wie 
15,2. Son. 2,3. oder wie fonjt bätän Leib (fo Zür. B. V. 
19), oder Inwendiges, vgl. Pf. 109, 18. ef. 16, 11. 
ſich Luft maden — hat 2. nit, fondern Luft 
friegen, wie v. Meyer, Stier haben. Für jenes auch bei 
Grimm, W. B., fein alter Beleg. 

ſchmeicheln — hat 8. nidt, doch Schmeidhelwort. 
Nah der Bar.: will feinem Menſchen zu gefallen reden. 
Sch weiß nicht mit Schmeichelmorten umzugehen. (1Theif.2,5.). 
dahinraffen--hatL.nicht, fondernhinraffen(Delisich), 
wegraffen, hinwegraffen (de Wette) oder hinreißen (27,8. Bf, 
50, 22.) oder (leichte Änderung) von hinnen nehmen (Zür. B.). 
in — 2. hat häufiger auf, vol. Jeſ. 28, 21. 
eintreten für jemand — hat 8. nicht. Entweder Var. : 
ihn vertritt oder mit v. Meyer, Stier: beiftehen oder Bei- 
ſtand thun, fich annehmen, gut fein, Bürge werden, fich ver: 
bürgen, im Mittel jtehen (Weish. 18, 23.), für ihn ift (de 
Wette, Delisih) nad) Röm. 8, 31. 

verordenet — die Formen regenen, jegenen, 
weldhe in Riehm, das erite Buch Mofe noch beibehalten 
waren, find glüdlicherweife in der Wrobebibel aufgegeben 
(Vorbericht S. XXI.) Aber Formen wie hier verordenet 
begegnen einem noch ab und zu. Wir thun L. fein Unrecht, 
wenn wir fie tilgen. Die jagt (W.B. S. XXII.): „Beil. 
ſchwanken die Verba auf „en“ zwiſchen voller und ſyn— 


110 


34,23. 
34,24. 
34,26. 
34,31. 
34,33. 
36,16. 


36,16. 


36,18. 


37,7. 


37,10. 


Sehle 


fopierter Form; jo erfcheint begegen und begegnen neben 
begegenen, reden und rechnen neben rehenen, 
regen und regnen neben regenen, jegen und ſeg— 
nen neben jegenen u. }. w.“ Wir thun alfo wohl daran, 
den Mittelweg einzufchlagen. 

nicht erjt lange — ob lutherifh? de Wette und Zür. 
B. laſſen das erjt weg. 

ohne erjt — ob lutherifch ? 

abjtrafen — hat L. nit, it auch zu ſchwach. Bei 
Grimm, W. B. fein alter Beleg. %. hat Strafe üben 
an jem. oder zerfchmeißen (Zür. B.). . 

büßen — hat X. nicht in diefem Sinn, aber erdulden 
(v. Meyer, Stier) oder nad) Delitzſch: habe mich erhoben, 
überhoben. 

nah dem Sinn — hat X. nit, aber nad) dem Nat 
oder Urteil (vgl. 2 Maff, 7,36.) oder Deines Ge— 
fallens. 

Auf weiten Raum, Bf. 31, 9. 

Bedrängnis — hat 2. nicht, auch nit Drangſal, 
aber Drängnis. Grimm, W. B. hat für bedrangkus 
Belege aus Luthers Zeit. Entweder Drang oder 
Dränger, val. 3, 18. Pi. 44, 25, oder: wo dich nichts 
dränget (Zür. B.). 

jem. verloden zu et. — bat L. nidt. (Verlodt 
Hof. 7, 11. fönnte ſ. v. a. mweggelodt heißen). %. giebt 
hesith jonjt reizen, (jo de Wette), verführen, aber 
warum bewegen nicht lafjen? 

verfhlofjen halten — hat 2. nidt. Will man nicht 
mit Stier, Zür. B. wörtlich ſetzen: verjiegeln, zufiegeln, 
jo wäre binden deutlicher. de Wette: lähmen, L. hat: 
verlähmen. Nah Grimm, W. B. ift lähmen ahd. und 
mh». 

jih zufammenziehen — hat X. nicht, ſich eng zu— 
fammenziehen noch weniger. Entweder mit Stier enge 
werden nad el. 49, 19. oder gefrieren, vgl. Su. 
43, 21. und fonft. 


. Zühtigung über — it eine fühne Verbindung, und 


Die Lutheranität der Probebibel. 111 


zur Gnade fommen laffen — ijt nicht deutlich. 
Beſſer wörtlih: zur Rute über ein Land (fo Zür. 
B.) vol. Heſek. 7,11. oder als Wohlthat, vgl. zu chesed 
10, 12. | 


38,2. 42,5. Ratſchluß — hat 2. nicht. Die meiften Über: 


38,21. 


38,21. 


38,38. 
[39,1. 


39,4. 


39,13. 
39,13. 


39,13. 
39,18. 


jegungen behalten Luthers Rat. 

damals — hat %. nicht, ſondern dDazumal, vgl. Gal. 
4, 15. Grimm, W. B.: Bei. fommt das Wort damals 
in feiner Form vor, erft im 17. Jahr). Warum nicht 
zu der Zeit beibehalten, wie die Zür. B.? 

find viel — f. 3. 1 Chron. 21, 2. Hier befjer wört— 
lich mit de Wette: Die Zahl deiner Tage ift groß, vol. 
14, 5. 15, 20. Apg. 6, 7. 

Schollen — ſ. z. 21,33. und vgl. 28,6. 2 Sam. 16,13. 
Ihwanger gehen — befjer geändert, man braudt es bei 
uns nur von Menfchen, auch X. ſonſt; dafür: tragen, wie 
Hohl. 4, 2. vgl. Esra 10, 44.: Kinder tragen, oder träch— 
tig fein (vgl. 2 Mof. 23, 26.) oder reißen (von Meyer, 
Stier) wie Mich. 4, 10. geändert iſt (j. d. Bent. dazu). 
L. hat freißen freilih nit, nad) Grimm, W. B. erfcheint 
es zuerjt bei Stieler. Es wäre aud el. 13, 8. 23, 4. 
26, 18. 54,1. zu fegen. Oder nad de Wette: mirjt du 
inne die Wehen der Hinden, vgl. Jeſ. 66, 8. 2 Mat. 
4, 32.] 

im Freien — hat 2. nicht, aber auf freiem Felde, 
was aud) dem babär entjpricht, oder mit Delisih: Wild: 
nis, vgl. 38, 27. oder Bar.: drauſſen. 

fröhlih — hat 2. in der Bibel nur in Verbindung 
mit fein und werden. Delitzſch: luftig; oder: freudig. 
fromm — braudt 2. in der Bibel nur von Gott und 
Menjchen. Ä 

gleiden an — hat 2. nidt. 

hoch auffahren — hat 8. nicht, fondern in die Höhe 
fahren oder bloß auffahren. Deutliher: wenn er 
feinen Lauf läuft (nad) Jerem. 8, 6.) oder: wenn er in 
vollem Lauf dahinfährt (nah Weish. 17, 19. Spr. 
26, 2.). 


112 
39,19. 
40,11. 


40,26. 


40,28. 


41,9. 
42,3. 
42,8. 


2,12. 
9,17. 
10,3. 
35,9. 
38,19. 
38,20. 
48,3. 
59,13. 


69,10. 
74,3. 


81,3. 


95,4. 


Seble 


Gemwieher — hat 2. nicht, aber wiehern. Zür. Bibel: 
haft du feinen Hals wiehern gelehrt? 
Sehne — hat X. nur von der Bogenfehne; man wird 
wie V. 12, bei Adern bleiben müfjen, val. Regifter. 
Fiſcherhaken — hat L. nidt (au Grimm, W. B. 
nicht, jondern Fiſchhacken), dagegen Fiſchhäklein Amos 4,2, 
oder Fiſchangel. 
dahinſtürzen — hat L. nicht, dagegen dahinfinten, hin- 
fallen (Zür. B.), niederftürzen, zu Boden ftürzen, zu Bo: 
den ſinken (de Wette), darniederfallen (St. Eſth. 4, 11.). 
Wimpern — !. z. 3,9. 
Ratſchluß — |. z. 38, 2. 
Das an kann megbleiben. Näher bei 2.: daß ich euch 
nicht gejchehen laſſe. 

Pſalter. 
entbrennen — anbrennen iſt Jer. 7, 20. geblieben. 
Zwiſchenſpiel — hat L. nicht; warum nicht Sai— 
tenſpiel? ſo Zür. B. 
abſagen — ſ. 3. 1Kön. 21, 10 und Hiob 1, 5. 
muß es jeiner heißen wie 9, 15. 
wegen — |. 3. Hiob 22, 4. 
Es muß nad) der Var. heißen: der iſt viel, vgl. 2 Kön. 
6, 16. Bi. 40, 13. 
emporragen — hat 2. nicht; entweder bloß ragen 
oder ji erheben (de Wette, Zür. B.). 
das Mort ihrer Lippen. 
Schmähungen — hat 2. nidt. Ä 
Schritte aufheben — hat L. nicht, ift auch unver- 
ftändlid, fondern die Füße aufheben (1 Mof. 29,1), 
aber ohne zu; dagegen fehren zu. Oder: Ienfe deine 
Schritte. 
anheben mit et. — bat L., aber nicht in der Bibel. 
Dafür anheben mit acc. oder anfangen mit oder: 
erhebet (de Wette, Zür. B.) 
Befler: birgt, was ſich durch die leichte Änderung em- 
pfiehlt und durch die Rüdficht 3. B. auf Mendelsfohns 
berühmte Tonfegung des Pſalms. 


Die Lutheranität der Probebibel. 113 


[Palm 119. Warum nicht lieber: das güldene Alphabet? Luther 
redet vom ebreichen Alphabet. Zum Berjtändnis der 
Ueberſchrift ift nötig, wie de Wette und Zür. B. Die 
hebräiſchen Buchſtaben einzufeßen. | 

122,7. innerhalb — hat L. in der Bibel nicht. Das Wort 
it ahd. und mhd., Grimm, W. B. giebt einen Beleg von 
Zuther für die zeitliche Anwendung des Worts. Warum 
niht in deinen Mauern, wie de Wette, v. Meyer, 
Zür. B.? 

139,5. rüdwärts — hat 8. nidt,; dafür Var.: Hinten und 
vorne (jo Zür. B.) oder um und um (im Lied: um und 
an), oder allenthalben oder auf (nit von) allen Seiten. 

141,2. Warum fo unlutherifc geändert? vgl. v. Meyer, Stier. 
Händeaufheben hat Grimm, W. B. nicht, auch Händeaus- 
breiten nit, das wir 1 Kön. 8, 54. finden. Bar.: 
Meyn auffheben der Hende. 

141,7. wie wenn — |. 3. Siob 22, 17. 

Sprüche. 

11,30. gewinnen — 2%. braudt ein Herz gewinnen in 
anderem Sinn, vgl. Nehem. 3, 38. Warum nicht den 
Ihönen Ausdrud der Var. ganz aufnehmen: gewynnet 
eym das Her an. Angemwinnen iſt nur 1 Kön. 20, 23. 
erhalten, 4 Mof. 21, 26. und 2 Ehron. 13, 19. in abge: 
winnen geändert. 

13,15. jhafft — madt vol. Sir. 32, 14. oder nad der Var.: 
giebt ©. 

13,22. 19,14. vererben — ſ. 3. 1 Chron. 28, 8. Hier: ein 
Erbe laffen oder hinter fich Lafjen. 

16,4. Biel — ob bei &. = Zweck? Endziel iſt mh. — 
Zweck. 

17,9. aufrühren — hat L. nicht (vgl. Grimm, kurzgef. Geſch. 
©. 55. 43.) Warum nicht L. Randgloſſe benützen: wie— 
derholen, wieder anziehen, wieder regen? Luthers „euern“ 
ließe ſich auch leicht ändern in neuern, das er zu 1 Sam. 
2, 3. hat (E. A. 64, 47) oder erneuen, erneuern, das er 


oft hat. 
17,27. kalter Mut — hat L. nicht. Nach Grimm, W. B. 


Theol. Studien a. W. VII. Jahrg. 8 


114 Jehle 


s. v. fühl Sp. 2561, 3, b. jedenfalls fühl, weil ‚kalt 
jede Empfindung leugnet, die bei fühl noch vorhanden 
it, nur unbeherfcht durch die Dinge.” Dover: gelafjen, 
fanftmütig oder hält an fi (29, 11.). Var.: hält feinen 
Geiſt. 

19,16. Beſſer mit Zür. B.: auf ſeinen Weg. 

19,27. abirren — hat L. nicht; bei Grimm, W. B. kein alter 
Beleg. Irren genügt, vgl. 21, 16. Pſ. 119, 110. Jak. 
5, 19; oder ſich fernen (22, 5.) oder abgehen. 

21,5. emſig — hat L., aber nicht in der Bibel, doc vgl. Apg. 
26,7. emfiglid. Er giebt charuz fonjt mit fleißig 
(fo de Wette, Zür. B.). 

22,19. jem. an et. erinnern — "Hat L. nicht, fondern: erinnere 
ich dich folches oder des. 

23,3.6. feine Speife — hat 2. nicht, fondern niedlide 
Speife. Lederbiffen (de Wette, Zür. B.) iſt aud 
ein altes Wort. 

25,5. vor — ob lutheriich? Zür. B.: von des — An⸗ 
geſicht. 

26,10. Stümper — hat L. nicht. Zür. B.: Thoren * Land⸗ 
ſtreicher (ſchon altes Wort). Var.: eynen narren. 

26,27. zur ückkommen -- hat L. nicht, ſondern zurüdfallen 
oder azurüdfehren (Zür. B., Elberf. B.). 

27,9. ſich freuenan et. — hat 2. nicht, aber Freude haben 
an. Oder mit de Wette: erfreut, vgl. Pf. 104, 15. Sir. 
40, 20. oder mit der Zür. B.: macht fröhlich, vgl. 15,13. 
Pi. 65, 9. 

27,19. Sollte Shemen nicht erhalten bleiben, wie Pf. 39, 72.2 
Bol. E. M. Arndts Sterbelid: Geht nur hin und 
grabt mein Grab, V. 7. Es könnte in Klammer gejeßt 
werden — Spiegelbild. Die Anderung ift nad) der Var. 

28,8. fammeln für jem. — hat 2. nicht, jondern den Dativ, 
vgl. Sir. 14, 4.; fo auch Zür. B. 

28,27. Ob die Hnberung Iutherifch ift und nicht vielmehr Stiers 
Anderung? Bol. auch de Wette und Zür. B. Oder: den 

trreffen, über den fommen viel Flüche. 

29,8. inAufruhrbringen — hat 2. nicht, vgl. aber Sir. 7,7. ] 


29,15. 


30,8, 


30, 15. 


30, 23. 
30,31. 


31,6. 


31,25. 


31,25 


31,29. 


Die Lutheranität der Probebibel. 115 


jem. Shande machen — hat L. nicht, fondern Sc. 
anhängen, zufügen oder anlegen vol. Pf. 78, 66. Ser. 
23, 40. 2 Maff. 1, 28., freilih anderer Sinn. Ober 
Zür. B.: ift feiner Mutter eine Schande, val. 1 Mof. 
34, 14. oder Spr. 15, 20. 
beſcheiden — warum nicht ändern? (Vorbericht ©. 69). 
Schröder, Pfalmen beruft fih bei Pf. 146, 9. auf das 
Geſangbuchslied: Lobe den Herren, o meine Seele; jo 
fann man fich hier für befhieden auch auf Lieder be: 
rufen, 3. B. auf Ph.Fr. Hillers: Ach Gott des Himmels! 
lafje mir und allen auf der Erden den uns fo väterlich 
von dir befhiednen Teil ftetsS werden. 3. 2: wann 
du uns viel beſchieden. 
Blutegel — hat 2. nidt, bei Grimm, W. B., aud) 
fein alter Beleg, daher Blut in Klammer zu feßen. 
Berfhmähter — hat 2. nicht als Hauptwort. 
Windhund — hat 2. nidt. 
am Umfommen fein — hat 8. nidt, ſ. 3. 5 Mof. 
26, 5.; hier entweder nicht ändern wie Stier, oder: den 
Elenden, Kraftlofen, Verſchmachtenden. 
Gewand — braucht 2. nicht in diefer Verbindung, fon- 
dern (f. d. Var.) Kleid, vgl. V. 22. lebusch Pſ. 104, 2., 
fo aud) von Meyer, Stier. 
fommend — Luther: künftig, ugl. Mal. 3, 19. Pred. 
2, 16. 1 Mof. 49, 1., ebenfo Starfe, v. Meyer, Stier, 
Zür. B. 
ſich wader halten — hat 2. nicht; entweder mit von 
Meyer, Stier: tugendfam, was ja auch 12, 4. eingejeßt 
wurde, oder tüchtig, oder Tugend bemeifen. 

Prediger. 
für Gewinn — Eıir. 29, 7.: für einen Gewinn. 


. 4,8. 9,16. 10,3. Jeſ. 22, 11. Ser. 2, 35. 30, 7. Heſek. 


‚18, 25. 29. 33, 17. 20. Amos 4. und jonjt oft — warum 
das noch ändern, troß v. Meyer, Stier? Vorbericht ©. 
46 f. bezeichnet die Anderung als eine Überfegung der 
Lutherſprache in unjere Sprache, die zum Beiten des Volks 
gefchieht, aber man verjteht das „noch“ ganz gut. 

8* 


116 


1,14. 


[3,4. 


3,15. 


Seble 


Haſchen — hat X. nidt als Hauptwort, auh Grimm, 
MW. B nicht, und nur mit dem Accufativ, wie überhaupt 
in der alten Zeit. Es müßte alſo heißen: und Wind 
haſchen. Ebenfo 2, 11. 17. 26. 4,4.6. 6,9. Will man 
nicht mit v. Meyer, Stier fegen: Weide am Winde, jo 
etwa: leeres Bemühen, vergeblihe Mühe. 


. 2,12. Tollheit — hat 8. nidt, (doch nad Weigand 


ſchon alt); er giebt 10, 13. sikluth mit Narrheit, jo 
bier de Wette, v Meyer. Zür. B. bat: Thorheit und 
Unveritand. 

Mühe, mühen, bemühen um, aud 4, 16 — hat &. 
nicht, fondern mit. v. Meyer: Marter des Geiftes, oder 
Plage, Dual, Schwädhung des. Geiftes, des Gemüts. 
pflegen mit — hat 2. nit. Nach de Wette: meinen 
Leib beim Wein zu halten, oder nah Weish. 2, 7. füllen 
ft. pflegen. 

würde tanzen aus guten Gründen bejjer geändert in 
hüpfen nad 2,8. Randglojie]. 

bringt feinen Gewinn davon, vgl. Richt. 5, 19. 
auffuden, wieder aufſuchen — bat 2. nidt; 
warum nicht bloß: jucht? Oder: hervorbringen, hervor: 
führen, hervorrufen, hervorziehen. 

an fich felbjt — ob lutheriſch? Starke: fich ſelbſt ge: 
lajfen, vgl. Spr. 29, 15. de Wette überfeßt das lahäm 
gar nicht. 

Drei denn im Sa iſt des Guten doch zu viel (vgl. 
Grimm a. a. D. ©. 73); entweder mit v. Meyer, Stier 
je lafjen oder ganz ftreichen, nad) dem Grundtert. 

ed ift ein Gewinn für jem. — hat 2. nicht. Eher: 
immer hat's ein Land Geminn. 

beftimmt — braudt 2. nicht unperfönlid. Dafür: 
zuvor erjehen, verjehen, verordnet. 


. (1,15.) ſchlicht — iſt nicht — gerade. Jeſ. 27,1. Hat 


man gerade gejeßt (jo bier de Wette, Zür. B.); Sir. 
22, 21. 32,26. hat man in eben geändert, was aud 
font, 3. B. Jerem. 31, 9. zu jeten wäre. Das ſchlecht 
jollte auch geändert werden 4 Mof. 10, 3.4.7. 15, 31. 


7,21. 


1,26. 
8,1. 


8,10. 


9,17, 


Die Lutheranität der Probebibel. 117 


5 Moj. 23,2. In 4 Mof. 10, 7. haben die Var. bloß 
blajen. 

aht geben — hat 2. in der Randgloſſe zu Spr. 2, 2., 
ſonſt aht Haben, achten. 

des — iſt unlutherifch ; dafür: welcher, vgl. Mark. 7,25. 
Deutlicher: wer giebt oder verfteht der Dinge Deutung ? 
vgl. 1 Kor. 14, 11. 

hinwegwandeln — hat 2. nicht; fehlt auch bei 
Grimm, W. B. Dafür: hinweggehen (jo de Wette), vgl. 
Matt. 24, 1.; oder megziehen, vgl. 1 Maff. 7,19. oder 
fortziehen (jo Zür. B.), vgl. 1 Mof. 13, 3, 

Heren — die Formen Herrn, Herren werden genau 
zu vergleichen fein, vgl. z. B. Jeſ. 16,8. 19,4. 26, 13. 
34, 12. erem.2,31. 51, 23.28. Heſek. 23, 23. Matth. 
15, 27. Luk. 19, 33. 22, 25. Apg. 16, 16. 19. 30. 
Pialm 4,3. 123,2. 2 Kor. 1,24. Eph.6,5.9. 1 Kor. 
8,5. 1 Tim. 6,1. f. 15. Offb. 19, 16. mit a: 2,2 
49,3. Jerem. 51, 57. u.a. Nah Grimm, W. B. s. 
v. Herr Sp. 1131, 6. hat 2. Herren, 2 Kor. 1,24. Die 


Probebibel hat Matth. 6, 24. (Luf. 16,13.) Herren, wo 


9,17. 
10,1. 
10,4, 


10,5. 
10,5. 


10,19, 


10,19. 


10,20. 


Die 3. v. dienen Herrn hat, Grimm, W. B. s. v. dienen 
Herren. 

vernommen werden — hat 2. nicht (paffiv), dafür: 
die man vernimmt. 

ſchwer wägen — hat L. nicht, fondern ſchwer fein, 
vgl. Spr. 27, 3. 

ergehen wider — hat 2. nit; er würde fagen: dich 
angehet. Oder: fich erhebt, fo de Wette, Zür. B, 
Gleih als ein Verſehen? 

Ob: Verfehen geht aus — lutheriſch ift? Zür. B.: hers 
fommt. 

Mahlzeiten — Mehrzahl hat 2. nicht, auch Grimm, 
W. B. feinen Beleg außer Wieland, 

um zu laden — warum nicht zum Laden oder bloß: 
zu lachen, wie die Bar. hat ? 

fortführen — hat. nicht ; au Grimm, W. B. hat feinen 
alten Beleg. 2. hat von dannen führen, von dannen tragen. 


118 


12, 5. 


1,3. 


1,8. 


1,11. 


Jehle 


Klagleute — hat L. nicht, Grimm hat Klageleute, 
mhd. L. hat Klageweiber oder die Totenklage oder die 
Klagenden (ſo de Wette, Zür. B.) 

Hohes Lied. 
köſtlich riechen — hat L. nicht, ſondern wohl riechen, 
vgl. Sir. 39, 18 (er hat köſtliche Salbe), oder mit Stier, 
nach 4, 10.: Der Geruch deiner Salben iſt lieblich. 
Zicklein — hat L. nicht, (doch nach Weigand ſchon alt), 
ſondern junge Ziegen. Zür. B.: Böcklein, leichtere An— 
derung. 
Pünktlein, Punkt — hat L. nicht; Punkt nah Wer: 
gand ſchon alt. Man könnte Höder jegen oder Kügelein 
(ihon mhd.) oder Spitzen. 


1,14. 4,14. Cyperblume — hat 2. nicht; leichtere Änderung 


nad de Wette: Rophertraube. 


2,13. 15. Blüten gewinnen — hat 2. nit, doch vgl. 2 Mof. 


3,10. 


4,1. 


. 9,31. Matth. 24, 32. Auch Hat 2. nur die Einzahl 


Blüte Zür. B.: blühen; de Wette: in der Blüte fein, 
vgl. Hiob 8, 12. oder voller Blüte ftehen (vgl. Dieb). 
auszieren, ausgeziert — hat %. nicht; dagegen: Sp 


iſt nu die Erde ausgefhmüdet. Vgl. dazu die Lieder von P. 


Gerhard: Geh aus mein Herz .... mie fie mir und dir 
fih ausgefhmüdet haben. Ach bin ein Gaft .. V 
10.: Die mit Kronen du . ausgefhmüdet haft. 
Bon E. 3. v. Schwarzburg.Pudoljtadt: Wer weiß, mie 
nahe ꝛc. V. 10.: Mit Jeſu Gnaden ausgeſchmückt. 

gelagert jein — hat L. nicht, ſondern tranfitiv oder 


ſich lagern, jo de Wette, Zür. B. 


4,1. 6,4. Statt am Berge herab eher vom Berge herab 


5,4. 


5,4. 


5,6. 


(Stier) oder am Berge (de Wette u. a.). 

Riegelloch — hat L. nit. Dafür: Fenfter (de Wette, 
Stier) oder Öffnung (2), Zür. B. 

Innerſtes — hat L. nicht als Hauptwort, auch bei 
Grimm, W. B. fein alter Beleg. L. giebt möim Pf. 
40, 9. el. 16, 11. mit Herz, fo hier de Wette, 
außer jih fein — hat L. nicht (Dies hat nicht ‚einmal 
außer) Grimm, W. B. s. v. aus Sp. 822, 5: „Statt 


nd 


1,12. 


1,13. 


1,13. 


2,22, 


Die Lutheranität der Probebibel. 119 


deö heutigen von fi, von ſich ſelbſt fommen, außer ſich 
fein, fommen — verwandte man ehmals blofes aus.“ 
Zür. B.: mein Herz mar bewegt. Oder: ich fam, war 
von Sinnen, vgl. Marf. 3, 21. (2. und Probebibel). 2. 
hat: die Seele geht aus, vgl. 1 Mof. 35, 18. 
Baljamfräuter — hat 8. nit. Entweder Balſam 
in Klammer oder mwohlriechende Kräuter, vgl. Bar. 5, 8. 


. 7,12. ſproſſen — hat 2. nicht (Zeitwort); 4 Moſ. 17, 


5.8. parach grünen, fo v. Meyer oder ausfchlagen (Stier, 
Zür. 3.) Weinftod blühen, Granatbäume ausfchlagen, fo 
Luther 7, 12. 

Wuchs — hat 8. nit (it neuere Wort). Dafür: 
Geſtalt. 


Statt reden macht nad) Weish. 10, 21.: beredt macht, 


vgl. v. Meyer, Stier; oder hat L. reden machen? 
das Berlangen ſteht nad jem. — hat 2. nicht, 
jondern ıjt, vgl. Probebibel 1 Mof. 3, 16. oder er hat 
Berl. (fo Zür. B.), vgl. Vrobeb. 1 Mof. 4,7. 
Blüten — ſ. 3. 2,13. 

mir — ob lutheriſch? Zür. B.: D daß du gleich wäreſt 
wie mein Bruder. 


III. 


Jeſaia. 
mögen — hat 2. gewöhnlich mit Genetiv, doch in der 
Variante zu Pf. 101, 5. aud mit dem Akkuſ. Grimm, 
W. B. bemerkt aber dazu (s. v. mögen Sp. 2462, 8.b.): 
„gewiß der täglichen Rede von lange her eigen, von der 
gewählten bis jest vermieden“ Man Fönnte 
auch nad Stier fegen: mag ich nicht ertragen, vol. Spr. 
20, 21. Serem. 10, 10. 
Feltfeier — hat 2. nit. L. giebt azarah mit Ver— 
jammlung 5 Mof. 17, 8. Amos 5, 215 mit Feit 
2 Kön. 10, 20. 
für was ift er zu achten — ob lutherifh? de Wette, 
Stier, Zür. B.: geachtet. Warum nicht Var.: wo für 
wird er gehalten ? 


120 Sehle 


3,9. Hehl — vgl. Fütting, bibl. Wörterbud. Sir. 8, 21. 
wurde dad Mort ganz ausgemerzt. Grimm, W. B. s. v. 
Hehl Sp. 786: „dem unperſönlichen Gebrauch jteht für 
die neuere Zeit als gewöhnlicher die perfönliche Fügung 
ih habe einer Sache oder ih habe es nicht Hehl 
gegenüber, eine Fügung, für die es fchon frühe Beifpiele 
giebt.“ Aber nicht bei Luther. Könnte man nicht feben: 
Ihr Wejen haben fie nicht hehl oder hehlen fie nicht ? 

5,1. Geliebter — warum nicht Freund, wie de Wette, Stier ? 
dod überfegt Luther oft mit Freund (ungezählte 
Male im hohen Lied), nie mit Beliebter; aud das 
agapetos der LXX Freund 3. B. Pf. 68, 13. 108, 7. 

6,13. Fällen — hat 8. nit als Hauptmwort, aber Fallen 
(doch nicht in der Bibel. Zür. B.: wenn man fie fällt. 

9,3. L. hat: einem große Freude machen, vgl. Nehem. 12,43. 
Apg. 15, 3. 

11,3. Wohlgeruch — hat 2. nicht, fonjt würde er es 3, 24. 
gejegt haben. Man wird nad Gefen. überfegen müfjen : 
er wird Wohlgefallen haben an .... oder aud nad) Spr. 
11,1. Wohlgefallen jtatt Mohlgerud. 

11,4. 2. bat: Urteil fällen über, dagegen Urteil fprechen 

| einem. 

11,4, recht jtatt richtig. 

11,5. Die Gurt — ſ. 3. 2 Mof. 28, 8. 

11,15. Deutlicher: zerfchlagen ftatt ſchlagen, vgl. Klagel. 3,16. 
oder: zerteilen in... .. Heſek. 37, 22. 3 Mof. 2, 6. 

13,2. einem zurufen — fcheint L. nicht zu haben; 1 Sam. 
17,8. gehört zu wohl zum Folgenden, (vgl. Apg. 12,22.) 
Nah 2 Chron. 32, 18.: ruft laut zu ihnen oder de Wette: 
rufet ihnen laut, mit lauter Stimme, oder: rufet fie her— 
zu, vgl. Apg. 2, 39. 

13,21. Wüftentiere — hat L. nicht, warum nit Tiere Der 
Wüſte, wie v. Gerlah hat, oder Feldtiere, wie 
Serem. 12, 9. 

14,14, fernfter — hat 8%. nit; doch in einer Predigt: am 
ferniften. Dagegen: hinterſter (jo v. Meyer, Stier) oder 
äußerfter (fo de Wette, Zür. B.). | 

* sa 


16,4. 


16,14. 
18,4. 


18,4. 


19,10. 


19,13. 


19,13. 


19,15. 


20,4. 


20,6. 


21,13. 


23,5. 


23,10. 


Die Lutheranität der Probebibel. 121 


ift das für zu tilgen, vgl. Weish. 10, 17. (ebenjo de 
Wette, Zür. B.). 

bei all — ob lutheriſch? Zür. B.: famt feiner großen. 
helle Hitze — hat 8. nicht; auch bei Grimm, W. B- 
fein Beleg. Auch hat &. Sonnenſchein nidt als ein 
Wort, vgl. Jeſ. 30, 26; alfo zu trennen, oder: um Mit: 
tage (v. Meyer) oder am hohen Tage (Serem. 15, 9.). 
Alfo: wie bei der Sonne Hite (Meish. 2, 4.) am Mittage. 
Taugemwölf — hat L. nicht, aber Taumolfe (fo von 
Meyer, Stier, Zür. B.) vol. Hof. 6,4. (Luther), Man 
müßte ſetzen: wie unter einer Taumolfe...., wenn man 
nicht mit andern Auslegern überjegt: mie die Hibe.... 
die oder eine Taumolfe. 

arbeiten um etwas — hat L. nicht, aber lehren um 
Lohn, vol. Mid. 3,11. Auch bei Grimm, W. B. fein 
alter Beleg. 

Eckſtein — hat 8. in der Mehrzahl, aber nicht in der 
Bibel. 

deiner — e8 muß jeiner heißen, auch bei Riehm, 
Anhang zum 1. B. Moſ. falſch. 

aus richten — marum nicht auch im Deutjchen das 
Wortipiel? vgl. Joh. 6, 28. 9, 4. 

ſchmählich — hat L. nicht adjektiviſch (überhaupt nur 
Hiob 16, 10.); er gebraucht in diefem Sinn ſchändlich, 
vgl. auch Dffb. 3,18. Man muß dann freilich ftatt zu 
Schanden mit der Zür. B. fegen: zur Schmad, mas 
L. oft hat. 

Küfte — hat 2. nit; nad Grimm, W. B. erft feit dem 
17. Sahrh. Alfo: die Einwohner hier am Meer oder am 
Ufer des Meeres (vgl. Heſek. 25, 16.). 

Reiſezüge — ſ. 3. Hiob 6, 18. 

Kunde — hat 2. nicht, fondern Gerücht. Nach Grimm, 
W. DB. das mhd. Künde — Kenntnis ganz ausgeftorben, 
im 16. Jahrh. verdrängt und vertreten hauptfächlich durch 
Kundſchaft. Erit am Ende des 17. Jahrh. taucht auf 
Kunde. 

Gurt — ſ. 3. 11,5. 


28,4. 


28,6. 


28,7. 


28,21. 


29, 6. 


30,15. 


30,33. 


32,2, 


Sehle 


.immerfort — ſ. 3. 2 Chron. 36, 15. 

. Hängebette — hat L. nicht; bei Grimm, W. B. nur 
ein ſcherzhafter Beleg — Galgen; dagegen Hänge— 
matte ſeit dem Ende des 17. Jahrh. Etwa: hangend 
Bette, vgl. Pſ. 62, 4. 

Siegsgeſang — hat L. nicht, man wird Freuden— 
geſang oder Freudengeſchrei wählen müſſen. 


. verödet — hat L. nicht, aber oft öde, oder leichtere 


Anderung verftört (Zür. B.), vgl. Dan. 2, 5. 
Frühfeige — hat L. nidt; bei Grimm, W. B. fein 
Beleg dafür, aber auf Hof. 9, 10. verwieſen, wo %. Die 
erite Feige hat, oder eine reife Feige (Nah. 3, 12.) oder die 
erite veife Feige (Serem. 24, 2.). Durch vor dem Som— 
mer tit die Frühreife Schon angedeutet. 

aus der Hand — ob bei L. in diefer Bedeutung ? 
Grimm, W. B. s. v. eſſen Sp. 1163, 2.: „man jagte 
fonft: ab der Hand efjen, vesci ex manu, Maaler 
121b, heute: au3 der Hand.“ 

zurüdtreiben — hat 2. nur von den Örenzen; dagegen 
die Waffen zurüdmwenden oder zurüdfehren. 

wanfen von — hat 2. nicht, daher taumeln zu be- 
lajjen und am Schluß: ftraucheln (v. Meyer) beim Urteil. 
fremde Weiſe — ift etwas fremd. Deutlicher: unge- 
wöhnliche (Meish. 14, 23. Luther), unerhörte, wunderliche, 
jeltfame, fonderliche Weiſe. 

Heimjuhung gefhehen — hat 2%. nit, vollends 
ohne Artikel. Auch bei Grimm, W. B. fein Beleg. Da: 
für: wird ein Tag, eine Zeit der Heimſuchung kommen; 
oder mit der Zür. B. näher bei Luther: fie werden vom 
Heren Zebaoth heimgefucht werden. 

umkehrtet — e3 wird in diefem Sinn heißen An: 
euch umkehrtet oder befehrtet. 

Sceiterhaufen — hat L. nit, doh Scheit, vol. 
Klagel. 4, 8. (Zür. B.: Holzftoß). Nah. Weigand bei 
Hulfius um 1600. 

ihrer jeder — hat 2. nicht, Elingt auch hart (Hopf a. 
a. D. ©. 287: Luther fah darauf, daß nicht auffallende 


48,19. 


Die Lutheranität der Probebibel. 123 


Laute zu nahe an einander fämen). Dafür: ein jeder 
(Zür. B.) oder ein jeglicher (de Wette). 

Reihtum an — hat 2. nicht, aber reich werden an. 
Beier (de Wette, Zür. B.): Fülle des Heils, der Weis: 
heit und Klugheit (vgl. Röm. 5, 17.). 

die Furdt (Zür. B.). 


. ſ. Grimm, W. B. s. v. feiern Sp. 1437). 
. Natter — hat 2. nicht, fondern Otter; doch iſt das 


Wort ſchon alt, ahd. und mhd. Man könnte auch bloß 
Schlange fegen. de Wette, Zür. B. u. a. haben das be: 
jtimmte Pfeilſchlange. 

. ſ. 3. 2 Kön. 19,23. 

. ftarf werden — deutlicher: gefund werden oder genejen, 
oder: haft mich geſtärkt. 

ihlidt — ſ. 3. Pred. 7, 13. 

Grenzen (der Welt) — ob gut deutih? Gegen was iſt 
fie abgegrenzt? de Wette, Zür. B.: Säume, v. Meyer: 
äußerite Orte. 

ermatten — hat 2, nit, auch bei Grimm, W. B. fein 
alter Beleg. Zür. B.: er wird nicht müde noch matt 
werden. Oder: er wird nicht matt noch zaghaft, verzagt 
werden, vgl. Jeſ. 40, 28. 37, 27. Judith 9, 6. 

von der Mutter ber — ob lutheriſch? 2. Hat von 
Kind auf, von Jugend auf, vgl. Grimm, W. B. s. v. 
Kind, Sp. 715, 5. a. und s. v. Kindesbein, 3.5. v. u.) 
Schleppe — hat 2. nicht, fondern Säume oder Ge— 
bräme. Nach Weigand 1475 cleviſch der sleyp — Schwanz 
am Kleide. 

hebe — hebe auf, wie de Wette, Zür. B., vgl. 1 Mof. 
29,1. 


. ausgejpannet — Luthers umſpannet ijt wohl nad) 


40, 12. zu erklären — mit der Spanne gefaßt, gemeſſen. 
Dill man diefen Ausdrud nicht einjeten, fo bietet Jeſ. 
40, 22. die andern: den Himmel ausdehnen, ausbreiten 
(de Wette). 

Körner — hat 2. nidt; nah Grimm, W. B. sv 
Korn, Sp. 1813, I, g. laütete der Plural im 15. 





124 


51,14. 


57,11. 


59,13. 


60,4. 


60,17. 


63,5. 


64,4, 


Seble 


Jahrh. auh Korn und fam erjt im 16. Jahrh. Körner 
auf; daher beffer mit Stier (Zür. B.) Körnlein, was 
L. vom Sand (Sir. 18, 8.) und in der Mehrzahl Hat 
(Amos 9, 9. Luther). 

Bewahrete — hat X. nidt, dafür: Errettete, vgl. 
ef. 37, 31. f. 

im Nu — nad Grimm, W. B. s. v. Nun, Sp. 994,2. 
ec, y muß e8 heißen: in einem Nu. Oder wörtlich mit 
de Mette, Zür. B. nah 2 Mof. 8, 17. f.: wie Müden 
oder flugs (Del. 28, 4.) oder nad der Bar.: wie ein 
Nichts, oder wie nichts (vgl. Hiob 3, 16. Luther, Bi. 
39,6. 62,10. 144,4. ef. 41, 11. f. Ierem. 10,15. 
Heſek 26, 21., Dan. 9, 26., Amos 6, 13; ſ. 3. Hiob 6,21); 
oder plößlich in einem Augenblid (1 Kor. 15, 52). 
hinſterben — hat 2. in der Bibel nur. 2 Makk. 5,10. 
in etwas andrem Sinn und ohne Beifat. Warum nicht 
feine gewöhnliche Formel: in die Grube fahren oder hin: 
unter in die Gr. f.? vgl. Spr. 1, 12. 

in Sorge vor et. fein — hat 8. nidt. Dafür: vor 
wem bejorgft du dih? vgl. 2 Makk. 9, 29. 

Trahten und Dichten falſcher Worte — ob 
deutih? Beſſer mit v. Meyer, Stier u. a.: Empfangen 
oder Ausheden und Ausſprechen falſcher W. 

auf dem Arm tragen — hat %.'nicht, fondern in 
dem Arm, vgl. 49,22. 4 Mof. 11, 12., doch vgl. Grimm, 
W. B. s. v. Arm, Sp. 552, 3. 9 ff. v. u. 

die Plurale Vorſteher, Vögte paſſen nicht zu den 
Singularen Friede, Gerechtigkeit. Dafür: Obrig- 
feit (de Wette. Zür. B.) und Herrſchaft, die Luther 
ja auch perfönlich braucht, oder: zu deinem Vorſteher den 
Fr. machen und zu deiner Pflegerin die Ger. 
verwundert fein — hat 2. nicht, fondern nur fid 
verwundern, vgl. 59, 16., ebenfalld hischthomem, was 
L. oft mit fi entjegen giebt, fo hier Zür. 8. 
gefehen außer dir einen Gott —? Entweder: 
gefehen nah Gott, oder: feinen Gott, feinen andern 
Gott. Die Zür. B. hat eine andere Auslegung, die der 





65,5. 


66,12. 


1,17, 


2,8. 


Die Lutheranität der PBrobebibel. 125 


Beachtung wert wäre, weil fie bei X. bleibt: fein Auge 
hat es gefehen, außer dir allein, o Gott, was du denen 
thuft, Die auf dich harren. 
für did heilig — L. hat gewöhnlich den Dativ, vol. 
2 Kor. 5, 13., ebenfo de Wette, Zür. B., oder v. Meyer: 
dir zu heilig. 
auf dem Arme — f. 3. 60,4. 

| Jeremia. 
jem. erſchrecken vor jem. — hat L. nicht; auch 
Grimm, W 8. fein Beleg; iſt auch trotz v. Meyer, 
Stier u. a. nicht einfach genug. Mit Luther: Zage nicht 
vor ihnen (2 Chron. 20, 15.), auf daß ich dich nicht ver- 
jagt made vor ihnen (Serem. 49, 37). So de Wette. 
Das Gefeß treiben — hat 8. nidt. Man könnte 
den Ausdrud nad) Eph. 6, 15. gelten laſſen, wenn er nicht 
Spr. 28, 18. den andern bieten würde: das Geſetz hand: 
haben (de Wette: Handhaber), oder umgehen mit (Zür. 
B.). Will man mit Luther lauter Hauptwörter, jo bietet 
jih der Ausdrud: Pfleger des G., nah Gef. 60, 17. 
(Luther) und Ebr. 8, 2. 
verfündigen in — fest L. bei Ländern 3. B. V. 5. 
46, 14. (31,10). Dagegen bei Städten: verf. zu, val. 
50, 28. Mid. 1,10. 
Mürger — hat &. nicht, (nad) Weigand 1470 mitteld. 
der wurger), vgl. die Umfchreibung Ebr. 11, 28.; dagegen 
für horeg Hefef. 21, 16. 28,9. Totſchläger. Oder mit 
de Wette, Zür. B.: Mörder, oder Schläcdhter (46, 20.), 
Rächer, Rachſchwert, Würgefchwert. 
alles vollauf, nad) Hefe. 16, 49. 
einen Wall aufmwerfen — hat L. nit; man könnte 
fih auf Hefef. 17, 17. (Luther) berufen, aber X. bietet: 
einen Wal fchütten oder aufführen um eine Stadt. 
Himmelskönigin — 2. hat in den Var.: der Himel 
fönigin. 
umkommen laffen — hat 2%. nicht, dafür: daß wir 
dafelbjt untergehen. Denn der Herr... . wird und unter: 
gehen lafjen, vgl. Amos 8,9. 


126 Sehle 


8,15. warum nicht hoffeten und Schadens, mie 14, 19.? 
8,18. mein Herz in mir tft franf —? Mein Herz iſt (in) 
mir frank oder: ift frank in mir, vgl. Pſ. 109, 22. 143,4. 

10,17. Kram — hat 8. in der Bibel nicht, doch vgl. Grimm, 
W. B. s. v. Kram, Sp. 1990, ce. Oder: Habe (Zür. B.), 
Geräte (MWandergeräte), Gerätlein (Randgloſſe zu Apg. 
21, 15.), Bünblein. 

10,17. wegthun — dafür eines der andern Zutherwörter: bin: 
den, zufammenbinden, zufammenbringen (de Wette), zu: 
Jammenraffen, zufammenftoppeln, jammeln (Zür. B.). 

12,2. nad Röm. 10, 8.: nahe bift du, nämlid in ihrem M. 

13,22. jem. Gewalt tbun — hat X. oft, aber nur von Per: 
fonen. Beſſer: Gewalt gefchehen (Hiob 35, 9. Luther) 
oder: haben deine Ferſen Gewalt gelitten, erlitten (Bi. 
146, 7., Hof. 5, 11.; 2 Makk. 10, 12.). 

13,27. endlid — braudt 8. nur im Sinn von zulegt (und 

-endgiltig). Dafür 1 Kor. 15, 34.: doch einmal. 

15,15. mein — meiner, vgl. Pf. 142,4. Die vielen einfilbigen 
Wörter dürfen wohl durch ein zweifilbiges unterbrochen 
werden. (2. meidet nah der Vorfhrift Duinktiliang die 
Häufung einjilbiger Wörter, Hopf a. a. D. ©. 287). 
Wesel, die Sprache Luthers in feiner Bibelüberfegung 
©. 89 unridtig, 2 habe nie meiner. 

15,17. Mit Grimm füllen — bat L. nidt, doh mag Bi. 
90, 14. verglichen werden. Der Sinn wird der von 6,1. 
jein, das als Parallelftelle zur Erklärung beigejegt fein 
ſollte. 

17,7. dem — ob lutheriſch und deutſch? Beſſer v. Meyer, Stier: 
deß, vgl. Pſ. 38, 12. oder: deſſen Zuverſicht der Herr iſt, 
vgl. Bi. 65, 6. 

21,5. Entrüftung — hat 2. nidt; bei Grimm, W. B. fein 
Beleg. Wenn Unbarmherzigkeit nicht beliebt, warum 
nit nah 5 Mof. 29, 28. ändern, wo fih im Grundtert 
ganz derjelbe Sat findet, alfo: Ungnade, oder Unmut, 
Unmillen. 

25,32. fernfter — ſ. 3. def. 14,14. | 

31,18, ungebändigt — bat L. nicht, fondern unbändig, 


ch 


31,21. 


31,36. 
32,37. 


33,6. 


34,5. 


36, 26. 


36, 32. 


37,12. 


Die Lutheranität der Probebibel. 127 


Spr. 7,11., vgl. Randgloffe zu Pred. 10, 9. (Bindfeil 
VIL, 515). Wird diefer Ausdrud nicht beliebt, jo kann 
man nad Sof. 10, 11. (vgl. Jerem. 13, 21.) ganz dem - 
lo lumad entfprechend feten: ein Kalb, das nicht gemöhnet 
it; "oder nad) dem entjprechenden griech. Ausdrud Sir. 
30, 8. wild oder mutwillig (ebd.), oder übermütig (Ser. 
48, 29.) oder jtörrig (1 Mof. 49, 7.). 

Die Anderung it nad den Bar. Man könnte näher beim 
Tert bleiben, indem man nur Grab und Trauer ftreidt: 
richte Dir Zeichen auf, jege dir Male (oder Dentmale). 
Warum ändern ? 

Entrüjftung — ſ. 3. 21,5. 

einem et. gewähren — hat L. nidt, vol Pi. 20, 6. 
Jeſ. 33,6. Tob. 7, 10. Erjcheint das einfahe geben, 
das %, in diefer Verbindung oft hat (3. B. 1 Mof. 27, 28. 
2 Mof. 16, 8. Hiob 36, 31. Weish 11, 7.) oder ſchicken 
Joel 2,19) zu matt, fo bleibe man beim hebr. Wort 
„offenbaren“ (Pf. 98, 2.) oder noch bejjer de Wette: er: 
öffnen (1 Sam, 22, 17.). 

einen Brand anzünden — hat %. nicht, jondern 
einen Brand machen, (ebenfo de Wette, Zür. B.), was ja 
von 2 Chron. 21,19. ganz wohl hieher übertragen wer- 
ven fann. Man könnte eben nad) diefer Stelle (vgl. die 
Bemerkung dazu) hier näher bei L. bleiben: wie über 
deine Väter, die vorigen Könige, jo vor Dir geweſen jind, 
jo wird man auch über dich einen Brand machen. 
Königsfohn (Königstochter) hat L. nicht; allerdings 
(beides) ſchon mhd. Könnte man nicht dafür fegen: aus 
föniglidem Stamm (41, 1.), vom föniglihen Stamm 
(Dan. 1, 3.), vom königlichen Gejchlecht, von königlichem 
Samen (1 Kön. 11,14.), von dem Föniglichen Samen 
(Hefe. 17, 13.) ? 

hinzuthun — hat L. nur von Menſchen; dagegen bietet 
ſich aus Spr. 25, 1. das ganz entſprechende hinzuſetzen 
oder bloß thun (Spr. 30, 6. vol. 5 Moſ. 4, 2., 12, 32.) 
oder Dazu ſetzen (1 Maff. 8, 30. Offb. 22, 18.). 

in Befit nehmen — bat 2. nicht, ſondern bejeßen, 


128 Jehle 


oder einnehmen, vgl. dafür ganz bezeichnend 1 Kön. 
21, 15. f. 18. f. 

38,6. Königsſohn — |. 3. 36, 26. 

39,4. durchs Blachfeld, val. Heſek. 47, 8. 

39,9. f. Hauptmann der Trabanten — 2%. hat nur der 

| Oberfte der Trabanten, vgl. 2 Chron. 12,10. Rab giebt 
2, 41,1. Oberjter. So de Wette, Zür. B. 

41,10. 43,6. Königstöchter — ſ. 3. 36, 26. 

43,13. Götzentempel — hat L., da aber die Mehrzahl nicht 
vorkommt, wird es ficherer fein, nad) Bar. 6, 18. zu ſetzen: 
Der Götzen Tempel, 

44,17.—19. 25. HSimmelsfönigin — ſ. 3. 7,18. 

44,19. jih befümmern um etwas — hat 2. nur im Sinn 
von Kummer haben, 3. B. 1 Sam. 9, 20., aber 
nit annehmen ; in diefem Sinn: mit etwas befümmern. 
Man wird daher nad 15, 15. (Luther) jegen müſſen: 
auf daß fie fih unfer annehme; vol. auch Randglofje: 
daß fie fich vnſer her&lich anneme, als umb unjer grofjen 
Not willen befümmert. 

45,3. hinzufügen — hat 2. nicht, auch bei Grimm, W. B. 
fein alter Beleg. Beſſer de Wette, v. Meyer, Stier bloß: 
fügen, ober nad Offb. 22, 18. hinzufegen, oder: 
noch Jammer zu meinem Schmerzen zugefügt. 

46,22. Davon ſchleichen — hat 2. nidt; bei Grimm, W. 
B. s. v. davon Sp. 867. Beleg aus dem 17. Jahrh. 
Dafür: von dannen fchleihen, fi von dannen machen 
(Jeſ. 49, 17), davongehen, fi) davonheben, davonlaufen, 
ſich wegſtehlen. 

48,34. Warum ändern? vgl. Jeſ. 15, 5. Oder wer ſoll das 
dritte Eglath verftehen? Man müßte mit de Wette, 
v. Meyer: Eglath-Scheliſchija ſetzen. 

48,36. In Jeſ. 16, 11. ift das brummen nicht geändert, vol. 
Jeſ. 59, 11. hamah, 

48,36. Flöte — hat 2. nicht, aber Fleutlein, Fleutenwerf; das 
Wort it mhd. Will man den Sat ef. 16, 11. nicht 
geradezu aufnehmen, jo wird man chalil nach ver 
fonftigen Überjegung Luthers geben müſſen: Bfeife, vgl. ' 





Die Lutheranität der Probebibel. 129 


1 Sam. 10,5. 1 Kön. 1,40. ef. 5, 12. 30,29. Dann 
paßt freilid jeufzen nidht mehr. Dafür mit Stier 
tönen, mie 2%. das verwandte hum Mid. 2, 12. 
überjegt, oder nach V. 31: klagen über (fo de Wette, Zür. 
B.) Die Pfeifer Mark. 9, 23. werden auch geklagt, 
Trauermufif gemacht haben. 

48,36. zu Grunde gehen — hat 2%. in der Bibel nur von 
Verjonen. Warum nicht laffen: zu Boden gehen, wie 
Meish. 4, 19. Tob. 14,6. Sir. 11,6. 16,8. 40, 14.? 
Dder: ift verloren, vgl. V. 46. 51, 58., oder noch befjer: 
ift untergegangen, Sir. 40, 11. (auch vom Gut). 

49,10. verborgene Orte — hat 2. nicht, aber für misthar 
in Bj 17,12. Höhle, das ala Bezeichnung der Schlupf: 
winkel auch hier paßt. 

49,19. erwählt jein — hat 2. nit; dafür das Ddichterifchere 
auserforen fein, Hohl. 5, 10. Sir. 47,2. 49,9.; 
oder auserwählt fein, 1 Theſſ. 1, 4. 

49,19. jeßen — befler das mehrdeutige beitellen (Zür. B.), 
vgl. 22,7. 

49,20. fortſchleifen — hat L. nicht; bei Grimm, W. B. ohne 
Beleg. Entweder nah 22, 19. zerjchleifen, oder nad 
2 Sam. 17,13. aus dem jonftigen luth. Sprachſchatz: 
zu Boden reißen, hinreißen, niederreißen, mwegreißen, weg— 
treiben u a. 

49,28. Kinder des Morgenlandes — hat 2. nit; man 
wird bei Hiob 1,3. 1 Kön. 4, 30. bleiben müfjen: ver: 
ftöret Die, jo gegen Morgen wohnen. 

50,39. Wüſtentiere — ſ. 3. Jeſ. 13, 21. 

50,41. von den Enden der Erde — hat 2. nicht, doch von 
den Enden, Heſek. 38,15. Man wird mit v. Meyer 
bet dem Iutherifhen vom Ende der Erde bleiben 
müfjen (vgl. Jeſ. 24, 16.), troß der Mehrzahl der Könige. 

50,44. erwählt fein, ſetzen — ſ. 3. 49, 19. 

50,45. fortſchleifen — ſ. 3. 49, 20. 

51,55. Toben — nad Heſek. 1, 24. beſſer: Getöne, als Erjat 
für den verloren gegangenen Anlaut Gejdhrei. 

51,64. ſoweit — hat bei 2, doch eine andere Bedeutung; eher 


Theol. Studien a. W. VII. Jahrg. 9 


un 


fein häufiges: bis hieher (Zür. B.). Oder mit v. Meyer, 
Stier u. a.: fomweit die Neden Jeremias. Oder mit Nüd- 
fiht auf K. 52: fomweit die Weisſagungen Jeremias (be 
Wette). Oder nah Pf. 72, 20. in Klammer: (Ein Ende 
haben die Reden Neremias, hat was Jeremia geredet hat). 

52,7. binausziehen auf einem Weg — hat 8. nidt. 
Wenn je geändert werden fol, it nad 2 Makk. 10, 27. 
zu jeten: den Weg. (2 Kön. 25, 4. heißt es: fliehen 
auf, was mit of. 8, 15. belegt werden kann). 

52,7. der z. G. d. 8. gehet — f. 3.2 Kön. 25, 4. 

52,8. durchs bladhe Feld — ſ. 3. 39,4. (2 Kön. 25, 4. 
heißt es: zum bl. F.). 

52,22. f. Gitterwerf — ſ. 3. 1 Kön. 7, 17. 

52,25. zum Heer aufbieten — ſ. 3. 2 Kön. 25, 19. 

Klagelieder. 

1,2. einem untreu werden — hat X. nicht. Entweder ein- 
fa das ihr zu ftreichen, vol. 2 Makk. 14,26. 1 Maft. 
16, 17. untreu werden, Untreue thun, ohne Beifaß; oder 
einem Untreue erzeigen, bemweifen, 1 Mof. 21, 23. 1 Maft. 
11,53. 7, 14; oder Untreue treiben wider, üben gegen, 
1 Makk. 5, 4. 10, 46; oder: von ihr abtrünnig (Zür. B.). 

1,8. ſich abwenden — 8. bat immer die nähere Beſtimm— 
ung von was. Dafür: fi) mwegwenden, vgl. 4 Mof. 
12, 9; oder, am nädjten bei %.: ſich zurüdınenden 

.- (8ür. 8). 

4,15. umberirren — hat. nit; das her müßte jedenfalls 
bei um jtehen. Er hat für nua vielerlei Ausdrüde ; 
man wird fi hier an Pf. 109, 10. halten fönnen: in 
der Irre gehen, oder umberlaufen. 

[5,14. |. Grimm, W. B. s, v. feiern Sp. 1437.] 

Heſekiel. 

1,5. anzuſehen gleich wie — hat 2. 10, 9., aber 68 
fragt fih, ob das gleihmwie auch ftehen würde, wenn 
fein Artikel nachfolgt. Es wird daher jicherer fein, ent: 
weder das gleich zu jtreihen nad 1, 13. 15. 4 Mof. 
11, 7. Richt. 13, 6., oder das gleich vorauszuftellen, 
wie 10, 1. 23, 10. Offenb. 4, 3. 





130 Sehle 


1,1: 


1.7. 


1,18. 


3,13. 


3,25. 


4,2. 


Die Lutheranität der PBrobebibel. 131 


NRinderfüße — 8%. hat feine Zufammenfegung mit 
Rind War.: gleich wie ochjen füfje. 

glinzen — wird nicht belafjen werden fünnen, es müßte 
im Regiſter erklärt werden, oder vielmehr man mürde es 
für einen Drudfehler halten, obſchon es nad Weigand, 
W. B. im vor. Jahrh. noch vorfam. Und warum hat 
man es 21, 20. geändert, wo es L. doch auch hat? 
fuhr hin zw. d. T. — nah 1 Mof. 15, 7.: fuhr zw. 
d. T. hin. 

die aneinander ſchlugen — ob 8. Schlagen in 
diefer Konjtruftion hat? Dafür: aneinander treffen, 2 Maft. 
10, 28. oder nach der Nandalofje: jich oben anrühreten, 
ich gegen einander ſchwungen (ebenfo Var.). 

ausgehen unter fie — gehen unter hat X. mit 
Akkuſ., aber ausgehen unter nur mit Dativ. Oder: 
herausgehen zu. 

Sturmböde — hat 2. nidt. De Wette bleibt bei 2. 
Sturm wird in Klammer zu feßen fein: (Sturm:) Böde, 
ebenfo 21, 27. 26, 9., wenn man nicht das einfache 
Widder vorzieht. Randgloſſe: das waren vorzeiten arietes, 
damit man die mauren umitieh. 


6,4. 6. Sonnenfäulen — ſ. zu 3 Mof. 26, 30. 


6,5. 


6,6. 


6,11. 


7,15. 


hinwerfen vor — hat 8, nit. Beſſer Zür. B. bloß 
werfen. De Wette: legen. 

Machwerk — hat &. nidt. Grimm, W. B.: ein vor 
Adelung in den Mörterbüchern nicht verzeichnetes Wort. 
Entweder bloß Werfe (fo Zür. B.) mit Verweifung auf 
5 Mof. 4, 28. (Bi. 115, 4.) oder Gemächte, wie Meish. 
14, 20. für ein Gößenbild jteht. (Sütting bibl. Wörter: 
buch unrichtig, Meyer-Stier habe dafür Shandgößen.) 
jtampfen — hat L. Hiob 39, 21. in der Ausg. v. 1535; 
v. Meyer, Stier feßen hier mit der Ausg. v. 1545 
ftrampfen (vgl. Weigand, W. B. s. v.). 25, 6. giebt L. 
raga mit den Füßen fcharren. 

drinnen -- ob es L. jo allgemein hat? 3 Moſ. 14, 47., 
wo ein ähnlicher hebr. Ausdrud jteht, hat es feine be- 
itimmte Nückbeziehnng im Vorhergehenden. Val. Klagel. 

9* 


132 Sehle 


1, 20. Ob nicht bejjer nad) 5 Mof. 32, 25.: auswendig, 
inwendig ? 
7,27. kleiden in — hat 2%. nie, jondern in den vielen jinn: 


lichen und bildlichen Stellen immer fleiden mit (jo aud . 


hier Zür. B.) Grimm, W. B. s v. kleiden Zp. 
1077, 6. a. unridtig Hiob 38, 9.: in Wolfen, es heißt 
auc hier: mit Wolfen. 

8,12. Bilderfammer — hat %. nicht, erfcheint bei Stieler, 
it aber doc zu fremd. Beſſer de Wette: Kammer mit 
Bildwerf, vol. Sir. 38, 28. 

13,6. das Wort beſteht — hat X. nicht. Näher bei L. mit 
Starke: und hoffen, ıhr Wort zu erhalten. Oder: daß 
erfüllt werde, val. Serem. 28, 9. 

14,5. fallen an — hat %. nit, Sondern bei, mie Die 
Elberf. B. 

15,7. aus dem Feuer hberausfommen — mit de Wette 
näher bei L.: dem Feuer entgangen. 

16,10. Zeder — hat X. in der Bibel nicht, ſonſt oft. Bei der 
Zweifelhaftigfeit der Auslegung bejjer: bunte Schuhe, wie 
v. Meyer oder Schöne Schuhe, val. Judit 16, 11. 

16,24. 31.39. Gößenfapellen — hat 8. nicht, aber Gößen- 
häufer. de Wette, Zür. B.: Gewölbe, 

16,52. zuerfennen — hat L. nidt. Dafür: Sch. nadjagen, 
anhängen, legen. 

17,17. Wall aufmwerfen — f. 3. Ierem. 6, 6. In meiner 
Gemeinde heißt ein erhöhter freier Raum an der Stadt, 
der ſich an den früheren Graben anſchließt: Die Schütte. 

21,20. glänzen — ſ. z. 1,7. 

21,26. Hausgößen — ſ. z. Richt. 17, 5. 

21,27. Sturmböde — ſ. 3. 4, 2. 

23,6. 12. Reifige — Reiter fann bleiben (jo auch Zür. B.), 
vol. Se. 21, 7. 

23,10. auskommen unter — hat L. nicht, fondern ausfommen 
zu, bei; aber ob legteres mit dem Dativ oder Afkufativ ? 

23,29. Hurereien — 2. bildet feine Mehrzahl, auch bei Grimm, 
W. B. fein Beleg. Sie fteht im Hebräifchen auch font 
im 16. und 23. Kap., und 16, 22. wäre fie auch im 


au 


23,41. 


25,3. 


Die Yutheranität der Brobebibel. 133 


Deutichen ſprachlich angezeigt, aber 2. betrachtet das Wort 
eben als Sammelbegriff. 

Polſter — hat 2. nit, nah Weigand aber jchon alt. 
Eith. 1, 6. iteht Bänfe, Amos 3, 12.6, 4. iſt geändert 
in Ruhebetten, das 2. aud nicht hat. Warum nicht 
Bett lajjen, wie v. Meyer, Stier, Zür. B.? An unjrer 
Stelle fünnte man Banf fegen nad Eith. 1, 6. oder 
Kiffen nad Mark. 4, 38. (Kopfpolfter) oder Yager wie 
Bi. 6, 7. Amos 6, 4. 

Ha — hat 2, aber nicht in der Bibel. 


25,4. 10. Kinderde3 Morgenlandes — f. 3. Jerem. 49, 28. 


25,4. 


25,16. 


26,8. 
26,9. 
27,6. 


27,6. 


Zeltdorf — hat L. nicht. Warum nicht Yager oder 
Hürden (de Wette)? Gehöfte fommt fchon im 14. 
Sahrh. vor, wird aber Grimm, W. B. als ein „Bücher: 
wort” bezeichnet. 

klatſchen — hat 2. nicht (doch nad) Weigand: klatzen); 
nach Grimm, W. B. erſt ſeit dem 17. Jahrh. Jeſ. 55, 12. 
giebt %. macha mit klappen, Pſ. 98, 8. mit froh— 
Ioden. 

Krethim — hat 2. nicht; aljo entweder Krethi wie 
1 Sam. 30, 14. oder Kreter, wie v. Meyer, Zür. B., 
die in Klammer jet: Ausrotter, das man in MWicdergabe 
des Wortſpiels nad) 7, 25. geradezu jeten Fünnte, wie 2. 
17, 4. Krämerland jest ft. Kanaan. 

aufihütten — hat L. nur von Getreide, ſ. 3. Jerem. 6, 6. 
Sturmböde — f. z. 4, 2. 

eingelegt — hat L. nicht in diefem Sinne; auch bei 
Grimm, W. B. fein alter Beleg. Daher mit de Wette, 
von Meyer, Stier, Zür. B.: gefafjet in... oder einge: 
faßt oder bloß: von Elfenbein in ... 
Buhsbaumholz — hat. nidt, aud) Grimm, W. B. 
niht. Dafür Zür. B.: Zedernholz (Scherbinzeder), vgl. 
3 Mof. 14, 4. (wo zedern nad) Dieb eigentlich Adjeltiv 
it, wie 2 Sam. 7,2. Zeph. 2, 14.). Die Jeder wächst ja 
nicht bloß auf dem Libanon; will man aber wie im Hebr. 
gegen V. 5 wechleln, fo empfiehlt fich der obige Borfchlag: 
Bänke von Elfenbein in Buchsbaum aus den Inſeln Ehittim. 


27,9. 27. Riſſe beifern — hat L. nicht, aber für denfelben 
hebr. Ausdrud 2 Kg. 12, 6. ff.: das Baufällige beſſern; 
ſonſt: die Stadt, die Beten. Starke: mußten in dir dein 
Baufälliges bejjern an Häufern, Mauern und Schiffen. 
Nehem. 4, 7.: die Lücken büßen. 

27,9. Wie hier (und Sir. 9, 24.) die Händel abgeändert worden 
find, jo follte e8 auch 1 Chron. 26, 32. 28, 21. 1 Makk. 
10, 37. 2 Tim, 2, 4 (und Sir. 11, 10.) gejchehen. Dafür: 
Sejchäfte, wie X. dabar, malachah, Aoyog, noayua aud) 
überjegt. Grimm, WB. s.v. Handel: „Wie das Nhd. 
Plurale von Abjtrattbildungen mehr und mehr verſchmäht, 
jo iſt au der Plur. von Handel, der fih in den ältern 
Quellen noch häufig genug vorfindet, der neueren Sprache 
nicht mehr gerecht, mit Ausnahme der Bedeutung Streit, 
wo er, der eigentümlichen Begriffsentwidelung entſprechend, 
gewöhnlich erſcheint.“ 

27,24. purpurn — hat X. nidt; v. Meyer, Stier: blau; oder: 
jcharladen, vol. Eith. 1, 6. Nah Weigand ſchon alt. 

29,18. wund reiben — hat. nit. Entweder mit de Wette: 
abgerieben (vgl. Diet) oder bloß: wund waren. 

32,2. aufrühren — ſ. 3. Spr. 17, 9. Auch bei Grimm, 
RB. fein alter Beleg. Man wird nad 34, 18. ändern 
müſſen: trittjt in das Waſſer mit deinen Füßen und macheſt 
feine Ströme trübe. 

33,25. Blutiges — hat L. nidt, aud) bei Grimm, W. B. in 
jinnliher Bedeutung nicht ſubſtantiviſch. Mit de Wette, 
Stier, Zür. B.: mit Blut (3 Mof. 19, 26). 

33,31. im Munde haben — hat L. nicht, dagegen: im Munde 
jein, im Munde führen, in den Mund nehmen. 

33,32. jhöne Stimme — hat X. nicht, aber ſüße Stimme, herr: 
liche Stimme. Überhaupt fraglid) bei L.: eine Stimme haben. 

34,29. Pflanzung — hat X. Zef. 60, 21., aber wohl in an: 
derem Einne. 

36,3.—5. überblieben — hat Y. nicht, nur das Hauptwort , 
alfo entweder: den Überbliebenen oder den Übrigen der 
Heiden, Mich. 7, 18. 


134 Jehle 


— — — — — 


Die Lutheranität der Probebibel. 135 


36,11. bewohnt machen — hat L. nicht. Warum nicht mit 
de Wette, Stier: bewohnt ſein laſſen? Oder nach Zür. B.: 
in euren alten Stand bringen. 

36,21. fönn'e verſchonen bleiben. 

36,35. der Garten Edens — beijer: ein Garten Eden (Zür. B.) 

40,7.—9. zum Haufe wärts, 2 Chron. 3, 13. 23, 10. 

40,12. abgrenzen — bat 2. nidt; bei Grimm, W. B. aud 
fein alter Belege. Man wird abjondern jegen müjjen, 
oder abteilen, wenn die Änderung nicht überhaupt un- 
nötig tit (wgl. de Wette, Zür. B.). 

41,6. ſ. 3.180. 6, 6. | 

41,8. Erhöhung — hat 2. in der Bibel nicht, font in der 
Bedeutung exaltatio. Ber Grimm, W. B. nur ein Belea 

aus Göthe. Alſo: Höhe. 

41,8. Grundlage — hat 8. nicht; aber Fundament, das 
Ihon ahd. und mhd. erfcheint (fehlt bei Die, aber vgl. 
Grimm, W. B. 535, 3.). Hier: Grund. 

41,9. 11. freigelajjener Raum — hat X. nit. Alfo mit 
andern: freier Naum, wie 45, 2. 

41,12. Gebäude hat L. in der Bibel nicht. Stier bleibt bei 
vem gewöhnlichen Gebäu. Nah Grimm, W. B. s. v. 
Gebäude Sp. 1656, 2. a und b ift es zweifelhaft, mas 
L. in der Stelle, wo er Gebäude hat, darunter verjteht. 

41,12.—15. 42, 1. >0. 13. Hofraum — hat 2%. nicht; bei 
Grimm, WM. B. nur ein Beleg aus Göthe. Alfo ent: 
weder Hof oder nah v. Meyer: - Hinterhof (val. 1 Ka. 
7, 6.) oder nad) Elberf. und Zür. B.: abgejonderter Platz, 
Raum, wie Heſek. 45, 6. Alt wäre Hofreite. 

4°,15. 16. Umgang — hat X. nicht in der Mehrzahl. Das 
alte Wort wäre: Lauben; in meiner Gemeinde noch 
üblich. Ä 

41,21. Thürpfoiten — hat 8. nicht als ein Wort, alfo zu 
trennen: ‘Pfoiten der Thüre. De Wette, Zür. B. haben 
nur: Pfoten. 

41,24. Thürflügel — hat 2. nit. Ein Anderungsvorſchlag 
müßte in die ganze Auffaſſung der Stelle eingreifen. 

41,25. Aufgang — I. 5. 1 Ro. 7, 6. 


136 


42,2. 


Jehle 


entlang — hat L. nicht, nach Grimm, W. B. weder 
ahd. noch mhd., mangelt auch allen älteren nhd. Wörter— 
büchern, aber ein uraltes, ehrwürdiges Wort, edler als 
längs. Aber in unſerer Stelle undeutlich. 


42,5. f. wegnehmen — dafür bietet ſich aus 5 Moſ. 27, 17. 


43,11. 


43,12. 


44,11. 


46,2. 


46, 18. 


47,12. 


engern. 

Eingang — hat X. nit in der Mehrzahl, dagegen Zu: 
gänge und Ausgänge (44, 5.). Aud bei Grimm, W. B. 
fein Beleg. 

Umfang — bat. nit. Zür. B.: Gebiet, vgl. 1 Mafk. 
8, 24., oder Fläche. Starke: auf der Höhe des Berges 
joll feine ganze Grenze ringsumher das allerheiligite fein, 
vol. 4 Mof. 32, 33., oder: ſoweit er reicht, nad) 45, 1. 
Weigand: mhd. der umbevane = Umarmung, Vorhang, da— 
gegen im Sinn von Gebiet umbegrif. 4 Esra 16, 58.: 
Begriff, vgl. Negijter: begreifen. 

Diener des Hauſes — hat 2%. nidt, fondern im 
Haufe, was 46, 24. geändert iſt. Var.: der andern 
fnechte fein. Mit de Wette, Zür. B. braudts nur ein 
Wörtlein: in dem Haufe dienen. 

von draußen — hat L. nicht, auch beit Grimm, W. dB. 
feine alten Belege. Eher: von außen, wie de Wette, 
von Meyer. 

vererben — ſ. 3. 1 Chron. 28, 8. Hier fünnte may 
mit 2. jegen: feinen Kindern zum Erbteil lafjen, oder zum 
Erbe geben (fa v. Meyer) oder erben lafjen, vol. 1 Sam. 
2, 8. (jo Zür. B.) oder bloß: laſſen. 

hberumbringen — hat X. nicht, auch bei Grimm, W. 
B. nidt in Diefer Bedeutung. Man wird (mie Die 
Zür. B.) bei führen bleiben müſſen troß der Wieder: 
holung. 

ausgehen — hat X. in der Bibel nicht in diefem Sinn; 
Sir. 3, 27. 1 Mof. 35, 18. tft der Sinn ein anderer. 
Doch in einem Brief (de Wette 4, 140.). Entweder 
aufhören (fo Zür. B.) oder ein Ende nehmen, wie X. 
thamam Pſ. 102, 28. überjegt, oder: noch ihrer Früchte 
ein Ende fein. 


3,4. 


Die Zutheranität der Probebibel. 137 


Daniel. Ä 
Herold — hat X. nicht, ift aber das urjprüngliche, vgl. 
Grimm, W. B. Chrenhold, das Grimm für das 
volfstümliche erklärt, fönnte aber wohl ſtehen bleiben. 


4,8. 17. mächtig — hat L. nicht von einem Baum. De Wette, 


5,9. 


5,21. 


Stier, Zür. B.: ſtark. Jenes wird freilih wegen B. 19 
beibehalten werden wollen, aber de Wette hat hier auch 
mächtig. 

die Farbe verlieren — hat %. nicht. Will man 
ündern, jo wird man jegen müſſen: jich entfärben. 
hinweg — unnötig, vgl. de Wette, Zür. B. u. a.; jeden: 
fallö bejjer: hinweg von den X. 


7,9. 13. 22. altan — hat. nit; ein Alter an Jahren 


10,8. 


11,15. 
11,42, 


geht noch weniger an. Bei Grimm, W. B. jenes auf: 
fallenderweije gar nicht erwähnt. Warum nicht mit Stier 
wörtlih ? Oder V. 9: ein alter Mann, dagegen V. 13. 22. 
wie bisher. Oder: ein Wohlbetagter, ein mwohlbe- 
tagter Mann. 

zulaufen auf — hat X. nicht, ſonſt hätte er es geſetzt; 
dagegen hat er zurennen auf. Ober befjer (Zür. B.): 
laufen an, vgl. Hiob 16, 14. 


. mitten vom Ulai her — deutih? Fehlt bei Grimm, 


WB De Wette, Zür. B.: innerhalb (jehr alt, ahd. 
und mhd.). 


. Sünde abthun — hat L. nit. Will man nicht wie 


de Wette (beive Male: bejiegelt), Zür. B. (beide Male: 
verjiegelt) bei L. bleiben, jo könnte man jegen: und der 
Sünden ein Ende gemadt. In den Bar. hat L. ver: 
jiegelt und bevedt. Randgl.: zugefiegelt d. i. zugethan, 
aufgehaben und erfüllet, al3 ein Ding, das nu aus fein, 
und ein ende haben joll. 

entjtellt werden — hat. nicht. Entweder nah 5, 9. (X.) 
verlor meine Geftalt, oder nad) 7,28.: meine Gejtalt verfiel. 
aufihütten — |. 3. Serem. 6, 6. 

die Hand ausſtrecken nach — hat. nit. Alfo wört: 
lich: die Hand legen an, was L. oft hat, oder: die Hand 
itreden über. Var.: Er ſchickt feine Hand aus in die Lender- 





— 


138 Jehle 


Hoien. 

3,4. Hausgötzen — ſ. 3. Richt. 17, 5. 

6,4. Der Tau vergeht — hat 2. nidt. Dafür: der früh 
morgens weg ilt, vgl. 2 Mof. 16, 14. 

7,1. einjteigen — hat X. nicht, aber einmal Einjteiger — 
Diebe, das bei Grimm, W. B. fehlt. X. hat einbreden, 
val. 2 Moj. 22, 2. 

7,1. Lügen treiben — hat X. nicht; dagegen mit Fügen 
umgehen (Zür. B.), Yügen thun, ſich der Yügen 
fleißigen u. ſ. f. 

9,5. Keitzeiten — hat 2. nicht; fehlt auch bei Grimm, W. B. 
Dafür mit Stier: Jahrfefte Sad. 8, 19. 

10,5. Gößenpfaffen — ſ. 3. 2 Fa. 23, 5. Hier würde das 
einfache Pfaffen genügen. 

12,4. nah 1 Moſ. 25, 26.: feines Bruders Ferſe gehalten ; 
oder: bei der Ferſe gefaßt (de Wette) oder: bei der Ferſe 
ergriffen (Zür. B.). 

12,10. Feſtzeit — hat X. nicht, bei Grimm, W. B. ohne Beleg. 
Dafür: Feittag oder Zür. B.: in den Tagen des Feſtes 
oder: des hohen Feſtes (ef. 30, 29.). 

13,3. vergeht — |. 3. 6, 4. 


Joel. 

2,6. bleich werden — hat L. in der Bibel nicht; dafür: 
werden erblaſſen. 

2,9. umber rennen — hat 2%. nit, warum nicht umber 
reiten laſſen, val. V. 4. 

2,12. unmöglider Satz. 

4,11. herniederführen — hat X. nicht, fehlt auch bei Grimm, 
MW. B. Dafür: hinabführen ide Wette, Zür. B.) oder 
bherabjenden (v. Weyer). 

4,13. Rufen — hat %. nit; doch tt das Wort alt (ahd., 
mhd.), vgl. Grimm, W. B. 

4,15. jich verfinjtern — hat L. nicht. Entweder: werden 
finiter werden, nah 2, 10. oder: werden verfinitert 
werden (von Meyer, Zür. B.) oder: verdunfeln, 1 Sam. 
3, 3. (X.) 


Die Lutheranität der Probebibel. 139 


Amos. 


1,6. 9. überantworten an — hat L. nicht; alſo entweder 
den Dativ (wie de Wette) oder: überantworten in die 
Hände Edoms. | 

1,11. Erbarmen von ſich thun — dafür: Barmherzigkeit 
verlajjen, lafjen, wenden, außtilgen, reißen, ſich von der 
Barmberzigfeit wenden. 

2,13. fnarren — hat. nicht, doch tft das Wort alt. Matheſius 
braucht es von Luthers Feder. Zür. B.: niederdrüden. 

3,12. 6,4. Ruhebett — ſ. 3. Heſek. 23, 41. 

4,11. Nah Hopf a. a. D. ©. 322 har 2. feret. 

6,10. Der ihn verbrennen will — der ihn beitatten joll. 

7,1. mähen — hat 8. in der Bibel nidt; Grimm, W. B. 
hat eine Stelle aus den Tifchreden, aud) fommt Grummet 
von mähen her, j. Negiiter. 

7,4 Aderland — bat 2. nidt; bei Grimm, W. B. fein 
Beleg. Entweder: Ader (de Wette), val. 2 Ka. 9, 1U- 
36. f. oder: Land (Zür. D.). 

8,5. Die Anderung ift ſehr löblich, aber 2. hat Preis nur im 
Sinne von Nuhm; vgl. übrigens Weigand. 

9,12. genannt — Apg. 15, 17.: genennet. 


„song. 

2,10. iſt Des Herrn — tft bei dem Herrn. 

4,5. morgenwärtö von — hat X. nidt, auch bei Grimm, 
W. B. fein Beleg. De Wette: morgenwärts der Stadt, 
was allerdings auch nicht aus Y. belegt werden fann ; 
oder nach der Zür. B.: gegen den Aufgang der Stadt, 
vgl. Joſua 16, 6. (2.5. Doch val. Weigand s. v. Mittag 
(Schluß). 

Micha. 


2,9. auf immer — hat 8. nidt; bet Grimm, W. B. ohne 
Beleg. 

4,8. an dich wird gelangen und zu dir wird kommen die... 

4,10. freißen — ſ. 3. Stob 39, 1. Zür. B.: frümme Dich, 
vgl. 1 Sam. 4, 19. 

5,13. Aijherabilder — ſ. 3. 1 Ra. 14, 23. 





140 


6,10. 


6,14. 


3,14. 


3,16. 


Seble 


heillos — hat 2. in der Bibel nur von Perfonen, bei 
Grimm, W. B. auch: heillos Gebet, heillofer Kanon, 
wechjelnd mit verfluchtem Kanon. Hier: verflucht, wie 
jonit, ebenfo v. Meyer, Zür. B. 
zur Seite jhaffen — hat X. nit. Zür. B.: hin: 
wegrüden. 

| Nahum. 
von jeher — hat L. nicht, auch bei Grimm, W. B. 
kein alter Beleg. Dafür: von alters her (Zür. B.) oder: 
von Anbeginn, von Anfang. 
Roſſe jagen — hat L. nicht; auch bei Grimm, W. B. 
kein Beleg. Alſo mit v. Meyer: Roſſe ſtampfen oder 
ſtrampfen, ſ. 3. Heſek. 6, 11. 
heraufrücken — hat X. nicht. Entweder mit v. Meyer: 
heraufziehen oder nach Joel 2, 5. daherjprengen. 
Hat X, wie Bindſeil angiebt, blitend? Die ranff. 
Ausgabe von 1597 hat glitend. 


Habakuk. 
behender — hat L. in der Auslegung d. St. 
Fraß — hat L. in andrem Sinn. Warum nicht wie 
ſonſt bei den a Has lafien? So Hür. B. 
Antwort auf — 
Das Rechten —? T ſchwerfälliger Sat. 
ausbleiben — Tob. 9, 4. Sir. 16, 14. wurde nicht 
geändert. 


. umgehen zu — hat 2. nidt. Dafür: aud an Did 


gelangen. 

bebenmaden — - hat x. nicht, jondern bebend maden 
vgl. ef. 14, 16. Jerem. 50, 34. 

Rute — hat 2. nur als Maß in der Mehrzahl. De 
Wette: Speere; Zür. B.: Geſchoſſe, vgl. Weish. 5, 22. 
ruhig harren — ob lutheriih? auch bei Grimm, W. 
DB. fehlt es. L. hat (dort) fejtes, ftetiges, ſtetes Karren. 
Gritweder: bloß ruhen oder bloß harren; oder 
nah Sir. 20, 6.: dieweil ich fchmweigen und warten, 
muß auf... 


3,10. 


2,7. 


Die Lutheranität der Probebibel. 141 


Sephania. 
Götzenpfaffen — ſ. 3. Hoſ. 10,5. Var.: der Münche 
und Pfaffen, vgl. auch Gloſſe. 


. her — zu ſtreichen, ebenſo de Wette, Zür. B. 
.Stampfmühle — hat X. nicht. Cr giebt makthesch 


Spr. 27, 22. mit Mörfer, fo hier de Wette, v. Meyer. 
warum die werden tilgen? L. wußte wohl, warum er 
jte malend häufte. 

Krethim — ſ. 3. Heſek. 25, 16. 


. Säulenfnäufe — hat X. nicht als ein Wort, val. 


2 Mof. 38, 28. Marum nicht bloß Knäufe, wie de 
Wette, Zür. B. u. a? Wörtlich: werden über Nacht 


bleiben auf ihren Knäufen. 


Yippen geben — ob lutheriſch? De Wette: zuwenden, 
oder: der Völker Lippen reinigen. Vgl. übrigens Stier. 
herbeibringen — hat L. nicht, auch bei Grimm, W. 
B. fein alter Beleg. Warum überhaupt ändern? val. 
v. Meyer. L. giebt hobil fonjt: zuführen, bringen (jo 
Zür. B.) Es müßte jedenfalls Herzubringen heißen; 
de Wette: darbringen. 


. Warum ändern? Beljer: über meinem hl. Berg, 


dann liegt daS wider auch eingefchlojjen. 


. Öeängiteter — hat %, nit, aber Betrübter (jo 


de Wette); vgl. Rlagel. 3, 32. hogah betrüben. Oder: 
Angitherzen. 

Haggai. 
Köſtlichſtes — hat L. nicht; auch Grimm hat feinen 
Beleg, bezeichnet aber föjtlich als ein Lieblingswort 
Luthers. Die Anderung ift überhaupt ehr bedenklich. 
Eher nah 1 Sam. 9, 20.: Bejtes. Bar.: Und follen 
fomen die begird aller Heiden. 


3. von einem Toten unrein — hat L. nicht, fondern 


gewöhnlih: über einem Toten, aber auch: an einem Toten. 
Sacharia. 


. }. Eifer haben — hat L. nicht. Dafür: ich eifere in 


(Judith 9, 2.) oder mit (2 Kor. 11, 2.) großem Eifer (jo 
de Mette, Zür. B.) und in großem Zorn (8, 2.). 


4,10. 


4,12, 


gi 
. * 
— 


6,14. 


1,2. 


8,2, 
9,8. 


9,16. 


Sehle 


Wahrzeichen — hat X. nicht (aber Denkzeichen); Das 
Wort wird vom Volk gern mit wahrjagen in Ber: 
bindung gebracht (vgl. Jeſ. 44, 25.) Will man ändern, 
jo läßt fich leicht aus Aumder: Wunderzeichen machen, 
wie %. mopeth Heſek. 12, 6. 11. und ſonſt überſetzt. 
(Wahrzeichen nad Weigand ſchon mhd.). 

Richtblei — warum nicht aus der Gloſſe: Richtſcheit 
oder Bleiholz? 

Schnauzen — hat X. nicht. Entweder Schneuzen 
wie ſonſt belaſſen, oder: Röhren (de Wette, Zür. B.), 
vol. V. 2, oder nach Luther Rinnen (ſ. Hopf ©. 129). 
hub jid — warum ändern ? val. v. Meyer. Oder nn 
Anderung: ſchwebte empor. 

Gottloſigkeit — hat L. nicht, ſondern immer gott— 

los Weſen; in den Var.: Gottloſerei, Abgötterei, 

ſonſt auch Gottlosheit; Judä 15 Var.: gottloſig. 
De Wette: Ungerechtigkeit. 

Gaſtfreundſchaft, Gaſtfreund — hat L. nicht; 
nach Grimm, W. B. neuere Wörter. Warum überhaupt 
ändern trotz de Wette, v. Meyer, Stier u. a.? 

Sonſt hat man Mifverjtändnifje entfernt, wie Apg. 18, 6. 
28, 24. 2 Betr. 3, 16., bier hat man eines gejchaffen. 
Den Beiftrihen nad) zu jchließen, joll Sarezer u. j. w. 
Nomin. fein, subjectum missionis. Dann muß der Deut: 
lichkeit halben nämlich hineingejegt werden. Es wird 
aber Akkuſ. fein müfjen, dann muß mit de Wette, Zür. B. 
u. a. gejeßt werden: den Sar. (unter Streihung der 
Beiſtriche). Es it dann auch die Gefahr ausgeſchloſſen, 
daß man ©. u. R. für Ortsnamen hält, gleichlaufend 
mit Bethel. 

Eifer haben — ſ. 3.1, 11. 

ob veritändlich ? 

Kronenfteine — hat X. nicht; fehlt auch bei Grimm, 
W. B. Iſt überhaupt fein einfaher Ausdrud, obwohl 
ihn Schon Starke hat. Dafür: edle Steine (Zir. 45, 13.) 
oder köſtliche Steine. 


9,16. erglänzen — hat L. nicht, obwohl mhd. Dafür: Glanz 4 


J 2 


9,17. 


10,4. 


Die Qutheranität der Probebibel. 143 


geben, von ſich geben, daherglänzen, daherleuchten, funfeln, 
hervorleuchten u. a. 

blühen machen — hat L. nicht; aljo nad) v. Meyer 
und el. 55, 10.: wachjend machen. 

Editeine — ſ. 3. Jeſ. 19, 13. Man fönnte (wie Starke, 
Zür. B.) nad) dem Grundtert jegen: Der Editein, der 
Nagel, der Streitbogen und jeglicher Herrfcher (oder: die 
Herricher) jollen alle... . . 


11,7. 14. Eintracht — hat L. in der Bibel nur im Sinn von 


12,7. 


3,6. 


10,6. 
12,12. 
14,12. 


subtegmen ; doch in jeinem „Erbieten” auch im Sinn 
von coneordia; jonjt nur einträchtig, einträchtiglich. Ent— 
weder: Einigkeit oder mit v. Meyer: Bündnis. ' 

Es geht aber jchlechterdingd nicht an, in einer Über: 
jeßung, die noch Luthers Namen tragen fol, Luthers Über: 
jegung unter den Text zu feßen, |. 3. Hiob 19, 25. f. 
Feuerpfannen — hat X. nidt. Dafür: Kohlpfannen 
oder Feuerwerk. 

Maleadhi. 
jih wandeln — hat 8. nit von Perſonen. her 
(Zür. B.): verändere mich nicht (Ölofje: ders nicht endert), 
oder: bei mir iſt feine Veränderung. 


IV, 
Judith. 


. wehrlos — hat L. nicht (doch nach Weigand mhd. 


werlöôs). Dafür: ſchwach, nad Spr. 30, 25. f., wo die 


LXX einen ganz ähnlichen Ausdrud haben. 
. nach Gefallen — hat X. nidt. Dafür: nad Ge: 


dünfen, vgl. Jerem. 16, 12. 18, 12., wo die LXX aud 
roeorov haben. Var.: wolt jr Gott ein zeit jegen, ſich 
ewer zu erbarmen vnd jtimmen einen tag nad ewrem 
mwilfüre ? 

Feigenkuchen — |. 3. 1 Sam. 25, 18. 

unberührt — hat 2. nicht, die Anderung ift aber gut. 
flatfhen — ſ. 3. Heſek. 25, 6. 


144 Sehle 


Weisheit. 

1,1. Die 2. Anderung ift nicht als Wieverheritellung einer 

—— Lesart gekennzeichnet (ſ. Stud. und Krit. 1883 
. 373). 

4,17. in Sicherheit bringen — hat &., — 10, 12. giebt 
er aopakıf. mit ſicher machen, freilich mit Beiſatz. 
Zür. B.: verwahren, was ſich der leichten Änderung wegen 
empfiehlt. 

10,5. böslich — it bei 2. nur Adverb., auch bei Grimm, 
W. B. fein alter Beleg, Dafür: böfe oder boshaftige 
Einigfeit. 

11,4. ſchroff — hat L. nicht, it nad Weigand neu, obwohl 
alten Stammes; axoorouos 5 Moſ. 8, 15. harter Fels, 
was hier nicht anzumenden wegen des folgenden harten 
St. Wenn überhaupt geändert werden joll, müßte man 
„hoch“ ſetzen. 

12,22. tauſendfach — muß es nicht tauſendfältig heißen? 
ſo de Wette, Zür. B. Für tauſendſach hat Weigand keinen 
alten Beleg. 

13,11. abſägen — hat 2., aber nicht in der Bibel, 

14,14. zugedacht — hat X. nicht. Dafür: bejtimmt oder gefeßt. 

14,16. befejtigen — ob von L. in diefem Sinn gebraudt ? 

15,9. hinſterben — dahiniterben. 

15,9. trüglich — braudt L. nur perfönlich, eher: betrüglich 
(vgl. Dies), im Unterfchied von betrieglich, ſ. Weigand. 

16,3, notwendig — hat X. nidt. Grimm, W. B.: „eine 
nhd. Bildung . . . . bei Luther ift mir das Wort nicht 
begegnet.” L. hat dafür nötlid, |. Grimm, W. 8. 
Sp. 946, 5. und nötig, ſ. Grimm, W. B. Sp. 941,5, b. 
Dver: fih von des Leibes Notdurft abwandten. 

17,17, erfafien — hat 8. nit; auch bei Grimm, W. B. fein 
alter Beleg. Auch Gal. 6, 1. nooAauß, übereilen, oder 
nah V. 16: ergriffen. 

18,5. ausjegen — bat 8%. nur im Sinn von verheiraten, 
ausjteuern. Ber Grimm, W. B. fein Beleg, 2. Hat 
Fündelfind — infans expositus. Etwa: hingemorfen. 

18,22, erinnern an — hat L. nicht, fondern den Genetiv *4 


Die Lutheranität der Probebibel. 145 


nah Grimm, W. B. 8. v. erinnern Sp. 858, 1. b.: 
von, was bei Diet fehlt. 2 Makk. 12, 43. hat L.: eine 
Erinnerung thun von . . . (bei Die Drudfehler Mof. 
it. Makk.). 

18,24. abbilden — hat X., aber nicht in der Bibel. Das Wort 
iſt entbehrlich, vol. de Wette, Zür. B., ebenfo das einge: 
jeßte war, vgl. de Mette. 


Tobias. 

1,20. ſorglich — hat L. nicht (doch nach Weigand fchon alt), 
ſondern ſorgfältig (jo Zür. B.). 

3,9. VBerfhuldung — hat L. nicht. Alſo: Fehler oder 
Schuld (Zür. B.). 

6,18. ſich kümmern — hat L. in der Bibel nicht; bei Grimm, 
W. B. nur eine Stelle: ſich zu Tode kümmern (Sp. 2607, 
2, a). L. hat: ſich bekümmern, vgl. z. Jerem. 44, 19. 
Oder: vor dem böſen Geiſte beſorge dich nicht (val. Dietz); 
oder: um den . . . jorge dich nicht. 


Sirach. 

9,14. aufgeben — hat L. nur im Sinn von proponere, tradere, 
mori. Auch bei Grimm, W. B. Fein alter Beleg. Dafür: 
fahren laſſen (de Wette, Zür. B.: verlaß nidt). 

11,10. Händel — ſ. 3. Heſek. 27, 9. 

13,14. darauf ausgehen — hat 8. nidt; auch. bet Grimm, 
W. B. fein alter Beleg. De Wette: trachten, oder dar: 
nad trachten, oder: darauf halten, oder: ſich darauf geben 
(39, 1.). 

14,3. Rnaufer — hat 2. nidt; nah Grimm, W. B. fein 
altes Wort. Aus 31, 29. bietet fih Filz, vgl. die Er: 
tlärung des Yaufer bei Mathefius: „Ein Lauſer tft ein 
Filz, ein Küffe- und Drudenpfennig, und hat ven Namen 
befommen von dem Spiel, jo man laufen heißet, da man 
über einem Heller drei Stunden fpielet.“ In der Glofie 
zu 3 Mof. 25, 36. hat L. audh Geizhals und jonit 

| jehr häufig: Geizwanit. 

16,2. am Leben bleiben — ſ. z. 2 Moj. 21, 21. 

17,31. Himmelshöhe — hat 2. nit; bei Grimm, W. B. 

Theol. Studien a. ®. VII Jahrg. 10 


— 


erſt in dieſem Jahrhundert. Nach 43, 9.: das himmliſche 
Heer in der Höhe. 

17,31. hält er in Ordnung — 16, 27.: erhält in Ordnung. 

18,18. fließen maden — hat L. nit; exrıx. opdaku. eher: 
macht die Augen thränen, oder: bei einer unfreundl. Gabe 
fließen die Thränen, thränt das Auge u. a. 

20,15. Ausrufer — hat %., aber nicht in der Bibel. 

21,26. Ungezogenheit — hat. nicht; alfo: es ift ungezogen. 

22,15. Mühe von ibm — L. hat: Mühe haben mit. Schon 
die 3 von im Vers lauten nicht gut (f. 3. Pred. 4, 9.). 
Das von ihm, das de Wette in Klammern jest, läßt 
die Zür. B. ganz weg. Oder: daß er dir nicht bejchwer: 
lich werde. 

22,15. St. befledt hat 2. befledt, das in befledst geändert 
werden könnte; j. Grimm, W. B. befleren (Jean Paul). 
Diet hat befliden, beflidt, vgl. auch Weigand, Synonymen: 
wörterbud). 

22,26. aufgeben — ſ. 3. 9, 14. und vgl. 28, 6. 

22,27. gegen deinen Freund — ob. gegen mit dem ace. 
in diefer Verbindung hat? Offb. 13, 6. gehört gegen 
zu Läſterung. Alfo nah 2 Sam. 1, 16.: wider (jo auch 
Zür. B.). 

22,27. ohne Sorge jein — hat L. 1 Kor. 7, 32., aber in 
anderem Sinn. Beſſer nad 9, 18.: bejorge dich nicht. 
Zür. B.: erfhrid nicht. 

23,17. ſündlich — ob von L. in diefen Sinn gebraudt ? Warum 
nicht böfe lafjen, wie 19, 8. für auaorıa? 

24,23. ſproſſen — ſ. 3. Hohl. 6, 10. 

24,40. Wafferleitung — hat. nicht, fondern Waſſerröhre 
vöoayoyoc. Für das norauog der LXX hat er el. 
41, 18. Waſſerfluß. 

25,21. Frauenzorn — hat L. nicht ald ein Wort. Im Volt 
redet man von einem Weiberzorn. De Wette, Zür. B.: 
Zorn eines Feindes. 

27,5. Unrat — während font (5 Mof. 28, 20. 2 Makk. 4, 4, 
Matth. 26, 8. Mark, 14, 4.) das luther. Unrat getilgt 
it, weil es bei L. das Gegenteil von Nat bedeutet, (f. 4 





146 Jehle 





28,10. 


29,11. 


31,14. 


31,26. 


31,27. 


31,31. 


31,36. 
31,40. 


32,14. 


32,14. 


32,16. 


Die Lutheranität der Probebibel. 147 


Matth. 26, 8.), iſt es hier im neueren Sinn aufgenommen. 
Warum nicht die leichtere Änderung : Unflat. Für xoreıe 
der LXX hat X. oft: Kot. 

unterbleiben — hat L. nicht; nadhbleiben iſt Esra 
4, 24. Nehem. 6, 3. geblieben; alio mit von Meyer, 
Stier nicht ändern oder mit de Wette wörtlih: Sünden 
mindern, wie %. das ekarr. der LXX Jerem. 30, 19. 
überjegt. Oder: jo wirſt du der Sünden weniger haben 
(Bhil. 2, 28.) oder: jo werden der Sünden weniger jein 
(el. 21, 17.). Zür. B.: jo wirft du weniger jündigen. 
warten lajjen — hat X. nidt. Entweder mit von 
Meyer: verzeuch ihm nicht das Almofen, wie 2. das 
naoeAn. 4, 3 giebt, oder Zür. B.: entzeucd ihm das 
Almojen nicht. 

arges Ding — hat L. nit, aber oft bös Ding 
(Zür. B.: etwas Böfes), fo für das novnoo, der LXX 
Nehem. 13, 17. Pred. 9, 3.; oder: fehändlich Ding (de 
Wette: ſchändlich), 14,6. urnooc, vgl. 29, 30. 5, 17. 
wahr finden — hat 2. nit, doch val. Hiob 37, 13. 
Entweder: erfahren, finden, daß mein Wort wahr it 
(Jerem, 44, 28. 5 Moſ. 17,4.) oder nad der Zür. B.: 
am Ende wirjt du erit finden, was ich dir gejagt habe. 
wader jein in et. — hat %. nicht; dafür mit v. Meyer 
fertig (Ebr. 13, 21.) oder ganz nad Pred. 9, 10. oder 
nach ef. 44, 14.: alles was du thun follit, da gehe 
frifch dran. 

Stahl — hat X. nicht (doch nad Weigand fchon alt); 
etwa: hartes Eifen oder gehärtetes Eiſen. 

fih reizen — Sim? 

drängen zu — hat X. nit. Nach der Zür. B.: dränge 
ihn nicht mit Foddern (ſ. Dieb). 

ſchamhaftig — hat. nicht als Hauptwort, Zür. B.: 
Verſchämter, 2. hat Unverfchämter 29, 19. 

Lieblihfeit — hat. nicht. De Wette mit L.: Gunft. 
Lieblichkeit hatte nah Weigand früher die Bedeutung von 
„gütlicher Vergleich”, 


übermütige Rede — L. jagt jtolz reden und giebt 


10* 


148 Sehle 


Uneorpavog gern mit ſtolz, aud mit hoffärtig, 
z. B. V. 23, (fo de Wette) und hochmütig (jo Zür. B.). 

32,23. fih zu raten wiſſen — hat 2%. nicht, aber Nat 
wiſſen (el. 36, 5.), fo Zür. B., oder: weiß nicht wo 
aus noch ein. 

32,27. Halten — hat 8. dieſes Hauptwort? Zür. B.: aud 
das heift das Gebot halten (Bar.: halten ft.‘ gehalten). 

34,11. f. berumfommen — hat 2. Pred. 1,6., aber in an- 
derem Sinn; bei Grimm, W. B. nur Göthe. Dafür: 
umziehen (Sachar. 6, 7.) oder umberziehen. 

36,4. ſich erweifen — hat 2. nicht, fondern fi beweisen, 
ſ. 3. 3 Mof. 10, 3 und vol. ı Sam. 6, 6. Jeſ. 12, 5. 
Näher bei X. de Wette: Dich geheiliget haſt an uns. 

36,26. wohl beraten fein — hat X. nicht; eher: def Gut 
fommt auf. 

37,14. anſäſſig — hat L. nidt, bei Grimm, W. B. ohne 
Beleg; eine leichtere Anderung wäre angefeifen, aber 
aud ohne alten Beleg, oder eingeſeſſen, ohne Beleg, 
doch hat 2%. von einem Geſetz, es fei eingefeflen (ſ. Dieb). 

40,4. Todesfurcht — hat L. nicht als ein Wort, alſo: des 
Todes Furdt, Pſ. 55, 5. Zür. B.: Furdt des Todes. 

43,13. das hin wird man ftreichen fönnen. 

45,13. Amtsſchildlein — Sf. 3.2 Mof. 28,15. L. hat bier 
Machtſchiltlin. zZ 

46,4. dageſtanden — ob lutheriſch? 

50,8. Sommerszeit — hat L. nicht. Alſo: im Sommer 
oder des Sommers. 

50,10. getrieben — ſ. z. 2 Moſ. 25, 18. De Wette, Zür. B.: 
gediegen Gold, was L. hat (j. Dieb). 


Baruch. 
6,44. Krähen — hat L. in der Bibel aber ſonſt (Kra, 
Kreie). 
6,58. in die Gewalt befommen — hat 2. nit, aber 
wie de Wette, v. Meyer: mächtig werden, z. B. Apg- 
19, 16. 


6,64, vergleihen an — .hat 8. nicht (f. 3. Hiob 39, 13.). Fr 





1,15. 


2,8. 
4,2. 
5,27. 


Die Lutheranität der Probebibel. 149 


1 Makkab. 
herrichten — hat X. nidt. Bj. 5, 9. gehört das her 
nicht zu richten, troß Grimm, W. B. L. hat einrichten 
(nicht in der Bibel). Das anrichten iſt übrigens in 
vielen Stellen jtehen geblieben, 3. B. Sır. 36, 16. Makk. 
14,15. u. a. Oder mit de Wette, v. Meyer, Zür. B. 
wörtl. (oızodou.) bauen, wie 2 Makk. 4, 12. 
ehrlos — hat 2., aber nicht in der Bibel. 
2. hat in der Beſatzung. 
Befeftigungen — hat X. nidt; er hat Befeftigung 
(nicht in der Bibel) im Sinne von confirmatio, daher 
feine Mehrzahl, dagegen Befeftungen, wie es aud 2 Kor. 
10, 4. heißen muß, oder Feiten, wie 2. dad oxvowua 
der LXX oft überfegt, oder (mit de Mette, v. Meyer, 
Stier, Zür. B.) Fejtungen, wie L. oxvo. 13, 38. 
14, 42. giebt. 


. von hinten angreifen — hat 2, nicht, dafür: von 


hinten an fie fommen (2 Chron. 13,13 LXX ähnlich. 


. Sturm laufen — hat 2. nit; fein Ausdrud iſt feiner: 


den Sturm anlaufen (naosuBaAd.) — den Sturmlauf 
beginnen Will man ihn nicht belafjen, jo bietet 


8 den Sturmanfangen 5, 30. oder: jtürmen 2 Sam, 


20, 15. 


. anreizen — hat 2. nit; aber Anreizung (nit in 


der Bibel). De Wette: anregen. 


‚ vorhalten — hat 2%. in diefer finnlichen Bedeutung, 


aber nicht in der Bibel. De Wette, Zür. B.: zeigen. 


. jih aufmwerfen zu— hat. nicht. Eher: jih machen zu... 
. Shimpf — hat 2. nidt (doch nad Weigand ſchon alt); 


anthun braudt er in der Bibel nur im Sinn von 
induere, nicht von afficerez; wa. überjegt er oft mit 
„Ihänden“ oder verunreinigen (jo de Wette). 


. behütet bleiben — hat L. nicht, aber vgl. Spr. 28, 23. 


Man könnte fegen: behütet werden, behütet fein oder fern 
bleiben (LXX uaxevr. Pi. 10°, 17.). 


. fih vertragen über — hat 2. nidt. De Wette: 


fo follen fie es mit der Andern Bewilligung thun. 





150 Jehle 


9,11. Schleuderer — ſ. z. 2 Kg. 3, 25. 

9,51. 10,57. 11,3. 14,33, X. hat tranſitiv: in die Beſatzung, 
intranfitiv: in der Beſatzung oder zur Beſatzung. Zür. B. 
bloß: legte Kriegsvolf darein. 

10,37. Händel — ſ. 3. Heſek. 27, 9. 

10,78. aneinander geraten — hat 2. nicht, fondern: an 
einander treffen oder an einander fommen oder aufeinander 
jtoßen. 

11,29. bewilligen (verwilligen) etwas — hat L. nicht, Ton: 
dern in etwas. DB. Meyer, Stier ändern nidt. ©. ;. 
2 flo. 12, 9. 

11,63. hindern in et. — hat. nit. Alfo: fein Vornehmen 
zu hindern, vgl. Nehem. 4, 5. 

13,20. um et. herumziehen — hat L. nit. Dafür: umzog 

das Land, vgl. Richt. 11, 18. 

13,28. Byramiden — hat X. nidt. 

13,29. einbauen — hat L. in der Bibel nit und ſonſt in 
anderem Sinn; aud bei Grimm, W. B. ohne alten 
Beleg. Eher: ausgehauen, wie v. Meyer, Stier, Zür. B. 

13,40. Leibwache — hat L. nicht, dafür bloß: Mache. 

13,42. Verträge — Mehrzahl hat X. nicht. 

14,5. rühmlich — hat L. nicht (doc nad Weigand jchon alt); 
dafür löblich, val. Sir. 44, 3. | 

14,10. ausrüſten — hat 8. nicht; dafür bloß rüjten oder 
mit v. Meyer verfehen, vgl. 1 Mof. 27, 37. 

14,25. erweifen — hat X. nicht in diefem Sinn, (ſ. z. Ruth 
3, 10.). fondern bemweifen, fo v. Meyer. Oder: ehren 
mit Danf (Bf. 69, 31.) oder: haben Dank verdient (Sir. 
12,1.). Zür. B.: Dank erjtatten. | 

16,3. göttlide Gnade — hat L. (in der Bibel) nicht, 
fondern Gottes Gnade (fo de Wette, v. Meyer, Zür. B.). 

16,3. in den rehten Jahren fein — ob lutherifch ? 


2 Makkab. 


1,10. hohenprieſterlich — hat L. nidt. Warum nicht mit. 
v. Meyer: vom Stamm der gefalbten Priefter. 


Die Lutheranität der Probebibel. 151 


. umfriedigen — hat 2%. nit, dagegen verhegen, 


ſ. Dieß s. v. befrieden. 


.Weihgeſchenk — hat X. nicht; näher bleibt Stier mit 


Dpfergejdent. 


3. Büherfammlung — hat &. nicht; aber in der Schrift 


an die Nhadherren überjegt er jelbit: Librareyen odder 
bücher heufer. Hopf vermutet, %. habe das Fremdwort 
gewählt, um ein dreimaliges Büher in V. 13 und 14 
zu vermeiden. Bücherei erklärt er für ein Lutherwort, 
während Willib. Grimm berichtet, daß die Kommiffion e3 
als jpäteren Urſprungs nicht gewählt habe. Diet hat das 
Mort nidt. 

Man fönnte noch mehr Fremdwörter ausmerzen, 3. B. 
Erempel, formieren, glajuren, Hiſtoria, item, Lektion, 
Materie, Nation, Philofoph, Poet, Rumor, Trabanten. 


. hinterlegen — hat X. nicht; eher: niederlegen, ver: 


wahren, in Verwahrung. 


. haufenweiſe — hat 2. nicht, ſondern mit Haufen, 


vol, 14, 15. Bi. 73, 10. 


. Soeben — hat 2., aber ob in der Bibel? 1 Mof. 43, 7. 


iit der Sinn ein anderer. 

Unheil — hat X. nicht, daher: viel Übels. 
hberridten — ſ. 3. 1 Makk. 1, 15. 

einfhreiben — hat %. im der Bibel nidt; fonit: 
Bürger einfchreiben (ohne „als*). 


. Ob 8%. freundlide Rechte jagen würde? Dafür mit 


v. Meyer: Die mohlthätigen (oder günjtigen) Freiheiten. 
L. hat die Mehrzahl in der Vorrede zum Proph. Dasiel- 


. Disfus — warum nicht mit v. Weyer: Scheibe, wenn 


man Luthers deutiches Spiel nicht laſſen mill. 


. zum Statthalter, vgl. 31. 13, 23. 
. TZempelräuber — hat 2. nidt. 


auf einander treffen — hat 2. nidt, |. 3. 1 Makk. 
10, 78. 


. ebenfoviele — hat L. mit, nur ebenſoviel 1 Kor. 


11,:D; 


. fi vergebl. bemühen? eher: jo thöricht. 


152 Sehle 


8,23. zur Loſung 13, 15. 

8,23. zufammentreffen — hat X. nicht, dafür: ſtoßen auf, 
vol. 14, 1%. 

8,35. gedemütigt werdenvon — hat L. nicht; ſondern: vor, 

8,35. entlaufener (Knecht) — hat L. nidt. 

9,22. feit hoffen — hat 8. nit, jondern: gewiß hoffen, 
Sir. 49, 12. 

10,13. übergehen — hat X. nicht in diefem Zinn, dafür: zu: 
fallen oder abfallen zu (1 Maff. 15, 10.). 

10,15. einem zu ſchaffen machen — hat. nicht (ſich Luk. 
10, 40.); dafür: bejchwerlich jein oder bedrängen. 

11,3. Heidentempel — hat X. nidt. 

11,13. Bedingung — hat %., aber nicht in der Bibel und nicht 
in der Mehrzahl. 

11,18. 35. bewilligt — ſ. 3. 1 Maff. 11, 29. 

12,5. jem. aufbieten — hat L. nidt, val. zu Ser. 52, 25.; 
v. Meyer und Stier ändern nicht. 

13,18. in feine Gewalt bringen — hat X. nidt. Dafür: 
an fich bringen, oft: unter fi bringen. De Wette, Zür. 
B.: einnehmen. 

13,25. beforgt fein — hat X. nicht; bei Grimm, W. B. ohne 
Beleg. Warum ändern? man hat das ſich bejorgen 
in vielen Stellen jtehen laſſen, auch wo es feinen ab: 
hängigen Nachſatz hat, 3. B. Luk. 9, 7. 

Stücke in Ejther. 
1,1. untergeben fein — hat L. nidt; dafür: unterthan 
oder unterthänig. 

2,4. Ehrgeiz — L. hat in der Bibel nur ehrgeizig und Ehr- 
geizigfeit, fonjt auch Ehrgeiz. 

4,1. Bußkleid — hat L. nicht; fehlt aud bei Grimm, W. B. 
Warum niht Trauerfleid nah 3, 2.? 

4,2. Schleppe — hat X nidt, ſ. 3. Jeſ. 47, 2. 

4,5. das Angefiht erheben — hat L. nicht, jondern 
heben, aufheben, dagegen die Augenerhebenu.a. 

4,5. ſtrahlen — hat L. nicht. (nad Weigand erjt im 17. 
Sahrh.); alfo: fein glänzendes Angeficht oder: das ganz 
herrlich war (V. 10.). | 





Die Lutheranität der Probebibel. 135 


5,1. es wohl mit einem meinen — hat. nit. Stier: 
allen Getreuen, val. Hiob 19, 19. 

6,1. vornehm — hat L. nicht, Jondern nur den Zuperlativ ; 
dagegen vornehmlich, 3. B. 4 Mof. 13, 3. Ehrlich 
Se. 3, 3. 9, 15. in anſehnlich geändert. Geehrt 
Sir. 24, 16. . 

Bom Drachen zu Babel. 

V. 37. Yöwengraben — bei. heißt es: in der Yömwengraben, 
warum die recepta ändern ? val. v. Meyer. Grimm, W. 
B. hat nur Yöwengrube. 

Das Gebet Ajarjad. 

3. 22. Erdharz — ſ. 3. 1 Mof. 11, 3. Will man hier nicht 
mit Stier Schwefel belafien, jo könnte man auch bloß 
Harz jeben, das menigitens in der Zulammenjegung 
Harzbaumzmeige Nehem. 8, 15. vorfommt (ſ. 3. d. St.). 

Das Gebet Manaſſes. 

V. 3. gebunden — leichtere Änderung: verriegelt. Oper: 
einen Riegel gejeßt, val. Hiob 38, 10. 

V. 6. unermeßlich — bat X. nicht, fondern unmeßlich, 
vol. Serem. 52, 20. Bar. 3, 25. L. hat hier vnmeſſig, 
in der War. vnermeſſen, was fich empfiehlt. 


I 


Evgl. St. Matthai. 

5,13. Manche Philologen rechtfertigen das „man“ Yuthers, val. 
auch Grimm, kurzgef. G. ©. 58. 

5,23. eingedenf — hat X. nicht, doh nah Grimm, W. B. 
ihon alt; X. hat: eindächtig, (1 Theſſ. 2, 9.), eindenfend 
(Grimm, W. B.). Der: wirft dich erinnern (Bengel, 
Starfe,1 de Wette), oder: dran denken, vol. Jerem. 31, 20. 
oder: gedenken, vgl. Bi. 39, 5. 

6,19. f. nachgraben — das nad it von graben zu trennen, 

vgl. auch Grimm, W. B. | 

' Roh. Albr. Bengel, das N. T. überjegt, 1769. Starte, 

Synopsis bibliothecae exeget. in N. T. 1745. 


— 





154 Jehle 


6,24. (Luk. 16, 13.) X. hat Herrn, ſ. z. Pred. 9, 17. 

8,32. (Marf. 5, 13. Yuf. 8, 33.) Abhang — hat %. nidt; 
nad Grimm, W. B. ein neues Wort (früher: Xeite, 
Halde). Dafür: Ufer, Höhe, Klippe, Hügel (mie Lu. 

4, 29.). Zur Bezeichnung der Abſchüſſigkeit könnte beige: 
fügt werden: hinab ind Meer, vgl. 2 Makk. 14, 43. 
Bengel: den gähen Ort hinab ins Meer. Starke: von 
einem jähen Ort herab ins Meer. Delitzſch überjett: 
min-hamorad, val. Sof. 7, 5. 10, 11.: den Weg herab, 

13,54. Vaterſtadt — hat. nicht. DBengel läßt Vaterland. 

15,19. Warum ändern ? 

22,46. ob das hinfort jo noch jtehen kann? 

26,8. (Mark. 14,4.) Bergeudung — hat %. nicht, wohl aber 
vergeuden. Bengel: Berlujt. Starte: Verderbung oder 
Berluit. 2%. giebt anwAsıa mit Verderbnis, wofür 
3 Mat. Verderbung Steht. X. jagt ſelbſt zu der 
Stelle E. U. 65, 111. f.: „Wenn der Verräter Judas | 
jagt Matth. 26: utquid perditio haee? Und Marci 14.: 
ut quid perditio ista unguenti facta est? folge ich den 
Gjeln und Budjtabiliten, fo muß ichs alſo verdeutſchen: | 
Warumb iſt diefe Verlierung der Salben geihehen ? Was | 
it aber das fur deutſch? Welcher Deutjcher redet alfo: 
Berlierung der Salben ift aefhehen? Und mwenn er’s 
wohl veritehet, jo denkt er, die Salbe jei verloren, und 
müſſe jie etwa wieder ſuchen; wiewohl das auch nod) 
dunfel und ungewiß lautet... .. Der deutihe Mann 
redet aljo: Was foll doch folcher Unrat? oder: was ſoll | 
dod) ſolcher Schade? Nein, es iſt ſchade umb die Salbe. 
Das tft gut deutfch, daraus man veritehet, daß Magdalene 
mit der verjchutten Salben jet unrätlid” umbgangen und 
habe Schaden gethan; das war Judas Meinung: denn 
er gedacht bejjern Hat damit zu jchaffen.“ Wir jagen ja | 
auch noch: etwas zu Nat halten. (Zir. 16, 2.) 


St. Markus. 
12,41. Nach Hopf a. a. D. ©. 319 ift gegen den ©. eine Ver- 
derbnis. 


14,8. 


21,26. 
23, 32. 


11,48, 


Die Yutheranität der Wrobebibel. 15 


we 


St. Lukas. 
Was iſt gegen %- geändert ? 
ſchlicht — ſ. 3. Pred. 7, 13. 
L. hat Tal wie Jeſ. 40, 4. 


. zufegen — hat L. nicht in diefem Sinn, und atvorou. 


bedeutet das nicht. Grimm clavis: propositis quaestionibus 
sollicito et ita ad respondendum prolieio. Grot.: elicere. 
x. folgt der Vulg. Eher nad Dbad 6: ausforſchen oder: 
ausholen (Starke), val. Sir. 13, 14. oder: herauäloden 
(Zür. B.), vgl. 1 Makk. 10, 77. oder: ihn zu reizen, was 
ja aud) von Gott jteht. 
vornehmer — ſ. 3. St. i. Eith. 6, 1. errın. überſetzt 
x. auch Jeſ. 3, 5. mit ehrlich, was belafjen wurde (val. 
Regiſter), ebenſo Pſ. 145, 12. Starke: höherer. 
die Anderung nad Var. 
jollte die Schreibart „zween andere — Übelthäter” ange— 
wendet werden; zaxovpyo« tt Näherbeitimmung zu rsoeı 
Ars 
dad zwar nicht mehr verjtändlich; urfprünglich zewar, 
zumahr — in Wahrheit (val. Allg. Ev.:luth. Kirchenzeita. 
1884, ©. 318 Anm.). Geändert it e8 2 Moſ. 9, 16- 
1 Ka. 8, 13. (2 Chron. 6, 2.). Mich. 4, 10. (mo es 
guten Zinn hätte). Weish. 18, 6. Nöm. 3, 1. 10, 18.; 
ganz getilgt 1 Kor. 3, 11. Ebenjo zu ftreichen wäre es 
Jeſ. 14,18. 1 Kor. 14, 10. Wenn im Gried. uew ſteht, 
aud ohne Nachjag wie Apg. 1, 1. wird ſich nichts ein- 
wenden lajjen, aber Matth. 23, 31. und hier jollte es wie 
Röm. 3,1. in fürwahr geändert werben. 

Evgl. St. Johannis. 


.Die Änderung iſt zwar Bengels N. T. entnommen, aber 


der Ausdrud tit zweideutig, man fünnte meinen, die Ser: 
jtreuten ſeien Griechen (unter - von), während man offenbar 
Luthers Überſetzung dahin verbejjern wollte, daß nicht 
die Griechen jondern die Suden das Subjelt der dıaonocı 
find. Beſſer de Wette: bei. Oder näher bei L.: will er 
zu denen gehen, die unter den Griechen hin und her zer- 
jtreuet liegen. 


3,26. 


’ 


12 13. 


15,3. 


25 24. 


27,19. 


11,15. 


Seble 


Apoitelgeichichte. 
suvorderjt oder zuvörderft? val. i Kor. 15, 3. Y. hat 
3, 26.: zu fodverit und I Kor. zu fordert. 


. behandeln — ſ. 3. 4 Mo. 20, 15. Bengel bleib 


bei X. 

beitatten — Y. nad) der Vulg. curaverunt, beſchicken odder 
vorforgen; beitatten hat er nur in Verbindung mit zum 
Grabe oder zur Erden. 

Nah Hopf a. a. O. S. 323 hat Y. Thors; cebenjo 
Dett. B. 

Belehrung — hat Y. nicht, bei Grimm, W. B. ohne 
Beleg. Wir haben Wandel nod in jeinem Sinn im 
Hedensarten wie: Mandel jchaffen. Aber es liegt uns 
allerdings nahe, das Wort hier im Sinne von Sal. 1, 13. 
zu veritehen. Es wird genügen, hinter Wandel in 
Klammern zu ſetzen: Befehrung, wie die Dett. B. Ebr- 
6, 12. thut. 

angehen — hat X. nit in dieſem Sinn; bei Grimm, 
W. B. ältejter Beleg: Philander. Man jagt jebt noch: 
was mich anlangt. X hat anlaufen = um Hilfe und 
Beritand bei einem anhalten, jo Pſ. 34, 6. val. Yuthers 
Randglofje;, 2 Makk. 4, 36. 2 Kor. 11, 28. ebenfalls 
evruyyar. Bengel bleibt bei X. 


. unterbinden — hat Y. nicht (doch nach Weigand ahd. 


und mhd.). Dafür: gürten (VBar.) oder zufammenbinden. 
Bengel näher bei L.: bunden das Sch. von unten ber 
(oder von unten auf). 
Gerätſchaft — hat. nicht; er überjegt nad) der Vulg. 
Statt Gerätſchaft (Bengel) muß wie Jona 1,5. Ge— 
räte gejegt werden (jo auch de Wette, Zür. B.). 
Römer. 
Berwerfung, Annahme — nicht lutheriſch; näher 
bei X. Bengel. Annahme tft unmöglich, weil L. An: 
name Unname braudt; aud bei Grimm, W. B. ohne 
Beleg. Dagegen hat %. Annehmung (der Heiden), das 
wir noch bei Schiller, Fichte u. a. finden. So hier 
Starte. 


— 





15,3. 
15,16. 


10,11. 
16,17. 





Die Lutberanität der Probebibel 157 


Shmähungen — hat. nicht, vgl. Schröder 3. Pſ. 69, 10. 
priefterlih warten — nad) Luk. 1, 8.: des Prieſter— 
amts pflegen, warten am Evangel. 

1 Korinther. | 
was tjt gegen 2. geändert? die Var. haben ja jenen. 
2 Kor. 7,6. }. Ankunft — hat L. in der Bibel nicht, 
jonjt braucht er es wie Sans Sachs u. a. — Abfunft, 
doch in einem Brief auch = adventus (bei Grimm, W. B. 
nicht belegt). Bengel, Starfe: Gegenwart, wofür X. 
Segenwärtigfeit hat, naoovona 2 Kor. 10,.10. 
Phil. 2, 12. 

2 Storinther. 
ferne vom Herrn — ftatt diefer jchroffen Anderung 
würde genügen: dem Herrn zu. Starfe: von dem Herrn. 
Bar.: Dieweil wir daheim find yn dem leibe, jo wallen 
wir ym abwejen von dem Herrn, oder: fo find wir nicht 
daheim bey dem Herrn. 


10,1. f. dreiſt — hat X. nicht; er braucht in Verbindung mit 


3,26. 


4,25. 


thürftig: Fed und mutig (jo Zür. B.). Dreiſt erfcheint 
nad) Grimm jpät, ift aber jehr alt, weil mit Yuwoooc ver: 
wandt, aljo hier (Haopew) ganz entiprehend. Früher als 
dreiſt erfcheint herzhaft oder herzhaftig. Bengel: 
beherzt, daS auch bei L. vorkommt. 
Galater. 

Warum hier und jonit, z. B. Eph 1, 1. 2 Tim. 3, 15.: 
Glaube an Chriſto Jeſu, während das Chriſto Yuthers 
geändert iſt (Matth. 22, 42.) Apg. 24, 24. Phil. 3, 9., 
wie L. ſelbſt Chriſtum hat Röm. 3, 22. Sal. 2, 16. 3, 22. 
Kol. 1, 4. 2, 5. af. 2, 1. So hat X. Chriſtum (ange 
hören) Mark, 9, 41. 2 Kor. 10, 7. Sal. 5, 24., wo Die 
Probebibel (mit Necht) Chrifto jest. Röm. 8,9. 15, 20. 
Ebr. 3, 14. iſt Chriftus geändert in Ghrifti (vgl. Hopf a. 
a. O. ©, 226); die Stellen find aber ein Beweis, daß 
Chriftus nit notwendig deiliniert werden muß. Bengel: 
in Chriſto Jeſu. 

übereinfommen — hat L. nicht. Er überſetzt nad 
der Vulg., vgl. übrigens jeine Erklärung des Briefs. 


158 Jehle 


Nach Mark. 14, 56.: übereinſtimmen, oder beſſer (de Wette, 
Zür. B. u. a.): entſprechen. Geiler v. Kaiſersberg, Poſtille 
(1522): die Getät und der Name ſollen einander ent— 
ſprechen. Oder nad) 2 Kor. 6, 16.: hat eine Gleiche mit; 
Bengel: Gleichheit. 
Epheſer. 

3, 19. Nach Hopf a. a. O. S. 201 heißt es bei L.: die doch alle Erk. 

3, 19. Zuſatz zweideutig — beſſer: andere Überſetzung. auch von 
Luther. Schott, Geſchichte der teutſchen Bibelüber— 
ſetzung Dr. M. Luthers, ſagt S. 158, 154 ganz aus— 
drücklich, die Überſetzung: Chriſtum lieb haben ꝛc. ſei 
nicht von Luther. 

5,16. (Kol. 4, 5.) ausfaufen — hat L. in der Bibel nicht | 
und jonjt (wornad Grimm, Furzgefaßte Gefchichte ꝛc. zu 

ergänzen) nur im Sinn von „einem alles abfaufen“ 

(fehlt bet Grimm, W. B. ver Beleg aus Luther). Die 

Anderung it unnötig; denn L. hat mit feiner Überfegung 

ganz denjelben Sinn verbunden, val. Kirchenpoftille auf | 

20. ©. n. Trinit. Zür. B.: erfaufet die gelegene Zeit. 

Oder: nüßet die gel. Zeit. Bar.: Löfet die Zeit (val. | 

die Nandalofje: Es begegen einem Chriſten jo mancherley | 

hindernis und vrſach nützlich Gefchefft zu verjeumen, das 

er ſchier, wie ein Gefangener ſich [os reiffen, und die | 

zeit aleich jtelen, und etwa auch thewer löjen mus . . . .). 

Philipper. | 

1,18. Vorwand — hat X. nit. Er überjeßt nad) der Vulg. 
Man könnte jegen: unrechter. (unehrlicher) Weife oder auf: 
richtiglich. 

3,14. Fehlt bei Y. das r. Heor des Grundtertes? Bindfeil hates.: | 

1 Theſſalonicher. 

2,5. verjtedt — braucht I. nur eigentlich ; eher mit v. Mever: 
verftellt, was zugleich eine leichtere Anderung wäre. 

5,8. Krebs wünſcht Hopf a. a. O. ©. 239 beibehalten. 

| 1 Timotheus. 

4,2. Yügenreder hält man eben für einen Drudfehler. 

5,4 Enkel — ſ. x. 1 Mo). 21, 23. Starke: Kindesfinder. 

In unſrem Spruchbuch fehlt es ſeit lange. 


2,4. 


3,3. 


6,12 


12. 


Y,1t. 


Jehle, Die Yutheranität der Probebibel. 159 


2 Timotheus. 

Händel — ſ. 3. Helef. 27, 9. War.: ynn der narung 
geſchefft. 

Titus. 
verhaßt — hat X. nicht. Bengel: feindſelig. So über: 
ſetzt L. Spr. 30, 23. Sir. 20, 15. dad wmorroc, wo— 
mit Heſychius das «. A. orvyırog erklärt. Oder nad) 
ver Var.: häßig, häßiglich (bei Keiſersberg — verhaßt, 
j. Grimm, W. B.), häßlich (Grimm, W. B. 556, 2. a). 

Gbräer. 
Warum fann das „wanfel“ nicht beibehalten werden ? 
Die Dett. B. jet daneben in Klammern: träge. Aber 
das mwanfel iſt ja noch ganz wohl verſtändlich, giebt auch 
ein.n guten Sinn, val. 10, 23. Andre überfegen voston. 
mit „stumpf“, &. r. r. az. 5, 11.: unverjtändig. 

Judas. 
Liebesmahle — hat X. nicht. Bengel: Liebesmahlzeiten. 

Offenb. St. Johannis. 

bläulich — hat L. nicht; bei Grimm, W. B. älteſter 
Beleg Simplic. (gelb:blählih), Warum nicht blau? ſ. z. 
2 Moſ. 25, 4. To wurde varıydırog gegeben 2 Moſ. 
25, 4. 28, 31. 35, 6. 36, 11. 39, 31. 4 Moſ. 4, 6. 12. 
15, 38. Sir. 45, 12. 


13,8. 21,27. Lebens buch — hat X. nicht; bei Grimm, W. B. 


18,9. 


Beleg: Schubart. Starke, Bengel: in dem Buche des 
Lebens des L.; ebenfo noch neuejtens die Zür. B. Zur 
Häufung der Genitive vgl. 19, 15. 
beflagen — 8. hat nit jemand bel, (Ser. 16, 4.2), 
ſondern flagen. To it auch Jerem. 16, 6. bergeitellt 
worden; vgl. Sad). 12,10. u. ſonſt. Näher bei L. Bengel: 
flagen über jie, val. 5 Mof. 34,8. Gerod, Balmblätter, 
Berge Gilboa: 

Aber mein Bruder, 

Did will ich klagen, 

Leid um Did) tragen, 

Jonathan traut. 


* ÿůÿůEIÿρy—wJ — 


160 Neſtle, Salomps Alter bei feiner TIhronbefteigung. 


Man wird der voranitehenden Unterjuhung den Vorwurf 
der Kleinigfeitsfrämeret machen; aber wer juchen will, fanıı wohl 
da und dort noch weiteres finden. Und wenn von den gemachten 
Ausftellungen aud nur der zehente Teil als wirklich zutreffend 
anerfannt werden muß, jo jteht in diefem Punkt die Lutheranität 
der Wrobebibel nicht ganz feit. 

Bei diefer Durcharbeitung des ganzen Nevifionswerfs ergaben 
fih dem Bf. von jelbit eine Neihe weiterer Beobachtungen und 
bildete fich ein Urteil über das ganze Unternehmen. Er hat 
jolche Einzelheiten al& Beiträge zur Probebibel und jeinen grund: 
ſätzlichen Standpunft als ein Wort für die Yutherbibel niederge: 
legt in der Abhandlung: Hie Yutherbibel, hie Probebibel, Lehrer: 
bote 1886, Wr. 5. 


Salomo’s Alter bei feiner Ehronbefteigung. 
Bon Dr. €. Neffe. 


Im Jahrgang 82 von Stades Zeitſchrift für die alttejtament: 
liche Wiſſenſchaft (S. 312/4) veröffentlichte ich einen Eleinen 
Artikel über die Frage: Wie alt war Salomo, als er zur Ne 
gierung fam? Während die biblifchen Bücher feine bejtimmte 
Angabe hierüber boten, lafjen die apojtolifhen Konjtitu- 
tionen ihn damals zwölf, Joſephus vierzehn Jahre alt fein; 
für ein zmölfjähriges Alter treten auch jüdiſche Eregeten des 
Mittelalters ein. Im Hebrew Student für 1882 wurde mein 
Aufſatz von Dr. B. Feljenthal, Rabbi of Zion Synagogue, Chicago 
ind Engliſche überfegt; aber auf meine Frage: Woher die apoitoli- 
ihen Konjtitutionen diefe jo beitimmte Zahlangabe haben oder 
wo ſie jich jonjt noch finde, befam ich nur infofern eine Antwort, 
als Stade im folgenden Yahrgang feiner Zeitſchrift S. 185 aus 
einem Brief von Dr. David Kaufmann in Budapeft die Mit- 
teilung veröffentlichte, daß fi jene Zahlangabe und deren Be- 
gründung zuerit im Seder Olam r. c. 74 finde und von dort von 
Raſchi und andern übernommen worden fei. Für die apoftolifchen 
Konftitutionen konnte diefes hebräifche Schriftwerk felbitverftändlich 
nicht die Quelle fein. Zu meiner Überrafhung fand ich fie nun 
jelbft in der Septuaginta. Denn Bao. y, 2, 12. (I reg. 2, 12.). 


Nejtle, Zur Einteilung des Naterunjers in fieben Bitten. 161 


lieit der codex Alexandrinus mit etwa 20 anderen Hdſch. und 
verjchiedenen Überſetzungen (flow., armen., georg.): xaı ZoAoucv 
exadıoev- Ente TOoVv JHoovov Javıd TOV TAaTOOG avrov Erov 
OGAÆGC x nromaodn 7) Bacıkecıa avrov opodoa. Wenn 
man näher zufieht, entipricht diefe Angabe einer Reihe von 
chronologiſchen Anhaltspuntten, die wir in den Gefchichtsbüchern 
finden; andern widerspricht jie aber jo entjchievden und zetat 
aufs neue, wie jchwanfend der Boden it für die Chronologie 
der tjraelitiichen Könige. 


Bur Einteilung des Baterunfers in fieben Bitten. 
Von Dr. €. Neftfe, 

Meitcott & Hort druden in ihrem N. T. Nr. 6 das Vater: 
unjer jtrophijch und nehmen hiebei V. 13 als eine zweiteilige 
Strophe, alfo was man jett als jechöte und fiebente Bitte unter- 
Icheidet, in eine zufammen und jegen naturgemäß vor aAdla auch 
nur ein Komma. Sicherlich haben fie damit Net. wie die 
reformierte Kirche; aber jeit wann findet fich die Trennung und 
die Zählung von fieben Bitten? 

Luther in feiner Auslegung deutſch des Vaterunfers für die 
einfältigen Laien (1519. Werke Knaake II 74 ff.) hebt ausdrüdlich 
zum öfteren die Teilung in den „Anfang und Berettung“ und 
die jieben Bitten hervor (S. 83, 86) und fagt zum Eingang 
der eriten: „Diefe ſieben Stüd mögen auch wohl ſieben guter 
Lehre und Vermahnung genannt werden, denn als auch der 
heilige Bischof und Martyrer S. Cyprianus berührt, find es 
jieben Anzeigung unjeres Elends und Dürftigfeit“”. Auch vor 
Luther wird die Siebenteilung längſt die gewöhnliche in der Kirche 
gewefen fein; um jo mehr wäre e& interejjant, zu erfahren, mie 
ſich die Sechsteilung in die reformierte Kirche herübergerettet hat, 
und um fo mehr fiel e8 mir auf in eimer altbayrifhen dem 
9. Ih. angehörigen Überjegung und Auslegung des Vaterunfers die: 
jelbe zu finden (Piſchon, Denkmäler der deutichen Sprade, ©. 10 ff.). 


Theol. Studien a. W. VII. Jahrg. 11 





162 
Beridtigungen zum erften Heft. 
Z. 3 v. o. u. S. 66 Z. 1 v. o. u. S. 65 3 10 v. o. 


ſt. d. Agypter lies: ägypt. Erzählungen. 
55 3. 12 v. o. ſt. den l.: dem. 


— 
1) 
ı Hi 


S. 56 3. 22/23v. o. ft. Aurelian l.: Arfadius. 

S. 56 3. 23 v. o. ft. hochgeitellten I.: höchſt geitellten. 
2.573. 7 v. u. ft. Mareten l.: Maceten. 

S. 58 3. 10 v. o. ft. einbilde I.: einbilden. 

2.65 3. 17 v. o. ft. bis es l.: bis das Nichtfeiende. 
S. 65 3. 25 v. o. it. ihre l.: ihr. 

S.67 3.15 v. u. ft. Hypotheſen l.: Hypoſtaſen. 


. 73.14 v. o. ft. fonit l.: fo oft. 


Buchdruckerei von Greiner & Ingeheuer in Lubwigäburg. 


Bie Lehre Jeſu vom Lohn nad) den Bynoptikern. 
Bon Pfarrer Amfrid in Beterzell O.A. Sulz. 


Mir find gewohnt, die beiden Begriffe von Lohn und Gnade 
als gegenſätzlich aufzufaffen, indem wir von der paulinifchen An- 
Ihauung ausgehen, in welcher jeder Gedanke an Lohn durch das 
Überwiegen der Gnade ausgeſchloſſen jcheint. Nichtsdejtoweniger 
finden fie fich jowohl in den Reden Jeſu als in den Briefen des 
Apoſtels jo zujammengejtellt, daß fie einander zur Ergänzung 
dienen. Und wenn auch der Ausdruf yapız in den drei erjten 
Evangelien nie im fpezifiich paulinifchen Sinn vorfommt, jo wird 
man doc nicht leugnen fünnen, daß der Sache nad die Gnade 
oder das Erbarmen Gottes in den Reden Jeſu, befonders in den 
Gleichniſſen eine große Rolle fpielt. Daß aber die Lehre Jeſu 
vom Lohn mit dem Begriff der Gnade nicht im Widerſpruch jteht, — 
dies zu zeigen, it der Zwed der folgenden Unterſuchung. 

Wollen wir eine Darftellung des ſynoptiſchen Lohnbegriffs 
verjuchen, jo find wir hiebei genötigt, auf einen vortrefflichen Auf: 
ja von B. Weiß in der Zeitfchrift für chriftliche Wiffenfchaft und 
chrijtliches Leben 1853, „die Lehre Chrijti vom Lohn“, Nüdjicht 
zu nehmen. So treffend übrigens die Gedanken von Werk Ind, 
fo Scheint jeine Auffaſſung doc von einem doppelten Irrtum Durch: 
zogen zu fein: einmal, was den Begriff des Yohns, jodann was 
den Begriff der Belohnung betrifft. Oder follte es richtig fein, 
daß die pflichtmäßige Leiſtung feinen Anfprud auf Lohn hat, ſon— 
dern nur die über das Pflichtmäßige hinausgehende? Wird uns 
denn nicht vielmehr gerade für treue PBi:icht: und Berufserfüllung 
Lohn verheifen (Matth. 24, 45 ff., Luc. 12, 35 ff. 42)? Sollen 
wir nicht gerade für die treue Verwertung der uns anvertrauten 
Gaben Lohn empfangen (Matth. 25, 14 ff.)? Das iſt doch nichts, 


11* 


164 Umfrid 


was über das Pflichtmäßige hinausgeht! Auch im bürgerlichen 
Leben gilt ja doch der Grundjag: für treue Pflichterfüllung 
befommt der Knecht feinen Lohn, der Beamte jeine Bejoldung, 
der Offizier feine Gage, nicht aber für das, was über die Pflicht 
hinausgeht. Soll nur das belohnt werden, was einer mit Über- 
bietung feiner Pfliht und Schuldigkeit leiftet, jo kommt man 
notwendig auf das fatholifche opus supererogativum, auf dieſes 
„verdienſtliche Werk“ xar e£oxnv, das eben deshalb Anfpruch auf 
Lohn erhebt, weil es eine höhere Stufe als die des pflichtmäßigen 
Handelns repräfentiren will. Der zweite Fehler in der Daritell: 
ung von Weiß dürfte darin liegen, daß er den Begriff der Be: 
lohnung zu einjeitig von dem des Lohns zu trennen ſucht. Wäh— 
vend wir nämlich nach feiner Anfchauung bei dem Begriff des 
Lohns den feiten Boden des Nechts unter den Füßen haben, das 
fih nad ewigen Normen in unerfchütterlicher Gejegmäßigfeit voll: 
zieht, jo ift dagegen nah Weiß die Erteilung der Belohnung nicht 
eine Sache der pflichtmäßigen Notwendigkeit, jondern der einjichts- 
und rüdfichtsvollen Freiheit; fie gefchieht nicht nad) der Norm Des 
Geſetzes, fondern ſie tft ein Gnadenaft; fie fann nicht gefordert, 
fondern höchſtens erwartet und gehofft werden, zwar nicht um 
des Rechts aber um der Billigfeit willen. Die8 mag man als 
zutreffend gelten laflen, jofern man wirklich bei dem Begriff des 
Lohns fi) auf dem Boden des abjtraften Rechts bewegt. Aber 
wo follte denn diejer ftrenge Nechtöftandpunft in den Reden Jeſu 
gewahrt fein? Wenn Jeſus den Seinigen Lohn verheift, fo 
geſchieht es thatjächlih nirgends, weil ſie diefen Lohn im ftrena 
rechtlichen Sinn verdient hätten und nun einen Rechtsanſpruch Dar- 
auf erheben Fönnten. Selbit wenn es in einzelnen Stellen jo 
heinen mag, als hätten die Jünger ein Verdienft, das fie zu 
Forderungen Gott gegenüber berechtigt, jo tft dies doch nur ſchein— 
bar. In Wirklichkeit ift die Yohnerteilung eben aud ein Gnaden- 
alt; „ſie kann nicht gefordert, jondern höcjitens erwartet und 
gehofft werden.“ Der Lohn, wie er von Jeſu in Ausficht geftellt 
wird, unterjcheidet ſich alfo nad) dieſer Seite hin nidt von der 
Belohnung.! 

! Auch, die bibliſch-theologiſche Skizze von R. Neumeifter „Die 
ueutejtamentliche Lehre vom Lohn“ verfolgt diefelbe Tendenz, nämlich 


— 


Die Lehre Jeſu von Lohn nad) den Synoptifern. 165 


I. Hat nun aber der Lohn überhaupt eine Stelle in der 
Heilsöfonomie des Neuen Tejtaments? Sit das Streben nad) 
Lohn nicht eine felbftfüchtige Regung, die unter dem Niveau der 
hriftlichen Sittlichkeit jteht? Jedenfalls giebt es nad) der Anficht 
Jeſu ein verfehrtes Streben nad) Lohn, eine Ruhm» und Lohn: 
fucht, die er entjchieden verwirft. Indem Sefus in der Berg: 
predigt Matth. 6 daran geht, die drei Pflichtenkreife, in welchen 
fih die dixauoovvn verwirklicht, zu bejchreiben, die Pflicht gegen 
den Nädhiten oder die Mohlthätigfeit, die Pflicht gegen Gott oder 
das Gebet, die Pflicht gegen ſich felber oder Falten und Ent: 
fagung, zeigt er jedesmal den pharifäifchen Abmweg auf, der von 
feinen Jüngern vermieden werden ſoll. Diefer Abweg bejteht 
aber darin, daß man Almojen giebt, betet und fajtet, mit der 
Tendenz von den Leuten bewundert zu werden und den Ruhm 
eines wohlthätigen frommen Mannes bei den Menfchen zu erlangen. 
Mer nad ſolchem Lohn ftrebt, mag fein Ziel erreichen; er hat 
aber eben damit jeinen Zohn dahin (zum Asyo vum, aneXovoıy 
rov modov avrov 6, 2, 6. 16.); d. h. er hat fich zu begnügen 
mit dem ihm von Menfchen !gefpendeten Ruhm, er hat feinen 
göttlichen Lohn mehr zu erwarten, offenbar weil es ihm nur um 
die Verherrlihung der eigenen Perſon, um das Yeadıvaı ( V. 1) 
zu thun war, ftatt um die Verwirflihung der dixauooven und 
um das göttliche MWohlgefallen. Bor diefem Abweg fol ein Jünger 
Jeſu fih hüten: „Hütet euch eure Gerechtigkeit (nicht — Wohl- 
thätigkeit) zu üben vor den Menfchen, um ihnen in die Augen zu 
fallen; ſonſt habt ihr feinen Zohn bei eurem Vater in den Him- 
meln“ (8. 1). 


nachzuweiſen, daß es ſich bei dem neutejtamentlichen Begriff von Lohn 
nicht um ein ftrengredtliched, jondern, wie er ſich ausdrückt, um ein 
„gnadenrechtliches“ Verhältnis handelt, daß der Gedanke der Billigkeit 
den der Recdtöverpflichtung entjchieden überwiegt und daß Lohn und 
Belohnung nicht auseinander gehalten werden kann. Übrigens find 
in diefer Schrift die neuteftamentlichen Lehrbegriffe jo völlig unter 
einander gemengt, daß man zu Feiner Klarheit dariiber fommen Tann, 
was nad) der Unficht des Verfaſſers Jeſus über den Lohn gelehrt 
haben fol. 


166 Umfrid 


Ebenfo verkehrt wie der heuchlerifche Abweg der Phärifäer ift 
der gemwinnfüchtige der Zöllner und Heiden. „Denn wenn ihr 
liebet, die euch lieben, welchen Zohn habt ihr (dann zu erwarten) ? 
Thun nicht ebenſo auch die Zöllner? Und wenn ihr eure Brüder 
(Volfsgenoffen, nicht Himmelreichsgenofjen) bemwillfommnet, mas 
thut ihr Sonderlihes? Thun nicht auch die Heiden dasjelbe ?* 
(Matth. 5,46 f.) Wenn das Motiv für eure Liebe die erwartete 
Liebeserweifung anderer it, wenn der Grund für euer Grüßen 
der Munfch iſt wieder gegrüßt zu werden, wenn aljo irgend die 
Selbſtſucht und Eigenliebe noch im Spiele iſt, jo thut ihr nichts 
Sonderliches, d. h. nichts ſpezifiſch Chriftliches, könnt alfo aud 
den ſpezifiſch chriftlichen Lohn für eure Leitungen nicht erwarten. 
Derjelbe Gedanfe iſt bei Lukus etwas anders gewendet und weiter 
ausgeführt: „Wenn ihr liebet, die euch lieben, welcher Danf wird 
euch dann werden? (noıe vum Yaoıg Eorıw), Und wenn thr 
wohlthut denen, die euch wohlthun, welcher Dank wird euch dann 
werden? Und wenn ihr denen leihet, von denen ihr es mieder 
zu erlangen hoffet, welcher Dank wird euch dann werden? Aud 
Sünder leihen Sündern, damit fie das Gleiche empfangen“ (6, 32 ff.); 
d. h. wenn ihr euch nicht über die Stufen der Unfittlichen erhebet, 
die nur um der iwdifchen Wiedervergeltung willen Gutes thun, 
alfo das Gute durch ihre Selbitfucht verunreinigen, fo habt ihr 
feinen Dank, feine mwohlgefällige Anerkennung von Gott zu erwar: 
ten; ihr werdet euch vielmehr mit jener weltlihen Wiedervergeltung 
begnügen müſſen. Dies fcheint auf die Spige getrieben durch die 
Regel, welche Jeſus für Einladungen aufitellt; hier verlangt er 
nämlih, daß man nicht Freunde und Brüder, Verwandte und 
reiche Nachbarn einlade mit der unverhohlenen Abficht wieder ein: 
geladen zu werden; vielmehr joll man Arme, Krüppel, Lahme, 
Blinde rufen: „in diefem Fall, fährt Jeſus fort, bift du jelig, 
weil ſie nicht haben, dir’3 zu vergelten“ (Luc. 14, 12 ff.) Gerade 
wenn die irdifche Vergeltung unmöglid gemacht und alfo jedes 
irdiſch-ſelbſtſüchtige Motiv ſchon von vornherein ausgeſchloſſen it, 
gerade dann iſt der Menjch in der richtigen Berfaffung, in der ihn 
Sefus haben will, um mit ihm von einem göttlichen Xohne reden 
zu können. Ä 


Die Lehre Jeſu vom Lohn nah den Synoptifern. 167 


Nach dem Bisherigen könnte es fcheinen, als ob das Streben 
nad) Lohn nur dann von Jeſus abgewiefen werde, wenn es ſich 
auf irdiſche Dinge richte. Er hat aber auch mehrmals Anlaß 
genommen, die doc am meitelten geförderten Jünger mit ihren 
Anfprühen auf Lohn in die richtigen Schranken zurüdzumeifen, 
obgleich fie hauptfählih an eine jenfeitige himmliſche Ber: 
geltung dachten. Als Petrus in felbjtgemwiffer Zuverficht auf die 
große Leiltung der Nufopferung hinwies, die er mit feinen Ge— 
nofjen in der Nachfolge Jeſu übernommen habe, und fragte: mas 
wird uns (dafür) werden? (Matth. 19, 28.), da hat Jeſus aller: 
dings mit der großartigen Verheifung geantwortet, daß fie jozu- 
fagen als die Magnaten des himmlischen Reichs den Thron um- 
geben und die zwölf Stämme Iſraels richten ſollen; hat aber 
daneben offenbar die ſtillſchweigende Bedingung gemacht: „wenn 
fie bi8 zum Ende ausharren werden”. Diefe Bedingung muß 
nicht notwendig in Erfüllung gehen; denn „viele erite werden 
legte fein und letzte werden erfte fein“; d. h. die Jünger könnten 
aud noch in die legte Stelle rüden, und zur Illuſtration dieſes 
Gedankens erzählt Jeſus das Gleichnis von den Arbeitern im 
Meinberg, dem zufolge der frühere Eintritt in das Gottesreich 
feinen Vorzug und feinen Anſpruch auf befonderen Zohn begründet. 
Auffallend bleibt immerhin, daß Jeſus die lohnſüchtige Frage des 
Petrus nicht einfach abgemwiejen, vielmehr dem Eudämonismus der 
Jünger Nechnung getragen hat; doc dürfte der Anſtoß durch 
unjere Erklärung wenigftens gemildert fein. In ähnlicher Weiſe 
bat Jeſus den Rangjtreit gejchlichtet. Auf die Frage der Jünger, 
wer unter ihnen der größte im Himmelreich fer, alſo den meijten 
Anjpruch auf himmlischen Lohn habe, antwortet Jeſus, indem er 
ein Kind in ihrer Mitte ftelt (Matth. 18, 1 ff.) und von ihnen 
verlangt, daß fie jo anſpruchslos mie die Kinder werden, alfo 
eigentlich jeden Anfpruh auf Lohn aufgeben; wer es in dieſer 
Anſpruchsloſigkeit am weiteſten bringt, oder wer nad) Matth. 20,26. 
die größte Übung im felbftvergeffenden Dienen gewinnt, der wird 
der Größte fein im Himmelreich, weil er am meijten empfänglich 
fein wird für die zufünftige Seligfeit. Wenn die Zebedatden die 
eriten Ehrenpläße im Himmelreich ſich ausbitten wollen, jo bezeich— 


168 | Umfrid 


net es Jeſus ald Nefervatrecht Gottes! darüber zu entfcheiben, 
wer folcher höchſten Würde teilhaftig werden foll, — die unge: 
bührliche Anmaßung der Jünger vielleicht auch hier gelinder zurüd: 
weifend, ald wir erwarten möchten. 

Das Ergebnis der bisherigen Unterfuhung können wir in 
dem Sabe zufammenfajjen, daß ſowohl das fcheinheilige Streben 
nad irdifchem Ruhm, als auch jedes jelbitjüchtige Nefleftieren auf 
irdifche Miedervergeltung den Menjchen unfähig macht, den von 
Jeſu in Ausficht geftellten Lohn zu erlangen, ja ſogar daß jedes 
anfpruchsvolle Verlangen nad) dem himmlischen Lohn, jedes ehr: 
füchtige Sichhervordrängen, jedes Hafchen nach den erſten Stellen 
von Jeſu zurüdgemiefen wird. ‚Wir möchten hier fogar das 
o&vuwoov aufitellen: derjenige, welcher nicht nach Lohn verlangt, 
wird denjelben am jicheriten gewinnen. 

Es giebt nun aber auch ein berechtigtes Streben nad) Lohn, 
und wenn auch Jeſus denjenigen Standpunkt nie protegiert, der 
die Lohnfrage bejonders in den Vordergrund jtellt und ſtets mit 
der Ausficht auf Lohn rechnet, fo läßt er doch in dem befannten 
Gleichnis Matth. 20, 1: ff. die Arbeiter um Lohn arbeiten und 
giebt damit ausdrüdlich zu, daß das Ziel der Arbeit im Gottes- 
veiche, der Zweck, der mit diefer Arbeit eritrebt wird, der himm— 
lifche Lohn fein dürfe. Es iſt eine fcharffinnige Ausführung bei 
Weiß, in welcher er von dem allgemein anerfannten Sabe aus: 
geht, daß das fittliche Streben nur dann rein ift, wenn das Gute 
um feiner jelbjt willen gewollt it; wird es aber um eines ihm 
fremden und äußerlihen Zwecks willen erjtrebt, fo iſt es verun- 
reinigt, it nicht mehr das Gute im vollen Sinn des Worts. 
Geſchähe nun aber im Chriftentum das Gute nicht um feiner jelbit, 
fondern um des Lohns willen, jo — follte man meinen — mürde 
es nicht die höchſte Stufe der Sittlichfeit repräfentieren, auf der 
das Gute Selbjtzwed fein müßte. Weiß ſucht nun aber nadhzu: 
weifen, daß der im Chriftentum erjtrebte Lohn der fittlichen 
Leiftung nichts Fremdes oder Äußerliches, fondern gar nichts 
anderes jet als die Vollendung des von uns erftrebten Guten: 


Weiß opponiert mit Unrecht gegen diefe Deutung. 








ee ee nn SEP ————— 


Die Lehre Jeſu vom Lohn mad) den Eynoptifern. 168 


Gute um des fpezififch = hriftlichen Zohnes willen, jo will er es 
eben damit um des höcdhiten Gutes —, alfo doch wieder um fein 
jelbjt willen. So jtellt ji) der Lohn, wie Mehlhorn (in den 
Sahrbüchern für protejtantifche Theol. 1876, 4. Heft, der Lohn: 
begriff Jeſu) bemerkt, „als die natürlihe Frucht unſeres Suchens 
und Strebens“ dar. 

Das höchſte Gut, das dem Ghriften als Eöftlichiter Lohn in 
Ausficht geitellt wird, realifiert fich nun aber für die Gejamtheit 
in der Baoıkcıa TovV Yeov, für den einzelnen in der Zorn arovıoc. 
Sit das Gottesreich aufgerichtet und damit der Inbegriff alles 
Glücks und aller Seligfeit gegeben, und iſt zugleich die dınanoovvy 
vermirflicht und damit die ethische Perfönlichkeit vollendet, jo iſt 
eben damit der Lohn erreicht, welchen das Subjekt in der Nad): 
folge Chrifti erjtreben darf. Daß diefer Lohn das bemwußte 
Ziel feiner Nachfolger fein joll, wird von Jeſus ausdrüdlich in 
der jeiner ganzen Xehre zentralen Forderung ausgeſprochen; 
nrete nv Bacıkcıav TOV HEoV xaı nV Öinaıwovvnv avrov. 
Berechtigt iſt alfo vor allem das Streben nad) der Vollendung, 
bei welcher das Reich Chriſti in Pracht und Herrlichkeit auf: 
gerichtet fein und fein Herrſcher in der Glorie des Himmels 
ericheinen wird. Berechtigt, ja gefordert iſt aber auch das Streben 
nad) eigener Bervolllommnung. Das Ideal der Gottähnlichkeit 
zu erreichen ijt einerfeitS die immer beſſer zu erfüllende Aufgabe 
des Chriſten, andererfeits ijt die Verwirklichung diejes deals der 
am Biel wintende Lohn. Von den Jüngern wird gefordert, daß 
fie durch Friedfertigfeit (Matth. 5, 9.), durch Feindesliebe (VB. 44 f.), 
durch uneigennüßiges Verhalten gegen Undankbare (Luc. 6, 55.) 
der Gottähnlichkeit, der Gottesfindfchaft immer näher fommen, und 
zugleich wird ihnen die volle Verwirklichung diefer Gottähnlichkeit 
als bejeligender Xohn angeboten: uaxupıoı &oı, urı avror vıoı 
YHEeov KAndTnOoVraı. 

II. Schon aus dem Bisherigen fonnten mir entnehmen, daß 
beim Lohnbegriff in den Reden Jeſu eine fittliche Arbeit im 
Dienjte des Gottesreihs vorausgefegt wird. Wenn wir nun 
genauer auf diefe jubjeftiven Vorausſetzungen eingehen, 
jo fällt uns vor allem auf, daß als grundlegend für alles Weitere 
nicht etwa eine möglichjt hervorragende Xeiftung, fondern ein vor: 


170 Umfrid | 


wiegend leidendes Verhalten erwartet wird, nemlich die Bedürf: 
tigkeit. Wenn in der Bergpredigt die geijtlih Armen, die Leid— 
tragenden, die nad) Gerechtigkeit Hungernden und Dürftenden, die 
um Gerechtigkeit willen Verfolgten jelig gepriefen werden, wenn 
ihnen das SHimmelreich, der Herzenstroit, die Sättigung mit Ge- 
rechtigfeit verheißen wird, jo iſt ja klar, daß hier für die Mittei— 
lung des Lohne zunächſt gar nichts als die Heildbedürftigfeit 
vorausgefegt wird. Aufgeichlofjene Bedürftigkeit iſt aber nichts 
anderes als Empfänglichfeit. Die Armen, welche ihr geifti- 
ges Elend fühlen, find am empfänglichiten für die reichen Güter 
des Gottesreichd, die Leidtragenden, welche die Jittlihen Schäden 
des Herzens, die fozialen Schäden des Lebens bemweinen, find am 
empfänglichiten für die Glüdfeligfeit des Meffinsreihs ꝛc. Wie 
hoch dieſe Empfänglichfeit gewertet wird, zeigt der prägnante 
Spruch: „Wer da hat, nemlich eben die für das Göttliche auf- 
geichloffene Empfänglichkeit, dem wird gegeben, daß er die Fülle 
(an geiltigen Gütern) habe; mer aber nicht hat — nicht einmal 
jene Grundlage der geijtigen Bedürftigfeit und Cmpfänglichfeit 
hat, — dem wird aud) das genommen, was er hat, bez. was er | 
an geiitigen Scheingütern bisher zur Schau getragen (Matth. 13, 12.; 
Luc. 8, 18.) ! 

Die Kehrjeite diefer aufgeichlojfenen Rezeptivität iſt eine 
achtunggebietende Feitigfeit, die auch zu den bewunderswerteſten 
fittlihen Heldenthaten befähigt. Aus ıhr refultiert vor allem die 
größte Kraft der Entjagung und des Verzichtleijtens auf das Eigene. 
Bon dem Jünger Yeju wird verlangt, daß er jogar das Auge 
fi ausreiße und die Hand ji abhaue (Matth. 5, 29 f.), wenn 
fie ihn hindern wollen, das erjtrebte Ziel der aorrpıa zu erreichen. 
Er kann Vater und Mutter, Sohn und Tochter zurüditellen hinter 
die Yiebe Chrifti und das von ihm dargebotene Heil (10, 37.); er 
fann ſich jelbjt dem ſchwerſten Yeiden unterziehen (9. :8) und 
jein Leben hingeben in der Selbjtaufopferung (V. 39). Er Hat 
die Kraft alles zu verlafien, was ihn im irdifchen Sinn noch | 
fejfeln fonnte (19, 27.), und von den Strebjamjten feiner Jünger 


! Daß Meyer eine andere Erklärung der Stelle giebt, hindert 
mich nicht, Die oben angegebene Deutung für die richtige zu halten. | 


z 6 


Die Lehre Jeſu vom Lohn nad) den Synoptifern. 171 


fann Sefus verlangen, daß jie ein ähnliches Opfer bringen fünnen 
wie er und denjelben Leidenskelch trinfen, den er im Begriff iſt 
zu leeren (20, 22.). AndererjeitS muß der Jünger der größten 
Hingebung an die pojitiven Berufs: und Liebespflichten fähig fein. 
Von ihm wird erwartet, daß er als Arbeiter im Meinberg des 
Tages Laſt und Hitze zu tragen verjtehe (Matth. 20, 1 ff.), daß 
er feine Anlagen und Gaben treu zu benüßen und zu verwerten 
wiſſe (Luc. 19, 11—27.; Matth. 25, 14—30.), daß er in treuer 
Pflichterfüllung jich ald brauchbarer Haushalter ermweife (Luc. 12,42), 
daß er in unermüdlicher Wachſamkeit fich für das Kommen des 
Herrn bereit halte (Matth. 24, 25 ff.). Wenn er einen glüd: 
lichen Ausgang, ein feine Arbeit lohnendes Ende erwarten will, 
fo muß er in feiter Glaubenstreue auf dem eingefchlagenen Weg 
beharren bis ans Ende (10, 22.) und in Belenntnistreue unver: 
rüdt zu feinem Herrn und Meiſter ſtehen, damit auch diefer ihn 
als jeinen echten Sünger anerfenne am Tage der Vergeltung 
(B. 82). As Ausflug jener hingebenden Grunditellung des 
Ehriften find dann alle jene einzelnen Tugenden zu betrachten, für 
deren Übung uns Lohn verheifen wird, jo die mit Selbſtbeherrſch— 
ung verbundene und auf Verfolgung des eigenen Rechts verzich: 
tende Sanftmut (5, 4.), die durch jelbitvergefjendes Weſen zu 
gemwinnende Friedfertigfeit (V. 9), die aus der Selbitlofigfeit reſul— 
tierende Herzensreinheit (V. 8), endlih die am fremden Elend 
mittragende Barmherzigkeit (B. 7). Wie hoch gerade die lettere 
als Bewährung des Glaubens gemertet wird, das zeigt jene Bilder: 
rede vom jüngiten Gericht (Matth. 25, 31 ff.), wo das Schidjal 

ı Die zentrale Bedeutung der Treue oder wandellofen Hingebung 
— für die hriftliche Lehre vom Lohn hat Beyer in Herzogs Real— 
Encyflopädte (XX, 2. Suppl.-Band) richtig hervorgehoben, wenn et 
jagt: „EI fommt nicht darauf an, wie viel oder wie lange jemand 
int Dienſte des Herrn gearbeitet (Matth. 20, 1 f}.\, jondern allein auf 
die Treue, mit welcher er gearbeitet hat, jo dab ichlieglich die Treue 
im Gebraud) der geſchenkten Gnadenfräfte die einzige Leiftung ift, an 
welche der Lohn gebunden iſt.“ Ebenſo Mehlhorn a. a. O.: „Nicht 
wie viel der Einzelne überhaupt leitet, jondern wie viel er im Ver— 
hältnis zu jeiner Kraft leijtet, darauf kommt e3 an, nicht auf die Zah! 
der Werke, fondern auf die Stärfe der Treue.” 


172 Umfrid 


der Völfer eben auf Grund der barmherzigen Liebeswerke ent: 
ſchieden wird. — Soviel iſt aus allenı flar: die Werke der Chriſten 
werden nie ijoliert aufgefaßt, ſondern fönnen nur als Ausfluß der 
Ipezififchschriftlichen Herzensitellung, der Hingebung an Chrijtus 
und an feine Sade bei der Zohnerteilung in betracht gezogen 
werden. Nur die um der Gerechtigkeit willen verhängte Ber- 
folgung oder die um Jeſu willen getragene Schmad begründet 
eine Ausfiht auf Lohn (Matth. 5, 10 f.). Nur wenn die Liebe 
zu Jeſu den Verzicht auf die Familienliebe bewirft (10, 37.), 
nur wenn man den Vropheten um der prophetiihen Predigt, 
den Gerechten um der gerechten Sache willen aufnimmt, fann 
von einem Lohn die Rede fein (B. 41); nur wenn man um des 
Namens Yefu willen die natürlichen. Bande zerfchnitten und fein 
Eigentum verlafjen hat (19, 29.), darf man auf einen vollgiltigen 
Erſatz hoffen. Nur jofern die Liebesmwerfe nicht bloß den Armen, 
jondern in ihnen Chriſto erwiejen find, erteilt er den Barmher— 
zigen den ewigen Lohn (25, 40.) Dies alles fommt auf den 
oben angedeuteten Gedanken hinaus: der Zwed, den der Chriſt 
bei feinen Leiſtungen im Auge haben muß, ift die Jittlihe Voll— 
endung der chriftlichen Berfönlichkeit, die volllommene dıxaroovvr, 
des Gottesreihs. Er thut das Gute um des höchſten Guts, aljo 
um jein felbjt willen und eben dadurd it er für den Zohnempfang 
disponiert.? 


Ob in diejer eschatologiſchen Rede wirflih jchon die völlige 
EHrijtianifierung der Welt vorausgejegt fit, weil nemlich die Begna- 
digten unter den e’rn al dixemwı angefprodhen und auf das Reich 
hingewieſen werden, das ihnen von Grundlegung der Welt bereitet 
jei, wa8 doch nur auf Chriſten zu pajjen jcheint, oder ob man nicht 
doh an eine Zeit denfen darf, in welcher das Evangelium zwar 
überall verfündigt, aber nicht allgemein angenommen worden ijt, wo— 
bei dann das Gericht als eine Art ſummariſches Berfahren vorzuftellen 
wäre, indem die Seligfeit der #7 von ihrem Verhalten zu den 
Jüngern Chrifti oder zu der hrijtlihen Forderung der Liebe abhängig 
gemacht würde: — dies zu entjcheiden, ift hier nicht der geeignete Ort. 

? Nur in zwei Stellen des Lucas könnte man eine Annäherung 
an den katholiſchen Begriff des verdienftlihen Werk vermuten, dem 
zufolge ſchon das einzelne gute Werk die Anwartſchaft auf den Hinm« 


— 


Die Lehre Jeju vom Lohn nah den Synoptifern. 173 


HI, Wenn wir nun weiter fragen, worin der dem Chrijten 
verheißene Lohn beftehe, jo wird die Beantwortung dieſer Frage 
nad) dem Bisherigen einfach jein. Eben in dem, was von dem 
fich ſelbſt hingebenden und aufopfernden Jünger erjtrebt wird. 
Weiß hat dies jchlagend ausgeführt, wenn er jagt: Beſtand nad 
Matth. 6, 33. alle hrijtliche Xeiltung in dem Inrew Tnv Baoı- 
Asıav, jo beiteht aller Kohn des Chriiten in den xAngovoueıv rnw 
Baoıksıav (Matth. 25, 3.4.). Mit der vollendeten Aufrichtung 
des Reichs Gottes oder der bejeligenden Gottesherrichaft it nicht 
nur die Befiegung aller widergöttlihen, insbejondere ſataniſchen 
Mächte (Luc. 10, 18.) verbunden, fondern auch alles Sehnen der 
Neichsbürger erfüllt (Matth. 5, 6.), ihr höchiter Wunſch überboten 
(19, 29). Die "meffianifhe Glückſeligkeit iſt ein integrierender 
Beitandteil der Neichsvollendung ; die Freude der in jeliger Gemein: 
Ichaft verbundenen Reichsgenofjen wird bald durch das Bild eines 
Abendmahls (Luc. 14, 12 ff.), bald durch das einer füntalichen 
Hochzeit dargeſtellt (Matth. 22, 2 ff.). Den unvergleichlichen 
Wert der im Gottesreich dargebotenen Seligfeit hat Jeſus durd) 
die Gleichniſſe vom Schag im Acker und von der föftlichen ‘Perle 
zur Anſchauung gebradt. Daß damit auch eine Ausgleihung der 
Haffenden jozialen Unterſchiede verbunden fein foll, dies beweist 


liſchen Lohn begründen kann. So wenn e8 Luc. 12, 33. heißt: „Ber- 
faufet eure Habe und gebt Almoſen, machet euch Beutel, die nicht ait 
werden, einen Scha, der unvergänglich tft, in den Himmeln“, fo 
fönnte man auf den Gedanken fommen, daß die nicht veraltenden 
Beutel jozujagen durd die „Verdienjte“ gejpeist werden, melde aus 
der eAenuoorwvn rejultieren, dab aljo zwijchen beiden eine verborgene 
faufale Beziehung bejtehe. Und wenn in Luc. 16 die Aufnahme in 
die ewigen Hütten von der treuen Verwaltung de8 Mammons, bez. 
von jeiner Verwendung zu Zwecken der Wohlthätigfeit abhängig 
gemadt wird (3. 9), jo iſt damit gleihfall8 dem Einzelwert der 
Armenpflege eine etwas überrajchende Tragweite zugejchrieben. Doch 
darf man nicht überjehen, daß hier die „Söhne des Licht“ als han— 
deind eingeführt find, denen es auch bei jolden Ginzelwerten nur 
um die lihtvolle Vollendung ihrer Perjönlichkeit zu thun fein kann, 
daß aljo auch Hier der höchjte Zweck der Leiftung nicht außer acht 
gelafjen it. 


174 Umfrid 


nicht nur die Erzählung vom reihen Mann und armen Lazarus 
(Zuc. 16), fondern auch die bei Lucas fih findende Faſſung der 
Bergpredigt. Hier werden die Jünger Schon als Arme, Hungernde, 
Meinende, Gehaßte, Gefchmähte und Verfolgte felig gepriefen, da 
gegen über die Reihen und Bollen, die Zachenden und Angefehe: 
nen ein Wehe ausgerufen, weil fich das Verhältnis bei der Reichs— 
vollendung gerade umkehren werde. Hiebei ift offenbar ſtillſchwei— 
gend vorausgefett, daß die Armen durch ihre Bedürftigfeit und 
die daraus refultierende Cmpfänglichkeit für das Himmelreich 
beſonders Ddisponiert ſeien, daß dagegen die ungerechte in der 
irdischen Entwidlung faſt unüberbrüdbare Kluft zwifchen Armen 
und Reichen nicht ohne Schuld der legteren entitanden ſei. Jeden— 
fall3 aber foll mit der Bollendung des Gottesreihs auch eine 
beglüdende Geſtaltung des äußeren Lebens verbunden fein.t 

Was die Vollendung des Gottesreihs für die Gejfamtheit 
ilt, das it das ewige Leben, die Son aumvıog für den einzelnen 
Gerechten; fie wird wohl in der Teilnahme an der Freude des 
Meſſias (25, 21. 2c. insbefondere V. 10), in dem vollen Lebens 
genuß, in einem jtrahlenden Glüd, einer gloriofen Herrlichkeit 
beitehen (13, 43.). Die Aufnahme ins ewige Xeben wird im 
Gegenfag zum Weltverderben auch als die Rettung der Seele 
bezeichnet. Und wenn die Jünger das tiefjte Anliegen des Men: 
ſchenherzens in der Frage ausſprechen: rıg apa dvvaraı oo dnvan; 
(19, 26.) — fo lautet die ganz entjprechende Antwort Sefu: 
0 vnousıvag 8ıg teAog, vurog owdmoeru (10, 22.). Daß 
diejer Gewinn, die Rettung der Seele durch nicht? anderes auf: 
gewogen werden kann, daß die ganze Welt niht ald avraAiayua, 
als Aquivalent dafür genügte, das hat Jeſus mit fehneidender 
Schärfe Matth. 16, 26. ausgeſprochen. So wird alſo mit dem 
ewigen Leben, mit der Seelenrettung dem Einzelnen ein Lohn von 
ebenjo unendlihem Wert zu teil werden, wie der Gejamtheit mit 
der Vollendung des Gottesreiches ein abjolutes Gut in Aus: 
ſicht gejtellt wird. 


Mehlhorn führt die Krankenheilungen Jeſu als Zeugniß dafür 
an, da das Himmelreich als höchſtes Gut auch eine Verbejjerung der 
äußeren Verhältniffe in fi fchliehe. 





Die Lehre Jeſu vom Lohn nad den Synoptifern. 175 


Nach dem Bisherigen könnte es fcheinen, als wäre der Lohn 
als ein rein transfcendenter und himmlifcher zu denken. 
Dem ijt aber nicht ganz jo. Das Himmelreich iſt auf der jedes- 
mal erreichten Stufe nicht bloß Produkt feiner Mitglieder, fondern 
zugleich Lohn für ihre Thätigkeit, für ihre Hingebung an feine 
Pflichten. Es iſt inmitten des Erdenlebens aufgerichtet; mitten 
aus irdiſchen Geſchäften heraus jollen die Berufenen zu feiner 
Feitfreude jich einfinden (Luc. 14, 18 ff.) Schon auf Erden 
dürfen die Jünger ſich mit hochzeitlicher Freude freuen, fo lange 
der Bräutigam bei ihnen iſt (Matth. 9, 15.). Sobald das Ver— 
ſtändnis der Jünger aufzufeimen beginnt, preist Jeſus ihre Augen 
jelig, daß ſie die Herrlichkeit de Himmelsreichs jehen, und ihre 
Dhren, daß ſie fein Geheimnis hören dürfen (13, 16... Das 
Himmelreich iſt jet jhon im Bejit der Armen, der um Gerech— 
tigkeit willen Verfolgten (5, 4. 10... Die Sanftmütigen merden 
das „Land“, das heißt zunächit nicht das „himmlische Kanaan“, 
Jondern das in Baläjtına oder allgemeiner auf der Erde zu errich— 
tende Gottesreih in Beſitz bekommen (B. 5). Wer nad dem 
Gottesreich und feiner Gerechtigkeit jtrebt, dem ſoll natürlich vor 
allem diejes abjolute Gut gefchenft werden, aber auch das übrige 
alles, was er für fein Erdenleben braucht, wird hinzugefügt, drein- 
gegeben werden, noocrednoera: (6, 33.). Und daß der Lohn 
mit einer gemwifjen immanenten Notwendigkeit jchon in der Gegen- 
wart aus der guten That bez. der richtigen Herzensjtellung her: 
vorgeht, dies zeigt ſchon der präfentifhe Ausdrud der Selig: 
preifungen: Selig find die Leidtragenden auch ſchon jet offen: 
bar nicht bloß um des zufünftigen Trojtes willen, jondern gewiß 
auch jchon in dem gegenwärtigen Vorgefühl desfelben. Auch das, 
was der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn dem älteren 
Bruder zu bedenken giebt, dürfte darauf hinausfommen, daß die 
Rechtſchaffenheit zwar nicht „ihren Lohn in fich trägt”, — denn 
von einer guten That, die den Lohn in fich jelber trägt, weiß die 
Lehre Jeſu jo gut wie nichts (vgl. übrigens Joh. 13, 17.) — 
Daß fie aber ihres Lohnes Schon in diefem Erdenleben unmittelbar 
gewiß tt, und daß diefer Lohn naturgemäß aus ihr herauswächst. 
Es it wahrlich fein zu unterfchägendes Vorrecht, das dem Recht— 
Ichaffenen ſchon während der irdifchen Entwidlung eingeräumt wird 


176 Umfrid 


„mein Sohn, du bift allezeit bei mir, und alles was mein it, 
das iſt dein.” „Während der Sünder”, jagt Mehlhorm, „im 
Elend fümmerlih das nadte Leben friftet, genießt der Recht: 
ichaffene Schon immer den Frieden und das Glüd des Vaterhauſes.“ 
— Endlich gehört hieher noch die vielbejprochene Stelle Marci 10, 
28—31. und Luc. 18, 28—30, welche Weiß mit viel Scharffinn 
als eine falſche Auslegung des allein bei Matthäus urfprünglichen 
Herrnworts nachzuweiſen ſucht. Wenn es nämlich bei Matthäus 
heißt: jeder, der ſeine Angehörigen und ſeine Güter um Jeſu 
willen verlaſſen hat, wird es vielfältig erlangen und das ewige 
Leben ererben: jo faßt Weiß das xaı epexegetiſch und identificiert 
das ewige Leben mit jener vielfältigen Vergeltung. Marcus und 
Lucas aber haben nach ihm dieſen Zuſammenhang nicht verſtanden 
und das noAkankaorova auf den ao» ovrog bezogen. Und jo 
ift 3. B. bei Marcus die Form entjtanden: „er wird hundertfältig 
in diefer Zeit empfangen Häufer und Brüder und Schmweftern 

. und Üder mit Verfolgungen und in dem fommenden 
Hon das ewige Leben.” Wir laffen es dahingeftellt, ob bei den 
zwei legten Synoptifern wirklich ein Mißverjtändnis der Rede Jeſu 
vorliegt (da3 uera dıwyucv ſcheint immerhin faſt zu charakteriftifch, 
als daß es nicht von Jeſu ſelbſt gefprochen fein follte); allerdings 
aber ift es dem Sinn Jeſu entjprecdhend, eine ‚Belohnung mit 
irdiſchen Gütern möglichſt zurüdzuftellen; die Befriedigung der 
irdiſchen Bedürfnifje ſteht jonft nirgends jo im Vordergrund; es 
heißt nut noogredmoerau. 

Der von Chriftus verheißene Lohn ift überwiegend himm— 
licher Natur, ein moFog ev ovpavoıg (Matth. 5, 12., Luc. 6, 23. 
35.), daher auch die Zuhörer Jeſu aufgefordert werden: „Sam: 
melt euh Schäße im Himmel“ (Matth. 6, 20.), d. h. ſchaffet, daß 
dort ein Beſitz am geijtigen Gütern deponiert werde, den ihr einft 
bet der definitiven Lohnerteilung antreten könnt. Der Lohn ift 
ebendeshalb auch vorwiegend als ein zufünftiger zu denfen. Er 
wird bei der Auferjtehung der Gerechten außgeteilt werden (Luc. 
14, 14.). Der Verwalter des Hausherren wird den Arbeitern im 
Weinberg den Lohn am Abend (oWıac yevouevng, Matth. 20, 8.) 
darreihen, d. h. Chriftus wird ihn bei feiner Parufie mitbringen, 
Es iſt eine zulünftige Erlöfung und Belohnung, die uns ſchon 








Die Lehre Jeſu vom Lohn nad) den Synoptifern 177 


dur die Futura o@Ysnoeraı (Matth. 10, 22.), Anuwderai, xAnoo- 
vounosı (19, 29. val. 5, 4—9.) in Ausficht gejtellt wird. 

IV. Fragen wir nun, nad) welchen Gefichtöpunften und Nor- 
men der Lohn ausgeteilt wird, jo find zwei Möglichkeiten 
gegeben: wenn man nämlich von der Leiſtung des lohnempfangen- 
den Subjefts auögeht, jo ergiebt fih en Analogonzu einem 
Rechtsverhältnis (mohlgemerft: nur ein Analogon, fein 
wirflihes Nechtöverhältnis),; wenn man aber die freie Verfügung 
Gottes ins Auge faßt, jo rejultiert ein Gnadenverhältnis, 
fo fommen wir auf den Begriff des Gnadenlohn3. 

Der Lohn kann allerdings durd einen Yohnvertrag, einen 
zwifchen Arbeitern und Arbeitgebern abgejchlofienen Kontrakt ver: 
einbart werden. Dieje Borjtellung wird und durch das Gleichnis 
Matth. 20, 1 ff. an die Hand gegeben. Hier wird bei der eriten 
Gruppe der Arbeiter der Kohn ſchon vor Beginn der Arbeit gleich: 
ſam rechtsfräftig auf einen Denar feitgejeßt und nachher für die 
Tagesarbeit der verjprochene Taglohn gereicht. Wenn hier der 
Schein entiteht, alö ob die Arbeiter einen rechtlichen Anſpruch auf 
ihren Zohn erheben fünnten, jo hängt dies mit der Form des 
Gleichniſſes zufammen, in welchem wir es mit freien PBarticipien- 
ten zu thun haben. Hätte Jeſus wie Luc. 17, 7 ff. zufällig 
Sklaven als Beifpiel gewählt, jo müßte diefer Schein fofort ver: 
fchwinden: die Zohnaußsteilung wäre doch nur Sade der Billigfeit, 
und nicht des jtrengen Rechts. — Ein gleichfalls aus dem Rechts— 
gebiet herübergenommenes, aber ſchon mehr jittli modifiziertes 
Verhältnis ift das Erbverhältnis. Die npasıc dürfen erwar— 
ten, das Land zu ererben (5, 4.), der reiche Jüngling durfte 
unter Vorausfegung der völligen Hingebung hoffen, das emige 
Leben zu ererben (19, 16 und 29.); die Barmherzigen werden 
zum Eintritt in die himmlifche Herrlichkeit mit den Morten ein- 
geladen: „Ererbet das euch von Grundlegung der Welt bereitete 
Reich.“ Sittlich modifiziert it aber das Erbverhältnis, weil hier 
eine Weſensverwandtſchaft zwiſchen Gott und feinen Erben vor: 
ausgeſetzt wird, weil die Erbſchaft nur dem zufällt, der fie kraft 
feiner Gottähnlichfeit erwarten kann. — Als allgemeine Regel 
auf diefem den rechtlichen Berhältnifjen analogen Gebiet fann es 


aufgeitellt werden: Was wir auf Grund unjerer Leiftung erwarten 
Theol. Studien a. W. VII. Jahrg. 12 


178 Ümfrib \ 


fönnen, das foll und werden; der Yohn muß der Leiſtung ent- 
jprechen. Hier hat die „Aquivalenz“ von Lohn und Leiſtung ihre 
Stelle, auf welche Weit jo großen Wert legt; hier die „gnomo— 
logiſche Zufpitung, in welder diefe Aquivalenz Schon im Ausdrud 
recht jchlagend zu Tag tritt,“ Hier gilt der Grundfag: ev w 
NETE@ UETOEITE uEerEndnoeEraı vum (7, 2.) Wer nicht richtet, 
wird auch nicht gerichtet werden (VB. 1). Wer vergeben fann, dem 
wird auch vergeben werden (6, 14.), Wer ausharrt bis ans Ende, 
der wird am Ende gerettet werden (10, 22.) Wer Chriitum 
befennt, den wird er auch befennen (B. 33). Wer Barmherzigkeit 
ausübt, fol Barmherzigkeit erlangen (Matth. 5, 7.). Überall wird 
bei der Austeilung des Lohns auf die einzelnen Proben des ethi: 
ihen Ghrijtenlebens Nüdjicht genommen, um den der Leiſtung 
entjprechenden Lohn herauszufinden. — Hieher gehört denn auch 
der Begriff der Wiedererjtattung, demzufolge jeder einen 
vollgiltigen Erjag finden wird für das, was er im Dienfte Chriſti 
aufgeopfert hat. Wer jein (irdifches) Leben opfert, wird jein 
(wahres ewiges) Leben finden; wer VBerwandtenliebe opfert, wird 
Chriftusliebe finden (10, 39. 37.). Wer auf das irdiſche Glüd 
in feinen mannigfachen Erjcheinungen verzichtet, wird es im Reiche 
Gottes wiedergewinnen (Marci 10, 29.). Man fol im Dienft 
des Gottesreiches nicht in Berlujt und Schaden fommen. — Auch 
der Begriff der Vergeltung hat feine Wurzeln in dem recht: 
lihen Boden, und hat den Sinn, daß jede Yeiltung, der ein Wert 
zugejchrieben werden fann, durch irgend eine Gegenleiftung auf: 
gewogen werden foll, daß aber auch jede unfittliche That durch 
die Gegenwirkung der Strafe paralyjiert werden muß, wie Dies 
in dem allgemeinen Grundjat der richterlichen Vergeltung ange: 
deutet wird: rore anodwosı EXKOT@ xara nv noafım aurov 
(Matth. 16, 27.), — ein Grundfaß, der bet der Scene des Welt: 
gerichts in der ftrengen Scheidung zwiſchen Weizen und Unkraut, 
guten und faulen Fiichen (Matth. 13), Schafen und Böden 
(Matth. 25) und in der endgiltigen Entjcheidung über ewige Se: 
ligfeit oder ewige Verdammnis praftifch durchgeführt wird. Hier 
haben wir es jedoch nur mit der lohnerteilenden Vergeltung zu 
thun, und müfjen hier jofort bemerfen, daß auch diefer Begriff im 
jittlichereligtöfen Sinn umgebogen wird, ſodaß jeder rechtliche | 





un m 


Die Lehre Jeſu vom Lohn nad den Synoptifern. 179 


Anspruch auf Vergeltung verfhwinden muß. Wenn das Almofen- 
geben, das Beten und Falten in der rechten Stille, in der felbitlojen 
Anſpruchsloſigkeit geichieht, jo wird es dem Jünger Jeſu öffentlich 
vom himmlischen Vater vergolten werden, — nicht als ob z. B. 
Beten und Falten Leitungen wären, für die man ein Entgeld 
beanjpruchen fünnte, jondern nur fofern Gott das ernite Streben 
des ſittlich religiöfen Subjekts nicht ziellos im Sand verlaufen 
lafjen will (Matth. 6, 4. 6. 18). Kein kühler Trunf foll unver: 
golten bleiben (10, 42); wer einem Jünger eine Erquidung reicht, 
der foll feinen Lohn nicht verlieren, dem foll feine Belohnung 
nicht vergefjen fein. Wer einem Armen etwas geliehen hat, ohne 
Hoffnung es zurüdzuempfangen, — denn dies muß ja dem 
Zufammenhang nah aneAnilovreg heißen troß der philologifchen 
Dppofition Meyers! — defjen Lohn wird groß fein im Himmel; 
aber die zu erwartende Vergeltung wird nicht etwa in einem 
Erſatz des veraußgabten Geldes beitehen, jondern darin, daß die 
jelbitvergefjenden Wohlthäter Kinder des Höchiten fein werden, 
der ja auch milde iſt gegen Undanfbare und Schlechte (Luc. 6, 35). 
Wer bei der Einladung von Armen, Lahmen, Krüppeln und 
Blinden auf Vergeltung (avranodoua) verzichtet hat, dem wird es 
bei der Auferftehung der Gerechten vergolten, weil in dem ewigen 
Leben fein Werk der Liebe unermwidert, feine Arbeit eines Gotteö- 
findes unbelohnt bleiben joll. echt draſtiſch und fait parador 
wird der Gedanke der Vergeltung in Luc. 12, 37 ausgeführt, mo 
die Dienftleijtungen der als Sklaven vorgeftellten Jünger dadurch 
vergolten werden, daß der Hefr ſelbſt wie ein Sklave fich ſchürzen 
wird, um fie zu bedienen. Hier zeigt aber gerade die Paradorie 
des Ausdruds, daß es fich nicht um eine mechanische oder juridiſch 
abmwägende Vergeltung handeln kann; vielmehr muß ja dieſes 
„Heimgeben“, diefe Umkehrung der joztalen Stellung auf die jonft 
rechtlojen „Sflaven” einen durchaus unerwarteten und über: 
rajchenden Eindrud machen. 


ı Auch Cremer zieht in jeinem bibl. theol. Wörterbuch die Be- 
deutung vor, nad) welcher e8 heißen muß: „von einer Seite her etwas 
für fi) Hoffen“, — aud wenn fie nicht mehr für fich hoffen Tönnen, 
das Ausgeliehene von den Armen zurüdzuempfangen, 





12* 


— — 


180 Umfr 


Mir haben es alfo hier mit Analogis von Rechtsverhältniſſen 
zu thun, die und aber thatfächlich doch nie über den Begriff der 
Billigfeit hinausführen. Kann aber nicht vielleicht doch von 
einem Verdienſt des einzelnen die Nede fein, der den Anſpruch 
auf Lohn involvieren würde? Man könnte die Anerkennung eines 
jolchen Verdienjtes in dem allgemein gehaltenen Ausdrud finden: 
adıog Eoyarng Tov modov avrov (Luc. 10, 7), und gewiß will 
Jeſus diefen Grundſatz für irdiſche Verhältniffe durchaus feithalten, 
daß man mit treuer Arbeit thatfählih fein Brot verdient, wie 
man andererſeits durch gemwijjenlojes Thun niAnyov a&ıog wird, 
d. h. Schläge verdient (Luc. 12, 48). 

In andern Stellen aber wird zwar der Perjönlichfeit ein 
Mert zuerkannt, aber nicht in dem Sinn, als ob fie mın um 
ihres Werts willen mit einem rechtlichen Anſpruch auf Lohn hervor: 
treten dürfte, jondern nur injofern, als jene Wertſchätzung bei 
Gott oder Chriſtus eine Geneigtheit zum Helfen oder Xohnerteilen 
hervorrufen ſoll: jo wenn die Jünger vom Hauptmann von 
Kapernaum erklären: „er iſt e8 wert, daß du ihm jeine Bitte 
gewährit” (Luc. 7, 4); oder wenn Chrijtus den Jüngern in der 
Apoitelpredigt jagt: wenn es das Haus, in welches fie. eingehen, 
würdig jei, jo ſoll ihr Friede über dasjelbe fommen. Meder dem 
Hauptmann no dem als Miffionsftation benußten Haufe ſoll ein 
Wert ım vollen Sinne der Verdienftlichfeit zugejchrieben —, es 
joll vielmehr nur irgend eine gute Seite anerfannt werden, an 
welcher die Mitteilung der meſſianiſchen Güter anfnüpfen Tann. 
Wenn Yefus endlich erklärt: wer Vater oder Mutter mehr liebt 
als mich, der ift mein nicht wert (Math. 10, 37) jo dürfte man 
allerdings die Kehrjeite jo ausdrüden: mer mich über alles liebt, 
der iſt mein wert und meiner Gemeinschaft würdig; aber nicht, 
als ob der Chriſtus Liebende dieſe feine Liebe als ein verdienit: 
liches Werk geltend machen fönnte, jondern nur jofern die Perſön— 
lichfeit durch dieſe Liebe in Chrijti Augen einen Wert befommt, 
welchen er anerkennen fann. Wenn man einen jcholaftiichen Aus: 
drud brauchen wollte, jo fönnte man höchſtens von einem meritum 
de congruo, niemals aber von einem meritum de condigno reden. ! 


1 Richtig fombiniert Mehlhorn die in Betracht fommenden Gegen- 
ſätze: „Die völlige Nechtlofigfeit auf der einen, und doch auf der andern 


i 


Die Lehre Jeſu von Lohn nad) den Eynoptifern. 181 


Mit dem Bisherigen follte gezeigt werden, daß die Parti— 
zipienten beim Lohnvertrag nicht auf gleicher Stufe jtehen, nicht 
als gleichberechtigte Intereſſenten betrachtet werden dürfen, daß 
zwar ein Analogon zu einem Rechtsverhältnis vorausgeſetzt ift, 
daß aber der Rechtscharakter unmöglich jtrifte durchgeführt werden 
fann wegen der zu ungleichartigen Stellung der Teilnehmer. 

Dies wird noch deutlicher, wenn wir nun den Gefichtspunft 
der freien Berfügung, die dem lohnerteilenden Gott zuitehen 
muß, ind Auge faſſen und den Lohn demgemäß als Gnaden- 
Lohn betrachten dürfen. Schon in dem Ausdrud yaoıs (Luc. 
6, 31 ff. rroıa@ vv xapıg 3arın;) iſt der Begriff der rein frei: 
willigen (dankenden) Anerkennung ! enthalten, der Begriff des 
Gnadenlohnes jedenfalls angedeutet. Der Gnade gegenüber aber 
darf fi das Cubjeft auf fein Verdienſt berufen und muß fi) 
felbjt möglichft gering tarieren; der verlorene Sohn muß dem ſich er—. 
barmenden Vater gegenüber befennen: ovxeri eımı aErog KAndnvaı 
vıog vov (Luc. 15, 19. 21). Und ſolche demütige Selbittarierung 
wird auch ſonſt mehrfach bei dem lohnempfangenden Subjekt vor: 
ausgefegt. Wer in herzliher Bejcheidenheit Flein denkt von den 
eigenen VBorzügen und demütig zurüdtreten kann, der giebt eben 
damit zu, daß er im fich ſelbſt nicht die nötige Vortrefflichkeit 
finde, um fich einen Lohn vindizieren zu können; wird ihm derfelbe 
dennoch zu teil, jo ijt dies eben eine Art Gnadenſache. Das 
gleiche Gefühl legen die zur himmlischen Erbichaft berufenen edvn 
an den Tag, wenn fie 25, 37 ihrem Erjtaunen darüber Ausdrud 
verleihen, daß jie von Chrifto in die Reihen der Seligen geitellt 
werden, dem fie Doch ihres Wiſſens feine Liebe erwiejen, deſſen Lohn 
fie alfo nicht verdient haben. — Am klarſten iſt aber die völlige 
Berdienitlofigfeit und abjolute Abhängigkeit der Reichsgenoſſen von 
dem frei verfügenden Gott in tem Gleichnis Luc. 17, 7 ff. aus: 


— — — 


Seite das Gefühl ſelbſt Gott gegenüber: „Der Arbeiter iſt ſeines 
Lohnes wert“ gehen zuſammen in den Begriff der Billigkeit einer 
Belohnung.“ 

! Cremer, der die Stelle leider nicht beſpricht, betont doch wenigſtens 
im Artikel über zeoıs dad Moment der freiwilligen Geneigtheit. 
Mehlhorn ſetzt es unrichtigerweife mit wıaYos einfach identifch. 


182 Umfrid 





geiprochen. Hier vergleicht Jeſus den Neichögenofjen mit einem 
Sklaven, der den ganzen Tag im Dienit feines Herrn arbeiten 
muß; und jelbjt wenn er abends müde nad) Haus fommt, heißt 
es wieder: „Schürze dich und diene mir“ ; Die Zeit, um auszu: 
ruhen, um fich gütlih zu thun, um Lohn zu empfangen, will 
immer nicht fommen. Für die Dienitleiitung wird dem Sklaven 
nicht einmal gedankt, weil es jelbjtverjtändlich iſt, daß er fie voll: 
bringt. Der Herr verlangt von dem Sklaven nidt, daß er etwas 
mehr thue, als was feine Schuldigfeit ift, ' aber der Herr ift dann 
dafür dem Sklaven auch nichts jchuldig, nicht einmal einen Dank. 
Und nun die Anwendung! Wenn die Jünger alles Befohlene 
gethan haben, jo ſollen fie jprechen: „wir find unnüße Knechte, 
wir haben gethan, was wir zu thun jhuldig waren.” Man jollte 
umgefehrt erwarten: wir find nüßliche brauchbare Knechte; denn 
. die Erfüllung der Schuldigfeit ift doch nicht? Unnübes. Man 
fönnte den Ausdrud als eine Hyperbel der übergroßen Bejcheiden- | 
heit anjehen; aber offenbar tjt er jo aufzufaſſen: wir find unnötige 
entbehrliche Knechte. Will und Gott in die Ede ftellen und andere 
an unfern Poſten berufen, jo wird mans nicht jpüren. Wir haben 
unſrem Gott gegenüber feine zosıa ? aufzumweifen, find für ihn 


Es fünnte der Schein entjtehen, als ob Gott die bloße Erfüllung | 
von Pflicht und Schuldigkeit als eine niedere Stufe der Sittlichkeit | 
anfehen würde und als etwas wirfiih Wertvolles erft das gelten liche, 
was über die Schuldigfeit hinausgeſchieht. Damit fümen wir wieder | 
auf die katholiſche Anſchauung vom opus supererogativum. Dab | 
diejelbe aber durch das in Frage ſtehende Gleihniß nicht begünftigt 
wird, mag die oben gegebene Deutung zeigen. | 

? Ovdewm eorı yozwe rıwos heißt,.e8 ift etwas entbehrlich; eyosıos 
hat in der Haffiihen Gräcität neben der Bedeutung „unnütz“ aud | 
die von „entbehrlih“. Kirn erklärt die fraglide Etelle in den Theol. 





Studien 1882, 2, ©. 149 jo: „Wir find nur Knete und — jo treu 
wir in unſrem Knecht Sdienſte fein mögen — als folde untauglich 
für die und zugedachte Ehre, als die Herren zu Tiſche zu figen. Bier 
iheint die rechtloſe Stellung der SHaven, welche deren abjolute Ab- 
Hängigfeit von dem Herrn involviert, richtig hervorgehoben zu fein; | 
dagegen ijt offenbar die Beziehung auf die Ehre des Butifchefigens zu 
eng, da die pointe des Gleichnijjeg vielmehr ganz im allgemeinen in j 


Die Lehre Jeſu vom Kohn nad den Synoptifern. 183 


nicht unentbehrlich und haben nichts gethan, wofür er uns etwas 
Ihuldig wäre, Grteilt er uns dennod einen Lohn, jo iſt dies 
wiederum Gnadenſache. 

Die freie jchlechthin unbedingte Verfügungsgewalt Gottes tft 
aud) der (einzig) zureichende Grund für die jo auffallende Gleich— 
heit des Lohnes, die mit der Verjchiedenheit der Arbeitszeit 
durchaus fontraftiert. Diefer Gedanke wird durd) das Schon mehrfach 
angeführte Gleichnis Matth. 20, 1 fi. illuftriert. Bei der erjten 
Gruppe der Arbeiter wird, wie wir oben fahen, eine Art Kontraft 
abgeichlofien, bei den folgenden Gruppen verliert aber das getroffene 
Mebereinfommen ſchon von feiner jcheinbaren rechtlichen Schärfe. 
Der Beſitzer des Weinbergs giebt feinen firen Preis mehr an, 
jondern behält die Beitimmung desjelben jenem Gutdünten vor: 
o Eav n Ödıraıov, 6w0@ vuım (DB. 4.). Ber der Lohnausteilung 
aber erhält jeder das Gleiche, nemlid einen Denar als vollen 
Taglohn. Und wie nun die zuerjt berufenen Arbeiter zu murren 
anfangen über dieſe jcheinbare Ungerechtigkeit, meil fie vom abs— 
trakten Rechtsſtandpunkt ausgehen, fo jtellt jich der Arbeitgeber 
gerade im Gegenjat hiezu auf den Standpunkt des freien Ver: 
fügungsrechts, des — möchte ich jagen — fouveränen Willens, 
der nad) Gutdünfen über fein Eigentum verfügt: Je de rovrw 
T9 £0Xarp dovvar @g xaı 001. oux Efeorıv or o YEko 
noımoaı ev Toıg Euoıc; — So werden nad göttliher Macht: 
vollfommenheit ' die legten den erjten gleichgejtellt, ja wenn man 
die ſprichwörtliche Nedensart ganz wörtlich fafjen will, jo werden 
die erjten hinter die legten zurüdgeftellt um ihres Murrens und 
ihres anjpruchsvollen Weſens willen. 

Die prinzipielle Gleichheit des Lohns fchließt nun aber gewiſſe 
Unterſchiede doch nicht aus. Stufen der Seligfeit können aller: 
dings nicht angenommen werden, da die Seligfeit etwas Abjolutes 


vem Satze liegt: der Menſch, der jeine Schuldigfeit thut, darf Feine 
bejondere Berüdfihtigung von Seiten Gotte verlangen; er ift ihm 
gegenüber rechtlos. 

1 Die Richtung, ‚welche die göttliche Machterweifung einschlagen 
fol, wird übrigens durch die göttlihe Güte bejtimmt: or eyw 
ayayos eımı (B. 15). 





184 Umfrid 


ift und feine Steigerung zuläßt, daher beziehen fich jene Unterfchiede 
auch nicht auf ein Mehr oder Weniger der Glüdfeligfeit, als 
vielmehr auf die öfonomifche oder foziale Stellung im Gottesreid. 
Und zwar hängt diefe unter dem Vorbehalt von Gottes jouveräner 
Entiheidung (ef. die Bitte der Zebedaiden Matth. 20, 20 ff.) 
zumeift von einer gütigen Rüdfichtnahme des Weltenrichters auf 
die Begabung und Bewährung des einzelnen ab. Gott fann ja 
einen Maßſtab für die Lohnerteilung nur dann geminnen, wenn 
er auf die Bewährung des einzelnen im irdifchen oft jo kleinen 
Berufs und Pflichtenfreis Rüdfiht nimmt; denn wer im Geringiten 
treu iſt (Luc. 16, 10 ff.), it auch im Großen treu, und anderer: 
ſeits, wer im Geringſten ungerecht tft, iſt auch im Großen ungeredt. 
Hier ergiebt ſich durd; einen Schluß a minori ad majus die be: 
gründete Erwartung, daß der im Kleinen treue Menſch auch ein 
großes Bertrauen, wie ihm folches bei der Lohnerteilung geſchenkt 
wird, nicht täufchen würde. Diefen Gedanken können mir in 
folgender Weife jpezialifieren. Wer es in jelbitlofer Eindlicher 
Demut am weiteiten gebracht hat, der wird ald o ueıSov ev rm 
Baoıksıa Twov ovoavav bezeichnet (Matth. 18, 4). Wer am 
demütigften fi zum Knecht der andern hergeben fann, der wird 
der erite unter ihnen fein und eine hervorragende Stellung im 
Himmelreiche einnehmen (usyag yeveodaı 20, 26 f.). Die Jünger, 
die am treuejten bei Jeſu ausgeharrt und das größte Opfer für 
ihn gebracht haben, werden au in der himmlischen Welt ihm am 
nächſten jtehen (19, 28; 20, 22 f.). Daß Gott bei der Lohn— 
erteilung ein individualifierendes Verfahren einhält, zeigt ausführlich 
. das Gleichnis Matth. 25, 14 ff., von dem Lucas eine ihm eigen: 
tümliche Relation gegeben hat (Luc. 19, 11 ff.). Nah Matthäus 
ift Schon eine verfchiedene Begabung derjenigen ausdrüdlich voraus- 
gejegt, denen die Talente anvertraut werden. Dir Herr giebt 
EXAOTO xara nv ıdıav Övvaırz Schon nad ihrer Fähigkeit, 
ihrer Naturanlage find fie dazu berufen, eine verfchiedene Berufs: 
ftellung einzunehmen; demgemäß erhält auch der eine entſprechend 
feiner hohen Begabung 10, der andere 5, der dritte 2, der letzte 
1 Talent — womit nichts anderes als die wunderbaren Geiftes- 
gaben der meſſianiſchen Zeit gemeint fein fünnen. Dazu fommt. 
nun aber eins vorichiedene Treue in der Verwertung und Aus— 








Die Lehre Jeſu vom Lohn nad den Synoptifern. 185 


nüßung der anvertrauten Gaben, vom eifrigjten Umtrieb des geijtigen 
Kapitals bis zum lethargifchen und mißtrauifchen Wergraben des 
Pfundes. Bei der Zohnerteilung hat Zucas mehr fpezialifiert als 
Matthäus: Der Knecht, welcher mit der einen Mine 10 gewonnen 
hat, befommt nad) dem dritten Evangelium Gewalt über 10 Städte, 
derjenige, welcher 5 Minen gewonnen hat, joll 5 Städte regieren 
u. }. f. Der Sinn kann fein anderer fein, als daß Gott bei der 
entſcheidenden Beurteilung menfhlihen Handelns und Weſens Be: 
gabung und Leiſtung zu einem Gefamtbild kombiniert und dem: 
gemäß die größere Wirkfamfeit des einzelnen, die einflußreichere 
oder untergeordnete Stellung im Gottesreich beftimmt. Daß damit 
fein Stufenunterfchied in der Seligfeit, fondern fozufagen nur ein 
Unterfchied in der Berufsftellung geſetzt ift, ergiebt ſich ſchon 
daraus, daß bei Matthäus jedem treuen Diener die gleiche Selig: 
feit in Ausficht geftellt wird: zuoeAdE zus rnv Xapar Tov xvpiov 
oov (DB. 21. 23). Somit werden wir am ficheriten gehen, wenn: 
wir erflären: bei der Zohnerteilung wird fich die freie Verfügung: 
gemalt Gottes und feine Rüdfichtnahme auf menjchliche Begabung 
und Leiſtung die Wage halten und fich gegenfeitig ergänzen. 
Daß wir aber berechtigt find, beim Lohn in der Lehre Jeſu 
an eine Art Gnadenlohn zu denken, dies geht endlich noch daraus 
- hervor, daß der Lohn überwiegend als ein unverhältnismäßig 
großer und fomit unverdienter dargejtellt wird. Nach der ge- 
wöhnlihen Erklärung würde die Stelle Matth. 10, 41 bejagen, 
daß jeder, der einen Propheten, Gerechten oder Jünger aufnimmt, 
Ihon um diefer Gaſtfreundſchaft gegen Gottes Knechte willen den 
gleihen Lobn empfängt, wie er dem Propheten, Gerecdhten und 
Jünger jelber zu teil wird; daß aljo dem Betreffenden um einer 
relativ Heinen Leiſtung willen ein unverhältnismäßig großer Lohn 
aufbehalten ift. Man fönnte aber audh den Sinn in der Stelle 
finden, daß den gajtfreundlichen Menjchen eben der Lohn für 
Brophetenbeherbergung nicht vorenthalten werden ſolle, jo daß 
moFog noopnrov ein fnapper Ausdrud für wmodtog Euodoxng 
zoo0PnTov wäre. Doch mag dies dahingejtellt bleiben. Das, 
auf was es hier anfommt, ift jedenfalld auch aus andern Stellen 
flar, daß nemlich der gottgefchentte Lohn ein "unverhältnismäßig 
großer, nicht verdienter, alfo ein Gnadenlohn iſt. Dies geht nicht 


186 Umfrid, Die Lehre Jeſu vom Kohn nad) den Synoptifern. 


bloß daraus hervor, daß der Lohn noAvg genannt (Luc. 6, 23. 
35 und ſonſt) und als unerfchöpflich und unvergänglich, avexAsınruc 
bezeichnet wird (12, 33); dat die Jünger Jefu für das um Jeſu 
willen Drangewagte noAdankacıova (Matth. 19, 29) und 
exarovrankaoıova (Marc. LO, 30) erhalten werden, fondern auch 
aus der ausdrüdlichen Verheißung Chrifti, daß jeinen Jüngern 
der Lohn nach einem überjchwenglihen Maße zugemejjen werden 
ſoll („ein qutes, geftopftes, gerütteltes, überlaufendes Map wird 
man euch in den Schoß geben“ Luc. 6, 38). Bei der lebten Ent: 
ſcheidung wird nicht Färglich gemefjen werden, vielmehr muß man 
jih Lohn wie Strafe bis zu abjoluter Höhe und ewiger Dauer 
gefteigert denken. Derjelbe Gedanke wird endlich durch die Gleich— 
niſſe in den Paruſiereden bejtätigt. Der Oberfnecht, der als guter 
Haushalter feinen Mitfnechten zu rechter Zeit die Koſt verabreicht, 
wird über alle Güter feines Herrn geſetzt (Matth. 24, 47; 
Luc. 12, 43) und mit der Fülle meſſianiſchen Beſitzes, meſſianiſcher 
Herrihaft belohnt. Und jenen Knechten, die mit den Talenten 
gewuchert haben, gilt das Wort: Ev, dovle ayayE xaı LOTE, 
em okıya ng muorog, Em noAAov 0€ xXaraorıaw. Pie 
Treue im Kleinen und der Lohn im Großen find einander nicht 
entiprechend, nicht ängjitlich nach einander abagemwogen. Aber gerade 
diefe Inkongruenz zeigt uns zum Schluß noch einmal recht deutlich, 
daß für Jeſus die über alles übergreifende VBerfügungsgemwalt 
Gottes im Vordergrund des Bewußtſeins jtand und nicht Die 
Durchführung eines peinlich jtrengen Rechtsverhältniſſes. Er gina 
zwar bei jeinem Zohnbegriff von der Analogie zu Erſcheinungen 
des rechtlichen Gebiets aus, wie wir jie in den Formen des Kontrafts, 
des Erbrechts, des Erjaßes, der Vergeltung gefunden haben; allein 
der Schein, ald ob die Menſchen Gott gegenüber einen Rechts— 
anfpruch erheben fönnten, mußte immer mehr verihwinden vor 
der Gewißheit, daß der Menſch überhaupt Fein Necht vor feinem 
Schöpfer und Nıichter geltend machen fann, fondern e3 ganz jeinem 
billigen, oder jagen wir gnädigen Ermefjen überlaffen muß, mas 
und wie viel er feinen Knechten jchenfen mill. 





Kittel, Die Derkunft der Hebräer nad) dem N. Teit. 137 


Die Herkunft der Hebräer nad) dem A. Gef. 


Bon Dr. Aud. Kittel in Stuttgart. 


Über die Herkunft der Hebräer jtehen zwei Auffaffungen ſich 
gegenüber. Die eine, befonders von Schrader! vertretene, alaubt 
die Väter des Wolfes Israel im Süden, am füd-babylonischen 
Unterlauf des Eufrat und Tigris gegen den perfiichen Meerbufen 
hin juchen zu follen. Ob ſie hier ihren Urfis hatten oder aud) 
hieher erjt von anderswo fich vorjchoben, wird von manchen dahin: 
gejtellt, während andere mit großer Beitimmtheit in der arabiichen 
Halbinjel, alö der gemeinfamen Urheimat der Semiten, auch den 
urſprünglichen Wohnort der Hebräer glauben erkennen zu Fünnen. 
Ihr jteht gegenüber die immer noch von einer Anzahl neuerer 
Selesrten geteilte Anfiht von der Herkunft der Hebräer aus 
Norden. Nach ihnen läßt ſich ein Aufenthalt der Hebräer weiter 
im Süden und der Ausgang der Semiten von dort nicht nad): 
weiſen; als die Heimat derjelben, oder wenigjtens ihr früheiter 
geichtchtlih nachweisbarer Wohnort fcheint demnach das Nord- 
gebiet de8 Zweijtrömelandes oder wohl auch die Abhänge des 
armenischen Hochlandes angenommen werden zu Jollen. 

Die Entſcheidung der Frage hängt von einer Reihe von eth- 
nologijchen, linguiſtiſchen und rein hiftorifchen Einzelproblemen ab. 
Die nachfolgende Unterfuhung hat ebendeshalb nicht die Abſicht, 
jih an einer endgiltigen Löſung der ganzen Streitfrage zu ver: 
juchen. Nur auf das lettere, das rein hiftorifche, Einzelproblem 
Toll etwas näher eingegangen werden. Ich möchte an dem jeden- 
falls wichtigsten für diefe Sache in Frage fommenden hiftoriichen 
Duellenmaterial, dem des Alten Tejtamentes, entnehmen, auf welche 
Seite dasjelbe ſich ftellt. Es wird ſich vielleicht ein Gewinn für 
die Löſung der Geſamtfrage ergeben, wenn Ddiejelbe in Cinzel: 
probleme zerlegt und jedes derjelben für ſich, ohne Nüdjicht auf 
ı vgl. Schrader, Tie Abftammung der Chaldäer und die Ur— 
jige der Eemiten, in Zeitichr. der D. Morg. Gef. XXVII, ©. 397 ff. 
und: Semitismus und Babylonigmus in Jahrb. f. prot. Theol. 1, 
©. 117 ff., aud bei Niehm, Handwörterb. d. bibl. Altert. Art. 
„Ehaldäer” und „Ur Kajdim“. 


188 Kittel 


da8 andere und ohne Beeinfluffung durch dasfelbe, zu löfen ver: 
ſucht wird. 

Bei dem gegenwärtigen Stande der herateudhifchen Quellen: 
teilung, welcher e8 noch nicht geftattet, fi) auf irgend einen der 
Vorgänger ohne weiteres zu berufen, ift es für unfern Zweck ge 
boten, zuerſt einen näheren Blid auf die in der Genefiß vor: 
liegenden Hauptquellen zu merfen. 


a. Die Quellen. 

Es handelt fi im mefentlihen um die Abjchnitte, welche 
von den Vorfahren Abrahams und von Abraham felbit bis zur 
Einwanderung in Kanaan, ſowie von feinen Verwandten in der 
Heimat berichten. Diefe find: Gen. 10, 1—32; 11, 10—32; 
12,1—5 (13, 5); 15,7; 24,3f. 7.10; 25, 20; 27,43; 28, 10; 
29, 4f. Hiezu fommen noch einige Notizen außerhalb der Genefis, 
wie Deut. 26, 5. Sof. 24, 2f. Jeſ. 41,9. Neh. 8, 7. 

Bon diefen Stellen können die zwei legten jofort als feinen 
weitern Ertrag verheißend ausgefchieden werden. Die Nehemia: 
itelle ift zweifellos von den analogen Ausfagen der Genefis ab— 
hängig; ef. 41, 9 dagegen zu unbejtimmt, als daß daraus etwas 
Weſentliches erjchloifen werden könnte. of. 24, 2 ferner wird 
ohne Anftand E zugewiefen werden dürfen. Unter den übrig 
gebliebenen Stellen laſſen ſich zunächſt für die elohiftiiche Prieſter— 
ſchrift — ich nenne fie im Folgenden kurz P, das jahvijtifche 
Bud J, das diefem verwandte elohijtiihe E — ausſcheiden: 
Sen. 10, 1—7. 20. 22. 31f. 11,10—26. Was die Wölfer- 
tafel in Kap. 10 betrifft, jo war man allerdings früher geneigt, 
bedeutend mehr von ihr zuzumeifen.! Doc hat man ficdh jetzt, 
jomwett ich fehe, unter dem Einfluß von Wellhaufens überaus ein 
leuchtenden Vorſchlägen ziemlich allgemein auf die angegebenen 
Verſe ald Eigentum von P geeinigt? Noch weniger fann über 


ı fo Rnobel und Nöldele, während Hupfeld, Böhmer, 
Kayſer in Kap. 10 überhaupt feine Spuren diefer Quellenfhrift 
glaubten finden zu fönnen. In der leßteren Anſchauung trat die be= 


rechtigte Reaktion gegen die ausſchließlich elohiftifche Ableitung des 


Kapitel3, aber ind andere Extrem übertrieben, zu Tage. 
2 Bol. Wellhauſen, Jahrb f. dtſch. Theol. XXI, ©. 395 ff. 
Dillmann, Genefi3* ©. 153. 


Die Herkunft der Hebräer nad) dem X. Teit. 189 


11, 10—26 Streit entitehen. Hier liegen die Kennzeichen von P 
unzweideutig und von jeher erfannt vor Augen. Aud 12,4. 5 
darf als feit langer Zeit für P gefichert angefehen werden, ebenfo 
25,20. Von dem Reſte der oben angegebenen Genefisitellen 
fann außer den eben ausgeſchiedenen für unfere Duelle nichts mehr 
in Frage fommen als 11, 27-32. 

Auch diefen Abſchnitt haben Frühere, jo noch Nölvefe in 
feinen befannten Unterfuhungen zur Kritit des A. Teft. (1869) 
und Dillmann in der 3. Auflage des Knobelichen Genefisfommen- 
tarö (1875) ganz zu P gezogen. Wellhauſen! hat dagegen 
geltend gemacht, der Jehoviſt, welcher in 12, 1 Abraham als eine 
befannte Perſönlichkeit vorausfege, müfje ihn wohl auch irgendwie 
vorher eingeführt und feine Herkunft abgeleitet haben. Es laſſe 
jih alfo auch bei ihm ein Analogon zu 11,10 ff. erwarten. 
Einen Reſt diefer jehoviftiihen Nachrichten über Abrahams Her- 
funft glaubt er in 11, 29 zu finden. Wellhauſen fcheivet fomit 
aus diefem Zufammenhang den Vers 11, 29 aus und jchreibt 
das übrige der Quelle P zu, doc fo, daß er fich denkt, auf den 
Vers 11, 28 ſei urfprünglich jofort V. 31f. gefolgt, während 
DB. 30 nad ihm vor 16, 3 jtand.? 

Auf Wellhaufens dee, daß jehoviſtiſche Elemente ſich in 
diefem Abfchnitte finden müffen, ein-, aber noch erheblich über 
feinen VBorfchlag hinausgehend, hat Dillmann in der 4. Auf: 
lage der Genefis für fiher arundfchriftlih nur noch V. 27 und 32 
erklärt.“ V. 29 teilt er feinem O (B), alfo dem jehoviftifchen 
Bude zu, weil auch 22,20 ff., welche Verfe auf 11, 29 Rück— 
fiht nehmen, ihm angehören. 3. 31 und den in ihm vorausge: 
ſetzten V. 28 weist Dillmann nur noch „größerenteil3* P zu; 
über 3. 30 fpricht er ſich ähnlich wie Wellhaufen aus. In der 
That hat die Notiz von Sarai's Unfruchtbarkeit vor 16, 3 eine 
bejjere Stelle als hier — falls fie nemlich überhaupt aus P jtammt. 
Allein ehe man eine Verfegung annimmt, wird man es vielleicht, 
da einmal der Vers in diefen Zufammenhang von P nicht recht 
paflen will, mit einer andern Quelle verfuhen müſſen. it der 


ı IDTH XXI, ©. 397. 
2IDTh XXI, ©. 398 Anm. 
3 Genefis+ ©. 199. 


190 Kittel 


Jehoviſt doc Schon in diefen Abfchnitt eingedrungen, jo mag der 
Gedanke an ihn am nächſten liegen. Hierüber jofort das Nähere; 
zunächſt fehren wir zu Dillmann zurüd. 

Der Grund, weshalb Dillmann aud in B. 28 und 31, wenn 
auch nicht mit voller Beitimmtheit, jo doch mit einiger Wahrſchein— 
lichkeit, Zufäße zu P glaubt finden zu jollen, it die in beiden 
Verſen vorausgejegte Herkunft Abraham aus Ur Kaſdim. Er 
erklärt geradezu, daf die Annahme, ob der Redaktor (R) in B. 28 
und 31 db eingeariffen habe, von der Auffafjung von ammw> 18 
abhänge. | 

Die Ajiyriologie? glaubt nämlich faſt übereinjtimmend? in dem 
durh ſüdbabyloniſche Ausgrabungen beim heutigen Mughair zu 
Tage geförderten Namen Uru den Ausgangsort Abrahams Ur 
Kafdim gefunden zu haben. Dieje Anjicht als richtig anerfennend, 
erklärt Dillmann, fönne man den Namen Ur Kafdim in V. 28 b 
und 31 b weder von P (Dillm. A), nod von J (Dillm. C), ab: 
leiten. Denn P laſſe Abraham jonjt von Norden her kommen 
und kenne auch feine nächſten Verwandten nur als in Paddan 
Aram einheimifch; es fei daher nicht denkbar, daß bei ihm Ab- 
raham aus Südbabylonien ausgezogen ſei. Ebenſo könne die 
Notiz nicht aus J ftammen, weil diefer zwar Südbabylonien 
unter dem Namen psw fenne (wogegen aw> erit ſeit der Zeit 
Seremias vorfommen), dagegen ebenfalls Abrahams Verwandte, 
die Nachoriden, in Charan wohnen lafje, ohne eine Einwanderung 
derjelben dorthin zu berichten. Es bleibt jomit für Dillmann 
unter der Borausfeßung eines jüdbabylonifchen Ur, wie es aus Der 
Sleihung der Ajlyriologen: Ur Kaſdim — Uru (Mughair) ſich 
ergeben würde, nur die Möglichkeit, den Namen als von R, der 
unjern Abſchnitt mit 11, 1 ff. vermitteln wollte, frei eingejegt zu 





wa. a O. ©. 19%. 

’ vgl. Schrader an den a. D.; ferner Die Keilinſchr. u. d. 
U. T. ©. 129 ff., Keilinſchr. u. Geſchichtsforſch. S. 94 ff. Frd. 
Delitzſch, Wo lag das Parad. ©. 200. 226. Hommel, Geſch. Aſſ. 
u. Babyl. S. 115 (Karte). 

® Eehr referviert äußert ſich Tiele, babyl.=afiyr. Geih. (1886) 
©. °5, wie jrüher jchon Halevy gegen die Jdentifizierung beider Ur 
protejtiert Hatte. | 


Die Herkunft der Hebräer nad dem U. Teit. 191 


denfen.' — Daneben fragt freilich Dillmann aud,? ob es denn 
ganz unmöglich jet, daß es ein > xX im Norden gegeben habe ? 
Er führt Gründe aud für diefe Möglichkeit an, ohne aber eine 
definitive Entſcheidung zu geben. Nach feiner, Genejts* ©. 199 
gegebenen Anficht über die Verſe 23 und 31 fcheint er fich über- 
wiegend zu der Annahme, daß Ur Kafdim aus R jtamme und 
damit ein ſüdbabyloniſcher Ort fei, zu neigen. Andererjeits erhellt 
hier ichon daß bei der von Dillmann als möglich gejegten nörd— 
then Lage des abrahamijchen Ur — ertjtierte nun thatjächlich, 
oder nur im Sinne von P und J ein nördliches Ur Kaſdim — 
ſich fein Hindernis einjehen ließe, diefes Ur entweder P oder J 
oder möglicherweife beiden zuzumeifen. 

Dieje Auffafjung Dillmanns über die Verſe 28 und 31 ruht, 
wie fich zeigt, durchaus auf der Deutung von Ur Kaſdim. Die 
legtere jelbit jteht aber für ihn nicht über den Zweifel erhaben 
feſt. Daraus erwächſt für die Quellenteilung die Schwierigkeit, 
daß die Unficherheit der Deutung jenes Ortäbegriffes jich auf die 
Analyfe der Verſe ſelbſt fortpflanzt. Zu diefer erjten Schwierig: 
feit fommt die weitere, daß der Ortsname ‘> 'x außer an un- 
jerer Stelle au in 15, 7 wiederkehrt und daß doch weder in 
11, 31 noch im 15, 7 irgend ein formeller, ſei es fprachlicher, 
ſei es ftiliftifcher, Grund vorliegt, die Worte o=w> 18m aus dem 
Zufammenhang auszumerzen und als Interpolation einer fpäteren 
Hand zu faflen. Im Gegenteil pajjen beidemal diefe Worte 
durchaus in das Ganze des Verjes. Sie laffen fi nicht mweg- 
denfen, ohne den Zujammenhang zu löſen und den Vers zu 
einem Körper mit abgeriljenem Gliede zu machen. Denn das 
Verbum 2° und 277 fordert fein Korrelat in einem mit m 
verbundenen Yandesnamen. Soll ‘> 'x frei eingejegt fein, jo 
muß ein anderer Ortöbegriff erjt fünftlich befeitigt fein. Was 
aber foll in 11, 31 an feiner Stelle geftanden haben, da dort 
zur bereit3 al& zweite Station auf der Wanderung genannt ift?? 





wa. a. O. ©. 200. 

2 a. a. O S. 201. 

3 pgl. außerdem über den Vorſchlag Tillmanns zu 11,31 Budde, 
Urgeſch. ©. 427. 


—— 


192 Ritttel 


Etwas anders, das geben wir zu, mag die Sache — von 
der formellen Seite angefehen — in 11, 28 jtehen. Hier ift 
der Name ‘> x mit einem aus dem Vorhergehenden wieder: 
holten 2 als bloße Appofition zu ımmbın pass zugefeßt. Der 
Sinn und Zufammenhang des Verfes wäre vollftändig und würde 
logiſch befriedigen Ffünnen, aud) ohne den Zufab ‘> 'x2. Der 
Leſer wüßte genug, wenn er wie in 12, 1 erführe, daß Abraham 
aus feiner Heimat auszog. Er könnte zwar immerhin noch ein 
Intereſſe verjpüren, zu wijjen, welches Land eigentlich jenes m 'x 
Abrahams ſei; aber er könnte fich auch zufrieden geben mit dem 
Gedanken, der aus 12, 1 ohnehin jeine Stüße erhielte, daß der 
Erzähler entweder hierüber jelbit das Genauere nicht mehr gewußt 
habe, oder aber, daß er e8 ja an einer anderen Stelle — dies 
hängt von der Faflung von 15, 7 ab — nachtrage. Hier in 
11, 28 fönnte demzufolge nach formellen Geſichtspunkten die An- 
nahme einer nachträglichen Einjegung des Namens Ur Kaſdim 
eher auf Billigung rechnen. 

Es würde fich hieraus ergeben, daß wenigitens in 11, 31 
und 15, 7 fein Necht vorläge, für die Erklärung von Ur Kaſdim 
einen redaktionellen Eingriff zu Hilfe zu nehmen. Sit das nicht 
der Kal, jo muß jevenfalld der ganze Vers 11, 31 nad feinen 
fonjtigen Merfmalen P zugehören. Wir hätten dann die Auflage 
zu erflären, wie mit dem fonftigen Zufammenhang von P eine 
Abſtammung Abrahams aus Ur Kafdim fi reimen laſſe. Denn 
ift Ur Kafdim einmal aus quellenkritifchen Rückſichten dem Be: 
jtande von P zuzuzählen, jo muß e3 ſich auch mit demfelben ver- 
tragen. Ebenfo muß dann Ur Kaſdim zum Beftande derjenigen 
Duelle gehören, welcher wir 15, 7 zuzumeifen haben werden. 
Auch hier entjteht dann die neue Nufgabe, den fonjtigen Beitand 
diefer Quelle damit in Einklang zu ſetzen. Nur in 11,28 hätten 
wir nad) dem obigen Befunde freiere Hand. 

Iſt ſomit Dillmanns über Wellhauſens Borjchlag hinaus: 
gehende Anficht über den Beitand von P in 11, 27ff., wie wir 
alauben, wenigitens für V. 31 zu reftifizieren und letterer Vers 
wieder ganz P zuzuweiſen: jo jcheinen wir demnach wieder, mit 
Ausnahme etwa von > x in 11, 28 auf dem Standpunfte 
Wellhaujens angelangt, daß alles außer V. 29 P zugehöre. 


Die Herkunft der Hebräer nad dem A. Teft. 193 


Ich kann diefe Auffaffung nicht für richtig halten. Den 
Anftop dazu hat mir neben eigenen Beobadhtungen Böhmer 
gegeben, und Buddes Urgefchichte, die ſich mehrfach bewußt und 
unbewußt wieder an Böhmers Aufitellungen anlehnt, hat mic) 
darin beſtärkt. Böhmer hat furzweg 11, 28—30 als nicht zum 
Terte von P, fondern zu J (von ihm B genannt) gehörig ausge— 
zeichnet, und dabei wird es wie mir fcheint, fein Bewenden haben. 
Ur Kaſdim in V. 28 faßt auch er als Zuſatz von R. 

Die Gründe hiefür find kurz aufzuführen? Zunächſt für 
V. 28. Sein Sprachgebrauh hat nicht? an P Grinnerndes. 
Dagegen weift ın=bin par mit aller Entjchiedenheit auf J (vgl. 
12, 1. 24, 4. 7). Dasſelbe Refultat ergiebt der Inhalt von 
V. 28 im Vergleich zu feiner Umgebung In V. 27 nennt P 
als Söhne Terachs die drei Brüder Abram Nachor Haran. Die: 
jelben drei hat, wie V. 29 zeigt, auch J gekannt. Als lebend 
und beteiligt nennt J in V. 29 nur zwei von ihnen, Abram 
und Nachor; der dritte Haran wird nur in feiner Tochter Milka 
nachwirkend gedadt. Hätte man aud V. 28 nicht, jo müßte hier 
angenommen werden, er jet zur Zeit der Werheiratung der beiden 
andern jchon gejtorben gewejen. In B. 31 erwähnt P gar als 
direft eingreifend nur noch einen der drei Brüder, Abram, jamt 
Lot, dem Sohne des dritten Haran. Der lettere wirft wie oben 
in der Tochter jo hier im Sohne nad. — An und für fich kann 
nach diefem Sachverhalte der Tod des nur in feinen Nachkommen 
repräjentierten Haran ſowohl in ®. 31 als in ®. 29, aljo 
ſowohl in P als in J, vorausgejegt und thatſächlich vorausge— 
gangen fein. ch halte daher nicht für jo unmöglich, daß ein 
dem Inhalte nach dem B. 28 analoger Vers, der dann aber aud) 
über Nachor einen Aufichluß gegeben haben muß, in P jtand. 
Alleın dies wäre eine Sache für ſich. Thatfächlich haben mir 
nicht zwei, fondern einen Vers diefer Art, der deshalb auch nur 
einer diejer beiden Quellen fo wie er vorliegt (wenn auch etwa 
ohne > 'x) gehört haben Fann. 

! Liber Genesis pentateuchicus (1860), ©. 21. Das 1. Bud 
der Thora (1862), ©. 32. 

? Val. Budde, 418 fi. 

> wie 3. B. Budde, 421. 

Theol. Studien a, W, VII. Jahrg. 13 


194 | Kittel 


Bei diefem Sachverhalt muß einfach die Frage geitellt werden, 
welche Duelle, P oder J, größere MWahrjcheinlichkeit für den In— 
halt diejes Verſes bietet. it Dies bet J der Fall, fo hat fie 
bet der entichteden jahviſtiſchen Korm von V. 28 den entichiedenen 
Anſpruch auf den Vers. Die Vorausfegung trifft aber durchaus 
zu. Wir fahen, P in V. 31 nennt nur Abram, dazu Haran ge: 
legentlich, als vielleiht tot. Man fragt notwendig: mo bleibt 
Nachor? Hierüber erfahren wir in P nichts. Heraus folgt wohl 
mit Sicherheit: dieſer Verfaſſer hat entweder die Abfiht, gar 
feine weitere Ausfunft über den Verbleib der beiden andern 
Brüder zu geben. Er läßt fie dann bei Seite, um auf Abram 
allein überzugehen. Auch Haran interejfiert ihn nicht für ſich, 
fondern nur in Lot. Oder aber hatte er eine Ausfunft, die dann 
verloren fein müßte, jo war e8 nicht die in ®. 28, fondern 
eine reichere, Nachor mit erwähnende. 3. 28 Tann feinem Inhalte 
nad) nur demjenigen Verfaſſer angehören, der auch Nachor noch 
einmal erwähnt. Das it J in V. 29. Denn es leuchtet ein: 
bleibt von drei Brüdern einer übrig, jo möchte der Leſer wiſſen: 
wo bleiben die zwei? Bleiben zwei übrig, jo hat der Erzähler 
nur die Auflage, den Berbleib des dritten zu erwähnen. Dieſer 
Auflage it J in B. 28 nachgekommen, während P vie jeine 
wenigitens im heutigen Terte nicht mehr erfüllt. 

Sit damit der Bann gebrochen, als müßte außer V. 29 der 
ganze Abjchnitt P angehören, jo wird ſich auch feine Schwierigfeit 
ergeben, nod 3. 30 für J in Anjpruh zu nehmen. War jeine 
Verſetzung in P an eine andere Stelle an ſich jchon ein bloßer 
Notbehelf, hervorgegangen aus der Borausfegung, der Ver müſſe 
zu P gehören, jo zeigte ji hieran fchon, daß der Vers in Den 
Zujammenhang von P nicht paſſe. AndererjeitS paßt er durchaus 
in denjenigen von J, ſowie in deſſen Sprachgebrauch. Für Das 
Nähere hierüber darf ich auf Budde verweilen, der die Gründe 
in durchaus ausreichender Weife aufgeführt hat.! Al Erfah für 
das verlorene Glied erhält dann P 16, 1°? 


t Urgefh. ©. 415 f. 
® Bol. Budde, Urgefh. S.417 f., Kuenen, hiſt.krit. Einleit. 
©. 64. 





Die Herkunft der Hebräer nad) dem A. Teit. 195 


Als Eigentum von P hat fi demnach unter den für die 
Herkunft der Hebräer in Betracht fommenden Stellen ergeben: 
10, 1—7. 20. 22. 31f. 11, 10-26. 27. 31f. 12, 4b, 5. 
25, 20. Gleichzeitig hat ſich als J zugehörig ausgewiefen: 
11, 28—30 (außer etwa > x). Es erübrigt ſomit noch, Die 
Abitammung von 12, 1—4®. (13, 5.) 15, 7. 24, 3f. 7. 10. 
27, 43. 28, 10. 29, 4f. zu bejtimmen. Unter ihnen wird zu— 
nächſt über die erite, zweite und vierte Stelle fein Streit entſtehen. 
Sie find einftimmig J zugemwiejen. Cher fönnte um die Stellen 
in Kap. 27 28 und 29 gejtritten werden. Wellhaufen! will alle 
drei E zumeifen, weil e8 ihm als gejichert gilt, daß J nur die 
Stadt Nahors als Drt Labans kenne. Da diefe Stadt hier 
Charan heit, jo folgt ihm daraus ein Gegenſatz zwiſchen J und 
E und Charan ſoll E gehören. Allein die 2 lebten Stellen ge: 
hören nach allen Anzeichen J (Dillm. zu den St.); dies iſt aud) 
für 27, 43 maßgebend.” Es folgt daraus, daß J beide Bezeich- 
nungen hatte. 

Noch näher dagegen muß auf 15, 7 eingegangen werden. 
Gen. 15 iſt immer noch hinjichtlich feiner Quellen eines der 
dunfeliten Kapitel. Frühere haben das Kapitel unter Borausfeß- 
ung feiner Einheitlichfeit ganz oder faſt ganz J zugewiefen, jo 
Hupfeld und Kayfer, auch Schrader, oder aber E, fo Böhmer, auch 
noch in der Hauptſache Dillmann in Genefi3 3. Aufl. Well: 
haufen? hat dann den Gegenjag, in welchem V. 1—6 zu 
2. 7— 21 jtehen hervorgehoben und auf Grund hievon nur die 
erſtere Versgruppe noch E, die andere, aber mit jtarfen Ein— 
ſchränkungen, J zugemwiefen. Unter dieſe Einfchränfungen rechnet 
er auch den für uns wichtigen B. 7 wegen x und Ur Kafdim, 
welche nicht jahviitifch feien, ſondern die Überarbeitung verraten.’ 

Dillmann in Genefis 4 Aufl. dagegen? hat wiederum 
einen neuen Geſichtspunkt von Wert in die Unterfuhung des 


ı SDITH XXL, ©. 426. 
2 Falld Hier sam nicht Zuſatz von R ift. 
3: IDTh XXL ©. 411f. 
Auch Riehm, Stud. u. Rrit. 1885 ©. 782 glaubt deuterono- 
miſtiſche Einflüjie konftatieren zu fünnen. 
S. 230 f. 
13* 


196 Kittel 


Kapitels hereingetragen. Ihm jcheint V. 1—6 feine literarifche 
Einheit. Nur V. 1. 2. 4. und vom Folgenden B. 8. 9—11. 
17 f. jtellen ihm eine, zu E gehörende Einheit dar. V. 3.5. 
jftammt ihm aus J, ®. 7. 12—16 von R als freie Einſätze des: 
jelben. Bon derjelben Hand jtammt ihm auch eine Anderung in 
V. 85 Auch hier aljo it der uns zunächſt interefiterende B. 7 
einer überarbeitenden Hand zugemwiefen. Der Grund ift für Dill: 
mann einerſeits Ur Kaſdim, andererjeitS das Bedürfnis, den 
zwiſchen V. 6 und 8 bejtehenden Widerſpruch durd eine andere 
Hand vermittelt zu wiſſen. Denn, argumentiert! Dillmann, tft 
in V. 6 Abrahams Glaube gerühmt, jteht er dagegen in V. 8 
zweifelnd und ein Zeichen fordernd vor uns, jo fann diefe Ver: 
jchiedenheit der Auffaſſung, auch wenn jie zweierlei Federn ent: 
iftammt , doch von einem denfenden Redaktor nicht ummittel- 
bar zufammengejtellt werden. Um alſo einen Anfchluß für V. 8 f. 
an das Vorhergehende zu gewinnen, jegt RR. 7 von ſich aus ein. 
Urſprünglich dagegen bildete V. 8 die Fortfegung von V. 4. 

Die Bemweisführung zur Befeitigung des B. 7 auß dem ur: 
fprünglichen Terte hat zwei Stüßen. Die eine iſt Ur Kaſdim, 
die andere der Zufammenhang. Allein Ur Kafdim? fann für uns 
nad) dem bisherigen ala Grund gegen J nicht in Betradht fommen. 
Gehört e8 in 11, 31 nicht der Redaktion an, jo it e8 an und 
für fi fein Beweis für einen Eingriff von R Es fragt ſich 
daher, ob andere Gründe, beſonders der Zufammenhang einen 
folhen fordern. Ich geitehe, daß ich hiezu Feinerlei Nötigung ent: 
deden kann. 

Es wird als allgemeiner Grundfat gelten Dürfen, Daß, 
joll ein freier Einfah des Redaktors angenommen merden, hiezu 
dringende Gründe vorhanden fein müſſen, welche die Erflärung 
des Tertes aus dem Material der Urquellen verbieten. Diejen 
Sacdpverhalt kann ich meinesteild hier nicht vorfinden. Die An: 
nahme einer redaktionellen Vermittlung für V. 7 ſchiene mir 
nämlich nur dann gerechtfertigt, wenn V. 1—6 feine notwendige 

ı Geneliß* ©. 233. 


? Bei Wellfaujen ſchließt fih nod x als angeblih nicht jab- 
viitifch an, worüber Budde, S. 439, 


Die Herfunit der Hebräer nad) dem A. Teft. 197 


Fortfegung in V. 7ff. bezw. V. 8 ff. hätte. Iſt dagegen 
V. 1-6 ein befriedigender und in ſich abgejchloffener Zufammen- 
bang für jih, fo hat V. 7 ff. gar feine notwendige Beziehung 
hiezu; von der Notwendigkeit einer Vermittlung ift dann von 
felbjt nicht mehr die Rede, weil es ſich gar nicht mehr um die 
Zufammengehörigfeit heterogener Glieder ( V. 6 und 8) handelt. 
HB. 7 ff. urprünglid ein Zufammenhang für fich gemefen, 
wofür doch thatjächlih mehr jpricht,! als für die Zufammenge- 
hörigfeit mit V. 1—6, fo fonnte diefes Stüd, weil durch V.7 
leivlich an das Vorhergehende anfnüpfend, ganz wohl von R hier 
eingefügt werden. 

Die Frage könnte daher nur fein: ob fih 15, 1—6 als 
Zufammenhang für fih, ohne in V. 8 ff. eine direfte Fortjegung 
zu fuchen, erklären laſſen. Ich Halte bei der großen Verfchieden- 
heit. beider Stüde dies für das Natürlichite. Allerding® muß 
mit Dillmann die Einheit von V. 1—6 aufgegeben werden. Im 
übrigen jedoch bin ich weder mit dem Vorſchlage Dillmanns nod) 
mit demjenigen Buddes? ganz einig, Denn wenn Dillmann nur 
V. 3. 5f. I zuerfennen will, jo hat damit nicht nur die Ge: 
ſchichte feinen Anfang, fondern V. 4 paßt auch nicht zu E (wegen 
mund vo V. 3; jedenfalls darf nah V. 3 wu nicht mehr 
als Kennzeihen von B in diefem Zufammenhang geltend gemacht 
werden, wie Dillmann thut.)? Gehört aber B.4 ſamt B. 3 zu J, 
fo ift damit wegen de3 gegenjeitigen Berhältnifjeg von V. 3 und 
V. 2 der leßtere für E wahrjcheinlich gemacht. Dieſe Wahrfchein: 
Iichfeit erhält ihre Bejtätigung durd den Namen Elieſer. V. 2 
it damit von zwei Seiten für E gefihert* V. 3 fällt dann von 
felbit, und mit ihm ®. 4, J zu. Die Frage in V. 3 hat ihre 
Antwort am natürliditen in V. 4; die analoge in V. 2 fordert 
die ihrige in DB. 5; auh Wellhaufen und Budde erkennen in 


ı Welldaujen IDTh XXL ©. 411f. 

Urgeſch. 416 F. | 

3 Geneſ.‘ S. 230 unten. 

* Über 177 son dgl. Budde 417. Es bemeift nicht gerade für E, 
aber auc nicht gegen ihn. Am ehejten jtammt die Zufammenjtellung 
von R, denn =" paßt jonjtnurzud, iſt alfo wohl erit in E herein 
gefommen. 








198 Kittel 


%. 5 E an. Damit haben wir zwei felbjtändig neben einander 
hergehende Erzählungen weſentlich desfelben Hergangs. Beiden 
fehlt zur Bollfommenhett nur noch Anfang und Schluß. Sie 
Itanden wohl in beiden Quellen jo ähnlih, daß R jie nur einmal 
zu ſetzen braudte. V. 1 und 6 gehören fowohl J als E zu. 
Am meilten zeigen ſich no in V. 1 die Spuren beider Quellen 
(mm J, mme und sm m B, leßteres mwenigitens in E vor: 
wiegend, wie Budde 223 jelbit anerkennt; val. 20, 1. 22, 1. 
39, 7. 40, 1. in E gegen 22, 20 in J). 

Segen Buddes Vorichlag der Teilung (V. 1. 28. 36,4, 
6 =J, 2b 3% 5 — E, wobei aber 3* vor 2b zu jtehen 
fäme) fommt in erjter Linie feine zu große Künftlichfeit in Be— 
trat. Zur Umitellung von Bersgliedern fann nur die äußerite 
Not veranlajjen. Ste liegt hier nicht vor. Außerdem ſprechen 
gegen Budde die Spuren von E in V. 1 und die ungenügende 
Motivierung des V. 6 durch B. 4 allein. Zu ‚der jeßigen 
Sormulierung von V. 6 hat jedenfalls das Zeichen in B. 5 bei: 
getragen. 

Schließt demgemäß 15, 6 die vorhergehende Erzählung für 
beide Quellen (J und E) ab, jo paßt, da V. 1—6 vom Sohne, 
nicht vom Lande handeln, B. 7 ff. weder zur einen noch zur 
andern in diefem Zufammenhang. Es bildet ein Stüd für jich, 
an diefe Stelle gebracht vielleicht wegen des Verbums wo", das 
den Nedakttor bei V. 8 an V. 1—6 erinnerte. Damit iſt von 
jelbjt die Quellenfrage in 15, 7 ff. unabhängig vom Zufammen= 
hang mit 15, 1ff. geitellt. Sie bietet dann auch bedeutend 
weniger Schwierigfeit. Das Stüd fcheint wejentlih aus J zu 
ſtammen, mit eingejtreuten fleineren Elementen aus E in V. 9. 12, 
vielleicht auch aus P in V. 14. Jedenfalls iſt, wenn V. 7 ff. 
von feiner Abhängigkeit von 1—6 befreit iſt, für V. 7 die größte 
Wahrjcheinlichkeit feiner Abfunft aus I gefichert, worüber noch 
Budde ©. 439 zu vergleichen ilt. 

Es gehören nad alledem, damit fafje ich das Bisherige zu— 
fammen, zu E: of. 24, 2f.; zu J: Gen. 10, 8—19.! 21.? 


ı Ohne V. 9. 
? Vielleicht ohne die 3 letzten Worte. 





Die Herkunft der Debräer nach dem A. Teft. 199 


25--30. 11, 28—30. 12, 1-48, (13, 5.) 15, 7. 24, 3f. 7. 10, 
27, 43. 28, 10. 29, 4f.; zu P: 10, 1—7. 20. 22. 31f., 
11, 10—26. 27. 31f., 12,42. 5. 25,20. Dem Deuteronomifer 
bezw. Deuteronomijten gehört Deut. 26, 5. 


b. Der Ertrag der Quellen. 

65 muß nad der mühjamen Scheidung der Teile unfer 
Erjtes fein, die für ihre wahren Zufammenhänge nun wiederge: 
fundenen Glieder neu zuſammenzuſchließen. Wir haben dann die 
nächte Worbedingung der Antwort auf die Frage: wie haben die 
einzelnen Schichten der hebräijchen Tradition fich die Herkunft der 
Väter gedacht? 

Für E tft die Sache einfacher als uns lieb iſt. Diefe Quelle 
bietet befanntlich von der Urgefchichte entweder nichts oder fait 
nichts. Sie hat auch noch über die Geſchichte Abrahams nur 
dürftige Reſte; unter ihnen feine Mitteilung über Abrahams und 
der Seinen Herkunft. Erjt in ganz anderem Zufammenhang, am 
Ende der herateuchifchen Erzählung finden wir in E eine Be- 
merfung, welche die Gedanken und Erinnerungen diefes Verfaſſers 
über die Herkunft der Väter Israels verrät. „Und Sofua Sprach 
zım ganzen Volk: So fpricht Sahve, der Gott Israels: Sen- 
jeit des Stromes wohnten eure Väter vor Alters, Terach der 
Vater Abrahams und der Vater Nachors und dienten andern 
Göttern. Da nahm ich euren Vater Abraham von jenjeit des 
Stromes und ließ ihn ziehen durch das ganze Land Kanaan .. .* 
Sof. 24, af 

Es iſt von Wichtigkeit, daß hier der Grund der Wanderung 
als ein religiöfer angegeben tft. Keine unferer Quellen hat diejes 
bedeutſame Moment jo deutlich in der Erinnerung bewahrt wie 
diefe entweder ältejte oder zweitältefte Nachrichtenfammlung. Ab- 
gefehen hievon aber gewinnen wir hieraus nur die allgemeinjten 
Züge des Hergangs. Die Väter wohnen „jenfeit des Eufrat“, 
wo auch jpäter noch die Verwandten fich befinden, Gen. 31, 21, 
und von jenſeits zieht Abraham nad) Kanaan. Hier jcheint an 
eine vorangegangene Wanderung Terachs ſelbſt noch nicht gedacht. 
Es fieht aus, als habe die Wanderung erit mit Abraham be- 
gonnen. Doc, läßt die Kürze und Allgemeinheit des Ausdrucks 


200 Kittel 


und der gelegentlihe Charakter der Mitteilung Schlüſſe hieraus 
nicht ziehen. 

Hieran reihen wir gleich die Notiz des Deuterononiums. 
Mit einem Korb, gefüllt mit den Critlingen der Früchte des 
Landes, joll jpäter im Lande der Israelit zum Heiligtum fommen, 
da fpricht er vor Jahre: „Ein irrender Aramäer war mein Vater. 
Er zog hinab nad) AÄzypten und hielt fich daſelbſt auf mit wenigen 
Leuten und ward dort zu einem großen jtarfen und zahlreichem 
Volke“ (Dt. 26, 5). ax iſt folleftiv zu faflen. Die Vorfahren 
Abraham Iſaak und Jakob find zufammengefißt; in dem letteren 
vollzieht fi der Zug nad Ägypten. 2x ijt der Haltung des 
Betenden entjprehend demütiger Ausdrud für die nomadiſche 
Lebensweife der Vorfahren. An ein Irren im ftrengen Sinne ift 
nicht gedacht, ſondern an das unitete, heimatloje Umbherziehen des 
Beduinen, wie es dem jeßhaften Bolfe in Kanaan ſtets als freud— 
lojes und fümmerliches Los vorichwebt (Gen. 4, 14). Nur war 
enthält aber für uns bedeutjames. Es drüdt die Abjtammung 
und Vollsangehörigfeit der Väter unzweideutig aus. 

Aramäer von Paddan Aram heigen Bethuel und Laban 
in P Gen. 25, 20. 28, 2ff.; nah Aram Naharajim, als der 
Heimat Abraham, zur Stadt Nahord geht in J Abrahamz 
Kneht, um für Iſaak ein Weib zu holen Gen. 24, 10. Der 
Name diefer Stadt Nachors iſt in J aller Wahrjcheinlichleit nach 
Charan Gen. 29, 4f. Aramäer jchlehtweg, wie im Deuterono: 
mium die Väter Israels heißen, iſt Laban vielleicht in E genannt 
31, 20. 24 (vgl. Hof. 12, 13). Aber aud) inE ift nad) 31, 21 
dieſes Aram jedenfall als jenfeit des Eufrat liegend näher be= 
ftimmt. Über die Heimat Labans ift aljo fein Zweifel; es iſt 
dad meſopotamiſche Aram, die Landfchaft um Charan, Darf 
man die für die Heimat Zabans gewonnene Beltimmung Arams 
auf jene Deuteronomiumftelle übertragen, jo würden nah dem 
Deuteronomium die Väter von dem mejopotamifchen Charan ihren 
Ausgang genommen haben. Nun ift allerdings DuR und dem— 
gemäß auch mx ein weit allgemeinerer Begriff. Aram im all: 
gemeinen zerfällt in die vier Teile Aram Naharajim oder Paddan 
Aram, Aram Dameſek, Aram Zoba und Aram Beth Nechob. 
Es könnte fich aljo darum handeln, welcher diefer 4 Landſchaften 


Die Herkunft der Hebräer nach dem A. Teft. 201 


die Söraeliten fpeziell zuzumeifen jeien. Allein wenn andere Zeug- 
niffe, in denen die Hebräer Abkömmlinge des Landes Aram ge: 
nannt find, bejtimmt auf die Zandihaft um Charan hinmetfen, 
jo liegt e8 nahe genug, auch hier an diefelb: Gegend zu denken. 
Immerhin it, auch wenn man Aram im meitejten Sinne zulafjen 
wollte, doch noch ein ziemlich eng umjchriebenes Gebiet gedacht, 
das unter allen Umſtänden nördlich vom fpäteren babylonischen 
Gebiete liegt. Die Aramäer find nad) Schrader! im allgemeinen 
diejenigen jemitifchen Stämme, deren Gebiet im Norden von Ar- 
menien, im Weſten vom Taurus und Amanusgebirge, dem Orontes, 
Zeontes und Libanon, im Süden von der arabifhen Wüſte, im 
Oſten hauptſächlich von der letzteren und dem Eufrat begrenzt ift. 

Die jahviftifhe Duelle J bat wie die Priefterichrift 
eines ihrer eigenartigen Merkmale in dem Bejtreben, die Gejchichte 
Israels in ihrer Beziehung zur Welt und den Bölfern im ganzen 
zur Anschauung zu bringen. Hier erwarten wir daher mit Recht 
etwas eingehenderen Bericht über den Zufammenhang der Hebräer 
mit anderen Völfern. Israels Herkunft und feine Verwandtſchaft 
mit den andern Völkern wird deshalb bis zu den erften Anfängen 
der Völferbilonng nad) den Zeiten der großen Flut, bezw. der 
großen Völferzeritreuung aus Babel, zurüdgeführt. 

Im Blid darauf, daß Sintflut und BVölferzeritreuung jtreng 
genommen einander parallel laufende Vorgänge find, jeder für 
fi) dag Datum bildend, von dem aus die jetige Menfchheit ſich 
zu bilden begann, hat zuerſt Wellhaufen zwei Hauptarme (It und 
J2) geſchieden, aus welchen die heutige jahviſtiſche Quelle J zu: 
jammengeflofjen fei. Budde hat fodann in feiner Schrift über die 
biblifche Urgefhichte (1883) den Nachweis unternommen, mie 
diefe zwei Arme der jahpiftiihen Schrift durch die ganze Urge— 
Ihichte hindurch, bis Gen. 12, 5 fich verfolgen und teilweiſe 
noch in ihrer Zufammenarbeitung durch einen eigenen jahviftifchen 
Redaktor (IE) nachmeifen laſſen. Erft von der Einwanderung 
Abrahams in Kanaan an vereinigen fich, wie er glaubt, die ge: 
trennten Quellen in ein gemeinfames Bett. 

Die einzelnen von Budde über Wellhaufens vorjichtige An- 
deutungen hinausgehend gewonnenen Nejultate werden vielleicht zu 


ı Bei Niehm Hdw. ©. 79. 


202 Kittel 


einem Teile als zu weit gehend erfannt werden. Eine Reihe 
von gewaltjamen Operationen, von Zerreifungen ganz leidlich zu: 
fammenhängender Glieder, von gemagten Kombinationen und fühnen 
Verſetzungen wird bei der Mehrzahl der vorfichtigen Forſcher mehr 
Kopfichüitteln als Zuftimmung veranlafien. Trotzdem wird man 
ſich aber des Eindruds nicht erwehren können: es tft durch Buddes 
Buch noch einleuchtender gemacht, als es durch Wellhaujens An- 
deutungen ſchon war, daß die jahviſtiſche Urgeichichte zwei neben 
einander hergehende Hauptitrömungen in ſich vereinigt. Ein 
. Streit wird — neben einer Anzahl von Einzelheiten, die man 
anders und vielleicht einfacher zu löſen wird verjuchen fünnen als 
Budde thut — vorwiegend nur um die Frage entitehen können, 
ob dieje zwei Hauptitröme verjchiedene von dem einen jahviſtiſchen 
Schriftiteller aufgenommene und verarbeitete mündliche Traditions- 
Schichten zur Vorausfegung haben, oder ob das Borhandenfein 
zweier Jchriftlicher neben einander hergehender Quellen durch 
die Beichaffenheit des Textes gefordert erjcheint. Auf die eritere 
Seite hat ſich jüngit Niehm in feiner eingehenden Kritif über die 
Schrift Buddes geftellt.' 

Für unfern Zmwed kann es nicht geboten jein, zu diefer Frage 
weitere Stellung zu nehmen. Wir nennen J! bezw. J? diejenigen 
Elemente, in welchen ſich uns eine Zugehörigkeit zu der einen 
oder andern Traditionsfchicht auszuweiſen ſcheint, — gleichviel 
ob fie urfprünglich Thon Jchriftlich oder nur mündlich vorhanden 
geweſen jein mag. 

Jt iſt fonach der Stamm der jahpiftifchen Erzählung. Die 
Eintflut iſt, wenn auch nicht notwendig dem Gedantenfreife, jo doch 
dem Erzählungsitoffe diefer Schicht fremd.? An ihrer Stelle kennt 
fie den Ausgang der Menjchheit aus Babel infolge der Völker: 
zeritreuung. Ob ihr, wie Budde wahrjcheinlich zu machen jucht, 
als Noahs Söhne Tem Jefet und Kenaan gelten, iſt mir zmeifel: 
haft. Abraham jtammt ihr von Sem ab als deſſen jiebenter Nach— 
fomme. Gr wandert von Charan nad) Kanaan. Von I? ſtammt 
die Erzählung über die Sintflut. Noahs Söhne find jedenfalls 

' Stud. u. Krit. 1885, 4. Heft. 

»Ahnlich auch Hommel, der fie nur kurz erwähnt, nicht aber 
eingehend erzählt denkt, Geſch. Babyl. u. Aſſ. ©. 159. 





Die Herfunft der Hebräer nad dem A. Teit. 203 


für diefe Schrift — mögen fie in der andern diejelben oder ab 
weichende Namen führen — Sem Ham Sefet. Einen Ort der 
Yandung nennt I? nicht. Budde glaubt Gründe für die füdliche 
Lage de3 Landungsortes geltend machen zu können und fchliet 
hieraus auf eine weitere Differenz zwifchen J' und I? binfichtlich 
der Herkunft Abrahams, worauf wir zu reden fommen. 

Die ganze Menfchheit befteht in I? feit der Sintflut aus 
den drei großen Völferfamilien, die den Söhnen Noahs, Sem 
Ham Jefet entjproßten. Des lebteren Nachkommen find dem 
heutigen Texte der Völfertafel unbekannt. Vom zweiten Sohne 
leiten fih nad Gen. 10, 8—19! her Kufh Mizrajim Kenaan. 
Kuſchs Sohn iſt Nimrod; er iſt der erite Gemwalthaber auf Erden 
und gründet das erjte Reich in Sinear mit den Städten Babel 
Erech Akkad Kalne. Bon hier aus wendet ji Nimrod nad Affur 
und baut hier die Städte Ninive Rechobot-Ir Kelach und Nefen. 
Bon Mizrajim leiten fich ebenfall3 eine Anzahl von Völkern 
ab; von Kenaan jtammen Sidon, Chet und die Fanaanitifchen 
Stämme? 

Die Fortfegung der Wölfertafel in 10, 21. 25—30 ergiebt 
dann weiterhin, daß für J (It und J?) unter den Söhnen Sems 
die Hauptrolle Eber fpielt. Dies it jo Sehr der Fall, daß er, 
wie Mellhaufen ſich ausdrüdt, geradezu „gleichbedeutend mit 
Sem jelber“, dem Vater der Hebräer, iſt.“ Ebers Söhne find 
Beleg und Joktan. Von dem erjteren leiten ſich die nördlichen 
Semiten, denen die Hebräer zugehören, ab. Eine Genealogie der: 
jelben hat Wellhaufen auch für J wahrfcheinlih gemadt. Ihre 
Endglieder wären die Teradhiven Abraham und Nachor nebit 
ihrem vor ihnen gejtorbenen Bruder Haran in 11, 28—30. 
Harans Tod erfolgt no ınbın pass, in Ur Kaſdim. 

Es reihen ſich hieran fofort die weiteren Angaben in J. 
Jahve befiehlt Abraham aus feinem Lande, feiner nrbım und 
jeinem Vaterhaus auszuziehen in ein anderes Land. Alraham 


ı Außer V. 9. 

2 Yuh 10, 16—18 gehören wohl zu I (gegen Wellhaufen 
Jahrb. XXL 404; Meyer Zeitſchr. f. d. U. T. Wii. I, 124 f.; Budde 
Urgeſch. 222). 

_ IDTh XXI, ©. 396. 


204 Kittel 


folgt dem Rufe. Lot zieht mit ihm. Sie fommen nad) Kanaan 
(12, 1—4 8. 6°). Nachdem er im Lande angelonmen und mohl 
ſchon eine Weile anfällig iſt, erfcheint ihm Jahve als der, welcher 
ihn ausgeführt hat aus Ur Kaſdim, um ihm dies Land zum Be- 
fie zu geben (15, 7). An feinem Lebensende aber fendet er 
feinen Knecht, den Älteſten feines Haufes, aus, damit er in fein 
Land und feine nbın ziehe und Iſaak ein Weib hole. Jahve der 
Sott, der ihn, Abraham, weggenommen habe aus feinem Water: 
haufe und dem Lande feiner nbın, werde ihn behüten und leiten. 
Der Knecht zieht auß und fommt nad Aram Naharajim .zur 
Stadt Nahors, wo er Rebekka findet (24. 3f. 7. 10.). Später 
zieht Jakob, als er zu dem Bruder feiner Mutter, Yaban dem 
Sohn Nachors flieht, nah Charan (27, 43. 28, 10. 29, 4 f.). 
Charan iſt jomit als Wohnort des Laban ben Nachor entweder 
die Stadt Nachors jelbjt oder ein Drt nicht ferne von ihr. 

Die hiemit abgefchlofjene Überficht über die Ausfagen von J 
über unjere Frage zeigen jedenfall3 foviel mit Sicherheit: Sieht 
man einmal von der erft noch zu juchenden Bedeutung des Orts- 
begriffes Ur Kaſdim ab, fo fann mit nbın in 11,28 und 12, 1 
nichtS anderes gemeint fein, ala was dasfelbe Wort in 24, 4. 7. 
10. bejagt. Das heißt: läßt man Ur Kaſdim beifeite, jo jtimmt 
J ganz und gar mit E und dem Deuteronomium darin überein, 
daß die Hebräer aus Aram und zwar Aram Naharajim nad) 
Kanaan gewandert find. Als Ort des Ausgangs mag die Stadt 
Nachors, die, wie wir jahen, in J wohl auch Charan hieß, oder 
eher eine jener analoge „Stadt Abrahams” gedacht fein. Hätten 
wir andererfeit3 feine weiteren Quellen ala die bisherigen, fo 
müßte nad) 11, 28 und dem Zufammenhang der übrigen Quellen 
auch 15, 7 dahin erklärt werden: Ur Kaſdim tt in J als Ort 
im mejopotamifchen Syrien, identifh mit der Stadt Abrahams, 
gedacht. Es bleibt nämlich für J, wenn man nicht geradezu Den 
jpätern Aufenthalt Nachors und Laband mit dem Ausgangsorte 
Abrahams gleichjegen will, wozu feine Nötigung vorliegt, die Mög- 
lichfeit bejtehen, daß Abraham, wenn aud von Aram Naharajim, 
jo doch nicht geradezu von Charan (— der Stadt Nachors?) aus— 
ging. J kann auch wie er eine eigene Stadt Nachors fennt, jo 
eine eigene „Stadt Abrahams” als den früheren Aufenthalt des 


Die Herkunft der Hebräer nad dem A. Teft. 205 


Erzvaters in feiner moledet gefannt haben. Sie wäre dann für 
ihn gleichbedeutend mit Ur Kafdim und mußte für ihn noch inner- 
halb des meſopotamiſchen Aram liegen. 

Wir gehen zur Briefterfchrift P über und werben hier 
denfelben Sadverhalt finden. 

Nie in I fo tft auch hier die Geſchichte Israels eingereiht 
in die allgemeine Gefchichte der Welt feit der großen Flut. Diefe 
vollzieht ji) in den drei VBölfergruppen Sem Ham Sefet. Alle 
drei nehmen ihren Ausgang von den Bergen Ararat, aljo dem 
armeniſchen Hochlande aus. Von hier an verteilen jie ſich über 
die Erde. Freilich bietet die heutige Wölfertafel in Gen. 10, da 
fie aus P und I zufammengearbeitet ift, nur noch Bruchftüde der 
beiderfeitigen Völkertafeln. Bejonders gilt dies für P. Der 
Nedaktor hat ich hier begnügt, die von ihm aus J nicht mitge- 
teilte Familie Jefets näher zu bejchreiben. Die Söhne Hams 
und Sems find nur in Kürze aufgezählt (10, 1—7. 20. 22f. 
30 f.). on bejonderer Bedeutung für uns find unter den 
Söhnen Sem: Aram und Arpachſad. Des erjteren Söhne führt 
die Völfertafel noch ſelbſt auf (10, 23); für des andern Gejchlecht 
hat P bei der Wichtigkeit diefe® Stammes für Israel eine eigene 
Ge.:ealogie eingefügt. In Form einer zehngliedrigen' Stammtafel 
werden die Borfahren Abrahams bis Sem vorgeführt (11, 10—26). 
Abraham ftammt im zehnten Glied von Sem ab, und zwar 
durd Vermittlung von Arpachſad, Schelad, Eber, Peleg, Regu, 
Serug, Nachor, Lerach. Daß mit diefen Namen nicht blos Einzel: 
perjonen, jondern zugleich Stammoäter von Völkern und damit 
diefe ſelbſt gemeint jind, fann feinem Zweifel unterliegen. 

Dann aber weifen die Namen, ſoweit ſich aus ihnen über- 
haupt eine Ortsbeſtimmung entnehmen läßt, am wahrſcheinlichſten 
auf die Gegend der Berge Araratö oder ihre nähere oder fernere 
Umgebung gegen Aram hin. So tjt Serug ficher eine Landſchaft 
nicht weit nördlic) von Charan, Beleg und Terad) weifen wenigftens 
mit Wahrjcheinlichfeit auf Diefelbe Gegend hin; Nachor fann aus 
dem was wir von J wiſſen und nad jeiner Umgebung ebenfalls 
faum anders gedeutet werden; in Arpachſad wird, was zwar be- 


s Über die Zählung vgl. Budde ©. 412f. 


206 Kittel I 


jtritten, aber, foweit ich jehe, weder widerlegt noch durch Beſſeres 
erjeßt it, immer noch am einfadhiten Arrapachitis zu juchen fein. 

Abraham jelbit iſt nach der Fortſetzung der Genealogie in 
11, 27. 31f. der Sohn Terachs. Dejjen weitere Söhne find 
Nachor und Haran. Der lebtere it Lots Vater, Mit Abraham 
und Lot — von Nachor und Haran erfahren wir nichtö weiteres 
— nebit Saraj Abrams Weib bricht Terah von Ur Kafdim auf. 
Sie wollen nad) Kanaan ziehen. gelangen aber nur bis Charan 
und bleiben daſelbſt. Terach jtirbt in Charan. Abraham aber 
jet, vielleicht im Todesjahr Terachs,! den Zug von Charan nad) 
Kanaan fort; Lot zieht mit ihm (12, 4b. 5). Sein Sohn Saat 
nimmt ſich jpäter zum Weibe Rebekka, die Tochter Bethuels des 
Aramäers aus Paddan Aram (25, 20). Ob Bethuel als Ver: 
wandter des Haufes Abrahams, alfo als Nachkomme Nachors 
wie in J gedacht iſt, oder ob, wie Budde glaubt wahricheinlic 
machen zu fünnen, P von einer Verwandtichaft der Nebeffa mit 
Abrahams Haufe nichts weiß,? läßt ich nicht bejtimmen. Wir 
müßten, um dies jagen zu fünnen, zuerit Gewißheit haben, ob P 
Nachor als in Ur bleibend oder nach Charan mitziehend gedacht 
hat. Hierüber aber läßt fich eine jo beftimmte Ausjage, wie Budde 
fie zu geben verjucht hat, nicht machen. 

Dieje Quelle enthält, wie man jieht, einen gewijjen ort: 
Schritt gegenüber den andern. Konnte in J, wenn von der uns 
noch ausjtehenden Ortsbejtimmung von Ur Kaſdim Abitand ge: 
nommen oder fie nach der Analogie der Ausfagen jener Quelle 
allein erklärt wurde, Aram jo gut wie in E und dem Deutero: 
nontum als die Urheimat der Hebräer angefehen werden: jo fcheint 
hier diefe Möglichfeit wegzufallen. Es wird zwar auf feinerlei 


ı Nah dem Samaritanus vgl. Budde, S. 429 ff. 

2 Er ſoll jogar nad) ihm abſichtlich von ihr nichts wijjen wollen, 
jie vielmehr bejeitigt haben, weil e3 ihm jtürend erjchien, wenn Israel 
mit den Aramäern verwandt gewejen wäre, Urgeih. ©. 421 ff. 425. 
Diejer Grund für Budded Satz verliert jedenfall® daran feinen 
Boden, daß ja die mütterliche Verwandtichaft der Hebräer mit 
Aram durd) Rebekka doch bejtehen blieb, außerdem diefer Schriftjteller 
mit der Herleitung Abrahams aus Ur doch wieder die Verwandtſchaft 
jeiner Nachfommen mit dem Volke von Ur bejagte. | 


Die Herkunft der Hebräer nad dem A. Teit. 207 


CS chwierigfeiten jtoßen, Charan mit dem gleichnamigen Ort in J 
und das Land mit Aram und Aram Naharajim der andern 
Duellen, zufammenzujtellen. Aber als Ausgangspunft Abrahams 
und der Seinen fteht jenes Charan in P in feinem Fall da, 
während in J mwenigitens die Möglichkeit hievon nicht zu beitreiten 
war, wenngleich, wie jich zeigte, eine Nötigung, Charan (die Stadt 
Nachors?) mit Abrahams Ausgangsort gleichzufegen nicht vorlag. 
Es ericheint jegt nur noch als Station, auf welcher Abraham mit 
jeinem Vater für einige Zeit Halt macht. Der Ausgangsort des 
Zuges aber iſt deutlich Ur Kaſdim. Eine „Stadt Abrahams“, 
auf welche die Duelle J mit vieler Wahrfcheinlichfeit hinzumeijen 
ſchien, d. 5. ein eigener von Charan bezw. der Stadt Nachors 
geichiedener Ausgangsort des Erzvaters liegt hier thatjächlich vor. 
Unfere Vermutung für J bejtätigt ſich damit, denn Ur Kaſdim iſt 
in P der hinter Charan liegende urſprüngliche Ort Abrahams. 
Ein Fortfchritt liegt alfo vor; aber es fragt ſich, ob er jo groß 
it, daß beide Quellen J und P dadurch in unlöslichen Wider: 
ſpruch treten. War es nemlih nah J noch fehr wohl möglich, 
dieſes Ur, wenn auch nicht mit der Stadt Nachors felbit, jo doch 
mit einer ihr naheliegenden „Stadt Abrahams” im fyrifchen 
Mefopotamien iventifch zu ſetzen, jo daß es aud) hier ein hinter 
Charan zurüdliegender Drt zu fein jcheinen fonnte, fo ift zunächſt, 
ſolange auch hier von der Lage von Ur Kafdim nach dem Zeugnis 
der Ajiyriologen abgejehen wird, fein Grund zu erfennen, wes- 
halb dies jetzt nicht mehr möglich fein jollte, 

Unfer Ergebnis bis hieher it: alle Nachrichten des A. Teft. 
laſſen fih dahin vereinigen, daß Israels Väter in Abraham, ſowie 
in Sfaaf durch Nebeffa und in Jakob von jenjeit des Eufrat 
aus dem aramäiſchen Mejopotamien herfamen. Nach J jcheint es, 
als hätte ein Ort jener Gegend einmal den Namen Ur Kajdim 
geführt oder ald wäre er wenigſtens von dem Berfafjer von J für 
iventifch hiemit gehalten worden; dieſes Ur Kaſdim gilt für den 
eigentlichen Ausgangsort Abrahams, wogegen dann fpäter jeine 
Berwandten in der Stadt Nachors (und in) Charan wohnen. 
Auch P fennt den Ort Ur Kafdim, für diefe Quelle ift jogar 
genauer Abraham erjt, nachdem er aus Ur Kafdim ausgezogen 
war, nad) Charan gefommen. 


208 Kittel 


Die Unterfuhung drängt daher von jelbit zu der ſie erit 
abfchließenden Frage: was ift im Sinne unferer Quellen unter 
jenem Ur Kaſdim zu verftehen und wie reiht fi) demgemäß diejer 
Begriff in die fonftigen Angaben des N. Teft. über die Herkunft 
der Hebräer ein? 

Melde Antwort auf die Frage nad) der Lage von Ur Kafdim 
die Aſſyriologie erteilt, haben wir oben gehört. E3 liegt mir 
ferne, der faſt vollitändigen Einjtimmigfeit der Afiyriologen gegen: 
über einen Zweifel an dem thatfächlihen Vorhandenfein einer 
Stadt und vielleicht eines Neiched am untern Eufrat äußern zu 
wollen. Auch erwedt die Zufammenftellung ‘> ‘8 ganz den Ein: 
drud, als jet das zweite Wort Determinatid für Ur und molle 
dieſes als im Lande der Kaſdim liegend von einem oder möglicher: 
weiſe einigen andern, anderswo gelegenen Orten de Namens Ur 
unterfcheiden. Nun fommt das Wort Kaſdim innerhalb des Alten 
Tejtaments — allerdings erſt ſeit Jeremia — auch fonjt vor umd 
bezeichnet hier die Babylonier. Der Zuſatz jcheint demnach auf israe— 
litiſchem Boden entitanden und erläutert dem der geographifchen 
Berhältniffe weniger fundigen Israeliten die Lage jenes Ur ala 
in Chaldäa d. h. Babylonien befindlic. 

Damit fcheint wenigjtens für dad Alte Tejtament die Frage 
nach der Herkunft der Hebräer endgiltig erledigt. Sie gingen, 
jagt man, vom füdlichen Babylonien aus, gelangten vorläufig bis 
Charan und zogen von hier weiter nah Kanaan. Die Differen; 
der Quellen bejteht darnach nur darin, daß nur die eine Hälfte 
bezw. — je nad der Uuellenfcheivung, die dann in der Regel 
eben jenes Ur Kaſdim zum Maßſtab bat, — nur P oder R auf 
den eriten Ausgangsort zurüdgeht, die andere dagegen ſich begnügt, 
den ſpäteren Aufenthalt zu berüdfichtigen, weiter zurüd aber nicht 
reflektiert. 

Thatſächlich erheben ih damit nur neue Schwierigkeiten. 
Denn weder giebt in J oder den andern Quellen außer P Aram jid 
als bloße Station: die Abrahamiden erfcheinen als dort ein- 
heimisch, nicht als erjt eingewandert, Aram ift ihre nıbın; nod 
erjcheint in J oder P ſelbſt, welches letztere ja Charan geradezu 
als Station bezeichnet, die Einwanderung der Hebräer von Eüden 
her nad) Charan denkbar. 





Die Herfunft der Hebräer nad dem A. Teft. 209 


Was die Schwierigkeiten diefer Auffaffung in P betrifft, jo 
läßt fi), wie wir fahen, die Genealogie der Semiten der Linie 
Arpachſad in Gen. 11, 10ff. nicht anders verftehen, als daß 
fie eine allmähliche Fortbewegung jener Abkömmlinge Sems vom 
armenifchen Norden her gegen Mefopotamien hin bedeutet. Mit 
Serug und Nachor! find jie dann in der Nähe Charans angelangt. 
Von hier an wäre aljo eine weitere Fortbewegung nah Charan 
unter Terach? denkbar und naheliegend. In diefer Gegend er: 
wartet man Ur Kafdim vorzufinden. Dagegen iſt es undenkbar, 
wie Abraham mit feiner Familie von der durdy den Namen Serug 
gekennzeichneten nordaramäiſchen Gegend plößlih an den Unter: 
lauf des Eufrat verfchlagen werden foll und zwar nur um von 
jenem füdlichen Ur aufzubrechen und ungefähr dahin zurüdzufehren, 
von wo er gefommen war. Daß aber P fi) die Ausbreitung 
der nachſintflutlichen Menjchheit von Norden her denkt, woran 
man bei der Vieldeutigfeit der Mehrzahl jener femitichen Namen 
immerhin noch zweifeln fönnte, geht zur Genüge auß dem Um: 
itande hervor, daß er alö den Ort der Landung der Arche und 
damit des Ausgangs der neuen Menſchheit die Berge von Ararat 
nennt. 

Faſt noch größer find die Anftöße, welche ſich für das Ver— 
jtändnis der Auffaffung von J aus jener Deutung von Ur Kafdım 
— Mughair ergeben. Wir haben gejehen, wie zwar diefe Quelle, 
fofern ſie die Sintflut überhaupt berichtete (Ja), einen Ort der 
Landung Noahs nicht nennt. Inſofern iſt ſie Hinfichtlich Des 
Ausgangs der neuen Menjchheit nicht gebunden. Ja J!, diejenige 
Traditionsſchicht in J, welche an Stelle der Flut die Wölferzer: 
ftreuung erzähl: Hatte, weiſt uns fchon für jene Urzeit nach Babel. 
Allein iſt es, mas doch die meiften Neueren annehmen, richtig, 
daß auch der Jahviſt und dann wohl nicht bloß J?, ſondern 
Ihon It, die Tafel der Semiten kannte: fo ift damit auch für 
diefe Quelle die Ableitung der Menfchheit in der Linie Sems 


Doch ift Nachor vielleiht mit Wellhaufen aus der urjprüng- 
lihen Linie der Väter Abraham zu ftreichen. 

?® Auch ohne dat Terad) mit einem Orte in der Gegend von 
Edeſſa (Knobel) gleichgejett wird, obwohl diefe Annahme durchaus zur 
Tendenz der Stammtafel paßt. 


Theol. Studien a. W. VII. Jahrg. 14 


210 Kittel 


von Norden her und ihr allmähliches Herabjteigen gegen Mefopo- 
tamten feitgejtellt. Wie jich Die mit der Erzählung vom QTurm- 
bau zujfammenfügt, ob die Semiten erit dur den Turmbau nad) 
Norden verfchlagen werden oder wie fonjt die Aufeinanderfolge 
gedacht iſt, hat uns nicht weiter zu fümmern: es bewährt id 
hier aufs Neue, was auch die Duellenfcheidung an die Hand aiebt, 
das Gen. 11, 1ff. ein verhältnismäßig ziemlich iſoliert daſtehen— 
des Stüd iſt'. 

Unter diefen Umftänden wird man Anjtand nehmen müſſen, 
furzerhand zu jagen: P und J denken fih die Abrahamiden als 
von Ur:-Mughair her über Charan nad) Kanaan cingewandert. 
Meder P noch I geben überhaupt eine befriedigende Erflärung der 
Art und Weife wie die Väter Abrahams in die Gegend des ſüd— 
babylonischen Ur hätten gelangen fönnen. Sie ſchließen beide die 
Möglichkeit der Gleihung Ur — Mughair aus. 

Demgemäß kann denn aucd feiner der bisher gemachten 
Verfuche, diefe Gleichung Ur Kaſdim — Mughair mit den Aus- 
jagen unferer Quellen in Einklang zu jeßen, vollfommen be- 
friedigen. 

In welcher Weife Dillmann diefem Übeljtande abzuhelfen 
fucht, haben wir oben gejehen. Er giebt zu, daß ein ſüdbabylo— 
nifches Ur weder zu J noch zu P in der That paßt. So ſcheint 
ihm nichts übrig zu bleiben, als — falls man anf die Annahme 
eines nördlichen Ur Kaſdim nicht eingehen wolle — die Worte 
Ur Kaſdim für freien Einſatz des Redaktors zu erklären. An 
welchen Schwierigkeiten diefe Auskunft leidet zeigte ſich. Nur 
in 11, 28 befigt fie die Vorbedingung ihrer Zuläfligfeit; weder 
für 11, 31 noch für 15, 7 dagegen erjcheint fie genügend begründet. 


ı Eine eigene Vermittlung zwiſchen diefem Abſchnitt und den 
übrigen Ausfagen, wie fie Dillmann Geneſis— ©. 200 zur Stüß- 
ung feiner Erklärung des Sachverhalte annimmt, feheint mir de&halb 
unnötig, weil ja ın Gen. 11, 1-9 nit ein Verharren der Menfd- 
heit in Babel, fondern ein regellofer Auszug von dort voraudgefeßt 
it. Finden fi) alfo jpäter Semiten an einem anderen Orte al 
früher, jo bedürfte e8 auf Grund von Gen. 11, 1—9 feiner Ber: 
mittlung diejer Berjchiedenheit; fie erklärte fi von jelbit aus der 
Thatſache der Berftreuung. 








Die Herkunft der Hebräer nad) dem A. Teft. 211 


Wellhaufen dagegen, von der Vorausfegung ausgehend, 
daß ſowohl 11, 28 als 11, 31 und wohl auch 15, 7 aus P 
ſtammen, erflärt Ur Kaſdim für ein bloßes Produkt der Harmoniſtik 
des Prieſterkodex. Nach ihm iſt in JE der urfprünglide Wohn: 
ort der Terachiden das mejopotamishe Charan, in P dagegen 
Ur Kafdim. Das legtere fönne nur Ur der Chaldäer, d. h. das 
füdbabylonifche Ur fein. Nun ſei aber fowohl der Name Charans 
als derjenige Nachors, welche beide befanntlich nad) P nicht als 
aus Ur Kaſdim mitziehend genannt find, untrennbar mit dem 
Iyrifchen Ort Charan, der in J Stadt Nachors, in E Charan! heiße, 
verbunden. Daraus, fowie aus dem Namen Serug folat ihm, 
daß Ur Kaſdim nicht der urfprünglichen Geftalt der Tradition 
angehöre, ſondern Babylonien erjt Fünftlih zum Ausgangspunft 
Abrahams gemacht fei, Jo zwar, daß P Ur Kaſdim an Stelle des 
urfprünglichen Ausgangsortes Charan gejekt, um jedoch mit JE 
zu vermitteln Charan als Station belafien habe. 

Abgejehen davon, daß, wie fich zeigte, Ur Kaſdim ſich nicht 
auf P bejchränfen läßt, find damit dem Verfaſſer diefer Schrift 
Dinge zugemutet, die bei Einem, der auf Harmoniſtik ausgeht, ſich 
nicht verjtehen laffen. Wie kann ein Harmonijt, der auf Aus: 
gleihung von Widerſprüchen bedacht tft, einen jo handgreiflichen 
Widerſpruch jtehen laſſen wie P hier thäte? Man denke fich die 
Linie: Ararat— Serug— UÜr-Mughair—Charan. Ein Harmonift 
hätte fie unmöglid dulden fünnen. Fand er ſie vor oder ergab 
fie fi) aus feinen Kombinationen, jo mußte er fie notwendig be: 
feitigen. Er müßte jonjt fein Gejchäft jchlechter verjtanden haben, 
als daß er jenen Namen verdienen könnte. Hätte in der That, 
wie Wellhaufen wohl die Sache ſich denkt, der Verfaſſer der 
Priefterfchrift befonderes Interefje daran gehabt, Israel als von 
Babylon ausgegangen darzuitellen, und hätte er nun, diefen Zweck 
zu erreichen, zu dem Mittel fünftlicher Eintragung des Namens 
Ur Kaſdim in den vorher vorhandenen Traditionsſtoff und freier 
Ummodelung des letteren gegriffen, jo mußte e8 ihm aud ein 
Kleines fein, fein Vorhaben wenigſtens etwas weniger roh und 
ungenügend auszuführen. Er durfte dann nur den Namen Ararat 


1 Daß Charan thatfählich auch zu J gehört, ſahen wir oben. 
14* 


212 Kittel 


der ja in J nicht fteht und ebendeshalb nad) Andern von P ſelbſt 
frei erfunden fein fol, weglafjen, jo war wenigitens Ein Anftoß 
weniger da. Wie vollends ein und derjelbe Berfajfer Ararat und 
Ur Kaſdim frei eingeſetzt haben ſoll, iſt geradezu undenkbar. 

Wieder anders hat endlich Bud de ſich die Sache zurechtgelegt. 
Er erfennt an, daß Ur Kaſdim, das auch er die Verfaffer im Süden 
ſuchen läßt, ſowohl in P als in J ftand. Er fchreibt nicht blos 
15, 7, fondern auch 11, 28 J zu, jo zwar, daß in 11, 28 Die 
Worte amw> 82 Zuſatz des jahviftifchen Redaktors aus J2 
find. Verſtehe ich Buddes Ausführungen richtig, Jo iſt es gemäß 
feiner oben erwähnten Scheidung von J' und J? feine Meinung, 
Jt, welche jahviſtiſche Traditionsihicht ja die Sintflut noch nicht 
fennt, habe fich als die Heimat Abrahams und der Seinen, un: 
abhängig von ihrem Ausgang nad) der Sintflut, Aram Naharajim 
und die Stadt Nachors gedacht. In welder Weife Abraham von 
Sem und Noah abitammte, hätte nad) ihm die notwendig aud) 
ihon in J! jtehende jiebengliedrige Stammtafel Abrahams ange: 
gegeben, deren Reſte jih nah Wellhaufen in der Wölfertafel und 
11, 29 (28) vorfinden! Zu dieſem J! würde demnach nicht 
blos. das von Budde für die Urgeſchichte (Gen. 1—11) dieſer 
Schrift Zugemwiejene, jondern überhaupt von Gen. 12 an der 
ganze Beitand der Quelle J gehören. Die Sintflut ift von 72 
eingefügt. Ob diefer Verfaffer nad) Budde aud auf die Völker: 
tafel von J, von der jedenfalld weſentliche Beitandteile ſchon in 
Jt gejtanden haben müſſen, einen merklichen Einfluß geübt hat, 
it mir aus der Lektüre jeiner Schrift nicht volllommen Klar ge 
worden. 

Da nun Ur Kafdim bei der Annahme feiner ſüdbabyloniſchen 
Lage jelbitredend zu dem in J' vorausgejeßten nıSı2 der Tera- 
hiden nicht Stimmt und doc von Budde als in J jtehend befunden 
wird, jo glaubt derjelbe allen Schwierigfeiten damit entgehen zu 
fönnen, daß er die Worte arw> Tina in 11, 28 J? zuweiſt. 
Um erflärlich zu machen, wie diefe jpätere jahviſtiſche Traditions- 


ı Wie ſich die Erzählung vom Turmbau hier einfiigt und in 
welchem Verhältnis zur Völferzerftreuung die Ausbreitung der Semiten, 
die ja nad) der Stammtafel fih in Ruhe und ohne Störung zu 
vollziehen ſcheint, jtehe, darf man freilich auch Hier nicht fragen. 





Die Herkunft der Hebräer nad) dem U. Teft. 213 


ftufe die Heimat der Semiten im Süden ſuchen Fonnte, greift 
Budde zu einer Hypothefe, die ihm das Schweigen des jahpiftifchen 
Sintflutberichte® über den Landungsort der Arche an die Hand 
giebt. Er vermutet, I? habe fich ähnlich der babylonifchen Über: 
lieferung vom Berge Nizir als Stätte der Landung der Arche und 
de3 Ausgangs der neuen Menjchheit einen Berg im Süden des 
Zweiſtrömelandes gedacht. Budde jucht diefen füdlichen Land- 
ungsberg des J? in fühlicher Verlängerung einer Linie Qardu— 
Nizir, nad) der Grenze von Elam hin etwa in der Kette ‚des 
Puſchti-Kuh. Damit glaubt er eine Gegend gewonnen zu haben, 
von der aus die Wanderung nah Ur Kaſdim und ihre fpätere 
Fortfegung nicht mehr abenteuerlich erfcheinen könnei. Ein har— 
monijtifches Ssntereffe findet aud) Budde wie Wellhaufen in ver 
Verbindung von Ur mit Charan, nur liege es nicht auf der Seite 
von P, fondern auf derjenigen von J?; von leßterem hat P Ur 
Kafdim einfach übernommen? In der Zeit des J? war die Her: 
funft Abrahams von Ur Kaſdim Tradition geworden; er mußte 
diefe Neuerung mit der alten in dem Beitande von J! vorliegen: 
den Tradition, welche die Stadt Nachors nannte, zu verbinden 
trachten; dies thut er indem er den jüdlichen Landungsberg an: 
nimmt und im Anſchluß daran in 11, 28 zur Erläuterung von 
nsn die Worte Ur Kafdim einfett. 

Sch zmweifle, ob man hierin die endgültige Löſung der Streit- 
frage wird finden fünnen. Eine Reihe von Fragen bleiben da- 
mit unbeantwortet. Die erjte wäre: wie denn 15, 7 zu deuten 
ſei? Nah Budde foll I? nur bis Gen. 12 nachweisbar jein. 
In 15, 7 aber begegnet uns im Terte von J Ur Kaſdim. Sit 
dies Jt oder 2? Ferner: wie fommt es, daß in J von einem 
doppelten Ausgangspunkt gar nichts zu fpüren it? Wellhaufen 
tonnte ji zur Stübung feiner Meinung auf einen folchen be- 
rufen. Denn in P wird thatfächlid zweimal angefett. In J ift 
dies nicht der Fall und es fehlt damit alles, was etwa auf 
Harmoniftif gedeutet werden fönnte In 11, 28 ſowohl als in 
15, 7 erjcheint Ur Kafdim einfahb als Heimat Abrahams. Es 


ı Budde, Urgeſch. ©. 438. 
2 a. a. D. ©. 442. 439. 


214 Kittel 


fonnte aber einem Harmoniſten, der einen wejentlih andern Drt 
ald man vorher hiefür Tannte, als Abrahams Heimat einjeßte, 
nicht entgehen, daß in derfelben Quelle, für deren Einheit er 
arbeitete, jener andere Ort doc in der That ftand und zwar eben- 
falls als Heimat, nbın Abrahams. Wollte ex vermitteln, fo 
mußte er entweder das ſyriſche Mejopotamien ganz bejeitigen oder 
als bloße Station anfehen. Beides ift nicht der Fall. Ur Kaſdim 
und Aram Naharajim find ihm gleichermaßen moledet Abrahams 
und damit entweder identiſch oder jedenfalls in nächſter Beziehung 
zu einander jtehend. 

Dazu kommen weitere, fait noch jchwerere Bedenken. Wäre 
der ſüdliche Landungsberg in J gelichert, jo wäre an und 
für ſich natürlih der Weg von hier nad Ur nicht mehr befremd- 
lich. Allen in J jelbjt weift ſoweit ich fehe abſolut nichts dahin, 
als eben die fragliche Zage von Ur. Alles andere ſpricht dagegen. 
Bor allem die Analogie von P mit Ararat. Aber auch die Über: 
einjtimmung mit der einheimischen Sintflutfage hat feinerlei zwingen: 
den Charakter. Denn neben dem füdlichen Landungsberge fteht 
in der afiyrifch-babylonifchen Flutfage felbit ein nördlicherer! Land— 
ungsberg (im gordyanifchen Gebirge). Die ſüdbabyloniſche Lage 
des Zandungsberges iſt Damit nicht mehr die einziae Möglichkeit 
jelbjt in der Tradition des Zweiltrömelandes und Buddes Satz, 
die Berge von Ararat ruhen überhaupt nit auf Tradition, 
fondern ſeien blos gelehrter Zufaß,? wird demnach faum aufrecht 
zu erhalten fein. 

Sieht man fich weiterhin auf Grund der Vorichläge Buddes 
den Zufammenhang innerhalb J an, jo wird derjelbe verwidelter 
denn je. Die Semitentafel jchreibt Budde J (It und J?) zu. 
Damit ift der Aufenthalt der Vorfahren Abrahams und Terachs 
im Norden gefichert. Denn daß Namen wie Serug ſchon in J? 
total von den entfprechenden Ortönamen losgelöst waren?, tjt ſchwer 
glaubhaft. Landete nun die Arche im Süden, jo gelangten die 
Semiten vom füdlihen Landungsberg zuerit nad) dem nördlichen 


!ı Bei Berofjus, vgl. Budde ©. 435. 
2 0.0.0. ©. 450. 
2 Budde, a. a. D. ©. 443. 





Die Herkunft der Hebräer nad) dem N. Teft. 215 


Mefopotamien, darnad) zurüd in die Gegend des Landungsberges 
nad) Ur-Mughair, um von hier wieder nah Charan zu ziehen. 
Budde nennt den Weg Ararat — Ur-Mughair—Charan eine „wun- 
derlich verwegene Zidzadlinie”!: was ift dann die Linie Nizir— 
Serug.-Nahor— Ur:-Mughatr—Eharan ? 

- Soviel jcheint uns aus allem Bisherigen mit Sicherheit. jich 
zu ergeben: für den Zufammenhang und das Verſtändnis der 
biblifchen Quellen ift die Gleihung Ur Kaſdim — Uru-Mughair 
wertlos. Mag es immerhin einjt nad) dem, was die Ajiyriologen 
uns verlichern, eine Stadt Uru am untern Eufrat gegeben haben, 
die von den hebrätfch redenden Stämmen des Nordens und Weſtens 
als Ur der Kaldäer determiniert ward: unfre biblischen Quellen denten 
jih das von ihnen genannte Ur Kafdim nicht an der Stätte jenes 
Uru. Jede Annahme, die von diefer legteren Borausfegung aus: 
geht, leidet an unheilbaren Schwierigkeiten. 

Mas haben wir an Stelle derjelben zu bieten? Es bleibt 
nad dem Gejagten nur die zweifache Möglichkeit : entweder meinen 
P und J überhaupt nicht jenes Uru-Mughair und es gab nod) 
ein anderes Ur Kafdim; oder aber fie haben jenes jelbe Ur wie 
die Keilichriften im Sinne, aber jo, daß fie es irrtümlid in an- 
derer Lage voritellen, als ihm thatſächlich zufam. 

Den eriteren Fall jest Dillmann wenigſtens als Möglichkeit, 
der er nicht abgeneigt jcheint, ohne daß er aber den Mut hat, an- 
gejichts des Zeugniffes der Affyriologen eine bejtimmte Behaupt- 
ung aufzuftellen. Wenigftens hat er auf die endgiltige Formulter- 
ung feiner Meinung und die durch fie bedingte Duellenjcheidung 
diefer Möglichkeit feinen Einfluß eingeräumt. Auch mir kann es 
nicht in den Sinn fommen, mehr als die Möglichkeit diefer Löſung 
zu behaupten. Sie wird fid) aber auch fchmwerlich beftreiten Lafjen, 
wenngleich die Schwierigkeiten, welche die Annahme zweier Ur 
und zweier Kafdimvölfer, je eines nördlichen und eines ſüdlichen 
bietet, nicht zu unterfchägen find. immerhin ift es Thatjache, 
daß es mwenigjtens in jpäterer Zeit mindeftens zwei Ur gegeben 
Hat. Dies liegt ſchon im Zunamen Kaſdim und wird beitätigt 
durch die Notiz bei Ammianus Marcellinus,? zu Katfer Sultans 


1 Urgefd). ©. 438. 
? ©. die Stelle bei Geſenius, Thefaur. unter „iX. 


216 Kittel 


Beit habe es ein Kaftell Ur, nicht allzu ferne von Nifibis, gegeben. 
Thatjache ift ferner, daß die Alten einen Stamm der Kafdim 
(Shaldäer) auch im Norden, ın der Gegend des mons Masius 
fannten. Schon Sofephus und viele Späteren haben in der zweiter 
Hälfte des Namens Arpahjad den Namen der Kaſdim miederer: 
fannt. Gen. 22, 22 und Hiob 1, 17 fcheinen auf jene nördlidhere 
Gegend zu weifen. Und befonderd nennt jchon Kenophon! einen 
Stamm jenes armenifhen Hochlandes Chaldäer. Nun verlangt 
zwar Schrader,” man dürfe hierin lediglich nichts als eine Ver: 
wechjelung mit den Chalybern erkennen. Denn Strabo fee die 
Chalyber mit jenen Chaldäern identiſch. Allein es erhellt: aud) 
wenn Strabo beide gleichjegt und jomit eine Verwechſelung voll- 
zogen hat, jo ijt damit über den Charakter der Angabe Kenophons 
nicht? ausgeſagt. Umgekehrt kann gejagt werden: Strabo war 
jeder Boden zu einer Verwechſelung beider Völker genommen, 
wenn nicht thatſächlich in jener Gegend einjt Chaldäer gewohnt 
hatten. Denn die Ähnlichkeit der Namen felbit ift, vollends bei 
der Verfchievenheit der griehiihen Endung, zu geringfügig, um 
jene Verwechſelung aus ſich jelbjt zu rechtfertigen? Auch daß in 
jpäterer Zeit dort Arier ſaßen,“ kann, falld es ſich erweiſen 
läßt, für das höhere Altertum nicht beweijen. 

Allein auch jene Vorausſetzung ſelbſt iſt nichts weniger als 
erwieſen. Daß die armeniſchen Chaldäer mit Armeniern und 
Karduchen zuſammen genannt werden, beweiſt noch nicht ihre 
indogermaniſche Abſtammung. Das armeniſche Gebirgsland iſt 
einmal die Gegend, wo das ſemitiſche, nach Syrien und Meſopo— 
tamien ſich erſtreckende, und das indogermaniſche, nach Kleinaſien 
ſich fortſetzende, Sprach- und Völkergebiet zuſammenſtießen. Hier 
wie noch in einem Teil Kleinaſiens waren die Völker gemiſcht. 
Zum mindejten jind über die femitifhe oder indogermaniſche 
Nationalität der Lydier KRappadozier Karier Lykier Pamphylier 





ı ©. die Stellen bei Geſenius, Thefaurus unter =w> und 
Schrader, ZDMG XXVI, ©. 399. 

? Bei Riehm, Handwörterb. ©. 1702, 223. ZOMG XXVI, 
©. 399 ff. 

s Ähnlich auch Dillmann + ©. 184. 

+ Schrader, Hödwörterb. ©. 223 und ZOMG XXVII, ©. 399. 





Tie Herkunft der Hebräer nad) dem U. Teft. 217 


Kiliter die Akten noch nicht geſchloſſen. Das Vorkommen eines 
Volkes jener Grenzgebiete im Zufammenhang mit andern, deren 
Abjtammung wir fennen, kann alfo nicht als Beweis für feinen 
ethnologiſchen Zufammenhang mit jenen verwertet werden. 

Schon Gejenius hat im Thefaurus (unter Ww>) die Vermutung 
geäußert, daß jene armenischen Chaldäer, welche ariechifche Autoren 
noch fennen, die Väter der fpäter im Süden mwohnenden Kajdim 
waren. Er glaubt, daß die leßteren von Norden her vordringend 
(zur Zeit der aſſyriſchen Herrſchaft) Mefopotamien erobert und 
das babylonische Reich gegründet haben. Das füdliche Ur wäre 
dann ein vorchaldätfcher Ort geweſen. Bis heute iſt, abgejehen 
von der Zeitbeitimmung, jene Vermutung nicht endgültig entfräftet. 
Jedermann weiß, daß die Semiten erjt in relativ jüngerer Zeit 
hier eindrangen, aber woher fie famen, bleibt immer nod der 
Vermutung offen.! 

Auf der anderen Seite hat freilih foeben Tiele? die 
Kafdim, fie nach Frd. Delisich mit den Kaſſi der Denkmäler und diefe 
mit den Koſſäern identifizierend, für eine der Sprache nah nicht 
jemitifhe, etymologifh und ethnologiſch mit den afrikanischen 
Kuſchiten? verwandte Urbevölferung Südbabyloniens erklärt. Er 
nennt ſie Altchaldäer und fett fie identifch mit dem, was man 
ſonſt ala Akkader und Sumerier bezeichnete. Allein weift nicht eben 
die Herleitung Abrahams in einer und derfelben Duelle bald 
von Kafdım bald von Aram und die Verwandtichaft Keſeds mit 
Nahor in derfelben Schrift darauf, daß der Verfaſſer von einer 
nichtfemitifchen oder gar kuſchitiſchen Herkunft der Kaſdim feine 
Ahnung hat. Da nun andererfeit3 gerade unſer Verfaffer (I) in 

ı Val. auch Meyer, Geſch. des Altert. S. 219, der ebenfalls 
nördliche Herkunft der Aſſyrer und Babylonier und zwar aus den 
armeniſch kurdiſchen Gebirgen, vertritt, ferner zum Teil Hommel, die 
jemitifhen Bölfer und Spraden (1882) ©. 12 ff. 63. 447, wogegen 
alerdingd andere wie Juſti, Geſch. des or. ®. im Altert. ©. 119 
und wohl auch Tiele bab.-afl. Geih. ©. 102, mehr oder minder 
Schrader folgend, den Süden, teil® Arabien, teild die Gegend des per- 
jifhen Golfs, als Heimat der Eemiten, annehmen. 

? Babyl.-Ajiyr. Geſch. (1886) ©. 62f. 69. 

Vgl. auch Juſti, Geſch. des or. V. ꝛc. ©. 119f. über die 
ſchwarze, negerartige Urbevölferung Babyloniens. 


218 Kittel 


Gen. 10, 8 ff. ſich über die kuſchitiſche Herkunft der ältejten 
Babylonier ſehr gut unterrichtet zeigt, jo fcheint es mir fchon 
aus diefem Grunde unwahrfcheinlid, daß er die Vorfahren Israels 
aus diejer ihm als kuſchitiſch-hamitiſch verpöhnten Gegend ab- 
leiten follte. Cbendeshalb behauptet auh Echrader (ZOMG 
XXVH, 398), die Kaſdim (Kaldi) von den nicht femitifchen Ur: 
bewohnern unterfcheidend, mit Entichievenheit die jemitische Her: 
funft der eriteren. 

ill man jedoch, da der Name Ur in jener nördlichen Gegend 
feinerlet jichere Grundlage der Deutung darbietet, und da befon- 
ders die Wohnſitze jenes jpäteren Chaldäerſtammes' ſich doch nicht 
genau mit der Gegend deden, in welche P und J Ur Kaſdim zu 
verlegen jcheinen, diefe Löjung nicht für genügend befinden, fo 
bietet jich die andere dar, die mir jelbit größere Wahrfcheinlichkeit 
hat. Die geographifchen Vorjtellungen in Ssrael ſind in der 
Zeit des Jahviſten noh in hohem Grade unvollfommen. Der 
nächte Beweis hiefür find die Paradieſesſtröme, überhaupt die 
Topographie des Paradiefes, deren vollflommen befriedigende Er: 
klärung ohne jeden Reſt nie gelingen wird, weil fie um des ge: 
nannten Umftandes willen ein Ding der Unmöglichkeit iſt. Den 
Namen Kefed, der doc wohl im Zufammenhang mit den Kajdim 
ftehen muß, fennt J Gen. 22, 22 (vgl. Hiob 1, 17) in der 
Gegend von Charan. Somit bot e8 für ihn jedenfalls feinerlei 
Schwierigkeit, die Kajdim, erijtierten fie thatfächlich zu feiner Zeit dort 
oder nicht, in der Gegend von Charan zu denken. Hatte er nun irgend: 
woher eine Kunde von jenem Ur, das wohl im Munde der 
hebräifch redenden Stämme Gileads den Beinamen Ur Kajdim 
erhalten hatte, — was lag ihm näher, als es eben wegen des 
Namens Kejed und wegen der ihm anderweitig feititehenden Ge- 
wißheit der Herkunft Abrahams aus Charan und defjen Umgeb— 
ung ebendort zu fuhen ?? Meder P noch R haben Grund, hieran 


! Bol. 3. B. die Karte bei Juſti, Geſch. d. or. V. im Altert., 
vor ©. 119. 

? Einen ganz ähnlihen Fall der Irrung muß au Schrader 
(3DMG XXVI, ©. 419) zur Ctüßung feiner eigenen Theorie 
von der thatfählihen Einwanderung der Hebräer aus Babylonien 
annehmen. Denn um den nad ihm in P vorausgeſetzten Weg: Ar— 


— — — — ü— 


Die Herkunft der Hebräer nach dem A. Teſt. 219 


etwas Weſentliches zu ändern, R aud dann nicht, wenn ihm, 
was immerhin wahrjcheinlich ift, die wahre Lage von Ur Kaſdim 
befannt war, da ja J feinerlei direkte Ausſage hinfichtlich der Orts— 
beftimmung von Ur Kaſdim gemacht hatte. Nur in betreff des 
Verhältnifjes von Ur zu Charan giebt P die genauere Erläuter: 
ung, daß der leßtere Ort auf dem Wege von Ur her lag. Ur 
mag daher für J und P eine Strede nördlid; oder nordweſtlich 
von Charan zu ſuchen geweſen fein. 

Für das Alte Tejtament wäre damit die Frage nad) der 
Herkunft der Hebräer — abgefehen natürlid von einzelnen jpäter 
mit ihnen fich verbindenden Stämmen mie die Keniter — gelöft. 
Der altteftamentlihe Name Ur Kaſdim kann bei aller Anerfenn- 
ung der Ergebnifje der Keilfehriftforfhung nicht als Beweis für 
die ſüdliche Abftammung des Volfes Israel geltend gemacht werden. 
Someit das Alte Teftament uns Kunde bietet, kennt es gemäß 
dem Zujammenhang der Hebräer mit Aram auch feine andere 
Herkunft der Väter Israels als aus dem mefopotamischen Syrien 
und in leßter Linie vielleicht aus den armenifchen Bergen. 


Nachichrift. 

Die vorjtehende Abhandlung war abgeſchloſſen, als ich die 
neue (fünfte) Auflage des Kommentars zur Geneſis von 
Dillmann erhielt. Diefelbe enthält nicht gerade viel von der 
‚ vorhergehenden Abweichendes; doch iſt einiges von dem von mir 
im Terte Ausgeführten dadurch überflüffig gemacht, einiges andere 
bedarf einer kurzen Stellungnahme. 

Die für die vorftehende Abhandlung in Betracht kommenden 
Hauptpunfte jind folgende: 

1. Das über 11, 28 ff. Gefagte wird von Dillmann jeßt dahin 
richtig geftellt, B. 28 b gehöre C, 28° könne zwar, müfje aber 


pahjad— Ur-Mughair—Eharan erklärlich erjheinen zu laſſen, bleibt 
ihm nicht? ala die Annahme einer „Verjchiebung der lofalen und zu- 
gleich etfnograph'ichen bezw. temporalen Verhältniſſe“, vermöge welcher 
die SBraeliten „iiber die nähere Lage dieſes Ur nicht mehr genau 
unterrichtet waren und fo die Hebräer zuerſt aus Arpahjad und erft 
jpäter den Abraham aus Ur der Chaldäer auswandern lafjen“. 


220 Kittel, Die Herkunft der Hebräer nad dem N. Teit. | 


nicht aus A fein. V. 30 wird als wahrſcheinlich zu C gehörig 
angejehen. Was Ur Kafdim betrifft, jo entjteht für D. jest, 
will er feine frühere Anficht feithalten, die Aufgabe, zu zeigen, 
daß dasfelbe aus C nicht jtammen könne. Dies ift unter der 
VBorausfegung der füdbabylonifhen Lage von Ur! leiht (©. 
211). Da Ur Kafdim nun (unter eben jener Borausfegung) 
auch nicht aus A jtammen kann, jo bleibt nur ein freier Einſatz 
des R übrig. Hiefür erflätt D. auch jebt noch den Namen 
Ur Kafdim. Die früher noch feitgehaltene Möglichkeit einer 
nördlichen Lage des Ortes wird jet, foviel ich fehe, ganz preis- 
gegeben, ohne daß D. aber damit geneigt wäre, ohne weiteres 
der ſüdlichen Herkunft der Hebräer das Wort zu reden (S. 212). 
— Ich fann mich aud) jett noch mit diefem Vorfchlag nicht be- 
freunden. 11, 31 leidet wegen der ganzen Struftur der erjten 
Vershälfte die Annahme (S. 21) nicht, es habe urſprünglich 
gar fein Ausgangsort hier geitanden. Die Annahme aber 
(ebenda), daß es fih nur um eine Korreftur gegenüber einem 
anderen urfprüngliden Ausgangspunkt handle, „hat viele 
Bedenken gegen ſich“ (Dillm.? ©. 212). 

2. In Kap. 15,1 ff. giebt D. jegt die von ıhm früher vollzogene 
genauere Scheidung wieder preis und beanügt ſich in der Hauptſache 
mit der Feititellung, dag V. 4 aus C (vorher B), B. 2 aus B,W. 7f. 
aus R ftamme. — Die Aufitellung über B. 2 und 4 deckt fid 
mit dem von mir im Texte Angenommenen. Über V. 7 glaube 
ih auch jetzt noch feithalten zu follen, daß es mir eine petitio 
prineipii |cheint, Ur Kafdim, deſſen Erklärung erit in Frage fteht, 
zum Maßitab der Quellenſcheidung zu machen. Auch mir jteht 
fejt, daß in diefem Kapitel R (oder etwa wie Riehm will: der 
Deuteronomijt) feine Hand jtärfer als ſonſt bemerfbar madhte. 
Aber läßt U. K. in P ſich feinesfalld ausmerzen, jo tft es min: 
deftens nicht a priori redaftioneller Zufag. Sonft aber hat 15,7 
nichts an fich, das nicht quellenhaft wäre. 


t und Ablehnung von Buddes J2. 


Schröder, Überd. Art.v. Jehle, D. Qutheranität d Vrobebibel.“ 221 


Über den Artikel von Jehle „Bie Lutheranität 
der Probebibel“ in Heft 2 diefer Beitfchrift. 


Ermwiderung von Dr. Schröder. 


w——— 


Es iſt als ein verdienſtliches Werk zu bezeichnen, daß Stadt— 
pfarrer Jehle von Ebingen es unternommen hat, die Probebibel 
in Bezug auf die Lutheranität ihrer Ausdrücke und Wendungen 
zu prüfen oder zu ſehen, wie er jagt, ob die von der Reviſions— 
fommiffion vorgenommenen Änderungen der lutherifchen Dolmetſch⸗ 
ung auch in Luthers Sprache gegeben ſind, und es iſt eine ſolche 
Unterſuchung um ſo erwünſchter, je weniger gerade dieſe Seite 
der Reviſion ſonſt der Beurteilung unterzogen worden iſt. Ich 
nehme auch als Mitglied beider Reviſionskommiſſionen und als 
Mitherausgeber keinen Anſtand zu erklären, daß ich Jehles Aus— 
ſtellungen teilweiſe für beachtenswert halte und glaube, ſeine Ab— 
handlung könne uns für die, fo Gott will, in dieſem Spätjahr 
beginnende dritte Zefung des alten Tejtaments nüßlich fein, indem 
fie geeignet it, uns auf überjehene oder wenigitens nicht zur 
Sprade gefommenen Punkte aufmerkfam zu machen, und für an- 
Deres was erwogen worden ijt, eine nochmalige Erwägung nahe 
legt. Wenn ih nun aber im Folgenden über einzelne von Jehle 
beiprochene Stellen auch meinerjeit3 mich äußere, jo gefchieht es 
feinesweg3 in der Abjicht, eine Ausfcheidung zwischen denjenigen 
Aufitellungen Sehles, die ich für meine Perfon annehmen würde, 
und denjenigen, die ich ablehne, vorzunehmen; ich überlaſſe viel- 
mehr vieles von dem in großer Menge Vorgebrachten einfach dem 
Urteile der Leſer, und fann ohnedies der Entſchließung der alt- 
teftamentlihen Revifionsfommiffion und des ſprachlichen Nevidenten, 
Direktors Dr. Frommann, fowie derjenigen weiteren Männer, welche 
von den Kirchenregierungen und den Bibelgefellichaften, befonders 
für das neue Teftament etwa nod berufen werden follten, in 
feinerlei Weife vorgreifen. Vielmehr möchte ich teil gewiſſe nicht 
wirklich begründete Angaben Jehles berichtigen, teil auf Fragen, 
die er aufgeworfen hat und von ‚denen ich annehmen muß, daß 
fie ernitlih gemeint find, antworten, teils überhaupt jolche charak— 
terijtiiche Punkte hervorheben, die mir Anlaß geben, das Verfahren 


222 Schröder 


beider Revifionsfommiffionen oder der Nedaktion und damit aud 

das Verhältnis des revidierten Tertes zum Zuthertert und zum Grund- 

tert möglichjt objektiv darzulegen und den Zuthertert ſelbſt ins rechte 

Licht zu jtellen. Ein Kommentar zur Zutherbibel als jolcher d. h. eine 

Unterfuhung, wie Zuther in den irgend eine Schwierigfeit dar— 

bietenden Stellen zu feiner Überfegung gefommen ift, und wie 

feine Worte wirklich zu verjtehen ind, tft eın Werk, das noch zu 

Ichreiben tit, und könnte volljtändig und alljeitig nur von einem 

ſolchen gefchrieben werden, der Ereget und Germaniſt zugleich wäre; 

was ich oder andere Mitglieder der Reviſionskommiſſion bis jetzt 
hierüber veröffentlicht haben, find nur Beiträge zu eimem folchen 

Werke und jo kann ich auch mit den nachfolgenden Bemerkungen, 

die ſich bloß gelegentlich über einzelne Punkte verbreiten, nur be- 

ſcheidene Anfprüche machen. 

1 Moſ. 15, 12. Die in der Probebibel gegebene Überjegung : 
da die Sonne am Untergehen war entipricht genau 
dem Grundtert, die von Sehle nah 1 Kön. 22, 36. 
2 Chron. 18, 34. vorgefhlagene Faſſung: da die Sonne 
unterging it die Wiedergabe eines anders gearteten 
hebräiſchen Textes; daß aber die Nedensart an etwas 
fein unlutherifch ſei, kann nicht mit Recht behauptet 
werden, vgl. 5 Mof. 1, 41. - 

49,25. Die Änderung wird von J. angegriffen, weil Luther 
raechaem nie mit Mutterleib, fondern mit Mutter 
überfeße. Dagegen zeugt die bekannte Stelle Bj. 22, 11. 

2 Moſ. 25, 4. J. Sagt: „Blau — hat Luther in der Bibel 
nicht, aber ſonſt.“ Sch weile hier auf die Randgloſſe hin, 
die Zuther (ſ. d. Erlanger Ausgabe jeiner Schriften, Band 64 
pag. 21) Schon im Fahre 1524 in dem eriten Teil der 
Überjegung des alten Tejtaments den Worten von geler 
Seiden 26, 4. beigegeben hat: „Diefe Farbe nennen 
viele blaue Farbe oder Himmelfarbe, jo doch beide griechifch 
und latinifch Bibel Hyacinthfarb jagt. Nun ift je Hyacinth 
beide, die Blume und der Stein, gelb oder goldfarb; Darum 
zu beforgen, daß bie abermal die Sprache verfallen und 
ungewiß iſt.“ Daraus iſt deutlich, daß Luther mit Abficht 





gelb gejegt hat; warum aber jpäter die Nandglofje weg— | 


25,5. 


25,18. 


26, 24, 


30, 15. 


Über den Artikel v.Zehle „DieLutheranität d. Probebibel.* 223 


gefallen iſt (weshalb Bindfeil, der nur die Randgloſſen 
der Ausgabe von 1545 anführt, jie nicht hat) weiß ich 
nicht; vielleicht find die von Luther vorgebrachten Gründe 
{hm jelbjt jpäter zweifelhaft geworden, ohne daß er jedoch) 
für Anderung in blau fich entſcheiden fonte. 

„Akazie — hat L. nit“. Es iſt aber überhaupt eine 
Eigentümlichfeit Luthers, daß er die Namen der morgen: 
ländifhen Bäume mit deutichen, dem Volke befannten 
Namen wiedergiebt. Die Kommifjtion wollte dieſe Eigen— 
tümlichfeit Luthers im allgemeinen nicht antajten, alaubte 
aber hier, wo es jih um die heiligen Geräte handelt, eine 
Ausnahme machen zu müljen. 

„getrieben — hat. nicht“. ch veritehe das fo, daß 
Luther nicht vom Golde jagt, es ſei getrieben, denn das 
Wort treiben ift ja lutheriih. Die Hauptfrage aber 
it, was der von den Cherubim auf der Bundeslade han- 
delnde Text bejagt, ob dieſe wirklich, wie Luther überfegt, 
von dichtem d. h. maſſivem Golde geweſen find, und nicht 
vielmehr inwendig hohl. War aber das lettere der Fall, 
jo fragt es ji) in zweiter Linie, wie diefe Art von Arbeit 
angemefjen zu benennen fei, und da wurde es nicht nur 
von einem Goldarbeiter in Halle, fondern auch von einem 
bedeutenden württembergifchen Meijter, den ich jeiner Zeit 
darüber befragte, bejtätigt, daß der Ausdrud getriebene 
Arbeit und getriebenes Gold oder Silber ein 
richtiger jet. 

„Eckbrett — hat L. nicht”. Allein, wenn Drt bei Luther 
oft — Ede oder Ende iſt, und man diefen Ausdrud dem: 
gemäß änderte, 3. B. 1 Mof. 47, 21., 2 Mof. 25, 26., 
fo folgte die Verwandlung von Ortbrett in Edbrett von 
ſelbſt. 

„warum iſt das denn geändert?“ Dieſes Wort iſt nicht 
geändert, ſondern hineingeſetzt; Luther hat: an dem 
halben Sekel, und nachdem die Reviſionskommiſſion 
beſchloſſen hatte, die Lesart Luthers nicht wieder herzu— 
ſtellen, wurde von der Redaktion der Canſteinſche Ausdruck 
als vertauſcht mit denn, weil Luther nad) dem Koms 


224 





Schröder 


parativ niemald als jagt. Diefe Anterung könnte zurüd- 
genommen werden, wenn auf den in vielen Gutachten 
vorgebradten Wunjch eingegangen würde, als nach dem 
Komparativ an der Stelle des von Luther gebrauchten 
weder (vgl. 3. B. 1 Mof. 32, 10.) in die Bibeljprache 
einzuführen. 


3 Mof. 26, 30. „Sonnenfäulen — hat L. nit; es würde 


26, 31. 


Richter 


Bildfäulen genügen“. Nach der Etymologie, ſowie nad) 
der Analogie des phöniziichen Sonnengottes baal chamman 
iſt die Überjegung Sonnenbild oder Sonnenfäule eregetifch 
gefichert, und es wird auch das Intereſſe des einfachen 
Bibelleſers, der etwas von dem Unterjchted zwiſchen Baal 
und Witarte verjteht, mehr anregen, wenn er an diefer 
Stelle und anderen ähnlichen Stellen, (3. B. Jeſ. 17, 8. 
2 Chron. 34, 3. ff.) auf die bejtimmte Art des hier ge 
nannten Götzendienſtes aufmerffam gemadt wird, als 
wenn immer nur im allgemeinen von Götzen und Bildern 
und Bildjäulen geredet wird. 

„Heiligtum -- hat L. nicht in der Mehrzahl“. Da- 
gegen vgl. die Mehrzahl Heiligtüme Hef. 21, 2. (7.) 
und in der Nandglofje zu Amos 7, 9. 

17, 5. „Hausgötzen — hat 2. nidt, warum nicht 
Götze wie 1 Mof. 31, 19., ebenfo Variante?” Dem 
Umjtand, daß Luther gerade das Wort Hausgötze nicht 
hat, möchte ich Fein großes Gewicht zufchreiben, wenn der 
Begriff ſachlich von Wert it; aber allerdings läßt fich die 
Frage nicht abweifen, ob, wenn man einmal Theraphim 
mit Hausgöße überjegt, ein Grund vorliegt, an anderen 
Stellen für dasjelbe Wort Göße zu lafjen oder Götzen— 
bild zu ſetzen (vgl. Jehles Einwand zu 1 Sam. 19, 13). 


1 Sam. 25, 22. „unnötige Anderung. L. hat nicht bis zu, 


jondern bis an val. V. 36%. Daß auch bis zu, von 
der Zeit gebraucht, Iutherifch tft, geht aus 2 Mof. 18, 12. 
Nichter 21, 2. hervor. Was aber die lutherifche Redens— 
art bis liht morgen betrifft, fo fragt es ſich, ob licht 
und morgen zwei nebeneinanderjtehende Adverbia find, 
oder ob morgen, wie in DB. 34 und 36 Subſtantiv iſt 





Über den Artikel v. Zehle „Die Qutheranität d. Brobebibel.” 225 


und deshalb mit großem Anfangsbuchftaben heutzutage ge- 
drudt werden muß. In letzterem Fall iſt Licht Adjektiv 
und muß fleftiert werden, 


2 Sam. 14, 14. „verſchliefen — follte geändert werden. Bei 


20, 15. 


15,13. 
warum nicht bloß Bild?“ Werl der hebrätfche Ausdruck 


Theol. Studien a. W. VII. Sahre. 15 


Bindfeil heißt es übrigens: verfchleifft, das belafjen werden 
fönnte”, Dr. Frommann erklärte, verfchlieft ſei nad) 
jetiger Konjugationsform das richtige, weil der Infinitiv 
nicht verfchleifen heiße, ſondern verſchliefen, was 
mit unjerem ſchlüpfen verwandt ſei. Die Reviſions— 
kommiſſion hatte zwar beſchloſſen, verfchleifet zu er: 
jegen durd) verläuft; da aber Frommann das Luthermort 
beibehalten wollte, jo glaube ich recht gehandelt zu haben, 
indem id) meine Einwilligung dazu gab, daß in den Probe: 
druck das richtig geftellte Lutherwort aufgenommen werde, 
und eine etwaige Änderung desfelben für die dritte Lefung 
vorbehtelt. 

„Bormauer — hat L. nicht, für chel überall Mauer”. 
Die legtere Behauptung tft unrichtig; chel. iſt von Luther 
Sef. 26, 1. mit Wehre, Klagelieder 2, 8. mit Zwinger 
überfegt , und Nahum 3, 8. ſoll wahrfcheinlih Feite 
dem hebrätfchen chel entſprechen. An diefen drei Stellen 
jteht freilich neben chel auch chomah im Text, aber eben 
dasſelbe ift auch in unferer Stelle der Fall, und deshalb 
war es angezeigt, hier für chel jtatt Mauer einen andern 
und zwar möglichit pajjenden Ausdruck zu ſuchen. 

.6, 9. Väfelwerk ift Drudfehler ſtatt Tafelwerk. 


. f. „Gitterwert — hat. nicht; eher: Gegitter, Gatter“. 


Luther jagt aber nicht bloß Gegitter und Gatter, fondern 
auch Gitter, und zwar gewöhnlich; es lag aber im In— 
terejje des Schriftverjtändnifjes, hier eher Gitterwerf 


zu feßen, weil nicht das gemeint iſt, was unſer Bolf 


unter einem Gitter oder Gatter verjteht, ſondern ein gitter: 
artiges Merk, nämlid ein an den Säulenfapitälen felbft 
befindliches ehernes Flechtwerf, durd) das man nicht, wie 
durch ein Gitter, hindurchjehen Tann. 

„Sreuelbild — hat L. nit, aber Greuelgöße; 


226 


2 Kön. 


9, 32. 


16,18, 


Schröder 


nicht auf ein gemwöhnliches Gögenbild, fondern auf ein 
Bild befonders greulicher Art, wahricheinli ein Phallus— 
bild hindeutet, vgl. die Vulgata und Luther Randalojfe: 
„Etliche jagen, e8 fer der Abgott Priapus geweſen“ 

9, 25. „einen Sprud thun — hat 2. nicht“. Der 
Gebrauh des Wortes Spruch in der Zutherbibel für 
einen prophetiichen Ausspruch tft durd Stellen wie 4 Mo]. 
23, 7. Joh. 12, 38. gerechtfertigt; ob aber gerade für 
massa hier Sprucd zu ſetzen fei, wenn in ef. 13, 1. 
und in andern Stellen der prophetifchen Bücher das Mort 
Zajt beibehalten wird, bedarf allerdings einer erneuten 
Erwägung. 

b. „warum nicht bloß: Da wandten ſich — ihm zu?“ 
Die Anderung: Da ſahen — zu ihm heraus iſt 
nicht bloß ſprachlich, ſondern rein fachlicher Art, wodurch 
der Grundtert richtig überjegt und die Berhältniffe Klar 
dargejtellt werden. Luther jelbjt überfegt B. 30: „kuckte zum 
Feniter aus“, und unter den Kämmerern find nicht ſolche 
des Jehu, jondern Kämmerer der Iſabel zu verjtehen, 
welche oben bei ihr im Haufe waren und fie nun auf den 
von der Straße aus ergebenden Huf Jehus zum Fenſter 
hinausftürzten. 

„Bettlammer — hat L. nit; warum nicht Schlaffammer 
laſſen?“ Weil feine Schlaffammer gemeint ift, fondern 
eine Kammer, darin die Betten verwahrt wurden. 

„Die Anderung unnötig, jedenfalls fraglich, ob lutherifch?“ 
E3 wurde Grenzen gejet ſtatt Grenze, weil aus dem 
Grundtert und der Vulgata hervorgeht, Daß Grenze bei 
Zuther ſelbſt hier Plural ift; das Wort aus wurde hin: 
zugefügt, weil nicht die Grenzen von Thirza gemeint find, 
fondern gejagt werden fol, daß das Schlagen der Grenzen 
oder des Gebiet? der Stadt Thiphfah von Thirza aus 
gejchehen fei. 

„Sabbathshalle — hat 2. nit; warum nicht bloß 
Halle?’ Das Wort Sabbath kann man nit auß dem 
Terte werfen. Sollte aber die Frage den Sinn haben, 
warum nicht bloß einfah Dede des Sabbath in 


Über den Artikel v. Jehle, Die Lutheranität d. Probebibel.“ 227 


bedvedte Halle des Sabbaths verwandelt worden 
jei, jo it zu erwidern, daß Sabbathshalle für eine bei 
jabbathlichen Gottesdieniten zum Aufenthalt dienende 
Halle immerhin ein befjerer Ausdrud it als Halle des 
Sabbath3. 


1 Chron, 1, 12. „Die Änderung von ausfommen ift unnötig, - 


5,16. 


oder leichtere Anderung: herfommen, vgl. 1 Mof. 4,20. f.“ 
An Leichtigkeit wird die Anderung von ausfommen in 
ausgehen kaum der Anderung in herfommen nachſtehen; 
legterem Borjchlag jcheint aber, wie die Berufung auf 
1 Mof. 4, 20. zeigt, eine unrichtige Auffajfung des Sinnes 
zu Grunde zu liegen, indem 1 Chron. 1, 12 nicht von 
Abſtammung die Nede ift, fondern die Philiſter als eine 
von Kasluhim ausgegangene Kolonie bezeichnet werden, 
wie Luther jelbit zu der Barallelitelle 1 Mof. 10, 14. in 
jeinem Kommentar zur Genefis fagt: Non de generatione 
sed de migratione intelligendum est verbum egrediendi. 
„Sluren — hat 2. nicht. Vorſtädte iſt ja auch fonft 
beibehalten“. Ob Vorſtädte auch ſonſt geändert werden 
foll, etwa in Bezirke, fam bei den Xevitenjtäbten zur 
Sprade. Denn es hat für uns, die wir unter Vorftadt 
die außerhalb der Stadtmauer gelegenen Häufer einer 
Stadt verjtehen, allerdings etwas Auffallendes, daß Luther 
den die Stadt rings umgebenden Raum (vgl. die von 
Luther 4 Mof. 35, 5. auf dem Rand gegebene Zeichnung) 
Vorſtadt heißt. Doch läßt ſich diefer Sprachgebraud) 
wenigſtens erklären, und er hängt bei Luther vielleicht auch 
damit zufammen, daß für ihn der Unterfchied zwiſchen 
Stadt und Statt oder Stätte nicht jo feititeht, wie für 
und. So jchreibt Luther 2 Chron. 33, 19. Stedte für 
mekomoth und mit Beziehung darauf hat Frommann aud) 
für Bj. 102, 7. die Schreibung Stätten beantragt, was 
von mir gern angenommen wurde. Doc hat es auf jeden 
Fall mit den Vorſtädten Sarons in unferer Stelle eine 
andere Bewandtnis als mit den Vorftädten der Leviten. 
Denn von einer Stadt Saron iſt aus dem Altertum nichts 
befannt, fondern nur von der am mittelländifchen Meer 
15* 


228 


Schröder 


gelegenen Ebene Saron. Oder beweist neben unferer 
Stelle auch die Überfegung Luthers von Ap.Geſch. 9, 35., 
das Luther geglaubt hat, es habe eine Stadt Saron oder 
Sarona gegeben? Aus deutlihen Ausfprüdhen Luthers 
zu andern Stellen zeht hervor, daß Luther Saron für 
einen Berg gehalten hat. So jagt er in jeinen Scholia 
in Esafem zu 65, 10.: Saron et Carmelus sunt lauda- 
tissimi montes Judaeae propter pascua, Achor et Rephaim 
sunt valles laudatissimae ; und damit jtimmt die Randgloſſe 
zu Jeſ. 33, 9.: „Libanon, Saron, Baſan und Garmel 
it hie alles ein Ding, nämlich Jerufalem, darum daß es 
jih aus ſolchen Bergen und dern bauet und ernähret“. 
Hätte Luther an die Ebene Saron gedacht, jo hätte er 
ef. 33, 9. auch nicht überſetzen können: Saron iſt wie 
ein Gefilde, d. h. dem Zuſammenhang nad, Saron joll 
zu einem Gefilde werden. Selbſt bei der Erklärung von 
Hohelied 2, 1. hat Luther nit an die Ebene Saron, 
jondern an einen höher gelegenen Ort gedadt. Denn er 
jagt zu den Morten: „ich bin eine Blume zu Saron und 
eine Blume im Thal” oder nad) der Vulgata: „ego flos 
campi et lilium convallium“ in feiner lateiniſchen Erflär- 
ung des hohen Lieds: lilium convallium vocat florem in 
inferiore planitie, fortasse ut distinguat inter magistratum 
superiorem et inferiorem. Darnad) wären aljo unter 
Nofen im Thal niedere und unter Blumen zu Saron 
höhere obrigfeitliche Perſonen zu verftehen. Übrigens kann 
man nicht wiſſen, ob 1 Chron. 5, 16. wirklich die Ebene 
Saron gemeint ijt; ja wenn Saron hier — Sirion oder 
Hermon wäre (vol. 5 Mel. 3, 9.), jo hätte Luther ſogar 
mit feiner Meinung, Saron fei ein Berg geweſen, nicht 
jo ganz unrecht gehabt. 


2 Chron. 20, 16. Luther überjegt hier: am Schilf im Bach (wie 


wenn eö suph hieße ftatt soph), die Brobebibel hat: wo 
das Thal endet, Jehle wünſcht dafür: am Ende des Thales 
oder: an des Thales Ende. Ich bemerfe nur: Ende des 
Thales ift zwar die wörtliche Überjegung, aber es ift das 
nicht gemeint, was wir im eigentlichen Sinne das Ende 


7 


* — 
— — — — 


Über den Artikel v. Jehle, Die Lutheranität d. Probebibel.“ 229 


eines Thales heißen, ſondern vielmehr der Anfang des 
Thals, nämlich der Ort, wo das Thal oben, wenn man 
den Berg hinaufkommt, aufhört. 


Neh. 13, 10. Die Bezeichnung von waren als einer Änderung 


des Luthertertes beruht auf einem Verjehen. 


Either 5, 8. „Begehren ift unlutheriih”. Es möge den 


Sprachgelehrten überlafjen bleiben, zu entfcheiven, ob das 
lutheriihe Begehr Masculinum oder Neutrum fei, und 
ob das Ganfteinfhe Begehren für unlutherifch angefehen 
werden fann, da Luther 7, 3. hat: um meines begerns 
willen. 


Hiob 3, 9. „Wimpern — hat 2. in der Bibel nidt. Man 


9,6. 


fönnte Augbrauen (Augenlider) ſetzen.“ Es iſt aber für 
das Verſtändnis des Bildes von Bedeutung, daß die 
Strahlen der Morgenröte gerade mit den Augenwimpern 
verglichen werben. 

„wegen tt eine unmögliche Nepriftination‘. Es hätte 
wohl an diefer Stelle durchaus feinen Anjtand, das 
Ganfteinifhe beweget wieder zu ſetzen, wie ja die Probe— 
bibel ohnedies in feiner Stelle, wo Luther ſelbſt bewegen 
hat (und dazu gehört auch die von Jehle angeführte Stelle 
ef. 13, 12.), dasfelbe änderte. Bon Hef. 38, 20. jagt 
Sehle, hier liege die Sache anders wegen des Gleichklangs. 
Doch würde ich, wenn wegen überhaupt geitrichen werden 
joll, fih regt und bewegt dem Canſteinſchen ſich 
reget und webet vorziehen. Was Eph. 4, 14. betrifft, 
jo kann ich der Meinung Sehles, Luther habe hier wirk- 
(ih) wägen gemeint, nicht zuftimmen, jondern halte die 
herfömmliche Schreibart mit ä für ein durch den Umijtand, 
daß Luther, welcher überhaupt fein ä hat, allerdings aud) 
das Wägen auf der Wage mit e fchreibt, veranlaßtes Miß— 
verftändnis; denn der Grundtert führt auf die Vorſtell— 
ung des Wägens nicht (vgl. die Weizfäderfche Überfegung: 
hin und her gefchaufelt und bewegt), Doc würde durd) 
den Ausdrud bewegen und wiegen laffen die Schön: 
heit diefes befannten Spruchs beeinträchtigt, und man 
fann auch das Bild des MWägend immerhin für die Er- 


230 


19, 25. 


Schröder 


Härung brauchen, wenn man nur das tertium comparationis 
nicht im Zwed des Wägens jucht, als handelte es ſich 
um die Erforfhung des Gewichts d. h. des innern Gehalts 


eines Chrijten, fondern vielmehr in der unjteten Beweg— 


ung, in welcher fich die Wagſchalen befinden, ehe fie zur 
Ruhe fommen. 


.„Zu fein folder wird bei L. eine nähere Erklärung 


gehören, wie Amos 9, 5. Beſſer: Denn fo jteht es nicht 
um mich”. Daß der Ausdrud ein folder jih nit 
bloß auf das Folgende beziehen kann, wie Amos 9, 5., 
fondern aud auf das Vorangehende, beweist Hoheslied 5, 16. 
f. Bei dieſer wichtigen Stelle macht 3. mit Recht eine 
Ausnahme von der grundjagmäßigen Beziehung des Be- 
ariffs der Zutheranität auf den Tprachlichen Ausdrud, und 
geht mehr auf den Anhalt ein. Deswegen will ich mid 
auch genauer darüber erklären. Man war nicht darüber 
im Zweifel, daß diefe Stelle zu denjenigen gehöre, welche 
in erjter Linie einer Berichtigung bedürfen, weil V. 25 b 
und 26 a.von Luther nad) der Vulgata völlig anders 
überfegt find, als fie im hebräifchen Texte lauten. Da- 
gegen bedachte man die in 26b liegende Schwierigkeit 
wohl, daß nämlich die Überfegung ohne mein Fleiſch 
oder, wie auch vorgefhlagen war, meines Fleiſches 
ledig eine beftrittene ijt, und daß bei der Faſſung von 
meinem Fleifhe aus auch die Iutherifche, im Sinn 
damit übereinftimmende, in meinem $leifch wohl bleiben 
könnte. Allen man hielt die Beziehung dieſes Ausdruds 
auf einen neuen Xeib, den Hiob nad feinem Tode be: 
fommen werde, nur dann für möglich, wenn Hiob vorher 
von einem folchen geſprochen hätte, und glaubte, daß bei 
der Überfegung von meinem Fleifhe aus der Aus: 
drud auf Hiobs jetigen Leib bezogen werden müßte, mo: 
nad) derjelbe die Hoffnung aussprechen würde, daß, mie 
eö denn wirklich geichehen ift, Gott noch zu feinen Leb— 
zeiten als fein Ehrenretter auftreten werde. Dieſe Erflär: 
ung von Mibbesari aber und die Beziehung der ganzen 
Stelle auf das Diesfeitige Leben fann nicht behauptet 


Über den Artikel v. Sehle „DieLutheranität d.Probebibel.” 231 


werden, ohne daß man dem Wort: mein Erlöfer lebt 
‚und dem Begriff des Staubes V. 25 eine gewilje Ge— 
walt anthut; es fcheint doch ſicher zu fein, daß 
die Stelle auf das wirkliche Eintreten des Todes und das 
nad) demjelben beginnende Leben jich bezieht. Auf jeden 
Fall iſt viererlei gewiß: 1. E3 iſt falfch, wenn man be 
hauptet, die privative Faſſung von min lafje ſich überhaupt 
nicht beweiſen; iſt jie aber ſonſt gejichert (vgl. 3. B. Hiob 
11, 15.), jo it ſie auch hier dur den Zufammenhang 
nahegelegt.. 2. Die dee von der Unjterblichfeit paßt 
zwar nicht als ausgefprochene Lehre, aber doch als plötz— 
Ich obwohl nicht unvorbereitet aufleuchtende Hoffnung 
jehr gut in den Gedankengang des Buchs Hiob. 3. Die 
Mehrzahl der neueren Exegeten bezieht unfere Stelle auf 
das jenfeitige Yeben. 4. Diefe Erklärung liegt, wenn fie 
auch in der Überfegung der Präpofition min von Luther 
abweicht, Doch im ganzen der lutherifchen Auffaſſung der 
Stelle viel näher, als die entgegengefeßte von einem Schauen 
Gottes im Diesfeitö und darum hat fie das nächite An- 
vecht in die Zutherbibel aufgenommen zu werden. Wenn 
aber Jehle jagt: „Es it unerhört, in einer Bibel, die auf 
Luthers Namen Anfpruc macht, das Gegenteil von Luthers 
Auslegung (das unbiblifche leiblofe Schauen Gottes) in 
den Tert aufnehmen und Luthers Überfegung anmerfungs- 
weije darunter fegen“, jo it darauf zu erwidern, daß die 
Hoffnung Hiobs, er werde, wenn er von feinem Leibe be . 
freit werde, Gott ſchauen dürfen, ganz übereinjtimmt mit 
dem Wunſch des Apoftels Paulus, außer dem Leibe zu 
wallen und daheim zu fein bei dem Herrn, und fo wenig 
als diefer der Hoffnung auf die Bekleidung der Seele mit 
einem neuen Leibe entgegenfteht. Wennn Sehle dagegen 
fortfährt: „Entweder muß Luthers Tert ganz meggelajjen 
werden,, oder muß er an feinem Ort jtehen bleiben, und 
gehört die verbefjerte Überjegung in die Anmerkung; ähn- 
(ih Dan. 9, 25. f. Sad). 11, 7.*, fo betrachte auch ich die 
Stage, ob da, wo überhaupt Doppel-Überfegungen als 
rätlich erjcheinen, die lutheriſche Überfegung im Terte bei— 


232 


26,7. 


29,4. 


33, 23. 


Schröder 


zubehalten, und die Berichtigung in einer Anmerkung zu 
geben fei, noch als eine offene. 

„das Leere — hat 2. nit, e8 tft Die Leere zu feßen“. 
Da aber das Adjektiv leer lutherifch ift, jo it das Leere 
ſ. v. a. das, was leer ijt, auf jeden Fall Iutherifcher als 
das abjtrafte, die Leere. Was fodann die Angemefjenheit 
des Ausdruds an den Grundtert, abgejfehen vom lutherifchen 
Sprachgebrauch betrifft, jo verweiſe ich auf zwei Erflärer 
des Buchs Hiob, die feine Mitglieder der Kommiffion 
find. Dillmann überjegt in feinem Kommentar: der den 
Norden hindehnt über Leeres, und jpricht in feiner Erklärung 
vom Wunder des freien Schweben? über dem Leeren, und 
Zöckler überfegt: der den Norbhimmel ausfpannt über Leerem. 
„Reife — hat 8. nicht. Ob dafür Höhe, Mittag, 
Sommer?” Doc drüdt in der Keife meines Xebens 
wenigitens den Sinn ridtig aus, und das Adjektiv reif 
it lutheriſch. Erwogen wurde auch, choreph mit Herbit 
zu überfegen, aber davon abgejtanden, weil Herbit zwar 
lutheriſch it (vgl. Sir. 24, 37.), aber die Bibel eigentlich 
nur zwei Jahreszeiten fennt, kajiz und choreph, Sommer 
und Winter. Wenn aber Jehle vorfhlägt Sommer, 
jo wäre das die Überfegung von kajiz, weldes gerade 
das Gegenteil von choreph iſt, Höhe oder Mittag dagegen 
würden ein anderes Bild ın den Tert hereinbringen. 
„eintreten für jemand —. hat L. nicht“. Zur Beurteilung 
des Ausdrudes für ihn als Mittler eintritt, an: 
jtatt des lutherifchen für ihn redet (beziehungsmeife 
der früheren Überfegung Luthers: würde ihn vertreten) 
möge in die Wagſchale gelegt werden, daß man den bib- 
Ijch:theologifch wichtigen, dem hebrätfchen meliz entſprechen— 
den Ausdrud Mittler in diefer Stelle anwenden, und 
doc auch nicht Jagen wollte: ein Engel, ein Mittler oder: 
ein Mittler-Engel, jondern: ein Engel ala Mittler. Unter 
diefer Vorausſetzung betrachtete man im Bergleich mit 
andern ebenfalls erwogenen oder auch vorgeſchlagenen Aus: 
drüden den bei der Abftimmung angenommmen für ihn 
eintritt als den beiten. 


Über den Artikel v. Zehle „Die Lutheranität d. Probebibel.“ 233 


38,2. 42,3. „Ratſchluß — hat L. nicht. Die meiften Über- 


39,13. 


Pſ. 9 


122,7. 


jegungen behalten Zuthers Nat’. Wir hielten die Faſſ— 
ung: Wer ift der, der den Nat verdunfelt? nicht für 
deutlich genug. Luther, der 42, 3. überſetzt: der feinen 
Nat meint zu verbergen, hätte vielleicht, wenn er Gottes 
Rat in der Stelle gefunden hätte, geſchrieben: der meinen 
Hat verdunfelt. Wir wollten uns diefe Freiheit nicht er: 
lauben, und hielten die Einführung des Wortes Ratſchluß 
in die Zutherbibel für einen Gewinn, wie denn aud in 
Folge diefer Anderung in mehreren über die Probebibel 
eingegangenen Gutachten zu ef. 25, 1. beantragt wurde: 
deine Ratſchlüſſe ftatt: deine Bornehmen. 
„fromm — braudt %. in der Bibel nur von Gott und 
Menſchen“. Man wollte, da chasida, Storch, wörtlid) 
der fromme heißt, und diefe Etymologie des Wortes 
für den Zufammenhang, für die Vergleihung des Storchs 
mit dem gegen feine Jungen unbarmherzigen Strauß von 
Bedeutung ift, den Begriff Fromm nicht verloren gehen 
laſſen, und denfelben auch nicht etwa in einer Anmerkung, 
fondern in der Überſetzung felbit ausdrüden. Daß aber 
der Gebrauch diefes Ausdruds von einem Tier nicht in 
die Lutherbibel paffe, kann man nicht jagen; denn dieſer 
Gebrauch iſt durd den Vorgang der hebräiſchen Sprache 
jelbjt gerade in diefem Falle geheiligt, unfer Volk fennt 
ihn befanntlich wohl, und der Lutherfprache iſt er um fo 
angemejjener, weil für Luther dieſes Wort einen weiteren 
Begriff hat als den der Religiofität. 
17. „Zwiſchenſpiel — hat L. nicht; warum nicht 
Saitenfpiel?” Bon Saitenfpiel jteht im Terte nichts, 
jondern nur von Spiel. Xebteres aber hielt man nicht 
für verſtändlich; dagegen wiſſen die Befucher der kirchlichen 
Gottesdienite jehr wohl, was unter einem Zmifchenfpiel 
zu veritehen ijt. 

„innerhalb — hat X. nit; warum nit in deinen 
Mauern?“ Meine Antwort fann ich nicht im Namen 
der Kommiffion geben, jondern nur im Namen der Redak— 
tion, da dieſe Stelle erit nad) dem Schluß der Sitzungen 


234 


141,2. 


Schröder 


zwiichen Fronmann und mir zur Sprache gekommen iſt. 
Luther hat nämlid inwendig deinen Mauern, 
während die Ganjteinfche Ausgabe inwendig in Deinen 
Mauern gefett hat, was feinen Haren und richtigen Ge: 
danken giebt. Vielmehr aber muß inwendig bei Luther 
eine PBräpofition fein f. v. a. unfer jeßiges innerhalb 
und da dieſes Mort für das lutheriſche inwendig 
eh. 5, 18. in unferen Bibelausgaben bereits eingeführt 
it, fo nahmen wir feinen Anſtand, es hier aleichfalld zu 
jegen; vgl. auch Yuthers lateinischen Kommentar zu den 
Stufenpfalmen, wo Yuther die auf LXX ſich gründende 
Vulgata-ilberfegung in virtute tua verbeſſert durch intra 
muros tuos. Warum aber überjegte Luther nicht: in deinen 
Mauern, wie ihm ja jo nahe gelegen wäre, bejonders da 
Hieronymus in feiner aus dem Hebräiſchen gefertigten 
Überfegung, die Luther neben der Überfegung der Vulgata 
(vgl. das Vorwort zu meiner Ausgabe der Palmen) fehr 
wohl kannte, in muris tuis hat? Aber Luther wollte hier 
wohl das hebrätiche chel (vgl. hierüber das zu 2 Sam. 
20, 15. Geſagte) genauer bezeichnen, er wählte den 
Ausdrud inwendig innerhalb, damit man nicht an 
die Hauptmauer allein denke, jondern an die Befeſtig— 
ungswerfe überhaupt oder geradezu an den eigentlichen 
Zwinger d. h. an den Platz zwiſchen beiden Mauern. 
In feinem Kommentar zu den Stufenpjalmen findet ſich 
hierüber nichts, da Luther bei diefem Vers nur überhaupt 
von dem Zuſtande der Kirche und des Staates, der con- 
cordia eeclesiae jowohl, alö der pax politica jpridt. 

„Warum fo unlutherifch geändert?” Das Canſteinſche 
meiner Hände Aufheben ift offenbar nicht aut, weil 
die Hände eigentlich nicht aufheben, jondern aufgehoben 
werden; erträglicher wäre allerdings die Unnitellung: das 
Aufheben meiner Hände. Luther hat feit 1531 meine 
Sende aufheben, was aber hart it, da man als 
Subjeft um des WVarallelismus mit Gebet willen im 
zweiten VBersglied nicht einen Infinitiv, fondern ein Sub: 
itantiv erwartet; meyn aufheben der Hende, wie 


u 





Über den Artikel v. Jehle „Die Lutheranität d. Brobebibel.” 235 


die eriten Ausgaben haben, hat dagegen den Fehler, daß 
das‘ Pronomen mein nad) dem Grundtert zu Hände 
gehört und nicht zu aufheben, was auch Luther ſſelbſt 
gefühlt haben muß, wenn er diefe Überfegung änderte. 
Frommann nun ſchlug vor, mein Händeaufheben zu 
jchreiben, und dieſe Fafjung wurde von der Reviſions— 
fommiljion, da noch Gelegenheit vorhanden war, fie der: 
jelben vorzulegen, als eine glüdliche betrachtet und ange: 
nommen. KHände-Ausbreiten 1 Kön. 8, 54., auf das Jehle 
jelbit vermweist, iſt ganz diefelbe Bildung und wird durch 
die vorangegangene Präpofition von als ein zufammenge- 
jegtes Wort charakterijiert, ob die beiden Beltandteile des 
Wortes getrennt oder verbunden geichrieben werden. 

- Spr. 26, 10. „Stümper — hat &. nidt. Zür. Bibel: Thoren 
und Zanditreicher (Schon altes Wort). Bar.: eynen narren.“ 
Sch habe diefe Stelle in meinem Vorbericht $ 12 Nr. 2 
den wohl am verjchtedenjten überjegten Spruch der ganzen 
Bibel genannt, konnte es aber des Raumes wegen und 
weil der Bericht nicht bloß für theologiſch und philologiſch 
gebildete Leer, jondern für jedermann bejtimmt tft, nicht 
weiter ausführen. Auch hier will ih nur hinweiſen auf 
die vom maforetifchen Terte abweichenden und unter ſich 
wieder verfchiedenen Terte, welche der Überjegung der LXX 
und der Vulgata zu Grunde liegen, welche aber darin 
übereinjtimmen, daß ftatt Oberim von den Überfegern ge: 
lefen wurde aebratham, und zugleich führe ich die Über- 
ſetzung an, welde Zödler giebt nah Ewald: Ein Schütze, 
der alles verwundet, und wer einen Narren dingt, und 
wer Wanderer (Borübergehende) dingt (find gleich), und 
im Gegenſatz dagegen die Überjegung von Delitzſch (wo— 
bei das erjte Vesocher punftiert ift: Usechar): Vieles 
bringt aus jich hervor alles, aber des Thoren Lohn und 
Lohnherr fahren dahin. Bei folcher Unficherheit der 
Lesart, der Überfegung und der Erklärung fonnte die 
Revifionstommifjion nichts anderes thun als die Stelle 
belafjen, befonders aud in Betracht, dat der Sprud, wie 
Luther ihm überfegt, durchaus nichts anftößiges enthält, 


236 


30,8. 


Schröder 


fondern, um den Ausdrud von Delitzſch in feinem Kom: 
mentar zu gebrauden, ein des Spruchbuchs mwürdiger it. 
Dr. Frommann dagegen hat bei der Nedaktion Hümpler 
in Stümper verwandelt, und einen Grund diefer Ander- 
ung entgegenzutreten, hatte ich meinerſeits durchaus nicht ; 
denn ich glaube, daß Stümper für und ganz dasfelbe tit, 
was Luther unter Hümpler verſteht. Wollte man dagegen 
die von Jehle vorgefchlagene Variante einen Narren 
vorziehen, jo könnte man aud den guten Meifter nicht 
mehr brauchen, und müßte jtatt der ganzen jpätern Über- 
jegung Luthers, melde die Stelle fpeziell auf das Hand: 
werk bezieht, die frühere Überſetzung Luthers aufnehmen: 
„Ein Erfahrener richtet allerlei wohl aus, aber wer einen 
Narren dingt,. der dingt Unachtfame“. Der Ausdrud 
Thor ftatt Narr dagegen wäre deswegen nicht zu em: 
pfehlen, weil 2. in den vorgegangenen und in den folgenden 
Verſen kesil mit Narr überjegt, Landſtreicher aber iſt 
nicht die Überfegung von kesil fondern von oberim. 

„beiheiden — warum nicht ändern?” Sch füge hier 
zu dem, was ich in meinem Worberiht 8 12 Nr. 3 be: 
merft habe, noch folgendes bei. Die Reviſionskommiſſion 
hat den Antrag, beſchieden zu fchreiben, aus dem 
Grunde abgelehnt, weil der Sprud) ein ſehr befannter tft 


und man nicht jagen fann, daß der Sinn des Grundtertes 


durch die Bedeutung, welche das Wort befheiden in 
unferer heutigen Sprache hat, beeinträchtigt werde. Dr. 
Frommann wollte aus ſprachlichen Gründen beſchieden 
ſetzen; ich hielt e& aber für meine Pflicht, ihm von dem 
Standpuntt, welden die Reviftionsfommiffion eingenommen 
hat, wenigjtens Kenntnis zu geben, und Frommann hat 
dann aus Nüdficht auf den Kommiſſionsbeſchluß die An— 
derung zurüdgezogen. Ob die Reviſionskommiſſion ihre 
Bedenken aufgegeben hätte, wenn der von Seiten des 
ſprachlichen Nevidenten fommende Antrag ihr noch hätte 
vorgelegt werden fünnen, weiß ich nicht, auf jeden Fall 
aber iſt anzunehmen, daß bei der dritten Leſung eine er: 
neute jowohl das jachlihe als das ſprachliche Moment 
berüdjichtigende Erwägung ftattfinden werde. 


30,15. 


30, 15. 


31,6. 


Über den Artikel v. Sehle „Die Qutheranität d. Probebibel.“ 237 


„Blutegel — hat 2. nicht; daher Blut in Klammern zu 
ſetzen“. Luther bat die Eigel, was wegen Unverftänd- 
lichkeit nicht wieder hergeitellt werden fonnte die Ganitein- 
iche Ausgabe hat der Igel, mwodurd der Gedanke an 
ein ganz anderes Tier nahe gelegt wird. Die Nevijions- 
fommiffion jeßte Blutegel, da fein Zweifel fein fann 
(vgl. LXX und Vulgata), daß Luther diefes Tier gemeint 
hat; fie feßte nicht dafür Blutfaugerin, weil die 
Beziehung der aluka auf einen weiblichen Dämon und 
damit die Loslöfung dieſes Begriffes von dem des Blut: 
egels nicht ficher tft, fie ließ aber den Artikel weg, weil 
der Ausdrud auf jeden Fall etwas ſymboliſches Hat, in- 
dem, wie Delitzſch in feinem Kommentar fih ausdrüdt, 
der Blutegel hier freilich nicht in naturgefchichtlichem Sinne, 
fondern als die leibhaftige Gier gemeint und zu einer 
Perſon, einem Einzelwejen gemadt ijt. Einen fachlichen 
Grund hätte fomit die Einflammerung des Wortes Blut 
durchaus nicht und Fünnte nur dann zugelajfen werden, 
wenn man von dem Grundſatz ausginge alles. was bei Luther 
nit jteht, in Klammern zu jeßen, wobei aber gedrudt 
werden müßte: Die (Blut) Eigel. 

„Windhund — hat L. nit“. Die Anderung geſchah 
im Intereſſe der Deutlichkeit, und ich bemerke noch, daß 
ich von einem hochachtbaren Mitgliede der württembergiſchen 
Geiſtlichkeit gebeten wurde, auf Anderung des Wortes 
Wind hinzuwirken, weil dieſe Stelle zu unanſtändigen 
Reden mißbraucht werde. Dieſe Änderung iſt auch ganz 
ähnlich der Verwandlung des lutheriſchen Maul in 
Mauleſel, obſchon der letztere Ausdruck allerdings in 
einer Stelle, nämlich Heſ. 27, 14. bei Luther vorkommt. 
„am Umkommen ſein — hat L. nicht; entweder nicht 
ändern oder: den Elenden, Kraftloſen, Verſchmachtenden“. 
Geändert wurde die Stelle, weil das lutheriſche um— 
kommen ſollen zu ſpeziell auf zum Tod verurteilte 
Miſſethäter hinweist; doch wollte man das Wort um— 
fommen beibehalten, teils weil dasjelbe an fich fehr 
pafjend iſt (vgl. auch Hiob 31, 19.), teil weil es bejon- 


288 


Schröder 


ders im Andenken an den Marc. 15, 23. erzählten Vor: 
gang nicht in unferem Sinne lag, die Beziehung der Stelle 
auf Mifjethäter ganz auszuſchließen. 


Prediger 1, 17. 2, 12. „Tollheit — hat 2. nicht, er giebt 


10, 13. siehluth mit Narrheit“. Luther hat aber 2, 19. 
toll für sachal, und Tollheit findet fih 2, 12. in den 
Ausgaben von 1524 und 25 jtatt der jpäteren Überjegung 
Klugheit. Bindjeil behauptet zwar, daß Klugheit die 
Überſetzung von holeloth fei, allein das ift an fich ſelbſt 
wenig wahrjcheinlich, vielmehr iſt sichluth der verfchtedenen 
Schreibung diefes Wortes gemäß (val. 1, 17.) das in der 
Bedeutung zwiſchen Thorheit und Klugheit jchwanfende 
Wort. So hat Luther 2, 3. in der Ausgabe von 1524 
überjegt: zu begreifen die Klugheit; 1534: daß ich Flug 
würde; 1541: daß ich erariffe, was Thorheit ift, und in 
jeinem Kommentar zum ecclesiastes fagt er zu Diejer 
Stelle: ut comprehenderem prudentiam vel stultitiam, 
nam Hebräa dicetio ambigua est. Wenn er aljo 2, 12. 
die frühere Überfegung Weisheit und Tollheit 
und Thorheit fpäter geändert hat in Weisheit und 
Klugheit und Thorheit, fo it nicht anzunehmen, 
daß er, wie Bindfeil meint, den Begriff der Klugheit in 
holeloth gefunden hat, obgleich Diejes das zweite nomen 
ift, fondern Luther überfegte sichluth mit Klugheit, fette 
aber die Klugheit als zweites nomen, um Weisheit und 
Klugheit beifammen zu haben. Übrigens fei noch bemerkt, 
daß die Nevifionstommiffton, da einmal 1, 17. und >, 12. 
eine Anderung ftattfinden mußte, für holeloth den ftär- 
feren Ausdrud Tollheit und für sichluth Thorheit zu 
jegen angemeſſen erachtete. 


. „an fi ſelbſt — ob lutheriſch? Starke: ſich ſelbſt 


gelajjen, vgl. Spr. 29, 15.* Allerdings hat der Ausdrud 
der Probebibel etwas wiſſenſchaftliches, aber er iſt eine 
getreue Überfegung und ift für das Volf immerhin ver: 
jtändlicher als wie Zödler überjeßt: fie für fih. Aus 
Spr. 29, 15. aber die Überjegung eines andern Tertes 
einzutragen, wäre nicht rätlich. 


4,9. 


7,26. 


10,5. 


10,19, 


Hohes 


Über den Artikel v. Jehle,Die Lutheranität d. Rrobebibel.” 239 


Es iſt danfenswert, daß Jehle auf die durch Setung 
von 3 denn entitandene Häufung aufmerffam mad. 
„Des — iſt unlutheriſch; dafür: welcher, vgl. Mark. 7,25.” 
Der Grund zur Anderung von welches, weil dasjelbe 
hier Genitiv ift und der Gleichlaut mit dem Nominativ 
nad) dem Zufammenhang etwas jtörendes hat, wird von 
Sehle durd jeinen Gegenvorihlag anerkannt. Die Ein: 
wendung aber begreife ich nicht, da gegen den relativischen 
Gebraud von der fich gewiß nichts eimmenden läßt und 
des unſerem heutigen deſſen gerade lutherifch ift, 
vgl. Pred. 10, 16. Daß aber das Relativ der auch 
nad) vorangegangenem ſolcher stehen kann, bemeist 
Hebr. 7, 26. 

„gleich als ein Verſehen?“ Die Faſſung der Probebibel 
gleich einem Berjehen iſt bejjer als die von Jehle vor: 
gefchlagene, weil im Terte eine Unregelmäßigfeit der gött— 
lichen Weltordnung gefchildert wird, unter dem Gewaltigen 
aber nicht Gott jelbjt zu verjtehen tft, ſondern ein menſch— 
licher Herrſcher und aljo gejagt werden joll, daß die gött- 
lihe Fügung eine Ähnlichkeit habe mit einem von einem 
irdiſchen Gemwalthaber ausgegangenen d. h. durch einen 
Regierungsakt begangenen Fehler, nicht aber, daß ſie ſelbſt 
ein Verſehen ſei. 

„um zu lachen — warum nicht zum Lachen oder 
bloß: zu lachen, wie die Var. hat“. Der lutheriſche Aus— 
druck zum Lachen wurde geändert, weil derſelbe nach 
unſerem Sprachgebrauch leicht mißverſtanden werden könnte, 
als ſeien die Mahlzeiten der Leichtſinnigen belachenswert 
um zu lachen drückt aber noch deutlicher als das bloße 
zu lachen den Zweck aus, den dieſe Mahlzeiten haben, 
im Gegenſatz zu V. 17, wo geſagt wird, daß man zur 
Stärke und nicht zur Luſt eſſen ſoll. 

Lied 1, 11. „Pünktlein, Punkt — hat L. nicht“. Ich 
verſtehe das ſo, daß Luther das Wort Punkt nicht im 
Sinn einer Zierrat gebraucht; denn daß er dasſelbe im 
grammatikaliſchen Sinn vielfach gebraucht haben muß, iſt 
klar; vgl, auch Erl. Ausgabe Bd. 37 pag. 264. In 


240 


1,14. 


5,4. 


5,6. 


Schröder 


unferer Stelle hat die Reviſionskommiſſion Pöcklein be 
laffen, obgleich Pünktlein vorgefhlagen wurde. Da 
nun aber Dr. Frommann 1 Kön. 7, 31. den Luther: 
Ausdrud Bodeln in Budeln verwandelte, jo trat da- 
durch ein novum ein, Büdlein jchien nit anzugehen 
und Budeln wäre nicht anftändig für eine Zierrat (das 
von Sehle empfohlene Höcker hätte freilih vor Budeln 
nichts voraus). Frommann jelbit Shlug Punkte oder 
Tupfen vor und fo wurde denn Pünktlein geſetzt in 
der Annahme, daß diejer Vorſchlag bei der Abjtimmung 
durchgegangen wäre, wenn man gewußt hätte, daß Pöck— 
lein nicht bleiben fönne. 

4,13. „Cyper blume — hat, nicht; leichtere Anderung: 
Kophertraube*. Cyper it aus 4, 13. genommen. Vor: 
gefchlagen war zu 1, 14. ſowohl Cypertraube ala Cyper— 
blume, wobei der eritere Vorſchlag den Wortlaut des 
Grundtertes für fich hatte, der andere aber davon aus— 
ging, daß hier nicht eine Traube im gewöhnlichen Sinne 
des Mortes gemeint ijt, fondern vielmehr eine trauben: 
förmige Blume. Man entfchied ſich nun, um beide Rück— 
fichten mit einander zu vereinigen, I, 14. für die Faſſung 
eine Traube von Cyperblumen, mährend 4, 13., 
wo Traube weder im Grundtert noch bei Luther fteht, 
einfah Cyperblume gejegt wurde. 

„Riegelloch — hat 2%. nidt. Dafür: Fenſter oder 
Öffnung?” Man wollte dem Lefer eine beftimmte Vor- 
jtellung davon geben, was unter dem Loch gemeint jei, 
und darin liegt ſchon, daß man den ebenfalls unbeitimmten 
Ausdrud Öffnung nicht brauchen konnte. Feniter 
aber wurde nicht gefegt, weil man von der Annahme 
ausging, daß eben nicht das Fenjter gemeint fei, fondern 
ein an der Thüre ſelbſt befindliches Zoch, durch‘ welches man 
den Riegel mit der Hand auch von außen herein zurüdichieben 
fonnte. Deshalb wurde in eriter Lefung Loch anderThür 
und in zweiter da& bejtimmtere Riegelloch gefett. 
außer fih ſein — hat L. nicht“. Es lag auch ein 
anderer Luther näher jtehender Antrag vor: meine 


— ——— — — — — — — 


Über den Artikel v. Jehle, Die Lutheranität d. Probebibel.“ 241 


Seele war mir herausgegangen bei ſeinem 
Wort, indem man vor allem andeuten wollte, daß die 
Ekſtaſe der Sulamith nicht jetzt erſt angefangen habe, 
ſondern ſchon die ganze Scene von V. 2 an als eine, 
die ſich nicht wirklich zugetragen hat, zu denken fei; es 
wurde aber die deutlichere Faſſung vorgezogen: meine 
Seelewaraußer ih, als erredete, indem man den 
Ausdrud außer ſich fein in der Lutherbibel gebrauchen 
zu dürfen glaubte mit Rüdjicht auf die Wendungen Ap.- 
Geſch. 12, 11.: Da Petrus’ zu fich felber fam, und 2 Kor. 
12, 2.: it er außer dem Leibe geweſen. Was die von 
Sehle vorgeihlagenen Fafjungen betrifft, jo iſt die erite 
„mein Herz war bewegt“ zu ſchwach, die zweite „ich fam, 
war von Sinnen” zu ſtark. Der 1 Moſ. 35, 19. aber 
gebrauchte Ausdrud „die Seele geht aus”, wäre nur dann 
anzuwenden, wenn man Sulamith wollte jagen lafjen, ſie 
jet fait geitorben. 

Jeſ. 2,22. „für was tjt er zu achten — ob lutheriſch? De Wette, 
Stier, Zür. B.: geachtet. Warum nit Var.: wofür 
wird er gehalten?” Luther bezieht die Stelle nad) der 
Vulgata auf Ghrijtus; vgl. Scholia in Esaiam: Vos 
igitur timete Christum — — — habet spiritum in 
naribus i, e. est potens in ira. Wie richtige Sinn ift 
aber vielmehr: Höret auf, euer Vertrauen auf den Menjchen 
zu jeßen, ob er gleich durd) Gotte® Gnade eine Zeit lang 
lebt; denn der Zebensodem kann ihm auf einmal wieder 
entzogen werden. Was aber die von Jehle aufgemorfenen 
Fragen betrifft, jo fünnte allerdings auch geſetzt werden: 
wofür, doch bereitet das dem Grundtert entjprechende 
Neutrum was, ähnlih wie Bj. 8, 5., immerhin befjer 
auf die Antwort vor: für etwas geringes; das „achten“ 
des Lutherichen Tertes mit dem früheren halten zu 
vertaufchen, hatte man feine Beranlajjung; zu achten 
endlich iſt gewiß bejier als geadhtet, denn es handelt ſich 
nicht darum, welcher Wert dem Menjchen zugefchrieben wird, 
jondern welchen er in der That hat. (Schluß folgt.) 


Theol. Studien a. W. VII. Jahrg. 16 


242 


Berichtigungen zu Heft 2. 
I. 
Die Lutheranität der Probebibel.! 
Zu 1 Mof. 19, 5. Fodern hat 2. 2 Mof. 8, 8., wenn hier 
nicht ein Drudfehler vorliegt, wie fi ſolche nad dem 
Zeugnis von Möndeberg und Frommann oft durd alle 
Lutherausgaben hindurchziehen. 


Zu 3 Mof, 26, 31. X. hat Heiligtümer Hefel. 21, 2. (7.) 

Zu 2 Sam. 23, 5. 2% hat Begehren Eſth. 7, 3. (fehlt bei 
Dieb). 

Zu 180.8, 23. 8% hat auh unten 3. B. 1 Mof. 6, 16. 
Hunden wird Tel. 7, 11. nicht (nad) dem Schwäb.) 
- hie unten jein. 

Ausgefallen ift (vgl. Jeſ. 51, 6.): „Hiob 6, 21, val. ef. 41, 11. f.: 
jie follen werden als nichts.“ 


3u Eph. 3, 19. Scott hat unredt. 


Zehle. 
II. 


Die beiden kleinen Artikel über „Salomos Alter bei der 


Thronbeſteigung“ und „zur Einteilung des Vaterunſers“ hätten 
als „Kleinigkeiten 16. 17.“ bezeichnet ſein ſollen. 


Ebendaſelbſt 
Seite 161 Zeile 7 lies „eben“ jtatt „aber“, 
" 7 Ber |: 9 


ANr.“ 
" legte 3. " I. ©. 10 ff. 


!t Weitere Nachträge konnten Raummangel® wegen feine Auf- 
nahme finden. 


D. Red. 


Buchdruderei von Greiner & Ungeheuer in Ludwigsburg. 


Über den Artikel von Jehle „Bie Futheranität 
der Probebibel“ in Heft 2 diefer Beitfhrift. 
Erwiderung von Dr. Schröder. 
(Schluß.) 
5, 1. Geliebter — warum nicht Freund? — Unter dem 
Vetter, wie Luther nach der Vulgata dod überſetzt, hat 
er Chriſtus verſtanden; vgl. ſeine Erklärung in den 1532 
zum erſten und 1534 zum zweitenmal herausgegebenen 
Scolien: Vocat Christum patruelem; fuit enim et 
Esaias de tribu Juda. inwiefern die Parabel des Sefaja 
eine Parabel Chrifti ſei, darüber erflärt ſich Luther nicht, 
er kann aber wohl diefe Bezeichnung in Beziehung gejett 
haben zu der großen Ähnlichkeit, welche fich zwischen der 
Parabel des Jeſaja und der Barabel Chriſti Marc. 12,1 ff. 
findet, und die erftere deswegen für eine Parabel Chrifti 
gehalten haben, weil jie dem Sefaja vom h. Geiſt als 
eine Borausnahme der Parabel Ehrifti eingegeben worden 
fei. Doc hat Luther, wenigftens früher, unter dem jedid 
ebenfall3 Chriftus verjtanden; dies erhellt ſowohl daraus, 
daß er diefes Wort in der 1532 erfchienenen Überfegung 
der Propheten auch mit Vetter wiedergiebt, als aus feiner 
Erklärung in jeinen Scholien zu 1®: Sententia igitur est, 
Christus habet vineam suam in tuto loco, Ob aber die 
ſchon im Jahr 1534 in die erſte Ausgabe der ganzen 
Bibel hereingefommene Überfegung von jedid mit Lieber 
bloß einen philologifchen Grund hat oder eine Beziehung 
des jedid auf Gott andeutet, läßt fi) nicht ermitteln. 
Die Revifionstommiffion nun ging von der Annahme aus, 
daß dod von Sehovah gebraucht nicht Vetter heißen könne, 
16* 


244 


16, 4. 


19,13. 


19,15. 


Schröder 


und dann, daß der jedid und dod diejelbe Perſon bezeichne, 
nämlich Jehovah. So wurde denn bejchlojfen: meinem 
Lieben fingen, ein Lied meines Geliebten, wo: 
bei auf dreierlei zu merken iſt: auf die VBorrüdung des 
Wortes fingen, auf die Setung eines Kommas nach diejem 
Wort und auf die Erfegung des Wortes Better durch 
Geliebter. Damit fomme ich zu der Antwort auf die 
Frage Sehle's, warum nicht Freund gejeßt worden ei. 
Es wurde Geliebter vorgezogen, nicht bloß um den 
Gleichklang zwifchen jedid und dod um feiner Schönheit 
willen beizubehalten, fondern aud um es dadurch näher 
zu legen. daß unter beiden Benennungen diefelbe Perſon 
zu verjtehen ſei, was bei der Mahl des abweichenden Aus: 
druds Freund nicht jo nahe liegen würde, auch abgejehen 
davon, dat Freund in der Lutherſprache und in der heu— 
tigen Volksſprache jogar, wie Vetter auch Verwandter be: 
deuten fann. 

„it das für zu tilgen, val. Weish. 10, 17.” Luther 
faßt 16, 3. und 4. als ironische Anrede an Moab auf, 
vol. die Randgloſſe zu dem Worte Schirm: „Sa hinter 
ih, Er fpottet ihr aljo.“ Die Kommiſſion, welche dieſe 
Verſe ald eine Anrede der um Schuß flehenden Moabiter 
an Juda gefaßt hat, wollte in die ihr zunächſt vorgefchla: 
gene Überfegung: jei du Moab ein Schirm der 
Deutlichlett wegen noch die Präpofition für hineinfegen, 
damit Moab nicht als Bofativ gefaßt wird. 

„Deiner — es muß jeiner heißen.“ Allerdings; deiner 
beruht auf einem Drud: oder Schreibfehler. 


„ausrihten — warum nicht auch im Deutfchen das 


MWortipiel”? In der Überjegung Luthers ift es untlar. 
ob Hauptoder Shwanz, Wit oder Stumpf (Luther 
jelbjt jchreibt ftrumpff, wie aud 1 Sam, 5, 4.) Subjekt 
tft oder, wie in LXX und Vulgata, Objeft, ob aljo die 
Volfshäupter, welche mwenigjtens in erjter Linie gemeint 
jind, die Zeugenden jind oder die Gezeugten. Die Scho— 
lien enthalten nur die furze Erklärung: Et magistratus 


| 


subditis et doctores diseipulis carebunt, was heißen muß: | 


— — ——— —— — ——— — — 


Über den Artikel v. Jehle, Die Lutheranität d. Probebibel.“ 245 


die obrigkeitlichen Perſonen werden in Agypten feine Unter- 
thanen und die Lehrer feine Schüler mehr haben. Luther 
verfteht alfo unter dem Haupt die Obrigkeit und unter dem 
Schwanz die Lehrer, und er wurde dazu ohne Zweifel 
durch die Barallele 9, 15. veranlakt, wo er zur Erklärung, 
warum die Propheten der Schwanz genannt werden, ganz 
gut jagt: Debebant esse caput et ducere populum, verum 
cauda sunt et ipsi ducuntur, Über die Bedeutung von 
Alt und Stumpf fpricht fi Luther nicht aus. Für die 
Erklärung der deutfchen Überfeßung bietet fih nun eine 
doppelte Möglichkeit: 1. In Agypten ift nichts mehr vor- 
handen, wodurch obrigfeitliche Perſonen und Lehrer, über: 
haupt geiftig bedeutende Verfönlichkeiten gezeugt, d. h. als 
ſolche hervorgebracht werden; vgl. Sad. 9, 17.: „Korn, 
das Nünglinge, und Moft, der Jungfrauen zeuget“ , was 
Luther durch die Gloſſe erklärt: „das Evangelium tft ein 
ſolch Wort, das nicht Kinder zeuget ..., jondern ... junge 
Gefellen und Jungfrauen zur Che tüchtig, d. i. zu lehren 
und andere geijtliche Kinder zu zeugen!” ine ähnliche 
Erklärung iſt mir für unjere Stelle wegen des Ausdrucks 
zeugen die wahrjcheinlichjte, und es würde ſich damit Die 
Angabe des Inhalts in den Scholien leicht vereinigen 
laſſen, weil rechte obrigfeitliche Perfonen und Lehrer eben 
die Kraft haben müfjen, felbjt rechte Unterthanen und 
tüchtige Schüler zu zeugen. 2. Wenn man Haupt und 
Schwanz, At und Stumpf bei Luther zum Subjekt mad)t, 
wobei man dann genötigt ift, zeugen — zu Stande bringen 
zu nehmen, müßte ald Sinn Luthers gefaßt werden: in 
Ägypten wird von niemand mehr etwas tüchtiges geleiftet 
werden, und die Änderungen der Kommiffion, fein Wert 
ftatt nichts, ausrichten ftatt zeugen, wären dann 
nur eine Verdeutlichung; darin läge aber jedenfalls auch 
ihre Rechtfertigung. Jehle verlangt nun den Ausdrud: 
ein Werk wirken, wie Joh. 6, 28. 9, 4.; allein in letz— 
teren Stellen jteht der Ausdrud coyalsodaı, nicht rrorsın, 
das dem hebräiſchen asah mehr entipricht, und wie wenig 
Luther ſonſt die Überfegung: ein Werf wirken für 


'246 


29, 6. 


Schröder 


nötig oder zwedmäßig erachtet hat, darüber vgl. 2 Moſ. 
18, 20. 1 Kön. 13, 11. Dazu kommt, daß außrid: 
ten in unferer Stelle viel deutlicher iſt als wirken, 
indem das lebtere nicht jo Elar darauf hinweiſen würde, 
dat Haupt und Schwanz Subjekt jei, und daß unter Diefen 
Ausdrüden Perſonen veritanden werden müfjen. Anders 
würde es fich dagegen verhalten, wenn man die Konjtruf: 
tion von Delisih zu Grunde legen würde, welcher in 
feinem Kommentar überjeßt: „Und nicht gejchieht von 
Haypten ein Werk, welches wirkte, von Haupt und Schweif, 
Palmzweig und Binje.” Hier ift Haupt u. ſ. w. in Ap- 
pofition zu Agypten geitellt, das Relativ ift als Subjeft 
gefaßt, und wirkte ift fo viel ala wirffam wäre, 

„Heimfuhung geihehen — hat 2. nicht, vollends 
ohne Artikel. Dafür: wird ein Tag, eine Zeit der Heim: 
fuchung fommen; oder mit der Zür. B. näher bei Luther: 
fie werden vom HErrn Zebaoth heimgefuht werden.” 
Nah Luther wird V. 6 die über Serufalem ergehende 
itrafende Heimſuchung Gottes gejchildert, und erit V. 7, 
mit welchem Luther einen neuen Abjat beginnt, bezieht er 
auf das Gericht über die Feinde, (vgl. die Randglofje zu 
V. 7: Propheta minatur Romanis, und in den Scholien 
redet Luther zugleih vom Kampf des römischen Heiden: 
tums gegen die chriftliche Kirche). Nach der Faffung der 
Reviſionskommiſſion fol ſchon B. 6 das über die Feinde 
ergehende Gericht gefchildert werden, weshalb im Anfang 
von DB. 7 das Aber und Und verwandelt worden tft. 
Das hebräijche thippaked ift nad) dem Vorgang der LXX 
imperfonell gefaßt, und bei diefer Konjtruftion wird wohl, 
da die ganz wörtliche Überfegung: es wird heimgeſucht 
werden wegen Undeutlichfeit nicht angeht, die Fallung: 
es wird Heimſuchung geſchehen zunächſt fich dar: 
bieten und feinem begründeten QTadel unterliegen. Sit 
man aber mit der imperfonellen Faſſung nicht einverjtan- 
den, jo fünnte man allerdings, wenn man die Menge der 
Feinde zum Subjeft macht, mit der Zürch. B. auch den 
auf die Feinde felbit jich beziehenden Plural fegen. Doc 


Über den Artikel v. Zehle „Die Lutheranität d. Probebibel.“ 247 


muß derjenige, der Ddiefe Konftruftion etwa für fih an 
nimmt, auch damit rechnen, daß eine entgegenjtehende Er- 
Härung Serufalem zum Subjeft mat, wie Luther, nur 
mit dem wefentlichen Unterfchiede, daß fie in diefem Verſe 
den Sinn findet, Serufalem werde von Gott in Gnaden heim- 
geſucht werden durch Beltrafung ihrer Feinde, während die 
Frage, ob Serufalem angeredet werde oder von ihr in der 
dritten Perſon die Rede fei, für den Sinn feine Bedeut- 
ung bat. 

51, 6. Indem ich es hier dahingejtellt fein laſſe, ob im 
Nu oder in einem Nu, mie Sehle vorichlägt, das 
befjere ſei, will ih nur gegen die Behauptung Ver: 
wahrung einlegen, daß die wörtliche Überfegung wäre: 
wie Müden. Wäre es ficher, daß chen der Singu— 
lar zu den 2 Mof. 8 vorfommenden chinnim fei, fo 
wäre freilich das einfachſte, wie eine Müde zu eben, 
Aber man fann Luthers Fafjung von chen — alfo nicht 
für unmöglich an diefer Stelle halten, und Delitzſch ſtellt 
fh in feinem Kommentar auf Luthers Seite. Über die 
duch die Meglaffung von Luthers Randglofjen herbei: 
geführte Notwendigkeit der Anderung des Iutherifchen 
wie das habe ich mich in meinem Vorbericht zur Probe- 
bibel $ 10 ausgeſprochen, und füge bier nur nod die 
Außerung Luthers in den Scholien bei: Haec est Ösıxrıxor, 
quasi pilum aut floccum ostendat. 

Ser. 4, 31. „Würger — hat L. nit; vgl. die Umschreibung 
Chr. 11, 28.” Da aber Luther vor dem Würgen 
überjegt hat, fo liegt es offenbar viel näher, dafür vor 
den Würgern zu jegen, als, wie J. vorſchlägt, Tot: 
Ihläger oder fonjt ein anderes Wort zu nehmen, was nur 
eine noch weiter gehende Abweichung von Luther wäre, 
Hebr. 11, 28. beweist auf feinerlei Weiſe, daß Luther das 
Subftantiv Würger vermeiden wollte, da die Überfegung 
„der die Erjtgeburten würgete”, dort einfach dem Grund: 
tert entipridt. Vgl. übrigens auch noch das befannte 
Dfterlied Luthers „Chrift lag in Todesbanden” , wo eine 
Zeile heißt: „der Würger kann uns nicht rühren.“ 


248 


8,14. 


17, Ts 


43,13. 


Schröber 


„umkommen laffen — hat 2. nit; dafür: daß wir 
dajelbit untergehen. Denn der HErr wird uns untergehen 
lofien, vgl. Amos 8, 9.” Es iſt gewiß bloß zufällig, 
daß Luther das verbum umfommen nicht auch mit dem 
Hilfzzeitwort laffen verbindet. Amos 8, 9. paßt nur 
untergehen, weil vom Untergang der Sonne die Rede tft; 
wenn aber in unferer Stelle gefeßt würde: „laflet uns 
in die feiten Städte ziehen, daß wir dafelbft untergehen“, 
jo könnte der Leſer meinen, es werde hier ein Untergang 
der Städte felbjt angedeutet; darum it umfommen 
gewiß beifer. 

„dem — ob lutherifh und deutſch? Beſſer deß vgl. 
Pl. 33, 12., oder: deſſen Zuverfiht der Herr ift.“ In 
Pſ. 33, 12. und 144, 15. hat Luther: „des der HErr 
ein Gott iſt“, die Ganfteinsche Faffung: „dei der HErr 
jein Gott it“ wurde von der Roſtocker theologiſchen Fa: 
fultät in ihrem den Eifenacher Verhandlungen vom Jahr 
1863 beiliegenden Gutachten als ſprachlich inforreft bezeich- 
net, die Reviſionskommiſſion ihrerfeitS wollte die Tutherifche 
Faſſung, weil jte ihr einen polytheiftifchen Klang zu haben 
ſchien, nicht wiederherjtellen, und beſchloß die Anderung: 
des Gott der Herr ift. Zu Ser. 17, 7. wurde im 
Schofe der Reviſionskommiſſion eine Anderung des lutheri- 
Ihen der HErr feine Zuverficht ift nicht beantragt; 
Dagegen wurde eine ſolche bei der Redaktion von rein 
Ipradhlicher Seite aus durch Dr. Frommann angeregt, und 
nachdem in den zwifchen mir und ihm geführten Verhand— 
lungen aucd der Vorfchlag: „des der HErr feine Zuver: 
ficht ıjt“, wie der andere: „des Zuverſicht der HErr iſt“ 
zur Sprade gefommen war, entjchied ſich Frommann für 
die Faſſung: „dem der HErr ſeine Zuverficht ift.“ 
„Götzentempel — hat L., da aber die Mehrzahl nicht 
vorfommt, wird es ficherer fein, nad) Bar. 6, 18. zu ſetzen: 
der Gößen Tempel“. Die Verwandlung des Ausdruds 
Kirhe in Tempel wird alfo als gerechtfertigt aner- 
fannt, der Gebraud) des Wortes Tempel in der Mehrzahl 
ergiebt jih, wenn von heidnifchen Tempeln die Nede ft, 


Über den Artikel v. Jehle „Die Rutheranität d. Probebibel.” 249 


nicht nur von felbit, fondern e8 fommt auch der Plural, 
wie %. ſelbſt anführt, bei Luther ausdrüdlih vor; es 
findet ji) ferner da® compositum Gößentempel bei 
Luther nämlid 1 Makk. 10, 84., und dennoch ſoll man, 
weil ſich feine Stelle nachweisen läßt, wo das Wort Gößen: 
tempel im Plural fteht, lieber der Götzen Tempel 
jagen, al Gößentempel. Das heißt doch, die For: 
derung einer buchitäblichen Yutheranität auf die Spitze 
treiben! Wie jteht es aber mit der Angemejjenheit der 
Überfegung an dem Grundtert, wenn man "einmal das 
compositum auflöst? Es wäre Tann nicht zu überfeßen: 
„ver Götzen Tempel in Agypten“ ‚ jondern „die Tempel 
der Götzen in Agypten (der Götter Ägyptens).“ 


Klagl. 4, 15. Die Schreibung um herirrten ift ein typogra= 


Heſ. 1, 


23,41. 


phifches Verſehen: im Protokoll jteht: umher irrten. 

7. „Rinderfüße — 8. hat feine Zufammenjegung mit 
Rind Var.: gleich wie ochjen füſſe.“ Daß Rind we— 
niger zur Zufammenjegung mit Fuß fich eigne, ala Ochſe, 
fann unmöglich behauptet werden, es fragt jich vielmehr 
nur, ob man, wenn eine Nüdfehr von der — eine andere 
hebräifche Lesart, nämlich agol, vorausfegenden — ſpäte— 
ven Überjegung Luther runde Füße zu feiner früheren 
Überfegung angezeigt war, nicht einen guten Grund 
hatte, das Wort egael jtatt mit Ochſe vielmehr mit Nind 
zu überjegen; denn da die Nevifionsfommiflton für das, 
was ſie in den recipierten Text, beziehungsweife den Luther— 
tert von 1545 hineinfegte, ſich als verantwortlich im vollen 
Sinne betradhten mußte, wurde immer der Grundfaß be- 
folgt, eine frühere LZutherlesart nur dann ihrem ganzen 
Wortlaut nach wieder aufzunehmen, wenn fie ji) wirklich 
eregetiich und fprachlich rechtfertigen läßt. Dagegen war 
der recipierte Tert viel mehr zu jchonen, und mir find 
nicht in gleichem Grade verantwortlich für das, was wir 
darin stehen liefen, als für das, was wir hineinfeßten. 
„Boliter — hat L. nit; warum nit Bett lafjen?” 
Darum nicht, weil der Leer in einem Zuſammenhang, 
da von Hurerei und Chebrecherei die Nede iſt, unter Bett 
fih etwas anderes voritellt, ald ein Polſter oder eine Bank. 


250 


Schröder 


44,11. „Diener des Haufe — hat %, nicht, fondern im 


Haufe, was 46, 24. geändert if. Mit de Wette Zür. 
Bibel braudts nur Ein Wörtlein: in dem Haufe dienen.“ 
Die Kommiffion hat in diefem Verſe zuerft den Ausdrud 
Sie follen aber geändert in Und follen, weil nidt 


' von einer Vergünftigung, welche den Leviten erteilt wird, 


Jondern von einer über jie verhängten Strafe die Rede ift, 
fie hat ferner das erite dienen, das die Canſteinſche 
Ausgabe unberechtigter Weiſe weggelaſſen hat, das aber 
bei Luther jteht, in den Tert wieder hineingefett, fie hat 
ftatt an den Ämtern, den Thüren überfegt: als 
Hüter an den Thüren, fie hat ftatt dem Haufe dienen 
geichrieben als Diener des Haufes, und endlid vor den 
Prieſtern verwandelt in vor den Leuten. Es ſcheint, daß 
J. nur die vierte diefer Anderungen angreift, nämlich den 
Ausdrud ala Diener des Haufes. Das Wort dienen 
wurde hier der befjeren Konftruftion wegen in das Sub— 
itantiv Diener verwandelt, weil das erſte mescharethim 
durch den Infinitiv wiedergegeben ift (mas wohl auch die 
Veranlafjung dazu gegeben hat, daß das erjte Dienen in 
der Canſteinſchen Ausgabe weggelaffen wurde). Übrigens 
ift die Überfegung Luthers dem Haufe dienen an fi 
jelbjt richtiger, ald die von J. vorgejchlagene in dem 
Haufe dienen, und für den Sinn wäre die lebtere dem 
Zufammenhang nad) jtörend, indem dadurd) der Unterſchied 
zwifchen den Prieſtern und den Leviten verwijcht würde ; 
denn nur die Priefter dürfen im Haufe wie im innern 
Vorhof dienen, d. h. den Gottesdienit verrichten (B. 15— 17.) 
Dagegen fünne man 46, 24. den von Luther ſelbſt gebraud)- 
ten Ausdrud Diener im Haufe — Diener des Hauſes, 
wie Luther auch ſonſt die Konftruftion mit der Präpoſition 
in der Konjtruftion mit dem Genitiv häufig vorzieht, wohl 
jtehen lajjen, wenn nit hier das Mißverſtändnis nahe 
läge, daß das Kochen der Opfer im Haufe zu gefehehen habe. 


Hojea 6, 4. „Der Tau — vergeht hat 2. nicht. Dafür: der 


früh morgens weg ift, vgl. 2 Mof. 16, 14.“ Das Bar: 
ticiptum holech fann nicht überfegt werden: der weg ift; 


Über den Artikel v. Jehle, Die Lutheranität d.Probebibel.“ 251 


es müßte vielmehr heißen: der geht oder weggeht, und 
da ift vergeht dod der Sache entiprechender. 

Soel 2,6. „bleih werden — hat. in der Bibel nicht; dafür: 
werden erblajjen“. Da das Wort bleich im Luthertert 
jteht und ganz pafjend iſt, hat man feinen Grund ein 
anderes Wort dafür zu een, dagegen fann man bleid 
werden fo gut jagen ald bleich fein. Cher wäre es 
gerechtfertigt, aus der Parallelitelle Nahum 2, 11. den 
Ausdrud bleich ſehen herüber zu nehmen, doch fchien 
es nur nötig zu fein, auß beiden Stellen die Worte wie 
die Töpfe, beziehungsmeife wie ein Topf zu entfernen. 

Amos 4, 11. „Nach Hopf hat X. keret“. Allerdings hat Luther 

| zweimal in dieſem Verſe feret; daß das erjte feret Im— 
perfeftum ift, erfennt man aud ohne Wergleihung des 
Grundtertes, das zweite keret kann aber nad Luthers 
Sprache ebenfalla Imperfektum fein, und daß es, ſowie 
beferet B. 6—10, Imperfektum ift, zeigt Grundtert und 
Vulgata; vgl. was ich über bie richtige Setzung der Dekli— 
nationg- und SKonjugationsformen in $ 4 meines Vor— 

| bericht3 gejagt habe.’ 

6, 10. „Der ihn verbrennen will — der ihn beitatten ſoll.“ 
Es iſt aber hier vom Verbrennen der Leichname und dem 
nachfolgenden Hinaustragen der Gebeine zur Beltattung 
die Nede, und e8 wäre nicht zu billigen, wenn man diefen 
charakteriſtiſchen Zug verwifchen wollte, beſonders da dieſe 
Stelle eine archäologiſche Bedeutung hat. Man darf frei— 
lich nicht daraus ſchließen, daß die Verbrennung der Toten 
zur Zeit des Amos Sitte geweſen ſei, ſondern dieſelbe 
wird hier wohl als eine durch die große Zahl der Toten 
herbeigeführte, von der gewöhnlichen Sitte abweichende Art 
der Beſtattung dargeſtellt, wie auch 1 Sam. 31, 12. das 
Verbrennen der Leichname Sauls und feiner Söhne als 
eine Ausnahme zu betrachten iſt. Es fragt fich allerdings, 
warum Luther den harakteriitiichen Zug verwiſcht hat, da 
er mwenigjtens in jeinen Vorlefungen über den Propheten 
Amos die Stelle richlig erklärte; vgl. Erl. Ausgabe 
der lateinischen Werfe Luthers XXV p. 449: Tanta erit 


252 


Schröder 


miseria, tantae clades, ut pro multitudine mortuorum 
non supererit spatium sepeliendi cadavera mortuorum, 
sed in domo cogentur comburere. Dura comminatio, 
qua eos terret. In der eriten Recenſion jind p. 351 die 
deutichen Worte beigefügt: „eyn baurifche metaphora von 
Thecoa“; es tft aber nicht anzunehmen, daß Luther mit 
diefer Bemerkung die Worte des Hirten von Thefoa als 
eine ftarfe Übertreibung bezeichnen und fomit tadeln wollte, 
fondern er wollte nur fagen, Amos habe feine prophetifche 
Schilderung den ländlichen Berhältnijien jeiner Heimat: 
gemeinde oder auch wirklich daſelbſt vorgekommenen Beijpie- 
len entnommen. 


Habakuf 3, 6. „beben machen — hat 2. nicht, jondern be- 


3,14. 


bend maden vgl. Jeſ. 14, 16., Ser. 50, 34.” Aller: 
dings hat Yuther in leßterer Stelle bebend, aber Jeſ. 
14, 16. hat er: der die Welt zittern und die Königreiche 
beben madete. In Der Probebibel fteht freilich: zittern 
— bebend, was ich nur für einen Drudfehler halten fann. ' 
„Rute — hat L. nur als Maß in der Mehrzahl.“ 
Rute iſt aber die hier zunächjt liegende Überjegung des 
hebrätfchen mattaeh, eigentlich Stab, vgl. Jeſ. 9,3. (4.), und 
man wäre felbjt dann berechtigt, den Plural Nuten hier 
zu ſetzen, wenn es richtig wäre, daß Luther das Wort 
Rute in der Bedeutung eines Züchtigungsmittels ſonſt nicht 
in der Mehrzahl gebraucht, denn der Grundtert hat ihm 
eben ſonſt feine Veranlaſſung dazu gegeben. Dod it 
Heſ. 21, 15.: „wenn er gleich alle Bäume zu Nuten 
machte” Tas Wort Ruten bei Yuther ohne Zweifel Plural, 
während Hiob 9, 34. „jeine Nuten” der Acc. ing. nad) 
der Schwachen Deflinationsform, wie die Vergleichung mit 
dem Grundtert zeigt, fein muß. Der Vorſchlag Jehles 
aber, ftatt Ruten Speere oder Geſchoſſe zu ſetzen, 
fönnte nur angenommen werden, wenn man dem Wort 
mattach eine andere Bedeutung gäbe. Dasfelbe fünnte 
nämlich, wie da$ verwandte schebaet 2 Sam. 18, 14. 
Speer heißen, weil der Speer wie ein Stab in der Hand 
getragen wird, nicht wohl aber Geſchoß. Dod müßte 


Über den Artifel v. Zehle „DieLutheranität d. Probebibel.“ 253 


bei Annahme diefer anderen Bedeutung von mattaeh aud) 
das Wort zerfchlugit mit durchbohrteſt erfeßt werden, 
ja es gründet ſich die Vermutung, daß mattaeh hier Speer 
bedeute, nur auf die Borausfegung, daß nakab bloß 
durchbohren heißen fünne. Luther hat in feiner Ausleg: 
ung des Propheten Habakuk vom Jahr 1526 überjet: 
„Du wolteit fluchen feinem Scepter mit dem Haupte jeiner 
Flecken.“ Wolteſt ift hier, wie ſonſt oft 3. B. Bi. 12,8. 
(vgl. auch wolte Bf. 12, 4.) ſ. v. als wolleſt; denn 
Zuther, der die vorangegangenen Verſe auf die ältere 
israelitiſche Gefchichte bezogen hat, jagt beim Übergang 
zu V. 14: „Nu fähet er an zu bitten wider den König 
zu Babylon“. In der Auslegung von 14° ſodann jagt 
er: „dem Königreich zu Babylon wolteit du nicht günitig, 
fondern ungnädig fein, ſamt dem Haupt feiner Flecken, 
das tft, der Stadt Babylon, die das Haupt it unter allen 
jeinen Städten.” Indem Luther nakab nad) der Vulgata 
mit fluchen überjegt, fann er in mattaeh, das er mit 
Scepter in der Einzahl wiedergiebt, nur das Objekt des 
Rluchens finden und veriteht darunter das Königreich Babel. 
Die Faffung von perasim — perasoth (offenes Yand) 
iſt ihm eigentümlich, und fo ift ihm dann rosch, das Haupt, 
j. v. a. die Hauptitadt. In die deutiche Bibel iſt Die 
Überfegung mit der Anderung übergegangen: „du wolteit 
fluhen dem Scepter des Hauptes jamt feinen Flecken.“ 
Luther fcheint hier das Suffir in mattav durch Voraus: 
nahme auf rosch zu beziehen, wie wenn es hieße: „jeinem 
Scepter, nämlid; dem Scepter des Hauptes“ und läßt es 
deswegen in der Überfegung weg; dagegen läßt er nad) 
der fpäteren Fafjung den Fluch nicht bloß über die Haupt: 
itadt, ſondern auch über die Fleden ergehen, doch ijt es 
möglich, daß er unter Haupt jpäter den König von Babel 
jelbit veritanden hat, wo aber das Wort Kleden alle 
dem König unterworfene Ortichaften bedeuten müßte. Die 
in der Probebibel gegebene Überfeßung wendet im aanzen 
Vers in Ähnlichkeit mit den vorangehenden Verſen das 

Präteritum an, das jedoch als prophetijches Präteritum 


254 


Schröder 


gefaßt werden fann, fie läßt es frei, ob unter dem Haupt 
der Scharen das Oberhaupt derjelben verftanden oder der 
Ausdruck als eine Umschreibung der Scharen felbjt gefaßt 
werden will, die beiden Pronomina können auf das Haupt 
in V. 14 oder auf ein nomen in V. 13 bezogen werden, und 
der Sinn ift: die Züchtigung, welche die Feinde über uns ver: 
hängen wollen, fommt über fie jelbit. Dabei wird bemerft, 
daß V. 13 infofern ein redaftionelles Verfehen ftattgefunden 
hat, als der Beſchluß der Reviſionskommiſſion dahin gegangen 
war, die Canſteinſche Yesart des Gottlofen beizubehalten. 


Sad). 4, 42. „Schnauzen hat 2. nit. Entweder Schneuzen 


wie jonjt belaffen, oder Röhren oder Ninnen“. Wollte 
ich jagen, Luther habe Schnauzen, nämlid 1 Kön. 7, 49. 
und 2 Chron. 4, 21., jo wäre das zwar buchjtäblid) richtig, 
denn daß die bei Bindfeil an diefen Stellen jtehende Les— 
art Schnauzen fein Drudfehler iſt, davon habe ich mich 
durch Vergleihung mit einer auf der Stuttgarter Biblio: 
thef befindlichen Driginalausgabe vom Jahr 1545 über: 
zeugt. Allein diefer Umſtand thut nichts zur Sache, denn 
die Bedeutung ift die gleiche. Die Hauptſache iſt viel: 
mehr, daß das Wort Schneuze als die Überfegung von 
malkachaim in der Bibel nur in der Bedeutung einer 
Lichtputze oder Lichtfchneuge, wie es 2 Moſ. 37, 23. heißt, 
vorfommt, und daß Yuther, indem er in unferer Stelle 
zantharoth alfo überjegt, das Wort in der gleichen Be— 
deutung gebraudht, was man nicht nur aus den Worten 
„damit man abbricht“ jchließen fann, fondern auch aus 
jeiner Auslegung des Propheten Saharja vom Jahr 1527 
deutlich erfieht; denn Zuther jagt hier: „Was die zwei 
güldenen Schneuzen gewejen find, weit ich wahrlich nicht. 
— — Ich habs verdeutjcht alfo: zwei Schneuzen, damit 
man abbricht, allein, daß ich nicht ein Feniter mußte im Tert 
lafjen, und habe dem Leuchter Moſe nachgeahmt, der auch 
Schneuzen hatte, und dachte, es wäre fein um der Deut- 
ung willen, denn unter den Lehrern müſſen auch fein, die 
das Licht fegen und puben, daß es nicht verlöfche von 
Unflath, wie in Moſes Leuchter bedeutet if.” Die neue: 


Über den Artikel v. Jehle „Die Rutheranität d. Probebibel.“ 255 


ren Eregeten müſſen vielleicht auch mit Luther befennen: 
Was die zantharoth gemwejen find, miffen mir eigentlic) 
nicht. Wenn aber die Stelle geändert werden muß, fo 
fonnte man das Wort Schneuze nicht wohl belafjen, und 
es lag zunächit, Schnauze dafür zu ſetzen. Sprachgelehrte 
mögen über dieſes Wort entjcheiven. Während bei uns 
im Schwäbischen Schneuze gar nicht gebraucht wird, fon: 
dern nur fchneuzen im Sinne von Spr. 30, 33., redet 
man von der Schnauze eines Gefäfjes im Diminutivum: 
Schnäuzchen, Schnäuzle. Rinnen oder Röhren fünnen die, 
zantharoth auch jein, und jo jtehen auch dieſe Ausdrüde 
zu Gebot, wenn man jich fachlich dafür entfcheiden will. 
Luther jelbit bietet uns in feiner Auslegung, welche zeigt, 
wie ſehr er über die Stelle nachgedacht hat, eine Auswahl 
anderer Ausdrüde für zantharoth, nämlid Schnaußen, 
Röhren, Nafen, Zeuten, Ninnen. (Überhaupt ift Luthers 
Auslegung des Sacharja ein jehr interefjantes Werk, und 
läßt uns tiefere Blide thun in feine Überfegungsarbeit 
und die immer geiltvollen aber oft auch mwunderlichen 
und vom Sinn des Grundtertes ſehr abweichenden Auf: 
faffungen, die feiner Überfegung zu Grunde liegen. So 
fällt e8 in den Worten 12, 10.: denn fie werden mid) 
anjehen, welchen jene zeritochen haben“ vor allem auf, daß 
Luther im Nebenjat ein anderes Subjekt jest als im 
Hauptſatz; das erklärt ſich aber nicht bloß aus feiner Aus— 
führung zum Verſe felbit, wo Luther jagt: „daß er aber 
Ipricht, fie werden mich anfehen, den jie zerjtochen haben, 
iſt nicht geredet, als jollten allein diefelbigen ihn anjehen, 
die ihn gefreuzigt haben, ſondern alſo: man wird jehen 
und folches wird auch durchs Evangelium aller Welt ver: 
fündigt, für ihre Augen gebildet, wie man mich zeritochen 
und gefreuzigt hat“, fondern auch aus feiner Auffafiung 
vom ganzen Kapitel, indem Luther zu 12,2. jagt: „Jeru— 
jalem find die Apoftel und eriten Jünger, die Völker um- 
her find die Heiden und Juden“. Demnah muß man 
den Vers 12, 10., in welchen ftatt des in der Überjegung 
von 1527 jtehenden die ſe fpäter das noch deutlichere jene 


256 


9,17. 


Sudith 


Schröder 


hereingefommen- it, geradezu fo verjtehen: fie (die Chriften) 
werden mich anfehen, melden jene (die Juden) zerftochen 
haben. So will denn aud der Prophet das reumütige 
Sehen nad) dem Zerftochenen als eine Wirkung des über 
die Bürger zu Serufalem ausgegofjenen Getites der Gnade 
und des Gebets darftellen, Luther aber fehrt durch die 
Setzung von denn ftatt des richtigen und das Verhält- 
nis zwifchen beiden Versgliedern geradezu um, mas 
durch die in feiner Auslegung fich findende, dogmatiſch 
freilich nicht anzufechtende Ausführung illuftriert wird: 
„Dan wird mein gedenten durchs Evangelium und im 
Herzen betrachten, wie ich gelitten habe und geitorben bin; 
dadurd) wird der heilige Geift gegeben werden zur Ver: 
gebung der Sünden.“) 

„blühen maden — bat 2. nit“. Die Überfegung 
blühen wird durch Pf. 92, 15. gevedt, wo im Hebräi- 
Shen dasjelbe Wort ſteht; über den Gebrauch des Infini— 
tive in Verbindung mit dem Hilfszeitwort machen vgl. 
zu Habakuf 3, 6., überdies tjt diefe Konſtruktion auch durch 
Sad. 6, 8., „machen meinen Geiſt ruhen“, ſowie durd 
die befannte Bezeichnung Jerobeams als des, der Israel 
ſündigen machte, als aut lutherifch erwiefen. Daß Luther 
Jeſ. 55, 10. wachſend machen fagt, worauf 9. Hin: 
weist, wurde erwogen, aber abgejehen davon, daß Luther 
dort den Infinitiv nicht ſetzen fonnte wegen des vorhergehen- 
den macht fie fruchtbar, iſt ein Unterfchted zwifchen dem 
bejtändig auf der Erde fortgehenden Wachstum und Dem 
nur kurz andauernden Zujtand des Blühens der Jünglinge 
und Jungfrauen. Luther liebt überhaupt die PBarticipia 
nicht, und jeßt gern den Infinitiv jtatt des im Grundtert 
jtehenden Participiums 3. B. Luk. 2, 12. 16. 46., Ap.Geſch. 
1, 11., während Luther im vorangehenden 10, Verje den 
früher geſetzten Infinitiv fpäter mit Necht dur das Bar- 
ticipium erſetzt hat. 

8, 11. „nach Gefallen — hat L. nicht. Dafür: nach 
Gedünken, vgl. Ser. 16, 12., 18, 12.“ Aber. „nad 
eurem Gefallen“ iſt gewiß eine viel näher liegende 


Über den Artikel v. Jehle, Die Lutheranität d. Probebibel.“ 257 


Anderung des Luthertertes eures Gefallens, als wenn 
man dafür ein anderes Wort fegte: nah Gedünfen 
oder nah eurem Gedünfen Und wenn J. ji dar: 
auf beruft, daß bei Sjeremia die LXX auch apeorov haben, 
jo it zu ermwiedern, daß Luther das Buch Judith nicht 
aus dem Griechiſchen, fondern aus dem Lateinifchen über- 
jegt hat (vgl. die Bemerkung über die Bücher Sudith und 
Tobias in $ 11 meines Vorbericht), und daß der ganze 
V. 11 der lutherifchen Überſetzung im Griechiſchen nicht 
jteht, im lateinifchen Texte aber jteht in arbitrium vestrum, 
Dagegen findet ſich allerdings V. 14, wo die Worte feines 
Gefallens für das lateinifche secundum voluntatem 
suam gejeßt find, in der entjprechenden Mendung des 
griechiichen Textes „er wird eure Stimme erhören, wenn 
es ihm gefällig iſt“, das Wort aororov, alleın gerade 
hier fönnte man das Wort Gedünfen nicht brauden. 
Bei Anführung von B. 11 gebraucht Luther in einem, 
1520 gedrudten Sermon von dem Gebet den Ausdrud 
„nah eurem Willküre“, worauf J. hinweist, und es könnte 
diefe Variante in der Faſſung „nad eurer Willkühr“ (vgl. 
2 Kor. 9, 7.) immerhin in den Tert aufgenommen werden, 
aber einen triftigen Grund dazu hat man nicht, nachdem 
Luther offenbar, um den Gegenfa von V. 11 zu V. 14 
itärfer hervorzuheben, auch V. 11 das Wort Gefallen 
in der deutjchen Bibel geſetzt hat. 

12,12. „unberührt — bat 2. nicht, die Änderung ift aber 
gut.” Ich füge noch hinzu: Die Änderung paßt auch in 
die Zutherbibel gut herein ; denn wenn berühren luthe— 
riſch ift, namentlich gerade in gejchlechtlihem Sinne vgl. 
1 Mof. 20, 4., 1 Kor. 7, 1., fo fann unberührt ebenjo 
wenig unlutherifch fein, als das im Texte ftehende unbe: 
ſchlafen. 

Weisheit 1, 1. „Die zweite Anderung iſt nicht als Wiederher— 
ſtellung einer früheren Lesart gekennzeichnet“. Es wurde 
auch ſonſt nur die Wiederſtellung einer Lesart von 1545 
durch den Druck bezeichnet, vgl. was ich über die Auf— 
nahme früherer Lutherüberſetzungen in meinem Vorbericht 

Theol. Studien a, W. VII. Jahrg. 17 


258 


4,17, 


11,4. 


18,5. 


Sirach 


Schröder 


89 geſagt habe, und auch in 8 3 iſt von den Lesarten 
der Lutherbibel von 1545 die Rede. 

„in Sicherheit bringen — hat L. nicht; Zür. B.: 
verwahren, was ſich der leichten Anderung wegen empfiehlt.“ 
Verwahret hat wurde auch vorgeſchlagen, aber die 
Faſſung in Sicherheit gebracht hat wurde vorgezo— 
gen, weil es ſich nicht um eine Bewahrung des Weiſen in 
dieſem Leben, ſondern um eine Verſetzung desſelben in jene 
Welt handelt. 

„hroff — hat 8. nicht. Wenn überhaupt geändert 
werden fol, müßte man hoch ſetzen.“ hoch jteht im Text, 
und es wurde in erſter Leſung jtarr und in zweiter 
Ihroff dafür gefeßt. ch füge zu dem, was J. über 
5 Mof. 8, 15. fagt, noch hinzu, daß Luther in unferer 
Stelle das griehifhe nere« axporouog wohl nad dem 
Vorgang der Vulgata (petra altissima) mit hoher Fels 
überfegt hat, daß er aber in der Überfegung diefes Wortes 
Eir. 40, 15. von der Vulgata (super cacumen petrae) 
abweicht, indem er dort überfegt: auf einem bloßen 
Felſen. 

„ausſetzen — hat L. nur im Sinn von verheiraten, 
ausſteuern. Etwa: hingeworfen.“ Vom Richter Ebzan 
läßt Luther allerdings Richter 12,9. den Verfaſſer erzählen, 
derfelbe habe dreißig Töchter ausgeſetzt, man hielt das 
aber nad unferem heutigen Sprachgefühl für unpafjend, 
und änderte deshalb: dreißig Töchter gab er hinaus. 
Dafür erhielt man dann das Lutherwort ausſetzen, in: 
dem man es in unferer von der Ausſetzung des Fleinen 
Moſes handelnden Stelle anmwendete ftatt „wegwerfen“. 
Allerdings Hat die neuteftamentliche Kommiffion Ap.-Gefch. 
7, 19. 21., wo dasſelbe griehifhe Wort von der Aus- 
jegung des Mofes gebraudht wird, den Ausdrud hin— 
werfen jtehen lafjen. 

22, 27. „gegen deinen Freund — ob 8. gegen 
mit dem Nccufativ in diefer Verbindung hat? Alſo nad 
2 Sam. 1, 16.: wider“. Es handelt fi) hier um die 
Bedeutung von en; 2 Sam. 1, 16. fteht im griechifchen 


Über den Artikel v. Jehle, Die Lutheranität d.Probebibel.“ 259 


24,40. 


28,10. 


xara vov, hier aber heißt e8 enı gıkor, und obgleich Frigfche 
in feinem Kommentar emı in der Bedeutung von wider 
nimmt, und das Reden auf böfe Reden über den Freund 
bezieht, jo kann ich das deshalb nicht für richtig halten, 
weil die beiden enı V. 26 und 27 einander entiprechen 
müſſen; wie man gegen einen Freund dad Schwert züdt 
nicht in deſſen Abweſenheit, fondern vor ihm ftehend, fo 
werden auch unter dem Aufthun des Mundes gegen den 
Freund böfe Reden gemeint fein, die man ihm ind Ange 
ficht fchleudert, und die wegen der Offenheit, mit der jie 
ausgesprochen werden, die Hoffnung auf eine Verfühnung 
weniger ausſchließen, als hinterliftige Reden. Luther frei- 
lich überſetzt das erſte emı (V. 26) mit über und das 
zweite (DB. 27) gar nicht; er hat, wie er überhaupt mit 
dem Sirachtext beſonders frei fchaltet (vgl. Fritzſche's 
treffende Charafterijtif der lutheriſchen Sirachüberfegung in 
der Einleitung zu feinem Kommentar, wo er von ihr ala 
einem bedeutenden Werke fpriht), jo hier das Schwert- 
züden und das Führen böfer Reden gegen den Freund nur 
in das Verhältnis des Gegenſatzes zu einander gejtellt, 
und läßt den Verfaſſer jagen, das lebtere fei fchlimmer 
als das eritere, während Sirach jagen will, es gebe eine 
Art von böfen Reden, die zwar Ähnlichkeit haben mit 
dem Züden eines Schwertes gegen den Freund, die aber 
doch nicht, wie gewiſſe andere Neden, ewige Feindfchaft nad) 
ſich ziehen. 

„Wafferleitung — hat 2. nicht, fondern Waſſer— 
röhre*. Einen entgegengefegten Standpunkt vertritt ein 
württembergifcher Didzefanverein, welcher zu 2 Kön. 18,17. 
Wafjerleitung beantragt ftatt Wafferröhre, weil 
das Altertum feine Wafjerleitung mit gefchloffenen Röhren 
gefannt habe. 

„unterbleiben — Hat 2. nit; nadbleiben ift 
Esr. 4, 24. und Neh. 6, 3. geblieben.” Auf die ver: 
ſchiedene Behandlung des Worts nachbleiben madt 
J. mit Net aufmerffam, doch legt es Esr. 4, 24. und 
Neh. 6, 3. der Zufammenhang viel näher, daß das luthe— 


17* 


260 


Schröder 


riſche nachbleiben unjerem jeßigen unterbleiben 
gleich tft, als in unferer Stelle. Wenn aber J. das Di- 
lemma jtellt, entweder dürfe unſere Stelle nicht geändert 
werben, oder fei eine andere Überfeßung zu fuchen, fo 
giebt es noch eim dritte, daß nämlich in den beiden an- 
dern Stellen ebenfalld gefchrieben wird unterbleiben. 
Auf jeden Fall halte ich Luthers Überfegung für ſehr gut 
dem Sinn nad; denn wenn man fragt: was verjteht 
Sirach darunter, indem er (nad) wörtlicher Überfeßung des 
griechischen und lateinifchen Textes) jagt: „Du wirft Sün- 
den mindern“, jo beziehen dies zwar nit nur Allioli 
(jo wirft du deine Sünden vermindern) und die Züricher 
Bibel (fo wirft du weniger fündigen), ſondern auch Fritzſche 
(und du wirſt weniger Sünden thun) auf die eigenen 
Sünden des Angeredeten, da aber im folgenden Vers 
gejagt wird, dab man durch Anfachung eines Streit oder 
Beteiligung an einem ſolchen auch andere zum Sündigen 
reize, jo wird ſchon V. 40 diefer Gedanke in dem dort 
geſetzten Ausdrud mit enthalten fein und die unbejtimm- 
tere lutheriſche Faſſung iſt beffer: fo unterbleiben 
viele Sünden, du ſelbſt wirt weniger fündigen und 
auch Anderen weniger Anlaß zum Sündigen geben. 


1 Maff. 11, 29. „bewilligen etwas — hat 2. nidt.* Wie 


die Nevifionsfommiffion 9, 71. die Canſteinſche Lesart 
bewilligte jtatt der Lutherifchen williget beibehielt, 
jo hat fie in anderen Stellen, 3. B. auch 2 Makk. 4, 10,, 
wo in der Ganfteinjchen Ausgabe, wie bei Zuther, willigen 
mit dem Akk. konſtruiert ift, dafür bewilligen gejeßt. 
Dagegen hat jie 2 Makk. 11, 15. den Ausdrud ver: 
willigte in den Vertrag geändert in mwilligte, 
und bei der in Gemeinfchaft mit den Vertretern der Bibel: 
gefellichaften gehaltenen Schlußfonferenzs wurde aud zum 
neuen Teftament nachträglich noch bejchlofien, daß Luc. 
11, 48. williget in eurer Väter Werfe zu jeßen 
jet ſtat bewilliget, wie Luc. 23, 51. bereitS die Can— 
ſteinſche Ausgabe die lutherifche Lesart hatte nicht be— 
williget in ihren Rat und Handel geändert hatte 
in gewilliget. 


Über den Artikel v. Jehle „TieLutheranität d. Probebibel.” 261 _ 


16,3. „göttlide Gnade — hat 2. in der Bibel nicht, fon- 
dern Gottes Gnade‘. Der Ausdrufd Gottes Gnade 
war auch vorgefchlagen worden, die Bevorzugung des Aus: 
druds göttliche Gnade aber hängt mit einer allgemei- 
nen Erwägung betreffend eine Eigentümlichfeit des erjten 
Makkabäerbuchs zufammen. Dasſelbe vermeidet nämlich 
ganz auffallender Weife die Nennung des Namens Gottes, 
wahrfcheinlih aus religiöfer Bedenklichkeit, ähnlich mie 
von den Juden der Name Sehovah nicht ausgeſprochen 
wurde, und erjebt den Namen Gott durch Himmel und 
andere Ausdrücke. Zwar jteht 1 Makk. 3, 18. im reci: 
pierten aud in Fritzſche's Ausgabe beibehaltenen Texte 
evavrıov rou FEov Tov ovoavov, allein auch hier fehlen 
die Worte rov Hsov in einer Anzahl von Handfchriften. 
Zuther hat in vielen Stellen den Namen Gott hinein- 
gefeßt, und obwohl man 8, 23. in der von den Römern 
ausgeftellten Urkunde die wörtliche Überfegung: Mögen 
die Römer und die Juden Glüd und Frieden 
haben der lutherifhen Wendung: Gott gebe den 
Römern und den Juden Glüd und Frieden 
vorzog, hielt es man nicht für angezeigt, die betreffenden 
Mendungen Luthers auch da zu ändern, wo fie den Ber: 
hältnifjen ganz angemejjen waren. So ließ man 16, 2. 
ſtehen: Gott hat una Glüd gegeben (wörtlich: e3 tft uns 
Glück gegeben worden), 16, 3b: Gott wolle eud vom 
Himmel helfen, und bei euch fein (wörtlich: die Hilfe vom 
Himmel ſei mit euch). 16, 3% dagegen erhob fich die 
Frage, wie man fich bei Einjchaltung eines von Luther in 
Übereinftimmung mit der Vulgata ausgelafjenen Zufates 
binfichtlich der Bezeichnung des göttlichen Namens verhal: 
ten jolle, und indem es ſich nun darum handelte, ob nad, 
dem Griechischen ev rw eAssı einfach geſetzt werden ſoll: 
dur die Gnade oder vielmehr: durd die Gnade 
Gottes, entſchied man fich für die Faffung: durch gött— 
lihe Gnade, ähnlihd wie Röm. 3, 25. fteht: unter 
göttlicher Geduld, 


262 Schröder 


Vom Drachen zu Babel V. 33 „Löwengraben, bei L. heißt 
es: in der Löwengraben, warum die recepta ändern?“ 
Deswegen, weil der Ausdruck in Graben bringen 
nicht ſprachrichtig iſt und man doch auch nicht fehreiben 
wollte: in den Graben der Löwen. Dazu kommt, daß 
Luther ſelbſt in den erſten zwei Ausgaben der Bibel gehabt 
hat: jnn den Lewen graben, und zwar geht eben 
aus dem Artikel den unzweifelhaft hervor, daß hier trotz 
der getrennten Schreibart ein zuſammengeſetztes Wort zu 
finden iſt, während in der von J. zu Ser. 7, 18. erwähn- 
ten Variante: der Himmel Königin der Artikel auch 
zu Himmel, wenn dasſelbe als sun gefaßt wird, 
gehören kann. 

Gebet Manafjes V. 3. gebunden — leichtere — ver⸗ 

regelt.“ Es fragt ſich bier zuerſt: Aus welchem Text 
hat Luther das Gebet Manaſſes überſetzt, aus dem griechi— 
ſchen oder dem lateiniſchen Tert? Dabei iſt zu bemerken, 
daß die editio Clementina oder die jetige offizielle Aus: 
gabe der Vulgata das Gebet Manaſſes nicht enthält, weil 
es befanntlich von dem Tridentiner Konzil verworfen wurde. 
Ich konſtatiere aber, daß die Iutherifche Überfegung wört- 
ih mit demjenigen lateinifchen Terte übereinjtimmt, den 
ih in der auf der Stuttgarter Bibliofhef befindlichen, im 
Sahr 1527 zu Köln erfchienene Ausgabe der Vulgata von 
Rutelius gefunden habe. Diefer Tert hat insbefondere 
die Worte qui signasti im Anfang von V. 3 — haft 
verfiegelt, während der griedhifche Tert zeöncac hat 
und Fritzſche als lateinifche Lesart anführt ligasti. Wenn 
man nun der Meinung it, daß verfiegeln, — obſchon 
es Luther nicht willführlich hineingefegt hat, doch deshalb 
weniger paſſend fei, weil das gleiche Wort in demfelben 
Vers noch einmal vorfommt, fo fann man nur nad) Der 
griechiſchen Lesart nedyoas und der damit übereinjtimmen= 
den lateinischen Lesart ligasti gebunden. überfegen. 

2.6. „unermeßlich — hat L. nicht, fondern unmeßlich, vgl. 
Ser. 52, 20., Bar. 3, 25. 2. hat: hier unmeffig, in Der 
in der Var. unermefjen, was fich empfiehlt.” Da das im 


Matth. 


Luc. 1, 


1 Kor. 


Über den Artikel v. Jehle „DieLutheranität d. Probebibel.* 263 


Tert ſtehende unmäßig änderungäbedürftig zu fein ſchien, 
feste man für da3 lateinifche immensus und das griechtiche 
auerontog unermeßlich in der Wortform, die ſich Ser. 
52, 20. und Bar. 3, 25. in der Ganfteinfchen Ausgabe 
findet. Bei der Redaktion aber ftellte Dr. Frommann in 
den angeführten zwei Stellen die Iutherifche Wortform her, 
und eine Verhandlung zwifchen mir und ihm über unjere 
Stelle fand nicht Statt; ſonſt hätte ich feinen Anſtand ge: 
nommen, zur Konformierung derfelben mit den andern zwei 
Stellen meine Einwilligung zu geben. Einen ähnlichen 
Entitehungsgrund hat auch die von J. zu Ser. 8, 15. 
erwähnte Ungleichheit dieſes Verſes mit Ser. 14, 19. 
Menn aber Luther in feiner Unterweifung, wie man beich— 
ten foll, unermeſſen geſetzt hat, fo hat er fpäter in der 
Bibel nicht ohne Grund einen Ausdrud vorgezogen, welcher 
die Barmherzigkeit Gottes als eine ſolche bezeichnet, die 
nicht bloß nicht gemefjen worden ift, fondern nicht gemefjen 
werden Fann. 

15, 19. „Warum ändern?” Da Luther von dem Wort 
Mord an fonjt den Singular fest, obſchon im Griechi— 
jhen lauter Bluralia jtehen, fo it dem Canſteinſchen 
falſche Zeugnifje der Singular falſches Zeugnis 
vorzuziehen. Übrigens ift es nicht einmal ficher, daß 
Luthers falfhe Gezeugnis Plural ift, es kann auch 
Singular fein, wobei Gezeugnis als Feminium fon: 
jtruiert wäre. 

8. „Was ift gegen %. geändert?“. Luther hat in der Aus- 
gabe von 1545: Prieftersampt, die Canfteinfche Aus: 
gabe: des PBriejteramts: Da der Artifel des recipier- 
ten Textes gejtrichen, der Genitiv aber beibehalten wurde, 
war das Wort nad) der fonftigen Übung fett zu druden. 
10, 11. „Was ift gegen 2. geändert? Die Bar. haben 
ja jenen”. Es findet nad) dem Bindfeilfchen Varianten- 
‚verzeichnis in den verfchievenen Ausgaben des Zuthertertes 
ein Schwanten ftatt zwifchen yhenen, jhenen, jenen 
und jnen; die legtere Form jteht in der Ausgabe von 
1545, und die Ganfteinfche Ausgabe hat dafür mit Necht 


264 Schröder 


ihnen gedruckt (vgl. z. B. Joh. 17, 26. Luther: ih in 
jnen). Wenn nun griechiſchen exeivorg entſprechend 
— geſetzt wurde, ſo war dieſe Änderung als eine nach 
dem Grundtert gemachte fett zu drucken, und konnte auch 
nicht als eine Rückkehr zum Texte von 1545 bezeichnet 
werden. (Vgl. was ich über die Bedeutung der Bezeichnung 
zu Meisheit 1, 1. bemerkt habe). Dabei will ich unent- 
ſchieden laffen, ob es als ein bloßer Drudfehler anzufehen 
fei, daß die Lesart von 1543 jenen in der Ausgabe von 
1545 in jnen umgeändert wurde, oder ob die Umänder— 
ung mit Abficht, nämlich der Abwechslung wegen geichah, 
weil V. 8. 9. 10. avroı mit jene überſetzt ift. 

Gal. 4, 25. „übereintommen — hat L. nidt. Er überjegt 
nach der Vulgata, vgl. übrigens feine Erklärung des Brief3. 
Nah Mark. 14, 56. übereinjtimmen, oder befjer: entjpre: 
hen. Oder nad 2 Kor. 6, 16.: hat eine Gleiche mit.” 
Luthers Überfeßung: und langet bis gen Jeruſa— 
lem hat zwei ehler, fürs erite faßt er ala Subjekt des 
Sates den auch Hagar genannten Berg Sinai, fürs zweite 
faßt er im Zufammenhang damit avoroysı im geogra= 
phifhen Sinn, während das lettere Wort nad) dem rich: 
tigen Sinne nit auf eine örtlihe Nähe, jondern auf 
eine begriffliche Ähnlichkeit zu beziehen ift, und das Sub: 
jeft des Satzes die allegoriſch gefaßte Perſon der Hagar 
jelbit it oder der durch Hagar ‚bedeutete Bund. Zum 
eriteren Fehler wurde Luther durch die Vulgata veranlagt, 
welche in Übereinjtimmung mit einer vom recipierten grie- 
chiſchen Terte abweichenden Lesart, in welcher das Mort 
Ayao fehlt, überfeßt: Sina enim mons est in Arabia, qui 
conjunctus est ei, quae nunc est Jerusalem et servit cum 
filis suis, Was dann aber den Sinn von conjunetus 
est betrifft, fo will ich zwar die Überfegung von Allioli: 

„denn Sinai iſt ein Berg in Arabien, der in Verbindung 
mit dem jeßigen Serufalem ift, das mit feinen Kindern 
dienet“ und die von ihm gegebene Erklärung: „der Sinai 
ift ein Berg Arabiens, des Landes, aus dem die Sklaven 
bezogen werden, und et ift darum in Verbindung oder hat 


20 a 


Über den Artikel v. Jehle „Die Qutheranität d. Brobebibel.“ 265 


eine Ähnlichkeit mit dem jegigen Jerufalem, der jüdischen 
Kirche, die dem Gefege dienjtbar iſt“, nicht ald dem Mort- 
laut der Vulgata zumiderlaufend bezeichnen, aber Luther 
bezieht in feinem Eleineren im Jahr 1519 zum erjten Mal 
erfchienenen Kommentar zum alaterbrief den Ausdrud 
qui conjunetus est auf geographifche Nachbarfchaft, indem 
er zur Bergleihung zwei andere Ausdrüde, die Hierony: 
mu3 in feinem Kommentar gebraude, anführt: qui con- 
terminatus est und qui confinis est, für fich ſelbſt aber 
die geographifche Nähe jo erklärt, quod Judea (in qua 
est (lierusalem velut medio) et Arabia deserta (in qua 
est sina mons) sunt confines. In der deutjchen Über: 
jegung nun ſowohl des neuen Teſtaments als der ganzen 
Bibel macht Luther nad) dem recipierten griechischen Terte, 
den er in der Ausgabe des Erasmus vorfand, Hagar 
zum Subjeft oder auch zum Prädikat in V. 25b und über- 
jegt dann V. 25b und langet bis gen Serufalem, 
wo der Wortinhalt deutlicdy zeigt, daß Luther den Hagar 
genannten Berg Sinai bis in die Nähe von Jeruſalem 
ſich eritreden läßt. So hat er dann auch in dem größe: 
ren 1535 zuerſt erfchienenen Kommentar zum Galaterbrief 
die Überfegung: Nam in Arabia Sina mons Agar dieitur, 
et pertingit usque ad Jerusalem, mit der Erklärung: 
certe verum est, quod continua montana sint ab Arabia 
petrea usque ad Cadesbamea Jude. Im Berlauf der 
Ausführung jest er dann pertinere jtatt pertingere und 
faßt erjtereß begrifflih, indem er von Serufalem jagt: 
pertinet ad Agar, quia in ea exercetur regnum Agar. 
Über das Verhältnis nun, in welchem der Text der Probe: 
bibel zum Luthertert in diefem Verſe fteht, war in der 
fonfervativen Monatsſchrift zu lefen, die Berichtigung 
 Iommt überein mit Serufalem fei von geringem 
Wert, weil man diefelbe ebenfo wohl erklären müfje ala die 
Zutherüberfegung jelbit, wenn ſie der Leſer verjtehen folle. 
Allein die letztere fann man gar nicht wirklich erklären, 
wenn man nicht geradezu jagt, fie jet falſch, nämlich teils 
geographiſch falſch, teils (bei näherem Eingehen auf Luthers 


266 


Schröder 


Erklärungsverſuche) hermeneutiih falſch. Deshalb erfor: 
dert es die Pietät gegen Luther, bier eine Berichtigung 
eintreten zu lajjen und zwar nicht bloß in einer Anmerf- 
ung, fondern fo, daß Luthers Überſetzung diefer Stelle 
aus dem Tert verfchwindet. Jehle ſeinerſeits ſcheint aller: 
dings gegen die Entfernung des lutherifhen langet bis 
gen Jeruſalem feine Einwendung zu erheben, er fchlägt 
nur andere Mendungen vor. Darüber habe ich zu bemer- 
fen: Der Antrag fommt überein mit Serufalem 
wurde einjtimmig angenommen, nachdem ein Berbeflerungs- 
vorſchlag, gleichet Jeruſalem zu fehreiben, mit Stim— 
mengleichheit abgelehnt worden war. Andere Vorjchläge 
famen nicht zur Abſtimmung; ſoviel ich mich aber erinnere, 
wurde bei der Verhandlung davon geredet, daß über- 
einfommen beſſer fei ala übereinitimmen, meil das 
leßtere eher von Worten ald von Sachen gejagt werden 
fönne, auch wurde geäußert, entſprechen wäre eigent- 
lich die richtigfte Überfegung, der Ausdrud fei aber nicht 
populär genug. Wenn jedoch die konſervative Monatö- 
Schrift recht hätte mit ihrer Behauptung, daß man über: 
einfommen durdhaus nicht veritehen könne, fo möchte 
ich allerdings fat bedauern, daß man nicht lieber vollends 
entſprechen geſetzt hat. 


Eph. 3, 19. „Nach Hopf heißt es bei L.: die doch alle Erkennt— 


3,19. 


nis“. Das it richtig, und fo ſteht der Satz aud in der 
Ganjteinshen Ausgabe. Aber die MWeglafjung von dod 
in der Probebibel gefchah nicht etwa aus Verſehen, fon- 
dern die neuteltamentliche Revifionstommiffion verband mit 
dem Beſchluß, diefe Überfegung in den Tert aufzunshmen, 
den andern, Daß das im Grundtert nicht begründete do dh 
zu tilgen fei. 

„Scott fagt ausdrüdlic, die Überfegung: Chriftum Lieb 
haben 2c. jei nicht von Luther.” Der Zweifel iſt nicht 
begründet; denn diefe Überſetzung fteht nicht nur in der 
Ausgabe von 1545, fondern fie wird aud in der Rand— 
glojje erklärt, und Hörer zählt fie in der Nachſchrift zu 
der Ausgabe von 1545 unter denjenigen Stellen auf 


Über den Artifel v. Zehle „Die Lutheranität d. Probebibel.“ 267 


welche der Herr Doktor in diefem Drud klarer und deut: 

licher verdeutfcht habe, denn zuvor, und welche er anzeige, 
daß, wer da wolle, feine Bibel nad diefem Drud forri- 
gieren möge. Wie hätte Rörer fo reden und auftreten 
fünnen, wenn er fich nicht wenigſtens der Zuftimmung 
Luthers verfichert hätte? Etwas anderes dagegen iſt es 
mit denjenigen Anderungen, welche Rörer nad Luthers 
Tod in die Ausgabe von 1546 hineingebradht hat. 

Eph. 5, 16. „ausfaufen — hat 2. in der Bibel nit. Die 
Anderung ift unnötig; denn Quther hat mit feiner Über: 
jegung ganz denjelben Sinn verbunden.” Schon Mönde- 
berg hat in feinen VBorfchlägen vom Jahr 1861 beantragt, 
die frühere Überfegung Luthers löfet die Zeit aus 
wieder aufzunehmen. Die Revifionsfommiffion beichloß, 
faufet die Zeit aus zu fchreiben, und lehnte dabei den 
Antrag, Luthers Überfegung daneben am Rand zu erhal: 
ten, ab, übrigens unter der Vorausfegung, daß der hier 
ausgeſprochene Gedanke Röm. 12, 11. im Texte bleibe. 
Bei der zweiten Leſung jodann wurde zur Erwägung ge- 
geben, ob nicht zu jchreiben jet: brauchet der Zeit, 
aber ein hierauf gerichteter Antrag abgelehnt. Die Revi— 
fionsfommiffion war nicht der Meinung, daß Luthers Über: 
jegung eigentlich falfch fei, aber fie hielt e& für unange— 
meſſen, daß dovisvev ro xaım Röm. 12, 11. und 
egayooafeodaı rov xaoovr Eph. 5, 16. und Kol. 4, 5. 
gleich überſetzt werde, und glaubte, daß die wörtliche Über- 
jegung gerade von praftiichen Geiftlichen im Intereſſe der 
leichteren Erklärung des Spruchs und der Anmendung 
desfelben auf die Verhältniffe des Lebens werde willkom— 
men geheißen werden. Der Ausdrud ſich in die Zeit 
ſchicken bezeichnet ja nad unferem Spracgebraud mehr 
das richtige paffive Verhalten zu der Zeit, daß man die 
übeln Zeitverhältnijje geduldig erträgt, und das iſt an ſich 
jelbjt ein wahrer und frudhtbarer Gedanfe, es Tann aber 
diefer Ausdrud nah dem Grundtert und nad dem Sinne 
Zuthers ſelbſt auch jo gewendet werden, daß dadurch zu: 
gleich ein mehr aktives Verhalten angedeutet wird. Allein 


268 


Schröder 


da einmal der Gebrauch der Zeit hier im Grundtert unter 
dem Bild des Ausfaufens dargeitellt wird, jo wäre es nicht 
zu billigen, wenn man diefen für die Darftellung des afti- 
ven Verhaltens zu der Zeit wichtigen Begriff, welcher 
zeigt, daß man die gegebenen Zeitumjtände mit Weisheit 
und Eifer, mit der gehörigen Unterfcheidung und fo voll: 
ftändig als möglich zu feinem eigenen Heil und zum Wohle 
des Nächſten gebrauden und ausnügen müjje, für den 
deutichen Leſer wollte verloren gehen lajjen.. 


Phil. 3, 14. Daß nad den Worten „Die himmlifche Berufung“ 


der Genitiv Gottes fehlt, beruht auf einem Drudfehler. 


1 Thefl. 5, 8. „Krebs wünſcht Hopf beizubehalten‘. Auch Dr. 


M. Rieger fprieht fi in feinem intereffanten, der deutjch- 
romanischen Sektion der Philologenverfammlung erjtatteten 
Gutachten über die Behandlung der Sprache in der ‘Probe: 
bibel gegen die Erſetzung des Wortes Krebs durch 
Panzer aus, und jagt hiezu in einer Anmerkung: „Gleich 
vor dem Krebs, Eph. 6, 11. 13. iſt zweimal Luthers 
Harniſch für navonkıa in die Probebibel übergegangen, 
obgleich dieſes Wort für uns nur fo viel wie der erit 
B. 14 erwähnte IJwpaf, olim Krebs, jett Panzer bedeutet. 
Das bringt denn die ganze Stelle in Verwirrung, und 
man erjieht nicht einmal aus dem Glofjar, daß Harniſch 


bier jo viel als Rüſtung iſt.“ Sch Habe mir erlaubt, 


diefe Ausführung Riegers in meine Abhandlung zu ver: 
weben, weil fie mir Anlaß giebt, auf eine Stelle der 
Zutherbibel hinzumeifen, welche uns zeigt, wie man dem 
gerügten Übelftand betreffend die Bedeutung des Wortes 
Harnifch vielleicht abhelfen könnte, nämlich 2 Maff. 3, 25., 
wo Luther die Worte Xovonr navondıev überſetzt hat: 
einen ganzen güldenen Harnifd. Die Canitein- 
iche Ausgabe hat: einen ganz goldenen Harnifch, wir be- 
ihloffen das Wort ganz einfach zu ftreichen, weil in 
diefer Stelle nicht viel darauf anfommt, ob das Mort 
Harniſch im engern oder im weitern Sinn gefaßt wird, und 
weil wir. befürdhteten, bei Wiederherftellung der Luther: 
lesart würde fih das Canſteinſche Mikverjtändnis immer 


Tit. 3, 


Über den Artikel v. Jehle „Die Lutheranität d. Probebibel.“ 269 


wieder geltend machen (wenn man nicht etwa fegen würde: 
einen goldenen ganzen Harniſch). Für die Epheferftelle 
dagegen, menigitens V. 13 wäre die Faſſung den ganzen 
Harniſch Gottes immerhin ein Mittel, um ohne die 
Anderung des Ausdruds Harnifch felbit es anzudeuten, 
daß hier nicht der Bruftharnifch, fondern die ganze Waffen: 
rüftung gemeint fei, deren einzelne Bejtandteile in den 
folgenden Verſen aus einander gelegt werden. 

3. „verhaßt — hat. nidt. Bengel: feindfelig. Oder 
nad der Var.: häßig, häßiglich, häßlich.“ Die Überfeb- 
ung von orvynrce mit feindfelig wäre nicht zu em: 
pfehlen, meil diefes Wort heutzutage mehr in aftivem 
Sinne gebraucht wird, und deshalb in manchen Stellen, 
wo Luther es hat, geändert wurde (vgl. 5 Mof. 21, 15. 
Spr. 30, 23.). Was aber die in den früheren Ausgaben 
des neuen Teſtaments jtehende Überfegung „waren heflich 
und heſſig unter einander“ betrifft, jo halte ih heßlich 
für die Überfegung von aruynror und heffig für die 
Überfesung von uioovvrec, und glaube, daß bei der 1530 
gefchehenen Umänderung von heſſig unter einander 
in haffeten uns unter einander die vorgehenden 
Worte waren heßlich aus Berfehen weggefallen find. 
Ich meinesteild hätte gegen die Erjegung des Wortes 
verhaßt duch häßlich, eventuell auch gegen eine Wie— 
derheritellung der alten Zutherüberfegung in der Form: 
waren häßlich und gehäffig gegen einander nidts 
einzumenden. 


Dff. Joh. 9, 17. „bläulih — hat 2. richt, warum nicht blau ?* 


Die altteftamentlihe Reviſionskommiſſion, welche dieſe 
Anderung nachträglich ins neue Teftament eintrug, (vgl. 
meinen Borberiht $ 3), hat hier bläulich dem ſonſt 
gefegten blau vorgezogen, weil, wie die feurigen Panzer 
der Reiter dem aus dem Munde der Rofje gehenden Feuer 
und die fchwefelichten Panzer dem Schwefel, jo die hya— 
zinthfarbigen Panzer dem Rauch entſprechen, der Rauch 
aber nicht blau iſt, ſondern eher bläulich. 


270 


Schröder 


13, 8,, 21, 27. „Lebensbuch — hat 2. nidt. Bengel: in 


dem Buche des Lebens des L.; ebenfo noch neuejtens die 
Zürd. B.“ Man wollte den Ausdrud lebendiges 
Bud entfernen, und ich erinnere mich noch lebhaft, wie 
jelbjt der felige Niemann, der möglichft auf Erhaltung des 
Zuthertertes bedacht war, erflärte, es ſei allerdings nicht 
paffend, von einem lebendigen Buche zu reden. Nun wäre 
es freilich das nächſte geweſen, Bud des Lebens zu 
jegen, aber warum hat denn Luther diefen Ausdrud, den 
er font gebraucht, hier vermieden? Gewiß deshalb, weil 
er dachte, Buch des Lebens des Lammes heiße jo viel 
al3 Bud, welches vom Leben des Lammes handelt. Eben- 
darum nun, damit der Begriff des Leben? zu Buch be- 
zogen wird und nicht zu Lamm, wurde das zujammen- 
gefegte Mort Lebensbuch vorgezogen. Daß übrigens 
Luther felbjt nicht bloß die in der Sprache bereit3 gebil- 
deten composita gebrauchte, ſondern auch offenbar neue 
composita für eine bejtimmte Stelle zu bilden nicht ganz 
unterlafjen hat, zeigt 3. B. 2 Mof. 4, 26.: Blutbräutigam, 
Joſ. 6, 5.: das (Canſt.: des) Halljarshorn, Sad. 11, 17.: 
Gögenhirten, und das letztere Wort ift nicht einmal glüd- 
lidy gebildet, weil es undeutlih ift; denn Götzen tit hier 
nicht Genitiv, ſondern Appofition zu Hirten, mie Zuther 
jelbjt in feinem Kommentar das Wort erklärt: „Gößen- 
bitten d. i. die nicht lebendige Hirten find, die ihr Amt 
thun mochten, fondern fißen wie die Gößen, und lafjen 
ihnen dienen“. Im revidierten Tert wurde deshalb un- 
nüße Hirten dafür geſetzt. 


Wie fteht e8 nun, fo frage ich noch zum Schluffe, nad) Jehles 


und nad) meinem Urteil mit der Zutheranität der Probebibel? %. 
jagt in der Einleitung zu feinem Aufſatz, nah ©. LXI des Vor: 
berichts und nad den fonftigen Äußerungen von Kommiffiong- 
mitgliedern könnte es fcheinen, alö ob der unlutheriſchen Ausdrüde 
verfchwindend wenige wären und für diefe mit aller Mühe fich 
feine lutheriihe Faſſung finden ließe. Und am Schluß jagt er, 
indem er ſich erjt noch mild ausvrüdt, wenn von den gemachten 
Ausjtellungen auch nur der zehnte Teil ald wirklich zutreffend 


Über den Artikel v. Zehle „Die Lutheranität d. Brobebibel.“ 271 


anerfannt werden müſſe, jo ſtehe in diefem Punkt die Lutheranität 
der Probebibel nicht ganz feit. Nun, wenn ich in meinem Vor— 
beriht $ 12 Nr. 5 von wenigen in der Bibel oder in anderen 
Schriften Luthers nicht vorfommenden Wörtern rede, die in die 
gemachten Änderungen aufgenommen worden feien, und einzelne 
davon als Beijpiele anführe, jo dachte ich dabei 1. überhaupt nur 
an verhältnismäßig wenige derartige Wörter, die freilih, wenn 
man einmal anfängt zu zählen, ſich auch fummieren. Daß aber 
gefragt wird, ob in den verfchiedenen einzelnen Fällen eine an ſich 
wünfchenswerte Anderung nicht noch mehr als gefchehen ift, dem 
lutheriihen Sprachgebrauch angepaßt werden fönne, halte ich nicht 
nur für berechtigt, jondern habe auch durch die Erwähnung dieſes 
Punktes im Vorbericht indireft dazu aufgefordert. 2, Meine in 
8 12 gemachte Außerung bezieht fi) dem Zufammenhang gemäß 
eigentlih nur auf die Berichtigungen nad dem Grundtert, deren 
Vornahme vorzugsmeife die Aufgabe der Reviſionskommiſſion war. 
In den vorangehenden Varagraphen habe ich von der fpradjlichen 
Reviſion und von einer zu der ſprachlichen Revifion hinzulommen- 
den neuen Recenfion des LZutherterte geredet. Wenn man nun 
aber die Lutherfprache als folche ändern will, fo wird man da: 
durch notmendigerweife zu vielen Abweichungen von Luthers 
Sprachgebrauch veranlaßt. In einzelnen Fällen fann man freilich 
auch hier einen dem jeßigen Sprachgebrauch entfprechenden Auss 
drud in der Zutherbibel finden, wie z. B. Luther jelbjt das griechi— 
ſche Wort Ywpa& nicht bloß mit Krebs, fondern auch mit Panzer 
überfegt, aber in vielen Fällen bietet eben Luther nicht dad ent: 
Iprechende Wort, und wie Luther ſelbſt in der Wahl der Ausdrüde 
oft einen Wechfel eintreten läßt, jo muß man in die Bibeljpracdhe, 
wenn man eine Anzahl von Ausdrüden daraus entfernt, ſchon 
um des Bebürfniffes der Abwechslung willen eine Anzahl neuer 
Ausdrüde einführen. 3. Auch bei denjenigen Änderungen, die als 
eigentliche Berichtigungen nad) dem Grundtert vorzunehmen waren, 
mwendeten wir feinen fo engen Begriff von der Lutheranität der 
Bibelſprache an wie Jehle. Ach bin weit entfernt, Jehles Unter: 
ſuchung, wie er felbft befürchtet, den Vorwurf der Kleinigfeitd- 
främerei zu machen, fondern ſchätze feine Genauigkeit. Aber wenn 
man meint, eine Konftruftion müſſe nicht nur aus Lutherworten 


272 Fiſcher 


gebildet ſein, ſondern in der Zuſammenſtellung gerade derſelben 
Worte irgend wo bei Luther ſelbſt ſich finden, und ein Wort 
müſſe nicht nur im allgemeinen lutheriſch ſein, ſondern ganz in 
derſelben Bedeutung und in demſelben casus und numerus bei 
Luther vorfommend ſich nachweiſen lafjen, ſo erjchwert das nicht 
nur die Revifion der Lutherbibel auf unnötige Weiſe, ſondern 
führt auch, wie ich an Beiſpielen nachgewiefen habe, leicht zu noch 
größeren Abweichungen von den Ausdrüden, melde Luther felbit 
in den betreffenden Stellen angewendet hat. Auf feinen Fall aber 
darf man Lutherüberfegungen aus anderen Stellen in jolche ein- 
tragen, welche im Grundtert einen andern Sinn haben. 4. Eine 
Revifion der lutherifchen Bibelüberfegung könnte auf die Weiſe, 
wie fie einmal beabfichtigt it, nach Jehles Prinzipien eigentlich 
gar nicht ausgeführt werden, und es bliebe, wenn nicht eine freiere 
Bewegung in der Sprache geftattet wäre, den Freunden der Re— 
vifion, welche fich über die neben allen Borzügen thatfächlich vor: 
handenen Schwächen und Fehler der lutherifchen Bibelüberfegung 
und auch über die Unverftändlichfeit eines Teils ihrer ſprachlichen 
Ausdrüde für die jebige Zeit Feiner Täuſchung hingeben, nur Die 
Mahl übrig zwiſchen einem etwa in der Interpunktion, Ortho— 
graphie und den Deklinationd: und Konjugationsformen geänder: 
ten, fonjt aber getreuen und mit einer größeren oder Fleineren 
Anzahl erläuternder und berichtigender Anmerkungen verjehenen Ab— 
drud der Originalausgabe von 1545 und zwiſchen einer neuen 
weder in der Sprache noch im Inhalt mehr als fich von jelbit 
ergiebt, auf Luthers Vorgang Rückſicht nehmenden Überfegung. 
Eine Erörterung über die Frage aber, mit welcher Art von be- 
richtigter Überfegung dem Bedürfnis der evangeliihen Kirche am 
beiten gedient werde, liegt außerhalb der Grenzen der gegenmwär- 
tigen Abhandlung und wohl aud des Zwedes diefer Zeitſchrift. 





Bu Röm. 2, 13 fl. 


Bon Helfer ZFiſcher in Bönnigheim. 





Iſt mit dem Satze Röm. 2, 13.: oı noınrau vouov dıxaum- 
+noovraı, vom Apoftel eine definitive Norm für das Beftehen im 


Zu Röm. 2, 13 ff. 273 


Endgeriht aufgeftellt, und in welcher Hinficht wird dieſelbe in 
den folgenden Verſen erläutert ? 

Diefe Frage möchte ih im Folgenden in wefentlicher 
Übereinjtimmung mit Michelſens Auffag in der Zeitfchrift für 
kirchliche Wiſſenſchaft und firchliches Leben, 1883, Heft VI, und 
m Auseinanderſetzung mit einigen neueren Erklärungen des Römer: 
briefes reſp. der betreffenden Stelle beantworten. Unter den 
neueren Erklärern des Römerbriefs madt befanntlid Bed mit 
beſonderem Nahdrud Ernft mit dem vom Apoſtel Römer 2,13. 
aufgeitellten Grundſatz, daß (nur) die Thäter des Geſetzes im 
Endgeriht als gerecht anerfannt werden. Er weist mit Recht fo- 
wohl die gewöhnliche Annahme ab, als handle es fich hier um 
eine zwar an fich giltige, aber infolge der Sünde nicht zur An— 
wendung fommende, durch die Gnadenordnung aufgehobene gött- 
liche Nechtönorm, ala aucd die neuerdings von Ritſchl u. a. 
vertretene Meinung, der in Röm. 2, 13. enthaltene Grundfat 
werde überhaupt nur hypothetiſch und dialektifh zum Zweck der 
Widerlegung jeglichen Rechtsanſpruches vom Apojtel aufgeftellt, 
habe alfo in Wahrheit überhaupt feine Giltigfeit bei Gott, da er 
eine Rechtsnorm ſei, Gott aber ein Gott der Gnade, und Necht 
und Gnade fich ausjchliegen. Aber in Wahrheit redet Paulus im 
ganzen Zufammenhang mit jo feierlichem Ernft, er zeigt V. 6—10, 
wo er dem erniten, treuen fittlich-veligiöfen Streben und Arbeiten 
Ewigkeitslohn verheißt, ein fo tiefes und inniges Mohlgefallen 
an einem von Gott gefrönten Lebenswerk, daß die Meinung, er 
vede hier von einem nach feiner Überzeugung bei den betreffenden 
Suden und Hellenen niemal& eintretenden Fall, ganz unwahr: 
fcheinlih und unnatürlih if. Dem Inhalt von V. 7 und 10 
entjpriht aber V. 13b. Diejenigen, deren Grundcharafter Die 
vrouovn Eoyov ayadov und das zoyalcsodaı ro ayalor 
bezeichnet, können ficherlich im entfprechenden Zufammenhang aud) 
als Toımraı vonov bezeichnet werden; und die Erteilung der Son 
arovıog jeßt die dıxuıworg, dad Gerechtbefundenmwerden im End- 
gericht, voraus. Wenn daher V. 7. und 10 ernjt zu nehmen find, 
jo iſt auch die Norm giltig: oı noımraı vouov dixaımdmoorraı. 
Diefe Norm, recht verjtanden, ſtimmt auch wohl zufammen mit 
dem jonjtigen Lehren des Apojtels. Denn freilich die auf den 


Theol. Studien a. W. VII. Jahrg. 18 


274 Fiſcher 


Glauben hin erfolgende und ein neues Leben in Chriſto begrün— 
dende Rechtfertigung und das dieſer vorausgehende äußerliche 
Thun der Werke des Geſetzes haben nach pauliniſcher Grund— 
anſchauung keinerlei poſitive Beziehung zueinander; dieſe dıxauo- 
og erfolgt Xwgıs epyav vouou; aber es ſteht auch dem Apoſtel 
im ganzen zweiten Kapitel vielmehr dad Endgericht (B. 5) und 
das Beſtehen reſp. Nichtbeftehen im Endgericht vor der Seele. 
Daß aber für diefes die Werke, felbftverftändlich nicht losgelöst 
vom Glauben, fondern nur als Frucht des in ihnen ſich dar— 
jtellenden Glaubens den Maßſtab bilden, das ift die Lehre des 
gelamten Neuen Teitaments, aud) des Paulus ſelbſt (2 Cor. 5, 10., 
Sal. 6, 8., vgl. Bed, Erklärung des Römerbriefs I, 187 ff.) 
Wenn Kähler (Studien und Kritifen 1874 ©. 261 ff.) ein- 
wendet, das Bejtehen im Endgericht werde nirgends beim Apojtel 
mit dem Ausdrud dixauvodaı bezeichnet, weil das duxarovv 
beim Glaubigen ja ſchon vollzogen jei, jo gibt er doch jelber zu, 
daß der Ausdrud dıxaoı xaraoradnoovraı R. 5, 19. dem 
Inhalt nach dasselbe befagen dürfte. Und wie an unferer Stelle, 
jo ift auch an diefer, wo der Apoſtel das Ziel befchreibt, das den 
Gläubigen durch Chriftum verbürgt ift, die Heiligung bei der 
dıxaımoıg am Endgericht vorausgefegt. Der bejondere Ausdrud 
aber: oı noınraı vouov dixauwänoovraı geht eben an unjrer 
Stelle auf die jüdische Ausdrudsmweife ein, um gerade diefe Norm, 
nah dem Evangelium (V. 16) verftanden, als eine allgemein: 
giltige und unparteiifche darzuftellen und fo gerade durch fie die 
ſtolzen Anſprüche und Einbildungen der Juden niederzufchlagen. 
Bon Thätern des Gefetes redet der Apoſtel aud V. 27; jie wer: 
den die bloßen Hörer richten, alfo doch wohl felbft. im Gericht 
beftehen, mit andern Worten: von Gott als gerecht anerkannt 
werden: 0: nomraı vouov dixawdnoovrau Werkgerechtigkeit 
fann ſich ja feine dabei einfchleihen; denn ihre dırauwovrn tit 
und bleibt im vollen Sinne eine dıxauwovvn ex Fsov (vgl. Eph. 
3, 8—10). Bed bezieht nun freilich feinerfeit3 die Stelle Röm. 
2, 7 fi. und 13. weſentlich auf das im Gericht göttliche Aner- 
fennung findende fittlich=religiöfe Streben aller noch nicht von 
Chriſto berufener Juden und Heiden. Aber auch feine Meinung 
fann unmöglich richtig fein. Denn wenn doch Röm. 5, 18., 3, 20. 


Bu Röm. 2, 13 ff. 275 


unbejtritten dem Nachweiſe dienen fol, daß Juden und Heiden 
die Erlangung des Heiles betreffend in negativer Hinficht darin 
einander gleich jind, daß feiner von beiden Teilen das Heil er- 
langen kann durch eigene Gerechtigkeit, jo kann unmöglich zwiſchen— 
hinein die Erlangung des Heiles für einzelne Juden oder gar 
Heiden durch eigenes jittliches Streben und kraft eigener Erfüllung 
des Gejeges behauptet werden. Bed jagt freilich, die in V. 7—10 
genannten guten Werke jeien eben die Frucht des fittlich-religiöjen- 
Ernftes, fie Schließen die gehorfame Hingebung oder den Glauben 
an das göttliche Gejeg ein und jeien darum präparatorifch für 
den chriſtlichen Glauben und fein Heil; zur’ rechten Zeit, jedenfalls 
aber im Endgericht wende fih dann die Gnade in Jeſu Ehrijto 
jolchen. Menfchen zu und vermittle- ihnen das Leben. Dies ift 
gewiß ein an fich richtiger, dem Neuen Teftament (vgl. Acta 10, 35) 
durchaus nicht fremder Gedanke; aber an unjere Stelle paßt er 
nicht, wie überhaupt Paulus, zumal auch im Römerbrief, gemäß 
feiner eigenen LZebenserfahrung \direft und ausgeſprochenermaßen 
niemals im eigenen vordhrijtlihen Streben und Thun eine pofi: 
tive Vorbereitung für das Heil in Ehrifto gefunden hat, jondern 
nur die negative präparatorifche Seite daran in Betracht zieht, 
Das pofitiv Geleiftete. aber nur am höchſten Maßſtab mißt und 
injofern für die Erlangung des Heiles in jeder Beziehung für 
wertlos erklärt (vgl. Röm. 7, Phil. 3, 4 ff) Zwifchen einer jo 
zermalmenden Charafterifierung des gejamten SHeidentums 
und feiner religiöfen und fittlihen Depravation, wie fie Röm. 1 
vorliegt, und der Fällung des Schlußurteils, daß alle, Juden und 
Heiden, unter der Sünde find, daf feiner gerecht it, auch nicht 
Einer, und aus dem Geſetz eben nichts kommt als Erkenntnis 
der Sünde, fann Paulus, der gerade das Evangelium als Die 
einzige dtwauıg &ıc oornorav rühmen will, nicht von einer Ka— 
tegorie Juden oder gar Heiden reden, die ohne den Ölauben an 
die Gnade Gottes - in Jeſu Chrifto eben doch auf Grund 
eigenen fittlichen Strebens und Leiſtens im göttlichen End— 
gericht als Thäter des Geſetzes gerecht befunden werden; 
(im edten Glauben der Altteftamentlic) = Frommen iſt der 
Slaube an Jeſus Chriftus ſchon mitgefegt Nömer 4.). 


18* 


276 Fiſcher 


Bed verdeckt ſich den in feiner Erklärung liegenden Wider— 
ſpruch gegen die ganze Beweisführung des Apoſtels auch nur durch 
(die gerade ethiſchem Intereſſe entipringende) Abſchwächung der in 
Betracht kommenden ethiſchen Begriffe und durch unberechtigte 
Änderung und Erweiterung des Begriffs von dıxewvv, In an: 
derem Zufammenhang macht er felbjt darauf aufmerffam, daß 
„zwar in diefer Meltzeit die Gerechtigkeit Gottes beim oexarovn 
nicht als richterlich vergeltende, fondern als rettende auftrete, daß 
fie dagegen im Endgericht ſich als rein judiziell erzeige“ Nun, 
dann fünnen weder Heiden noch Juden im Endgeridt als nurz,- 
rar vouov dinauovoda:, vielmehr märe im Sinn des Apoftels 
auch in jener Welt bei Juden und Heiden, die Chriftum nicht 
fennen lernten, für das dıxauovodtuı die gründliche enıyrogıc 
auaprıag zu allererft notwendig, die ja mit dem fittlihen Streben 
an ſich noch nicht gegeben ift, vielmehr durch den Glauben an das 
Evangelium von Jeſu Chrifto dem Gefreuzigten und Auferftan- 
denen mitbedingt iſt. Es können ſomit unter den Juvduwwı und 
EAkıveg, deren Ausdauer in einem guten Lebenswert Ewigkeits— 
Iohn erntet und die als Thäter des Geſetzes (val. Jak. 1,22. 25.) 
im Endgericht gerecht befunden werden, nur chriſtlich gewor— 
dene Juden und Hellenen veritanden fein; EAAnv,; und Tovdarog 
find alfo hier nur nod in nationalem oder hiftorifchem, nicht mehr, 
wenigjtens für die Gegenwart und Zukunft, um die es ſich han- 
delt, nicht mehr in religiöfem, den prinzipiellen Gegenſatz bezeich— 
nendem Sinne zu nehmen. Eben darum iſt es dem Apojtel im 
Verlauf des zweiten Kapitels (vgl. 3, 1.) zu thun, gerade auf 
Grund des Geſetzes an die Stelle des bisherigen Gegenſatzes 
von geſetzesſtolzen Juden und gefebesverachtenden Heiden den 
allgemeinen, weſentlichen Gegenjfat von mwahrhaftigen Thätern und 
thatfächlichen Übertretern des göttlichen Geſetzes zu ſetzen, mobei 
er nur erſt andeutet, woher die wahrhaftige Erfüllung des Gejeßes 
fommt (vgl. 2, 29., wo nepıruun xapdıag Ev nvevuarı nah 
der Grundanfhauung und dem Sprachgebrauch des Apoftel3 nur 
von Wiedergeborenen, von Chriften ausgefagt fein kann). Der 
Abſicht des Apoftels, die Gleichheit der Juden und Heiden vor 
Gott in Beziehung auf das Heil in Chrifto hervorzuheben, dient 
dann nichts jo fehr, als wenn den auf das Geſetz ſtolzen, aber 


Zu Röm. 2. 13 ff. 277 


dasselbe nicht erfüllenden Juden Heiden-(chriſten) (und zwar nicht 
nur hypothetiſch ſ. u.) gegenübergeftellt werden fönnen, die als 
folhe nicht im Befiße des Geſetzes find und doch dasfelbe im 
Geiſt und in der Wahrheit erfüllen. Indeſſen, wenn es hiernad) 
dem Apojtel Paulus Ernit ift mit dem Sat, daß die Thäter des 
Geſetzes im Endgericht für gerecht erklärt werden und wenn ihm 
offenbar dieſer pofitive, jo nachdrucksvoll in einem vollitändigen 
eigenen Sat ausgeſprochene Grundſatz jo wichtig iſt wie der nega- 
tive erite Teil des V. 13, mie fchließt ih V. 14 ff. mit feinem 
yap an DB. 13 an? In welcher Hinjicht erläutern diefe Verfe 
die vom Apoſtel Paulus als eine bleibend giltige aufgejtellte 
Norm? Der nädjite Eindrud, den die Stelle auf einen macht, 
ift ja gewiß der, daß hier begründet werden fol, inwiefern auch 
von evvr, der Sat gelten fann: oı numraı vouov dıxauıwdyro- 
ovru, Allein in der Borausfegung, daß mit edvn in ®. 14 
„Heiden“ gemeint jeien, und in der richtigen Einfiht, daß von 
Heiden Paulus nicht jagen fann, fie werden als Thäter des Ge- 

jeßes gerechtfertigt werden, gibt man diefem Eindrud gewöhnlich 
feine Folge. Ohnedies aber gehen ja die unter ji) mannigfach 
differierenden Ausleger von der unrichtigen Annahme aus, daß 
die zweite Hälfte des V. 13 nur eine abstrakte, in Wirklichkeit nicht 
zur Anwendung fommende Regel enthalte, es aljo dem Paulus 
mefentlih nur auf den Erweis der negativen Behauptung anfom- 
men fünne, daß die Hörer des Geſetzes rejp. die Juden als bloße 
Hörer ded Geſetzes vor Gott noch nicht gerecht feien. Hiernach 
foll V. 14 ff. nad Kühler a. a. DO. „die Bedeutungälofigkeit 
bloßer Kenntnis des göttlichen Willens auf Grund feiner Dffen- 
barung ind Licht ſetzen“, jofern auch die Heiden ſich dieſelbe der 
Erfahrung gemäß bis auf einen gemiljen Grad erſetzen Fünnen; 
oder es follen nad Weiß (Kommentar zum Römerbrief, ähnlich 
Godet) die Verfe beweiſen, „daß ja auch die Heiden eine Ana- 
logie des Geſetzes haben, alſo, wenn es auf den bloßen Gefeßes- 
bejit anfäme, vor Gott gerecht fein müßten, während doch auch, 
bei ihnen alle Selbitzurechnung nur danad) jtattfinde, ob fie die 
Forderung des Geſetzes erfüllt haben oder nicht.” Gegen ſolche 
und ähnliche Erklärungen des Zuſammenhangs ift, abgefehen von 
der unrichtigen Vorausſetzung, von der fie ausgehen, abgejehen 


278 Fiſcher 


von dem offenbaren Zwang, den ſie durch vollſtändige Einlegung 
des nach ihrer Meinung zu begründenden Gedankens: „auch die 
Heiden wären ſonſt gerecht“, dem Gedankenzuſammenhang, und 
dem Satzbau anthun (denn auch die Heiden haben ein Geſetz: 
müßte es weitergehen), noch Folgendes zu jagen: Der Sat, daß 
nicht die Hörer des Geſetzes vor Gott gerecht find, fondern nur 
die Thäter des Geſetzes für gerecht erklärt werden werden, ift an 
ſich jelbjt jo unmittelbar einleuchtend und fo unbeftreitbar, daß 
eine jolche mweithergeholte Begründung. desfelben als zwecklos er: 
ſcheint. Und obendrein erſchiene diefe Begründung den Juden gar 
nicht als jtihhaltig. Denn damit, daß die Heiden vereinzelte 
Stüde der Gejegeserfenntnis haben, die fie im vereinzelten Er— 
füllen einzelner Gebote zeigen, find fie den Juden, die das voll: 
fommene geoffenbarte Gottesgefeg haben, durchaus nicht gleich- 
geitellt; ein Schluß aber von der vereinzelten Erfüllung einzelner 
Gebote auf eine den Heiden innewohnende, dem Geſetz adäquate 
ideale Norm erjchtene den Juden als feineswegs begründet und 
wäre jo nicht imitande, daß xabxaodtaı £&v vouw unwirkſam 
zu machen. Der Gegenſatz zwiſchen Juden und Heiden, der für 
den gejeßesitolzgen Juden in Beziehung auf die Erlangung des 
Heiles bejteht, würde alfo auf diefe Weiſe nicht aufgehoben, fon- 
dern nur unzureichend und fünjtlich verdedt. Es wäre in prefärer 
und unrichtiger Weiſe eine mwejentlich pofitive Gleichheit der Juden 
und Heiden als jolcher dem Geſetz und feinem Inhalt gegenüber 
behauptet, während offenbar der Apojtel gegenüber der verfchiede: 
nen theoretifhen Stellung beider zum Geſetz . ihre gleiche 
praktiſche Verdammlichkeit aufzeigen will. Es iſt auch nod 
darauf aufmerkſam zu machen, daß von den Heiden gar nicht in 
ihrer Geſamtheit die Rede iſt, ſondern eben von den Fällen, wo 
Heiden dem Geſetz konform handeln; und auf dieſe Fälle (vvroı!) 
wird die Behauptung, daß fie jich Geſetz find, beſchränkt; ein 
allgemeiner Schluß wird daraus aud im Folgenden gar nicht 
gezogen. Nach den angeführten Erklärungen beftände ferner der 
Erweis, daß die betreffenden Heiden des Geſetzes Werk in ihren 
Herzen gefchrieben haben, eben in ihrem nuıeır ra Tov vouov; 
es fann aljo diefer Erweis und das zu ihm gehörende Mitzeugnis: 
ablegen des Gewiſſens und die Thätigfeit der Aoyıogoı nur als 


Zu Rom. 2, 13 ff. 279 


ein in der Gegenwart jtattfindender gedacht werden, während Pau— 
 lus nad) dem grammatifchen Zufammenhang das Zeugnis des 
Gewiffens und die Thätigkeit der Aoyıonuoı mejentlih auf 
den Tag des Gerichtes verlegt — eine Differenz, die durch 
ein vor &v nusoa hineingedachtes, aber eben nicht da— 
jtehendes „und zwar beſonders“ nicht ausgeglichen werden darf. 
Der Ausdrud: ra zovnra ToV avdoonov endlih, der die 
innere Herzensitellung bezeichnet, müßte jih auf die allgemeine 
innere Geſetzes- und Gemifjersthätigfeit beziehen; aber mit Necht 
jagt Kloftermann (Korrefturen zur bisherigen Erklärung des 
Nömerbriefs ©. 43 ff.): diefe notorifche Thatfache (daß die Heiden 
ein inneres Geſetz, ein Gewiſſen haben), it nit das xounrur, 
das an den Tag gebracht wird durch Gottes Gericht; fondern die 
innere fittliche Bechaffenheit des einzelnen Menfchen, der konkrete 
Inhalt der ovreiönoıg der einzelnen. Dieſe Einwendungen treffen 
zum Teil auh Meyers Erklärung, der mit Necht dad gewicht: 
volle oı noımrar vouov dixau@dnoovra durch V. 14 ff. be— 
gründet fein läßt, aber darin ebenfalls nur eine „prinzipielle Hegel“ 
dv. h. eine nicht wirflid zur Anwendung fommende Norm erblidt. 
Nah Meyer will Baulus beweifen, daß mit Fug und Necht diefer 
Grundfag auch auf die Heiden angewendet werden darf, Jofern 
aud) jie ein Geſetz und in diefem natürlichen Geſetz einen Erſatz 
für das pofitive haben. Indeß wäre dies, von obigen Einwänden 
abgejehen, doch ein Beweis für etwas, was in Wahrheit nicht 
dajteht, nemlich für die Berechtigung, daß aud die Heiden nad) 
einer Gejegesnorm gerichtet werden dürfen, während erklärt wer: 
den jollte, inwiefern ‚fie nach der Norm des Geſetzes, und zwar 
da jie ja den Juden gerade gleichgejtellt werden, des im ganzen 
Zujammenhang gemeinten göttlichen Geſetzes als Thäter diefes 
Geſetzes für gerecht erklärt werden fünnen. Denn was den nega- 
tiven Ausgang des Gerichts, das Verlorengehen betrifft, das doc) 
allein im Grunde auch nad Meyer, nur bei ihm für die Heiden, 
in abstracto begründet werden joll, jo ilt hierüber vielmehr jchon 
furz und bündig gejagt: awuu@g nuagrov, avoumg xuı arto- 
Aovvraı, und dies bedarf nad) Röm. 1 Feiner weiteren Erklärung 
mehr; die richtige Ergänzung dieſes Satzes aber jteht Römer 
3, 25. 26. So iſt denn aud Beds Erklärung unridtig, der 


280 Fiſcher 


durch V. 14 ff. direft das amodovvra. in V. 13 begründet fein 
läßt. Bed findet in V. 14 ff. den Beweis für die moralifche 
Verantwortlichfeit der Heiden, Indem er mit Necdt darauf hin- 
weist, daß der Ausdrud ra rov vonon srorsıv nicht heißen könne: 
einzelne Stüde des Geſetzes erfüllen, vielmehr der Ausdrud 
auf etwas Ganzes hinmweife, erklärt er ihn — die Funftion des 
Geſetzes üben; „fie thun auf dem naturgejeßlihen Boden das, 
wad dem Geſetz zu thun wefentlih iſt.“ Indeß wird Dies 
der Ausdrud wenigſtens bei unmittelbar vorangehenden noımraı 
vouov nicht wohl bedeuten fünnen. Und ähnlich wie gegen Meyer 
ift gegen Bed zu jagen, daß der Beweis für die moralifche Ver: 
antwortlichfeitt und Strafbarfeit der Heiden nad Röm. 1, das 
diefelbe in grelles Licht gejtellt hat, nicht mehr angebradt ift. 
Auch weiß Bed, der durch V. 14 ff. gerade die gegenwärtige mo- 
ralifche Art der Heiden charakterifirt fein läßt, mit dem V. 16, 
der den zufünftigen Gerichtstag in den Vordergrund jtellt, am 
allerwenigiten anzufangen, und muß ihn, indem er V. 14 und 15 
in Parentheſe jtellt, in unnatürlicher Weife an V. 13 anfchließen, 
der doch nad) feiner Auslegung logifcher Weife ſelbſt in Parentheſe 
fteht, indem über ihn zurüdgehend das zweite yap in V. 14 die 
erite Hälfte von V. 12 begründen foll wie das erſte yap in V. 
13 die zweite Hälfte. So fehen wir denn, daß unter den gewöhn— 
lihen Vorausfegungen V. 14 ff. das Vorangehende nicht begrün: 
den fann. Dies ift vielmehr nur dann der Fall, wenn einesteils 
mit der pofitiven Norm V. 13 Ernft gemacht wird und andern: 
teild unter eIvn Heidenhrijten verftanden werden; denn Heiden 
als folche fünnen nun einmal nicht für noımraı vouov und für 
gerecht erklärt werden; über ihrem Leben und Wandel jteht, wenn 
fie ſich Chrifto nicht zuwenden und in ihm die dixaıwovvn £x 
$eov erlangen, das Urteil gejchrieben: avouwge nuapror, uvouwg 
xaı anokovyrau. Das Wort edvn kann alfo, wie vorher EAAnves, 
hier nur noch in nationalem, nicht mehr in religiöfem, die Gott- 
entfremdung in fich fchließenden Sinne gebraucht fein und ift mit 
„geborene Heiden“ oder „Nichtjuden“, dem Sinn nad) mit „Heiden: 
chriſten“ zu überfegen (vgl. Röm. 11, 13., Gal. 2, 14. u. a.). 
Bei dem Ausſpruch: oı nomraı vouov dıxauwdnsovra, der zu: | 


Zu Röm. 2, 13 ff. 281 


nädjt die jüdische Selbjtverblendung treffen follte, erhob ſich die 
Frage, inwiefern denn gerade diefe al3 allgemein und durchgrei— 
fend aufgeitellte Norm aud auf die eIvn ra um vouav exovre. 
angewandt werden könne. Dem gegenüber verweißt nun der 
Apoſtel in einer von V. 14 bis zu DB. 16 gehenden PBarentheje 
auf eine bereit3 unverfennbare auch jedem aufrichtigen Juden fich 
nahelegende Thatfache (rav, nicht das hypothetiſche cav oder gar 
eı!), daß nemlich unter den „Heiden“ es ja wirklich folche gebe, 
die den fittlihen In halt des Geſetzes (ra rov vouor) in ihrem 
Wandel und Leben erfüllen, und zwar gvosı, kraft eines natur- 
haften inneren Triebes, ohne Vorſchrift und Zwang des äußeren 
Geſetzes. („Für Baulus ift das,” wie Kloftermann a. a. O. jagt, 
„ein Werf der niedergebärenden Gottesgnade, für die Juden tft 
e& etwas, das pvarı eintritt. Bon diefem [jüdifchen] Standpunft 
aus find die Ausdrüde pvosı und ra rov vonov roreıw [und, 
ſetzen wir hinzu, aud ſchon moınraı vouor] zu deuten; fie find 
Aquivalente der hriftlihen Erkenntnis und Anfchauung, fie 
jagen, wie den Juden fich die fittlihe Wiedergeburt der betreffen: 
den Heiden darjtellt.” „Auf das jüdiſche Leben urſprünglich ge: 
münzte Begriffe überträgt der Apoftel auf gewiſſe Erjcheinungen 
des heidnifchen Lebens, um den aufgeblafenen Juden zu zeigen, 
daß weſentlich diejelben fittlichen Werte dort realifirt werden.“) 
So oft nun diefe Thatfache fich darftellt, daß „Heiden“ den fitt- 
lichen Forderungen des Geſetzes entjprechend leben, iſt daraus 
notwendig zu jchließen, daß fie fich felbit Geſetz find, daß fte ſich 
das Geſetz, das fie nicht haben, in und aus fich felbit erjeßen. 
Diefes rarroıc For vonne kann im Zufammenhang, wo es 
eben von denen gejagt iſt, die den Inhalt des Geſetzes erfüllen, 
und in einem gemiffen Gegenfat zum bloß äußeren Bejit des 
Geſetzes fteht, nicht nah) Röm. 7 als ummirkfamer vonoc Fer vor 
erflärt werden, bei dem man es ja gerade nicht zum Thun der 
Forderungen des Gefetes bringt, bei dem man fo wenig fich felbit 
Geſetz ift, daß man vielmehr unter ein fremdes Geſetz, das Gefet 
der Sünde und des Todes, gefnechtet iſt; vielmehr iſt der Sinn: 
fie erfegen ſich in wirkſamer Weife das Geſetz (vgl. Röm. 8,2 ff.). 
V. 15 und 16 (mırıwec — fie, die; wie fie denn auch) ermeifen 
nun diefe ihre innere Qualität, diefes aus ihrem gefamten Thun 


282 Fiſcher 


erſchloſſene eavroıg £ı0ı vonoc, als ſich weſentlich offenbarend 
(evdcixwvrru) am entſcheidenden, die verborgene Herzensſtellung 
(ra .xovnre) fundmahenden Tage des Gerichts. Da erweist ſich 
denn wirklich das vom Geſetz als Lebenswerk, als Leiſtung Gefor: 
derte (eoyov ruv vouov vgl. B. 7) als in ihr Herz gefchrieben 
(dem Präfens evösıxvuvra, das die Gewißheit anzeigt, giebt der 
von Öixauadnmeoorra:e beherrichte Zufammenhang Futurumsbedeut: 
ung), als ihnen innerlich zu eigen geworden, als ein triebfräftiges 
Ideal, ein innerlich lebendiges und lebenſchaffendes Geſetz (val. 
Röm. 8, 2., Jac. 1, 25. u. a. St) Mas Gott durch den Pro- 
pheten Jeremia verheißen: ich mill meine Gejete in ihr Herz 
geben und in ihren Sinn fchreiben (jtatt bloß auf Stein, mwev- 
rarı ftatt yoruuarı), das erweist fih an ihnen erfüllt am Tage 
des Gerichtes. Man fieht hier, wie wenig es auch nad) dieſer 
Stelle auf die äußeren Werfe alö folche, die eoya vouur, anfommt 
bet dem das Verborgene richtenden Gott. Es handelt jih aud 
deutlicher Meile am Tage des Gerichts um feinen Schluß von 
den Werfen aufs Innere mehr, der ja ſchon V. 14 für die Gegen- 
wart gezogen ift, fondern ihr Inneres felbit, aus dem die Gott 
wohlgefälligen Werke hervorgegangen find, liegt nun offenbar da 
wie ein aufgefchlagen Buch (-vosıxmurrau bezeichnet das Anſchauliche: 
jte weifen es [in fih] auf). Mit diefem (objektiven) Erfunde am 
Tage des Gerichts muß denn auch das Zeugnis ihres eigenen 
unmittelbaren fittlichen Selbſtbewußtſeins, ihr „Gewiſſen“ ſelbſt— 
verjtändlich übereinjtimmen ; und es wird Dies ausdrüdlich hervor: 
gehoben im Gegenjag zu den unbefehrt bleibenden Heiden und 
Juden, deren verfinftertes (1, 21.) und hartes (2, 5.), vom Geſetze 
Gottes ſich abfehrendes und demſelben gegenüber fich jelbit betrü- 
gendes Herz fein irgendwie giltiges Zeugnis ablegen fann. Wenn 
ferner bei jedem Gericht ein Ankläger und etwa ihm gegenüber ein 
Verteidiger auftritt, jo darf doch hier fein fremder Anfläger auf: 
treten, nicht das yoauua des dem Geift nad ihnen fremd und 
äußerlich gebliebenen Geſetzes; jondern Anklage und dann aud) 
die Verteidigung beforgen die Aupıouvs, die fittlichen Erwägungen 
und Urteile des erneuerten vov; unter fih (mit Ausſchluß eines 
Dritten, beadhte das mit Abſicht vorangeftellte ueraguv aAAnAmm). 


Zu Röm. 2, 13 ff. 283 


Sie fünnen und dürfen dies thun; denn während die fittliche 
Urteilskraft des natürlichen Menſchen aufs äußerste geſchwächt ift 
und er ſich andrerfeitS im geheimen Gefühl feiner Schuld vor 
dem anflagenden Geſetz und Gericht nur zu verfteden jucht (vgl. 
Joh. 3, 19 ff.), steht bei jenen der vovg mit feinen Aoyıouoı 
treu und wahr zum Gejete Gottes, das ihnen innerlich zu eigen 
geworden tft, jo daß die Aoyıouvı ſelbſt anflagen, was verwerf: 
lich erfcheint aus dem vergangenen Leben, die goya rnG 0R0X0g, 
rejpeftive, um auch noch die bei ihnen felbitverjtändliche Kehrjeite 
folder Selbſtanklage zu nennen, die Verteidigung führen, indem 
jte hinweiſen auf den inneren aufrichtigen Herzensgrund, in dem 
das Eoyu» 10V vurov yoanrov fteht, auf die mioris Inovv 
Xoiorov dı ayanıg evsoyovusvn ald auf ihren Lebensgrund 
(vgl. zum Verftändnis des anoroyaosaı 1 Joh. 3, 19 ff.). 
Der Gerihtsfprudh des höchſten Richters am nahenden Gerichts- 
tag erfolgt nad der Norm des Evangeliums, das der Heiden- 
apoſtel verfündigt, das für alle Menschen, Juden und Heiden, 
die einzige Övvanıs EC owrnorar it, das allen äußeren Werk: 
und Geſetzesruhm niederfchlägt ünd alle an der Oberfläde 
liegenden Unterfchiede der Menſchen aufhebt, das als auf die 
einzige Kraft zur Erfüllung des göttlihen Willens auf die ver: 
borgene Herzensftellung zu dem hinweist, der das Gericht halten 
wird, zu Jeſu Chrijto. (Kloftermann, der unter den esvn eben: 
falls Heidenchriſten verjteht, hält V. 14 für eine in fi abge: 
Ichloffene Varenthefe und glaubt der ganzen Satanlage nah V. 
15 ff. als nähere Beitimmung zu V. 13 anfehen zu müſſen, in- 
dem er ®. 15 ff. nur die noımrar vonov charakterifiert finden 
fann im Unterfchied von einer dem Buchftaben nad) ebenfalls das 
Geſetz befolgenden, aber dasfelbe nach feinem Sinn und Geiſt 
gröblich übertretenden, felbitgerechten Sorte von Juden (vol. %. 
‚17 f.). Indeſſen macht ſich gegenüber feiner bejtechenden Beweis: 
führung das Bedenken geltend, daß ja Ddiefe Juden B. 23 und 
27 ausdrücklich Gejetesübertreter genannt werden; eine nähere 
Charakterifierung der momrar vouor im Gegenſatz zu ſolch ſchein— 
barer Gefegeserfüllung fcheint mir daher nicht angebradt zu fein 
und würde den klaren, ſcharfen Gegenjat zwilchen bloßen Hörern 
(oder auch Lehrern) und Thätern des Gejeges in etwas verwiſchen, 


284 Fiſcher 


bei dem Paulus eine bloß äußerliche Geſetzesbeobachtung eben in 

feiner Weiſe als reAsıv rov vouov gelten läßt. Das nachher 

folgende &ı de ov Tovdaıoc ſcheint durd den Gegenjat zu zeigen, 

daß vorher nur von edvn, nit von moınraı vouov im allge: 

meinen die Nede iſt. Auch fann Kloftermann, indem er durd 

den Nelativfag die wahrhaftigen Thäter des Geſetzes cha— 

rafterifiert fein läßt und nicht wie wir vor allem den Sat beleuchtet 
findet, daß jie ſich jelbit Gejeg find, mit der Anklage und 

Berteidigung der Gedanken als einem Erweis für lebteres nichts 
anfangen, er nimmt daher die Wendung xmı nerakv ete. als eine 

Art Conceffivfag (S auch mitten unter —); aber bei dieſer Doch etwas 

gewaltfamen Konftruftion wird dann wieder das n amı amoAoyovusvav 
befremdlih). Mit diefem innerlihen, im Gericht ſich offenbaren- 

den Zuftand der „gefetlofen” Heidendriften fontraftiert nun aufs 
Ichärfite das Gebahren und der Zuftand der gejegegjtolzen, auf 
äußere MWerfe und Vorzüge ſich jteifenden Juden. Bon einem 
Anklagen, das diefe gegen ſich jelbjt üben, ift freilich feine Rede; 
ihr «over gilt nur andern. Darum muß eben Paulus, der Ver- 
fündiger des Evangeliums, die Rolle des Anklägers übernehmen; 
und er fchließt feine Anklage, indem er in ausdrüdlicher Gegen 
überjtellung die Folgerung aus dem PVorangegangen zieht (ovv 
V. 26 ff.), daß die auf den Belit des Geſetzes ftolzen, aber es 
ſchmachvoll übertretenden Juden, und die nicht im (angeltammten) 
Beſitz des Geſetzes befindlichen, aber im Geiſt und in der Wahr: 
heit es erfüllenden Heiden(driften) die Rollen vertaufht haben. 
(Auch hier it offenbar mit dem sa» des V. 26 ebenjowenig nur 
ein angenommener al eingeführt wie mit dem auf der voran- 
gehenden Schilderung ruhenden zweiten 6au de V. 25; vielmehr 
mit Folgerungen aus Thatſachen fchlägt der Apoftel den Stolz 
der Juden darnieder; von einer bloßen Möglichkeit zu reden wäre 
ja doc eigentlih eine ziemlich nußlofe und unfrudtbare Sache 
geweſen). Der Schluß des Kapitels liefert denn auch nachträglich 
eine nicht undeutliche Beftätigung unferer Auslegung. Daß bier 
von Chriſten die Rede ift, das follte zumal angefihts Des 
29. Verſes (ſ. 0.) nicht mehr geleugnet werden. Dann aber ent- 
ſpricht fihtlih das ra dıxamwuara rov vouov YvAacon, eine 


Zu Röm. 2, 13 fi. 285 


Wendung, die hier im Gegenfat zu naoadarnc vouov gebraucht 
it, dem ra rov vouov non; V. 27, jofern ex die Heidendhriften 
charafterifiert, erinnert an V. 14; das o ev ro xornreo flingt an 
dad ra xevinra Tov avdoonmv an; und wie dort gerade der 
vonoc der Juden den Heiden als ideale, zu ihrem inneren Eigen: 
tum gewordene Norm zuerkannt ijt, jo find am Schluſſe des 
Kapitels Iordaıoe und Teorroun ideale Begriffe, deren echter 
Gehalt gerade auch den Chrijten aus den Heiden zugeſprochen iſt. 
Der Schluß endlich: ov 0 enawog — ex HEov, der dem falfchen 
savyaodaı V. 23 entgegengejet ift, führt deutlich zum Anfang 
der Auseinanderfegung zu V. 6 ff. zurüd (vgl. dnkav xaı ruumv 
V. 7), wo die entfcheidenden, durchgreifenden, ſittlich religiöfen 
Gegenfäte vom Apoftel dargeftellt werden und hiemit die Gegen: 
überftellung der Juden und Heidendrijten ſich anbahnt. Kap. 3, 1. 
folgert dann wohl nicht bloß aus der gemeinſamen Verdammlich— 
feit der Juden und Heiden, nicht bloß aus der Ungenügendheit, 
fondern auch aus der Entbehrlichfeit des Geſetzes ala pofitiver 
Heilsnorm, daß hiernady die Juden vor den Heiden feinen Vor: 
zug zu haben fcheinen. Kähler a. a. D. wendet gegen unfere ganze 
Erklärung neben anderem von uns indireft Berüdfichtigten ins- 
befondere auch da3 ein, daß gerade die Heidendrijten ja aud 
axooaraı vouov feien und nicht mehr als vouov um ExXuvrec 
bezeichnet werden fönnen, fofern fie das altteftamentliche Geſetz 
jeinem mefentlihen Gehalt nah und zwar aus Offenbarung und 
aus dem altteftamentlichen Coder fennen. Hierauf ift zu ermwidern, 
daß doch die Stellung der Heidenchriſten zum Geſetz von der der 
Proſelyten, die das Gejet ala Heilsnorm angenommen haben, 
gerade in der Hauptfache verfchieden iſt, ſofern bei erjteren weder 
die Triebfraft zur Erfüllung des Gefeges aus dem moſaiſchen 
Geſetz mit feinen Drohungen und Berheißungen jtammt, fondern 
xcooig Eoywv vouov ihnen durd den Glauben an Jeſum Chriftum 
geworden it, noch auch der Inhalt, der bleibende Gehalt des 
Geſetzes ihnen durchs mofaifche Gefet übermittelt ift, fondern die 
Liebe Chrifti fie dringet und dankbare Gegenliebe und Bruderliebe 
in ihnen anfacht; das Geſetz des Geiftes des Lebens in Chrifto 
bat fie freigemadht vom Gefet der Sünde und des Todes. Das 


286 Färber 


moſaiſche Geſetz hat alſo nur noch orientierende Bedeutung, nicht 
die Bedeutung eines felbititändigen Prinzips; denn fie find nicht 
(mehr) unter dem Geſetz, jondern unter der Gnade und fünnen 
jo ihrem Grundweſen nad gegenüber den Juden auch jest wohl 
dem inneren Thatbeftand gemäß ald vouov un exovrsg bezeichnet 
werden. Die Hauptſache aber it (ſ. o.), daß ja Paulus zunädjit 
vom Standpunkte der Juden aus redet und daß vom Standpunft 
der Juden aus ſämtliche edvn, ob fie nun an den falfchen Meſſias 
Jeſum glaubten oder nicht, wenn fie nicht Proſelyten wurden und 
damıt das moſaiſche Geſetz als Heilsprinzip annahmen, jelbitver: 
ſtändlich vouov un exovra waren. 


— — 


Die hl. Taufe im mürtt. Confirmationsbüchlein 


und deſſen Quellen. 
Bon Diafonud un in Neuenſtadt a. 2. 


dn genauem Anjchluß an ben: in Württemberg ſeit 1553 ein- 
geführten Katechismus von Brenz entwidelt das aus dem Jahr 1730 
itammende „Gonfirmationsbüchlein“ die chrijtliche Lehre. Frage 4 
bi3 11 handeln von der Taufe und bieten, namentlich mit den 
älteren fatechiftiichen Vorgängen verglichen, Anlaß zu einigen Be— 
merfungen, die vielleicht allgemeineres “interejje verdienen. 

Die erite Bemerkung fnüpfen wir an die 4, Frage: „Mas 
macht uns zu Chrijten? A.: Nicht die leibliche Geburt von Chrijten, 
oder die äufßerliche Gemeinfchaft mit Chrijten, fondern der Glaube 
an Chriftum und die Taufe auf Chrijtum.” 

Die Reihenfolge: Glaube — Taufe iſt auffallend. Offen: 
bar joll hier die Genefis unferes Chrijtenjtandes befchrieben mer: 
den. In derjelben nimmt aber die Taufe die erjte, oder urſäch— 
liche Stellung ein; denn fie ijt es, die und „der Kindſchaft Gottes 
verjichert.* (Ar. 9). Der Glaube aber nimmt die zweite Stelle 
ein, injofern er nicht Urfache, fondern nur notwendige Bedingung 
und fennzeichnendes Merkmal des Chriftenjtandes it. „Wahre 
Shrijten find nur die, die bei ihrer Taufe aud treu im 
Glauben bleiben.” (Ar. 12.) 

Es iſt wohl fein Zweifel, daß man ohne Glauben den Segen 
der Taufe nicht empfangen kann. Das iſt von Anfang an evange- 


Die Hl. Taufe im württ. Confirm.-Büdhlein u. dejien Duellen. 287 


liſche Lehre. Sola fides personam dignam faecit, ut hanc salutarem 
et divinam aquam utiliter suseipiat. Daher precamur ut Deus 
puerum fide donet (Luth. Cat. maj.). 

Aber diefer vor der Taufe von Gott gewirkte Glaube macht 
uns nicht zu Chriſten, jondern er iſt nur die Bedingung, unter 
der Gott den Glaubigen durch die Taufe zu einem Ehriften machen 
fann. Baptismus non nostrum sed Dei opus est. Neque fides 
mea facit baptismum, sed pereipit et apprehendit (Luth. a. a. O.) 
Es iſt außer Zweifel, daß die in Württemberg herrſchende Glaubens: 
lehre hierin ganz mit Luther gegangen ift, und das Confirmations- 
büchlein will nicht etwa der Meinung fein, der vor der Taufe 
hergehende Glaube made uns zu Chriſten. Es meint ficher den 
Glauben, der uns eben durd die Taufe geſchenkt wird. Dr. Eber- 
hard Friedrich Hiemer, der Autor des Confirmationsbüchlein, war 
gewiß derſelben Anjicht wie Prälat Zeller, der Verfaſſer der 
„Katehiftiihen Unterweifung zur Seligfeit“ (1680), diefer aud 
heute noch aufs eifrigjte zu empfehlenden Erklärung des Brenzi- 
Ihen Katechismus. Hier aber wird gelehrt: „Kinder, wann jie 
getauft werden, jo werden jie auch wiedergeboren und befommen 
den Glauben: fintemalen die Wiedergeburt ohne den Glauben fo 
viel als nichts iſt.“ (S. 55). 

Warum alfo heißt es nit: Taufe und Glauben maden es, 
daß wir Chriften find, fondern Glauben und Taufe? Oder, da 
ja der Glaube eine Frucht und Wirkung der Taufe it! und in: 
jofern der Taufe nicht bei- fondern untergeordnet, warum heißt 
ed nicht (mit den Worten des Katechismus) „ich bin ein Chrift, 
weil ic auf den Namen Chrijti getauft bin ?* 

Die Antwort auf die angeregte Frage lautet natürlich zunächſt 
ganz einfach: ES heißt im Gonfirmationsbüchlein fo, weil es im - 
Katechismus ebenfo lautet: „Darum (bin ich ein Chrift) daß ich 
glaube an JEſum Ehriftum und bin in feinem Namen getaufft.* 


ı Sn einer im Sahre 1701 von Herzog Eberhard Ludwig erlafie 
nen „Rurzen Anweijung die gewöhnliche Katechismuslehr nutzlich und 
erbaulih zu treiven“ Heißt es: „Alſo weiſet und glei daS erite 
Hauptſtück unſres Katechismi auf den Urſprung des Glauben? und 
zeiget uns das ſelige Gnadenmittel, dadurch Gott den Glauben an— 
fänglich in uns erwecket; das iſt die hl. Tauff ꝛe.“ (©. 26 f.) 


288 Färber 


Aber warum heißt es im (Brenziſchen) Katechismus ſo? 

Es hieß nicht immer ſo, und wurde in dem aus dem Jahr 
1587 ſtammenden Württembergiſchen „Communikantenbüchlein“ 
von Andreas Oſiander ebenfalls anders gelehrt. 

Schon im Jahr 1527 oder 28 hatte ja Brenz einen Katechis— 
mus verfaßt, welchen Vincentius Obſopöus 1529 lateiniſch heraus— 
gab. Die Entdeckung und Herausgabe des deutſchen Originals 
iſt ein Verdienſt des nachmaligen Dekans Julius Hartmann. (Vgl. 
Studien der evangeliſchen Geiſtlichkeit Württembergs Band XII, 
1840, Heft 1, ©. 143 ff. und Julius Hartmann, Ältejte kateche— 
tiſche Dentmale der evangel. Kirche 2c., Stuttgart, Steinfopf 1844.) 

Der ältere Brenz beginnt nun ganz ähnlich wie der jpätere 
mit der Frage: Was bift du? A.: — der neuen Geburt nad) 
bin ich ein Chrift. Warum bift du ein Chrift? Darum daß ich 
in dem Namen Chrifti getauft bin und glaub in Jeſum Chriftum. 
Zateinifch bei Obfopöus: Quamobrem Christianum te esse per- 
hibes? Propterea quod in Nomine Christi baptizatus sum et credo 
in Jesum Christum. (Vgl. die cit. Studien, Bd. XI, 1839, Heft 2.) 

In dem erwähnten Communifantenbüchlein von A. Dfiander 
ferner, welches im Verlauf eines Jahrhunderts viele zum Teil 
interefjante Veränderungen erlitten und zu dem nachmaligen Con: 
firmandenbüchlein einen wejentlichen Beitrag geliefert hat, heißt 
es auf die Frage: „Woher weißeſt du, daß du von Chriſto erlöst 
und ein Kind Gottes biſt?“ „Erjtlih weiß ich das aus dem 
empfangenen Tauf, — zum andern lerne ich folches aus den 
Morten des hl. Evangeliums.“ 

Das ift doch gewiß ein beachtenswerter Unterfchied. Nicht 
als ob die Wortjtellung: Glaube — Taufe an fich einer andern 
dogmatischen Anfchauung dienen müßte, es jteht ja immer frei, das 
innere Verhältnis beider Begriffe jo oder fo zu erflären. Aber 
wenn derjelbe Brenz 1527 jagt: Sch bin ein Chrift, weil ich 
getauft bin und glaube und von 1536 ant: „darum, daß ich 
glaube an JEſum Chriftum und bin in feinem Namen getauft,“ 
jo kann man nad) den Erläuterungen, die er ſelbſt in feinem Ca- 


1 Die lateinische Ausgabe des Catech; welcher 1543 beutich in 
die Haller Kirhenordnung und 1559 (mit Veränderungen) in die große 
württ. Kirhenordnung aufgenommen wurde. 


Die Hl. Taufe im württ. Confirm.-Büchlein u. dejjen Quellen. 289 


techismus illustratus (von 1551), einer Erklärung des Fleineren 
Katechismus (nad) Art des Lutheriſchen catech. maj.) giebt, nicht 
annehmen, daß diefe Abänderung zufälligermeife gefchehen fet. 

Vielmehr iſt Brenz fpäter zu einer Auffaffung des Safra- 
ments der Taufe gelangt, für welche es eben entjprechender tar, 
den Glauben der Taufe voranzuftellen. Brenz erhebt ſelbſt die 
Frage: Annon sufficit fides ut fiamus Christiani? und beant- 
mortet fie mit „ja.“ Externus baptismus aquse non est simpli- 
eiter necessarius ad salutem; actio baptismi per se non faecit 
hominem Christianum, Er beruft fi zum Bemeis auf die 
Frommen des A. B., die ja, obwohl nicht getauft, auch nicht ver- 
loren gehen; — als ob „nicht verloren gehen“ und „ein Chrift 
ſein“ ein und diefelbe Sade wäre. Die Taufe gilt für Brenz 
nur noch als Betätigung des ſchon vorhandenen Glaubens und 
der darauf ruhenden Erwählung und Chriftenftellung. Homo eligitur 
et vocatur per Evangelium ut sit filius Dei adoptivus et rex 
cölestis. Accedit autem baptismus, regalis quasi unctio quo 
id, quod homo ante per fidem accepit, sacramento confirmatur 
et promulgatur. — Baptismus in hoc est institutus ut conju- 
gium inter Christum et credentem initum promulget et tanguam 
publica benedictione confirmet. 

Damit geht Brenz offenbar über die Linte Luthers hinaus, 
der im Cat, maj. die novi spiritus ſcharf tadelt, die disjungere 
non vereantur fidem et rem cui fides adhærescit et alligata est 
tametsi externa sit, und jagt: in summa, quidquid Deus in 
nobis facit et operatur tantum externis ejusmodi rebus et con- 
stitutionibus operari dignatur. Die Worte qui crediderit (et 
baptizatus fuerit, salvus erit) Mre. 16, 16, bezieht Luther gerade 
auf die Taufe, nit auf ein unabhängig von ihr zu erlangendes 
Heil, von dem die Taufe dann nur die Bejtätigung wäre. Sequi- 
tur, ſchließt Luther, ut qui baptismum ceontemnit et rejieit, ver- 
bum Dei, fidem et Christum quoque rejiciat eo nos ducentem 
et baptismo alligantem, 

Menn nun Brenz aud daran feithält, daß die Taufe als 
divinitus ordinatus beizubehalten ſei, jo iſt dies nicht dasfelbe, 
was Luther meint, wenn er jagt: aqua per se non est prestan- 
tior quavis alia aqua, sed quod verbum et pr&ceptum Dei 


290 Särber 


accesserit est divina aqua. — Verbo dei baptismus suam ac- 
cipit essentiam ut sacramenti appellationem mereatur. 

Luther will fagen: Durch Gottes Wort empfängt die Taufe 
eine jatramentale Kraft und Wirkung. Verbi divini accessione 
bapt. eam virtutem eonsequitur, ut lavacrum regenerationis sit. 

Brenz dagegen lehrt: um des göttlichen Befehls willen dürfe 
man die Taufe, obſchon nur eine äußere Zeremonte, nicht unterlafjen. 

Das iſt aber offenbar eine von Luther ſehr wejentlich verfchie: 
dene Auffafjung, eine bedenkliche Hinneigung zu einem andern Geifte. 

Wohl ſehen wir, daß diefer in der württ. Kirche feinen Ein- 
fluß weiterhin gehabt hat; alle firhlichen Erklärungen des Brenzi— 
ihen Katechismus reden mit der vollen lutherifchen Glaubens: 
gewißheit von der jaframentalen Wirkung der Taufe und gehen 
über die angeregte Schwierigfeit der Wortfolge: Glauben — Taufe 
ftillfehweigend hinweg. Prälat Zeller 3. B. in der ſchon ange: 
führten „Gatechiitifchen Unterweifung“ begnügt ſich zu jagen: es 
werden zwey Stüde benamfet, die einen Menfchen zum Chrijten 
machen: der Glaub an Ehriltum und die Tauff in feinem Namen, 
und führt fodann zuerit aus Stellen, wie Röm. 10, 4. 9,, 
Joh. 1, 12., den Beweis, daß „der Glaube an Chriftum einen 
zum Chrijten mache.” Hierauf beweist er aus Mat. 28, 19,, 
Sal. 3, 27., Röm. 6, 3. dasſelbe für die Taufe. Und in der 
„Kinderlehre” wird zum Beweis, daß Glaube und Taufe uns zu 
Chriften made auf die Stelle hingewiejen Gal. 3, 27 f. „Ihr 
ſeid alle Gottes Kinder dur den Glauben; denn wie viel euer 
getauft find, die haben Chriſtum angezogen.“ Eine innere VBermitt- 
lung wird nicht geſucht. Sie fünnte aber der herrfchenden Lehre 
von der Taufe gemäß nicht anders ausgefallen fein als bei Zuther: 
daß nämlich der Glaube eben: Glaube an die Taufgnade fei und 
folglich die Taufe ihrer Bedeutung nad) dem Glauben voran zu 
gehen habe, während dagegen bei Erwachjenen der Ölaube der Taufe 
zeitlich vorausgehe und daher in Me. 16, 16. zuerjt genannt werde. 

Das alles läßt jich natürlih im Conftirmanden-Unterricht zu 
Fr. 4 des Confirmationsbüchleins ſtets bemerken. Allein hier, wo 
nur den Kindern der Grund ihres Chriftenjtandes zum Bewußt— 
jein fommen foll, wäre es doc) gut, wenn man ohne alle weiteren 
Erörterungen befennen und lehren fünnte: id bin ein Chrift, weil 


Die Hl. Taufe im württ. Konfirm.-Büchlein u. defjen Ouellen. 291 


ih auf Chriſtum getauft bin, Eben indem man dies fagt, bemeist 
man ja, daß man an ihn glaubt. 

Die Taufe, diefe unumjtößlihe That Gottes, ift der Grund 
unferes Heild. Quoties peccatis aut conscientia gravamur fagen 
wir: ego tamen baptizatus sum, (Luth. Cät. maj.) Daß die 
Taufgnade ohne Glauben nicht empfangen noch bewahrt werden 
fann, das fommt dann bei Fr. 12 zur rechten Zeit zur Sprache. 

* 

Eine zweite Bemerkung möchten wir an die 6. Frage Fnüpfen. 

Diefelbe ift identifch mit der befannten Frage des Brenzifchen 
Katehismus: „Was tjt die Taufe?” 

Die Antwort auf Ddiefe Frage müßte genau genommen nur 
lauten: „Die Taufe ift ein Saframent und göttlich Wortzeichen.“ 
Das Weitere ift Antwort auf die Frage: was nützt oder wirft 
die Taufe? Diefe Frage wird aber als 8. noch beſonders erhoben 
und die Antwort ift dort, abgefehen von der Schriftitelle, voll: 
fommen gleichlautend mit der Antwort der 6. Frage. Dies iſt 
nun infofern recht jtörend, als die Kinder die gewiß gerechtfer- 
tigte Vorausfegung haben müfjen, in jeder neuen Frage komme 
auch etwas Neues. Sa wir irren vielleicht nicht, wenn wir ans 
nehmen, daß auch mancher Katechet ſchon fich die vergeblicde Mühe 
gab, der 8. Frage neben der 6. eine neue Seite abzugeminnen. 
Palmer, Katechetif 1875 allerdings giebt einfach zu, daß in Frage 
5—11 „fich mehreres wiederholt.” Nach unferer Erfahrung dient 
e8 ſehr zur Förderung des Verftändniffes, wenn man hier, wie in 
manden ähnlichen Fällen, auf die völlige Identität beider Ant: 
worten geflifjentlich hinweist. 

Faſſen wir nun aber die Antwort auf die 6. Frage im engern 
Sinn in's Auge: „Die Taufe iſt ein Sakrament und göttlich 
Wortzeihen”, jo erfcheint die Bezeichnung der Taufe als eines 
Saframentes hier zu kurz. Es follte nicht der Erklärung über: 
lafien bleiben, zu beftimmen, was ein Saframent ift. Der Glaube 
an das Vorhandenfein und die Wirkjamkeit der Saframente in 
der Kirche ift ein ganz wejentlicher Beftandteil des Chrijtenglau- 
bens — man denfe nur an Luthers: in summa, quidquid Deus 
in nobis facit et operatur, tantum externis ejusmodi rebus-operari 
dignatur — jollte alfo auch ein Stück des chrüftlichen Belennts 


19* 


292 Färber 


niſſes bilden. Es ſollte alſo eine Frage nach dem Weſen des 
Sakraments eingeſchaltet fein,‘ ſofort ſollte anftatt der zu 
unbeſtimmten 7. eine Frage folgen nach dem Sichtbaren und nach 
dem Unſichtbaren in der hl. Taufe. 

Dieſe Unterlaſſung einer Definition des Sakraments ſtammt 
nun freilich wieder aus dem Katechismus. Nur iſt zu beachten, 
daß der Katechismus von Brenz in ſeiner Urgeſtalt das Wort 
Sakrament gar nicht gebraucht. Dort heißt es einfach: „Die Taufe 
iſt ein Bad der Wiedergeburt, dadurch ein Gläubiger wird ein— 
geleibt und eingeſegnet in die Güter der himmliſchen Burgerſchaft 
und ewigen Seligkeit.“ Erſt in dem Katechismus von 1536 bringt 
Brenz die befannten Worte: Die Taufe ift ein Saframent ꝛc., 
wobei aber zu beachten ift, daß noch in der Ausgabe von 1543 
nicht „Wortzeichen“, jondern „Wahrzeichen“ gebraucht wird. (Val. 
Studien der württ, Getftl. 1840, I, ©. 161). 

Das Ihon erwähnte „Communikantenbüchlein“ von A. Dftander 
hingegen bringt die Frage: „Was jeynd Saframente ?“ und die furze 
Antwort: „ES ſeynd fichtbare Zeichen der unfihtbaren Gnad Gottes.“ 

Noch kürzer lautet es in der (nach Zeller) gefertigten Erflär- 
ung des Katechismus (der „Kinderlehre‘ von Brof. Schellenbauer) 
von 1681: „Was heißet oder ijt ein Saframent? ein göttlid) 
Wort: und Gnadenzeihen.“ In der fpäteren Ausgabe jteht da- 
für die ausführlichere, doch mohl nicht. ganz richtige Antwort: 
„Ein Saframent iſt eine von Gott verordnete hl. Handlung ꝛc.“ 
Nicht die Handlung, ſondern das fichtbare Zeichen iſt das Saframent. 

Oder — das Mortzeichen; denn das muß man freilich zu: 
geben, mit diefem Ausdrud ſoll das Saframent feinem Weſen 
nach definiert fein. Wortzeichen ift gleich Zeichen (Sigel) eines 
Wortes, nämlich) des göttlihen Gnaden: und Verheifungswortes, 
welches in den Stiftungsworten der Sakramente feinen prägnan: 
ten Ausdrud findet. In der oben ©. 3 A. 1 erwähnten „Eurzen 
Anmeifung“ heißt es: „Das Wort Saframent ijt ein lateinisch 
Mort, heißt auf teutfch fo viel als ein Wortzeichen. Ein Mort- 
Zeichen aber iſt etwas eufjerlich und fichtbares, damit man einen 
Menjchen vergewifjert dejjen, das ihm mit Worten zugefagt wor— 
04 Hier leuchtet freilich ein, daß Hiezu am Anfang des Glaubens- 
befenntnijjes eigentlich nicht der Ort ift. 


Sie hl. Taufe im württ. Konfirm.-Bächlein ur. defien Quellen. 293 


den.” Man val. Apol. eonf.: recte definiunt sacramenta in novo 
testamento esse signa gratii. Darum fonnte Brenz ganz mohl 
anfangs ftatt Wort: vielmehr Wahrzeichen jagen. 

Somit bietet denn das Conf. B. in Frage 6 allerdings eine 
Erklärung des Sakraments. Aber diefe iſt nicht volljtändig. Die 
Saframente find nicht nur Wortzeichen, fondern aud) die von 
Chrifto verordneten Onadenmittel: Per verbum et sacramenta, 
tanquam per instrumenta donatur spiritus sanctus. Wir würden 
es für ſehr wertvoll halten, wenn dies im Conf. B. feinen bejtimm: 
ten Ausdrud gefunden hätte. 

* 

Dies um fo mehr, als im Confirm.Büchlein der „Nutzen 
der Taufe“ nicht ganz ungefchmälert zum Ausdrud fommt. Wie 
bemerkt, handelt ſowohl die 6., als die 8. Frage vom Nuten der 
Taufe. Streng genommen gehören äud die 7. und 9. Frage 
hieher. Gnade Gottes, Vergebung der Sünden, Kindſchaft Gottes, 
Erbſchaft des ewigen Lebens, dazu die Wiedergeburt und die Auf- 
nahme in den Bund Gottes — dies alles tjt der Nuten der Taufe 
nad dem Conf.:B. Und dies ijt ja gewiß der hl. Schrift gemäß. 

Betrachtet man aber die genannten ſechs Stüde, melde den 
Nuten der Taufe ausmachen, jo ift zu bemerfen, daß gerade die 
Stüde, welche ihrer Natur nad einen zufammenfafjenden Ober: 
begriff vom Nuten der Taufe abgeben könnten, auf die Seite 
gefegt find, wir meinen die Wiedergeburt und den „Bund eines 
guten Gewiſſens mit Gott.“ 

Was den letteren betrifft, fo halten wir es zwar für einen 
logifchen, aber nicht für einen fachlichen Fehler, daß er nicht nod) 
mehr in den Vordergrund tritt, fondern vielmehr, daß er über: 
haupt eine Stelle im Confirmationsbud gefunden hat. Denn jo 
gut auch die pädagogifche Verwendbarkeit Diejes Begriffes fein 
mag, er iſt nicht jchriftgemäß, er beruht nicht nur auf einer fal— 
ſchen Überſetzung, fondern er kommt auch ſonſt in der hl. Schrift 
nicht vor. Diefelbe weiß nichts von einem Bund Gottes mit den 
Einzelnen (außer den Repräfentanten des ganzen Bolfes Gottes), 
fondern nur von einem Bund Gottes mit feinem ganzen Volke, 
in den der Einzelne allerdings aufgenommen wird. Für uns 
handelt es jich um den „neuen Bund“, den Chriftus mit Seinem 


294 Färber 


Blute geſtiftet hat. Daß „Gott und die Perſon jo getauft wird 
in einen Bund treten“, wie e8 z. B. in der Kurtzen Anweiſung“ 
von 1701 heißt — während gleich nachher die rechte Überfegung 
von 1 Petri 3, 21. gegeben wird (©. 70. 72.) — da3 jagen 
auch unfre fymbolifchen Bücher nirgends. Sie betonen nur mit 
Recht, daß die sacramenta sunt signa novi testamenti (Apol. Art. 
XU). In unfrer Kinderlehre, da begegnen mir dem Satze: „durch 
die Tauffe treten wir in den Bund mit Gott, aber durch das Hl. 
Abendmahl wird folder Bund bekräftigt.” Aber noch in der 
„Katechiftifchen Unterweifung“ heißt e8 dafür: Die Tauff iſt das 
Saframent der Einweihung zum Chriftentum, das Abendmahl das 
Saframent der Bekräftigung“. Das „Communifantenbüchlein“ 
weiß nichts von dem Taufbund. Dagegen iſt ed Brenz, der aller: 
dings fchon in feinem Catechismus illustratus von 1551 das Bild 
des conjugium für die Taufe gebraudht und jagt: Christus duecit 
credentem in conjugem suam. — In baptismo publice celebrantur 
spirituales nuptise inter Christum et credentem. Es erinnert dies 
lebhaft an die befannte Lehreigentümlichleit der Brüdergemeinde. 
Der Gedanke, daß Gott mit einem jeden Getauften einen bejon- 
deren Bund geſchloſſen habe, mag ja wohl das religiöfe Gefühl 
anregen, aber er beeinträchtigt Die Bedeutung Chriſti als des neuen 
Bundes Mittler (Hebr. 8.) und zugleich des Einen Erben der 
Bundesverheißungen, an denen wir alle nur als e&ıg ev Xoıorw 
Inoov teilhaben fünnen und Teil befommen eben durch die Taufe. 
(Sal. 3, 15 f., 27 f.) Sener Gedanke leiftet dem einfeitigen 
Individualismus Vorſchub, der die Wahrheit verfennt, daß wir 
„alle zu Einem Leibe getauft find,“ oder, wie der erite Katechis- 
mu3 von Brenz fagt: „eingeleibt und eingejegnet in die Güter 
der himmlischen Bürgerfchaft.” 

Die 9. Frage bliebe alfo befjer weg. Der Übergang zur 
10, Frage wäre dennoch leicht herzuitellen etwa durch die Frage: 
Welches find die Gelübde, die deine Taufpaten — die doch auch 
erwähnt fein follten — bei deiner Taufe für dich abgelegt haben’? 

Wollte man aber die Taufe dennoch als „Bund — mit 
Gott” darftellen, dann durfte dies nicht nachträglich gefchehen mit 
der Frage: Wie befchreibt das Wort Gottes die Taufe? Zum 
mindeiten müßte gefragt werden: wie wird in der hl, Schrift die 
Taufe auch no cd genannt? 


Die Hl. Taufe im württ. Confirm.-Büchlein u. dejjen Quellen. 295 


Was nun ferner die Wiedergeburt betrifft, jo glauben wir 
es jehr bedauern zu müfjen, daß nur durch zwei Schriftworte 
(Joh. 3, Tit. 3) und nicht direft ald Nuten der Taufe eben ‚die 
Wiedergeburt befannt wird. Und daß dieje nicht allem andern 
vorangeftellt it, iſt Schon Logifch betrachtet ein Fehler, denn alle 
die fonjtigen Wirkungen der Taufe, Vergebung der Sünden, Kind: 
ichaft Gottes ꝛc. find in der Miedergeburt beſchloſſen. Die Wie— 
dergeburt ijt die ganz bejondere, jonjt nirgends zu erlangende 
Gnade des Saframent3 der Taufe. Wie ar und beftimmt tritt 
dies nicht in dem erjten Katechismus von Brenz zu Tag! „Was 
bift du? A. — Der neuen Geburt nad) bin ich ein Chrift. Warum 
biit du ein Chrift? A. Darum daß ih in dem Namen Chrifti 
getauft bin und glaube ꝛc. Was ift die Taufe? A. Ein Bad 
der Miedergeburt 20.” Ganz ähnlich lautet der Althammerjche 
Katehismus (für Ansbach, von 1528) und der Lachmann-Gräter- 
Ihe (für Heilbronn, 1528). Der leßtere beginnt: „Biſt du ein 
Chriſtenmenſch? A. Ja ih bin einer. Woher weißeſt du es? 
U. Aus der Taufe x. Was iſt die Taufe? U. Eine neue Ge- 
burt und Waſſerbad durchs Wort Gottes.“ 

Und eben dies ijt ja auch die in der Evangeliſchen Kirche 
Mürttembergs von je her geltende Lehre. In dem urfprünglichen 
Zauf-Formular heißt es in der Anſprache: „Bedenkt — in was 
großem Sammer und Not diefes Kindlein feiner Art und Natur 
halben jtedt: Nämlich) daß es fei ein Kind der Sünden, des Zorns 
und Ungnad, und daß ihme nicht anders geholfen werden möge, . 
dann daß es durch den Tauff aus Gott neu geboren — werde.” 
Dementjprechend lautet aud die Dankſagung nad der Taufe: 
„Du haft diefem Kinde verliehen, daß es durd den hl. Geiſt 
mwiedergeboren worden ijt.” Im mejentlichen it der Ausdrud 
diefer Wahrheit auch in der heute geltenden Agende vorhanden. 

Mit diefem Lehrtypus will 23 nicht recht ftimmen, daß im 
Katehismus gar nicht und im Confirmationsbucdhe nur nebenbei 
die Taufe das „Bad der Wiedergeburt” genannt tt. 

ragen wir nad) einer Urſache für diefe Erfheinung, fo ift 
e3 vielleicht die, daß man in der Evangelifchen Kirche und zwar 
ſchon in den fymbolifhen Büchern die Wirfung der Hl. Taufe, 
d. 1. die Wiedergeburt, doch nicht in ihrer ganzen Tiefe, fondern 


296 Färber 


nur ſoweit erfaßt hat, daß „Vergebung der Sünden“ und die 
„adoptio“ als vollkommen gleichwertige und dazu verſtändlichere 
Begriffe dafür geſetzt werden fonnten. Es wird mehr auf die 
Veränderung des Verhältniffes zu Gott, als auf die innere Um: 
wandlung des Getauften gejehen, obwohl eine folche nicht geleug- 
net wird. Doch wird der MWiedergeborne mehr nur als begnadigter 
Sünder, denn als mit Chrifto Gejtorbener und Auferjtandener, 
als Feinc xoıwovog Yvosoc betrachtet. 

Trogdem aber wäre es angemejjen, dab die Wiedergeburt, 
als die eigentlihe „Taufgnade,“ im (Katehismus und) Confirma- 
tionsbuche mehr betont wäre, 

Eine letzte Bemerfung möchten wir maden über die Wort: 
„bezeuget” und „verjichert“, womit in Frage 6 und 8 der „Nutzen 
der Taufe“ angeführt wird. Warum foll Gott in der Taufe nur 
bezeugen und nicht geben und handeln; und warum foll die Taufe 
nur verfichern und nicht wirten? Faſt möchte man vermuten, es 
jet mit den beiden Worten ein leifer Proteſt gegen das Gnaden— 
Mittel zu guniten des Gnaden- Zeichens beabjichtigt. Zwar 
muß man zugeben, daß mit den fraglichen Worten ja nicht gejagt 
ilt, daß nur bezeugt und verfichert und nicht auch gewirkt und 
gegeben werde. Aber es it doch ein jtörender Ummeg, wenn 
man, ohne den Wortlaut des Buches für ſich zu haben, die Con: 
firmanden belehren muß, die Güter, deren euch die bl. Taufe 
verjichert, hat fie euch auch gegeben. 

Verfaffer war ſtets der Überzeugung, daß diefe beiden Worte 
der Urform der evangelifch-lutherifchen Katechismuslehre nicht ent- 
Itammen. Dem ift auch wirklich ſo. Zwar Frage 6 des Confirm.: 
Buches ift ja wörtlich aus dem fpäteren Katechismus von Brenz 
entnommen. Uber gerade dieſes muß uns gegen das „bezeugt“ 
mißtrauifh machen. Denn wir erinnern ung, mit welchem Nach— 
drud Brenz fpäter die Taufe als bloße Beitätigung und Verkün— 
digung einer- Schon zuvor, unabhängig von der Taufe, empfangenen 
Gnade bezeichnet. (©. o. ©. 289.) 

In feinem urfprüngliden Katechismus aber jagt Brenz furz 
und beitimmt: „Die Tauf iſt ein Bab der Wiedergeburt, dadurch 
ein Glaubiger wird eingeleibt und eingefegnet in die Güter der 
himmlischen Bürgerfchaft und ewgen Seligfeit.“ | 


Die Hl. Taufe im württ. Confirm,-Büchlein u. deſſen Quellen. 297 


Ferner, um von andern Katechismen abzufehen,! heißt es in 
dem Kommunifantenbüchlein mit deutlichem Unterfchied vom Con: 
firmationsbudhe: „Was nußet dir der Tauff? A. 1) Dak id 
abgemwajchen werd von meinen Sünden. 2) Daß ich einen gnä— 
digen Gott im Himmel habe. 3) Daß ich werd aufgenommen zu 
einem Kind und Erben aller himmlifchen Güter.“ 

In der „Katechiftiichen Unterweifung zur Seligfeit“ von 1680 
ferner wird bei Beiprehung des Nubens der Taufe das „bezeuget“ 
einfach ignoriert, und eine fpätere Frage dafelbit (S. 53) lautet: 
„Die wird erwiefen, daß die Taufe wirke Gottes Gnad, Wer: 
gebung der Sünden, Kindſchaft bei Gott und Erbjchaft der himm— 
lichen Güter ?* 

Während man das „bezeuget“ im Katechismus und Frage 6 
noch wohl begreifen kann, infofern füglıh die Taufe einmal 
wenigitend al Gnaden= Zeichen dargejtellt werden kann, fo tjt 
das „verfichert“ in Frage 8 wirklich auffallend, und man tollte 
dringend dafür „giebt“ oder „wirkt“ erwarten. 

Bekanntlich jtammt ja diefe Frage 8 aus der „Württemb. 
Kinderlehre.” Dort heißt es heutzutage ©. 30: „Was nutzt die 
Taufe? Sie verfihert und der Gnade Gottes, Vergebung der 
Sünden, Kindfhaft Gottes und Erbihaft des ewigen Lebens.“ 
„Dr. Zuther: Sie wirfet Vergebung der Sünden 2c.“ 

Diefelde Frage und Antwort, nur ohne den Zuſatz Dr. Lu: 
ther zc., finden wir fchon in der „Kurzen Anweiſung“ von 1701. 
Dagegen in der eriten Ausgabe der „Kinderlehre” lautet die Ant: 
wort auf die Frage: „Was nubet der Tauff?“ „Der Tauff 
würfet Gottes Gnad, Vergebung der Sünden, Kindſchaft Gottes 
und Erbichaft des ewigen Lebens. Tit. 3, V. 4 20.“ 

Nach alledem iſt e8 faum anders möglih, ald in den Wor— 
ten „bezeuget“ und „verjichert” das Zeichen eines etwas abge: 

ı Im Althammerſchen Katehismus (Hartmann ©. 72) heißt es 
allerdings auch: „Wozu ift die Taufe nütz? Daß wir wifjen, daß 
wir Ehrifto eingeleibt 20.” Aber im einer weiteren Yrage: „Gehört 
zu der Verheißung und Glauben nicht mehr?“ wird ausdrücklich bin- 
zugefügt: „Darnad) jo empfahe ich die Taufe des Wajjerd als ein 
Sigel der Gerechtigkeit nad) feinem Befehl, in dem Glauben und Ber- 
trauen, und zweifel mit, Gott gebe mir waß er verſprochen.“ 


— 


298 Reuß 


ſchwächten Glaubens an die Wirkſamkeit der hl. Taufe zu erken— 
nen. Das „bezeugt“ ſtammt von dem ſpäteren Brenz. Auf wen 
iſt das „verſichert“ zurückzuführen? Wir finden es zuerſt um 1701 
in der Kurzen Anweiſung.“ Bedenken wir den Einfluß, welchen 
Spener um jene Zeit gerade auf die Katecheſe in den evangeliſchen 
Kirchen hatte, ſo möchten wir vermuten, daß zwar nicht von ihm 
ſelbſt, — der in feinen „tabulse catecheticæ“ die genuin lutheriſche 
Lehre von der Taufe meifterhaft entwidelt —, aber doch unter 
pietiftifchen Einflüffen das alte „wirket“ dem ſchwächeren „verjichert“ 
weichen mußte. R 

Wir wollten mit diefen Bemerkungen nicht etwa für eine 
Tertänderung des Gonftirmationsbuches reden, obwohl wir glau- 
ben, daß einige Änderungen und namentlich Verfürzungen und 
Umitellungen den Wert des vortrefflihen, aber doch jchon 150 
Jahre alten Buches wejentlic erhöhen würden. Wir möchten nur 
auf einige Schwierigkeiten des Buches hingemwiefen haben und da- 
mit einen Beitrag zu feiner Erklärung, d. i. dem jo wichtigen 
Gonfirmanden-Unterricht Be 


Haturgefeb md Wunder. 
Studie eines Nichttheologen!. 
Bon Dr. Reuß, — a. D. in Stuttgart. 

1. Sämtliche — —— ſind anzuſehen als 
fortwährende ununterbrochene Offenbarungen der Allmacht 
und Weisheit Gottes. Gott iſt daher beſtändig in der Natur 
wirkend, die Natur kein ſpontan ablaufendes Uhrwerk. 

2. In uns ſelbſt finden wir als eine Äußerung unſeres 
vernünftigen, nach Erkenntnis ſtrebenden Geiſtes den Trieb, die 
Naturerſcheinungen zu ergründen und in Geſetzen zu 
en Wir müfjen alfo diefen Trieb als einen von 

Es iſt begreiflih, daß es dem Verfajjer nicht möglich war, die 
Borausfegungen, von denen er bei feiner Arbeit ausging, in Kürze 
zu begründen; er hatte dazu auch um fo weniger Veranlafjung, ala 
der Aufjab urſprünglich gar nicht zur VBeröffentlihung bejtimmt war. 


Naturgejek und Wunder. 299 


Gott anerfhaffenen und die Erforichung der Naturgejete als gött- 
liher Dffenbarungen, für etwas von Gott Gemolltes, für eine 
von Gott dem Menfchen geftellte Aufgabe anerkennen. 

3. Es würde der Bedeutung der Naturgefege und der Harmonie 
des Schöpfungsplans Abbruch thun, wenn man den vom Menfchen 
erfennbaren und erkannten, teilmeife auf notwendige mathematische 
Formeln gebrachten Naturgejegen blos jubjeltiven Wert zuerfennen 
wollte. Wir dürfen in ihnen alfo einen objektiven Ausdrud 
göttliher Schöpfungsgedanten erbliden. 

4. Eine gefegmäßige Erfenntnis des gefamten Schöpfs 
ungsplans, der Wirkung und Wechſelwirkung ſämtlicher 
Naturgeſetze, ift uns bei der Bejchränttheit des menjchlichen Er- 
fenntnisvermögens natürlih für immer verfagt. Wenn mir 
und auch durch die Unerreichbarfeit des Ideals nicht abhalten 
lafjen dürfen, diefem deal der Erkenntnis mehr und mehr zuzu: 
jtreben, jo müfjen mir ung doch immer unferer Bejchränftheit be- 
mwußt bleiben. 

5. Ber näherer Betrachtung zeigen die verſchiedenen 
Arten von Naturgejegen verfhiedene Grade von Ge— 
wißheit. 

Den höchſten Grad von Gewißheit geben die allgemeinen 
Gejebe der Phyſik und Aitronomie; fie find von mathema- 
tiicher Erkenntnis durchdrungen, auf allgemein notwendige Formeln 
gebracht, teilmeife a priori zu fonjtruieren. Ob hier noch weſent— 
liche neue Gejeße werden entdedt werden, wer vermag es zu jagen ? 
Mefentlihe Korrefturen der befannten Grundgeſetze werden fie 
wohl nicht bringen. 

Die Geſetze der Chemie find dur Induktion gewonnen ; 
das a priori, die Notwendigkeit iſt ausgeſchloſſen. Die uns be- 
fannten Eigenſchaften der Körper gelten für die vorhandenen und 
dem Experiment erreichbaren Berhältnifje; wie fie ſich bei anderen 
Graden von Temperatur und Drud verhalten würden, willen wir 
nicht. Die Annahme von jo und jo viel „Elementen“ tjt ein dem 
Denken incommenfurables Nejultat der Erfahrung, vielleiht nur 
ein proviſoriſches. 

Die Geſetze des organifhen Lebens, ſowohl die Ge- 
ftaltungen der Arten, als der organifche Lebensprozeß, find ebenfalls 


300 | Reuß 


nur Ergebnis der Induktion mit Ausſchluß der aprioriſchen Not- 
wendigfeit. Mir erfennen wohl die Zwede, aber oft nicht Die 
wirfenden Urſachen, deren fi der Zweckgedanke bedient. Der 
organifchschemifche Prozeß iſt äußerſt fompliziert; das Rätſel der 
Befruchtung, der Entwidlungsgefhichte der Frucht iſt ungelöst. 
Im animalifchen Leben wirft der Wille verändernd auf den Ab- 
lauf des organischen Prozeſſes ein. Hier ftehen wir offenbar erft 
am Anfang der Erkenntnis, Neue Entdedungen fünnen hier 
wejentlihe Korrekturen und Veränderungen der bisherigen An 
Schauungen bringen. Wir erinnern an die Entdedung der Bar: 
thenogenefis, der eierlegenden Säugetiere, des Hypnotismus. Auf 
diefem Gebiet werden wir am wenigiten hoffen dürfen, je Die 
Summe aller wirfenden Kräfte, ſomit alle Gejege des organijchen 
Lebens zu erfennen. 

6. Außer den bisher bezeichneten Lücken unferer Erfenntnis iſt 
noch der wichtige Umftand zu betonen, daß wir gar nichts 
wiſſen über das erſte Entitehen der Natur und ihrer Ge: 
jete, und namentlich das erite Entjtehen lebendiger Organismen. 

7. Wie überhaupt fein Gefeb, fein Zmedgedanfe denkbar tft 
ohne einen geiftigen Urheber, der im Intereſſe eines umfajjenderen 
Plans dieſe Beitimmungen trifft und Diefelben in das Syſtem 
eines weitergreifenden Ganzen hineinjtellt, fo müſſen wir dasjelbe 
für die fich offenbarenden Gejege und Zmwede der finnlihen Welt 
annehmen. Die Naturgejete und Zwecke können nidt 
Selbitzwed fein. Es giebt umfafjendere, meitertragende 
Scöpfergedanten außer und über der finnlichen Natur. Das Da- 
jein der Naturgefege jeßt einen umfajjenderen, Sinn: 
lihes und Überfinnlides begreifenden — 
voraus, dem die Naturgeſetze untergeordnet ſind. 

8. Daraus folgt, daß wir uns die ſinnliche Welt nicht nur 
nicht als ein ſpontan, mechaniſch ablaufendes Uhrwerk zu denken 
haben, ſondern daß der Ablauf ihrer Erſcheinungen unter den Ge— 
ſetzen des das Geſamte umfaſſenden Weltplans ſteht; daß, be— 
ſonders in gewiſſen bedeutungsvollen Epochen des letzteren, die 
Geſetze der überſinnlichen Welt modifizierend, po— 
tenzierend auf die Kräfte der ſinnlichen Natur ein— 
wirkend gedacht werden dürfen. 


Naturgefeg und Wunder. 301 


9. Um jedoch diefes Eingreifen übernatürlicher Urfachen 
wifjfenfhaftlih beweijen zu fünnen, müßten wir a) ent- 
weder ein Kriterium, eine wiſſenſchaftliche Methode befiten, 
um derartige Borgänge in der jinnlihen Welt als über- 
natürlich bedingt auffaffen zu fönnen; fo wie wir Die 
Wirkungen der verfchievenen Naturfräfte aus den Erfcheinungen 
zunächſt durch unfere Sinnesorgane auffaffen, dann durch wiſſen— 
Ihaftlihe Hilfsmittel (Apparate) tiefer begründen, durch mathe- 
matiſche Berechnung auch für andere beweifend objektivieren, und 
dann als notwendige Glieder in die gefamte Gaufalität des Welt- 
ganzen einreihen, oder b) wir müßten volle Erfenntnis der 
Summe aller Naturgejeße haben, jo daß dann per exelu- 
sionem jene Annahme bemwiejen wäre, wenn der Vorgang aus 
feinem Naturgeſetz erklärt werden fünnte. 

Daß die sub b) vorausgefegte Stufe der Erfenntnis 
nie erreicht werden wird, haben wir oben (5 am Schluß) be- 
merft. 

10. Was aber die Frage nach etwaigen erfenntnis- 
theoretiſchen Kriterien übernatürlicher Einwirkungen betrifft, 
jo möchten wir Folgendes bemerken. 

Vor allem wird man zugeben müjjen, daß, wenn aud) etwas 
nicht ftreng wiſſenſchaftlich bewieſen oder formuliert 
werden fann, dasfelbe deshalb nicht für nicht vorhanden 
oder unmöglich erklärt werden darf, wenn Thatſachen fprechen. 
Die theoretifche Möglichkeit folcher überfinnlichen Einwirkungen 
auf finnlihe Vorgänge ift oben (7. 8.) nachgewieſen worden. 
Nun iſt uns in der hlg. Schrift eine Reihe von Ereigniffen 
berichtet, befonder3 die Perfon und das Werk Chriſti betreffend, 
weldhe fo außerordentlich find, ihrer Art nad) jo fehr das 
Mat alles erfahrungsmäßigen Gejchehens überjchreiten, daß die 
Augenzeugen, auch abgejehen von der Belräftigung durch eine 
höhere Autorität, die unabweisbare Überzeugung befamen, daß es 
jih um ganz unerhörte Ereignifje, um Wunder handle. Und aud) 
wir werden und durch die mangelnde erfenntnistheoretifche Be: 
gründung nicht abhalten laffen, diefe gefchichtlich begründeten That: 
fahen voll und ganz als Wunder anzuerkennen. 


302 Reuß 


11. Wenn wir im Vorigen eine Begründung unſeres Glau— 
bens an Wunder ſehen dürfen, ſofern es ſich um in der Bibel 
geſchichtlich beglaubigte Wunder handelt, wie ſteht es mit dieſer 
Frage in Betreff der Gegenſtände des täglichen Geſchehens, 
den Reſultaten unſerer eigenen ſinnlichen und wiſſenſchaftlichen 
Naturbeobachtung? Hier müſſen wir zugeſtehen, daß wir ein 
wiſſenſchaftliches Kriterium für die Annahme über— 
natürlicher Einwirkungen in den Naturvorgängen, ge— 
nügende erfenntnistheoretiiche Momente für dieſe Annahme nicht 
haben. Da aber die Möglichkeit folder überjinnlihen Cauſalität 
zugegeben iſt (7. 8.), jo zwingt nichts zu der Annahme, daß eine 
jolche nur bei ganz außergemwöhnlichen Phänomenen ftatuiert werden 
dürfe; vielmehr jteht nichts ım Meg, fie auch bei ganz alltäglichem 
Geihehen ala wirkend anzunehmen; wie ja auch in der bla. 
Schrift ſolche Ereigniffe erzählt find, die dem gewöhnlichen Ge- 
ſchehen nicht fo fern ftehen, als die sub 10 befprochenen Wunder. 

12. Wenn unzweifelhaft die Erforfhung der Natur: 
geſetze als eine dem menſchlichen Geiſt eingepflanzte Aufgabe an- 
gejehen werden muß (2.), jo ergiebt jih daraus notwendig ala 
das leitende Prinzip für die Löſung diefer Aufgabe, daß der 
Verſuch, in diefe Gefete einzudringen, ſoweit als möglid 
fortgefeßt werden muß, ſelbſt wenn das Biel nie völlig erreicht 
werden Sollte. Als dieſes Ziel, ala das Ideal der Natur: 
erfenntnis ſchwebt uns dabet vor, die verwidelteren Natur: 
vorgänge, wie die Meteorologie, das Leben des gefunden und 
franfen Organismus u. ſ. mw. in ähnlicher Weiſe auf mathematijche 
Baſis zu ftellen und als notwendiges Glied in das reiche Getriebe 
der Gaufalität des Naturganzen einzuordnen, wie dies in der 
Altronomie in jo hohem Grad gelungen tft. 

13. Dieje Aufgabe fcheint nun (neben der fi) damit 
vielfach berührenden kritiſchen Entwidlung der Erfenntnistheorie) 
namentlich der neueren Zeitzugemiejen zu fein. Aus 
der Betrachtung der Gefchichte dürfte fich ergeben, daß ver- 
Ihiedenen Zeiten uud verjhiedenen Völkern ver- 
Ihiedene Anteile an der Aufgabe zugefallen find, melde 
Gott der gefamten Menfhheit zur Durhführung feines 
Weltplans und zur Vermirklichung feines Gottesreihes gejtellt 


Naturgefeg und Wunder. 303 


hat. Da Sich diefe Teilung der Arbeit aus den verfchiedenen 
Zeitverhältniffen und verfchiedenen Individualitäten der Völker 
naturgemäß ergiebt, jo ift fie gewiß eine von Gott gemwollte und 
beabjichtigte, — | | 

Die altteftamentliche Auffafjung jieht in den Naturvorgängen 
nur das unmittelbare, ſozuſagen willfürlihe Cingreifen Gottes, 
hat aber von den Naturgefegen nur inſoweit eine Ahnung, als 
fie das handgreiflichite Gefchehen bewirken (Mechfel von Tag und 
Nacht, Sommer und Winter und dergl.). Die jegige Wiffenfchaft 
it in der Erkenntnis diefer Geſetze weit vorgeſchritten; fie weiß viele 
zu berechnen, als notwendig zu ermweifen, und viele Naturvorgänge 
darnad) voraus zu beftimmen. Wir dürfen diefe Refultate (fofern 
fie wirkliche Refultate find) mit Freude und Stolz begrüßen und 
und aneignen. Dabei find aber folgende Punkte nicht aus dem 
Auge zu verlieren: | | 

a) Mit der Erkenntnis diefer Geſetze ift fein Zwie— 
fpalt zwifhen Glauben und Wiffen, fein Widerfprud 
mit der bibliſchen Weltanſchauung ftatuiert, vielmehr drüden fie 
und nur die wunderbaren gejegmäßigen Weifen der Offenbarung 
der göttlihen Allmacht und Weisheit aus (1). 

b) Das ideale Ziel der Naturerfenntnis, die Kenntnis 
ſämtlicher Gejete, das Durhihauen des Naturganzen, wird 
der menjchliche Geilt nie erreichen (4. 5. 6.). 

ce) Ein Eingreifen übernatürlider Kräfte in die 
Vorgänge auch des alltäglichen natürlichen Gefchehens ift theore— 
tifch denkbar und deshalb nicht als unmöglich zu verwerfen 
(7. 8. 11.), wenn auch (aus dem sub b eben angeführten Grund) 
namentlich in den fomplizierteren Naturprozeflen (meteorologifche 
Vorgänge, Verlauf und Heilung von Krankheiten) wiſſenſchaftlich 
nicht zu bemeifen. 

(Die Frage der Gebetserhörungen, d. h. der Modifikation 
eines göttlichen Entjchluffes um eines Gebetes willen kann natür- 
lich hier nicht erörtert werden. Das Gebet kann ein Grund für 
eine überjinnliche Einwirkung Gottes fein.) 

14. Wenn wir nun alfo (13.) eine Verſchiedenheit der Auf: 
gaben für verfchiedene Zeiten als eine von Gott gemollte anjehen 
dürfen, fo ift bei Betrachtung der Entwidlung des Gottesreiches 


304 Reuß, Naturgefeb und Wunder. 


auf Erden der Gedanke kaum abzumeifen, daß Gott in ver: 
Ihiedenen Epodhen diefer Entwidlung übernatür- 
lihe Kräfte und Einwirkungen auf die Natur in verjcdie: 
denem Maße hat einwirken lafjen. Unbezweifelt ſteht dies 
feit für das einzigartige zentrale Wunder der Menjchwerdung und 
Auferjtehung Chrifti. Aber auch die von Chriſtus und den Apojteln 
vollzogenen Totenbelebungen, mande Kranfenheilungen 2c. haben 
jih in ähnlicher auffallender und als wunderbar bezeugter Weiſe 
nicht wiederholt. Es iſt wohl erlaubt, ald Grund dafür anzu: 
nehmen, daß für Geſchlechter, die durch die früheren bezeugten 
Wunder und den ganzen Geift und die fittlihen Wirkungen des 
Chriftentums nicht zu überzeugen find, auch durch derartige Wunder 
nicht3 zu erreihen wäre. Und der gläubige, aber kritiſch denfende 
Chrift würde einerfeits eine wiſſenſchaftlich geficherte Überzeugung 
von der Nealität übernatürlicher Caufalitäten nicht gewinnen 
fünnen, bedarf derfelben aber andererjeitS auch nicht zur Befeſtig— 
ung feiner Überzeugung von der Göttlichfeit des Chriftentums. 

Auch außerordentliche, unerklärliche Ereignifje, denen ja die 
direfte Bezeugung als wunderbarer durd eine göttliche Autorität 
abgeht, könnten feinem Glauben nicht nur feine ftärfere Gewähr 
und Beweiskraft, ſondern nicht einmal eine ebenjo ftarfe bieten, 
als die einzigartigen, göttlich bezeugten Wunder der Bibel. Denn 
auf die Beglaubigung der Wunder durch die ganze Perſönlichkeit 
und das Zeugnis Chriſti ıft gewiß ein größeres Gewicht zu legen, 
als auf die Beweisfraft außerordentlicher Ereignifje, mo lettere 
Bedingung nicht mehr erfüllt werden kann. Außerordentliches, 
Unerflärliche8, das fi in unferen Tagen ereignen mag, kann 
ebenjomwenig ala ein Beweis für übernatürliche Einwirkung gelten, 
als das Alltägliche eines Ereignifjes als ein Beweis gegen die 
Möglichkeit eines folchen. 

Daß die Möglichkeit, ja Wirklichkeit überſinnlicher Einwirk— 
ungen auf die Natur auch in jeßiger Zeit entfernt nicht geläugnet 
werden ſoll, geht ſomit aus allem bisherigen hervor. 

15. Wir haben im Vorigen das Verhältnis der Naturgefege 
zu übernatürlichen Einwirkungen auf die Naturvorgänge erwogen. 
Nur furz angedeutet mag noch werden, daß auf dem Gebiet 
des Geiiteslebens die Wirkung überfinnlider Kräfte 


Riefer, Das chronologiſche Verhältnis zc. 305 


für Jeden nicht matertaliftiich Denfenden eine unabmweisbare 
Annahme ijt; die Frage liegt hier einfacher, weil hier der Konflikt 
zwiſchen Naturgefegen und übernatürlichen Kräfteeinwirfungen zum 
voraus ausgeſchloſſen it. (Befehrung, Ausbreitung des Chriften- 
tums 20.) Zur Unterjtüßung des sub 14 Gefagten möchte ich er- 
wähnen, daß auch hier Gott zu verfhiedenen Epochen be- 
jondere Kräfte und Gaben hat in Wirkung treten lafjen (Pro— 
phetie). 

16. Mag fich aber auch der kritisch Denkende bei einem einzelnen 
Ereignis außer Stand3 fühlen, zu entſcheiden, ob.er natür- 
lihe oder übernatürlihe Kräfte als wirkend annehmen 
foll, jo wird der Glaubige jedenfall an der Möglichkeit letzterer 
nicht zweifeln; und vor allem muß er im Gebädtnis behalten, 
dab beides Dffenbarungen des Einen Gottes find, 
Einem großen göttlichen Zwed und Plan dienen, und fomit 
Gegenjäse, aber feine unlösbaren Widerſprüche darftellen. 
Für unfer diesfeitiges Leben werden dieſe Fragen immer dunkel 
und ungelöst bleiben. Wie der „Zufall“ im Gebiet der Natur: 
gejege nur ein vorläufiger Ausdrud für ein noch nicht erfanntes 
Geſetz ijt, jo dürfen wir hoffen, daß das, was jet „Wunder“ 
genannt wird, einft ala notmwendiges Geſetz im göttlihen Weltplan 
und in der Entwidlung des Reiches Gottes von uns erfannt 
werden wird, eine Erkenntnis, die uns diesſeits nur Gegenftand 
des Glaubens und Baum Ahnung iſt. 


— — — — 


Bas chronologiſche Berhältnis von Auferſtehung 
und Zimmelfahrt Chrifti. 


Bon Helfer er in Bradenheim. 

Das chronologiſche Verhältnis von Auferſtehung und Himmel: 
fahrt Chrifti denken wir ung gewöhnlich jo, daß Auferitehung und 
Himmelfahrt durch einen Zwiſchenraum von 40 Tagen getrennt 
find, und glauben uns dabei in volljtändiger Übereinftimmung 
mit den neuteftamentlihen Berichten zu befinden. Ber genauerer 
Prüfung diefer Berichte jtellt jich jedoch heraus, daß das Ver: 
hältnis der beiden in Rede jtehenden Thatjachen feineswegs ein 

Theol. Studien a. W. VII. Jahre. 20 


306 Riefer, Das hronologifhe Verhältnis 


jo klares und durchfichtiges ıft, weshalb es fich wohl verlohnen 
dürfte, eine genauere Unterfuhung der biblifchen Berichte hierüber 
anzuftellen, um zu erfahren, ob unfere gewöhnliche Vorftellung 
von dem chronologischen Verhältnis von Auferitehung und Himmel: 
fahrt Chrifti wirklich auch die echt biblifche if. Wenn ich im 
Folgenden zu einem Ergebnifje gelange, das der herfümmlichen 
Vorſtellung nicht ganz entipridht, jo darf ih um fo mehr für 
dasjelbe den Anfpruch erheben, daß es fich mit der biblifchen An- 
ihauung in Übereinftimmung befinde. 

In einem erjten Teil unterfuhe ich die neutejtamentlichen 
Schriftiteller, von denen für unfern Zweck befonders die Evange— 
liften, der Verfaffer der Apoſtelgeſchichte, ſowie der Apojtel Paulus 
in Betracht fommen, binfichtlich ihrer Anfhauung vom chronolo= 
giſchen Verhältnis von Auferjtehung und Himmelfahrt Chrifti; 
in einem zweiten Teile ftelle ich die Ergebnifje jener Unterfuchung 
zufammen und ziehe die Schlüffe, die ſich daraus ergeben. 


I. Unterfuchung der neuteftamentlichen Berichte. 

1. Mathäus erzählt gar nichts von einer Himmelfahrt 
Chrifti. Was man gewöhnlih als einen Bericht hierüber anfieht, 
der Schluß Kap. 28, V. 16—20, ift nicht® anderes als die Er- 
zählung von der letten Erfheinung Jeſu vor feinen Süngern auf 
einem Berg in Galiläa. Von einem Fahren gen Himmel oder 
auch nur von einem Verſchwinden Jeſu tft nichts gejagt; in diefer 
Beziehung fteht diefe legte Erfcheinung auf Einer Linie mit einer 
früheren von Mathäus berichteten (28, 9. 10.), von der auch nur 
berichtet wird, was Jeſus gejagt habe, nicht aber, daß und wie 
er verfchwunden fei. Auch über den Zeitraum zwiſchen der Auf: 
erſtehung Jeſu und feiner legten Erſcheinung erhalten wir feinen 
Aufſchluß. 

Da dieſe letzte Erſcheinung Jeſu (d. h. die letzte, von der 
und Mathäus berichtet), in Galiläa ftattgefunden hat (V. 16), fo 
fann fie nicht mit derjenigen iventifch fein, die nad) der gemöhn- 
lichen Vorftellung der Himmelfahrt vorausgegangen ift und auf 
dem Ölberge nahe bei Serufalem ftattgefunden hat, weshalb 3. 8. 
Tiſchendorf in feiner Synopfe die Erfcheinung in Oaliläa von der 
auf dem Olberg unterfhieden hat. Und doc tritt Jeſus bei der 


von Anferftehung und Himmelfahrt Chrifti. 307 


von Mathäus als legte berichteten Erfheinung ganz jo auf, als 
ob dies wirklich ſeine allerlegte Erſcheinung nach feiner Auferjteh: 
ung gewejen jet. Die Worte, die er an feine Sünger richtet: 
TogevFtErres uadnrevoare 2. können dod nicht anders denn 
als Abſchiedsworte des Scheidenden verftanden werden; und die 
Schlußworte: ıdov Evo ueF} vuor ete. fann doch nichts an- 
dere bedeuten als das, dab er fünftig bis zu feinem legten 
Kommen zwar nicht mehr fichtbar bei ihnen fein werde, aber un: 
jihtbar mit feinem Geiſte. Sofern alfo diefe von Mathäus als 
legte berichtete Erfcheinung Jeſu von ihm gewiß aud als die 
faktiſch legte Erfcheinung Jeſu gemeint ift, läßt es fich wohl be: 
greifen, daß mande Theologen in apologetifhem Intereſſe um 
jeden Preis den Bericht von der letzten Erjcheinung Jeſu auf dem 
Ölberge und den des Mathäus von feiner letzten Erſcheinung in 
Galiläa zu vereinigen ſuchten und dabei auf allerlei fünftliche 
Auswege kamen, die faum ernitlich zu nehmen find (3. B. Rud. 
Hofmann: zu [arıkaıa Matth. 28 fer nicht das Land Galiläa, 
jondern ein Berg dieſes Namens nämlid der nördliche der drei 
Gipfel des Olbergs). 

2. Marcus erzählt die Himmelfahrt ebenfalls nicht, da der 
Abfchnitt Kap. 16, 9.— 20. nad) der Beichaffenheit der Hand: 
fchriften unecht iſt, ſomit für unfere Frage nit in Betracht 
fommt. 

3. Lucas hat zwei Berichte, einen im Evangelium und einen 
in der Apoſtelgeſchichte. 

a) Im Evangelium weiß Lucas ebenfalls nichts von 
einer Himmelfahrt Jefu im gewöhnlichen Sinn des Worts. Wohl 
heit es in umferer lutherifchen Überfegung (nad) dem textus 
receptus): „Er führete jie aber hinaus bis gen Bethanien und 
hub die Hände auf und fegnete fie. Und es geihah, da er fie 
jegnete, jchied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel“. Allen 
die legten Worte avepzoero zus row vvoavov gehören der Be: 
Ihaffenheit der Handichriften nad nicht in den Tert, und das 
Verſchwinden Jeſu wird nur in dem Einen Ausdrud dısorn ar 
evrov geſchildert, wornach alfo fein Verſchwinden fein anderes 
it, als bei den übrigen Erfcheinungen Jeſu (4. B. B. 31 in dem: 
jelben Kapitel: apavrog eyevere). Auch hier iſt alfo eigentlich 

20* 


308 Rieker, Das chronologiſche Verhältnis 


nur von einer letten Erjcheinung Jeſu vor feinen Jüngern die 
Rede, nicht aber von einer Himmelfahrt. 

Wie fih nun diefe legte Erjcheinung Jeſu der Zeit nach zu 
jeiner Auferſtehung verhält, iſt nicht recht Klar. Lucas macht in 
jeiner Erzählung von der Auferitehung und Himmelfahrt Jeſu 
gar feine Pauſe, jondern erzählt beides an Emem Faden, jo daß 
man jchon auf die Meinung gekommen tt, er habe jid) die Auf: 
eritehung und die definitive Trennung von feinen Jüngern als an 
Einem Tage erfolgend gedacht. Wahricheinlicher iſt mir aber, 
daß er auf das chronologiſche Verhältnis von Auferjtehung und 
legter Erjcheinung Jeſu gar nicht reflektiert hat, und daß jo der 
Schein entjtanden iſt, als ob er alles, was er in feinem letzten 
Kapitel erzählt, in den Zeitraum Eines Tages eingezwängt hätte. 

Soviel aber ift ficher, daß er im Evangelium nichts von einer 
Himmelfahrt Sefu erzählt, fondern nur ein definitive Scheiden 
Jeſu von jeinen Jüngern kennt. 

b) In der Apoſtelgeſchichte erzählt Lucas die Sade 
etwas anders: darnach „ließ fich Jeſus nad) feiner Auferjtehung 
vierzig Tage lang unter feinen Jüngern ſehen“ (mapeornoer 
eavrov Zeuvra); darnach „ward er aufgehoben zujehends und eine 
Wolfe nahm ihn auf vor ihren Augen weg. Und als jie ihm 
nachſahen gen Himmel fahrend, jiehe da jtunden bei ihnen ꝛc.“ 
(3Aenovrov avrov annotn xaı vepein vneiajder autor anı 
rov opdakumv avrav. xci @g arerılovreg joor Eıg Tov 
oVOAVOV TOOEVOUEVOV avrov X.) Ber Ort der Himmelfahrt 
ift der Ölberg (9. 12). 

4. Johannes erzählt nichts von einer Himmelfahrt Sefu, 
wenn er auch wohl von einer ſolchen weiß (Ev. 6, 62. 12, 32.) 
Aus der Stelle 20, 17. f. verbunden mit V. 19 ff., wo Jeſus 
inmitten jeiner Sänger ericheint und ihnen durch Anblajen den 
hl. Geiſt mitteilt, hat man ſchon (bejonders die Tübinger Schule) 
den Schluß ziehen wollen, daß Jelus in der Zwifchenzeit zwischen 
dem Geſpräch mit Maria und der Erfcheinung vor feinen Jüngern 
zum Bater aufgefahren jei, denn er habe ja früher geiagt, daß 
er ıhnen den hl. Geijt nicht eher jenden fönne, als bis er beim 
Vater geweien jei (16, 7.) Alſo ſei Jeſus inzwiſchen beim 
Vater gewejen, ſonſt hätte er feinen Jüngern den hl. Geijt nicht 


von Auferſtehung und Himmelfahrt Chrifti. 309 


erteilen fünnen. Darnad) wäre aljo dieſe Austellung des Hl. 
Beiltes die Erfüllung der Parakletverheißung in den Abjchieds- 
veden geweſen. So bejtechend auch diefe Kombination Elingt, jo 
it doch das Gemicht der Gründe nicht zu verfennen, welche Bernd. 
Weiß (Leben Jeſu Bd. U, p. 615) dagegen geltend madt. Er 
jagt: „Dort (in den Abſchiedsreden) erjcheint der Paraklet überall 
als der Stellvertreter Chriſti, jest alfo fein definitive Geſchieden— 
‚Tein von den Jüngern voraus, denen Jeſus hier nad) acht Tagen 
noch einmal erjcheint, dort wird der Geiſt nicht wie hier von 
Chriſto jelbjt mitgeteilt, Jondern vom Water auf jeine Fürbitte 
gefandt, und diefe Sendung nicht wie hier an die Ausfendung der 
Sünger, jondern an die Bewährung der Jüngerſchaft geknüpft. 
Dort wirft er lediglich das Wachstum der Gläubigen in der Er- 
fenntnis Sefu Chrijti, während hier die Anhauchung der Berufs- 
ausrüftung der Jünger dient“. 

Nenn nun aber auch das Verhältnis von Auferſtehung und 
Himmelfahrt Jeſu bei Johannes nicht ganz Far tft, jo viel dürfte 
doch feititehen, daß er der Himmelfahrt neben der Auferitehung 
feine bejondere Bedeutung beimißt; ſonſt Fönnte er fie nicht fo 
ohne Weiteres mit Stillſchweigen übergehen. 

5. Was die ältefte apoftoliihe Verfündigung (fo 
weit fie fi) auß den Evangelien und der Apojtelgefchichte erfennen 
läßt) betrifft, jo wird in derjelben die Erhöhung Jeſu durch die 
Munderhand Gottes als unmittelbare Folge feiner Auferwedung 
dargeftellt, 3. B. Actor, 2, 32. f.: rovrov ror Inoovv aveornoev 
0 FEOC, VOV NAVTEg Tusıg EOuEv uaorvocg. rn Öekıa ovv Tov 
HEov vu@HFEG EGEXEEV rouro 0 vucıg xaı DaENETE Xaı aXoVErE 
vgl. damit Lucas 24, 26.: ovxı raura edsı nayeır rov Nororov 
za EigeAdEıw EG nv do&ar avrov. 

6. Von den Briefen des Apoftels Baulus kommt 
bejonders das 15. Kapitel des eriten Korintherbriefes in Betracht: 
hier zählt der Apojtel die verjchievenen Erſcheinungen Jeſu nad) 
feiner Auferjtehung auf, zuleßt die ihm felbit zu Teil gewordene. 
Daß er nun die leßtere der Art nad) von den erfteren nicht unter: 
Icheidet, zeigt deutlich, daß er ſich Chriftum unmittelbar durch die 
Auferjtehung zur himmliſchen Herrlichkeit erhoben denft, daß er alfo 
auf eimen bejonderen Zwiſchenzuſtand zwifchen der Auferftehung 


310 Kiefer, Das chronologiſche Verhältnis 


und der Himmelfahrt, ‚bezw. Erhöhung zum Himmel nicht reflet: 
tiert (wie das auch B. Weiß, Neutejtamentl, Theologie, pP. 288 
ausipricht). Auf ein ähnliches Ergebnis führt die Stelle Col. 3, 1.: 
& 0vv OvvnyEQdNTE To Agıoro, TR ar Inrtere, ov 0 Noio- 
rog gorıv £v defıa Tov YEov vaynuevog! hier iſt Die Voraus: 
jeßung, daß Chriſtus eben durch feine Auferjtehung zur Rechten Gottes 
erhöht worden fer; jonft fünnte aus dem Mitauferſtandenſein der 
Chriiten nicht die Pflicht gefolgert werden, das was im Himmel 
it, zu ſuchen. 

7. Im Hebräerbrief wird die Himmelfahrt Chrijti wiederholt 
erwähnt, und fpielt auch eine große Rolle, wenigitens als Erhöh— 
ung zum Simmel, jofern jie Chriftum vollfommen als Hohepriefter 
harakterijiert. Allein dafür tritt die Auferjtehung jo gut wie ganz 
zurüd (fie wird nur 13, 20. erwähnt), und fomit erfährt man 
doch nichtS über das Verhältnis von Auferjtehung und Himmelfahrt. 


II. Ergebniſſe und Folgerungen. 

Die Schwierigkeiten, welche ſich aus dem Bisherigen ergeben, 
jind folgende: 

1. Die Himmelfahrt ift nicht erwähnt bei den Evangeltiten 
Mathäus, Marcus, Johannes; Lucas im Evangelium fennt zwar 
die Himmelfahrt dem Namen nad) nicht, berichtet aber ausdrüdlich 
von einem definitiven Abjchied Jeſu von feinen Küngern. Genau 
genommen weiß nur die Apojtelgejhichte von einer Himmelfahrt 
Sefu, welche vierzig Tage nad) der Auferjtehung erfolgte. Die 
übrigen neuteftamentlichen Schriftiteller wiljen von einer befonderen 
Bedeutung der Himmelfahrt als einer von der Auferjtehung deut: 
lich unterfchiedenen Thatjache nichts. 

2. Die legte Erfcheinung Jeſu vor feinen Jüngern (mie wir 
vorläufig jtatt Himmelfahrt jagen müſſen, um genau zu fein) tft 
nah Mathäus, vielleicht auch nad) Yohannes, wenn Kap. 21 als 
legte Erfcheinung zu verftehen ift, in Galiläa gefchehen, nad) Lucas 
im Evangelium und in der Apoftelgefhichte auf dem Olberge nahe 
bei Jerufalem. 

3. Luca im Cvangelium jest die lette Erſcheinung Jeſu 
früher an als in der Apoftelgefchichte: denn wenn aud nicht an— 
zunehmen tft, daß alles was er im Evangelium im 24. Kapitel 


=» 


von Auferjtehung und Himmelfahrt Chriſti. 311 


erzählt, an Einem Tage gefchehen ſei, jo it doch ein Zwiſchen— 
vaum von vierzig Tagen zwifchen Auferftehung und Himmelfahrt 
durch feinen Bericht im Evangelium ausgeſchloſſen. 

Diejen Schwierigkeiten entgehen wir nur durch die Annahme, 
daß Auferitehung und Himmelfahrt Jeſu urjprünglid, in der Vor— 
ftellung der Urgemeinde, identiich find, und daß nad) der mit der 
Himmelfahrt identischen Auferftehung noch mehrere Erfcheinungen 
des erhöhten Chriſtus ſtattfanden. Allmählich aber, je mehr man 
die Reflexion auf die Zeit unmittelbar nad) der Auferjtehung 
richtete, gewöhnte man ſich, diefe Zeit, in welcher Jeſus feinen 
Jüngern erſchien und jich ihnen als den Sieger über Tod und 
Hölle erwies, noch feiner irdiſchen Wirkfamfeit zuzuzählen, und 
ihn erjt von dem Zeitpunkte an, da diefe Erfcheinungen aufhörten, 
als den gen Himmel Gefahrenen zu betrachten. Man unterjchted 
Auferstehung und Himmelfahrt, weil Jeſus noch nad) feiner Auf- 
eritehung auf Erden erſchien, und nannte dann dasjenige Ver: 
ihwinden Jeſu, nad welchem er nicht mehr auf Erden erfchien, 
feine Himmelfahrt. In Wirklichkeit aber ſind „alle feine Erjchein- 
ungen Erjcheinungen des zu Bott Erhöhten, der Erde nicht mehr 
Angehörigen, wenn er auch für den Zweck diefer Erjcheinungen 
irdiſche Leibhaftigfeit angenommen hat“ (Weiß, Leben Jeſu II, 613)- 

An den Thatjachen der evangelifchen Gefchichte, an der That- 
jache der Auferjtehung, an den Thatjachen der Erjcheinungen des 
auferftandenen Chriftus wird durch diefe Auffafjung nichts ge- 
ändert. Es handelt fih nur darum, ob man die Auferjtehung 
oder die legte der Erfcheinungen des Auferjtandenen als Himmel: 
fahrt bezeichnen will. Es handelt ſich alfo für uns nicht um 
Veränderung von Thatſachen, fondern um eine andere Beleucht: 
ung feitjtehender Thatjachen. 

Ber dieſer Auffaſſung des Verhältniffes von Auferftehung und 
Hımmelfahrt Jeſu heben fih nun aud die oben angeführten 
Schwierigkeiten, von denen die gewöhnliche Auffafjung gedrüdt 
wird. Die erjte Schwierigkeit, daß Mathäus, Marcus, Johannes 
die Himmelfahrt bezw. die legte Erjcheinung des Auferftandenen 
nicht erzählen, erledigt ji) damit, daß die Himmelfahrt Jeſu als 
Erhöhung zum Himmel ihnen mit der Auferftehung zufammenfällt, 
die Himmelfahrt aber als legte Erfcheinung ihnen nicht jo wichtig 


m 





312 Riefer, Das chronologiſche Verhältnis 


ericheint, daß fie Diefelben ausdrüdlich berichten oder fie als jolche 
ausdrüdlich bezeichnen zu müſſen für nötig hielten. Die Hauptfache 
it die Auferitehung Jeſu, nicht die lette Erjcheinung des Auf: 
eritandenen. 

Die zweite Schwierigfeit, die Differenz hinfichtlic des Ortes 
der letzten Erfcheinung Jefu (Galiläa nad Mathäus, Olberg nad) 
Lucas) läßt fih durch unſere Auffaffung ebenfalls leicht Löfen. 
Gilt die Auferftehung zugleich als Himmelfahrt, jo legt man auf 
die letzte Ericheinung des Auferitandenen feinen fo großen Wert, 
ald man thut, wenn diefelbe zugleich den Abſchluß der gefamten 
irdischen Wirkſamkeit Jeſu darftellt und als eigentlihe Himmel: 
fahrt zu veritehen tt; legt man auf die lette Erjcheinung des 
Auferjtandenen feinen jo großen Wert, dann kann ſich aud in 
der Tradition viel leichter eine Differenz Hinfichtlih des Ortes 
diefer letzten Erfcheinung Jeſu bilden. Im andern Fall weiß ich 
nicht, wie man die Differenz zwifchen Mathäus und Yufas hin: 
fihtlih des Ortes der legten Erjcheinung Jeſu befriedigend er: 
flären will. 

Die dritte jener Schwierigkeiten, nämlich die Differenz bin: 
jichtlich der Zeit der legten Erfcheinung bezw. Himmelfahrt Jeſu bei 
Lukas jelber zwischen feinem Evangelium und feiner Apojtelgeichichte, 
verfchwindet ebenfallö, wenn man bedenkt, daß für Yucas ber Ab- 
faffung des Evangeliums die legte Erfcheinung Jeſu noch nit ſo 
wichtig gewefen ift, daß er auf das chronologiſche Verhältnis der: 
jelben zur Auferjtehung näher reflektiert hätte. Bet der Abfaſſung 
der Apoftelgefhichte war das anders: jie erfolgte zu einer Zeit, 
wo ich bereits eine bejtimmte Tradition über das chronologifche 
Verhältnis der beiden in Nede jtehenden Thatjachen gebildet hatte. 

Auch eine dogmatiihe Schwierigkeit jcheint ſich bei unferer 
Auffaffung am leichtejten zu heben, nämlich die Beitimmung des 
Aufenthaltsorte® Jeſu nach feiner Auferjtehung. Iſt er nad) der 
legten Erſcheinung erjt gen Himmel gefahren, wie die gewöhnliche 
Auffaffung annimmt, dann weiß man nicht, wo man fi ihn in 
der Zwiſchenzeit zwiſchen Auferitehung und Himmelfahrt zu denken 
hat: auf Erden nicht — denn da erjchien er nur vorübergehend, 
immer wieder verſchwindend; im Himmel auch nicht, denn dahın 
fuhr er ja erit nad) feiner legten Gricheinung auf. Läßt man 


von Auferjtehung und Himmelfahrt Eprifti. 313 


dagegen Auferstehung und Himmelfahrt zufammenfallen, jo iſt der 
Himmel, der Platz zur Nechten Gottes der eigentliche Aufenthalts: 
ort des auferitandenen und erhöhten Chrijtus, von wo aus er 
jih den Seinigen noch eine zeitlang offenbarte, und das was man 
ſonſt Himmelfahrt nennt, ijt nicht anderes ald das Ende der 
jichtbaren Erſcheinungen Chriſti. Auch durch den Ausruf Jeſu 
am Kreuze: nareo, Eis KEoac 00V naoarıdeum To Verne 
nov (Luc. 23, 46.), Scheint ein Zwiſchenzuſtand Jeſu nach jeiner 
Auferftehung ausgeichloffen zu werden. 

Mit unferer Auffaffung jtimmt überein B. Weiß, der in 
jeiner Theologie des N. T. p. 65 fagt: „Der Himmelfahrt wird 
in der Meisfagung Jeſu jo wenig wie in der ältejten Überliefer- 
ung als eines epochemachenden Creignifjes gedacht, geſchweige denn 
daß leßtere fie als einen finnenfälligen. Vorgang daritellte. Die 
(richtig verjtandene) Auferwedung qualifiziert ihn ja von jelbit 
sum himmlifchen Leben“. 

Es bleibt uns zum Schluß nur nody übrig, etwas über die 
Konjequenz unferer Auffaffung für die Predigt zu bemerfen. Es 
ltegt nahe zu jagen: wenn die richtig veritandene Auferitehung 
die Himmelfahrt mit einfchließt, was bleibt denn dann für Die 
Predigt am Himmelfahrtsfejte übrig? muß man denn dann nicht 
beivemal das Gleiche jagen? Die Antwort darauf wird uns nicht 
jo jchwer; bisher war ja jchon der Predigtitoff für beide Seite jo 
ziemlich der gleiche: Die Predigt am Dfterfefte hat bisher ſchon immer 
den Sieg des Heilands über Tod und Hölle, feine Erhöhung aus 
dem Stande der Erniedrigung gefeiert, und dabei nicht den Unter: 
ſchied zwiichen einer Erhöhung blos zum Leben und Nüdfehr zur 
Erde und zwifchen einer Erhöhung zum Himmel gemadt. Es jei 
uns gejtattet zum Beweiſe unjerer Behauptung einige Elaffiiche 
Beripiele aus unferer ſchwäbiſchen Heimat anzuführen. In einer 
Diterpredigt von K. Gerof mit dem Thema: Die Lebensbotichaft 
des Ditermorgens, heißt der zweite Teil: Euer Heiland lebt! 
Dies wird unter anderem näher fo ausgeführt: „Er lebt nicht 
nur fort in der dankbaren Erinnerung der Seinen, fondern er 
lebt perfönlich fort ala ein Sieger über Tod und Grab, zu dem 
ihr beten dürfet, auch wenn ihr ihn nicht jehet, der bei den Seinen 
it alle Tage bis an der Welt Ende und den Segen feiner Auf: 


314 Rieker, Das chronologiſche Verhältnis ıc. 


eritehung ihnen mitterlt im Leben und Sterben.” Hier wird das 
Lebenswerk Chriſti als ein durch feine Auferitehung abgeſchloſſenes 
und vollendetes betrachtet; es wird nirgends gejagt, daß erit noch 
die Himmelfahrt dazu Fommen müfje, um unjere Grlöfung zu 
vollenden. Gänz ähnlich wie Gerok faßt auch C. Burk (Predigten 
p. 283 f.) die Bedeutung der Auferſtehung: „Darum ſind wir 
getroſt und wiſſen, daß Chriſtus von den Toten auferwecket hinfort 
nicht ſtirbet“ (ib. p. 284). Zum Gegenſtand ſeiner Himmelfahrts- 
fejtpredigt macht dann derjelbe Prediger „das Segnen als das 
hohepriejterlihe Thun des erhöheten Heilands“. Wir jehen aus 
den angeführten Beifpielen zur Genüge, daß man in der chrijtlichen 
Predigt nicht daran denkt oder daran denken kann, der Himmel— 
fahrt Chrifti eine befondere Bedeutung für das Erlöſungswerk bei— 
zulegen: beidemal, am Oſterfeſt wie am Himmelfahrtsfeit, wird 
die gleiche Thatjache gefeiert, nur jedesmal in anderer Beleuchtung 
und Beziehung. Am Oſterfeſt feiert man die Erhöhung Chrifti 
mit bejonderer Beziehung auf das was hinter ihm liegt, was 
vorausgegangen it; am Himmelfahrtsfejt feiert man die Erhöhung 
Chrifti mehr mit Beziehung auf das was folgt, d. h. mit Be- 
ziehung darauf, daß er nun nicht mehr bei uns ijt, daß er im 
Himmel iſt. Jedes Felt hat jein gutes Recht, weil jedes 
feinen eigenen Stoff und Gegenitand hat. Wer die von uns ent- 
widelte Auffafjung des chronologiſchen Verhältnifjes von Aufer: 
ftehung und Himmelfahrt Chriſti annimmt, wird nicht anders 
predigen müſſen als bisher, vorausgefeßt, daß er bisher Schon To 
zwiichen den beiden Feſten unterjchieden hat, wie die oben ange: 
führten klaſſiſchen Mujter es gethan haben. 

Zur Bejtätigung deſſen, was über die homiletifche Bedeutung 
unjerer Auffajlung gejagt worden ift, führen wir noch an, was 
das neueſte Lehrbuch der Homiletit „Handbuch der geiftlichen Be: 
redſamkeit“ von Bajjermann über das Himmelfahrtsfeit p. 412 f. 
jagt: „Das Himmelfahrtöfeit hat Djtern gegenüber feine eigene 
durchichlagende dee, wie ihm auch der Djterthatfache gegenüber 
die eigene Thatache fehlt. Denn beivemal bejteht die Thatjache 
doch in dem, was gejchehen ift, um den Eindruck und die Gewiß— 
heit hervorzubringen, daß der Erlöfer nicht den Toten, fondern 
den Lebendigen angehöre, mit anderen Worten: nicht in das 


Hertlein, Zum 82. Pſalm. 315 


Totenreih, jondern in den Himmel zu Gott eingegangen jet. 
Nur dienen als thatjächlicher Beweis hiefür das Eine Mal die 
Ericheinungen des Auferitandenen, das andere Mal die Himmel— 
fahrt. Paulus, der von der leßteren nichts weiß, iſt darum deſſen 
nicht minder ficher, daß Chriftus lebe. Die Himmelfahrt war eben 
erit in der jpäteren Tradition, welche Lukas vertritt, notwendig, 
um, nachdem man fich irrtümlich angewöhnt hatte, die Auferiteb- 
ung als eine Rückkehr zur Erde anzujehen, den Zeitraum diefes 
Erdenaufenthaltes des Auferitandenen abzujchließen und jeine 
Nüdfehr in den Himmel darzuitellen“. — „Man muß der 
Ausbildung der Tradition folgen, um einen einigermaßen jelbit- 
tändigen Gedanken zu gewinnen: wir haben einen lebendigen Er: 
löjer, jo verfündigt uns Ditern, und er offenbart fich als jolcher 
uns, den hier auf Erden Lebenden; aljo wo wir find, da iſt auch 
er. Uber, jo fügt die Himmelfahrt hinzu, die eigentliche Stätte 
feines Lebens iſt doch nicht die Erde, jondern der Himmel, nicht 
bei den Menjchen, fondern bei Gott. Uns, die mit ihm gläubig 
Vereinigten, will er zu fich ziehen; auch unfere, der Chrijten Stadt, 
it im Himmel: wo er it, da follen und werden aud wir jein. 
So tft der Himmel auch unfer Ziel, aber die Erde die uns ange: 
wiejene Wirkungsitätte.” 


Zum 82. Pſalm. 
Bol. Jahrgang V. dieſer Zeitſchrift, 1884, S 152—156. 
Bon th. cand. E. Hertlein in Stuttgart. 


une 


As mir vor zwei Jahren der Gedanke Fam, daß die ayıbr 
des 82. Pſalms nichts anderes als „Götter” in des Mortes 
gewohnter Bedeutung feien, da wunderte ich mich, daß auf Die 
doch jo leicht fich darbietende Auslegung nocd niemand verfallen 
jet. Denn in feinem ſyſtematiſchen Werke, feinem Kommentar 
fand ich auch nur eine Andeutung, daß jemand jenen Gedanten 
ſchon ausgeſprochen hätte. Obgleih ih von dem auten Grund 
meiner Anjicht überzeugt war, jo hatte ih doch das jonderbare 


316 Hertlein 


Gefühl ganz allein mit derſelben da zu ſtehen. Hievon jollte ich 
aber zu meiner großen Freude erlöjt werden. Denn durch die 
(Hüte des Herrn Profeſſor Lie. Dr. Nejtle wurde mir hefannt, 
daß die berührte Auslegung Thon einmal verſucht und literariich 
veröffentliht worden fe. So fand ih im 22. Jahrgang der 
Grätzſchen Monatsfchrift die ganze von mir verfuchte Ausleg- 
ung Schon im Sahr 1873 von M. Heß vorweggenommen. Sc 
möchte auch jet noch an meinem Verſuch feithalten und mit den 
Hauptpunkten dejien, was Heß unter dem Titel „Ein charakteriſti— 
iher Palm“ vorträgt, mich einverjtanden erklären. Unter ande- 
vem aber fand ich dort die mir unklar fcheinende Vorftellung, daß 
Sax doch jo etwas wie „Nichter“ beveute und daß dies „an 
jehr vielen Bibelitellen“ der Fall ſei. Dieſer Gedanke tft ein für 
allemal abzumeifen. Die Neigung, orrbx mit „Richter“ zu über: 
jegen, erzeugte und nährte gewiß nur der unrichtig ausgelegte 
82, Pſalm. Es jtand ja aber dem Beweis, daß arrıx nicht 
„Richter“ heiße, nur der 82. Pſalm im Wege; wer hier die frag: 
liche Überjegung von arbx prinzipiell aufgiebt, muß fie aud an 
den übrigen Stellen, die hier in Betracht fommen, und melde 
a. a, DO. diefer Zeitihr. ©. 152 f. genannt find, befeitigen. 

Den Kern der von Heß verfuchten Auslegung kann gewiß 
nur derjenige als unmöglich mißbilligen, welcher von der eigen- 
tümlichen allmählichen Entwidlung des israelitifchen Monotheis- 
mus nicht3 wiſſen will, welcher nimmer zugeben mag, dab die 
Israeliten auch den andern femitifhen Göttern außer Jahveh 
eine Eriftenz zuerfannten. Der muß freilich auf die pſychologiſche 
Erklärung vieler Erſcheinungen der israelitiihen Geichichte und 
Religionsgefchichte einfach verzichten. Wie fonnte Salomo außer: 
israelitiihen Göttern Heiligtümer errichten, wenn er über jene 
ganz die gleichen Anſchauungen hegte wie ein abgeflärter Mono: 
theift vom reiniten Wafjer? Es iſt ein Unterfchied zwifchen dem 
Sag min orosa in> und dem aba oda m. Das Bor: 
handenfein eines blos relativen Monothetsmus in der älteren 
israelitifchen Periode (in der die Anfchauungen des Volks andere 
waren als in der fpäteren, jüdifchen) dürfte wohl jetzt faum be- 
jtritten werden. 


Zum 82. Pſalm. 317 


Wenn dies die Nedaktion der Grätzſchen Zeitichrift dem Ver: 
ſuche von Heß gegenüber dennoch unternimmt, Jo zeigen jich blos die 
großen Schwierigkeiten, die ein folches Unternehmen geradezu 
ſcheitern laſſen. „Um einen Fesen Mythologie — fagt Die ge: 
nannte Redaktion —, jo hoch jie auch die Apojtaten der Theologie 
und die Neophyten des modernen Budrhismus anjchlagen mögen, 
jollte man nicht die ureigene und reine Lehre des Monotheismus 
im Judentum aud nur um eines Gedanfens Nuance preisgeben.“ 
Freilich thut dies die Redaktion jcheinbar ſofort ſelber; denn jte 
räumt ein: „Allerdings beitanden Zwifchenitufen zwiſchen dem 
frafjen mythologischen Bolytheismus und dem rein geijtigen Mono— 
theismus, welche vom ganzen Volke nicht mit einem male erflom: 
men werden fonnten.” Den Sat: „Daher mögen auch Mono: 
theiiten mythologische Wefen mit dem Begriff „Sahveh“ der Logik 
zum Troß in den Kauf genommen oder beibehalten haben” möchte 
man gerne unterfchreiben; nur fieht man jchwer, mit welchen 
„Aber“ die Widerlegung weiter geführt werden fünne. Dies joll 
mit Folgendem geſchehen: „Aber die Auserwählten des Volks 
haben von Anfang an den Elohim feinerlei Mefenhaftigfeit bei: 
gelegt, jte vielmehr als nichtig und fall (ww nur) erfannt 
und den ganzen mythologiſchen Plunder verworfen.” Zu den 
Auserwählten des Volks gehört dann nad) Obigem Salomo nicht; 
auch nicht David, der nah 1 Sam. 26,. 19. wirflid die Mein: 
ung zu teilen fcheint, daß er andern Göttern dienen müſſe, jobald 
er die Landesgrenze überjchritten hätte. Ein fleines Nejtchen 
Mythologie ift aber gewiß in Gen. 6 noch vorhanden. „Was 
die eminenten Geilter des Judentums vom eriten Augenblid be: 
griffen haben, dazu brauchte das Volk ein Nahrtaufend, bis es 
im babylonifshen Exil den Monotheismus rein aufgefaßt hat.“ 
Es müßte aber, follte die Widerlegung durchgeführt werden, 
der Beweis ſich erbringen lafjen, daß, was wir von literarischen 
Schätzen des hebrätfchen Altertums noch haben, nur von auf: 
geflärten Geiſtern herrühre; es müßte insbefondere dargethan 
werden, daß der Dichter des 82. Pſalms nicht aus dem „Bolfe“ 
Itamme. Dies dürfte jchwer gelingen. Und wenn es gelänge, 
jo müßte bewiefen werben, daß jener ein derart „eminenter 
Geiſt“ war, daß er es nicht ertrug in dichterifcher Fiktion der 


318 Hertlein, Zum 82, Pſalm. 


Anihauung des Volks jih zu nähern Dies wäre das Aller: 
Ichwierigite. 

„Der Pſalm fann aud anders aufgefaßt werden,” Tchliekt 
die genannte Redaktion. Freilich; nur fragt ſich, welche Auf: 
fafjung die wenigſten Schwierigkeiten und dunklen Punkte bietet. 
Das Schwierige bei der Auslegung, wonach die abs menjchliche 
Weſen fein Sollen, glaube ih ſchon a. a. O. ©. 153 in kurzem 
dargethan zu haben. Es jchien mir unmöglich), daß der Hebräer 
die irdiſchen Machthaber als armbs bezeichnete oder fie gar von 
Jahveh jelbit fo nennen ließ (V. 6). Man erwartet unbedingt, 
daß ein Hebräer den irdifchen Machthabern mit feinem Gedanken 
den Namen ombs, den Diejelben vielleicht ſich anmaßten, lajjen 
fonnte. Gerade Ezechiel 28, 1—10,, eine Stelle, die man bet 
der Erklärung unferes Pſalms nicht unberüdfichtigt lafjen darf, 
zeigt, wie tief entrüftet ein Hebräer die Anmaßung eines Fürften, 
der fi) zum Gott machte, befämpfte. Ezechiel bequemt jich dort 
mit feinem Worte dem Anjprud des Königs von Tyros an. 

Man fann abe: entgegenhalten: Ezechiel führt dort nicht 
die Scharfe Waffe des Spottes. Ein anderer aber fonnte fie füh- 
ven, fonnte feine lebhafte Mipbilligung des himmelfchreienden 
Gebahrens in der Ironie anfcheinend verbergen, um jene dann 
deito unmachlichtiger zu enthüllen. So könnte man annehmen, daß 
V. 6 ironiſch geiprochen fer. „Ich dachte, ihr ſeiet Götter und 


Söhne des Hödjiten.” „Aber — jo würde nad) einem furzen 
vielfjagenden Hohnlachen der Dichter plötzlich wieder ernft ge 
worden fortfahren — aber wahrlid, ihr follt wie Menſchen 
ſterben.“ 


Man müßte dieſe Auslegung durchaus gelten laſſen, wenn 
nur der erjte Vers nicht wäre, wo die Mejen, in deren Mitte 
Jahveh auftritt, Ag und ayrox genannt werden." Gleich ‘hier Die 


! Das be meps und da3 abx aup3 müljen beide dasſelbe 
bezeichnen. Nur jo ergiebt jih ein ſchöner parallelismus membrorum. 
Dejien beide Glieder drüden denjelben Sinn aus. Das zweite enthält 
aber nicht blos eine Wiederholung des erjten in veränderter Form, 
jondern eine eingehendere Bejtimmung. Mannigfaltigfeit in der Ein- 
heit ijt jo auf eine, klaſſiſch zu nennende Weije hergeitellt, 


Neitle, Kleinigfeiten. 319 


Ironie zu finden und 5788 und x ſich in ironischen Anführungs- 
zeichen zu denfen, geht doch ſchwer. Es würde dem Leſer zu viel 
zugemutet. Warum der Dichter gleich) anfangs mit Ironie auf: 
treten ſollte, iſt nicht vecht abzujehen. In der Mitte des Gedichts 
wäre ja die Jronie deutlich Dur den Zufammenhang, am Anfang 
würde ſie irreführen. Weit bejjer ftimmt doc zu den einfachen 
Morten, daß fie eine feierlich ernjte Situation zeichnen. Wenn 
es aber hier nicht gelingt, eine Ironie anzunehmen, jo wird wohl 
auch V. 6 in vollem Ernite geiprochen fein. 

So glaube ich immer noch in jener Auffaffung, wornach der 
Pſalm das endgiltige Todesgericht Jahvehs über die heidnifchen 
Götter jchildert, die wahrfcheinlichite finden zu dürfen, diejenige, 
welche am wenigſten Auslegungsfünite verlangt. 


Rleinigkeiten.! 
Bon Dr. €. MWeftle in Ulm. 


.. 


18. Die Einteilung des Defalogs in den älteften Bibelhandſchriften 
der Kirche. 

1) Unter den drei Haupteinteilungen des Defalogs wird — 
z. B. von Ohler, A. T. Theol, $ 85 an dritter Stelle — die: 
jenige der griehifchen und reformierten Kirche aufgeführt, nad) 
welcher als erſtes Gebot Er. 20, V. 3 gilt: „Du follit feine 
andern Götter haben neben mir“, als das zweite V. 4: „Du 
jolljt Dir fein Bild machen.” Da war es mir merkwürdig, beim 
Gollationieren der neuen engliihen Fakjimileausgabe des Coder 
Alerandrinus auf dem innern Rand von Bl. 46r, Spalte 2 
zu Er. 20, V. 8 (Sabbatgebot) von ältejter, vielleicht erjter Hand 
ein T, zu ®. 12 (Elterngebot) ein 4, zu V. 13 (Totfchlag, nad) 
der Drdnung in A) ein E verzeichnet zu finden. Der innere 
Rand der erften Spalte ift vom Buchbinder dur einen Streifen 
verklebt, jo daß feine Zeichen mehr erfennbar find. Nach der 
Einrichtung der Schrift kann aber B nur bei V. 7 (Gottes Name) 
geitanden haben, wo ein neuer Abfat anfängt, und 4 wird aud) 


"1 BZulegt 1886, €. 160 f. 


J 


nur zu V. 2 (Ich bin der Herr) geſetzt geweſen ſein. Denn der 
Schreiber diefes Teils der Hdj., der fonit mit Neuanfängen fehr 
freigebig tt, machte weder bei V. 3 (andere Götter), noch bei 
V. 4 (Bildverbot) irgendwelchen Abjag, während er in ®. 17 für 
jedes einzelne Glied eine neue Linie anfängt. Nach diefer Zählung 
mußte man alfo, um die Zehnzahl herauszubringen, in auguſtiniſch— 
lutheriſcher Weife das Luſtgebot im zwei teilen und dem eriten 
Gebot ganz diefelbe Ausdehnung wie bei Auguftin und der jüdi— 
ihen Barajcheneinteilung geben. Gewiß iſt es interejlant, Diejer 
Abgrenzung nun auh auf griechiſch-kirchliche m Boden zu 
begeanen ; denn den kirchlichen Gebrauch des Alerandrinus bezeu- 
gen — menigitens für jpätere Zeit — die überall wiederkehrenden 
aoyn und reAog bei den einzelnen firchlichen Lektionen 3. B. eben 
auf Bl. 46r zu Er. 19, 20. Aber freilih: der Schreiber jelbft 
Scheint über diefer Zählung wieder ftußig geworden zu fein; denn 
über E — 5 hat er fie nicht hinausgeführt. 

2) Einmal auf diefen Punkt aufmerkfam geworden, ſah ich 
auch im Vaticanus nad. Zwar im Tert der großen römischen 
Ausgabe (Bd. I, 71b—72a 1869) iſt nichts angedeutet, aber in 
dem 1881 erichtenenen Schlußband leſen wir S. 10a zu pag. cod. 
71 col. U lin. 23: „in marg. a B? onr’ ı srruiag nempe — 
Considera decem mandata — et deinde ad singula 
mandata in marg. est nota num, Hie nota 4; zu 1. 26 in 
marg. B etc, bis zu 71 col. 3,1. 43 j. Darnad) verteilen fi 
in B die Gebote wie folgt: 

A Ih bin der Herr ꝛc. 

8 Du follit feine andern Götter 2c. 

T Namen, 4 Sabbat, E Eltern, F! Chebruh, zZ Diebitahl, 
n Totichlag, O Falſch Zeugnis, T Gelüfte des Weibes. 

Alfo aud hier wieder nicht diejenige, welche allgemein der 
griechiſchen Kirche zugeichrieben wird, ſondern diejenige, welche 
zuerjt von Origenes erwähnt, aber mißbilligt wird, dann bei 
Kaiſer Ju lian ſich findet und bei den heutigen Juden traditionell 
geworden ift, während Bhilo und Sofephus nod eine andere 
vertreten. Im Deuteronomium hat B weder Bezifferung am 
Rande, noch Zeilenabfäge im Tert; ähnlih aud A. 





320 Neitle 


Kleinigfeiten. 321 


3) Leider fommt von den ſonſt erhaltenen und edierten grie— 
chiſchen Hoff. nur noch der codex Ambrosianus (Holmes Vil) 
in Betradit, da im Sarravianus (Holmes IV et V) und im 
Sinaiticus die betreffenden Kapitel des Er. und Deut. fehlen. 
Der Ambrosianus (von Geriani im 3. Band der Monumenta 
sacra et profana 1864 ediert) zeigt im Deut. nicht durch Ziffern, 
aber durch Trennungsitriche ganz die Teilung des Vaticanus zum 
Erodus, nur daß im Ambros. wie im Alex, die Reihenfolge töten, 
ftehlen, ehebrechen ift. Im Exodus dagegen werden — wieder 
den TIrennungsftrihen nach zu urteilen — Die beiden Verſe: Sch 
bin der Herr und: Du follft feine andern Götter neben mir haben, 
deutlich als erites Gebot zuſammengefaßt; ald zweites V. 4—7 
gerechnet (fein Bild), dann (3) Name, (4) Sabbat u. ſ. w. Beim 
Zuftverbot geht dem zweiten Teile (Gelüfte des Haufes) wieder ein 
Trennungsftrich vorher, ebenfo aber auch vor jedem einzelnen Glied 
diejes Teils. 

4) Eine fehr alte und genaue, unmittelbar auf Eufebius, 
meiterhin auf Origenes zurüdgehende Hdſ. vertritt für uns Die 
ſyriſche Hexapla. Der von Lagarde edierte, im Jahr 697 
gejchriebene Erodus-Coder des Brit. Mufeums jhidt innerhalb 
des Tertes den vier eriten Geboten die ſyriſchen Zahlbudjitaben 
voraus und bezeichnet außerdem noch ausdrüdlic auf dem Rande 
die einzelnen Gebote (bi zum neunten). Hier fteht nun im Text 
das Zahlzeihen A bei Beginn von V. 3 (feine andern Götter), 
während die Nandbemerfung („die 10 Gebote“ und „Gebot 1”) 
bis zum letzten Wort des vorhergehenden Verſes hinaufgerüdt ift 
(„Dienſthaus“). Das zweite Gebot beginnt mit B. 4 (Bild) u. ſ. w.; 
beim zehnten fehlt die Nandbemerfung wegen einer unmittelbar 
folgenden großen Note; die Reihenfolge in V. 13 ift Töten, Ehe: 
brechen, Stehlen. 

5) Die Stala läßt uns leider im Stich. Weder in Vercel- 
lone's Codex Ottobonianus 66, nod in Ranke's Wirceburgensis, 
noch in Robert’3 Lugdunensis finden ſich die betreffenden Kapitel 
von Erodus und Deuteronomium. Auch in dem von Ziegler 
neuerdings edierten Münchener Palimpſeſt findet ſich nur ein 
Stüd, die Verſe 1—5; zudem iſt es mir noch nicht gelungen, 
diefe Veröffentlichung zu jehen. 


322 Reitle, Kleinigkeiten. 


6) Am merfwürdigiten tft von all diefen Zählungen die des 
Alerandrinus, von der wir ausgingen; denn fie ftimmt mit Cle- 
mens Alexandrinus Stromata VI, 682, der Gottes-Namen als 
zweites, Sabbat als drittes Gebot behandelt, aber nun — ohne 
ein viertes zu erwähnen — das Clterngebot jofort als das fünfte 
einführt (Geffken, Dekalog 19 f. 159—164); nächſtdem die 
des Vatifanus (und Ambroſianus, Deut.); denn jie zeigt, Daß die 
talmudische Teilung, für welche Gefffen aus der ganzen gried): 
ichen Kirche nur aus fehr ſpäter Zeit zwei Zeugnijje beibringen 
fonnte (Syncellus 790, Gedrenus 1130) jchon viel früher vertre 
ten war. Die jogenannte griechtiich = reformierte Einteilung finden 
wir nur tm Ambrosianus (Crodus) und Syro-Hexaplaris, aber 
auch hier mit dem Unterfchied, daß im erjteren B. 2 und 3 zu: 
fammengenommen wird, in leßterem nur V. 3 als das erite Gebot 
erſcheint. 


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Buchdrucerei von Greiner & Ungeheuer in Ludwigsburg. 














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