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Full text of "Eros Thanatos. Novellen. Wien usw., Wr. Verl. 1906. 263 S."

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Eros Thanatos 




Richard von 
Schaukai 




Blau Memorial Collection 



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r 



EROS THANATOS 



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RICHARD SCHAUKAL 

EROS TBANATOS 

NOVELLEN 



WIENER 'VERLAG 

WIEN UND LEIPZIG 
1906 



Dieses Buch wurde bei Fr. Winiker & Schickardt, 
k. IIa k. Hofbaehdruekem in Brünn, in einer 
einmaligen namerlerten Auflage von 800 In 
Pergamentpapier gehefteten Exemplaren ge- 
druekU Dio Hummern 1— Iß sind auf Japan 
abfftzogiii und ▼om Aator signiert. Dsr Preis 
eines solehen Lnxiisexemplars betrftgt 15 Marie. 



Dieses Exemplar hat die Nummer 




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Eros hat Dich ersaht: Ou folgtest dem 

Ueblicheii Knaben. 
Lächelnd geleitet er Dich: plötzlldi erkennst 

Du den Tod. 



510762 



Werke von Richard Schaukai: 



Gedichte 1893 

Rflckkehr. Ein Akt 1894 

Verse (1892—1896) 1896 

Tristia. Neue Gedichte 1898 

Tage und Träume 1899 

Sdunuclit Neue Vene 1900 

,€iiicr, der eelne Frau besucht, und lodre Szenen 1902 

Oku Bflcher sind 
verf riffen und werden nicht mehr aufgelegt. 

Meine Gärten. Einsame Verse 1897 



Interieurs aus dem Leben der Zwanziglfthrigen 1901 



Vorabend. Ein Akt in Versen 1902 

Von Tod zu Tod und andre kleine Geschichten 1902 

Das Buch der Tage und Traume i9ÜZ 

Pierrot und Colombine oder das Lied von 

der Ehe 1902 

MJmi tynx. Eine Novelle 1904 

Ausgewihlte Qediclite (1899/1904) 1904 

E. T. A. Hoffmann 1904 

Wilhelm Busch 1904 

Großmutter. Ein Buch von Tod und Leben . 1908 
Kapellmeister Kreisler. Dreizehn Vigilien aus 

einem KUnstlerdasein 1906 

Verlaine-Heredia. Ausgewählte Nachdichtungen 1906 

Helnebrevlarlum 1897 



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INHALT 



Efos (1905/6) 

Das Stelldichein (1905/6) 

Die Sängerin (1905) 

Coelestin Merkel (1903) 

Uli. Eine Alltagsgeschichte (1897/1906) 



EROS 

Eine Sonate aus der galanten Zelt 



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Otto Julius Bierbaum 
herzlich 



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ieder, wie jährlich, hatte der alte Gärtner 



f T zur Feier des Namenstages der verehrten 
Herrin schon in fraher Morgenstunde ein 
stattliches Blumengewinde auf der Terrasse 

vorbereitet, diesmal ein buntes Tableau, 
nicht ohne Geschmack an einer ganz mit 
weißen Bülten umkleideten Staffelei befestigt. 
Alsbald auch huschte neugierig die Jungfer 
herbei, den festlich gedeckten Prahstücks- 
tisch zu prüfen. Der Kammerdiener konnte 
sichs nicht versagen, ihr, wie sie sich so 
über das zierliche Arrangement der Tassen 
und Tetler beugte, von rttckwärCs, nicht 
eben allzusanft, an die enggemiederte Taille 
zu greifen, daß sie vor Kitzel kichernd zurück- 
und ihm fast in die rasch auseinander ge- 
breiteten Arme fuhr. Die schöne Gräfin hatte 
das fürwitzige Spiel bemerken mOssen. Jetzt 




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trat sie, um eine stQrmischere Entwicklung 

der Szene zwischen dem Gesinde zu ver- 
hindern, vernehmlich rauschend durch die 
verglaste FlUgeltüre hervor. Sie schien es 
nicht zu achten, daß sich der peinlich über- 
raschte Diener mit einem unter tiefem Bflck- 
ling stotternd vorgebrachten GlQckwunsch 
aus der Sache zu ziehen unternahm, so ^^ut 
oder so schlecht es ihm der leidige Moment 
eingegeben hatte. Auch daft die Zofe mit 
unwilliger Pantomime dem Verdachte des 
Einverständnisses zu wehren versuchte, ge- 
rufite die Herrin nicht zu bemerken. Der 
Bediente entfernte sich betreten, indem er die 
beiden Lakaien an den Tisch wies. Eben 
erschien auch von der Gartenseite her der 
Graf. Er kam hastig Uber die Treppe. Die 
Anwesenheit des Gebieters iiemmte den 
Schritt des Kammerdieners im geräumigen 
Saale. Er blieb, halb noch zum Gehen 
gewendet, mehr aber die Achsel zurück als 
geradeaus schauend, einen Augenblick un- 

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schlüssig stehen, verzögerte überlegend sein 
Verschwinden, nicht ohne der ihm schmollend 
gefolgten Zofe eine Grimasse zu schneiden. 

Der Graf kttfite seiner jQemahiin die Iflssig 
ihm entgegengehobene Rechte und rückte sich 
mit einigem Geräusch an ihre Seite. Der Gräfin 
entging seine Befangenheit nicht. Doch im 
Nu auch hatte sich der Gewandte wieder 
gefunden, mit zärtlichem Lächeln sprach er 
von dem heutigen Feste, das der Morgen, 
der Park mit ihnen zu feiern schienen, 
indem sie, der Gattin zugunsten, in rau- 
schender Schönheit^ durch heih'e Anmut die 
freudigen Stunden verherrlichten. Auch er- 
mangelte er nicht, aufmunternd ihr dn Qe- 
schenlc auf dem damasten glänzenden Tisch- 
tuche näher zu schieben^ eine kostbare Vase von 
erheblichem Gewichte. Sie zeigte auf blauem 
Grund [In Biskuiirelief eine mythologische Be- 
gebenheit: Daphne, wie sie, von Apollo ver- 
folgt, schon unter seinen begehrenden Händen 
sich in den rettenden Lorbeerbaum verwandelt 



[7J 



Nachdenklich blieb der schimmernde Bliclc 

der Gräfin an den zarten weißen Figürchen 
haften: dämmernd tauchte das merkwürdige 
Geschick der Nymphe vor dem träumenden 
Geiste der blauäugigen Frau herauf. Die 
Worte des redseligen Gemahles klangen an 
ihrem Ohr vorbei . . . 

Sehr zu paß geriet diesem der Gratulations- 
besuch des Kapitäns, der, seine Annäherung 
durch ein vernehmiiches Schnauben, wie es 
Kurzatmigen eigen ist, verkQndend, die zur 
Linken des leichten Tisches gelegene Treppe 
soeben heraufstieg. Der mächtige Blumen- 
strauß, den er mit strahlendem Antlitz der 
von ihm schon ob ihres hochgebornen 
Standes nach GebOhr verehrten Dame flber- 
reichte^ die schickliche Ansprache, die er 
mit schön gedämpfter Herzlichkeit — dies 
war sein Hauptstück — vor ihren sanft 
errötenden Wangen hielt, gaben dem 
Grafen die Überlegenheit und damit die gute 
Laune wieder. Ein mit der vollen Hand 

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dem breiten Rücken des Gratulanten aufge- 
zielter kräftiger Schlag, den der Geschmei- 
chelte in ehrfflrchtiger FreiuidschaftUchkeit 
— auch dies ein von ihm gern betontes 
Element gelassenen Umgangs — > entgegen- 
nahm, leitete ein fröhliches Gespräch ein, das 
bald zu reichlich zwei Dritteilen der glück- 
liche Gast mit aufgestutztem Obermut bestritt. 
Der Kapitän war Icein Jüngling mehr> und 
seine besten Jahre verdarb ihm^ der sich, 
ein weicher Adorant, durch schwärmende 
Melancholie in manchem Zirkel manches 
Herz, freilich nicht auf lange Dauer, zu ge- 
winnen verstanden hatte, ein Qbermflßig 
gewdlbter Bauch. Fettleibigkeit ist ein be- 
quemer Anlaß zu wohlfeilem Spotte, der, 
so harmlos er vorgebracht scheint, der 
verwundenden Schneide nicht entbehrt, ja 
grausamer verletzen mag als etwa ein der- 
berer, nicht an so unwillig ertragene Mängel 
geknüpfter Scherz. Der Kapitän war eine un- 
verwüstliche Zielscheibe. Er bot sich sogar wie 



ein zur EntwOrdigung geborner Sklave Freun- 
den, die Edelleute von einigem Ansehen 
vorstellten^ selbst dar. Diesmal erbat er 
sich von der Hausfrau die gnädige Er- 
laubnis, einen jungen Kameraden, den 
Fflhnricli von Turneck, präsentieren zu 
dürlcii — der Kapitän präsentierte nur 
Adelige von geprüfter Abstammung — , er- 
tiielt sie und die sclimetctielhafte Gewahr 
Überdies» den neuen AnlcOmmüng gleich 
zum Mittagstische mitzubringen. Er ging, und 
Gra^ Paris versäumte die Gelegenheit nicht, 
ihn zu begleiten und sich so einer Unter- 
redung zu entziehen, die, wenn sie sicherlich 
auch nicht auf das Wesentliche gesteuert 
hatte, doch durch den Mangel an Unbefan- 
genheit ihm unbequem zu werden drohte. 

Auf dem unter ihren behaglichen Tritten 
Icnirschenden Kiese des Vorgartens angelangt 
schlang er leicht seinen behenden Arm in 
den massivern des Freundes und lieft 
sich mit höflicher Aufmerksamkeit von ihm 



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die Anstalten verraten, die zur Erhöiiung 
der Festfreude für den Abend geplant er- 
schienen. Man wollte^ erfuhr er, die Grflfin 
durch eine musilcalische Darstellung er- 
götzen, die im Park am Flusse nach ein- 
gebrochner Dunkelheit bei dem flackernden 
Scheine weniger Faclceln nur gleichsam aus 
dem Stegreif sich auftun sollte. Die Qrund- 
zQge der im übrigen der Laune, der Ein- 
bildungskraft und Geistesgegenwart unge- 
zwungener Akteurs zu überlassenden Szene 
seien von Gurnemann entworfen. 

»Natürlich«! bemerkte lächelnd der Graf. 
Der Kapitän fiel sofort ein: »Und er spielt 
und singt auch den Prolog.« 

Gurnemann, ein junger Diplomat, der 
fürstlich H . . . . sehen Mission am Hofe zu 
K. zugeteilt, war dem Alteren, wenn nicht 
verhaßt, doch lästig, da er, nicht ohne 
schmeichelhaften Erfolg und mit noch 
größerer Bewußtlieit dieses Erfolges, bei der 
Gräfin, obwohl selbst verheiratet, kokett die 



Rolle des begOnstigten Amoro«o mimte. Nie- 
mand in dem kleinen Kreise hatte seine 
Ausnahmsstellung unbemerkt bleiben können. 
Verstand es docii der auf körperliche Vor- 
zflge eitle, vorlaute Ournemaniii diese seine 
neidenswerte Beziehung jederzeit in wenig 
angenehme Erinnerung zu bringen^ teils indem 
er, einigermaßen plump, Ansprüche des nah 
Vertrauten geltend machte, teils durch eine 
Art von Httteramt, das er sich Uber den 
engern Verkehr des gräflichen Hauses an- 
gemaßt hatte. 

In der Seele des Grafen erhob sich mit 
immer lebhaftem Farben das Bild des frühen 
Morgens. An der Seite des erregt auf ihn 
los sprechenden Freundes schreitend, befand 
er sich in Gedanken bei der samtäugigen 
Dame, die ihn heute endlich erhört hatte. 
Er sah sie im dämmrigen Alkoven — das 
Licht des von jubehiden Vögeln angekündigten 
Tages drang durch die im kühlen Luftzug 
schwankenden LeinwandvorhSnge der Fenster 

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herein — , ihr aufgelöstes tiefschwarzes Haar, 
das dUnne Seidenhemd, halb herabgeglitten 
von den matten runden Schultenii den nackten 
Fuß, wie er in dem rosa Pantöffeiclien 
zierlich wie in einem BlOtenIcelche ver- 
schwand. Sein Herz zog sich zusammen im 
Nachgefühl der beseligenden Stunde, die 
er, über den Ballcon, ein schon Erwarteter, 
eingestiegen, im Raiisch der lange ver- 
lialtenen Begierde genossen hatte. Fast wan«- 
delte ihn die frevle Lust an, den Begleiter, 
den er sich treu ergeben wußte, in das l<öst- 
liche Geheimnis einzuweihen, Frau Jolanthe 
Qumemann, die Spröde, habe ihn, Paris, 
liebend in ihre Arme geschlossen, unter dem 
melancholischen Sebastian des Da Vinci, 
den auch der Kapitän einmal im helige- 
musterten Schlafgemache hatte bewundern 
dürfen, da die Kunst alle Rflume weiht und 
Gönnern eröffnet Nicht verhehlen freilich 
Iconnte sich der Graf, daß ihm, dem sattsam 
Verwöhnten, diesmal zu gutem Teile die Eitel- 



[I3j 



« 



keit der Dame zum Erfolge verholten hatte. Er 

mochte, ohne tiefere Leidenschaft für sie, wie er 
sich fand, das Weib bemitleiden, das, nach- 
dem es seinen wundervollen Körper ihm nicht 
verweigert hatte, ein Leben lang mit unaus- 
bleiblichen Selbstvorwflrfen der Erinnerung 
an eine kaum bedankte Übereilung nachzu- 
hangen verurteilt schien. Denn die reizende, 
reiche und auch geistig begabte Frau hatte, 
ohne den Taumel gebäumter Sinne, wenn 
nicht zur Rechtfertigung, doch zur Erklärung 
des entscheidenden Schrittes in Anschlag 
bringen zu dürfen, eigentlich nur einer Laune, 
einer kecken und also um so sichrer später 
sie zu peinigen geeigneten Laune, sich wie 
mit trotzig geschlossnen Lidern überlassen, 
die — es stand ihm klar vor Augen — den 
Empfänger beschenkte, ohne ihn zu bereichern. 
Was bedeutete diese charmante Episode in 
seinem, weiche Epoche mußte das Abenteuer 
in ihrem Leben vorstellen] 
Die Gräfin war, als die Männer sich ent- 

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fernt hatten, noch eine Weile am Frühstücks- 
tische sitzen geblieben. Ein unangenehmes 
Gefühl wollte sich nicht bannen lassen. Schon 
der Auftritt zwischen den Bediensteten halte 
ihr wie ein fibler Geschmacic auf der Zunge 
die heitre Wirkung des Fest morgens geschä- 
digt. Sie war, entschlossen, sich störenden 
Einflössen, die von außen kämen, zu versagen, 
mit sehend-ttichtschauenden Blicken dem pein- 
lichen Vorfall ausgewichen. Die Verspätung, 
das sichtlich befangne Erscheinen des Gatten 
mußten im Verfolg der Abergläubischen die 
Ankündigung unliebsamer Ereignisse l>edeuten. 
Sie war gewohnt, den gelassenen Gang ihres 
Oaseins durchaus nicht aufhalten, ihren eignen 
Neigungen hingegen ungehinderten Lauf zu 
lassen. Das leichtsinnige Wesen des zu kleinen 
irr- und Wechselfahrten seit jeher schon ge- 
stimmten Gatten, eine bequeme äußere Lage, 
ihre sieghafte Schönheit, der man jede Laune, 
]a manche Unart zugute schrieb, hatten sie 
mehr und mehr dazu vermocht, sich als ein 



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nur zum OenieBen, zum Herrschen gebildetes 
GescfK^pf zu em]ifindefi; die Wonne der 

weiblichen Demut, der Hingabe, des Dienens 
im weitesten und edelsten Sinne, war ihr fremd 
geblieben, ihrer selbst voll bewußt, empfand 
sie die Welt als einen nicht allzu großen, 
sidi um sie langsam Ins Enge ziehenden 
Kreis von selbstverständlichen willfährigen 
Bemühungen um ihre Zufriedenheit. So hatte 
sie dem einen, dem andern, nachlässig geruh- 
sanii manche Annäherung verstattet^ die ein 
eitler Mann wohl als persönliche Gunst hätte 
auslegen können, während es Im Grunde nichts 
anders war als Lässigkeit in Ansehung jeglicher 
Pflichten, soweit sie selbst dabei das verpflich- 
tete Wesen hätte vorstellen müssen. Oberfläch- 
liche Beobachter, von dem Gemahl auf die 
Lebensgefährtin schließend, zählten gar eine 
Reihe allgemach begnadeter Liebhaber auf. Daß 
dem bisher durchaus nicht so war, dazu trug 
nicht zum geringsten Teil der Umstand bei, 
daft durch den nichts weniger als auf Ihre 

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Person gesammelten Gatten ihre Sinne zwar 
gereizt worden waren, sich aber nicht ent- 
faltet, ja wohl kaum noch geblüht hatten. 
Auch hielt eine in enger Icalvinischer Geistes^ 
zucht erwachsne, bedingungslose, unlcritische 
Fiömmigkeit sie, wenn nicht von gelegent- 
lichen Gedanken und Vorstellungen, docti von 
Wünschen ab, die irgendwie die Fleisches- 
lust streiften. So war sie, bei gesundem, voll- 
saftigem Körper an einen zerstreuten und zer- 
streuenden Mann als den am wenigsten ge- 
eigneten Erzieher ihrer dumpfen Seele ge- 
wiesen, eigentlich noch nicht zur Frau gereift 
und ein verwöhntes Kind geblieben, das 
hinter der schirmenden Halle hoheitsvollen 
Gebahrens unschuldig sein Dämmerwesen 
trieb. Das zuzeiten in Fernen verlorne 
Träumen ihrer blauen Augen konnte einem 
Erfahrnen verraten, daß hier ein Leben noch 
nicht zu seinem Ringe sich gerundet hatte . . . . 

Da Paris den Kapitän offenbar noch eine 
Strecke Weges begleitet hatte, begab sich 

2 



die Gräfin^ gefolgt von ihren Hunden^ in den 
Park hinauf. An einer schattigen Stelle waren 

einige Stühle um einen zierlichen Tisch zu einer 
kleinen Gruppe versammelt. Sie ließ sich da mit 
einem in Seide gebundnen Buche nieder. Doch 
ihre Gedanken verweilten nicht auf den Zeilen.» 

Dort überraschte die Langhingestreckte die 
Baronin Lisa^ ihre Outsnachbarin, gleichfalls 
eine hohe Gestalt, doch nicht von der kräfti- 
gen Fülle der Gräfin, vielmehr Uberaus zart 
und bei ihrer ungewöhnlichen Größe fast zu 
schlank^ strohblond und aus grauen ver- 
schatteten Augen vor sich hinblickend. 

Sie setzte sich neben die Freundin und 
spielte vertraut mit den Hunden. Von Lisa 
wußte die Gräfin, daß ihr Paris nicht gleich- 
gültig geblieben war. Sie hätte mehr, hätte 
wissen mOssen, daß bis vor kurzem noch 
weit draußen im Land ein überaus verliebtes 
Pärchen bei sichern Herbergsleuten nachmitt- 
täglich sich zusammenzufinden pflegte 

Nicht nur zu gratulieren, war die Baronin 

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gekommen. Der regen Eifersucht der Ge- 
liebten hatte nicht verborgen bleiben Icönnen» 

was der stumpfern Gattin entgangen war. 
Und was jene peinigte, daran sollte diese 
nicht ungekränkt vorüberwandeln dürfen. Haß 
gegen die Ruhe der schönem Partnerin an 
dem Ungetreuen — Lisa emirfand seine Un- 
treue als ein Verbrechen^ und nur an ihr 
selbst begangen — stieg, je schwieriger sich 
die heikle Aufgabe gestaltete, in der Illegi- 
timen auf, die nicht einmal das Recht besitzen 
sollte, sich in der empörendsten Weise fOr 
verraten zu halten, sich offen zu beklagen. 
Mit der heitersten Unbefangenheit — Frauen 
sind ja geborne Diplomaten — fing sie an. 
Ob Gurnemanns kämen? Natürlich doch? 
Wann wflren die Oberlästigen nicht zu finden, 
zu empfinden gewesen 1 Der Gräfin war hier 
zugleich — es galt ein größeres — eine 
scharfe Sonde ins Herz gesenkt. Sie konnte 
nicht verteidigen, wo sie^ was Max Gurne- 
mann, den Amoroso, betraf, Argwohn gegen 

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sich selbst vermuten mußte. Sie befand sich 
einen Augenblick unsctilüssig über die Farbe 
der zu erteilenden Antwort Doch die unleid- 
liche Frau mochte tragen^ was sie deren 
Gatten aufzubürden In leiser Dankbarkelt fUr 
seine zärtliche Dienstwilligkeit sich verwehrte. 
Und so fanden die Damen einander darin 
einig, daß Frau Jolanthe Gurnemann ein 
widerliches Geschöpf sei, kokett ohne das 
natOrliche Maß der Schicklichkeit, zudringlich 
ohne Berechtigung, anspruchsvoll ohne Billi- 
gung der Bedürfnisse andrer. Es war eben 
nicht zu verkennen, daß ihr, der Tochter des 
geadelten Pächters^ Im letzten Grunde der 
Takt mangle^ den entbehren und mit solcher 
Entbehrung aus Hüfliclikeit sich abfinden zu 
müssen, man keine zwingenden Gründe 
gelten lassen wollte. Ja, daß sie — rasch ent- 
schlossen spielte Lisa ihren Trumpf aus — 
unverschämt nach den Männern angle, sei 
der Gipfel ihrer Prätension. Wie unangenehm 
der teuersten Freundin ihre Bemühungen um 

[SO] 



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Graf Paris sein müßten f.. . Die Baronin 

harrte der Wirkung ihrer mit dem Tone 
des herzlichsten Bedauerns^ wobei sie die 
Hände der vor ihr Ruhenden teilnehmend er- 
griff^ ausgesprochnen Worte. Die grauen 
veischatteten Augen hätten verrateui was 
ihre Worte zu verbergen nach einem lang- 
jährigen Hofleben nur zu geschicl<t waren, 
wenn nicht die Gräfin, im bittern Vorgefühle, 
wie nun einmal der Tag auf das ärgerlichste 
zu verlaufen bestimmt sei, nach dem Aus- 
kunftsmittel geforscht, der boshaft Teilneh- 
menden die ganze Last überzuwälzen, und 
dabei instinktiv ihre eignen Bücke gleichsam 
nach innen hätte sinken lassen. Konnte sie 
auch der Nebenbuhlerin aus Stolz nicht zu- 
geben, daß sie eine wäre, sie fand ein Wort, 
das die zu ihrer Plage allzu Kinderreiche 
tief kränken mußte: »Mein Mann beschäftigt 
mich«,sagte sie spitz, »nichtso unehigeschränlct 
wie der Deine Dich, meine Liebste.« Der 
Baronin schoß das Blut in das magre Gesicht; 



[2lJ 



Ihre ganze Haltung ließ sie fallen und rief: 
»Und der Deine betragt Dich uneingeschränkt, 
mein Schatz!« Die Qrflfin hatte sich indem 

geräumigen Armstuhle halb erhoben. Die 
Stirne vorgesenkt, die blauen Augen sprü- 
hendy rief sie: »Willst Du Dich etwa selbst 
damit brQsten, weil niemand anders ihm 
seine Qeschmacklosigiceit neidet?« Den per- 
sönlichen Schimpf mit ihrer schneidendsten 
Waffe parierend, fuhr die Beleidigte auf: 
»Wohl magst Dus Geschmacklosigkeit heißen, 
gerade eine Frau Oumemann mit den kärg- 
lichen Oberresten eines Feuers zu beglttcken, 
das in der Ehe trübe genug brennt!« 

Unglückseligerweise erschien in diesem 
Augenblicke, da die beiden Frauen wie 
Fechter im Ausfall einander gegenüber 
hielten, Graf Paris. Das gewohnte lose 
Scherzwort erstarb ihm auf den Lippen, 
als er mit dem geübten Blicke des stets auf 
der Hut Schleichenden die Situation übersah. 
Die Baronin, hochgerötet, stand gehfertig. 

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Er ergriff ihre Hand, — jetzt galt es, mehr 
als die Stimmung einer Stunde: galt, die 
Bequemiiciikeit vielleicht einiger Woctien 
zu retten^ das fühlte er — küßte sie galant 
und zwang sie sanftgebieterisch an seine 
Seite. »Geheimnisse, Liebling?« rief er der 
Gattin zu, die sich langsam in den einer 
Ruhbank ähnlichen Sessel zurücksinken 
ließ, und zog die Baronin mit sich fort. 
Außer Hörweite von seiner Frau gelangt^ 
begann er, die Baronin heftig mit dem Arm 
an sich pressend: »Was gibt's, was hast Du, 
Lisa? Eine Eifersuchtsszene mit Elviren?« 
»Abscheulicherl« - noch zitterte die Er- 
regung in der gegen ihren Willen von der 
vernichteten Gegnerin also hastig Hinweg- 
gezerrten — »Ich verbiete Ihnen, mich so zu 
nennen!« »Warum, meine Güttin?« Er war 
stehen geblieben. Seine klugen kleinen Augen 
drückten maßloses Erstaunen aus. »Was habe 
ich verbrochen — außer an ihr, die Du, Böse, 
jetzt eben so schonungslos, scheint's, miß- 



[23J 



handelt hast?« »Wa$ Sie verbrochen haben, 
Oraf Paris? Sie wagen es, mich zu fragen?» 

«Ich wage es«, rief der Graf, der längst 
bei sich festgestellt hatte^ daß Lisa der früh- 
morgendliche Besuch bei Joianthen verborgen 
geblieben sein musste. »Ich wag* es.« »Ich 
aber habe ke\ne Lust, in den Schlamm zu 
treten, Du — Sie Wüstling!« sprudelte die 
Wütende. Lächelnd versucht' er's, sie zu 
lassen. Sie sprang vor der Berührung wie 
rasend zurttcic. Er drängte nach. Sie stand an 
einem Boslcett, in das der Weg abzweigend 
mündete. Sie hineinzwingen, ihr an den Hals 
fallen, ihren Mund, Stirn, Wangen, Hals und 
Augen mit heftigen, stürmenden Küssen be- 
declcen, war die jähe Tat eines sieghaften 
Willens. 

An ihrer Brust flüsterte er; »Innigstgeliebte, 
banne Deine schöne Eifersucht! Du weißt 
doch, daß ich einzig Dir gehöre!« Es ge- 
lang ihm^ sie unter währenden Liebkosungen 
zu beschwichtigen. Arm in Arm verließen 

[24] 



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sie das ßoskett, Lisa mit sich selbst nicht 
im reinen; verlegen, willenlos. Er bat sie 
inständig; mit Gabriel; ihrem Gatten, zur 
Mittagstafel unbedingt zu erscheinen. Er 
werde bis dahin alles bei Elviren in Ordnung 
gebracht; eine förmliche Versöhnung vor- 
bereitet haben. Er half ihr in die Sänfte, er 
drängte sich mit halbem Oberkörper ihr 
nach und ließ eine Weile seine schmeichelnde 
Hand auf ihrem Knie aufruhen. »Leb' wohl, 
meine geliebte Lisa«, flüsterte er. Und nach- 
winkend noch: »Auf Wiedersehen 1« 

Dem langsam ZurUckwandelnden ward 
einigermaßen bange bei dem Gedanken, 
nun vor der Gattin erscheinen zu mOssen. 
Er verzögerte seinen Schritt noch mehr. 
Aber der in allen Ränken und Abenteuern 
Erfahrne fand bald den Weg zum Erfolge. 
An der Windung, die zu ihrem Sitze ge- 
leitete, begann er zu laufen« Atemlos 
scheinbar stand der Geschmeidig- Hochge- 
wachsne voi Eiviieu. Er kniete nieder. Er 



[25] 



stützte seine langen gebräunten Hände auf 
ihre Schenkel, die sie unwiilig wegschob. 
»Elvire, meine Liebste^ was hast Du?« rief 

er. »Du siehst einen unglücklichen Gatten 
im Staub vor Deiner Majestät!» Das thea- 
tralische Pathos wagte er mit seinem harm- 
losesten Lächein, mit einer fibertriebnen Geste 
der Verzweiflung zu begleiten. 

»Ihr habt gestritten? Sie scheint erbittert, 
nur mit Mühe ist es mir gelungen, sie zu 
bewegen, daß sie wiederkehre. Ich habe 
verbrochen, Versöhnung zwischen Euch zu 
stiften* Hilf dem Unseligen, der nicht ahnt, 
was die Unzerfarennüchen hat entzweien 
können!« 

Der Gräfin war reichlich Zeit geblieben, 
zu bedenken, womit die Leidenschaft Lisas 
sie ttbeischüttet hatte. Unzählige Male hatte 
sie sichs wiederholt, dafi diese nicht anders 

hätte handeln können, wenn sie nicht Gewiß- 
heit besätSe, und hundertmal halte sie selbst 
dem widersprochen. Nun lag ihr Mann vor 

[96] 



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ihr, den sie scheute, vor dessen Überlegner 

Klugheit, dessen Spotte der Enggeistigen 
immer bangte. Sie war in ihren Entschließungen 
noch nicht fertig, schwankte zwischen Stolz, 
Ingrimm und Zweifel. Er nQtzte den Moment 
»Die arme Lisa hat Dir gewiß, nicht 
wahr, eine Eifcrsuclitsszenc gemacht? Die 
gute Seele I Sie liebt mich eben heiß — .« 
Er lächelte boshaft »Du siehst, wie behutsam 
ich ihre Hoffnungslosigkeit karessiere. Denk 
doch, Liebste, Säße, wie traurig es der 
Verblühten ums Herz sein mag. So oft sie 
Dich sieht, meine strahlende Aphrodite, wird 
ihr karger Leib von Neid geschüttelt Gönn' 
ihr die Wonne eines kleinen Wutanfalls. 
Bedenke, die Frau hat sieben Kinder an 
ihrem dürftigen Busen genährt.« Dieses Ar- 
gument verfehlte seine Wirkung. »Und ich 
keines!« Keuchend hatte sie s herausgestoßen. 
Dunkle Röte überzog ihr Antlitz. Die blauen 
Augen schimmerten. Aus seiner Ungeschick- 
lichkeit gestaltete der Graf die zärtliche 



L27J 



Schlinge, mit der er die nun in Tränen — 
Bitterlcelts- und Nervenirflnen — Gelöste, eine 

Tauinelndc, einting. Einen Arm um den 
schluchzenden Leib gelegt, auf sie ein- 
sprechend zärtlich-gedämpft wie auf ein 
Kind, fQlirte der Gewandte die Rat- und 
Willenlose. Die kaum getrockneten Zähren 
mit vorgeneigteni Haupte, so gut es anging, 
bergend, schritt sie nun rasch an der 
stumm-erstaunt aufblickenden Jungfer vorbei 
in das innerste ihrer Gemächer. Doch sich 
der Abspannung hinzugeben, ließ ihr der 
kundige Gatte nicht Zeit, wohl wissend, 
daß es jetzt auf rasche Übergänge an- 
käme, jähen Szenenwechsel. Er schickte 
die Zofe sofort hinter ihr drein, selbst noch 
in der Türe mit sorglos heitrer Stimme 
mahnend, sich bei der Toilette nicht zu 
versäumen. 

Die Tafel war im Freien, hinter dem 
Schlosse gedeckt. Der Platz der Gräfin glich 

[28] 



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einer Blumentaube. Man hatte eine drei- 
teiüge chinesische Tapetenwand mit Gewin- 
den bekränzt. Die zuhöchst angesteckten, 
lauter rote Rosen, sammelten sich wie ein Dach 
über dem Sitze. Der Kammerdiener war, nach 
einem letzten beherrschenden Blick über die 
Tafel hin, zu melden gegangenj daß man be- 
dient sei. Die Gesellschaft befand sich, in 
Gruppen aufgelöst, in dem höher gelegenen 
Teile des alten Parkes. Die Herren boten den 
Damen die Hand und geleiteten sie die sanft 
absteigenden Wandelwege hinab, an getürmten 
Felsgruppen vorbei. Vor einem auf der Muschel 
blasenden pausbäckigen Götterknaben blieb 
Frau Gurnemann stehen, das schlohweiße 
Musselinkleid über dem weißen Seiden- 
strumpfe zierlich mft der Linken gerafft: 
»Er bläst heute den Triumph Ihrer Ehe, 

Gräfin Elvirc. Sie wandte das kecke 
Profil über die Achsel weg nach der An- 
gesprochnen, die der Baron führte. Der 
Graf, mit der Baronin voraus, hielt an. Die 



f29j 



Baronin sagte ganz laut: »Man hört ihn 

nicht. € Niemand Iconnte die heftige Röte 
entgehen, die die Wangen der Gräfin heiß 
bis in die Schläfen hinauf überflog. Sie 
zwang sich zu einem Lächeln. Die große 
schöne Frau fand Icein Wort der Entgegnung. 
Der Baron winlde seiner Gattin verlegen- 
mißbilligend zu. Der Graf blickte Jolanthen 
an. Sie hielt den Blick aus... 

Die rote Reihe der Lakaien faßte die 
Sessellehnen an und neigte die gepuderten 
Locken. 

Der Fähnrich von Turneck wandte bei 
Tische kein Auge von der Gräfin. Er schob 
sogar die weitgebauchte Vase, die ihm den 
vollen Ausblick auf sie hemmte, etwas zur 
Seite. Doch errötete er, da er sich sofort 
auch seiner Ungeschicklichkeit bewußt ge- 
worden war. . . Der Kapitän hatte sich's nicht 
nehmen lassen, ihn der Hausfrau selbst an der 
Hand aufzufahren. Es war ein zarter Junge. 
In seinem regelmäßigen frischen Gesichte 

[»0] 



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glänzten die Augen wie zwei dunlcle 
FrQchfe. Er hatte die Icleinsten Füße, die 

wohl je ein Fähnrich besessen haben mochte. 
Kaum um eine Spanne waren sie länger als 
die der stattlictien Gräfin. Als sie itim die 
Hand reichte — der Aufruhr der bekämpften 
Bewegung stand ihr wie eine Flamme unter 
den Wimpern — , zitterte diese einen Augen- 
blick. Der Fähnrich nahm's als ein gutes 
Omen. Er küßte die schmale Hand inniger, 
als es die Gräfin sonst verstattet haben wttrde. 
Jetzt saß er in lodernder Glut und trieb, da 
er des Weines nicht schonte, die Lohe nur 
immer hülier und höher empor. Er liebte 
begehrend, mit dem wilden Willen rascher 
Jugend. 

Guraemann seinerseits ward zusehends ver- 
stimmter. Er, der gewohnt war, in gelassner 
Muße selbstgefällig der Gräfin zu huldigen, der 
in Duetten ihr als Sänger, dann wiederum, das 
Buch in der Hand, aus dem er Hymnen und 
Oden vorias, als ein Gestalter, ein Dichter fast 



[31] 



sich ihr genähert hatte — so erschuf er den 
Augenblick — , fand sich heute wie von 
einem Feinde gedrängt. Unruhig wandelte 
sein Blicic die Tischgenossen entlang. Seine 
gepflegte Hand zerknallte das weiße Oebflck. 
Sein Fv&f ermutigt durch den Kampf um das 
Vorrecht, wagte sich an den Seidenpantoffel 
der Nachbarin. Hastig, empört, gewarnt vor 
diesem Gatten des verdächtigsten Weibes, 
zog die Gräfin das schlanke Bein zurttck. 
Qumemann erbleichte. Er fühlte einen Sieger 
über sich... Da trank mit ehrerbietiger Nei- 
gung, doch die verhaltne Leidenschaft im 
Blick und um die sanft gebräunte Lippe, 
der Fähnrich der Hausfrau zu. Sie dankte, 
indem sie an ihrem Glase nippend hinüber- 
schaute. Gurnemann schien's ein Einverständ- 
nis. Er rückte den Stuhl ab... Der Kapitän 
bestritt aufgeräumt das Tischgespräch. Er 
höhnte über täppische Sitten mancher dem 
Kreise nicht ganz unbekannt gebliebner 
Landstädter. Nie war er herber, als wenn 

(32] 



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er verurteilte, was er selbst an sich einst zu 
überwinden gehabt hatte. Graf Paris leitete den 
Kaskadenbach persönlichen Spottes in das 
behagliche Bett allgemeinerer Verhältnisse. 
Da kam an den Fähnrich auch die Gelegen- 
heit, sich lauter vernehmen zu lassen. Er 
sprach hinauf zur Stirnseite, befeuerte seinen 
Witz an beifälligen Blicken. Die Gräfin ließ 
auf dieser Insel lauterer Kraft die Seele aus- 
ruhen. Ihr ekelte heute vor dem KapHfln, 
Gurnemann haßte sie geradezu. Der Un- 
glLickselige unternahm es gar, in vertrau- 
lichem Flüstertöne sie gewissermaßen an 
Beziehungen zu mahnen, die sie eben 
jetzt durchaus nicht gelten zu lassen 
gestimmt war. Mit erhöhter Stimme, kalt, 
ja schneidend, mit einem verachtenden Bücke 
strafte sie ihn, lieferte den Flüsterer der ali- 
gemeinen Aufmerksamkeit in peinlicher Weise 
aus. Frau Gurnemann nahm's mit Genug- 
tuung auf. Sie ahnte dieses schöne Bild 
ichsüchtigen Friedens verschattet; vielleicht 

8 

[»»] 



zerstört. Ihrem eitlen Manne gönnte sie 
jede Demütigung, um so mehr, als sie ihm 
gegenüber, den sie nicht willig ertrug, sich 
schuldig zu fohlen tief begründeten Anlaß, 
aber nicht die geringste Lust empfand. Die 
Baronin zQrnte Paris noch immer, daß sie 
sich hatte zu einer Versöhnung willig finden 
lassen, so kalt gemessen diese auch vor sich 
gegangen war. Der junge Vikar am untern 
Ende der langen Tafel — es saßen noch unter- 
schiedliche QSste daran — beobachtete stumm 
die Runde. Kaum daß er hie und da auf offen- 
bar mitleidige Fragen seiner Nachbarin, einer 
hochgewachsnen Base des Hausherrn, ant- 
wortete, die ihn durch ihre dunkeläugigesicher- 
kalte Gegenwart eher verwirrte, als ganz zu 
sich selbst gelangen ließ. Komtesse Fanni hatte 
allen Grund, sich über ihren zweiten Nachbar, 
den knabenhaften Fähnrich, zu beklagen, 
der, unruhig nach oben hin gewendet 
Ihrer kaum achtete. Den Kapitän aber, 
der sich ihr oft veitfaut-iachehid zuneigte, 

f34j 



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mochte sie längst nicht leiden. Sie ahmte 
ihm sonst gerne nach, wie er hochtönende 
Namen mit Behagen aussprach, als genösse 
er saftige Speise. 

Im nachmittagskahleren Gange zwischen 
beschnittenen grUnen Wänden längs dem 
weitgestreckten Becken der Neptunfontäne 
war es Gurnemann gelungen, Seite an Seite 
mit der Gräfin, sie ihren Schritt etwas ver- 
zögern zu machen. Aber als er, neuerlich 
unbesonnen, schtJchteme Vorwürfe wagte, 
enteilte sie ihm und nahm mit Bestimmtheit den 
Arm des erbebenden Fähnrichs. 

Gurnemann stand, klein, kurzhalsig, hoch- 
schultrig, einen Augenblick still. Dann machte 
er kurz auf den Hacken kehrt und schritt mit 
der Gebärde eines Schlüssigen hinweg . . . 
Am Flusse ward Anstalt zur Theaterunter- 
nehmung getroffen. Er mischte sich an- 
ordnend unter die Bediensteten, geriet mit 
dem Kapitän in leichten Streit, schrie einen 
Bootsknecht unwirsch an und brach sich an 

3* 

[35j 



einem Latemenpfahle des Qerflstes den schön 

gespitzten Nagel des rechten Zeigefingers. 
Nun war seine Wut völlig. 

Am Arme der schweigenden Gräfin war 
der Fflhnrich — er zitterte von der Zehe 
bis zum Scheitel, der Schweiß drohte aus 
allen Poren ihm hervorzubrechen — , un- 
wissend, ob er führe oder geführt werde, 
in den dunlcelsten Teil des weitläufigen 
Parlces gelangt Seine Gedanken waren, wie 
eine Tigerkatze alle ihre Sehnen zum Sprunge 
spannt, auf das einzige Ziel gerichtcl: diese 
wunderschöne Frau zu besitzen oder — so 
schoß seine wilde Jugend kopfüber durchs 
Ziel — den Tod zu finden. Die bis an die 
Grenze des Wahnsinns stOrmende Erregung 
seiner Pulse hatte sich der sonst so ruhigen 
Frau mitgeteilt. Auch ihr Blut brannte. Sie 
war sich des Aufruhrs ihrer aus dem Schlaf 
gescheuchten Sinne nicht bewußt. Unmut 
gegen den Verräter von Gemahl und die 
willigen Frauen, seine Mitschuldigen, erfnllte 

[36J 



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sie. Ihr unklares Denken schloß immer 
mit dem tragischen Refrain »Rache«. Der 
Fähnrich schwieg. Als ob er gefühlt hätte, 

daß ihm, öffnete er nur den Mund, das 
Herz entschlüpft wäre, hielt er den immer 
drängender emporsteigenden Feind im Busen 
krampfhaft nieder. Da6 dieser stärker wäre 
als sein bangender Wille — seine Feigheit, 
nannt' er's knirschend — , wußte er schon. 
Wollüstig ließ er ihn heranwachsen. Seine 
Augen verdunkelten sich von innen heraus, 
als er an einer Wendung des Weges der 
Gräfin zögernd um die Profillinle herum 
und vom Ühr hinab in den Nacken sah, 
hinter dessen weichem Flaum die Sonne, 
sich langsam senkend, brannte. Befangen 
wandte die Hohe den schlanken Hals* Da 
trafen ihre Augen die seinen, sie hielten ein- 
ander lest. Noch kämpfte jedes mit Wider- 
ständen. Aber siegreich blieben diese fester 
und fester zusammenwachsenden Bücke... 
£r hielt sie in seinen Knabenarmen und 



[87] 



weinte vor schmerzendem Glück. Der Gräfin 
schlug das Herz bis in den Hais. Sie 
hatte die Augen geschlossen, ließ eine flam- 
mende Dunkelheit wie einen Vorhang nieder- 
rauschen über Ereignissen, deren jähen Sturz 
aufzuhalten sie sich nicht für fähig hielt. 
Wie eine Ertrinkende verschwand sie in den 
Wogen einer nie geahnten Leidenschaft... 
In ihm aber jubelte eine grelle Fanfare, und 
unwillkürlich sang er leise mit einer heisern 
Stimme, die aus den kochenden Tiefen der 
Sinne stieg, die stürmenden Takte eines 
Relterltedes. Wie er sie ergriffen, wie er 
diesen unter dem knisternden Atlas gleich 
dem Edelwild mit den Flanken zitternden 
Leib sich unterworfen halte, der sich an ihn 
drängte, als suche er eins zu werden mit 
der stählernen Härte seines Qberschlanken 
Körpers: er wußte es nicht. Es war Raub, 
wie Feuer raubt, aufbäumend, lodernd, ver- 
zehrend. . . Nun saß sie, die als eine Diana 
seiner Einbildungskraft erschienen war, ab- 

[38] 



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weisend in ihrer majestätisch-kühlen, Lächelns 
ungewohnten, großiinigen Art, aufgelöst, ein 
sanftes seliges Kind, auf seinen Knien, das 
sonst 80 frei und gebietend getragene Haupt 
an seiner Brust, die warmen Finger um 
sein Handgelenk geschmiegt, haltlos, leise 
schluchzend in der Seligkeit der unbedingten 
Darbietung. Das Weib in Gräfin Eivire war 
erwaclit, nackt lag es, mit weictien Gliedern, 
zärtlich, dankbar, demütig am Herzen des 
Lebens... Die Sonne stand tiefer zwischen 
den Baumkronen. Plätschern erhob sich. Sie 
liatten nidit sein geachtet. Und wie sie nun 
beide den glttckgebrochnen Bück in sQßer 
Müdigkeit an der Urne hinanstreifen ließen, 
in die aus einem bronznen Lüwenhauple 
das reine ruhige Wasser fiel, tauchte lang- 
sam die Weit herauf, lautlos, schattenhaft 
wachsend, und beschloß den unermeßlichen 
Horizont des Gefühls. Da fuhr die Gräfin 
mit beiden Händen zum verstörten Haarbau 
empor. . . 

I39J 



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Der Graf, in Gesellschaft Jolanthens, fühlte 
sich einigermaßen unbequem. Ihm war es 
darum zu tun, die Baronin völlig auszusöhnen. 
Daran hinderte ihn Frau Gumemann. Die 

Eitle war iiiclit willens, mit einer Alkoven- 
freundschaft sich zu bescheiden : sie ver- 
langte Triumph im vollen Sonnenlichte der 
Sozietät. Der Graf seinerseits war nicht ab- 
gesinnt, die leicht Eroberte der Baronin hin- 
zuopfern, dachte er doch die Zugängliche 
leicht wieder vom Augenblick und seinen 
Wonnen zu überzeugen. Mehr war ihm 
an der Baronin Freundschaft zu seinem 
Hause als an der Amour gelegen, die ihn 
flüchtig mit der Gumemann verband. Die 
Baronin und seine Frau sollten im Leben 
noch eine weite Strecke zusammen gehen. 
Wohin die Woge die habsche Joianthe 
werfen mochte, war ihm im Innersten gleich- 
gültig. Schon spitzte sich die Situation wiedor 
bedenklich zu. Die Gräfin war verschwunden. 
Die Baronin mußte sich für doppelt ver- 

140J 



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nachlässig! halten, um so mehr, als sie ein 
Opfer gebracht hatte, das schwer und schwerer 
ihr Selbstbewußtsein belastete. Aber auch 
Frau Qumemann empfand, daß heute mehr 
auf dem Spiele stand als körperliche Zunei- 
gungen: ihre Stellung in diesem Kreise. Sie 
hatte sich — so ward's ihr, noch dunkel zwar, 
doch langsam immer deutlicher gegenwärtig 
— durch die Hingabe nicht, wie sie vielleicht 
vorübergehend hatte glauben mögen, den 
Grafen Paris und sein Haus gesichert, 
hatte im Gegenteil — ihr kleines braunes 
Gesicht überzog die wachsende Röte des 
Unmuts — durch diesen Schritt der sorg- 
fältigst gepflegten Beziehung in ihrem Kern 
geschadet. Es galt, alles zu retten. So 
kämpften beide Frauen einen iieftigen Kampf 
gegeneinander, indem sie, jede für sich, 
die Ereignisse dieses Tages, instinktiv mehr 
als verstandesmäßig, überflogen. Der Graf 
stand mitten inne und empfand die drohende 
Nähe dieser geballten Atmosphäre. Ent- 



[4lJ 



schlössen verließ er Jolanthen, sich der 

Baronin anzutragen. Er verschaffte der Ver- 
blüfften einen offenbaren Sieg, indem er 
sie am Arme mit rascheren Schritten weiter- 
führte. Die Niederlage war fOr Frau Gume- 
mann vollständig, da sie sich dem Kapitän 
Oberlassen fand, indem der Baron es vorzog, 
mit Gräfin Fanni zu plaudern: er war 
Frau Jolanthen gegenüber seiner selbst nie 
ganz sicher. Der Kapitän, verdrießlich, aus 
den Regionen des Gebltttes in das der 
Geduldeten zu geraten, wie denn gesell- 
schaftliche Streber immer äußerst feinfühlig 
gegen Ballast sind, schritt stumm neben 
der Gurnemann einher. Ihrem Gatten waren 
einige der jttngem Herren an den Fluß 
gefolgt. Der Rest der Gäste verweilte in 
den Gewächshäusern. Der Pfarrer hatte sich, 
unbehaglich, verzogen. 

So kam es, daß Gurnemann, als er, die 
Gesellschaft ans Wasser zu holen, zurück- 
kehrte, niemand im Rondell fand» Verstimmt 

[42] 



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und unschlüssig ging er umher. Er stieß 
auf den Fähnrich, den die Gräfin, plötzlich 
gewarnt, gebeten hatte^ möglichst unbefangen 
zu den übrigen sich zu gesellen. Sie selbst 
war auf einem Umweg in das Schloß ge- 
langt und saß nun erschöpft vor dem Spiegel 
des Trumeaus. Die Fenster standen offen. 
Das Abendrot brannte über den Gipfeln der 
Platanen. Ein leichter Lufthauch strich herein 
Sie schloß träumend die Augen. Ein paar 
verwelkte Blumen glitten aus ihrem GOrtel 

unterm Busen. . . 

Der Fähnrich sprach mit krampfhafter 
Laune auf Gurnemann ein. Als dieser nach 
der Gräfin fragte^ erhielt er eine verlegene 
Antwort. Ein Argwohn, den seine Eitelkeit 
sich nicht eingestehen mochte, stieg in dem 
Obelgesinnten auf. Schon kündete Fackel- 
schein vom Flusse her den Beginn der Dar- 
stellung. Ein Chor erscholl. Graf Paris 
sammelte die kleine Gesellschaft Man fahn- 
dete nach der Hausfrau. Niemand wollte sie 



[43] 



gesehen haben. Der Oraf sandte einen 

Bedienten ins Schloß. Frau Gurnemann trat 
an ihn heran, gewillt, ihn nicht mehr frei- 
zugeben. Er wich ihren fast drohenden 
Bücken aus. Doch hielt sie sich an seiner 
Seite. Der Kapitän bot der Baronin den 
Arm und war sofort in den aufgeräumten 
Ton geraten, der Wissenden ankündigte, er 
befinde sich in der ihm genehmen Atmo- 
sphäre. Die Gräfin erschien. Qumemanni 
bleich vor Aufregung, stellte sie mit seinen 
Augen zur Rede. Ängstlich verfolgte der 
Fähnrich ihre Bewegungen. Die kurze Zeit, 
die zwischen der leidenschaftlichen Szene 
und dieser Begegnung lag, hatte sich ihm 
mit Ewigkeiten gefttUi 

Man war an das Ufer gelangt. Sitze warteten 
der Gäste. Die Bedienten hielten Mäntel 
in Bereitschaft. Die Fackeln warfen einen 
zitternden Schein auf die stummen Fluten. 
Eine Fähre legte an. Gurnemann zögerte* . . 
Da wandte Mti die Gräfin. Nur ein Augen- 



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blick war's, aber wie ein Tiger hinter iiira 
her, iiatte Gurnemann ihn gepacliti (iiesen 
flüchtigen Bück, der zartlich-verhraut den 
Ffihnrich suchte. Der Gräfin schlug das 
Herz gewaltig. Sie wußte von der Gefahr. 
Sie sah den ergrimmten Feind. In Qurne- 
manns Antlitz waren alle Muskeln gestrafft. 
In dieser Qualminute fand die sonst so Un- 
beratene, was einzig taugen konnte: sie ließ 
ihr Auge in dem Gurncmanns verweflen, 
zwang sich mit übermenschlicher Anstren- 
gung zu einem Lächeln. Gurnemanns Krampf 
entspannte sich. Noch zögerte er. Da gewann 
ihr Lächeln Sicherheit Der Kopf schwindelte 
ihm. Und das Lächeln warb... AIkt auch 
Frau Gurnemann, der sich Graf Paris ge- 
schickt entwunden hatte, war dieses Lächeln 
nicht entgangen. Sie sah ihres Gatten Unter- 
liegen, sah die Schöne, Gehaßte Siegerin 
über den kleinen, verachteten Mann. Wehr- 
los stand sie. Ihr Busen flog. . .Der Kapitän 
mahnte jovial den Hauptakteur an seine 



[45] 



Rolle. Gumemann sprang auf die Fähre. 
Die Grflfin ließ sich völlig ermattet in einen 
der leichten Stühle nieder. Der Graf trat 

vor und Icündigte, ihre Hand ergreifend und 
küssend — sie ließ sie ihm willenlos mit 
launigen Worten das Spiel an. . .Kaum hatte 
er einige Sätze gesprochen^ als ihn ein Ge- 
räusch von der Fähre her unterbrach. Man 
strengte sich an, zu selieii; was es gätoe. 
Die Fähre war in den Schatten gelangt. 
Gurnemann, in der heftig erregten Stimmung, 
die ihn bezwang, war, auf dem Floße vor- 
wärts eilend, mit der Bewegung des langsam 
wieder heran geruderten Fahrzeugs in Gegen- 
satz geraten und gestrauchelt. . . »Es ist 
nichts!« rief er hinüber, da der Graf mit 
mächtiger Stimme — er warf seine Unruhe 
so von sich in die Luft — anfragte. 

Die Fähre schwamm näher. In einem 
weißen Mantel stand Gurnemann an der 
Längsseite. Die Mandolinen begannen. Sonst 
herrschte Schweigen. Nur die Wellen kämpften 

[46] 



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gurgelnd gegen das Hindernis der durch das 
Einstemmen der Ruderstangen gestauten 
Plätte. 

Während Oumemanit sang, bemühte er 
sich, das Dunkel am Ufer zu durchdringen, 

das bei dem verstärkten Scheine der an Bord 
der schwimmenden Bühne allmählig reichli- 
cher entzündeten Fackeln nur immer tiefer 
drüben heraufwuchs. Einen Augenblick glaubte 
er den Fflhnrlch zu erkennen, dessen schmales 
Gesicht sich hinter den Schultern der Gräfin 
hervorbog. Er deutete den Knechten an, näher 
anzufahren. Der Nachtwind rauschte durch 
die Kronen der alten Bäume. Wie magneti- 
siert verfolgte die Gräfin Gumemanns Bewe- 
gungen. Die Worte seines Liedes verklangen 
vor ihren Ohren. Die Fülle dieser Stunden 
machte ihr Herz heftiger und heftiger 
schlagen. Sie fühlte ihre Sinne schwinden. 
Die Schatten der Fackeln tanzten über dem 
Wasser. Die Bäume schienen sich bis auf 
sie herabzuneigen. Drohend schimmerte ihr 



[47] 



Gurnemanns gespenstisch blasses Antlitz ent- 
gegen. Mit einem leisen Aufsclirei sank sie 
in Ohnmacht. . . Wie ein Rasender drängte 
Gurnemanm an den Rand der Fähre. Er sah 

den Fähnrich zu Füßen der Gräfin. Un- 
willigen Sinnes^ schienen ihm die Leute nicht 
schnell genug zu rudern. Mit einem verzwei- 
felten Satz erreichte er das Ufer^ glitt an ihm 
aus und versank im Wasser. Nun drängte alles 
zum Flusse. Den Jüngling von seiner Frau 
fortschiebend, versuchte Graf Paris, die 
Bewußtlose zu sich selbst zu bringen. Der 
Kapitän hatte eine Ruderstange erfaßt^ an 
der er die Fähre rascher heranzog. Gurne- 
mann schien unter diese geraten zu sein. 
Der Fähnrich, ausgeschlossen von der Ge- 
liebten^ im allgemeinen Tumult seiner selbst 
kaum bewußt, warf sich in den Strom. Es 
gelang ihm, Qurnemann zu erfassen, den der 
weiße Mantel, schwer ihn umwindend, hemmte. 
Atemlos, den Mund voll Wasser, gurgelnd, 
klammerte sich dieser an ihn an. Da drang 



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gerade die Fahre mächtig gegen die Ringen- 
den. Qumemann hatte den Fähnrich an der 
Kehle erfaßt. Wie im Wahnsinn drückte er 

zu. Der Jüngling sank unter. Die Fähre — 
an der jetzt Gurnemann sich fing ~ ging 
über ihn hinweg. Die trampelnden Schiffer 
schrien. Mit Zischen verlöschten einige 
Fackeln stürzend im Wasser... 

Als die Gräfin die Augen aufschlug, er- 
blickte sie den schnell geborgenen Toten. 
Man hatte den Mantel über seinen Körper 
gebreitet, die gräßlich verzerrten Züge noch 
nicht bedeckt. Neben der Leiche stand 
Gurnemann, vor Kälte zitternd. Der Kapitän, 
mit gesenkten Mundwinkeln, hielt eine 
Fackel 



[49J 



4 



DAS SiELLDICHElN 

Ein Nachtstück 



4* 



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Artur Schurig 
sein Bruder in Stendhal 



Der Marquis de Troaiilesy ein blu^imger 
Attache der firanzösiachen Mission in Wien, 
genoß das heitre Leben dieser liellen Stadt 

mit der bewunderungswürdigen Ausdauer 
eines neu Angeicommenen. In jeder schönen 
Frau sali er das Ziei eines siegreiclien 
Angriffs. Er hatte sich schon während der 
ersten Tage nach seinem Eintreffen in allen 
Häusern des Adels einführen lassen, und da 
er noch in der Hochflut der Saison seine 
Zuteilung erlangt hatte, war er auch also- 
gleich mitten im Tumulte der gesellschaft- 
lichen Lustbarkeiten. Seine feurige Jugend, sein 
lebhaftes Auge, der Liebreiz seiner feinen Züge, 
die etwas von einem vortrefflich gezogenen 
Pferde besaßen, die Anmut seiner gewandten 
Höflichiceity nicht zuletzt auch der Ruf großer 
Reichtümer ^ er war der einzige Sohn ihn 
vergötternder Eltern — boten ebensoviele 



[55] 



Garantien der glücklichsten Attachements. 
Und bereits besaß der vielfach Gerühmte, 
heimiich Beneidete auch einen nicht zu ver- 
achtenden Feindy ein Umstand, der das 
Interesse, das man an dem schönen Fremden 
nahm, nur noch steigern konnte. Ohne viel 
nach bestehenden Beziehungen zu fragen, 
hatte der Marquis unter andern der Gräfin 
Fanny Hohenmauth, der Gattin eines hohen 
FunktionfifS der Monarchie, seine begehrende 
Huldigung zu Fflßen gelegt und, gewöhnt, 
nicht allzu lange zu tändeln, nachdem er 
der entzückenden Frau ein paarmal an drittem 
Orte begegnet war, sie allein zu Hause 
zu finden die günstigste Gelegenheit wahr- 
genommen. Durch die verdüsterten Spiegel- 
Salons mit den vom Fußboden aufreichen- 
den chinesischen Vasen und den vergolde- 
ten Pfeiler-Konsolen war er, vom Lakaien 
geführt^ in das Boudoir der Gräfin gelangt, 
die ihn — sie hatte sich eigentlich über- 
raschen lassen — etwas verlegen empfing. 

156J 



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Gr&fin Fanny wußte, warum sie bangte. Es 

war die Stunde^ da sie jeden Augenblick 
George Allan Seymours Besuch gewärtigen 
mußte. Dies aber war der Gebieter der 
reizenden Dame. Der Marquis, nachdem er 
sich mit einem Büclce vergewissert hatte, 
daß sie allein sei, koßte der Gräfin mit 
zarter Inbrunst die schmale Hand, und, indem 
er sie in der seinen behielt, sah er, das von 
loclcigem Haar umrahmte Jünglingsantlitz 
erhebend, mit einem seiner schmachtendsten 
Blicke in diese kornblumenblauen Augen. 
Ihre Befangenheit stieg, da er sich mit der 
Ritterlichkeit des gebornen Frauenfreundes 
auf ein Knie niederließ und an die leis Er- 
schauemde folgende Worte richtete : »Gräfin, 
Sie sehen, daß ich alles auf der Degenspitze 
trage : Ehre, Leben und Herz. Ich liebe Sie 
vom ersten Augenblick an, da ich das 
Glück hatte, Sie zu sehen. Ich bin Ihrer 
mit allen Gedanken des Tages und der 
Nacht. Ich kenne kein andres Ziel als 

[57J 



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Sie. Hier lege ich mein Geschicl< in Ihre 
kleinen Hände!« Nach diesen mit einer 
wohlklingenden gedämpften Stimme rasch; 
aber deutlich gesprochnen Worten erfaßte der 
Marquis auch die andre Hand der Dame, 
vereinte beide sanft, indem er sie mit der 
Rechten umfaßte, und legte die Linke leicht 
an die Stelle, wo unter dem Spitzenjabot 
sein junges Abenteurertierz pochte. Da 
schlug die kleine Pendttle auf dem weiften 

Marmürkamin die vierte Stunde. »Stehen 
Sie auf, Marquis«, sagte die Gräfin mit 
einer Stimme, in der dem Knienden Ver- 
heißung zu beben schien, »stehen Sie aufl 
Es könnte jemand kommen.« Der Marquis 
jedoch, ohne sich von der Stelle zu rUhren, 
rief: »Sagen Sie, ob Sie mich lieben können, 
Gräfin, ob ich Sie lieben darf!« Da dem durch 
die Angst geschärften Gehör der Gräfin 
soeben aus den anstoßenden Gemächern 
nahende Schritte vernehmbar wurden, entwand 
sie mit einer vom Entsetzen gestärkten 

[58j 



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Bewegung des Oberkörpers ihre Hand der 

Umklammerung des ungestümen Liebhabers, 
und, indem sie einen Sctiritt zurück sprang, 
flüsterte sie, nur um diesen gefäiirlichen 
Auftritt zu beendigen, mit gesdilofinen 
Augen — der iVlarquis deutete das Zeichen 
günstig — : »Vielleicht«. Sofort stand er auch 
wieder auf seinen Füßen, schob den Degen 
zurecht und legte die Hand auf die Lehne 
eines mit lilarotem Damast aberzogenen 
Pauteuils. Die Schritte erklangen nun un- 
mittelbar hinter seinem Rücken. Er wandte 
sich um. Der Bediente meldete Mr. George 
Allan Seymour, und der Gemeldete folgte 
ihm fast auf den Fersen. Der Marquis sah 
ihn an und erkannte in ihm seinen Feind. 

Allan Seymour war ein hochgewachsner 
Mann von einigen Dreißig. Vollendet war 
die Schmalheit seiner Hüften, vollendet die 
Breite seiner Schultern, auf denen ein runder 
mächtiger Nacken sa6. Dieser trug einen 
dämonisdien Kopf. Das Gesicht hatten 

[59] 



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Leidenschaften zerrissen. Der Mund schien 
eine aufgebrochne Spalte. Die Augen wan- 
derten unaufhörlich. 
Die Gräfin war einer Ohnmacht nahe. Die 

beiden Diplomaten begrüßten einander kalt. 
Und als der Marquis nacti einem kurzen 
gleichgültigen Gespräche ging, schlug jener, 
der sich rasch wieder gesetzt hatte, gelassen 
Bein Uber Bein. Diese Bewegung erfüllte 
den Scheidenden mit einer unsäglichen Wut. 

Zwei Tage darauf bei einer großen Cour 
sagte der Marquis zu der schönen Gräfin: 
»Gräfin, ich will nichts wissen von einem 
Nebenbuhler. Aber auf daß Sie ^cher seien, 
habe ich mit Ihrer Kammerfrau ein Einver- 
ständnis getroffen.« Die Gräfin erbleichte. 
Die Kühnheit dieses Vorgehens war ihr wie 
eine Verheißung gewalttätiger Ereignisse. 

Das Einverständnis mit der Kammerzofe 
hatte sich einfadi genug treffen lassen. Der 
Bediente des Marquis war beauftragt worden, 
noch^ an demselben Abende, da Hector 

• [60] 



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de Troailies der Gräfin seinen ersten, so 

ungewöhnlichen Besuch abgestattet hatte, 
sich dem Mädchen zu nähern und ihr die 
Liebe seines Herrn anzutragen. Er hatte den 
Befehl zur vollsten Zufriedenheit beider Teile 
ausgeführt. Er konnte alsbatd dem Marquis 
berichten, daß Pepi, die übrigens ein äußerst 
liebenswürdiges Geschöpf wäre, sich der Ehre 
solcher Zuneigung völlig bewußt sei.Darüber^ 
wie sein Gebieter dazu gekommen sein 
modite, ihrer gewahr zu werden> hatte dem 
Verschlagenen der Augenblick hinweg helfen 
müssen. Er beließ der Angelegenheit den 
Kosenschimmer eines duftigen Geheimnisses, 
was das junge Ding nur um so sehnsüchtiger 
zu stimmen geeignet war. 

Am dritten Tage nach jenem ersten Besuche, 
gegen elf Uhr nachts, fand sich der Marquis, 
der durch seinen Bedienten alle Wege hatte 
ebnen lassen, im dunkeln Mantel unter den 
Arkaden des zweiten Hofes im Palais Hohen- 
mauth ein. Ein Windlicht beleuchtete den langen 



[61] 



Korridor, der zu den Küchen und Gesinde- 
räumen führte. Leise trat der Jüngling in den 
Hof. Rund um den mit Steinen gepflasterten 
Innern Raum liefen in naliezu doppelter Stock- 
hi^he, wie im Vorderhause, Galerien. 

Er hatte nicht allzu lange gewartet, als 
ein leichter Schritt aus der Tiefe des 
finstern Korridors sich vernehmen ließ. Zag- 
haft kam Pepi heran und fühlte sich also- 
gleich zfirtlich umfangen. Das Mädchen unter 
die Leuchte ziehend, wo er es mit einem 
prüfenden Blicke musterte, sagte der Marquis: 
»Meine süße Kleine, wo ist deine Kammer?« 
Nach dieser kurzen Ankündigung eines roman- 
tischen Liebesuntemehmens, das der Zofe seit 
zweimal 24 Stunden den Kopf verwirrte, und 
naclidem er sie noch herzhaft abgeküßt und an 
sich gepreßt hatte, gab er ihr durch eine ent- 
schiedne Wendung seines Körpers zu ver- 
stehen, daß er nunmehr mit ihr zu gehen 
bereit sei. Das arme Ding, das sich beileibe 
nicht einen so raschen Verlauf des Abenteuers 



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vermutet hatte^ versuchte einige Abwehr. 

Aber der energische Arm des jungen Mannes 
zwang sie zu einer kleinen Wendcistiege, 
die von oben her düster erleuclitet war. 
Ohne weitern Widerstand, willenlos, ließ 
sie sich von dem mit der OftÜchlceit bald 
Vertrauten ftthren. Der Marquis genoB in den 
sanften Armen dieser demütigen Magd seiner 
Wünsche ein ungestörtes Vergnügen, das ihm 
um so reizender erscheinen mußte, als er das 
Manöver mit der Kammerjungfer eingeleitet 
hatte, ohne im entferntesten die Möglichiceit 
eines so annehmbaren Genusses zu ge- 
wärtigen. 

Einige Tage hatte er seine bescheidene 
Kleine mit den Abfällen sozusagen einer großen ' 
Passion zu beglDcken gewußt, als er die 

Zeit für gekommen erachtete, das Abenteuer 
in seinem Sinne zu nutzen. Mittlerweile 
war er auch in andrer Richtung nicht müßig 
gewesen. Er hatte sich wieder einmal, und 
zwar zur Stunde, da Seymour bei der Grfifin 

[63] 



sich einzufinden pflegte, im Boudoir der ver- 
ehrten Frau gezeigt und nicht versäumt, den 
schweigsamen Allan, den er diesmal durch 
Beharrlidilceit mit ihm fortzugehen nötigte, in 

der vertraueneinflüßenden Sorglosigkeit fri- 
scher Jugend auf das charmante Verhältnis 
aufmerksam zu machen, das ihm durch einen 
liebenswürdigen Zufall im Hotel Hohen- 
mauth sich ergeben hAtte. Der Unglilckliche 
ahnte nicht, daß Seymour durch diese Mit- 
teilung, hinter der er nichts anders als eine 
Finte zu argwöhnen imstande war, nur um so 
wachsamer seinen Schritten nachzuspüren 
bewogen ward. Er glaubte, alles getan zu 
haben, den schwerfälligen Gefährten über 
einen etwaigen Verdacht zu beruhigen, dessen 
völlige Grundlosigkeit darzutun die unum- 
wundene Aufklärung ihm bei seiner Menschen- 
unkenntnis geeignet erschien. 

Bei einer Pirutschade war es, dafi sich 
der Marquis, der, mit den andern Kavalieren 
wetteifernd, Gräfin Fanny die üblichen Huldi- 

[64J 



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gungen dargebracht hatte, scheinbar harm- 
los an ihre Seite tretend, indem sich ihr 
Wagen wieder in Bewegung setzte, diese 
schnellen Worte ihr fast ins Ohr zu flüstern 
unterfing: »Gräfin^ ich werde morgen nachts 
in Ihrem Schlafgemach auf Sie warten.« 
Während die Lippizaner in immer rascherem 
Trabe sich der Kortege anschlössen, hatte 
die Gräfin an der Seite ihres schwerhörigen 
Gatten Zeit, Uber die Kühnheit dieser An- 
Icündigung sich zu beruliigcn. Selbstver- 
ständlich würde sie dem mehr als tollen 
Unternehmen rechtzeitig noch zu steuern 
wissen. Der Abend des kommenden Tages 
war einem großen Empfange geweiht, 
den der Gesandte Spaniens den Vertretern 
der Mächte und der Elite der Gesellschaft 
gab. Spät genug angesetzt, mochte sich das 
Fest, wenn sich die Mitglieder des Hofes 
zuraclcgezogen hätten, wohl weit Uber Mitter- 
nacht erstrecken. Immerhin war es von dem 
Marquis eine Vermessenheit sondergleichen, 

6 

[65] 



mit der Neigung des Grafen zu langwierigen 
Spielpartiell rechnend, eine verhältnismäßig 
SO frühe Stunde für ein Stelldichein unter 
dem ehelichen Dache seiner Dame zu wflhlen. 
Die GrSf in ertappte sich In einiger Verlegenheit 
bei Erwägungen Ober die Möglichkeiten, nicht 
etwa wie der Marquis von seinem frevelhaften 
Beginnen durch energische Zurechtweisung ab- 
zubringen ware^ sondern wie die Ausfahrung 
des in seiner Verruchtheit so verfflhrerischen 
Unternehmens sich wohl gestalten wflrde. 
An diesem Nachmittag ergab sich keine 
Gelegenheit, den Marquis zu warnen; denn 
schon hatte sich die zuerst beabsichtigte 
schroffe Zurechtweisung des jungen Mannes 
in miBbtlligenden Tadel, dieser ab^ Im Ver- 
laufe der stummen Erörterung in eine dem 
Leichtsinnigen nicht vorzuenthaltende War- 
nung verwandelt, ohne dafi die Gräfin sich 
dieses Umschwungs ihrer Anschauung völlig 
bewußt geworden wäre. 
Ais Gräfin i aiiay am andern Tag erwachte 

[66j 



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und ihr auf silberner Platte von Pepi das 
Frühstück serviert wurde, fiel ihr — es war 
hoher Mittag — das bevorstehende Ereignis 
dieser Nacht ein und, indem sie sich eines 

frühern andeutenden Wortes des Marquis, 
das sie anfangs wohl verblüfft hatte, später 
jedoch von ihr im geselligen Taumel wieder 
vernachlässigt worden war, entsann, glaubte 
sie, ein Obriges getan zu haben, wenn sie 
dem Mädchen mit strengen, aber nicht weiter 
bei der peinlichen Sache verweilenden Worten 
die gefährliche Betrauung verwiese. Kaum 
aber hatte sie der mit gesenkten Augen sie 
bedienenden Zofe auch nur den Namen des 
Marquis genannt, als das Mädchen, sich und 
sein vermeintliches süßes Geheimnis verraten 
wähnend, weinend der Gräfin zu Füßen fiel 
und sie um Gottes und aller Heiligen willen 
beschwor, ihre Gnade ihr nicht zu entziehen. 
Die Verwirrung der Magd deutete die Gräfin 
in ihrem Sinne, sie verbat sich jedes weitre 
Wor^ verwies Pepi ernstlich ihre Unvor- 

[67J 



sichtigkeit, und, innerliclist gerOhrt über die 
mutige Hartnäckigkeit des schönen jQnglings^ 

der sich wirklich schon aller Mittel und 
Wege, zu seinem Zieie zu gelangen, ver- 
sichert zu haben schien, entließ sie sie mit 
der zweideutigen Weisung, in Hinkunft ihr 
eignes Wohlergehen besser im Auge zu 
behalten. Keinen Moment ward sie gewahr, 
daß, hätte das Mädchen wirklich als die ver- 
traute Unterhändlerin des Marquis vor ihr 
gestanden, ein ganz andres Benehmen der 
erzürnten Herrin am Platze gewesen wflre. 
Pepi entfernte sich mit Zittern. Ein Briefchen, 
ihr am Morgen von jenem findigen Bedienten 
zugesteckt, hatte ihr den. Besuch des vor- 
nehmen Geliebten fOr diese Nacht in Aus- 
sicht gestellt. Sie. wußte sich keine Möglictp- 
keit, den Besuch hintanzuhalten, war aber 
entschlossen, den Marquis diesmal nicht in 
ihre Stube einzulassen. •Diesmal«, wieder- 
holte sie sich. Denn mit heißem £rröten 
gestand sich das arme Ding, daß ein jflhes 

[68] 



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Abbrechen der sttßen Verbindung ihr das 
Herz auf Lebensdauer versehren müßte. 

Der Abend kam heran. Die Gräfin ließ sich 
von Pepi beizeiten anlileiden. im hohen 
Spiegel ihres Trumeaus fing sie gelegentlich 
scheue Blicke der Zofe auf, die zu bemerken 
sie sich selbst verwehrte. Während ihr Pepi 
mit bebenden Fingern das Haar ordnete, 
waren die Gedanlcen der beiden Frauen bei 
dem kühnen Abenteurer, der unterdessen, von 
Seymour zur Besichtigung eines vor kurzem 
aus England jsingehoffnen jungen Pferdes 
eingeladen, das unruhige Tier auf der Reit- 
bahn zwischen seinen Schenkeln auf die in 
seinen Muskeln noch verborgnen, erst zu 
entwickelnden Fähigkeiten prüfte. Mit ver- 
schränkten Armen, finster lauernden Blickes 
wie immer, stand der Besitzer inmitten des 
mit feinem Sande bestreuten Kreisrundes, 
während die Frfihlingßdämmerung langsam 
einfiel. Durch einen seiner Spione war er in 
Kenntnis des von dem Franzosen mit Pepi 



[69] 



für heute verabredeten Stelldicheins, und 
argwöhnisch wie nur je der an die Reize 
einer andauernden Liaison gewöhnte Lieb- 
haber einer nicht eben unzugänglichen Frau, 
hatte er dieses wie ledesmal seine besondem 
Vermutungen. Auch war sein Plan schon 
zum Entschlüsse gereift. So oft der Marquis 
das Kammermädchen aufsuchte, hatte Allan 
die Qrflfin mit der er sich fast täglich 
irgendwo traf ^ nicht aus den Augen ge- 
lassen. Weiters war ein Bedienter des Hauses 
bestochen, der über die Zusammenkünfte 
des sorglosen Parisers mit der kleinen 
Kammerzofe zu berichten hatte. 

Strahlend in Jugend und Schönheit, der 
die innerliche Erregung einen neuen eigen- 
tümlichen Reiz verlieh, erschien die Gräfin 
au! der spanischen Botschaft. Sie war so 
entourierti daß geraume Zeit weder Allan 
noch der Marquis sich ihr zu nähern in die 
Lage kamen. Der Engländer sagte ihr, als 
er ihr die Hand küßte — es stand nur der 

[70j 



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apostolische Nuntius unmittelbar daneben, 
ein paar jflngere Herren waren, als sie den 
GQnstling kommen sahen, bewundernd und 

nicht ohne Scheu vor dem berühmten 
Fechter zurückgetreten — »Der Kutscher hat 
Ordre.« Die Gräfin erzitterte. In ihren 
Diensten befand sich seit einigen Wochen 
ein Kutscher, den Seymour dem Grafen at>- 
getreten hatte, ein jenem blind ergebner 
totsichrer Landsmann. Da ihre Zusanimen- 
kOnfte in der Flucht der Saisonvergnügungen 
dem' beiderseitigen Wunsche nicht hftufig 
genug sich ergeben hatten, war zwischen 
den Beteiligten das Übereinkommen getroffen 
worden, daß der Kutscher die Gräfin an 
gewissen Abenden, wenn ihr Gemahl dem 
geliebten Spiel oblag, auf eine Stunde zu 
Seymour führte, dann aber, wofern er den 
Grafen nicht abholte, leer nach Hause fuhr, 
während die Gräfin später zur pünktlich 
festgesetzten Heimkehr einen von Seymour 
bereit gehaltenen Wagen bis an die Hinter- 



(71J 



pforte des Palais benutzte. Es war im 
Laufe der Wochen niemals vorgekommen^ 
daß der alternde Gatte die Gemächer seiner 
jungen Frau zur Nachtzeit besucht hätte. 

Übrigens waren diese kurzen nächtlichen 
StelldichefTi nur als eine Gunst dazu- 
gekommen, die die vor Seymours Jähzorn 
zitternde Gräfin ihm nicht abzuschlagen 
wagte; obgleich sie jedesmal mehr tot als 
lebendig nach Hause kehrte. 

Die Ankündigung hatte sie wie ein Blitz- 
strahl getroffen. Sie behielt so viel an 
Geisteskraft, ihm nicht sofort abzusagen, was 
unfehlbar nur Unheil gestiftet haben wOrde. 
Aber ihr Kopf rang nach einer annehmbaren 
Ausflucht, die sich im Laufe des vorgeschrit- 
tenen Abends ergeben würde. Als sie nach 
dem spät servierten Souper mU qualver- 
dunkelten Blicken Allan suchte, war er nicht 
zu entdecken. Er hatte sich bereits in seine 
Wohnung begeben, denn er hielt es nicht 
für nötig, weitere Verabredungen zu treffen. 

[78] 



r 



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»Heute haben Sie Ihre Seladons bald ver- 
lassen, teuerste Gräfin«, sagte eine näselnde 
Stimme neben ihr, als sie, die Hand an die 
hoch wogende Brust gedrückt, einen Augen-, 
blick geistesabwesend auf ihre Fußspitzen 
starrte. Es war eine alte Exzellenz, die sich 
diese Vertraulichkeit gegen die junge Frau 
herausnahm. Sie iächelte mit ihren weißen 
geraden Zähnen und sagte: »Sie haben sich 
beide heute nicht allzusehr angeshrengt.« 
Aber während sie diese Worte aus der 
umschnürten Kehie hauchen ließ, hatten ihre 
gehetzten Gedanken nichts als den ver- 
blutenden Verzweiflungsschrei: Was tun, 
um Gottes willen, was tunl Denn daß 
auch der Marquis seiner Ansage sich ge^ 
treu erweisen würde, stand ihr Ober jedem 
Zweifel. 

Dieser hatte, ohne sich von jemand zu 
verabschieden, seinen Wagen bestiegen und 
sich zu einer Straßenkreuzung führen lassen, 
die, in einiger Entfernung des Hotels Hohen- 



[73] 



maut» abgelegen genug war, das Ziel seiner 
Fahrt zu verbergen. Zu FuB — er entließ 

den Kutscher — setzte er den Weg fort, 
alle Glückseligkeit des Freibeuters im Herzen. 
Bald stieg die dunlde Masse des alten 
Hauses vor ihm auf. Die Toreinfahrt stand 
offen. Der Pförtner schlief, wie gewöhnlich. 
In seinen Mante! gehüllt glitt der Marquis 
an der gegenüber liegenden Wand vorbei 
durch einen Gang zum zweiten Hofe. 
Wieder sah er Ober sich das hohe Kreis- 
rund der altertOmlichen Emporen, deren 
eine — das wußte er — vor dem Schlaf- 
gemache der Gräfin gelegen war. Der Mond 
hatte einen Hof. Der heftige Frühlingswind 
gelangte nicht hinab in den stillen Kessel^ 
aber die am Himmel stürmisch treibenden 
Wolken verrieten seine junge drängende 
Kraft. Pepi, die in dem obern Stock an 
einem der aneinander stoßenden Glasfenster 
der geschlossnen Galerie voll Bangen ge- 
lauscht hatte, erschien in Hast, mit den 

[74J 



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Zeichen hochgradiger Erregung. »Die Gräfin 
weiß allesy« stieß sie mit Iceuchender Brust 

hervor. »Du hast ihr doch nicht gestanden?« 
rief der Marquis. Das Mädchen mul^te sich 
erst besinnen, ob und was sie gestanden 
haben icOnnte. Sie erinnerte sich, wirkiich 
nicht mehr des Inhaltes der demütigenden 
Unterredung, obwohl ihr alle Begleitumstände, 
bis auf den Reflex der durch ihre Hand gleiten- 
* den Haarflechten ihrer Herrin, bewußt waren« 
Nach einigen schlecht genug versinnüchten 
Kreuzfragen hatte der Marquis sich so weit 
vergewissert, daß die Dame seiner Wünsche 
nicht etwa in die allzu fleischlichen Umwege 
eingeweiht sein möchte, die ihn zum Ziele 
zu fahren bestimmt waren. Der Elfersucht 
des Weibes in der Gräfin hätte er seine 
Sache nicht ausliefern wollen. Als er nach 
einigem Sträuben in Pepis Kammer angelangt 
war, verlangte er, wie von einer plötzlichen 
Neugierde gestachelt, das Schlafzimmer der 
Gräfin zu sehen. Im Gefühle doppelten Un- 



175| 



rechts gegen die Henrin, die sich ihr im 
besondem erst heute so gütig erwiesen hatte 

und deren ihr anvertraute häusliche Stille 
sie . durch das heimliche Einfijhren eines 
Fremden ungescheut unterbrochen, ja ge- 
schändet zu haben sich würde vorwerfen 
müssen, ließ ihn das Mfldchen ein. Er ver- 
weilte lange im Anblicke der einzelnen 
Gegenstände des schweigenden, von Weiß 
beherrschten Raumes. Stumm hielt die Zofe 
Wacht über ailzu vorwitzige Biicice ihres 
Beherrschers. Da er eine dritte Türe t>e* 
merkte — die eine führte zu einem Ankleide- 
zimmer, die zweite in einen kleinen Vor- 
raum, an den sich das vordere Stiegenhaus 
schloß — , wollte er wissen, wohin sie leite. 
Pepi öffnete, und ruhige Mondeshelle drang 
in das Gemach, umspulte das bereitete Bett. 
Sie traten auf eine Art von verglaster Altane, 
eine der Emporen, die um den Hof sich 
reihten. Er sah durch das Fenster — es 
stand halb offen — in eine ziemliche Tiefe 

[76J 



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auf die Steinfliesen des zweiten Hofes 
hinab. — In diesem Augenblick erscholl ein 
dumpfes Rollen hinter Mauern. »Die Grflfinl« 
rief das Mädchen erschreckt. Auch den 
Marquis hatte dieses Geräusch merkwürdig 
ins Herz getroffen. Es war nicht die ge- 
wohnte sieghafte, nur nach Erfüllung durstige 
Zuversicht» die in dem Auflauschenden ihre 
stolzen Flflgel breitete, es war wie die 
dumpfe Ahnung eines ungewissen Schick- 
sals, das ihn Uberschattete. Auch eine plötzliche 
Erinnerung an das gütige Gesicht seiner fer- 
nen Mutter stieg wie eine mahnende Vision vor 
seinen innem Augen auf. — Schon aber hatte 
die Kammerfrau ihn fast fußfällig beschworen, 
das Schlafzimmer augenblicklich zu verlassen. 
Er zögerte. Er konnte sich nicht trennen von 
der Ruhe dieser erwartenden Wände, dem 
schlichten Betpult, auf dessen dunkelbrauner 
Diele sie ihre tägliche Andacht verrichten 
mochte, dem schneeigen Bett, auf dem das 
sanfte Mondiicht flutete. Da man im Korridor 



[77] 



unten eine Glastüre gehen horte, erzitterte 
das Mädchen am ganzen Körper, und 

indem sie ihre Bitte eindringlicher und ihre 
eigne gefährdete Person in den Vorder- 
grund schiebend wiederholte, wollte sie den 
i\Aarqul8, an den sie sich, wenn er nicht an 
Ihrer Brust lag in der Stille der Nacht, kaum 
heran wagte, leis an der Schulter in das 
Nebengemach drängen. Er aber war, als 
hatte er Zeit und als ginge ihn die ganze 
Sache nichts an, in seltsamen Heimats- 
gedanken, zu denen ihn der mild leuchtende 

Mond stimmte, wieder durch die geöffneten 
Türen auf die Altane getreten und stand, 
die Hand auf die FensterbrUstung gelegt, 
in den Anblick des Itchtgebadeten Hofes 
versunken. Diesen iMoment benutzte die 
vor Sorge um ihre Sicherheit ganz außer 
Besinnung gebrachte Kammerzofe, hinter 
ihm die Türe zu schließen und mit einer 
raschen Bewegung auch alsogleich zu ver- 
sperren. Er sah sich auf der Empore un- 

[78] 



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mittelbar vor dem Schlafzimmer seiner Dame 
mit sicli selbst und dem Mond eingeschlossen. 
Die Sache kam ihm nicht eben anheimelnd 
vor. Er klopfte, aber er hörte wieder 
eine TQre gehen und unterließ die Wieder- 
holung des vorlaufig wohl vergeblichen Ver- 
suches, das Madchen an sein Versäumnis zu 
mahnen. 

Fepi war der Gräfin entgegengeeilt, die, 
unfähig, sich den Gefahren zu steUen, die 
ihr aus dem Zusammentreffen der beiden 
Rivalen drohten, ihren Gatten durch das 

Vorschützen einer plötzlichen Unpäßhchkeit 
vermocht hatte, vom Spieltische, unwillig 
genug, aber nach außen höflich wie immer, 
sich zu ungewohnter Zeit zu erheben und sie 
auf Ihre dringende Bitte nach Hause zu be- 
gleiten. Der von Seymour, den er fürchtete 
wie den Teufel, angewiesene Kutscher hatte, 
da er also den Grafen ins Schloß zu bringen 
sich genötigt sah, sofort nach seiner Ankunft 
im Stalle die Pferde einem der schlaftrunknen 



[79] 



Stallburschen Übergeben und war sporn- 
streichs zu seinem Gebieter gelaufen, ihn 
über das Geschehnis aufzuklären. Seymour, 
dessen Wagen im Hofe hielte ließ den Mann, 
nachdem er seine Meldung, ohne ein Wort 
zu erwidern, entgegengenommen hatte, stehen, 
wo er stand, und fuhr unverzüglich zum 
Hotel Hohenmauth. Audi auf die geringsten 
Vorsichtsmaßregeln verzichtend, ohne Degen, 
im leichten Nachtgewande, wie er war, begab 
er sich mit seinen festen Schritten — den 
Wagen hieß er ihn erwarten, als handelte 
CS sich um eine Staatsvisite — zum Portier, 
ließ sich die Rückkunft des Grafen und der 
Gräfin bestätigen, danicte kalt für die Aus- 
kunft und schritt als wär es heller Tag, 
ruhig durch den Gang, durch den der Marquis 
gekommen war, in den zweiten Hof. Der 
Pförtner, der sich längst abgewöhnt hatte, 
Uber die Absichten gewisser Herren sich 
Gedanken zu machen, blickte ihm kopf- 
schüttelnd nach, doch da er den Wagen 

]80] 



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halfen sah, dessen Laternen ihren Schein in 
die Einfahrt sandten, während das Schnauben 
der Pferde im GewOlbe widerhallte, sprach 

er sich mit einer unwillkürlichen Handbewe- 
gung von aller Schuld frei und trollte sich 
wieder zu seinem Weibe, ihr für den Rest 
der Nacht die Betreuung des Hotels aber- 
lassend. 

Seymour, der, sowie er sich dem mond- 
beschienenen Platz näherte, sich wieder in 
die Wächterrolle fand, die er seit einiger Zeit 
angenommen hatte, blieb unter dem Hoftore 
stehen und musterte sorgfältigmit dem scharfen 
Auge des Jägers zuerst den Hof selbst, dann 
seine Umgebung. Langsam hob er seine Blicke 
zu den Emporen. Voll beschienen vom Monde 
stand, noch immer träumend, — denn die Gräfin 
hatte sich, ihre Furcht kaum bemeistemd, bei 
ihrem Gatten verweilt — oben hinter den 
Scheiben der gegenüber liegenden Altane der 
Marquis. Seymour erkannte ihn sofort. Un- 
wüikUriich fuhr seine Hand nach dem Platze 

6 

[81] 



der gewohnten Waffe. Aber er ließ sie alsbald 

sinken, denn ein unheimlicher Gedanke war 
mit der Deutlichkeit einer Erscheinung plötz- 
lich vor ihm aufgetaucht. Leise verließ er 
seinen Posten und stieg, vorsichtig Schritt 
vor Schritt setzend, die Treppe, die ins erste 
Stockweric fahrte^ hinauf. Von dem Icleinen 
Vorplatze zweigte ein schmaler Gang ab. Er 
durchschritt ihn, betrat ein Zimmer, in dem 
eine Wanne stand, und befand sich mit einer 
Wendung nach rechts in dem rückwfirts an 
das Schlafgemach der Gräfin anstoßenden 
Raum, durch den die Kammerzofe gewuim- 
hch, indem sie einige Garderobestätten 
passierte, Ober eine kleine Wendeltreppe 
unmittelbar aus ihrer im Erdgeschosse gele- 
genen Kammer sich zu ihrer Herrin begab. 
Hier hielt Seymour und überlegte. Entweder 
wartete der Marquis auf die allgemeine 
Ruhe im Hause, oder er war hinausgetreten, 
während die Gräfin sich entkleidete. Die 
Stille im Schlafgemache beruhigte ihn Uber 



[82] 



diese Annahme. Fanny war noch nicht in 
ihrem Zimmer eingetroffen. Er erinnerte sich, 
daß er ja wie ein Rasender herangefahren 
war; seit der Nachricht des Kutschers waren 

iceine zehn Minuten verstrichen. — 

Die Gräfin hatte Tee Icommen lassen, 
den sie in Gesellschaft ihres Mannes tranlc. 
Sie fQhlte sich wohler. Er sah ihr einiger- 
maßen mißtrauisch unter die Lider. Was 
bedeutete diese plötzliche zärtliche An- 
näherung der Frau, die ihm seit Jahren schon 
aus dem Wege ging? Sein geschwächtes 
Gehör hatte ihn frühzeitig verbittert. Als 
sie ihn dann allein ließ, saß er nachdenklich, 
die Hand auf dem silberbcschlagnen Stocke, 
während sein Schatten, da die Kerzen lang- 
sam niederbrannten, riesengroß an der Wand 
hinaufwuchs« ^ . 

Mit hochklopfendem Herzen erwartete Pepi 
draußen die Gräfin. Diese wollte das Mädchen 
befragen, unterließ es aber. Nufnicht verlassen 
durfte sie heute die Zofe. Sie befahl ihr, das 

6* 

[88] 



eigen« Bett bei ihr im Zimmer aufzuschlagen. 
Pepi erschrak. Sie hatte sich noch keine rechte 
Vorstellung davon gemacht, wie sie den Mar- 
quis befreien sollte. Es blieb ihr nichts anders 
übrig, als den Liebhaber einzugestehen. 

Aller ihrer Zweifel überhob sie jedoch 
ebie schreckliche Erscheinung. Als sie der 
Orlfin, mit dem hoch gehaltnen Doppel* 
leuchter voranschreitend, die Tür geöffnet 
hatte und zurücktrat, blieb die Herrin, wie 
von einer entsetzlichen Ahnung gewarnt, an 
der Schwelle stehen. Ihr Zögern hatte kaum 
einen Augenblick angedauert Sie faBte sich, 
flt>er8Chritt die leichte Erhöhung und — 
stand Allan Seymour gegenüber. Mit einem 
durchdringenden Schrei ließ Pepi, die 
ihr gefolgt war, den Leuchter fallen. Sie 
glaubte, einen MOrder zu erblicken. Dunkel 
herrschte im Gemache, denn auch der Mond 
war von einer Wollte verfinstert. Seymour 
ergriff das Mädchen bei der Rechten, schleu- 
derte sie in die Mitte des Zimmers und deu- 

[S4J 



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tete mit einer gebieterischen Handbewegung 
auf die Türe, die ins Nebengelaß führte. Sie 
entfloh; geduckt wie ein Schläge fürchtender 
Hund. Die Gräfin hatte beide Hände an ihre 
heftig atmende Brust g^efit Ihr schwindelte. 
Allan fing sie auf. Er geleHete sie zu einem 
Diwan, ließ sie darauf niedergleiten und ver- 
schloß mit zwei raschen Umdrehungen des 
SchlQssels die Türe zum Korridor. Ruhigen 
Schrittes trat er dann zur BaÜcontilre und zog 
- die Oardlnen zu. Ein vorsichtiger Bilde 
streifte den in die äußerste Eclce des gläsernen 
Käfigs geduckten Marquis, der instinktiv die 
Augen schloß. Dann begann sich Seymour 
gelassen zu entkleiden. • • 

Der Marquis war, auf Knien und Händen 
schleichend, bis unter das noch immer oflen ste- 
hende Fenster seines unfreiwilligen Lauscher- 
postens gelangt. In fieberhafter Aufregung er- 
wog er nur den einen Gedanken : wie hmab in 
den Hof gelangen ? Er versuchte, sich die Tiefe 
vorzustellen, und schauderte, denn die Verhält- 

186] 



nisse des Hauses waren weit Uber den ge- 
wöhnlichen. Ein Sprung war unmöglich« Er 
vermied jede Bewegung, da er sich unfehlbar 
durch s^nen Schatten auf den Vorhängen 
hätte verraten müssen... Eine grausige 
Frage sprang plötzlich in ihm auf: Hatte ihn 
Seymour bemerlct? Er verwarf diesen Ein- 
fall sofort Dann hfltte er ihn ja nicht hier 
belassen dOrfen. Es wäre zu einem Ent* 
scheidungskampfe gekommen. Er tastete un- 
willkürlich nach seinem Degen; der fehlte. 
Er erinnerte sich, ihn bei Pepi an die Kom- 
mode gelehnt zu haben... 

Unten in der Toreinfahrt stand das an 
allen Gliedern zitternde Mädchen und strengte 
sich an, den Geliebten zu erblicken. Wohin 
war er verschwunden? Er konnte doch nicht 
wahrend ihrer kurzen Abwesenheit unvor- 
sichtiger- oder tollkOhnerweise in das Schlafe 
gemach getreten seinV Jetzt bemerkte sie 
etwas wie einen Schatten an der TUre, die 
nach innen führte, und ersah die vorgezo- 

[86] 



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genen Stoffe. Was ging dort oben vor? 
Ihr stand das Herz still... Sie erraffte ^ich. 
Ohne die Polgen ihres Beginnens zu erwägen, 
eilte sie zum Pförtner. Bei seinem matt er- 
leuchteten Fenster stockte sie. Nein, das war 
der richtige Ausweg nicht. Der Qedanice 
an den Grafen machte sie schaudern« In 
ihrem armen Kopfe drehten sich die Ge- 
schehnisse dieser Naclit wie im Wirbel. Ret- 
tung für den Eingeschlossenen mü&ie ge- 
schafft werden... Und, an dem von der 
langen schwarzen Bank im Vorzimmer aus 
seinem Halbschlummer überrascht auftanmeln- 
den Kammerdiener vorbei, stürzte sie, ohne 
anzuklopfen, — er hörte das Pochen ja doch 
nicht — in das Zimmer, wo noch immer, auf 
den Krückstock gestützt» der Graf vor sich 
hinträumte. Bei dem Anblick des Mädchens 
sprang er empor. Seine gelbe magre Hand 
klammerte sich an die Tischkante. Heiser 
stieß er heraus: »Was gibt's V« »Die Frau 
Qrafm . . . < Mehr konnte Pepi nicht stammeln. 



[87] 



Bis in die Kehle schlug ihr das Herz. Einen 

Leuchter ergreifend stolperte der Graf durch 
die Türe. Neugierig schloß sich der Kammer- 
diener dem seltsamen Zug an . . . 

Der Marquis in seinem Olasgehause hörte, 
daß eine TOr aufgestoßen wurde. Seiner Sinne 
beraubt vor Angst, — er glaubte nicht anders, 
als es konnte nur ihm gelten — fuhr er 
auf und schwang sich über die Brüstung des 
Fensters. Da hing er nun über dem schwei- 
genden Hofe, voll beschienen vom Mondlicht, 
beide Arme innen um die Täfelung geklam- 
mert, in einer verzweifelten Lage. . . Der Graf 
klopfte an die Türe zum Schlafzimmer seiner 
Gemahlin. Seymour, sich halb erhebend, 
bedeutete Ihr, zu antworten. Sie rief; »Wer 
ist da?« »Ich!« schrie der GraL »Bist du 
zu Bett? Mach auf!« Die Gräfin klammerte 
sich an Seymour. Er stieß ihren Arm weg 
und flüsterte: »Ich gehe. Mach ihm dann 
auf.« Und er begann sich anzukleiden. 
Wahrend sie mit fliegenden Pulsen Licht 



[88j 



schlug lind den drangenden Gatten mit einer 

dem Schluchzen nahen Stimme beschwichtigte, 
— schon war sie an der Tür, um Seymour 
zur Eile anzutreiben — zog dieser mit einem 
Ruck die Vorhange vor dem Balkon aus- 
einander. Er hatte sich diesen Triumph auf- 
sparen wollen, denn er war vom Anfang an 
gewillt, den Feind zum Sprung und so zum 
Selbstmord zu zwingen. Er konnte Fanny nicht 
verlassen, ohne ihr gezeigt zu haben, daß, wo 
George Allan Seymour herrsche, ein Neben- 
buhler verloren sein müsse. Als der Marquis, 
dessen Augen wie gebannt an der Türe hingen, 
die Vorhänge sich bewegen sah, ließ er mit 
einem Schrei die BrOstung los. Der dumpfe 
Aufschlag seines Körpers hallte herauf. »Da 
liegt Dein Knäblein«, sagte Seymour. Der 
Mondschein floß um ihn. Schon aber hatte 
er auch die Klinke zur Kammer nieder- 
gedrückt und war verschwunden. 

Die Türe, vom Grafen mit einem FuBh-itt 
gesprengt, flog ins Zinuner. Er stürmte zur 



[89J 



4 



Balkontflre, liB sie auf, sfttrzte hinaus und lehnte 

sich weit über den Rand. Unten lag ein Mann. . . 

Seymour hatte im Schatten des Torwegs 
seinen Bliclc Uber den Hof wandern lassen. 
Wenige Schritte vor ihm schwamm der zer- 
schmetterte Leichnam des Marquis in einer 
großen Blutlache. Oben beugte sich der 
weiße Kopf des Grafen vor... 

Seymour schritt durch den Gang und das 
erste Tor — die Pfdrtnerin, die Pepi gefolgt* 
war, stand schon eifrig tratschend bei den 
Lakaien — zu seinem wartenden Wagen 
und sagte dem Kutscher, ihn an der Schulter 
aus dem Schlummer rttttelnd: »Nach Hause.« 



[90j 



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I 



DIE SÄNGERIN 

Eine Tragigroteske 



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Emil Strauß 

dem verehrten Künstler 



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Den blanken Zylinder mit der im Gelenk 
unnatürlich versteiften linlcen Hand wie 
zu verbindlicher Abwehr vorgestreckt, das Pro- 
gramm und die violetten Sitzscheine zwischen 
zwei Fingern der gleichfalls weißbehand- 
schuhten Rechten, das glattgescheitelte Haupt 
Ober den ein wenig emporgezogenen Schultern 
hinabgeneigty drängte sich Herr Alexander 
Schreiner, ein junger Beamter des Ministeri- 
ums für Verkehrswesen, durch das rings um 
die Sesseireihen gestaute Publikum der Steh- 
plätze. Langsam nur, in Icurzen Schritten^ 
zögernd, kam er weiter. Vor ihm schritt 
mit frei, leicht und stolz getragenem Halse 
seine Frau, eine hochgewachsene schlanke 
Blondine, in schwarzem, jetbesetztem Seiden- 
kleide. Man machte ihr, die geradeaus sah 
und Fächer, Opernglas und Spitzenkopftuch 
nachlässig hob, beflissen Platz. Herr Schrei* 

[U5) 



ner> viel kleiner als die Oatün^ fühlte sich 
zu Dank verpflichtet, empfand aber dunkel, 
daß man ihm darum nicht anstünde. Dies ver- 
ursachte ihm einige Verlegenheit. Er spürte, 
wie sich seine sorgfältig rasierten Wangen 
allmählich mit einer dunkeln heißen Röte 
Aberzogen, die er an sich nicht leiden 
konnte. Endlich waren sie, vom Saaldiener 
geführt, zu ihren Plätzen gelangt^ die un- 
angenehm genug gelegen waren: auf dem 
Podium selbst und in der ersten Stuhlreihe, 
so daß die Kammersängerin bei ihrem wieder- 
holten Auftreten jeweils zweimal an Herrn 
Schreiner als dem Inhaber des linken Eck- 
sitzes vorüberzugehen^ ja sich mit einiger Un- 
bequemlichkeit an ihm vorbei' zu schieben 
gezwungen sein mußte. Als Herr Schreiner 
kaum seinen Platz eingenommen und, nach- 
dem ihm ein höflicher Versuch, den allzu eng 
an den benachbarten anstoßenden Sessel etwas ' 
abzurücken, mißlungen war, mit betonter Ge- 
lassenheit Bein über Bein gelegt hatte, so 

[96] 



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daß über dem um die starken Knöchel stramm 
wie ein Handschuh schließenden schmal ge- 
schnittenen Lacklcnöpfelschuh der straff an- 
gespannte durchsichtige schwarze Halbseiden* 

strumpl zum Vorscheine kam und das tadel- 
los gebügelte Beinkleid mit seinem tulpen- 
förmig verbreiterten Ende vorn steif in 
die Höhe stand^ trat auch schon hinter 
seinem Rücken die nach der ersten kurzen 
Pause nunmehr bei ihrer dritten Nummer an- 
gelangte Kammersängerin mit schwirrendem 
Rauschen ihrer seidnen üntergewänder 
wieder gegen die Zuhörerschaft hervor. Es 
schien Herrn Schreiner, als sei sie an ihm 
voll unverhohlener Verachtung vorbeigeschrit- 
ten; jedenfalls hatte sie die verspäteten An- 
kömmlinge keines, auch nicht des flüchtigsten 
Biickes gewürdigt. Nun stand sie neben dem 
schwarzen glänzenden Flügel im Lichte vieler 
elektrischer Glühlampen. Sie legte ihre Lor- 
gnette und das Spitzentaschentuch hart an dem 
äußersten Hand auf dem mächtigen Instrument 

7 

[97] 



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4 



nieder — der Klavierspieler rückte rasch beide 
Dinge noch etwas weiter von sich weg, 
offenbar, auf dafi die lange Perlenkette des 
Augenglases nicht irgendwo anstoße und 
störend mittöne — , verneigte sich leicht, mit 
einer fast unmerklichen Beugung des kräftig 
und gerade gewachsenen Nackens, räusperte 
sichi indem sie mechaniscti wieder nach 
dem Taschentuche griff und es an die 
kurze Oberlippe drückte, wandte sich dann 
mit einem lautlosen Zeichen an den wartend 
zu ihr aufblickenden Begleiter und begann. 

Sie sang ohne Notenblatt, die Finger im 
Schöße vor dem Obermäßig eingeschnflrten 
Leibe gefaltet, und bewegte manchmal, als 
gäbe sie sich bezwungen der Gewalt der 
Töne hini leise den Oberkörper in der 
Richtung zum Publikum. Sie trug ein mit 
blafiroten Blumen bemaltes und mit einzel- 
nen ebenso gefärbten Bandschleifen besteck- 
tes enganliegendes weißes Kleid, das in ziem- 
lich tief binabreichendem keilförmigem Aus- 

[98] 



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schnitte den durch eine dflnne Tflilschdrpe 
kaum geschützten vollen Busen sehen Keß. 

Ihr Rücken war geschmeidig, sein Schwung 
von den Schultern zu den Hüften von 
vollendeter Schönheit. Die Sängerin un- 
ausgesetzt 80 nur im Profil zu s^en, konnte 
auf die Dauer nicht von angenehmster Wir- 
kung bleiben. Wenn sich auch beim Singen 
die Backen sehr weich, fast zärtlich rundeten 
und die reizende Linie des Rückens für den 
vollen Anblick der reifen Frau entschädigte, 
so wirkte doch der ungewohnte Standpunkt 
im ganzen wenig vorteilhaft auf die Beurtei- 
lung ein. Das von entstellendem Öffnen des 
mittelgroßen männlich festen Mundes beglei- 
tete «beredte» Singen erschien nachgerade 
im höchsten Grad unnatürlich, die von Koket- 
terie durchaus nicht freien wiegenden Be- 
wegungen des Oberleibes gegen das Publikum 
hin waren geeignet, durch ihre Wiederholung 
zu verstimmen, und die breite Front der 
gedrängten Zuhörerschaft zumal störte und 

7» 

[99] 



ärgerte zugleich* Da safien in den vordersten 
Reihen zumeist ältere Herren und Damen von 
Rang und Nolorietät, bemerkenswert durch 
gesellschaftliche Stellung und Gl Ucksgüter, 
junge» im eieictrischen Lichte fahl erschei- 
nende Frauen in kostbaren Toiletten» mit 
glitzerndem Schmuctc und den geh'Qbten 
Augen übermüdeter Vergnügungssüchtiger, 
steüe, schmal wangige Mädchen, denen die 
Oesanglehrerinnen den Besuch des Konzerts 
dringend angeraten hatten, alle in Positur, 
niemand in einer natürlichen Haltung, die 
Nachbarn einander wechselseitig beobachtend, 
jedermann dabei voll Begehren, selbst be- 
obachtet zu werden. Diese Leute — Herr 
Schreiner stellte das mit Verachtung fest» 
obwohl er selbst zur »Kunst« keine andre 
Beziehung besaß als die eities seinen Plalz 
bezahlenden Theater- und Konzertbesuchers 
— » diese Leute neigten alle den Kopf ein 
wenig zur Seite und trachteten mit grOßerm 
oder geringerm' Erfolge, sich ein sehn- 

[100] 



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süchtig-träumerisches Aussehen zu geben. Sie 
spielten die auf den FtUgeln des Liedes dem 
Irdischen Entrückten, sie schwärmten mit 
zierüch verschränkten oder in eleganter An- 
dacht ruhenden Armen. Sie hatten sämtlich ein 
unsäglich dumm-gerührtes Mienenspiel, viel- 
mehr eine Maske von holder Menschen- 
freundlichkeit und zerfließender Milde, die den 
Hohn geradezu herausforderte. Alles das in Ver- 
bindung gebracht mit der vorgeneigten Sän- 
gerin, die, wenn sie ihre Stimme zur schmel- 
zenden Flöte versüßte, unwillkürlich und doch 
mit Bewußtsein (sie drückte die angespann- 
ten Lider ein) die Augen schloß^ das dröh- 
nende Beifallklatschen nach Jedem der kurzen 
Lieder, die Wichtigtuerei des notenblatt- 
wendenden Gehilfen, eines unruhigen, jungen 
Menschen mit dichten Künstlerlocken und 
erregt leuchtenden schwarzen Kirschenaugen, 
ließen eine weihevolle Stimmung am wenigsten 
bei Herrn Schreiner aufkommen, der mit seiner 
anfänglichen Verlegenheit durchaus noch nicht 



[101] 



fertig geworden war und nur allmahiig ver- 
suchte^ mit flüchtig streifenden Blicken sich des 
überfüllten Saales zu bemeistern. Auch Herr 
Alexander Schreiner gehörte zu den Menschen, 
die in der Offentlichlcett nichts in seiner 
natürlichen Beschaffenheit aus sich hinaus 
lassen, die ihre echten Empfindungen und 
Bewegungen unter der Gewalt einer über- 
mächtigen, weil viel zu wichtig erachteten 
Außenwelt in einem spitzen Winlcel, einer 
falschen Nuance brechen. Wenn er seine 
Arme ineinander legte, tat er es mit dem 
Gefühle: Jetzt lege ich meine Arme inein- 
ander. Wenn er nachlässig seine Finger be- 
sah, geschah es mit dem verschnörkelten 
Motto »gepflegte Nachlässigkeit«. Dazu kam, 
daß er seiner selbst nie ganz sicher war, 
immer irgendwelche eingebildete Gefahren 
bestand, immer irgendwelchen angstvoll gewAr- 
tigten Unannehmlichkeiten sich ausgeliefert 
sdi. Er war sich jedes roten Piecks seines Ge- 
sichtes, jedes hervortretenden Fadenendes an 

[102] 



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seinen Handschuhnähten bewußt. Er bangte 
beständig um peinliche Toilettefehl er^ spürte 
die Blicke aller ihm im Rücken Sitzenden 
etwa au! eine vom allzu hohen Kragen aufgerie* 
bene und bereits entzfindet schwellende Stelle 
seines Nackens gerichtet. Nicht am wenigsten 
fürchtete er die stillschweigende Kritik seiner 
gelassenen blonden Frau^ besonders ihren 
nur durch ein feines Lächeln sich verraten- 
den gutmütigen Spott. Heute beunruhigte 
ihn mancherlei. Zunächst sein allzu sehr den 
Blicken ausgesetzter Platz, dann die Nähe 
der Sängerin^ endlich auch das Publikum im 
einzelnen, denn er hatte schon eine Anzahl, 
wie er meinte, teils mißgünstiger, teils lieber 
vermiedener Bekannter entdeckt. So saß er, 
aufgebracht über sein ängstliches Schwitzen 
und die ihm an sich überaus verhaßte Aus* 
dünstung durch seine Aufregung nur noch stei- 
gernd, äußerst mißgelaunt, gedrückt, eingesun- 
ken neben seiner im Sessel schlank bequem 
zurückgelehnten Gattin. Er hörte die Lieder, 

U03] 



die die Kammersängerin mit der gewohnten 
Meisterschaft absang, ohne den geringsten 
seelischen Eindruck. Herr Schreiner war 
leisen ErsdiOtterungen seines bttrgerüclien 
Qleicfigewichtes sonst nicht abgeneigt Heute 
aber starrte er geistesabwesend zumeist auf 
den schmalen Rücicen des Klavierspielers 
oder in die blitzenden Kugelaugen seines 
Oehiifen, manchmal auch an der grauen 
glänzenden Wand empor, selten nur irrte 
sein banger Blick an der Gestalt der Sän- 
gerin entlang. Herr Schreiner liebte mit regen 
Sinnen die Schönheit weiblicher Formen. 
Er konnte einem wohlgebauten Beine, einem 
elegant beschuhten Fu6e, namentlich wenn 
iiire Inhaberin die Röcke höher hob, als 
unbedingt geboten schien, mit Beharrlichkeit 
nachgehen, ganz versunken in den Anblick 
der immer wieder graziOs sich aus den 
Kleidern entwickelnden Wade. Er konnte 
im Ballett mit angestrengter Autmerksamkeit 
die Büste einer sich windenden und beugen-^ 



[104J 



den Tänzerin beobachten, einen straff Uber 
die Hüften gerafften, enggescbnittenen Frauen«* 
rock verfolgen wie ein SdiweUUiund das 
angeschossene Wild. Er ging auch — 

sonst nicht eben das, was man einen Schön- 
geist zu nennen pflegt — gern in Gemälde- 
sammlungen und stand dort lange vor baden- 
den Nymphen und mehr oder minder keu- 
schen Susannen, er sammelte alle Lieferungs- 
werke, die »le iiu au salon« oder »la fenime 
et son Corps« in gelungenen und weniger 
gelungenen Biiderfolgen brachten. Auch war 
er auf die äußere Erscheinung seiner Frau 
bedacht wie eine zärtliche Ballmutter, suchte 
jeden Kleiderstoff, jedes Paar Schuhe, jeden 
Fächer für sie oder mit ihr aus und war ein- 
geweiht in alle Einzelheiten der weiblichen 
Toilettekunst Seine zahlreichen Freundinnen 
hatten ihn, als er noch Junggeselle war, gern 
als sachkundigen Beurteiler bei ihren Ein- 
käufen herangezogen. Stolz berief er sich 
seiner Gattin gegenüber noch immer auf 



[105J 



diese unwiderlegliche, hOchst schmeichelhafte 
Tatsache. Übrigens liebte er, ein harmloser 
Epikureer» eine schmackhafte Kflchei gute 
lichte Havannazigarren» bequeme Sitzmöbel» 
ein breites weiches Bett und konnte niemals 
heiß genug baden. Er besaß eine sehr feine, 
weiß und rote Haut» die leider Witte- 
rungseinflQssen und mechanischen Einwir- 
kungM gegenüber von der äußersten Delika- 
tesse war, sodaßauch nurdie geringste Reizung 
durch ein nicht genug scharfes Rasiermesser 
oder eine nicht ganz trockne und reine Finger- 
spitze unfehlbar auf ihrer Oberfläche ent- 
stellende Flecken und Finnen bewirkte. Die 
Unvorsichtigkeit, gelegentlich einmal einen 
Raseur aufzusuchen, — gewöhnlich besorgte 
er dieses reinliche und peinliche Geschäft 
eigenhändig, und zwar mindestens einmal 
täglich und unter Anwendung aller möglichen 
Maßregeln zur Verhatung von Ausschlägen 
— büßte er regelmäßig mit gleich zu Eiter- 
kiigelchen aufgetriebenen Verletzungen der 

[I06j 



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Poren, sein Körper war, wenn er den oft 
aus ihm hervorbrechenden Schweiß nicht all- 
sogleich durch ein Seifenbad unschädlich 
machte, auch sonst zu derlei Hautverunstal- 
tungen nur allzu leicht geneigt, seine ge- 
pflegte und vor den wechselnden Temperaturen 
beständig durch Handschuhe geschützte Hand 
versammeltebeidergering^tenErregungsleden- 
des Blut unter ihrer Oberfläche, erschien dann 
dunkel gerötet und ließ sich feucht anfühlen. 
Auch schadete ihr entschieden zu heftiges 
Waschen. Dann ward sie rauh, und ihr 
Gewebe sprang in feinen Rissen. Aufierst 
empfindlich war Herrn Schreiners in den Flö- 
geln sehr bewegliche, schön gestreckte, wenn 
auch etwas zu lange Nase. Nicht nur, daß 
sich auf ihr häufig IcOrnige Erhöhungen oder 
entzOndete Flecken zeigten, sie empfand 
auch die Anwesenheit jedes Dinges in einer 
heftigen, zumeist beleidigenden Weise, indem 
der Geruchsinn bei Herrn Schreiner ais zu 
einer geradezu Icrankhaft gesteigerten Inten- 



[107] 



sität vervollkommnet bezeichnet werden mußte. 
Besonders die Frauen waren diesem Sinne 
greifbar nahe gebracht durch eine Empfind- 
lichkeit fOr die allerfeinsten, flflchtigsten Ele- 
mente ihres duftenden Wesens, die dem 
Besitzer dieser maßlos entwickelten Eigen- 
schalt zwar unerhörte Genüsse verschaffte, 
aber auch große Pein zu bereiten imstande 
war. Er erzählte selbst in vertrautem Kreise 
mit Vorliebe, daß er manche Ereignisse^ 
die Nähe einer schönen Tischnachbarin, die 
Umarmung einer hingebenden Tänzerin, noch 
tagelang nachher aus den mit seinen Part- 
nerinnen in Berflhrung geratenen Kleidern sich 
in plastischer Fülle in das sinnliche Gedächt- 
nis zurückzurufen befähigt sei, ja daß er, 
wenn er von seiner Frau, der er bei aller 
Scheu des geistig Tieferstehenden sehr zu- 
getan war, einige Tage rfiumlich entfernt 
wäre, sich den Genuß ihres persönlichen Ein- 
drucks durch eine Nase voll aus ihrem Kleider- 
oder Wäscheschranicezu bereiten begnadet sei. 

L108] 



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An diesem Abend — heftig stürmten in 
der Stadt laue MArzwinde und wirbelten den 
Fußgängern den Staub der trocknen Straßen 

in die Augen und die Nasenlöcher — geschah 
etwas, das Herrn Schreiner ans der dumpfen 
Behaglichkeit eines seit Jahren traulich be- 
friedeten Ehelebens herausreißen und ins 
Grenzenlose eines verheerenden Schicksals 
schleudern sollte. Als die Sängerin ihr vier- 
tes Lied beendigt hatte und sich unter dem 
üblichen Beifallstosen an jenem linken Eck- 
plätze vorbei in das Künstlerzimmer des 
Konzertvereins begab — sie war eine hoch- 
berühmte Künstlerin und die seelenvolle 
Innigkeit ihres Gesanges von der maß- 
gebenden Kritik ein für allemal festgestellt 
fiel der dunkle Blick ihrer schwermütig 
unter maden Lidern ruhenden schwarzen 
Augen auf Alexander Schreiner und blieb 
sekundenlang an ihm hängen. Herr Schrei- 
ner empfand dieses auch von seiner Gattin 
bemerkte unscheinbare Ereignis tief in der 



[109] 



Magengrube. Ihm ward fast schwindlig vor 
dem Oberschwang der in einem Aufruhr 
plötzlich gesträubten Nerven. Er sah seine 

Frau an, lächelte ein wenig, klemmte sein 
Monokel ein, Heß es blitzschnell über die 
zwei ersten Bankreihen funkeln, nahm es 
wieder aus der Augenhöhlei reinigte es sorg- 
fältig in seinem großen Taschentuche, 
wechselte die Beinstellung und schneuzte 
sich geräuschvoll. Dann starrte er, als sei 
nichts geschehen, an der grauen Wand em- 
por. Kurz darauf erschien die Sängerin wieder 
auf dem Podium. Bei ihrer raschen An- 
näherung vom Rücken her befiel Herrn Schrei- 
ner ein Zittern, das seinen ganzen Körper 
durchdrang. An seinem kurzgestutzten Schnurr- 
bärtchen zupfend^ wagte er kaum aufzu- 
schauen, ward aber dazu durch das Verhalten 
der Sängerin selbst gezwungen, da diese 
ihn im Vorbeischreiten — sie hielt ihr 
rauschendes Kleid mit der Rechten an sich 
' abermals^ und zwar, indem sie sich etwas 

[110] 



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zurückwandte, diesmal mit einem vollen, 
wenn auch raschen Blick ansah, ihm war 
einigermaßen unheimlich zumute. Er rückte 
an seinem Stuhle, räusperte sich, legte die im 
Handschuh glühend heißen Hände ineinander, 
langte wiederum sein Monokel hervor und 
suchte, indem er es an der Gestalt der 
Sängerin auf und ab wandern ließ, sich 
zu fassen. Aber das Zittern seiner Glieder 
legte sich nicht. Er hob das Monokel 
ab und begann mit heroischem Gleich- 
mut die kleine, bis tief in den Rücken hinab 
gebräunte Frau zu beobachten. UnwillkOr* 
lieh blinzelte er dabei nach seiner Gattin 
hin. Doch diese saß ruhig, selbstsicher wie 
immer. Er behielt ihr feines blondes Profil. 
Es war wie ein duftiger Schatten neben ihm; 
er empfand es als einen Schutzgeist.*. 
Seltsam erregte ihn jetzt das Lied, das die 
Italienerin sang. Es war ganz offenbar an 
ihn gerichtet. Jede ihrer Bewegungen war 
für ihn bestimmt. Und — das Blut schoß 



flll] 



ihm in die Schläfen — alle Leute im Saale 
mußten das bemerken. Es war zu auffäUigi 
wie sie, rückwflrts tretend, näher und 
naher an ihn herankam, wie ihr Busen sich 

rascher und stürmischer hob, wie ihre Arme, 
sonst so ruhig, sich an den geschmeidigen 
Körper preßten. Er schloß die Augen. Da 
stieg das Lied körperhaft in sein Herz, 
schnürte es mit tausend Armen zusammen 
und preßte es dergestalt, daß er die Kon- 
vulsion schmerzlich spürte. Es war, als 
hätte die Fremde sich seiner bemächtigt, 
als wäre er nicht mehr sein eigen, willenlos 
der Gefangene dieser unheimlichen Frau. 
Sie war nicht einmal schön. Sie hatte nicht 
mehr die Elastizität der ersten Jugend. Auch 
schien ihre gelassene Vornehmheit nichts als 
Routine zu sein« Und plötzlich entdeckte er 
sogar einen gemeinen Zug um ihre Mund- 
winkel, ihren Stirnvorsprung. Daß sie dem 
Publikum so oft ihre üppige Büste entgegen* 
reckte, erschien ihm abstoßend. So wehrte 

[112] 



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er sich gegen die Gewalt, der er zu unter- 
liegen bangte. . .Die beiden folgenden Lieder 

überhörte er völlig. Er wandte kein Auge 
von der kräftig-schlanken Gestalt, sah mit 
angestrengter Aufmerksamkeit wie sie dem 
Klavierspieler ihre Zeichen gab, erwartete 
krampfhaft einen erneuten Blick des Ein* 
Verständnisses. Diesmal versagte sie ihm 
den. Sie ging an ihm vorbei, als wäre er 
Luft Aber daß sie sich mit ihrer Schleppe 
beschäftigte, glaubte er, eifersüchtig beob- 
achtend, als einen Beweis ihrer Befangen- 
heit deuten zu dürfen. Nun kam alles dar- 
auf an, ob Sic, zurückkehrend, ihr Betragen 
ändern würde. Der Beifall wollte kein Ende 
nehmen. Sie mußte sich noch einmal zeigen. . . 
Und sie kam. Raschen festen Schrittes stieg sie 
die leise knarrenden drei, vier Stufen zum 
Podium herauf. Sie kam wie ein Fieber- 
hauch. Er saß da, die Arme zu den Knien 
gestreckt, die Beine aufgestellt, den Blick, 
der geradeaus gerichtet schien, in sich selbst 

8 



zurückgezogen wie in eine Scheide. Sie 
grüßte das Publikum mit einem strahlenden 
Ldchelfi, sie grüßte es abermals, sie ver- 
neigte sich tiefer und docli vertrattter, ein 
verwöhnter Liebling, und diesen großen 
breiten Blick des Glückes - eines gespielten 
Glückes, spöttelte zag sein Zweifel — schenkte 
sie mit einer raschen Wendung ihm. Er war 
getroffen, bis ins Innerste eischilttert*.* Noch 
einmal im Laufe des Abends sah sie ihn an, 
und gutmütig lächelnd sagte auch seine Frau 
mit ihrer klaren Stimme zu ihm: »Du hast 
eine Eroberung gemacht.« Ihm war durchaus 
nicht wohL Sein Herz schlug heftig, seine 
Pulse flogen, er schwitzte am ganzen 
Körper. Als er — der Saaldiener stand 
schon mit ihren Überkleidern vor ihnen, vorn, 
am Rande der Bohne, verneigte sich die be- 
jubelte Sfingerin wieder und wieder — als 
er seiner Frau in den mit Spitzen besetzten 
Pelzmantel half, wagte er es nicht, sie an- 
zuschauen. In seiner Seele brannte das Büd 

[luj 



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dieser berückenden Italienerin, -er sah iltre 
matt leuchtenden Schultern, die Haare^ die 
sich ihr im Nacken ringelten, das bloße 
Stück des Armes Qber dem prall sich schmie- 
genden langen Handschuh. Und er sah 
in einer nahen, greifbaren Vision diesen 
ambrabraunen Körper, katzenartig behend, 
mit einem sonnigen SchmelZi sah die schlan- 
ken vollen Beine, den Scbwmig der Httfte, 
das scheibenrund aus welchem Fleisch auf- 
tauchende Knltf die gestreckte Wade, die 
feinen Knöchel. Ihn schwindelte. Stolpernd 
verließ er hinter seiner Frau das Podium. 
Er kämpfte mit sich, ob er .sich nach der 
noch immer oben Verwellenden umsehen 
dürfe. Plötzlich riß es ihn herum. Dort stand 
sie lächelnd. Perlen schimmerten um ihren 
schönen Hais, das Weiße ihrer wundervollen 
Augen schimmerte. Sie neigte sich. Die ver* 
gleitende Busenfalte spielte flutend. Er war 
' zitternd auf seinem Platze verharrt Vor ihm 
hielt ein junger Mensch mit zerrauftem Haupt- 

8* 

[iiöj 



haar und verschlissenem Hemdkragen. Er 
hatte sich mit den übrigen Besuchern jetz^ 
da sich die Sitzreihen leerten, nach vorne 
gedrängt Heftig in die Hände klatschend^ 
schrie er ihren Namen, einen kurzen Namen 
voll Orangenduft. Herr Schreiner wiederholte 
mit tonloser Stimme diesen Namen* Jetzt flog 
ihr Blick aber die Menge weg n^ch seiner 
Seite hin. Ihn durchrann es eisig. Jetzt, 
jetzt! Sie mußte seinen brennenden Augen 
begegnen. Und da hielt er ihren Blick... 
Oder hielt sie seinen? Es war wieder nur 
ein Moment. Aber ihm war wie in der Um- 
klammerung einer schlüpfrigen Schlange. . . 
Vor dem Hause, eh er in den Wagen stieg, 
zündete er sich eine Zigarette an. Er tat es 
langsam, als wollte, er sein Blut bändigen. 
Seine Frau kehrte sich nach ihm um. Er 
verzögerte seine Hantierung. Noch ein jovia- 
les Wort mechanisch zum Kutscher. Ein feiner 
Sprühregen ging nieder. Die enge asphaltierte 
Gasse blinkte im Scheine der Laternen. 



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Die Tttr fiel ins Scliloß. Die Pferde zogen an. 



In den Zeitungen las er, daß die Kammer- 
sängerin, Frau Lucia Wendtheim-Corma, »der 
Liebling des Publikums<y »die Nachtigall von 
Belluno«, sich »auf allseitiges Verlangen« 
entschlossen habe, ein zweites, letztes Konzert 
zu geben. Tag und Stunde würden zelt- 
gerecht kundgemacht werden. Also blieb 
sie noch am Orte. Eigentlich hatte er ge 
wDnscht, sie wäre mit dem Nachtzuge nach 
Paris oder London abgereist. Denn da sie 
geblieben war, mußte er ja nun zu ihr. 
Mußte er? ihm fielen seine beiden blonden 
Mädchen ein, Grete und Hilda, vier und 
drei Jahre alt. Aber es war nur ein undeut- 
licher Gedanke, wie in Nebe! gehallt Er saß 
vor seijiem Schreibtische. Mechanisch blät- 
terte er in den Akten. Er ergriff die Feder 
und schrieb. Als er dreimal die Lettern 
Lucia Gorma auf das grOnliche Konzeptpapler 
gemalt hatte, zerrift er es und warf es hinter 

[117] 



$ich. In der Mittagspause ging er nicht 
nach Hause, sondern schlenderte in der Stadt 
umher. Wie gebannt blieb sein Auge an 

einer Plakatsäule hängen. In fingerdicken 
Buchstaben stand ihr Name da: Lucia Gorma. 
Und — näher herantretend sah er's — das 
Abschiedslconzert fand zu Ende der Woche 
statt. Fünf Tage noch. Er hielt hinter der 
Plakatsäule, als suchte er dort Schutz und 
Dockung. Als er sich endlich von dem 
Magnete der Ankündigung losriß, wäre er 
fast unter die Räder eines rasend schnell 
heranfahrenden Wagens geraten» Er taumelte 
zurück. Der Kutscher rie{ ihm etwas Grobes 
nach. 

Alexander Schreiner ging gesenkten Hauptes 
und blickte bei Jedem Schritt auf die Spitzen 
seiner Lacicschuhe. Es war Zeit zum zweiten 

Frühstück. Er suchte ein Hotel auf, in dem 
er mit seiner Frau, wenn sie nicht zu Hause 
speisteui die Mahlzeiten einzunehmen pflegte. 
Dienstbereit hatte der bekannte Kellner bei 

[118] 



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seinem Eintritt ihm die Mittagszeitimg neben 
den Teller gelegt Er blätterte die Fremden- 
liste auf. Ein Orakel. Sie muftte doch schon 

einige Tage hier sein. Es schien unmöglich, 
daß sie heut erst in der Liste verzeichnet 
wäre. Wenn sie jedoch. . .Er durchlief rasch 
die kurzen Absätze^ die die Passaglere der 
einzelnen Gasthöfe »in Auswahl« aufzählten. 

Da: Hotel Kronprinz: Frau Lucia Wendthcim- 
Corma, Kammersängerin, und Begleitung, 
Nizza. . . Ihm flimmerte es vor den Augen. 
Schicksal also? 

Für diesen Abend hatte er schon vor einer 
Woche in einem Vorstadttheater eine Loge 
für sich reservieren lassen. Ihm fiel ein, 
daß er vergessen hätte, Elsen die Logen- 
nummer mitzuteilen. Er bat den dicken Zahl- 
kellner, dies telephonisch zu besorgen, nach- 
dem er sich, obwohl es bereits wiederholt 
geschehen war, durch einen prüfenden Blick 
auf das Billett abermals von der Richtigkeit 
seiner GedAchtnisangaben Überzeugt hatte. 



Im Bureau versicherte er sich zunächst^ 
ob sein dort verwahrter zweiter Fraclc- 

anzug nebst Zugehör in Ordnung sei, ließ 
dem Bedienten telephonieren, daß er ihm 
einiges noch Erforderliche rechtzeitig brächte, 
tranlc zu verschiedenen Malen des endlos 
sich dehnenden Nachmittags schwarzen 
Kaffee, schrieb ein paar völlig zwecklose 
Briefe, nahm öfters einen und denselben 
umfangreichen Akt ohne Ergebnis vor, 
streckte sich von Zeit zu Zeit in seinem 
tiefen Lederfauteuil ermOdet aus ihm 
war, als sei sein Rückgrat geknickt — 
und begann sich endlich in Erwartung 
des zur Hilfeleistung sonst so bequemen 
Bedienten langsam selbst umzukleiden. 
Die Uhr tickte einförmig. Die verschlissenen 
M(3bel standen in einer verzweifelt nüch- 
ternen Verfassung um ihn herum. Nun 
begann es zu regnen, was ihn noch 
melancholischer stimmte. 
Als er in die Loge eintrat, war seine Frau 



[120] 



noch nicht angekommen. Er nahm zuerst 
im Hintergründe, dann an der Brüstung Platz, 
ließ sein Glas im Hause gedanlcenlos um- 
herwandern und geriet in Unruhe, als das 
Orchester einsetzte und seine Frau immer 
noch ausblieb. Ob zu Hause — er war 
beiläufig um neuneinhalb Uhr vormittag 
fortgegangen — etwas geschehen war? Er 
sah auf die Uhr. Dreiviertel acht. Sie 
pflegte nicht eben pünktlich zu sein. Aber 
ihn peinigte der bohrende Gedanlce, zur 
Strafe fflr seine bösen Absichten wäre — 
seinen Kindern ein Unglück zugestoßen. 
Beim geringsten Geräusche fuhr er nach 
hinten herum. Ein beliebter Komiicer betrat 
die Szene und sang mit fetter Stimme ein 
geschraubtes Entreelied. Es handelte von der 
ungemeinen Lust der Ehemänner an tollen 
Seitensprüiigcii. Der Komiker scfiilderte diese 
Lust als ein ganz und gar harmloses Vor- 
kommniSi rechnete behaglich mit einer ver- 
ständnisinnigen Hörerschaft, zwinkerte ver- 



[121] 



traut in das Parkett hinab und schlug sich 
etliche Male auffordernd auf die feiaten 
Sdienkel. Da ging in der Loge nebenan die 
Türe. Schreiner verspürte den raschen Luft- 
zug. Eine Dame war eingetreten und begann 
sich^ mit heitrer Stimme flüsternd, ihrer 
Oberldeider zu entledigen. Es half ihr nie- 
mand. Auch liel^ sich bald darauf eine zweite 
Frauenstimme vernehmen. In Herrn Alexander 
Schreiners Körper fing mit eins das Blut zu 
leochen an* Er saß Icnapp an der Seite der 
Nachbarloge, denn er hatte seiner Frau den 
Innern Platz aufbehalten. Unmittelbar neben 
ihm ließ sich hörbar atmend die Dame^ die 
zuerst gesprochen hatte, nieder. Ihr weiß 
behandschuhter Arm schob sich last auf 
Spannenlange an den seinen heran. Nun 
begann sie behende an ihrem Opernglase 
zu schrauben^ das — er sah es blinzelnd 
— an einein schimmernden Stiele be- 
festigt war. Das Theater war stark ver- 
dunlcelt Die Musilc hatte aufgehört. Eine 



[122] 




Soubrette und der Komiker tauschten Hebens- 
würdige Anzdglichkeiten aus... Plötzlich 
fühlte Herr Schreiner, wie die Dame ihr 
Gesicht ihm zuwandte. Ihr Atem berührte 
seine Wange. Er blickte auf. Das Blut 
stockte ihm. Sie war es. . .In diesem Augen- 
blick öffnete der Schließer die Tflre seiner 
Loge. In ihren Mantel eingehfillt, das Spitzen- 
tuch lose um den feinen Kopf geschlungen, 
stand seine Frau, schmal und hoch einen Mo- 
ment im Lichtschein^ der vom Gange hereinfiel. 
Herr Schreiner hatte sich erhoben. Es konnte 
nebenan nicht unbemerkt bleiben, wie schlank 
er gewachsen war — die niedrige Loge trug 
ihr Teil bei zu dieser vorteilhaften Geltend- 
machung — , wie elegant seine lässige Höflich- 
keit sich gegen seine Frau fluflerte. Er glaubte 
zu bemerken, daß die Dame aufmerksam 
seinen Bewegungen folgte. Deshalb ließ er 
einen Moment die entblößte, heute angenehm 
bleiche Rechte auf der roteiv Samtbrüstung 
aufruhen^ ehe er sich völlig sehier Frau ent- 



[123] 



gegenwandte. Diese war nicht eben gesprft- 
chtg. Das verdroß Hin. Sie lieft sich jedes 

Wort herauspressen. Wie aus einer Zitrone, 
dachte er voll Unwillen. Oft, zumeist, wenn 
er sich irgendwie im Unrecht fühlte und 
sich's nicht eingestehen mochte, überfiel 
ihn dieser bis zur Wut anschwellende Un- 
mut gegen Else. Er suchte eigensinnig 
nach einem Vorwande, sie ins Unrecht zu 
setzen, ereiferte sich, stolperte gleichsam, 
kam immer mehr in Zorn und haßte sie end- 
lich, da sie ihn durchschaute und mitleidig- 
schmerzlich übersah. Heute hatte er sie ver- 
stört durch das mehr als seltsame Zusammen- 
treffen mit der Nachbarin, das sie sicherlich 
bei sich irgendwie zu deuten unternehmen 
wQrde, empfangen und aberlegt; ob er ihr 
die Anwesenheit der Sängerin, mit einem 
Scherzwort den Effekt kurz vorweg nehmend, 
verraten sollte. Aber seine Aufregung ließ ihn 
die richtige Gelegenheit versäumen. Und da 
er, bei wachsender Feindseligkeit gegen 



[124J 



ihre aufreizende Ruhe, angestrengt über eine 
Mögliciii^eit nachsann, seine Unbefangenheit 
in den Augen Eisens nicht zu gefährden, 
steigerte sich seine Scheu und ging wie eine 
Wollce von ihm aus und auf die Gattin Uber, 
die sich nur um so abwehrender in sich selbst 
zurückzog, gegen ihren bewußten Willen, 
wie sich etwa eine Pflanzenfaser, die als 
Ftthler zielend vorragt, zusammenlorttnimt 
unter dem beißenden Hauche starlcen Tabaks. 
Ais sie sich niederließ, hatte sie auch schon 
die Insassin der Nachbarloge erkannt. In ihr 
war blitzschnell eine Trübung vor sich ge- 
gangen. Sie hatte sofort etwas wie eine 
unlautre Atmosphäre um sich herum emp- 
funden, eine Atmosphäre, die sich ver- 
dichtete, schwer wurde und ihr das freie 
Atmen behinderte. Sie war den ganzen Weg 
aber mit sorglichen Gedanken an ihre beiden 
jy^ädchen beschäftigt gewesen^ die sie nicht 
gern in der wenig verläßlichen Obhut der Kurse 
zurückließ. Einige kurze Fragen ihres Mannes 

[1351 



hatten ihre Unbehaglichkeit noch vermehrt» 
Seine Stimmung war ihr durchaus nicht ver- 
borgen geblieben. Auch war sie sich der 
eignen Unliebenswllrdiglceit bewußt und 
litt unter dem Eindruclcey den sie auf den 
eiupfiiidiichen, zuzeiten sehr zärtlichen Gatten 
wirkte. 

Die Italienerin ihrerseits hatte das Ehepaar 
gleichfalls erkannt. Sie prQfte mit der Per* 
sonen, die in der Offentlicitkeit zu stehen 

gewohnt sind, eignen Unverschämtheit den 
Anzug der Frau, wobei sie sich sogar ihres 
an langer Perlenkette hängenden Lorgnons 
bediente^ und wendete sich dann mit einem 
Ausdruck; der von Mißachtung nicht frei war 
— so schien's Elsen, die sich voll Empörung 
so beobachtet sah — wieder von ihr ab und 
der Btthne zu. Alexander Schreiner hatte 
seine Arme auf der BrOstung aufgestemmt — 
er markierte wieder einmal fOr den »Pöbel« 
den aristokratisch lässigen Weltmann — 
und verfolgte mit seinem Operngiase jede 



[126] 



Bewegung der jetzt in einen ländlichen Chor 
gesammelten Statistinnen. Er bezweckte, 

mit dieser Hingabe an die im allgemeinen 
freilich nicht allzu verführerische Weiblich- 
keit der Szene die Eifersucht der Nachbarin 
wachzurufen, gab aber sein Beginnen wieder 
auf, da er argwöhnte, er könnte sich's durch 
seine, übrigens nicht sehr sichre Bühnen- 
gönnermiene etwa gar bei der Gorma ver- 
derben. Um sie zu versöhnen, blickte er 
sich nunmehr, mit stark Übertriebener Un- 
befangenheit an seinem kurzgestutzten Schnurr- 
bärtchen zupfend, nach ihr um. Wieder sah 
er dieses nicht eben scharf geschnittene, aber 
durch seine dunkein HauttOne doch lein 
gegen, die Umgebung abgesetzte Profil, den 
weichen vollen Arm im eng anschließenden 
Handschuh und die reife Büste, die für ihn 
etwas Berauschendes besaß. Langsam schob 
er seinen Arm näher an den ihren heran, 
indem er sich mit seinem Opemglase 
zu schaffen machte. Die trennenden Wände 



fl27] 



I 



gingen nach unten zu in leichtem Schwung 

in das rote Lchnpolster der Brüstung 
über. Wenn sie ihren Arm auf die Scheide 
legte, konnte er ihn mit seiner Schulter 
streifen. Er suchte diese BerQhning her- 
beizufOhren, und es gelang ihm einmal. 
Er hielt den Atem an und wartete... Der 
Arm bewegte sich nicht. Nun ließ er die 
gehemmte Luft heftig durch die Nase aus- 
strOmeni kehrte sich gegen Else und ver- 
suchte so, scheinbar ganz arglos, durch das 
Gewicht seines Rückens den Druck langsam 
zu steigern. Die Italienerin ließ den Arm ge- 
lassen herabgleiten. Er erbleichte... Im 
Zwischenakte setzte sich Elsa in den Hinter- 
grund der Loge. Er blieb an seinem Platze. 
Seine natürliche Schüchternheit vertrug sich 
nicht ganz gut mit den gewaltsamen An- 
strengungen, Aufsehen zu erregen. Er 
empfand auch deutlich, wie viel ihn alle 
diese Mittel und Mittelchen kosteten, schfimte 
sich nicht so sehr seiner unwürdigen 

[I28j 



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Bemühungen als ihrer Halbschfächtigkelt 
und verstärkte nur immer mehr die leidige 
ßefangenheit. 

Die Italienerin plauderte angeregt und 
ziemlich laut mit ihrer Gefahrtin. Sie war 
augenscheinlich Gast in der Loge. Der 
Abend verstrich ohne dankenswerte Ergeb- 
nisse. Alexander Schreiners Unmut war zu 
höchst gestiegen, als die Sängerin seinen 
letzten Versuch, ihr durch die ahermaiige 
Aufrichtung seiner eleganten Gestalt zu im- 
ponieren — diesmal im weiten Abendpelz, 
den Zylinder auf dem Kopfe — nicht zu be- 
achten geruhte. Auf der Treppe konnte er 
sie nicht mehr erblicken, denn seine Frau 
war allzu rasch mit ihrer Toilette fertig ge- 
worden, so daß sie ihren Wagen erreichten, 
ehe jene aus der Türe getreten war, die aus 
dem Gange vor den Parterrelogen ins Foyer 
fahrte. Seine Üble Laune entband bei der 
Gattin geheimen Groll, fast Feindseligkeit. 
Schweigend saßen sie im Wagen neben- 

9 

[1291 



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einander, schweigend sdirilten sie die teppich- 
bedeckte Stiege zu ihrer Wülinung empor. 
Während Else noch mit dem Entkleiden be- 
scliäftigt war, lag Alexander bereits gegen die 
Wand gekehrt und schien fest zu schlafen. 
Dem war durchaus nicht so. Ersann auf Rache. 
Rache war es, ganz ausgesprochenermaßen 
Rache^ die er erwog, Rache an seiner Frau. 
Morgen mußte er die Gorma besuchen. Ja^ 
er muftte! Schon um dieser da neben ihm 
zu beweisen... Andre Mflnner taten ganz 
andre Dingel Es war ja geradezu lächer- 
lich, wie er sich da eingemummelt hatte in 
dieser £he. Unglaublich, wirklich! Aber 
das sollte ahders werden! Er wollte dieser 
Frau zeigen, was es heiße, einen Mann, wie 
er einer war, nicht für gefährlich zu halten. 
Sie sollte...! Doch nein. Sie durfte nichts 
erfahren. Das wflre im höchsten Orad un* 
bequem gewesen. Aber genießen wollte er, in 
vollen Zügen genießen! Denn daß er der 
Italienerin nicht gleichgültig geblieben war, 

[180] 



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das stand ja fest. Morgen würde er sie auf 
suchen. Und er sah wieder ihren Körper vor 
sich, hüllenlos, ambrabraun, duftend nach 
wundervollen Essenzen. • . Jedenfalls wQrde 
er morgen zum Friseur gehen. Und nicht zu 
vergessen war, daß er ganzseidene Strümpfe 
anzöge. ...Ob er Blumen mitbrächte? Nein, 
das wäre kindisch gewesen. Nachlässig wollte 
er bei ihr erscheinen, nachlässig, aber mit 
der unausgesprochen ersichtlichen Absicht, 
sie zu besitzen. Er wollte kommen wie ein 
geborener Sieger. Das mußte sie bestechen. 
Und er griff — den Schlafenden zu spielen, 
hatte er ganz vergessen — nach der Tube 
Vaseline, sein Gesicht, das, von innen heraus 
erhitzt, schmerzhaft brannte, mit der Salbe 
zu bestreichen. 



Die Sftngerin trank den Thee in Gesell- 
schaft ihres Freundes, des Fretherrn David 

von Fleischer, als ihr Herrn Schreiners Karte 
Ubergeben ward. Sie las erstaunt den un- 

U31J 



bekannten Namen und reichte die Karte dann 

dem Baron^ der schweigend die Achseln 
zuckte. *Ich lasse bitten«. Herr Schreiner 
trat ein. Er hatte einen dunkelgrauen Geh- 
rock und hellgraue Beinkleider gewählt, die, 
im Ot>er8Chenkel wie Knickert)ocker8 ge- 
schnitten, um die Wade herum eng, wenn 
auch nicht anschmiegend schlössen und kelch- 
förmig über den FuiS hinab fielen. Seine 
weifie Weste mit breitem Oberschlag warf 
keine einzige Falte. Er hatte sie erst 
knapp vorm Verlassen des Bureaus an- 
gelegt. Sie war vom Bügeln gekommen. 
Die Anwesenheit eines Dritten beunruhigte 
ihn, um so mehr, als er den Baron Fleischer 
langst vom Sehen kannte. Die Dame des 
Hauses wies mit einer einladenden Hand- 
bewegung die beiden Herren aneinander. Der 
Baron hatte sich lässig erhoben. £r war ein 
Fünfziger mit schon stark angegrauten gepfleg- 
ten Backenbartstreifen und dichtem gestutztem 
Schnurrbari Seine Kälte, die man unfreundlich 

fl32j 



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nennen konnte, trieb Herrn Schreiner den 

Angstschweiß auf die unmittelbar vor dem 
Eintreten noch gründlich mit Teintpapier 
gereinigte Stirne. Die Sängerin lächelte. 
Sie liatte den jungen Mann sofort erlcannt. 
Sie liaif ihm. »Wir sind gestern abend Nach- 
barn gewesen.« »jawohl, gnädige Frau.« Er 
fühlte, daß er seinen Besuch irgendwie zu er- 
klären verpflichtet sei, und stotterte ein paar 
Phrasen, die diesem Zwecke galten. Die Gorma 
nahm es gnädig hin. Der Baron schwieg. Nun 
erging sich Herr Schreiner In mißfälligen 
Bemerkungen über die gestrige Aufführung. 
Der Baron sah nach der Uhr. Es war eine 
dritte Tasse gebracht worden. »Darf ich 
Ihnen ein wenig Thee einschenken?« fragte 
die im Nachmittagszwielicht mttd und 
gealtert aussehende Frau und rückte sich 
ganz vom t^enster ab. Herr Schreiner 
trank verlegen seinen Thee. Die Sängerin 
sinrach von den Theatern der Stadt Ihre 
Stimme hatte einen stark fremdländischen 



[133] 



Tonfall, auch suchte siie manchmal mit einiger 
Ziererei nach den Worten. Einsilbig betei- 
ligte sich der Baron am Gespräch. Endlich 
erhob er sich. Herr Schreiner sprach sich 
Mut zu. Auf die Gefahr hin, diesem Herrn 
unausstehlich zu erscheinen, wollte er blei- 
ben. »Meine Gnädigste«, sagte der Baron 
Fleischer zu der Dame des Hauses und 
sah ihr dabei voll ins Gesicht, »ich schicice 
also den Wagen um ein viertel nach sieben 
Uhr€. »Tun Sie das, lieber Baron«, sagte 
die Gorma und drückte dem Scheidenden, 
der mit der Linken den Rock schloß, lebhaft 
die Hand. Herr Schreiner glaubte einen 
Blick des Einverständnisses zu bemerken, 
der nach Spott aussah. Spott Uber ihn? 
Das »Einverständnis« wäre nicht schwer 
zu erraten gewesen. Denn nur Herrn Schrei- 
ner unter den Tausenden, die Frau Lucia 
Wendtheim-Corma bewunderten und wie auf 
der Konzerfbflhne, so in ihrem Privatleben 
mit neugieriger Aufmerksamkeit begleiteten, 

fl84] 



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war es unbekannt geblieben, daß die Signora 
seit Jahren ein Verhältnis mit dem unver- 
ehlichten Freiherm David v. Fleischer unter- 
hielt. Von ilirem Gatten Wendtheim wußte 
man nicht viel mehr, als daß sie ihn einmal 
vorzeiten geheiratet hätte. 

Der Baron empfahl sich steif von Herrn 
Schreiner. An der Türe — Herr Schreiner 
hatte sich wieder gesetzt — schien er noch 
einmal mit seinen Blicken gleichsam etwas 
zu rufen, denn die Sltngerin Uchelte, wie 
man lächelt, wenn man nicht wohl deutlicher 
antworten kann, da jemand störend im Wege 
sitzt. Dann ging er. Gott sei Dank, dachte 
Herr Schreiner und war auf einige Minuten 
wieder voll Untemehmung^mut. Die Gorma 
wandte sich nun mit der größten Liebens-. 
Würdigkeit ihm zu und fragte ihn, wie es 
Herrn Schreiner alimählich vorlcam, etwas 
unverblümt nach seinen Familienverhältnissen 
aus. Als sie von seiner Frau sprach und 
ihre Erscheinung lobte, empfand er das äußerst 



[185] 



peinlich. Er ging aucli nicht auf dieses Thema 
ein. Noch unangenehmer war ihm die Er- 
kundigung nach seinen Kindern^ die in der 
allerunschuldigsten Form der Welt: »ob er 
Familie habe« gestellt war. »So komme ich 
nicht zum Ziele«, dachte der Aufgeregte. 
Er hatte bereits jede Zuversicht eingebüßt. 
Aber er konnte ihr doch um Gottes willen 
nicht jetzt plötzlich ins Gesicht sagen, daß 
er sie liebe, ^ruz abgesehen davon, daß dem 
durchaus nicht der Fall war. Er brachte das 
Gespräch auf den Baron und verriet mit 
den ersten Worten seinem Gegenüber, daß 
er keine Ahnung von den Beziehungen hätte, 
die die Dame mit ihrem Freunde verbanden. 
Sie überwand eine leise Befangenheit und 
plauderte dann um so sorgloser von dem 
liebenswürdigen »alten Herrn«. Was hat sie 
vor? dachte Herr Schreiner. Die Jungfer er- 
schien und meldete, daß das Bad bereit sei. 
Mit einem bezaubernden Läclieln — er 
erinnerte sich dieses Lächeins aus dem Kon* 

fl86] 



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zert — entließ sie ilin . . . Da stand er nun 
auf der Treppe und kam sich äußerst albern 

vor. Während er langsam die Stufen hin- 
abstieg, hatte er allen Ernstes den Gedanken, 
diesen Besuch seiner Frau zu erzählen, mög- 
lichst unbefangen natürlich, so etwa mit: 
»Denk dir nur^ wo ich heute war«, zu be- 
ginnen. Aber er fühlte, er würde den klugen 
stummen Augen seiner Frau gegenüber er- 
röten, und dann war alles verloren* Dann 
hatte er Unfrieden im Hause, das heißt die 
gewisse unerträgliche bleischwere Stimmung, 
wenn seine Frau umher ging, als ob er nicht 
da wäre. Und wozu auch ? Ohne jegliches Ent- 
gelt auf der andern Seite. Denn dieser Besuch 
war ja ganz offenbar verunglflckt. Ja, ja, ver- 
unglückt Es war beim besten Willen nichts 
anders heraus zu deuten. Sie war höflich ge- 
wesen, aber nicht mehr. So hätte sie jeden an- 
ständig gekleideten Menschen empfangen, 
noch dazu einen, dessen Karte einen Mann aus 
halbwegs gutem Hause nannte: Ministerial- 



[137J 



beamien und nichtaktiven Kavailerieleutnant. 
Er mußte die Sache von vorn anfangen. 
Aber wie, wenn er morgen wiederkäme 
und dieser Baron Fleischer wieder da- 
säße oder sie ihn gar in dessen An- 
wesenheit abweisen ließe?... Ihm fiel ein 
rettender Gedanke ein. Er wollte ihr 
schreiben. Natürlich. Jetzt, nachdem er sie 
besucht hatte, war ein Brief das einzige 
Mittel, das die Hindernisse der An- 
näherung hinwegzuräumen imstande war. . . 
Oder neue zu schaffen? Er verwarf diese 
Möglichkeit ebenso schnell, wie sie in ihm 
aufgetaucht war. 

Zu Hause entwickelte er eine ungewohnte 
Beweglichkeit. Er turnte mit den hocherfreu- 
ten Kindern, pfiff. Den Blicken seiner Frau 
wich er aus. Da er ihr aber beim Abend- 
essen gegenüber saß, begann er mit an- 
schaunlicher Beredsamkeit allerhand Belang- 
loses zu erzählen. Sie veitiielt sich meist 
schwelgend. 

[I38j 



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Am nächsten Tage gab er folgenden Brief 
zur Post: 

»Gnädigste Fraul 

Mein Besuch bei ihnen ist mir eine pein- 
liche Erinnerung. Ich war gelcommen, Ihnen 

so viel zu sagen, und bin gegangen, ohne 
auch nur den Zweck meines unbescheidenen 
Erscheinens angedeutet zu iiaben. Dürfte ich 
hoffen, daß Sie ihn erraten haben? Geben 
Sie mir Gelegenheit^ meine Ungeschicklich- 
keit, die einer begreiflichen Befangenheit 
entspruni^en war, wieder gut zu machen. — In 
dieser Hoffnung küsse ich, gnädige Frau, 
Ihre Hand als Ihr ergebener..-.« 

Als er mit eii^ner Hand dieses Schreiben 
in den Brietkasten steckte, schien es ihm, 
als warnte ihn eine innere Stimme vor dem 
törichten Beginnen. Er fiberhörte sie. Aber 
seine Laune war nichts weniger als gehoben. 
Nicht wie ein Held erschien er sich, sondern 
wie ein Besiegter. Er vermied den Gedanken 



[139J 



an seine Frau, kaufte aber seinen Kindern 

in einer Spiel Warenhandlung einige Kleinig- 
keiten, die er Auftrag gab, ihm bereit zu 
stellen, da er sie selbst abzuholen willens 
war. Um sich zu zerstreuen, ging er zuerst 
zu seinem Friseur, dann zur Maniküre, end- 
lich zum Zahnarzt, der ihm die Zflhne grOnd- 
lieh reinigen mußte. Von einem Bekannten 
ließ er sich ins Kaffeehaus führen, einem 
Ihm seit Jahren ungewohnten Aufenthalte. 
Sie saßen bei Kaffee und Kognak und sprachen 
von »alten Zeiten«, gemeinsamen KuUssen- 
erinnerungen und sonstigen galanten Aben- 
teuern. Der Freund, ein blondbärtiger Drei- 
ßiger, laut und brei^ spottete aber Herrn 
Schreiners zurückgezogenes Ehemanns- und 
Vaterleben. Nachdem dieser unzählige Ziga- 
retten geraucht hatte, so daß sein Anzug, 
auch durch die stickige Atmosphäre des 
Kaffeehauses überhaupt, und sein Atem 
einen Übeln Geruch ausströmten, begab er 
sich tangsam nach Hause. Die Spielsachen 

[uoj 



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fQr seine Kinder hatte er abzuholen ver- 
gessen, sie fielen ihm ein, als er schon fast 
vor seiner Wohnung angelangt war. Unter 
dem Vorwande, den Kindern diese Freude 
nicht zu verzdgem, kehrte er uni> nahm das 
Palcet in Empfang und schritt wieder die- 
selbe Strecke. Die bereits angezündeten 
Laternen kontrastierten mit der Früh Im gs- 
stimmung des lauen Abends. £r empfand plötz- 
lich Lust^ mit seiner Frau ein wenig spazie- 
ren zu fahren. Doch verwarf er sofort auch 

wieder diesen Gedanken, da er dunkel zu ahnen 
glaubte, daß sich dahinter etwas wie auf- 
steigende Gewissensbisse verbarg... Der 
Abend zu Hause verlief ohne besondres Vor- 
kommnis. Die Kinder freuten sich Uber die mit- 
gebrachten Sachen. Else halte ihre Migräne und 
ging früher als gewöhnlich zu Bette. Er saß 
allein unter der Lampe und nahm einen 
französischen Roman vor. Es gelang ihm 
nicht, zusammenhängend zu lesen. Seine 
Gedanken schweiften ab. Sie waren voll 



[UlJ 



Bitterkeit. Daß ihn zum Beispiel seine Frau 
ersucht hatte, dem Abendgebete der Kinder 

fern zu bleiben, — es war sonst nicht seine 
Gewohnheit, zu dieser täglichen letzten 
Szene in der Kinderstube zu erscheinen — 
hatte ihn verdrossen. Er gefiel sich einiger- 
maßen in der Rolle eines Ausgestoßenen. 
Die höhnischen Worte seines Freundes fielen 
ihm ein. Er holte einen alten Jahrgang des 
Journal amüsant hervor und suchte sich an 
den frivolen Zeichnungen zu erheitern* Sie 
waren ihm alle zu wenig lasziv. Er kramte 
in seiner Bibliothek nach galanten Büchern, 
fand eine mehr als freie Ausgabe des Boc- 
caccio und spornte seine träge Phantasie 
blutig. . • 

Vormittag im Amte ließ ihn der Vor- 
steher rufen und erteilte ihm in gemessener 
Form einen Verweis wegen Nachlässig- 
keit in der Dienstf Uhrung. Er habe schon längst 
ein ernstes Wort mit ihm sprechen wollen. 
Er mfisse ihn in seinem eignen Interesse 



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darauf aufmerksam machen, daß derlei Dinge, 
wie er sie sich in seiner Geschäftsgebarung 
habe wiederholt zuschulden kommen lassen, 
nicht angingen. Man habe sich auch bereits 
höhemorts miBbüligend über dies und 
das ausgesprochen. Er fand keine Entschul- 
digung. Ein Gefühl tiefer Demütigung fraß 
Sich in sein Herz. Am liebsten hätte er laut 
geweint. Er saß lange Zeit vor seinem 
Schreibtisch und starrte in den sonnen- 
beschienenen Hüf des Hinterhauses. . . Als 
auch am Nachmittage kein Antwortbrief sich 
einfand, ging er zum Hotel. Der Portier trat 
ihm in der Türe seiner Loge entgegen und 
fragte nach seinem Begehren. Die Signora 
sei nicht zu Hause. Sie sei ausgefahren. 
Langsam drehte sich Herr Schreiner auf den 
Absätzen herum. Es war ihm, als müsse er 
den Mann aufs Gewissen befragen, ob das 
auch der Wahrheit entspreche. Aber er nahm 
Abstand von diesem offenbar kompromittie- 
renden Versuche, dankte mit betonter Nach- 



[U3J 



1 



lässigkeity zwei Finger an der Hutkrempe, 

und ging. Er kehrte in das Bureau zurück 
und ließ nach Hause telephonieren, daß er 
heut erst später kommen würde. Nachdem 
er einige Male vergeblich einen Anlauf zur 
Arbeit genommen hatte, schrieb er einen 
langen Brief an die Sängerin, überlas ihn 
und zerriß ihn. Ein Kollege trat ein und 
fragte nach dem Verlaufe der Unterredung 
mit dem Vorsteber. Argerlich gab Herr 
Schreiner den Hauptinhalt zum besten. Der 
Kollege, ein magrer, glatt rasierter, fast 
kahler Pole, war ganz seiner Ansicht, daß 
das Vorgehen des Chefs durchaus unbegrün- 
det, vielleicht überhaupt nur einer Laune 
entsprungen sei. Mit einer Empfehlung an 
»die Gnädigste c entfernte ersieh, nicht ohne 
nochmals wiederholt zu haben, Schreiner 
möge sich nur ja kein graues Haar über die 
dumme Sache wachsen lassen. 
Endlich kam folgender Brief zustande: 

[144] 



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»Gnädigste Frau ! 
Sie haben meinen Brief erhalten und mir 
nicht geantwortet. Ich bin bei Ihnen gewesen, 
und Sie haben mich abweisen lassen. Wenig- 
stens schien es mir so. Ich will noch einmal 
versuchen, ob ich mich in dem allen nicht 
vielleicht täusche. Es gibt ja solche Zufälle 
im Leben. Sie waren verhindert. Sie hatten 
vor, den Brief gestern zu beantworten. Sie 
hatten meine Adresse verlegt. Was weiß 
ich... Ich weiß nur das eine, daß ich auf 
die Gefahr hin, neuerlich und unverkennbar 
abgewiesen zu werden, wenn ich auf diesen 
meinen letzten Brief wiederum iceine Antwort 
erhalten sollte, morgen gegen fOnf Uhr noch 
einmal zu Ihnen gehen muß. Sie haben 
mein Schicksal in Ihren Händen, die ich küsse. 

A. Sch.« 

Zu Hause fand er Gesellschaft vor. Die 
Schwägerin Anna und ihr Mann waren zu 

Besuch. Der Anblick des dicken gemüt* 
liehen Menschen erquickte Herrn Schreiner 

10 

[146] 



in der Seele. Er war in seiner behag- 
lichen Nähe SO sicher. Vor ihm erzählte 
er denn mit humoristischer Färbung und mit 
einer verlognen Schneidigkeit renommierend^ 
den Auftritt beim Vorsteher. Er wußte, daß er 
hier gutmütigen Spottes ttber ein solches Vor- 
Icommnis sicher war. So rettete er auch die 
Geschichte vor seiner Frau, bei der sonst — 
das ahnte er ^ seine Erzählung ein stiUes 
und ihm nur um so peinlicheres Ver- 
denken erzeugt hätte. 

Die beiden Schwestern waren in Haus- 
frauen- und Kinderangeiegenheiten voll Eifers 
eingesfK>nnen. Er trank mit dem Schwager 
Olas um Glas. Allen Ernstes hatte er die 
Absicht, sich heute zu berauschen, was ihm 
schließlich auch gelang. Er fiel ins Bett 
und schlief sofort ein. 

Um so trübseliger gestaltete sich das Er- 
wachen nach mehrmaligem Wecken des un- 
geduldigen Mädchens. Richtig hatte er sich 
auch heute verspätet. Atemlos wie ein Schul- 

["«] 



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knabe kam er im Bureau an. Der Schweiß 
stand ihm unter dem Hute, sein Hemd klebte 
am Körper. »Der Herr Chef habe nach ihm 
gefragt«, richtete sich verneigend der Diener 
aus* Eine Ausrede auf den Lippen^ klopfte 
er bei dem grämlichen Vorgesetzten an. 
Dieser empfing ihn höchst ungnädig. Herr 
Schreiner stand vor ihm wie ein ertapptes 
Kind. Er schämte sich der unwürdigen 
Situation unsäglich... Lächelnd kam der 
Kollege wieder. Er konstatierte, daß Herr 
Schreiner Pech habe. Leider hätte er, 
der Kollege, selbst die unangenehme Auf- 
gabe gehabt, ttber Befragen melden zu 
müssen, daß Jener noch nicht anwesend wäre. 
Der Chef habe seinen unleidlichen Tag. 
Herr Schreiner möge sich nur nichts daraus 
machen. Er, der Kollege, habe derlei schon 
so oft einstecken mttssen. Ob sie sich wohl 
auch so herauswachsen wollten im spätem 
Leben, wenn sie zu Würden gelangt wären ! 
Der Kollege lächelte in freudiger Zuversicht 



und steckte sich eine neue Zigarette an... 
Abermals war von Lucia Cornia I^eine Ant- 
wort gekommen. Und er hatte diesen Brief 
doch durch einen Dienstmann sofort zutragen 
lassen, der — so gab er ihm zu verstehen 
— sich etwas verziehen könne, nicht all- 
sogleich davoneilen müßte. Keine Antwort, 
auch mit der Post nicht. Und es wurde 
Nachmittag. Herr Schreiner wanderte in den 
Sfraßen umher. Ein Regenschauer fiel nieder. 
Er ging in eine Hutniederlage und ließ sich 
den genäßten Zylinder neu aufbügeln. 
Während er wartete, trat ein Herrschafts- 
diener ein und stellte sich^ gleichfalls wartend, 
neben ihn. Herr Schreiner empfand dies 
wie eine Demütigung. Um dem Kerl mehr 
Achtung einzuflößen, setzte er sich auf die 
Pudel und schlenkerte mit den Beinen. Auch 
hantierte er laut an seinem silbernen Feuer- 
zeug und erreichte damit, daß der Bediente 
nach schwedischen Zöndhölzchen in die 
Hosentasche fuhr, was ihn wieder einiger- 

[1481 



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maBen versöhnlich stimmte. Er dankte gnfldig. 
Kaum war er auf der Straße angelangt, als 

sich der Regenschauer erneuerte. Lr war, um 
nicht abermals den Hut zu schädigen, ge- 
n6ügjt, in einen Hausflur zu treten, wo schon 
mehrere Fußgänger Unterstand gefunden 
hatten. Wagen auf Wagen rollte vorüber. 
Herr Schreiner begann sie zu zählen, gab 
es aber wieder auf. Der Zeiger der großen 
eisernen Standuhr rückte nur langsam weiter. 
Schließlich fuhr er mit einem Fiaker behn 
Hotel vor. Der Kutscher fragte, ob er 
warten solle. Dies schien ilnn eine böse 
Vorbedeutung. Doch um nicht das Schick- 
sal zu versuchen, behielt er das Fuhrwerk. 
Der Portier lüftete kaum die Kappe. Im 
Vestibül stand eine hoch gewachsene Dame 
in langem grauem Regenmantel, mit den 
Lippen an dem Schleier zupfend. Augen- 
scheinlich eine Aristokratin. Herr Schreiner 
setzte sein Monokel auf. Es en^litt ihm und 
zerbrach auf den Steinfliesen. Die Dame 



wandte sich ab. Sie hatte gelächelt Herrn 

Schreiner schoß das Blut in den Kopf. Er 
ging ein paar Schritte zurück, der Un- 
bekannten zu beweisen, daß dieses lächer- 
liche Mißgeschick ihm nichts bedeute. Ja, er 
brachte es Ober sich, mit dem Ende seiner 
Schuhe an die Splitter zu rühren. Ohne sich 
diesmal bei dem Portier erkundigt zu haben, - 
stieg er die wenigen Stufen hinan zum Auf- 
zuge* Der Liftjunge fragte nach der Nummer. 
Die wußte er nicht »Erster Stock«. Als sie 
sich geräuschlos in Bewegung setzten, fragte 
er wie nebenbei: »Frau von Gorma ist zu- 
hause?« »Ja«, sagte der Liftjunge. Eine 
schreckliche Angst warf sich mit zottigen 
Klauen auf Herrn Schreiners Brust: Jetzt 
mußte sich's entscheiden. Wenige Minuten 
später stand er vor der weiß lackierten 
Tür. Er überlegte. Endlich klopfte er. Ein 
Griff nach der Krawatte. Die TOr aHneie 
steh. Die Zofe stand vor ihm. Das Wort er^ 
starb ihm. »Die Gnädige ist nicht zu Hause.« 



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Ein Blick in den Vonaum liaite ilin «Inen Herren- 
Überrock bemerken lassen. . • Das Mädchen 

schien ihn bis in die Knochen zu verachten. 
Er hinterließ seine Empfehlung. Dann stieg 
er schwerfällig die Stufen hinab... Der 
Wagen wartete. Eilfertig riß der Kutsciier 
die Decken van den nassen Rttcken der 
Pferde. Er hatte eine längere Abwesenheit 
erwartet. Als er schon im Coup^ saß, 
beugte sich der Fiaker herab. »Wohin, Euer 
Gnaden £r nannte seine Adresse* . • 

Zu Hause schien es ihm merkwttrdig still. 
Auf zweimaliges Läuten — er hatte seinen 
Schiüssel nicht bei sich — erschien der 
Diener und lächeite verlegen. »Die gnädige 
• Frau ist verreist«. »Verreist...?« Sein Herz 
stand starr. »Es liegt ein Brief füt den 
gnädigen Herrn auf dem Schreibtisch« . . . 
In Hut und Mantel stürzte er in sein Zimmer. 
Dort auf der grünen Ledermappe mit den 
vergoldeten Ecken lag ein Brief. Die Zfige 
seiner Frau. Mit dem Bleistift hingeworfen. 



[151] 



Er riß den Umschlag ab. Ein violettes Brief- 
blatt lag darin. 

»Gnädige Fraut Wollen Sie, bitte» liirem 
Gatten sagen, daß seine ßemtthangen mir 

lästig fallen. Ich glaube, Sie werden Mittel 
und Wege finden^ ihn von weitern Schritten 
abzuhalten, die für Sie und ihn nur von 
unangenehmen Folgen begleitet sein mußten. 

In Hochachtung Ihre ergebene 
Lucia Wendlheim-Cürma, 
Kammersängerin.« 
Herr Schreiner hielt das Briefblatt in 
der Hand. Mechanisch wiederholten seine 
Lippen den Inhalt der kurzen, in liegenden 
Zügen geschriebenen Zeilen. Vor seinen 
Augen fitmmerte es. In seinem Kopfe dröhnte - 

es. Dann war alles still Er hielt sich 

an der Stuhltehne. Der Diener räusperte 
sich. Herr Schreiner führ herum. Die beiden 
Männer standen einander gegenüber, der 
Diener verlegen, dumm lächelnd, Herr 
Schreiner noch immer den Brief in der 

[162J 



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Hand. Er zwang sich zu Rnhe. »Wann ist 
die gnädige Frau abgereist?« »Mit dem 

Mittagsschnellzug, gnädiger Herr. Ich hab' 
noch den gnädigen Herrn benachrichtigen 
wollen, aber die gnädige Frau hat gesagt, 
es ist nicht nötig, der gnädige Herr weift 
schon. Die gnädige Frau ist nach Hollbrunn 
gefahren«. Zu den Schwiegereltern natürlich. 
Er wollte fragen: »Mit den Kindern?« Aber 
er verschluckte die Silben. Der Diener fuhr 
sich mit beiden Händen an den HQften 
herab. »Die kleinen Fräuleins lassen den 
gnädigen Herrn vielmals grüßen.« Herr 
Schreiner fühlte^ daß er eine klägliche Figur 
machte. Er wandte sich um, zog den breit- 
lehnigen Stuhl unter der Schreibtischplatte 
hervor und ließ sich schwer in ihm nieder. 
»Es ist gut. Ich werde läuten, wenn ich dich 
brauche.« Langsam entfernte sich der Be- 
diente. Er hörte an seinen knarrenden 
Schritten, daß er sich nach ihm umsah. Nun 
safi er vor seinem Schreibtische. Die Bilder 



[153J 



seiner Frau, seiner Kinder standen vor ihm. 
In iliren OlSsern spiegelte sich das Dämmer- 
licht des einfallenden Abends. Die Uhr 

ticlcte. Unten rollten Wagen Plötzlich 

icratzte es an der Tttre. Der Diener hatte 
die drei Hunde In das anstoSende Zimmer 
gelassen, als ob er seinen Herrn zu 
trösten versuchte. Herr Schreiner erhob sich, 
öffnete die Türe. Die Hunde sprangen an 
ihm empor. Da rannen ihm — seine Brust 
hob sich stoilweise — dicice Trfinen aber 
die Wangen. . . . Erst wanderte er ruhelos 
durch die Zimmer. In der Kinderstube, wo 
ihm jedes Stttclc von einem verlornen Leben 
erzahlte, verweilte er. Er weidete seinen 
Schmerz an diesen stummen Zeugen eines 
jäh zerbrochenen Glücks. Der Nußknacker, 
der Nikolaus, der Krampus, die steirische 
Bauerin : alle sahen sie ihn an. Diese steifen 
bunten Minner und Frauen druckten eine 
unsflgtiche Trauer aus. Er setzte sich auf 
eines der kleinen Stühlchen vor dem Kachel- 

[154J 



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Ofen neben der grofien Pttpi>enwiege, preßte 
die Hände vor die Augen und scliluchzte. 

Aber da er sich dabei ertappte, daß er 
seinem Schluchzen zuhörte, stand er wieder 
auf — es war unterdessen fast ganz finster 
geworden — , rief dem Diener und hieß ihn 
im Anicleidezimmer den Smolcinganzug mit 
allem Erforderlichen vorbereiten. Er konnte 
nicht zuhause bleiben. Er mußte irgendwohin, 
unter Menschen. Die Luft dieser verlassenen 
Zimmer lastete immer schwerer auf seinem 
Herzen. . . Anfangs hatte ihn eine Art von 
Trotz abhalten wollen, seiner Frau zu 
schreiben. Wie es ganz im Anfang dieser 
denlcwürdigen Heimkunft mit ihm sich ver- 
halten hatte, wußte er nicht mehr. Aber 
daß da keinerlei Trotz in ihm gewesen war, 
der erst später, durch einige Geißelhiebe 
von Erwägungen gereizt, sich empor ge- 
bäumt hatte, das fühlte er deutlich. Jetzt, 
nach dem Besuch im Kinderzimmer, nach 
dies^ reidilldien Tränen, war er ganz Un- 



' [155| 



terwUrfigkeit, ganz Demut Er schrieb einen 
langen anlclagenden und flehenden Brief, 
stand ein wenig erleichtert auf und begab 

sich, mit sich selbst bis zu einem gewissen 
Grade zufrieden^ in das ans Badezimmer 
stoßende Kabinett, wo der Diener schon 
alles bereit gelegt hatte und dienstfertig 
wartete. 

Den Brief in der Hand, um ihn nicht 
etwa schüei^lich in der Rocktasche zu ver- 
gessen, trat er in den Abendnebel hinaus. 
Zunächst wollte er ein Theater aufsuchen, 
und zwar ein flbermatiges, ganz ungebun- 
denes Stück zu sehen. Er wählte ein 
Vaudevilleunternehnien der Vorstadt, erhielt 
richtig noch einen Platz in der ersten Parkett- 
reihe und trat nach einem letzten Blick 
in den hohen Wandspiegel der Garderobe, 
das auf dem Wege gekaufte Monokel im 
Auge, den Spazierstock mit der Krücke 
über den linken Arm gehängt, an seinen 
weißen Handschuhen knOpfelnd, in den 

[166] 



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Zuschauerraum. Man war mitten im ersten 
Akt. Er musterte im Rampenlicht die An- 
wesenden. In einer Parterreloge sah er den 
Grafen Verminges, einen ehemaligen Regi- 
mentslcameraden, mit seiner Frau, einer 
kleinen, brünetten, beweglichen Person. Er 
erinnerte sich ihrer wohl. Die Heirat hatte 
damals im Regiment Aufsehen gemacht. Sie 
war die Tochter eines reich gewordenen 
Erzeugers ätherischer öle, von Haus aus 
nicht eben wohl erzogen, abci bildsam. Im 
zweiten Akte besuchte er das Ehepaar, das 
sich augenscheinlich miteinander nicht zum 
besten zu amüsieren gesonnen oder in der 
Lage war, denn der Graf starrte zumeist mit 
seinem Glase in eine gegenüber liegende 
Loge, die Gemahlin wandte trotzig Icein 
Auge von der Bühne. Ein verlegenes Zögern 
beim Eintreten Qberwindend, gab sich Herr 
Schreiner als erfreuter alter Bekannter. Die 
beiden kamen aus einer kleinen Garnison. 
Wie er erfuhr, waren sie auf der Durch- 



[167] 



reise. Man verabredete ein gemeinsames 

Abendessen. Erleichtert atmete Herr Schreiner 
auf. Ein Teil der Nacht war vorläufig 
angebracht. Bliclce des intimen Einver- 
ständnisses zur Loge empor — auf die 
Umsitzenden berechnet — gab er bald 
als erfolglos auf, denn Verminges hatte 
sich wieder seinen Betrachtungen ge- 
widmet, aber es war ihm unterdessen 
doch gelungen, ein QefUhi der Sicherheit 
in sich heranzuzüchten^ und die wieder- 
gewonnene Behaglichlceit — er rüttelte 
nicht an ihrer dünnen Decke, unter der 
wie unter der leichten Eisschicht eines 
schmutzigen Gerinnsels allerlei Ungeklärtes 
schwamm, verlieh ihm soviel Selbst- 
bewußtsein, daß er sogar eine hUbsche 
Soubrette auf sich aufmerksam zu machen 
suchte, indem er des öftern seine weiß 
behandschuhten Hände über den silbernen 
Stockgriff legte und hin und herrückend 
sem Augenglas auffunkeln ließ. — 

[158J 



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Im Hotel, das die Menage Verminges ge- 
wählt hatte, fand sich bald ein Freund des 
Grafen ein, ein junger Diplomat, der Herrn 
Schreiner mit gemessener Höflichkeit be- 
grüfite^ nur um sich desto lebiiafter seiner 
Nachbarin zu widmen, neben der ein Platz sich 
als für ihn reserviert erwies. Herr Schreiner 
konnte bald bemerken, was niemand lange 
ein Geheimnis zu bleiben vermochte^ daß 
die «Gräfin und der junge Mann^ der eine 
fade gelbe Physiognomie besaß und alle 
möglichen Menschen im Saale lässig scherzend 
grüßte, sich im vollsten Behagen miteinander 
befanden. Der Gemahl, der sich gewohnter- 
maßen von seiner Frau aufgegeben sah^ 
rückte an den Regimentsicameraden heran, 
und die beiden leisteten ein Erkleckliches 
im Trinken und Zutrinken. Es war ein 
Viertel vor Mitternacht, als sich die Gesell- 
schaft trennte. Der Diplomat, der bei Tisch 
Herrn Schreiner kehier erheblichen Ansprache 
gewürdigt hatte — dieser nannte ihn im 



[159] 



stillen einen arroganten Laffen empfahl 

sich am Wagenschlage, Verminges aber hatte 
mit Alexander Schreiner eine gemeinschaft- 
liche Nachfeier in einem Vergnügungs- 
Etablissement verabredeti wo er auch, als 
dieser kaum die letzte vorhandene Loge 
besetzt hatte, sehr aufgeräumt erschien. 
»Nun wollen wir lustig sein, Bruder!« Mit 
diesen vielversprechenden Worten übernahm 
der Graf die Führung, und rasch hatte sich 
an dem Tische der neuen alten Freunde 
eine Anzahl tief dekolletierter und hoch 
frisierter Dämchen eingefunden, die Back- 
hühner mit Salat und gemischtem Kompott 
sowie unzählige Qiardinettos verspeisten und 
sich Uberaus toll betrugen. Zu vorgerückter 
Stunde, als der Zigarrendampf den Raum 
mit blauen Wolken erfüllte und die grellen 
elekhrischen Lampen flbeischwelte, saß eine 
schwarze üppige Kleine Aiexandern auf den 
Knien und küßte ihn wiederholt auf den 
Mund, was er anfangs abgewehrt hatte, 

rieol 



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spater aber aus Scham vor Verminges 
geschehen ließi obwohl er er wieder- 
holte bei sich diese sophistische Beteuerung 

— keinen ihrer Küsse erwiderte. 

Auch der Graf hatte eine Schöne aus- 
gewählt oder sich von einer wählen lassen 
und bereits einige Male Zeichen großer Un- 
geduld von sich gegeben, die Herr Schreiner, 
der nicht recht wußte oder zu wissen begehrte, 
wie das alles enden sollte, beharrlich miß- 
verstand. Endlich erhob sich VermingeSi 
rief dem ZahUcellner, man teilte nach ehiem 
nicht sehr aufrichtigen Abwehrversuche des 
Grafen die beträchtlichen Kosten der Unter- 
haltung, und nach einem icordialen Hände- 
drucke sah sich Alexander Schreiner plötzlich 
auf der Straße mit dem Mädchen, das, in einen 
roten Plflschmantel mit Pelzbesatz gehallt 

und auf hohen Stöckeln trippelnd, um sich 
gegen das Frösteln in der feuchten Nachtluft zu 
wahren, halb an sehiem Arme, so als wäre 
das selbstverständlich! vor dem Portal des 

u 

[isi] 



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Etablissements nach einem der nahe haltenden 
Wagen zu rufen Auftrag gegeben hatte. 
Ziemlich wirr im Kopfe, wie betfluht vom 

Dunste des Lokals und der Weiber, ohne 
rechte Besinnung, was geschehen sei, was 
geschehen werde, stieg Alexander ihr nach 
in das dunlüe Coupö, lieft sich von der 
schauernden Kleinen an die liebebereite Brust 
ziehen, erwiderte, halb im Traume, den 
zärtlichen Druck ihrer Schenkel und kam 
erst zu sich; als der Fiaker, indem er die 
Pferde etwas verhielt, nach dem Ziele der 
Fahrt fragte. »Zu dir«, sagte die junge 
Dame. Das gab Herrn Schreiner wie mit 
einem Schlage die Herrschaft über sein aus 
dem Zügel gefallenes Innenleben zurück. 
Ohne sich auf weitere Erörterungen elnzu- 
lassen. Im OefQhle langst versäumter Pflicht, 
fuhr er die Zusammenschreckende an: »Wo 
wohnst du?« Als sie zögerte, wiederholte 
er die barsche Frage, erfuhr eine Gasse und 
ehie Hausnummer, rief sie dem Kutscher zu 

[168] 



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und warf sich rückwärts in den Wagen, 
die Augen schließend, die Hände über dem 
JMagen faltend. Das Mädchen saB einige 
Augenblicke verschüchtert da^ dann hob sie 
eine bereits zum Keifen schwankende Stimme 
und beklagte sich bitter über die Unfreund- 
lichkeit ihres Kavaliers. Da dieser nicht ant- 
wörtetei erklärte sie, mit dem Fuß aufstamp- 
fend^ sie werde ihn um keinen Preis bei sich 
empfangen, da sie mit ihrer Mutter zusammen 
wohne und die Mutter nie und nimmer — sie 
wiederholte die ihr offenbar sehr wohllautende 
Phrase — zugeben würde, daß sie einen 
Herrn usw. 

Seinen Hut aus dem Gesicht in den 
Nacken schiebend, griff Herr Schreiner nach 
der Wagenklinke. Da die SchOne fortfuhr, 
die über allen Zweifel erhabene Lauterkeit 
ihrer Mutter gegen einen unbekannten An- 
greifer zu verteidigen, steckte Alexander den 
Kopf beim rasch herabgelassenen Fenster hin- 
aus, hieß den Kutscher halten, sprang aus dem 

[X63J 



Wagen, warf jenem eine große Silbermünze hin 
und verschwand um die nächste Straßenecke. 

Er hörte, daft der Wagen stehen geblieben 
war, vernahm ein erregtes Zwiegespräch 
und begann zu laufen. Er lief, als seien ihm 
Häscher auf den Spuren, er lief so, daß ihn 
ein Wachmann, der sich erst verwundert 
nach ihm umgesehen hatte, anrief. Er lief 
immer rascher durch unbekannte Gassen und 
stürmte endlich in ein kleines Kaffeehaus, 
aus dessen verhängten Fenstern der trübe 
Schein herabgedrehter Gasflammen drang. 
Hier ließ er sich völlig erschöpft nieder, 
bestellte einen schwarzen Kaffee und harrte 
mit Herzklopfen, ob seine Verfolgerin (denn 
nur eine Verfolgung hatte er wie eine Ge- 
fahr im Sinne) ihn an seinem doch nicht 
ganz sichern Platz erreichen würde. Ais 
der dampfende Kaffee von einem Ober- 
nächtigen Kellner aufgetragen war, zahlteer 
allsogleich, netzte kaum die Lippen mit dem 
hei^n dünnen Getränk und eilte ins Freie. 

[164] 



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Der ganze Aufenthalt hatte nur wenige Minuten 
gedauert. Die Straße war leer. Unter einer 
Laterne stand wieder ein Wachmann. Er trat 

auf ihn zu und — in seiner Nähe fühlte er 
sich sicher — fragte nach dem nächsten 
Einspflnnerstandpiatze. Der Mann — es war 
derselbe, der ihn vorhin angerufen hatte; offen- 
bar war er ihm gefolgt — sah ihn arg- 
wöhnisch an, da aber Alexander mit gut 
gespielter^Qelassenheit ein Zigarrenetui her- 
vorzog, ihm eine Zigarre entnahm und sich 
in aller Ruhe mit dem an einer langen 
Kette hängenden Taschengeräte die Zigarre 
zurecht schnitt, ja den Angeredeten endlich 
gar um Feuer bat, gab dieser alle Einwände 
gegen die verdächtige Erscheinung auf und 
erteilte willig Auskunft. Inzwischen war in 
torkelndem Holpern ein nlcfatbesetztes ein- 
spänniges Fulirwerk herangerumpelt. Herr 
Schreiner rief den schlaftrunknen Kutscher 
an, und erst als die Scheiben der Wagen- 
türen um ihn klirrten, fohite ersieh geborgen. 



|166J 



Um 4 Uhr morgens lag er in seinem Bette. 
Totenstille umfing ihn. Allerlei Gedanken 
schwangen verwirrend im FrOhllcht. Aber 

seine Müdigkeit war größer als ihre Macht. 
Er entschlief, ohne sich, wie ihm von seiner 
Frau angelernt worden war, die Zähne und den 
Mund vor dem Zubettgehen gereinigt zu haben. 

Als Herr Schreiner erwachte, war es 
heller Tag. Ein schrecklicher Gedanke riß 
ihn aus der von dumpfem Kopfschmerz 
begleiteten Schlaftrunkenheit empor. Er 
tastete nach der Uhr: sie zeigte die elfte 
Stunde. Er hatte also richtig verschlafen. 
Was war zu tun? Er klingelte dem Diener. 
Dieser erschien erst nach mehrmaligem 
Läuten. Offenbar hatte ihn die Köchin wieder 
einmal unmittelbar vom Lager holen mOssen, 
auf dem er sich in jeder unbeschäftigten 
Stunde - - und er schuf sich deren nur allzu 
viele — auszustrecken pflegte. »Warum hast 
du mich nicht geweckt^ Kerl ?« schrie den in 
der Türe Zögernden Herr Schreiner an. »Ich 

11661 



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habe mindestens fünfmal geklopft, gnädiger 
Herr. . .« *Was sind das für dumme Aus- 
reden! Du weißt wohl, daß ich unbedingt 
heraus mußU — »Ich habe geglaubt, daß 

der gnädige Herr heute « »Du hast 

gar nichts zu glauben, Trottel!« Und mit 
der Hilflosigkeit eines Kindes sofort in einen 
weinerlichen Ton verfallend, fuhr er fort: 
»Was soll man denn jetzt machen, was soll 
man denn jetzt machen?!« Der Bursch 
erlaubte sich vorzuschlagen, daß er den 
gnädigen Herrn im Amt abmelden würde. 
(Seine militärische Vergangenheit ließ ihn 
immer die Fachausdracke finden.) »Ab- 
melden! Esel!... Aber es geht ja nicht 
anders!« jammerte Herr Schreiner, der sich 
bereits mildem Gedanken, weiter zu schlafen, 
vertraut gemacht hatte. Nur das lästige 
Schreiben erschien ihm als eine irgendwie 
zu umgehende Pflicht... »Out« Der Diener 
wollte sich entfernen. »Halt, dummer Kerl!«, 
brüllte Herr Schreiner. Die rote Physiognomie 

tl67j 



des Bedienten erschien wieder in der Tfir- 

spalte. »Mach die Tür zu und komm her!« 
Er tat es. »Wie du wieder aussiehst! Du 
liast dich gewift wieder von der Mali erst 
wecken lassen N Josef beteuerte seine Un- 
schuld mit der sattsam bekannten Engels- 
miene. »Schweig!« Der Diener wollte sich 
zurückziehen. »Bleib doch!« Josef stand 
steif. Das verwirrte Haar fiel ihm in die 
breite niedrige Stirn. Mit einem Blicke des 
Hasses maß ihn Herr Sdireiner. »Du wirst 
dich anständig anziehen. Nicht in Livree. 
Einen ordentlichen Zivilanzug, runden Hut. 
Aber Handschuhe, verstehst dul« Josef 
verstand. »Fahrst hin und gehst zum Herrn Rat 
N... Zu wem gehst du?« »Zum Herrn Rat 
N.« wiederholte Josef stramm. »Du fragst den 
Bureaudiener, ob du selbst zum Herrn Rat 
hinein darfst. Und wenn er dich angemeldet 
hat, so sagst du dem Herrn 'Ra^ daß ich 
krank bin und heut noch schreiben werde.« 
Der Bursche stand, gewitzigt durch die 

(iGöJ 



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vielen Anrufe, still. »Also gehl Worauf 
wartest du noch ?« Der Bediente verzog sein 
breites Gesicht' zu einem freundlichen 
Grinsen und öffnete langsam die TOre. Er 
war nicht ganz sicher, ob Ihm sein Herr 
schon alles gesagt hätte. Und Herr Schreiner 
überlegte auch. »Nein, es geht doch nicht. 
Ich muß .heraus. Wart nochl« rief er. 
Der Bediente wandte sich triumphierend 
um. »Wart noch! Du kannst dich mittler- 
weile anziehen. Aber sofort und ordentlich, 
hörst duV« Der Diener, froh, jetzt sicherlich 
ans Ende der Unterredung gelangt zu sein, 
verschwand eiligst Herr Schreiner erhob 
sich gähnend, fuhr In die gelben Schlaf- 
schuhe und den über die Stuhllehne ge- 
hängten blauen Morgenrock und schritt 
im langen Nachthemd durch die un- 
geheizten Zimmer. Wahrend er ging, kam 
die ganze Jämmerlichkeit seiner Situation 
wie eine Sturzwelle Spülicht über ihn. Ihm 
war das Weinen nahe. Auf dem Schreib- 



tische standen das Bitd seiner Frau, die Bilder 
seiner Kinder. Er nahm die Photographien 
in ihren Glasrahmen und ktl&te sie metir- 
mais. Dann, als hätte er eine vo^schriebene 
Handlung verrichteti zog er die Lade auf, 
entnahm der Papierschachtel einen großen 
Bogen und setzte die Feder zum Schieiben 
an. Er muüte abermals gähnen; der Krampf 
tat ihm wohl. Er nieste Icräftig. Daft er das 
Taschentuch nicht bei sich hatte^ verdroß 
ihn. Aber er wollte nicht wiederum nach 
Josef läuten. So zog er den Nasenschleim 
hoch, seufzte tief und begann in lang- 
gestreclcten Zügen den Entschuldigung^brief 
an den Amtsvorsteher. Es ging ihm schwer 
vonstatten. Die Uhr zeigte 20 Minuten nach 
Elf. Es war keine Zeit zu verlieren. Er 
beendigte das Schriftstück^ das ihm beim 
Überlesen etwas viel an Unterwürfigkeit zu 
bieten schien, leckte den gummierten Rand 
des Umschlags — natürlich war der 
Markenbefeuchter wieder einmal nicht mit 

[170J 



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Wasser gefüllt! — , schrieb eine umständliche 
Adresse und übergab den Brief dem unter- 
dessen bereits geräuschlos hinter ihm ein- 
getretenen Bedienten. »Du gibst das draußen 
ab und wartest eine Weile. Vielleicht 
bekommst du Antwort, aber es ist keine 
nötig«.«.. Sollte er sich wirklich noch 
einmal zu Bett begeben? Die Sonne schien 
wundervoll warm. Auch verspürte er einen 
nicht geringen Frühstückhunger. Aber was 
blieb ihm denn übrig? Ausgehen konnte 
er doch nicht. . . Seiner Frau schreiben? Er 
verwarf den Gedanken erschreckt Es WOrde 
doch wohl das Klügste sein, sich aus- 
zuschlafen. Auch schmerzte ihn jetzt der 
Kopf heftig. Er warf den Bildern Abschieds- 
blicke zu, denen er einen süß schmachtenden 
Ausdruck gab» und verfügte sich in das 
Schlafzimmer zurflck. Das bedeckte Bett 
Eisens gab seinen Gedanken wieder die un- 
erwünschte Richtung. Auch hatte er sich in 
der Zerstreuung eine Zigarette angezündet. 



[UlJ 



die ihm den Rest der Schläfrigkeit zu ver- 
treiben nur aüzu geeignet schien. Er schleu- 
derte sie weg und warf sich auf das zer- 
wühlte Lager. Er zog di« Decke hoch hinauf 
und schloß die Augen mit Nachdruck. Aber es 
gelang ihm nicht mehr, einzuschlafen. Und 
je länger er lag, um so beunruhigender 
wurden die einander treibenden Gedanken. 
Plötzlich schoß ihm das Blut in die Schläfen, 
so siedend, daß er die Augen Öffnete und 
sich im Bett aufsetzte. »Um Gottes willen, 
wohin soll das führen V« fragte er sich, und 
er wiederholte diese Phrase mechanisch 
mehrmals. Der gestrige Abend, die wilste 
Nacht stiegen wie gräßliche Gespenster vor 
ihm auf. Er kam sich geschändet vor, ver- 
worfen, wie ein Verbrecher. Er griff sich 
an den Kopf. »Wenn jetzt ein Fieber kämel 
Wenn jetzt ein Fieber kämel« flOsterte er. 
Er begann ein Gebet um Fieber an Gott 
zu richten, ein wohlgesetztes Gebet, in 
dem alles aufgezählt war, was ihm zu- 

Ln2j 



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gestoßen sei, und Gott darauf aufmerk- 
sam gemacht wurde, daß er diesen einzig 
richtigen Ausweg aus den Drangsalen 
ihm in seiner großen Güte eröffnen möge. 
Denn ein Fieber, eventuell sogar Lebens- 
gefahr . . . Lebensgefahr I Er frohlockte 
bei der Vorstellung, da{3 man seiner Frau 
ein Telegramm nachzusenden sich genötigt 
sehen wttr^e, daß sie daraufhin umgehend 
zurück zu kommen veranlaßt wäre . . . 
Aber nein, das war ja unmöglich ! So etwas 
konnte nie und nimmermehr geschehen. Im 
Gegenteil. Es mußte immer ärger und 
ärger kommen. Daß seine Frau mit ihrer 
Abreise einen übereilten Schritt getan haben 
konnte, war ihm noch nicht einen Augen* 
blick eingefallen. Jetzt dämmerte etwas 
Ähnliches wetterleuchtend durch sein Gehirn. 
Aber die drückende Schwüle der Atmosphäre, 
das dunkellastende Sichverdichten von Massen 
Uber ihm war gleich wieder vorhanden.... 
Scheidung! Diese Möglichlceii fiel plötzlich 



[173J 



wie ein Wettersclilag auf ihn herab. 
Scheidung I Natürlich I Daran dachte sie* 
Die Abreise war die Einleitung zum Aus- 
einandergehen. Er wand sich in Qualen unter 
der Wucht dieser Vorstellung. Eine lebhafte 
Szene spielte sich vor den Augen seiner 
Seele ab. Er sah sich jammernd, winselnd, 
um Gnade flehend. Dumpfe Wut grollte im 
Hintergrunde seiner Brust Und der Haß 
wollte sich erheben. Da schoben sich die 
lichten Bilder seiner beiden blonden Mädchen 
lautlos an seiner Seele vorbei, glitten langsam, 
wie auf Nimmerwiedersehen scheidend, vor- 
Ober. . Er sah sich auf die Knie stürzen, 
die Hände ringen, hörte seine ohnmächtigen 
Schreie... Er warf die Decke ab. Sein Ge- 
sicht glühte. Aus der Nachttischlade holte 
er einen Handspiegel hervor und betrachtete 
sich lange, eingehend, mit Forschergenauig- 
keit. Wie er aussah! Gedunsen, rot, die 
Augen trüb, glasig, verquollen, das Haar 
fettig, wirr, schütter, an Kinn und Wangen 



Bartstoppeln, die Nase aufgetrieben, die 
Nasenlöcher voll Schmutz. Er schneuzte sich, 
prüfte wie ein Schnupfer das Ergebnis. 

Schmutz. Und so oft er sich wieder schneuzte, 
rußiger Unrat. Sein Blick fiel auf seine 
Finger. Sie waren gleichfalls rot. Die Nägel 
hatten schwarze Ränder. Er hauchte in seine 
Hand. Sein Atem stanic. Er empfand einen 
grenzenlosen Ekel vor seiner Person. Dann 
warf er das Nachthemd ab und eilte in das 
Badezimmer. Der Ofen war noch warm. Er 
ließ das Wasser in die Wanne stttrzen und 
begann sich einzuseifen. Während er das 
Messer am Riemen glatt zog, dachte er so 
lebhaft an seine Frau, daß ihm Tränen in 
die Augen traten. Haß gegen sich selbst 
erfüllte ihn, indem er den Abend, die Nacht 
wieder überlief. Vermingesl Was hatte er 
diesen blöden Kerl treffen müssen ! Natürlich 
die »Gräfin« hatte ihn gelockt! Diese — 
Dirne 1 Und er gefiel sich darin, auf die 
ünbelcannte allerlei Schmähungen zu häufen. 



[175J 



Plötzlich errötete er heftig. Die Küsse jenes 
Mädctiens brannten auf seinen Wangen. Er 
wusch sich mit Gewalt in dem bis an den 
Rand gefällten Becken des Waschtisches, 
ließ die Brause über seinen Kopf gehen^ 
rieb sich immer wieder die Augen, den 
Mund, die Nase. Hoch aufatmend ging er 
ans Rasieren, seifte sich nochmals gründlich 
ein. Seine breite Brust dehnend, zog er die 
Wange mit der Linken übers Kinn straff. 
Er setzte das Messer an. Es ging gut. Kaum 
daß er sich ein Haar aussprengte. Da klopfte 
es. Der Bediente. »Nun ?« »Der Herr Rat 
läßt sagen, er erwarte den gnädigen Herrn 
morgen bestimmt.« »So, danke, es ist gut.« 
Was das bedeuten mochte? Eine böse 

Ahnung stieg in ihm auf Das Frühstück 

verzehrte er in trüben Oedanken. Er aß und 
ad, ließ sich zum Schluß noch ein Qlas 
Sherry reichen, trank es gierig auf einen 
Schluck, trank außerdem zwei, drei Gläser 
Wasser. Die Post hatte zwei Rechnungen 

[1761 



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gebracht und ein Modejournal fOr seine 
Frau. Er zog es aus der Umschlagsschleife. 
Da fiel ihm ein, ob sie wohl jemals wieder 
selbst diese Schleife entfernen würde, hier 
in ihrer Wohnung, bei ihm? — Seine Brust 
ward von neuem bedrüclct von all den 
quälenden, auf Unheil weisenden Gedanken. . 
Er setzte sich an den Schreibtisch und 
schrieb an Else. Er schrieb Bogen um 
Bogen, fast eine Stunde lang. . . Ihm fiel 
ein, daß er nachmittag im Bureau erscheinen, 
daß er alles wieder gut machen könnte. Er 
würde sagen, daß er sich zum Kommen 
gezwungen, sich am Morgen sehr schlecht 
befunden hätte.... Was für eine Krank- 
heit er wohl nennen sollte? Kopfschmerzen? 
Zahnweh ? Er sann auf etwas Erheblicheres, 
unbedingt Mitleid Erregendes. — 



Herr Schreiner hatte es doch nicht aus- 
gehalten. Er war gegen vier Uhr ins Bureau 

gekommen. Ais er sich nach dem Vorsteher 

[177J 



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erkundigte^ erfuhr er, daß dieser sich bereite 
entfernt hatte. Das bedeutete eine Ent- 
täuschung für ihn. Denn nun war sein 

Märtyrergang eigentlich ganz überflüssig 
gewesen. Anderseits war er der Notwendig- 
Iceit enthoben, eine Krankheitsgeschichte zu 
erzähleni bei der ihn die Verlegenheit ge- 
gewiß übermannt haben würde. Lügen war 
seine schwache Seite. Am nächsten Tage 
war die ganze Sache so gut wie vergangen. 
Da biieb nicht viel mehr zu tun übrig, als 
sich einfach zu melden. Freilich mußte er 
irgendwie, ohne aber etwa damit zu prunken, 
anbringen, daß er bereits am Nachmittage 
gel<ommen wäre, Icranic, wie er sich gefühlt 
hätte. Aus Pflichteifer...? Würde ihm das 
jener glauben. Nicht nur eine Komödie ver- 
muten und um so unbarmherziger verfahren? 
Hohn war Herrn Schreiner ja noch lieber 
als die gewisse stillschweigende Nicht- 
beachtung. Cr war nicht ohne schüchternen 
Oirgeiz. Er wollte von Zeit zu Zeit sogar 

[178] 



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als Arbeitskraft hervorstechen, und es ver- 
droß ihn dann, wenn man diese Betätigung 
nicht allzu ernst nahm. Es lastete ein Fluch 
auf ihm. Man wollte ihn nicht als Beamten 
gelten lassen. Und das BOseste an der 
Sache war, daß er sich selbst ja auch 
nicht so recht als Beamter fühlte, wie er 
sich üt>erhaupt immer nur in Rollen und 
Situationen zu »fflhlen« imstande war. Er 
»fühlte steh« als Lebemann, wenn er um 
zwölf Uhr nachts, das Monokel eingeklemmt, 
mit Freunden ein oder das andre Mal im 
Jahr ein Nachtlokal betrat Er »fühlte« sich 
als Reiter« wenn er auf vier Wodien zur 
Waffenübung eingerückt war, »fühlte« sich 
als Sportsinann, wenn er einem Tennismatch 
zusah. Nichts Ganzes kam aus ihm heraus, 
weil er selbst nirgends ganz darin steckte. 
Was war er denn eigentlich? Und er quälte 
sich, wie so oft, eine Formel zu finden 
für diesen unglückseligen, von Launen 
gepeinigten, befangenen und ungeschickten 

12» 

[179J 



Menschen, der er im Grunde war. Gelernt 
hatte er auch nicht allzuviel. Ihm fehlte 

immer da und dort etwas. Er beneidete die 
aristokratischen Jünglinge um den kräftigen 
Schatten, den sie im Leben warfen. Diese 
»hochmütigen Buben«, die, so oft es nur 
irgend anging, ihren bürgerlichen Bekannten 
verleugneten, wenn es zum GrüßL'ii kommen 
sollte, wegsahen oder sich angelegentlich 
schneuzten, diese sehr gut gekleideten »Ach- 
und Krach-Absolventen« von Fortbildungs- 
kursen und Ackerbauschulen, diese Rekord- 
raucher und geborneii Jäger: wie wunder- 
voll sicher waren sie doch alle! Und er, 
Herr Schreiner, der gebildete (war er 
übrigens gebildet?), der vermögende (sie 
war doch eigentlich nur eine halbe Sache, 
seine Verniögiichkeit, zu viel und zu wenig, 
wie man's nahm, jedenfalls nicht genug für 
die »Welt«, für einen Bürgerlichen in der 
»Welt«), der gut Placierte, der Verheiratete, 
der Hübsche, der Elegante (er traute auch 

[ISO] 



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seiner Eleganz nie reclit^ sah sidi immer 
in Wirlclichlceit und »bildlich« prttfend im 

Spiegel an, verglich, argwöhnte, alimte 
nach, verwarf wiederum, wechselte), der 
Wohlgeborene (das kannte ihm doch niemand 
nehmen: er war aus guter Familie, man 
hatte sogar ein Wappen im Hause!), er, er 
war nie etwas, er imponierte niemand, ja, 
er fügte sich nicht einmal gut ein, er stieß 
an, er war im Wege, er gefiel nicht. Das 
war sein größtes Unglück. Er hätte sich 
alles verziehen, wenn er gefallen hatte. Aber 
er gefiel nicht. Seine Eitelkeit ließ ihn das 
immer wieder übersehen. Umso schwerer 
empfand er dann die schlagenden Beweise 
von der Richtigkeit seiner tiefinnerst ver- 
borgen kauernden Oberzeugung. Damals, 
als er der ägyptischen Tänzerin in die 
Garderobe gedrungen war, noch als Gy- 
mnasiast, und sie ihn mit zornflammenden 
Augen hinausgewiesen hatte, während er 
doch wußte, daß allabendlich sein Freund, 

[181] 



I 



der Kadett Oraf Eugen Bodde, ihr bei der 
Toilette Gesellschaft leistetet... Das war ja 
wieder so ein eklatanter Fall, das mit dieser 

Lucia Gorma! Was war sie denn eigentlich? 
Eine alternde Person, ei«e Frau mit Vergangen- 
heit und ohne Zukunft als Weib. Und er war 
doch immerhin Herr Alexander Schreiner mit 
den gerade gewachsenen Beinen, dem schlan- 
ken Hals, der hohen Taille, dem schön geschnit- 
tenen »französischen« Gesicht. Sie war eine 
berühmte Sängerin. Gut. Aber was war 
schlieftlich daran? Man konnte sich seinen Sitz 
bezahlen, und nun saß man da, und sie sang 
vor. Und da sie eine gute Stimme und viel 
Schule hatte und immer wieder sang und die 
Zeitungen sie seit Jahren lobten, kam »alles« 
in diese Konzerte, und man »riß sich« um 
die Billette. Das war ja immerhin nichts 
»Soziales«. Sie war eben doch jemand, der 
für Geld sich auf ein Podium stellt und 
etwas zum besten gibt. Und der und jener 
durfte derweil mit seiner Nachbarin plaudern 

[182] 



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und brauchte gar nicht einmal hinzuhören auf 

diese ältliche Dame, die ein Lied nach dem 
andern herunter sang. Nun sagte man zwar, 
sie habe »Seele in ihrem Gesang«! und so 
weiter. Was sdion diese Zeitungsschreiber 
davon wissen I Seele, Seele t Er konnte das 
nun einmal gar nicht finden. Ja, einen schön 
geschwungenen RUcicen hatte sie. Und über- 
haupt — eine ganz prächtige elastische 
Figur. Und Augen...! Heir Schreiner verlor 
sich In diesen Augen. Sie starrten Ihn aus 
den Winkeln des Zimmers an, sie wuchsen 
aus diesen Winkein hervor, sie Icamen ihm 
naher, sie gingen in ihn hinein... Als er 
sich erraffte, stand in dem einen Winkel ein 
Spucknapf, in dem andern nichts. Spuck- 
näpfCy philosophierte er, stehen eigentlich 
immer hinter all diesen schönen Dingen ... 
Herr Schreiner besah, was auf - seinem 
Schreibtisch sich angesammelt hatte seit 
gestern abend... Gestern abend! — Eine 
Weit lag dazwischen. Er seufzte unwiil- 

1183J 



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I 



kOrlich. Ob die Akten diesen Seufzer mit 

beeinflußt haben mochten, zog er nicht 
weiter in Erwägung. Jedenfalls waren sie 
geeignet dazu! Herr Schreiner war ganz 
unwillig geworden. Es war wirklich zu arg. 
Natürlich hatte man nun gerade ihm wieder 
alles das da hingelegt! Und was noch dazu! 
Da war wieder so eine entsetzliche Konzes- 
sionsgeschichte I Der dickste Akt sicherlich, 
der seit Monaten ins EinreichungsprotokoU 
gelangt war. Und — Herr Schreiner hob 
ihn, der reichlich ein Kilogramm wog, näher 
zum Auge empor — stand denn auch 
wirklich sein Zeichen darauf? War er denn 
wirklich gerade ihm wiederum zugeteilt 
worden? ja. Da stand es. »S« mit Bleistift 
flüchtig geschrieben. Ihm war diese Höllen- 
maschine zugewiesen, ihm ganz allein. Da 
galt kein Zweifel... Cin Gedanke stieg 
In ihm auf^ ein teuflischer, subalterner 
Gedanke. Wie, wenn er dieses Zeichen 
änderte V... Ihm wurde heiß und käli bei 

[184J 



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dem Gedanken. Aber es war ihm wirklich un- 
möglich, sich jetzt durch diesen Akt durch- 
zubeißen. Und er war sicher, daß man ihn an- 
treiben wttrde. Er fühlte sich unf Ahig^ irgend 
etwas zu arbeiten. Mit erneuter Heftiglceit 
drangt durch diese Erwägung herbeigelockt^ 
der Kopfschmerz aus seinem Versteck her- 
vor. . . Aber die seiner arglosen Natur völlig 
unangemessene Niedrigkeit dieser Überlegung 
enthüllte sich auch sofort in ihrer ganzen 
scheußlichen Nacktheit. Er fragte sich mit 
fürchterlichem Ernst, ob er wirklich fähig 
wäre, eine derartige Unerhörtheit zu begehen ? 
Ganz abgesehen davon, daß es ja der reine 
Wahnwitz gewesen wäre, da man unfehlbar 
hätte daraui kommen müssen und das Ärgste 
an maßregelnden Folgen in einem solchen 
Falle zu befürchten stand, ganz abgesehen 
von dieser praktischen Unmöglichkeit der 
Ausführung bei einigermaßen heller Ver- 
nunft, hatte er sich die Frage zu beantworten^ 
ob er, wenn sich dieser Betrug hätte er- 



[l8öj 



möglichen lassen, imstande gewesen wäre, 
ihn zu verüben. . . Ihm schwindelte. Er mußte 
sich an den Schreibtisch halten, obwohl er 
auf seinem bequemen Stuhle saß« Er ver- 
sank ins Bodenlose der menschlichen Ver- 
ruchtheit. Eine solche Möglichkeit war ja 
Grund genug zum Selbstmord! Wenn er 
sich dieser MögUchIceit Überführte, mußte er 
zum Revolver greifen. Denn wo war die 
Grenze? Was für schauderhafte Abgrunde 
schlummerten in seiner Seele V! Er war einer 
Ohniuacht nahe... Und mit eins warf die 
Erinnerung an die entsetzliche Kette wQster 
Geschehnisse der letzten Tage Ihren wachsen- 
den Schatten auf sein zerstörtes Gemflt. Was 
war aus ihm geworden, ihm, Alexander 
Schreiner, dem glücklichen Ehemann und 
Vater, dem guten Sohne, braven Beamten, 
behaglichen Genießer der unschuldigen 
Freuden des Daseins I Ein von seiner Frau 
verlassener Verbrecher, ein von seinen 
Kindern entfernter WUstling, ein Lügner und 

[186J 



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beinahe ein BetrOgerl Dieses >beinalie« stieß 

einen Dolch in sein Herz. Beinahe! Alles 
Im Leben war »beinahe«... Und 
sciiiießlich war die »Ausfttlining« ja Neben- 
sache. Die Möglichkeit war das Furcht- 
bare. An was fUr dünnen, haarfeinen Fäden 
hing man über dem Verbrechen! Wo fing 
denn eigentlich der Wille des Menschen an^ 
wenn solche Dinge möglich waren wie die 
Geschehnisse dieser Tage? Es war gut^ dafi 
der bewußte heitre Kollege erschien, wohl- 
wollend, wie inimer die sind, die sich aiigen- 
bliciüich im Vorteil fühlen, die einen Vor- 
sprung haben in diesem Schnecken-Wett- 
rennen: Bflrgerliches Dasein. Herr Schreiner 
konnte über den Akt jammern, und da war 
die ganze Geschichte wie weggeblasen. Es 
war ja eine Lächerlichkeit; solche Angelegen- 
heiten ernst zu nehmen^ fgu tragisch 1 Und 
Herr Schreiner gewann es, wiewohl mit 
einigem Schaudern, über sich, seine fürchter- 
liche Idee als einen guten Witz preiszugeben. 



[187J 



Er versicherte dem lächelnden Kollegen, daß 

er soeben nachgedacht hätte, ob er nicht 
das Zuteilungszeichen S. in den Anfangs- 
buchstaben P. seines, des Kollegen, Namens 
habe verwandeln sollen. Er stieß dabei 
den Kollegen freundschaftlich in die Seite 
und schüttelte sich vor Lachen. Der Kulkge 
lächelte auch, aber Herrn Schreiner schien 
es, als lächelte er nur ganz äußerlich, als 
faßte jener ihn schärfer ins Auge, als 
sähe er in Kammern voll verbrecherischer 
Möglichkeiten herein. Seiji Lachen brach 
sich. £r fühlte, daß seine Augen ihn ver- 
rieten, daß es in seinem Kopfe zu bohren 
begann. Er war verlegen geworden und 
schwieg. Auch der Kollege, der plötzlich 
eine sehr ernste Miene angenommen hatte, 
schwieg, und man trennte sich, Herr 
Schreiner mit dem Gefühle, daß hier eine 
Erklärung hätte abgegeben werden müssen, 
die — so sagte er sich voll Verzweiflung 
— notwendigerweise mißverstanden worden 

[iböj 



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wäre und deren Mangel doch eine Kluft 
schuf, eine niemals mehr zu überbrückende 
Kluft, wobei er, Schreiner, tief unten am 
Rande des Spaltes und jener jenseits auf 
ragender Höhe saß und — sitzen blieb in 
alle Ewigkeit Er war fürchterlich ver- 

stimmt. Und er wußte sich keinen Rat, als 
auszugetien. Nach Hause wollte er nicht So 
prüfte er seinen Vorrat Im Kasten. Der 
Frackanzug fehlte. Er hatte ihn ja neulich 
abend... neulich abend! er hielt eine 
Zeit lang schaudernd vor diesem Gedanken 
*— an jenem verhängnisvollen Abend, an- 
gezogen. (Denn dieser war es, der erste 
Theaterabend, sagte er sich, wie wenn darin 
eine Entschuldigung gelegen hätte, an deren 
brüchige Stütze er sich zu klammern ver- 
mochte.) So ließ er denn um seinen Diener 
telephonieren mit dem Aufh'äg, alles Er- 
forderliche mitzubringen, und begab sich 
mit Überwindung an die Arbeit. . . Der 
Bediente kam. Herr Schreiner kleidete sich 



[189J 



mit Umständlichkeit um, tränkte seine Taschen- 
tücher — er hatte deren immer zwei bis 
drei bei sich — mit Kölnischem Wasser, 
besah sich aufmerksam mehrmals in dem in 
die innere KastentOr eingelassenen Spiegel 
und verließ nachdenklich, unschlüssig, wo- 
hin er sich wenden sollte, das Bureau. 

Sein Weg führte ihn an dem Hotel vor- 
be\, in dem die Kammersängerin wohnte. Ein 
Wagen hielt auSerhalb der Reihe der dort 
gewöhnlich aufgestellten Mietfuhrwerke. Ihm 
fiel der Wagen ein, den der Baron Fleischer 
damals ihr zu schicken versprochen hatte. 
Und ihn wandelte die Lust an, sich hieher 
zu stellen, in den Schatten einer Anschlag- 
säule, und zu warten. Worauf, wußte er 
selbst nicht. Auf ihr Erscheinen natürlich. 
Denn sie mußte ja Icommen. Es war die 
Theaterzeit Sie wfirde doch nicht zu Hause 
bleiben, diese Vergnügungssüchtige, diese..! 
Er gefiel sich darin, sie mit häßlichen Namen 
zu bewerfen.... Wie er so da stand, sich 

[190] 



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der Passanten wegen ein möglichst unbe- 
fangen-sorgloses Aussehen zu geben be- 
müht, fiel sein müßiger Bück auf die An- 
schlagsäule vor seiner Nase. Irgend etwas 
hatte ihn angezogen, eine Gewalt, der er 
sich unterwarf, ohne ihr nachzusinnen... 
»Lucia Gorma« stand mit den aufdriiiglich 
dicken Lettern, die er so gut kannte, auf 
einem gett)en Plakate gedruckt. Die Ankün- 
digung von neulich. Er buchstabierte den 
seltsam melodischen Namen. Er las mecha- 
niscii weiter. Das Programm. Bei dem Namen 
Schubert fiel ihm der Gehilfe des Klavier- 
spielers ein... Hugo Wolf? So? Hatte sie 
damals Hugo Wolf gesungen? Möglich, 
möglich, sagte er sich. Er hatte ja gar nicht 
acht gegeben .... Preise der Plätze. , . Und 
wiederum stieg sein Blick empor zu den 
unheimlich breiten Lettern Ihres Namens: 
Lucia Gorma. Der I-Punkt war so dick wie 
die Samtballen an einem spanischen Bolcro- 
hute. £r versenkte sich in diesen i-Punkt, 



[iDlj 



der seine Umrisse zu verlieren begann, sicfi 

ausdehnte wie ein verschwimmender Tinten- 
klecks, sich über das ganze Papier dehnte. . . 
Er wandte sich ab. Da war es ihm, als 
hatte er etwas vergessen, als sei ihm etwas 
aufgefallen, das er unbedingt noch prOfen 

müßte. Er Heß in einiger Erregung den Blick 
wieder über die Ankündigung wandern. Und 
auf einmal las er: Heute den 18. März 
halb 8 Uhr abend. . . Heute, den 18. März. . .1 
Um Gottes willen, das war ja heute! Und 
blitzschnell zählte er nach. Es stimmte. Das 
war das zweite, das letzte, das Abschieds- 
konzert Und sie mußte jeden Moment 
herunter kommen. Eine Sh'aßenstanduhr 
zeigte auf ein Viertel nach sieben. 

In dickem Augenblicke wurden die Flügel- 
türen des Hotelflurs weit aufgerissen. In 
einem mit Hermelin besetzten Mantel er- 
schien, an den Handschuhen nestelnd, die 
Kammersängerin. Herrn Schreiner stand der 
Atem still. Es war, als käme sie gerade auf 

[192] 



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ihn zu. Die Füße wurzelten ihm im Boden. 
Sein Herz schlug wie ein Hammer. Das Licht 
der rediten Wagenlateme fiel voll auf ihr 
jetzt olivengelbes Gesicht, die wunderbaren - 
Augen hatten einen weichen, tiefen Schimmer. 
Da traf ihn ihr Blick. Sie stieß einen leisen 
Schrei aus und wandte sich einen Moment 
lang wie nach Hilfe um. Der Hoteldiener> 
der den Wagenschlag hielt, verharrte in 
seiner zuwartenden, ausdruclcslosen Haltung. 
Sie betrat den Wagentritt. . . Auch mit Herrn 
Schreiner war eine Veränderung vorgegangen» 
seit ihn dieser körperhafte Blick berOhrt.hatte. 
Es trieb ihn vorwärts. Mit ein paar mäch- 
tigen Sätzen stand er am Wagen, als 
die Sängerin sich eben darin niederlassen 
wollte. Die vor ihm befindliche Tür auf- 
reißen, sich in den Wagen stürzen, die 
Italienerin ergreifen, war eins. — Sofort kam 
ihm auch die Besinnung wieder. Er ließ die 
Arme kraftlos herabgleiten, er drängte zurück 
wie vor einem Übermächtigen Feind. Aber 

13 

[193] 



scholl hatte jene, indem sie ihn heftig vor 
die Brust stielt, daB er taumelte und — 

er war mit einem Beine bereits außerhalb 
des Wagens — fast hintenüber gestürzt 
wäre, sich mit einem Sprung aus dem 
Coup^ gerettet, eben ais die Pferde sith in 
Bewegung setzten. Der Ruclc erst schleu- 
derte Herrn Schreiner zu Boden. Sogieich 
auch hielt der Wagen wieder. Beide Türen 
standen offen. Neugierige (langten heran. 
Herr Schreiner erhob sich miihsam, putzte, 
heftig Iclopfend, an seinem Oberrocke. Ein 
Icleines Veilchenmädchen hielt den Zylinder. 
Die Gorma aber rief nach einem Wach- 
mann. Der Hoteldiener, ein Liftjunge, ein 
Kellner waren herbeigeeilt Mit empörten 
Gesten begleitete die Sängerin ihre lauten 
Erklärungen. Herr Schreiner putzte weiter 
an seinen Kleidern, empfing mechanisch den 
Huty griff mechanisch in die Tasche, um 
der Kleinen etwas Geld zu verabreichen. 
Ihm war es, als sei sein Herz plötzlich er- 

[194J 



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firoren. Ein Wachmann kam. Herr Schreiner 

stand auf demselben Fleck. Erst als er 
sah; daß die Gorma mit wütenden Gebärden 
auf ihn wies, der Polizist näher trat, machte 
er eine halbe Wendung. Da lag auch schon 
die schwere Hand auf seiner Schulter. Er 
hörte eine Frage an sich richten, er sah, 
wie die Hotelbediensteten sich um die Ita- 
lienerin sammelten, sah die Kopf an Kopf 
wachsende, wogende Menge der Zuschauer, 
sah dem Wadimann in ein ehrliches bärtiges 
Antlitz. Einen Moment tauchten die blassen 
Bilder seiner beiden blonden Mädchen vor ihm 
auf, er sah seine Frau neben sich sitzen in jenem 
Konzert, die feine Profillinie schwebte wie 
ein Schatten von ihm weg. . . Er nahm den 
Hut ab und fuhr mit dem Ärmel an dessen 
Umfang entlang. Dann tat er einen Schritt 
zurück. Plötzlich wanlcten ihm die-Kniee. 
Der Wachmann stützte ihn. »Es ist ein 
Besoffener«, hörte er eine jugendliche Stimme 
aus dem Haufen sagen. Sein taumelnder 

13» 

[19Ö] 



Blicksuchte nicht mehr den Sprecher... 

Nur der Schlag der Wagentüre fiel noch in 
sein Bewußtsein. . . 

Als er wieder zu sich kam, fand er sich auf 
einer Öffentlichen Bank. . . Er wollte sich er- 
heben. Da hielt ihn jemand fest ^ Er wußte 
alles. Da war der Wachmann, drüben die 
Plakatsäule. Noch immer standen, von 
einigen andern Polizisten zurückgedrängt. 
Neugierige scharenweise in der Nähe. 
Höflich fragte ihn sein Begleiter, ob er sich 
kräftig genug fühle, ihm zu folgen. Er bat > 
um einen Wagen und schloß wieder die 
Augen... Ein Einspänner — »Jetzt ist alles 
gleich«, sagte er sich — war herangerufen 
worden« Sie stiegen ein. Das Klirren der 
Scheiben rief ihm die letzte Nacht ins Ge- 
dächtnis. »Sterben! Sterben!« murmelte 
er* • • « • 

% 

9 

Das Verhör war kurz. Man behielt Ihn 

nicht, da ihn ein Beamter agnoszierte. Es war 
ein Schulkamerad; den er seit der Matura 

[196] 4 



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nicht mehr gesehen hatte. Er war in der 

Mathematik einer der besten gewesen. Mit 
einem welimütigen Lächeln drückte er ihm die 
Hand. Mit gemessener Achtung^ in die sich 
Zweifel mischten, öffnete ihm der Wachmann 
die Tttr. Er schritt ins Freie. . . 

Herr Schreiner war entschlossen, sich 
zu töten. Er trat in eine Waffenhandlung, 
in der er beicannt war. Er hatte seine 
Gewehre dorther bezogen. % Man war im 
Begriffe, den Laden zu schließen. Er bat, 
ihm noch einen Revolver zu verabreichen, 
da er morgen früh verreisen müsse. 
Auch ließ er sich die Waffe laden und sah 
gedanlcenvoll zu. »Sie schreiben das auf die 
Rechnung«, sagte er und grQßte. Den 
Revolver aber steckte er in die Hosentasche. 
Er vernahm noch, wie die Rolläden donnernd 
herabgelassen wurden... 

Sein Weg führte ihn an einer hell- 
erleuchteten Einfahrt vorOber. Er kannte 
diese Einfahrt. Hier fand das Konzert 



[197J 



« 



statt. Noch immer fuhren Wagen vor. Er 
muftte eine Zeitlang warten, eh er weiter 
schreiten Iconnte. Da stand er^ den Zylinder 

in die Stirne gedrückt, müd, unsäglich 
müde. Wo war sein Haus, wo war die 
Weit?. . • Die Laternen ilacicerten im Winde. 
Neugierige drängten ihn vorwärts. Er stand 
in der Einfahrt selbst. »Voll, das Konzert?« 
wandte er sich mit stumpfem Grinsen 
an den Portier. >Ah natürlich, mein Herr. 
Ausverkauft« Herrn Schreiner beschiich 
eine lächerliche Scham, hier stehen zu 
mitesen, während, mit aufgehobenen Röctcen, 
Damen, den Kopf noch unwillkürlich ge- 
beugt, wie sie den Wagen verlassen 
hatten, an ihm vorbeieilten. . . Da grttAte ihn 
jemand. Der Freund aus dem Kaffeehause* 
»Auch ins Konzert?« Etwas in Herrn 
Schreiner sagte: »Ja.« Der Freund schob 
seinen Arm unter den seinen. »Die Geschichte 
hat schon langst angefangen. • . Wo hast du 
deinen Platz?« Herr Schreiner murmelte, er 

[198J 



* 



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habe soeben bemerkt, dafi er $ein Billett 
vergessen fafitte. »Wie ärgerlich!« meinte 

jener. »Aber wenn du schon da bist^ — 
du bist ja ohne Frau? Geh wenig- 
stens auf eine halbe Stunde hinein. Nimm 
dir eine Eintrittskarte in den Saal.« Er 
zog ihn vorwärts und wiederholte: »Wenn 
du schon da bist« ... In der Garderobe 
half ihm jemand aus dem Mantel. »Es wäre 
ja wirklich schade, wenn du nach Hause gehen 
mftfitest. Und du bist gar im Frack. Immer 
nobell« Herr Schreiner lächelte ein mOdes 
Lächeln. »Hast du den Abend irei?« Herr 
Schreiner l^lagte über Kopfschmerzen, irgend- 
eine Teufeisfratze neben ihm oder in ihm 
grinste und kicherte vernehmlich. »Du solider 
Ehemann, nur keine Ausrede,« wehrte der 
Freund ab. >Wir drah'ii heute einmal zu- 
sammen.« ...Das Ohr an die Türe gelegt 
standen die Saalhüter. Ein sonderbares Ge- 
räusch wie von vielen starken Flügeln über 
einem Weiher ließ sich vernehmen. »Die 



[199] 



klaischen sich schon jetzt die Hände wund,« 
sagte der Joviale. Und nun wurden sie ein- 
gelassen. Herr Schreiner schritt hinter dem 
andern Herrn, als gehöre er zu ihm. Als 
dieser an seine Banicreihe gelangt war und 
sich mit einem unehrlichen, verbindlichen 
»Ich würde dir sehr gerne meinen Sitz ab- 
treten « an ihn wandte, fiel ihm 

erst ein, daß er überhaupt Icein Billett ge- 
löst hatte. Der Saaldiener sah ihn fragend an. 
»Ich habe meine Karte vergessen,« sagte Herr 
Schreiner. »Besorgen Sie mir einen Stehplatz.« 
Und er drückte dem Diener ein größeres Geld- 
stück in die Hand. Dieser hatte den Herrn im 
Frack längst eingeschätzt und lächelte ver- 
ständnisinnig. Herr Schreiner stand im Ge- 
dränge, das, nachdem ihn der Bedienstete ver- 
lassen hatte, sich enger um ihn zusammen- 
schiofi. Er sah eine große Anzahl von mehr oder 
minder gepflegten Hinterköpfen. Auch stieg ihm 
der Geruch dieser vielen, nicht allzu reinlichen 
Menschen peinigend in die Nase... 

[20oJ 



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Eine Bewegung ging durch die Ver- 
sammlung. Man klatschte stürmisch. Lucia 
Gorma stand auf dem Podium und ver- 
neigte sich, lächelndi immer wieder. Sie 
trug eine fliederblaue Toilette mit reicher 
Goldstickerei. Herr Schreiner verbarg sich 
instinktiv hinter dem Rücken eines lang 
aufgeschossenen studentisch aussehenden 
jungen Menschen mit wOster Mähne. Die 
Kammersängerin wendete sich mit einem 
leisen Zeichen an den Begleiter. Sie hatte 
die Hände vor dem übermäßig eingeschnür- 
ten Leib ineinander gelegt und neigte sich, 
als sie zu singen begamii indem sie den 
Mund rundete und die Augen bis hoch unter 
die Lider steigen lieB^ mit den vorquellenden 
Brüsten gegen das Publikum. Sie bewegte den 
Oberkörper wiegend hin und her und preßte 
dabei ihre Arme dicht an den Rumpf. Herr 
Schreiner sah sich selbst auf dem Podium, 
er sah seine Frau Im jetbesetzten schwarzen 
Setdenkleid, er maß die Entfernung des 



1201] 



Standplatzes der Sängerin von dem Sitze, 
den er damals eingenommen hatte. Dabei 
hatte er sich etwas vor- und seitwärts ge- 
drängt. Ein dicker Herr trat atemholend einen 
Schritt zurüclc. Herr Schreiner stand in 
einer Lücke. . . .In diesem Augenblicke war es 
ihm, als hätte ihn Lucia Gorma bemerict 
Er zitterte vor Aufregung am ganzen Leibe, 
Der Angstschweiß trat ihm hi großen Tropfen 
auf die Stirne. Nein. Noch nicht. Aber 
jetzt. . . Und eine Art Fieber schüttelte ihn 
soy daß sein Nachbar itu befremdet ansah. « 
Er versuchte zu fächeln. . . 

Plötzlich brach die Sängerin jäh bn Gesang 
ab. ihre Augen schienen etwas Entsetzliches 
wahrzunehmen. Herr Schreiner, der sich 
gewissermaßen an seinem Revolver in 
der Tasche hieit^ sagte folgenden Satz 
halblaut, wie ein Irrer, vor sich hin: | 
»Jetzt ist alles aus. Sie wird schreien. 
Sie wird auf mich zeigen. Sie wird auf 
mich zeigen. . .1« 

1209J 



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Des Publikums bemächtigte sich eine große 
Unruhe. Die Kammersängerin lehnte an dem 

schwarzen Flügel. Der Klavierspieler stand 
mit verlegener Miene neben ihr. Die Personen, 
die auf dem Podium ihre Plätze hatten, 
rUclcten mit den StQhien. Ein Herr mit einer 
Glatze und Pockennarben erhob sich und 
bot der Italienerin seinen Sitz an. Sie dankte 
mit einem ihrer automatischen schmeicheln- 
den halben Blicke . . . Herr Schreiner trat 
jemand auf den Fuft und kehrte sich be- 
flissen um. Der Jemand sah ihn grimmig an 
und grinste dann. Die Bewegung Herrn 
Schreiners schien sich Lucia Gorma mit- 
zuteilen. Sie wandte sich mit einer rühren- 
den Gebflrde an den pockennarbigen Herrn 
und fahrte ihr Taschentuch mehreremale an 
den Mund, und. . . — in Herrn Schreiner stand 
alles Leben still — der pockennarbige Herr 
lenkte suchend seine kurzsichtigen Augen 
nach seiner Richtung. Nun hob die Gorma 
leicht den zu einem Viertel etwa entblOfiten 

[203j 



vollen Arm. Der Herr streckte seinen Kopf 
vor, wie eine Schildkröte den ihren aus dem 
Gehfluse streckt. Ein zweiter Herr, unter- 
setzt und mit einem rötlichen Vollbarte, hatte 
sicli halb fragend von seinem Platz erhoben. 
»Jetzig jetzt,« murmelte Herr Schreiner 
zwischen den Zähnen. Der Herr mit dem 
rötlichen Vollbarte war noch nicht ganz ein- 
geweiht, worum es sich handle. Da trat 
Lucia Gorma einen Schritt der Rampe näher. 
Eine Ewigkeit schwang sich mit dem Surren 
einer Mficke aber Herrn Schreiner hin. Seine 
Augen hielten die Sängerin mit dem Ausdruck 

eines Ertrinkenden Und im Moment, 

als alle drei Küpfe sich wie auf Stielen nach 
ihm hin drehten und ganz genau sich auf ihn 
einstellten; hatte er^ wie zur Abwehr, den Re- 
volver herausgerissen, hoch gehoben und los- 
gedrückt. . . Mit einem gellenden Schrei brach 
die Italienerin zusammen. Jetzt erst hörte Herr 
Schreiner den Schuß und zugleich das Pol- 
tern vieler hundert StDhle. Rechts und links 

[804] 



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fühlte er sich ergriffen. Mit einer über- 
menschlichen Kraft faßte er nach der linken 
Brusttasche, in der sein Portefeuille steckte, 
das die Bilder seiner Frau und seiner Kinder 
enthielt. Die Finger auf diese Stelle, die 
sich hart anfühlte, gepreßt, schweigend, ließ 
er sich von vielen Fäusten vorwärts stoßen, 
dem Ausgange zu... 



[205i 



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Ein Capriccio 



An Wilhelm von Scholz 



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»Sie haben den Cölestin Merkel gekannt, 
Baronin, der neulidi gestorben ist?« 

»Ja, flQciitig. Eigentlich gar nicht. . . Sie 
waren ja gut mit ihm?« 

»Out! Wenn Sie wollen... Obgleich ich 
eigentlich mit niemand oder — mit jeder- 
mann gut bin...€ 

»Also ist das kein Unterscheidungsmerk- 
mal?« 

»Eigentlich nicht.« 

»Aber was wollen Sie von Herrn Cölestin 
AAerkel erzählen? Denn Sie wollten doch 
etwas erzählen ?€ 

»Erzählen V Ich wollte nichts Bestimmtes 
erzählen, Baronin.« 

»Also erzählen Sie Unbestimmtes!« 

»Befehlen Sie wirklich?« 

»Aber natOrlidi. Ich bitte Sie, es ist ja 
so unsäglich langweilig heute... Pst! Man 

14* 

[211J 



darf das die gute nicht merlcen lassen. 
Sie nimmt solche Aufrichtigkeiten leicht itbel.« 

»Hat die Gräfin unrecht, wenn sie 
sie Obel nimmt?« 

»Nein. Bei Gott nicht I Ich würde mich 
auch dafür bedanken als Hausfrau.. •€ 

»Was Ihnen^ gnädigste Baronin. . . « 

» . . . nichl passieren kann, wollen Sie sagen, 
Herr v. Radomanskil Ersparen Sie sich derlei 
Konventionalitätenl Ich gähne so schon oft 
genug.« 

»Sie sind heute ungnädig, Baronini« - 

»Finden Sie? Ich weiß nur, daß ich es 
werden müßte, wenn ich gezwungen würde, 
noch lange mit Ihnen so zwecklos Konver- 
sation zu machen... Aber laufen Sie mir 
nur ja nicht weg I . . . Verstehen Sie mich doch ! 
Ich will hören, aber nicht reden. Sie sprechen 
mit zu vielen Fragezeichen.« 

»Ich werde Ihnen also, Baronin, von 
Colestin Merkel erzählen.« 

»Aber natürlich 1 Auch von seiner Schwester 

[212] 



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und seiner Tante, wenn Sie wollen. Nur 
fragen Sie mich niclit um meine Meinung 
oder ob ich das und jenes vielleicht schon 
wußte! Erzählen Sie gut, spannend, lebendig, 
aber nicht emotionierendl« 

Ach werde mich bemühen, Ihren Anforde- 
rungen gerecht zu werden, Baronin I« 

»Gutl Bemühen Sie sich, Herr v. Rado- 
manslcil« 

Baronin Micki lehnte den in der Mitte ge- 
scheitelten feinen Kameenkopf mit einer unsäg- 
lich müden^ graziösen Bewegung in den tiefen 
grOnen Lederlehnstuhl zurttck und streckte 
Ihre schmalen, in weißen, mit Spitzenentre- 
deux reich besetzten Strümpfen und weißen 
Atlashalbschuhen wie Konfekt verwahrten 
Füßchen gegen einen großen bauschigen 
dreifarbigen Fußpolster aus. Herr v. Rado- 
manski rttckte den Polster zurecht. Ein leises 
Heben und Senken des zarten Kinns war die 
dankende Antwort. 

>COiestin Merkel ist an gebrochenem 



[218J 



4 



Herzen gesloriieii.. . Lficheln Sie nicht» 

Baronin! Kann ein dicker Mensch nicht an 
gebrochenem Herzen sterben? Natürlich war 
auch ein akutes Leiden da. Aber das ist 
Nebensache. Tatsächlich ist er doch an ge- 
brochenem Herzen gestorben... Wanioi? 
Ja, das ist eben die Geschichte. . . Sie haben 
ihn gelcannt In seiner Glanzzeit freilich, 
damals, als er noch der Schöne hieß: 
»Philipp der Schöne.« Er schrieb sich in 
diesen Tagen Cölestin Philipp Merlcel. Im 
»Institut« war das freilich dann sein Spitz- 
name Sie wissen, daß er auch ein 

Verhältnis mit der Gräfin Mitzi Kiuinerstatt 
hatte. . .Belieben Sie sich zu erinnern, Baro- 
nin. . .Seine Glanzzeit also. Er war reich, er 
war schön, er hatte ein stadtbekanntes Ver- 
hältnis mit einer Gräfin. Und diese Gräfin 
war ehie große Dame. . . Sie lächeln? Netn, 
nebi, Baronin, sie war eine große Dame. 
Daran konnte auch unser armer Cölestin 
nichts ändern. Obwohl er sie eigentlich 

[2UJ 



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niemals — kompromittierte. Eine große 
Dame darf kein Verhättnis haben, das sie 
absolut nicht kompromittiert. Das ist zu 
harmlosy also fast geschmacktos. Nicht wahr, 

Baronin. . . V* 

»Lieber I4err v. Radomanski! ich iiatie 
Sie doch gebeten, nicht Fragen an mich zu 
richies...« 

»Habe ich Sie etwas gefragt, Baronta...? 
Ach, pardon, ich soll ja nicht — fragen!. . . 
Also weiter! Cölestin war, wie gesagt, der 
Liebhaber der schönen <jräfiin Mitzi...« 

»Nim, wissen Sie, schOn....?« 

»Sie belieben Ihr Prinzip zu brechen, 
gnädigste Baronini« 

»Wieso?« 

»Sie bemerkten soeben...« 
»Darf ich nichts bemerken?« 

»O, bitte, soviel Sie wollen I Aber ich 
habe geglaubt. . . * 

»Das war ein Aberglaube... Nur fragen 
sollen Sie mich nicht. Das ist so ISstig.« 



[216J 



»Sie wünschen also, Baronin 

»ich wünsche nichts, ich habe nur gesagt: 
Schön...?« 

»Also nicht einmal das wollen Sie der 
armen Gräfin zugestehen?... Ich für meine 
Person versage mir jedwedes eigene Urteil. 
Aber für Cölestin darf sie doch schön ge- 
wesen sein?... Nicht?... Und ich glaube, 
daß auch andre. ..< 

» Geschmacicssache. « 

»Gewiß. Aber Sie müssen zugeben, daß. . . 
Übrigens verlange ich gar nichts. Gräfin Mitzi 
zählt nicht mehr. Sie hat sich selbst über- 
lebt. Sie ist nicht einmal eine große Dame 
mehr. Fassons la dessus. . .Cölestin warder 
Sohn eines Triester Großkaufmannes. Er 
hatte in seiner Jugend alles. Nur Iceinen 
Namen. Das war der Schmerz seines Lebens. . . 
Begreifen Sie das, Baronin?. . .Nicht wahr? 
Man ist jung, man hat ücld, man hat ein 
distinguiertes Air, man liat Verbindungen, 
andrerseits Iceinerlei lästige Verwandte, aber 

[216J 



keinen Namen I Ist das nicht traurig?... 
Cölestin dachte ernstlich daran, sich adop- 
tieren zu lassen. Es gelang ihm nicht Es 
ist das nicht so einfach... So tröstete er 
sich denn mit seinem Viererzug, seiner Loge 
in der Oper, seinem Kammerdiener — er 
besaß einen, den der Prinz von Leans wegen 
Diebstahls entlassen hatte; unterschätzen 
Sie dieses Moment nicht! — , tröstete sich 
mit seiner Gräfin. . .Eines Tages lernt Coleätin 
eine kleine Putzmacherin kennen. Sie ge- 
fallt ihm. Er lädt sie ein. Sie soupieren 
zusammen. Sie gefällt ihm noch besser. 
Und — « 

»Machen Sie nicht so unanständige Pausen !« 

»Sie mi^verkennen diese Pause, Baronini 
Sie war sehr anständig. Cölestin hat die 
kleine Putzmacherin — geheiratet.« 

»Ach, das hab" ich ja gar nicht gewußt!« 
»Wenige haben das gewußt. Erlauben 
Sie...?« 

»Bittet« Er schob den Polster diesen 

[217] 



* 



PorzellanfUßchen bequemer, im spiegelblanken 
Saale neben ihrer UchtgecUmpften Ecke 
wogte ein "Walzer. Wei6e Seide^ weifte 
Seide. Sie sahen miwiUkttrlich beide hin- 
über. . . Ein Diener k^m mit Eis. . . 

»Sie werden fragen: Warum hat Cölestin 
diese Person geheiratet V Ja. Das ist das 
Leben... Sie mflssen nflmlich wissen^ Baro- 
nin, daß die Pause — eine übrigens aus- 
gefüllte Pause — sehr lange währte. Fünf 
Jahre fast. . . Wie sie ihn gewann V. . .Ja — , 
wie gewinnen die Frauen die Manner V Eine 
Preisfrage. Sie war nicht hübsch. Sie war 
nicht eben wohlerzogen. Sie war eine 
junge Putzmacherin. Aber sie war eine 
kluge Putzmacherin. Sie hatte den Ehrgeiz, 
Frau Merkel zu werden. • .Und Cölestin war 
in den fünf Jahren, da sie üui an ihrem 
Zauberfädchen hielt, älter geworden, älter, 
dick, — ja, dick ; er hatte immer zum Embon- 
point geneigt aber nun war seine Neigung 
erwidert vollüihalfüch ertiOrt worden, — Und 

[ai8] 



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Cölestin war nicht mehr reich. Er hatte 
enorme Schulden kontrahiert. Sein Vater, der 
Großkaufniann, war gestorben. Er scheint 
auch ein wenig zu gut gelebt zu haben, der 
Oroßlcaufniann. Kurz, COleslin war auf eine 
mediokre Rente gesetzt. Er tiatte keine Loge 
mehr, keinen Viererzug und keine Gräfin... 
Les iiaisons... Sie wissen, Baronin...! £in 
diclcer Cölestin ohne Viererzug, ohne Loge, 
ohne Geld, ohne Grafin... Und die Putz- 
macherin besaß den Ehrgeiz^ Frau Merkel 
zu werden . . . 

...Sie erraten, Baronin, was einem ele- 
ganten Offizier abrig bleibt, der eine kleine 
Putzmadierin geheiratet hat. Er geht. Cölestin ^ 
ging. Er wurde ... Ja, was wurde er denn ? 
Zunächst eigentlich nur Oberleutnant in der 
Reserve. S|>ater Agent. Ich weift nicht mehr, 
In welcher Branche. Sie Iflchebi, Baronin? 
...Wie grausam I... Sie lädieln, wenn Sie 
sicii Piiilipp den Schönen als Agenten vor- 
stellen. . .Was sind wir, Baronin V Sic transit 



|219J 



. . . oder zu deutsch : Es kann jeder auf den 
Hund kommen. Das heißt, es gibt Menschen, 
die gewissermaßen das Zeug dazu besitzen . . . 
Und doch. Bedenken Sie, Baronin, die Sie 

also grausam lächeln ! Cölestin Philipp Merkel 
und seine Aspirationen! Cölestin und sein 
Qiaube an sich selbst! COlestin und seine 
stolzeMutter ! . Hier wird dieSache tragisch. . . 
Ich habe seine Mutter nicht gekannt. Aber 
ich war auf dem besten Fuße mit ihm, als 
sie starb. Sie starb fern von ihm im Süden. 
Er erhielt sogar das Schreiben verspfitet, das 
ihn an ihr Krankenlager berief. . . Er war 
nicht mehr der glänzende Cülestin damals, 
wenn auch noch immer ein Mann der großen 
Weit. . • Sein Schmerz war aufrichtig. Und 
damals erzählte er mb- auch, wie seine 
Mutter an ihm gehangen hatte, wie sie einst 
stolz auf ihn gewesen war, was sie für Hoff- 
nungen in ihn gesetzt hatte. Er war ja hübsch 
gewesen, talentiert, reich, er hatte Verbindun- 
gen besessen. . »Damals habe ich COlestin fast 



[230] 



liebgewonnen. Wir sind so schwach, Baronin 1 
Wir verwechseln das egoistische Mitleid, das 
entsetzt eigene Schicksale kombiniert^ mit 
der Zuneigung... Ich kann es ja sagen- 
ich habe mich über den schönen Philipp oft 
und oft lustig gemacht Ich war einer der 
Ärgsten, wenn es gal^ Anekdoten aufzu- 
bringen, die von seiner Aristokratenjägerei 
handelten, seinem Grafensport, seinen berühm- 
ten »Freundschaften«. Ich habe das böse 
Wort geprägt: »Wenn Cölestin jemand 
von uns »aus Versehen« gegri^t hat, hat 
er bereits einen Rechtstitel erworben.« 
...Aber ich gestehe, damals, als der dicke 
Cölestin vor mir saß, in seiner nicht sehr 
soignierten Bluse, unrasiert, fahl, vor seinem 
Schreibtisch, wo neben seiner Gräfin seine 
Mutter stand, ...damals hab' ich ihm sehr 
gerührt die Hand gedrückt und mich 
sogar ein wenig geschämt. . . Was bei mir 
etwas heißt, Baronhi, nicht wahr?... 
Also, wo blieb ich denn ? Ja, beim Agenten. . . 

f22lj 



Cölestin hatte sich zurückgezogen. Erhesaft 
den Takt — eigentlich besaft er immer Takt 
— » uns nicht mehr aufzusuchen, seit er — 

Ehemann und Agent geworden war. . .Als er 
noch Reserveoffizier war, nur Reserveoffizier, 
besuchte er den einen oder den andern von 
uns. . • Später nicht mehr. Er schehit nicht 
mehr allzu herzlich akzeptiert worden zu sein, 
seit er — sagen wir: keinen Kammerdiener 
mehr i>esa6. Ich glaube, als er sich von diesem 
trennen mußte, hat er Tränen vergossen. 
Vielleicht hat er um den alten Pius — er 
hieß nämlich Pius, der Strolch, und bestahl 
ihn, daß es eine Passion war — , vielleicht 
bat er um den alten Lumpen mehr Tränen 
vergossen als um seinen Viererzug..., jeden- 
falls mehr als um Gräfin IMitzi, die ihn schon 
längst, ehe sie offiziell miteinander gebrochen 
hatten, ganz sans g^ne betrog. . .Bitter mag 
es fttr COlestin gewesen sein, daß sein Nach- 
folger bei Gräfin Mitzi auch Phis »erbte« — 
ich darf mich doch so ausdrücken? Der alte - 



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Spitzbube wird nicht ermangelt habeni seinen 
dicken Herrn vor dem entmenschten Paare 
ztt ▼eranglimpfen. So sind diese Kanaillen . . . 

Ja, was soll ich Ihnen noch erzählen, Baronin V 
... Ob er Kinder hatte, Cölestin ? Nein, das 
blieb ihm ers|>art Aber eins hatte ihm das 
Schicksal noch aufbewahrt Auch die Putz- 
macherin betrog ihn. Ob er's je erfahren 
hat, weiß ich nicht. Aber einer von uns 
brachte die Neuiglceit in den Klub, und es 
wurde viel gelacht. Ja^ ja, gelacht, Baronini 
Obwohl Ich meiner Ehre schuldig bin, Ihnen 
zu beteuern, daß ich damals nur — ge- 
lächelt habe.« 

»Und wieso ist denn eigentlich dieser 
drollige Kauz an gebrochenem Herzen ge- 
storben ?« 

»Baronin, Sie sind entsetzlich I Wieso?! 
Ja, genügt Ihnen das alles nicht?« 

»An gebrochenem Herzen zu sterben...?« 

»Ja, wenn Sie dieser Auffassung nach 



[328] 



dem Erzählten noch nicht geneigt erscheinen, 
Baronin, dann muß ich freilich bekennen, daß 
er einer — Gedarmverscblingung zum Opfer 
fiel.« 
»Pfui!« 



4 



[88*1 



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I 



LILl 

Eine Antagagescbicbte 



15 



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An Hermann Hesse 

t5» 



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Dann war der Abschied gekommen. Pflr alle 
diese Liaisons in den Badeorten kommt 

ja einmal der Tag des Abschieds. Er war 
tieimgereist Da war er nun wieder zu Hause. 
* . .Anfangs war er wie versciiQttet £r ging 
umlier, legte die Dinge vor sicti tiin^ sah sie 
an, geistesabwesend, fremd, sprach mit den 
Menschen, denen er begegnete, über AlUäg- 
lichiceiten mit einer fernen^ Idanglosen Stimme. 
Stundenlang saß er Uber einem Buche, dessen 
Seiten er nicht umblSiterte. Er hatte sein 
Jus wieder vorgenommen und wollte durch 
intensives Lernen alle andern Gedanken ver- 
scheuchen. Aber ihm war, als ginge irgend- 
wo etwas vor, das er unrettbar versftumte, 
und gequält Vang er mit der Unaufmerk- 
samkeit, den ängstlichen Gedanken. Cr 



[229] 



1 



war in der letzten Zeit, der des höchsten 
Paroxysmus seiner Liebe zu Alice, roh und 

brutal gewesen^ jetzt wurde er immer stiller, 
fast einsilbig, scheu. Alles ekelte ihn an, 
die gewohnten Gesichter, die er vergessen 
hatte, die regelmWgen Tagcsgeschehnisse: 
das Leben war ihm eine Last. Er war zu 
gar nichts fähig. Manchmal schrieb er Briefe, 
manchmal Verse. Und mit fieberhafter Un- 
gedttid harrte er auf Nachricht — von ihr. 
Er erhielt sich in eüiem zitternden Erwarten 
des Wiedersehens, an das er doch wieder 
nicht glaubte, weinte oft, wenn er ganz 
allein war. . . 

Einmal fuhr er, wie er des Ottern tat, auf 
seinem Rad ins Freie. Es war ein kflhler 
Augustabend. Tagsüber hatte es mehr- 
mals geregnet. Er glitt über den Kiesweg 
unter tropfenschweren iCastanienbäumen, an 
tiraunen Feldern vorilber. Sein gleichglltiges 
Fahrtziel war diesmal »die Abtei«. Sie lag ^ 
eine Stunde vor der Stadt, hinter dem Villen- 

[230] 



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viertet. Knapp vor der großen Brflcke Uber 

den trägen gelben Fluli, unterhalb der Wein- 
berge sprang er ab und richtete etwas an 
den Pedalen. Da ging ein Mädchen an 
ihm vorbei. Er sah auf. Plötzlich fiel ihm ei», 
daß er hatte großen sollen. Aber sie war 
schon weiter gegangen. Er blickte ihr nach. 
Sie hatte ein moosbraunes dünnes Cape 
um die Schultern und ein dunkles glattes 
Kleid an. In den Händen hielt sie nichts. Die 
Gestalt erschien frei, selbstbewußt getragen. 
Sie hatte sich nicht umgesehen. 

Zwei Tage darauf fuhr er wieder zur Abtei. 
Er hatte die Erscheinung längst vergessen. 
In der Nähe der Brücke fiel ihm das Mädchen 
ein. Er erinnerte sich, daß hinter der BrUcke, 
vor dem kleinen Tannenwalde, die einfache 
Villa ihrer Eltern läge luid daß er als 
Kind mit seiner Cousine unter den hoben 
Pappeln des Vorgartens mit Lili gespielt 
hätte. Sie war die einzige Tochter zurück- 
gezogener Leute, unter drei Geschwistern 



[231] 



das älteste, eine kleine fflrsorgliche Haus- 
mutter. Er entsann sich ihres widerspen- 
stigen, mürrischen, oft rauhen Wesens, ihrer 
dcbnippischen Kinderworte> ihrer hochrntttig- 
ttnartigen Gebflrden. Er stieg vom Rad^ und 
indem er es sorgh'ch Ober die den Weg 
-Säumenden Steine hob und an der Lenk- 
stange mit der Rechten weiter führte, schaute 
er Ober die Latten in den dunkeln Garten 
hinein. Er hegte die unbestimmte Hoffnung, 
das Mädchen wieder zu erblicken. Und jen- 
seits der Wiese, unter dem hohen kleinen 
Eisenbaikone der einstöckigen Villa, sah er 
wirklich ein weißes Kleid. Sie war es. Sie 
hielt ein Buch und eine Rakettasche und 
bückte sich von Zeit zu Zeit freundlich zu 
einem kleinen Kinde, das einen großen zot- 
tigen Hund hinter sich her zog. Er blieb 
stehen und wartete, bis sie vorOber käme. 
Sie kam mit Ihren sichern leichten Schritten, 
in einem weißen Blusenkleide, ohne Hut, 
das blonde, feine Haar in spärlichen Kräu- 



[232] 



sein um die freie, reine Stirn. Wie sie sich 

mit einer heitern, nicht allzu hohen Stimme 
in sanfter Güte zu dem blassen freund- 
lichen Kinde niederbogt bewunderte er die 
wohlgefälligen Wendungen ihres geschmei- 
digen, ungemein zarten Körpers und die 
ruhigen halb geschlossenen Lider mit den 
laitgen Wimpern. Sie ging ganz nah am 
Lattenwerk und an ihm vorüber, und da 
er sie unverwandt anstarrte, mochte wohl 
sein Bliclc ihre Augen getroffen haben: 
sie sah zu ihm her, mit jenem hoch- 
mütig abweisenden Ausdrucke, den er an 
ihr, wenn sie Icaum danlcend an ihm vorbei 
schritt, schon vor Jahren bemerkt hatte. Er 
wurde verlegen und griff nach der Kappe. 
Sie wandte sich ab, als ob sie ihn nicht be- 
merkt hätte, beschleunigte aber ihren Schritt 
und bog um das Haus. 

Unmutig bestieg er sein Rad und fuhr 
heim, als ob sein Ausflug nur ihr gegolten 
hätte. Als er wieder neben den Feldern 



[238] 



I 



glitt, fiel ihm Alice ein, und nacli Hanse 
gekelirt, sclirleb er ihr einen vierzehn Seiten 

langen sehnsüchtig - klagenden Brief nach 
Ungarn, wo er sie seit kurzem bei einer 
Schwägerin wußte. Das war an einem Frei- 
tag gewesen. 

Sonntag vormittag, als er im Garten mit 
Lina, der Cousine, saß, nachdenklich über 
einem Paragraphen desPrivatrechtes, zwischen 
den zahnen in einem goldbeklebten Papier- 
spitz eine Zigarre, sagte das Mfldchen, 
plötzlich von seiner Stickerei aufblickend, 
beide Hände auf den Knien: 

»Harry, möchtest du nicht einmal mit mir 
zu Arendts hinaus? Die Liii kennst du ja 
noch aus der Kinderzeit. Wir hatten dort 
eine hflbsche Tennispartie. Wolf, der älteste 
von den Buben, soll gut spielen. Die Lili 
hat mich öfters aufgefordert^ ich liabe nie 
daran gedacht« 

Und so kamen sie Montag, einhalb fOnf 
Uhr, an einem trüben Septembernachmittage, 

[234J 



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sie im Wagen, er auf dem Rade, bei Arendts 
an. Die Mama saß im geräumigen Garten- 
zimmer, die Tür zum Balkon stand offen. 
Ein Dienstmädchen in saubrer Schürze 
deckte einen großen Famiilentisch. Die 
Mutter empfing ihn herzlich. Sie rief nach 
Lili. Der kleine Otto sprang herein, wurde 
auf den Schoß genommen, zappelte aber 
baid ungeduldig und idetterte hinabi da 
er die Tennisldnder zu holen beauftragt 
war. Lili kam. Sie erschien Im Zimmer 
größer. Sie gab ihm ruhig die Hand. Ihre 
Augen waren blau. Die langen, feinen 
Wimpern und die bogenförmigen Brauen 
unter der Intelligenten gewölbten Stime, der 
kleine^ nicht zu rote Mund, die schmalen 
blassen Wangen, die gebrechliche Gestalt, 
alles war wie an einem schönen Kinde; 
aber man hatte das GetOhl^ ein erwachsenes 
MAdchen vor sich zu haben, mit dem man 
nicht mehr tändeln konnte. 
Als sie zusammen zum Tennisplatze 

[23&J 



gingen, der unter schattigen Buchen unweit 
eines glatten Teiches in zierlicher Sauber- 
Iceit lag, betrachtete er die still neben ihm 
Schreitende, indem er gleichgültige Worte 
an sie richtete, aufmericsam. Sie war von 
Mitte]gi:Oße und überaus schlanlc. Ihre langen, 
schmalen Kinderarme hingen nicht ungefüg 
aus den Schultern heraus, sie waren leicht 
und folgten gefällig ihren Schritten. Sie hatte 
nichts von dem unnatürlichen Gang ihres 
Alters. Man merkte, daß sie über ihre Be- 
wegungen nicht nachdachte. Die Lider senkte 
sie meist über die wunderbar blauen trau- 
rigen Augen, aber wenn sie sie rasch und 
ohne Scheu empor hob, verbreitete sich über 
ihr liebliches (deines Gesicht ein warmer 
Glanz. Sie hatte noch immer die ab- 
gebrochene, unwillige Art, zu antworten, 
sie war nicht freundüch, er empfand sich 
ihr gegenüber als einen Eindringling. Frei- 
lich hörte er aus ihren selbstbewußten, etwas 
eiteln Reden, wieviel sie sich in der »Welt« 

[23öJ 



umgetan zu haben meinte, wie sehr sie 
sich seinen Jahren an Erfahrung überlegen 
glaubte. 

Sie spielten zweimal in der Woche. Er 
kam regelmäßig. Er hatte sich an das ange- 
nehme, ruhige Haus gewöhnt. 

Manchmal unternahmen sie einen großem 
Spaziergang, zu vieren, Lina mit Wolf, einem 
der Brttder, voran, er mit Lili hinterdrein. Er 
sagte ihr viel von seinen Ansichten, drängte 
Ihr oft, unwillig über ihre Kälte, seine reifere 
Meinung auf. Allmählich ward sie ihm eine 
willige Zuhörerin, selten mit stillen Worten 
ihn unterbrechend, scheinbar geneigt, sich 
erzählen zu lassen. Er merkte, wie sie ihm 
bald unentbehrlich ward. Er hätte sie gern 
an der Hand genommen und wäre mit ihr 
durch das Feld geschritten, schweigend, nur 
von dieser sanften Berührung begltickt. 

Seine Briefe an Alice nahmen darum nicht 
ab. Er lebte ein Doppelleben, halb in der 
Ferne, mit seinen Erinnerungen und WOnschen, 



1237) 



halb in einer traumhaften kindlich-schönen 
Gegenwart. Auch an seinen Freunden, die 
wieder mit ihm verkehrten^ fand er aUmUhUg 
Gefallen. Er begann zu arbeiten, las die 
Werke der Dichter mit reiner Freude 
und dachte oft sorgfältig und mit einer ihm 
sonst ungewöhnlichen Gelassenheit Uber sich 
und seine Ziele nach. 

Dabei kam er allmählig in eine zartlich- 
keusche Liebe, die er in schflchternen 
Worten Lili entgegentrug. Sie nahm alles 
an, ihm gegenüber immer mehr von 
ihrem wideisprucfasfreudigen Wesen lassend, 
gleichsam veredelt durch seine ritterlich- 
andächtige und doch herablassend-spielende 
Neigung. Er wußte selbst nicht, wie ihm zumute 
war. Er hatte ihr mehr gesagt, als man 
Mädchen zu sagen pflegt, mit denen man 
einen tflndelnden Flirt anhebt; aber er glaubte 
selbst nicht recht an * diese Dummheiten«, 
mehr als je klammerte er sich an die Ferne, 
mehr als je warf er sich mit leidenschait- 

[238] 



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liehen Worten Alice hin, die seine stand- 
hafte Liebe mit zärtiich-tröstenden Briefen 
nährte. 

Einmal fand er einen Gedanlcen in seiner 

Seele, der unter seiner Betrachtung schnell 
und stark heranwuchs, den Gedanken einer 
Heirat. Wie schön mochte es sein, sich mit 
diesem reizenden Madchen zu 'verloben! 
Er gefiel sich in der Situation, ging dem 
Gedanken eifriger nach, ja er säumte nicht, 
ihn Lili sorgfältig zu unterbreiten. Sie hatte 
für alles ein gütiges Lächeln und zarte, an- 
heimelnde Antworten. Und er nahm ernst, 
was wie ein Spiel gekommen war. Er Über- 
legte und fand, daß es sein Glück werden 
könnte. Und da er mit solchen Plänen 
nicht allein bleiben konnte, vertraute er sie 
seiner Mutter. Sie hatte anfangs daffir nur 
ein Lachein, das gutmütig duldende Lachein 
einer Mutter; als sie aber in seiner Hart- 
näckigkeit eine tiefer wurzelnde Absicht 
merkte^ fand sie gUtig abweisende, ja un- 



[239] 



gläubige Worte. Das stachelte und kränkte 
ihn. Er sprach sich in eine Heftigkeit 
hinein^ die dem Ganzen fern gelegen hatte. 
Und er suchte bei LUi StQtzen seiner 
Wünsche. Die Briefe än Alice wurden sel- 
tener. Endlich, in einem jähen Entschlüsse, 
ließ er packen und fuhr nach Wien, wo er 
ja der Studien halber schon längst hätte 
sein sollen. 

II- 

Das war doch nicht das Leben, wie er es 
liebte. Die Mietwohnung mit ihrem ver- 
blafiten, geschmacklosen Mobiliar, dem er 

nur notdurftig durch ein paar dicke Tcppiche 
und zahlreiche Photographien nachhalf; die 
tägliche Besorgung der kleinen, nur allzu 
notwendigen Forderungen der Häuslichkeit; 
der Verkehr mit Leuten, die ihm nichts zu 
geben hatten als verwischte oder mühsam 
verrenkte Typen niedriger Menschenformen; 

[240] 



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das Uiibchagliche eines nicht nach dem 
Zeiger geregelten Stundenplanes; die Unbe- 
quemlichkeiten der Entfernungen^ das geringe 
Auskommen, das ihm zugewiesen und das 
so wenig mit seinen WOnschen in Einklang 

zu bringen war: alle diese Umstände ließen 
ihm ein eigenes Heim doppelt erstrebens- 
wert erscheinen, und er ft-agte sich, ob ihm 
die Theater und die Museen^ das gerdusch- 
vollere Leben, dem er zuweilen ja recht gerne 
nachging, die Sorglosigkeit, die warmen 
Einzelheiten einer unbekümmert nur den 
Studien lebenden häuslichen Existenz auf- 
wiegen konnten. Wie er seine Haar- und 
Barttracht, unbefriedigt nach einem aus- 
dr ucksvollen Stile fahndend, in kurzen Zeit- 
abschnitten änderte und sich selbst lächelnd 
dieser kindischen Unbeständigkeit wegen be- 
mitleidete, verspottete, um kopfechOttelnden 
Bekannten den Tadel aus dem Munde zu 
nehmen, so trieb ihn seine Neuerungssucht 
auch in den Vorgängen, in die er sich 

16 

[241] 



brachte, von Station zu Station, und seine 
Ungeduld, die Verzweiflung über sich selbst 
und seine ungesicherte Lage, die trüben 
Zukunttsaussichten verwirrten ihn sogar in 
den Stunden reinen SichfQhlens, bei der an- 
gestrengten, freilich nur nach Tagen zählen- 
den, stoclcenden Arbeit. Er war nicht mehr 
der Knabe, der die Literatur in allem suchte^ 
sich selt>st in icOnstiiche Verhältnisse setzte 
und Gelesenes in die Erscheinungen trug, 
er sah mit geöffneten Augen um sich und 
geriet über die rücksichtslose Öde der Be- 
ziehungen und die Unericiariichiceit der 
Geschehnisse in ein Fieber, wie es einen 
fröstelnden Schwimmer mitten im See packt 
und ans Land jagt. Aber wie der Schaudernde, 
mit heftigen Ruderbewegungen gegen die 
Macht der aufgeregten Wellen ankämpfend^ 
in seiner frierenden Mutlosigkeit nur langsam 
sich dem Ufer nähert, so bebte seine hin 
und her geworfene Seele nach dem Gestade 
der Heimat in Entfernung schätzender und 

[242] 



I 

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überschätzender Angst. — Seine Feierstunden 
waren die Genüsse an den Dichtern und 
Philosophen. Da kam er aus seiner Enge in 
die weiten Rflume; in denen er Atem holen 
und seine Flügel ruhig und dankbar aus 
gebreitet halten konnte, wie ein Adler, der 
im Fluge rastet Qber den Wolken, einsam 
in der reinen Sonnennflhe. 

An Lili dachte er mit stiller Liebe, ohne 
eigentliche Inbrunst. Er gab sich keine 
Rechenschaft über ihre Beziehungen. Er 
schrieb aus Stimmungen heraus und erhielt 
die Antworten in andre Stimmungen hinein. 
Das nahm dem Verkehr viel von der 
Wahrheit der Rede und Gegenrede. Denn 
er konnte sich nicht in einem Ton erhalten. 
Und er künstelte immer an der jeweiligen 
Phase* Sie freilich blieb sich gleich. Kindlich- 
scherzhaft, nie kOnstlich anders, als es um 
sie stand, aber immer launenhaft, zupfte sie 
an seinen Begriffen mit spielenden Fingern 
und schenkte ihm oft weniger die kräftigende 

[248J 



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Macht ihrer ursprOnglichen Ideen, als sie 
ihn, ohne böse Absicht, mit den Deutlich- 
keiten kunstloser Worte auf nur mit Wider- 
willen von ihm begangene Fahrten wies, die 
zu den alltäglichen Anlassen mancher JVlit- 
teilungen and Bemerkungen fahrten. 

III. 

Als er zum ersten Male wieder mit Lili 
zusammentraf, mußte er sich über die über- 
triebene Art ärgern, mit der sie ihren Abscheu 

über sein verändertes Aussehen, die allzu 
langen, links gescheitelten Haare und den 
rasierten Schnurrbart zum Ausdruck brachte. 
Dieser Arger gab dem Tage sein Gepräge. 
Er war unwillig und schied vcrstimuit. Trutz- 
dem war er glücklich gewesen, als er ihr 
die Hand gegeben und sie ihn mit ihrer 
hellen, immer etwas zu kuti angeschlagenen, 
mokanten Stimme gefragt hatte: »Was wollen 
denn Sic wieder daV« Aber dann waren der 
Ärger und die bösen Gedanken gekommen. 



und alles war für heute aus gewesen. In 
seinem Unmut brachte er des Abends, als er 
mit der Mutter allein war, das unselige 

Thema vor, das beide immer zerbrochen 
entließ: die Elendi^^keit und den Druclc 
der mittelmäßigen Verhältnisse, das Nicht- 
sein-dQrfen und Nicht-woUenHlQrfen, dieses 
Herumkrieclien unter kleinlichen Jochen, die 
ganze Erbärmlichkeit der beschnittenen Flügel 
und der Ode, die Zukunft heißt. 

Erregt ging er hin und her. Das milde, 
weiße Licht der Lampe lag über dem 
schweren Tisch, eine gesättigte Wärme 
füllte das dunlcel tapezierte, bequem aus- 
gestaltete Zimmer, die Messingklinken an den 
altertümlichen Türen glänzten, und wenn 
ein einsamer Wagen vorbeifuhr, zitterten die 
Fensterscheiben. Die Mutter saß mit vor- 
gebeugtem Nacken, beide Arme über den 
Knien müde hängen lassend, auf dem 
Stuhle neben dem grünen Kachelofen, Sie 
war etwas erhitzt, und das über den 



[246J 



Schlafen ergrauende Haar stand ein wenig 
zerzaust über der blassen Stirn, die von 

denselben Falten durchzogen war wie seine 
breiter gewölbte. Beide Hände in den Hosen- 
taschen^ blieb er vor ihr stehen. 

»Und das ist mein Leben I« rief er. 
»Wozu denn dieses Arbelten, das mühe- 
volle vvüchenlange Sitzen vor den Büchern, 
wenn das alles doch nur zur Ode führt 1 
Was liegt denn vor mir? Der »Beruf«! 
Karrengaul zu sein, eingespannt mit den 
andern, — das lieißt doch, den Sargdeckel 
über sich zuschlagen. Begreifst Du meine 
Angst, die sich an das bissei Schöne im 
Leben klammert? Wenn ich frei wArM Wenn 
ich hinaus konnte in die Weltl Aber da 
heißt es, und es ist ganz natürlich uad 
gerechtfertigt: »Du hast lange genug studiert, 
stell dich auf eigene Füße! Erwirb U Ja, 
erwerben! Aber was erwerb' ich denn? 
Was bringt mir das Amt? Eine Lappalie. 
Und wannV... Der Vater freilich, der kann 



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es schon gar nicht mehr erwarten, bis ich 
etwas bin. Etwas binl Wenn ich's heut 

nicht bin, werde ich's morgen? Und was 
bin ich schon, wenn ich einmal, was weiß 
ich; als Oberlandesgerichtsrat stolziere ? Dann 
bin ich etwas I So meinen sie's Ja alle... 

wenn ich nur studieren konnte, immer 
studieren, selbständig, ohne diesen hasten- 
den Ruf hinter mir: Schluß I Wenn ich 
reisen könnte! Ich pfeife auf den Beruf 1... 
Pas sollten die Leute hören. »Verdorben«, 
worden sie sagen. Aber ich will kein 
»nützliches Mitglied der menschlichen Ge- 
sellschaft« werden, ich bin aus einem 
andern Stoff. Aus dem macht man nicht 
die Qerichtsrflte und die Notare. Ich bin 
ein Künstler. Ich bin das Oberflltesigste, 
das auf der Welt herumläuft. Ich bin ein 
Sonnenlichtiänger, ein Träumer. Der Vater, 
der mich »so genau« kennt, der sagt natür- 
lich geringschätzig: »Willst du vielleicht so 
ein Skribler werden und hinterm Busch ver- 

[247J 



hungern ?« Nein, ich will nicht verhungern I 
Ich bin nicht der Mensch dazu, ich lebe nur 
in der Schönheit, nur in einem gewissen 
Überfluß. Ich weiß, was Du sagen willst. 
Du willst mir sagen: »Und du willst hei- 
raten?! Du willst dich ins Elend hinein* 
setzen mit keiner andern Aussteuer als 
deiner Verwöhntheit? Du, der du dir keinen 
Wunsch versagen, du, der du nur im Reich- 
tum gedeihen kannst, der du dir Teppiche 
über Teppiche legst und jedes Buch kaufst, 
dessen Einband dir gefflllt^ der du noch nie 
in deinem Leben mit deinem Monatgeld 
ausgekommen bist, der du, wenn du zu Hause 
lebst, Schulden machen mußt du willst 
heiraten, willst mit 2000 Gulden — und ob 
du die hast, weißt du nicht einmal — dich 
mit einer ebenso verwöhnten Frau in zwei, 
drei kleine Zimmer zurückziehen, deine 
Frau vielleicht gar arbeiten sehen V Du, der 
du im Jahr mehr Kleider und Zigaretten 
brauchst als. . . c _ Nicht wahr, das alles 

[248] 



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willst Du sagen V Nicht wahr, MamaV Und 
schau, obwohl ich so ein Mensch bin, ob- 
wohl ich ein Verschwender, ein leicht- 
sinniger, unpralctischer, verwöhnter, egoisti- 
scher Mensch bin^ obwohl ich keine Aus- 
sichten habe, obwohl ich weiß, daß ich 
mich durch einen solchen Schritt far mein 
Leben vielleicht an die Scholle feßle, ob- 
wohl ich so ungeschickt bin zum Entbehren, 
Entsagen, Verzichten, trotzdem, ja trotzdem 
will ich'sl Ja, ich will die Lili heiraten, 
wenn es nur halbweg9 mOgüch ist Es ist 
meine Idee vom GlOck. Ich kann mir nicht 
helfen... Du weißt, wie ganz anders ich 
gedacht, wie ich immer gesagt habe: »Ich 
muß eine reiche, sehr reiche Frau bekommen, 
sonst kann ich nicht leben; denn ich 
selbst vermag mir nichts zu erwerben und 
werde es gewiß nie zu etwas bringen.« 
Und begreifst Du denn nicht, was für ein 
großes Gefühl es sein muß, das d a s über 
den Haufen wirft und schreit: »Nein, ich 



[249] 



will etwas ganz anders. Ich will eine kleine 

Frau haben und glücklich sein, einmal glück- 
lich sein!...« Mir kommen sie ja selbst, 
diese gräßlichen, ernüchternden, heißen Ge- 
danken: »Werd' ich das können, wird das 
möglich sein?« O, Du weißt ja gar nicht, 
was mich alles quält! Was mir alles im 
Kopf herumstOrmt: Ob sie mich auch wirk- 
lich lieb hat. Ob sie nicht kühl denkt. 
Ob sie mich nicht nur so hinhält, wie kein 
Mfldel einen Verehrer ausläßt Ob sie nicht 
mit einem Mal in die Vernunft hinein 
springt. —-Und könnt ich ihr unrecht geben '? 
Was sag' ich mir denn selbst? »Unsinn«, 
sag* ich mir. »Dein Leben ist unterbunden, 
wenn du dich veri^nnst. . .« Aber was wird 
denn aus diesem Leben? Wenn ich nicht 
diese eine Hoffnung hätte und die Kunst, 
wo wär' ich denn 11.... Jetzt erschieß ich 
mich nicht, nein , jetzt noch nicht! Jetzt 
ist die Hoffnung trotz alledem noch zu 
gewaltig. Dieses ewige »Vielleicht doch« 



[2öOj 



wird mich noch lange narren... Aber laß 

mir dieses Ideal! Ich kratze und schabe ja 
selbst genug daran herum. Laß mich diesem 
Stern nachgehen, bis mir die Beine den 
Dienst versagen I« 

Die Mutter sah ihn an, so schmerzlich, so 
innig, daß er innehielt. 

»Du tust mir weh, Heinrich,« sagte sie mit 
ihrer weichen zärtlichen Stimme. »Was ich 
um Dich leide, das kannst Du Dir nicht 
vorstellen.« 

»Ich weiß, Mama, ich weiß. Aber verzcifi 
mir. Ich kann nicht anders. Ich bin roh. 
Ich geh' es zu. Aber wozu in Selbsttrug 
leben?« 

»Ich lebe in keinem Selbsttrug^« seufzte 
sie. »Ich kenne Dich zu gut. Ich zermartere 
mir den Kopf, wie das werden soll.« 

»Sei gescheit, Mama,« sagte er und blieb 
vor ihr stehen. »Wohin das führen soll? 
Denk nicht daran. Freu Dich mit mir aber 
den Moment.« 



[25lJ 



»Heinrich!« 

»ja, ja, ich weiß. Icli rede Unsinn. Ich 
--ach Gotti Mama, ich bin so unglücklich I« 



IV. 

Der Fasching war vorbei. Wenn er Lili 
besuchte, saB sie im weißen Hausicleid unter 

ihren in langen Reihen aufgestellten Photo- 
graphien in dem schmalen lichten Zimmer, 
das er so lieb hatte. Ober den Ständer- 
pfosten kleiner leichter Tische hingen die 
Tanztrophäen, die Damenspenden und Kotil- 
lonfächer; aber auf dem kleinen Sekretär 
standen Veilchen und Hyazinthen, und auf 
den Dächern der einstöckigen Häuser gegen- 
über glänzte schon ein FrQhlingsgrOßen. 

Nun war endlich die schreckliche Zelt 
vorbei, da er seine feine zierliche Lill .in dem 
Gedränge erhitzter, geputzter, Nichtigkeiten 
plappernder Menschen fast haßte. Endlich 

[2ö3j 



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war die hochmütige Maske gefallen. Sie saß 
bei ihren Arbeiten unter Büchern, und ihr 
stilles liebes Lächeln glänzte in den treuen 
blauen Augen. Er sah sie an und fühlte 
seine Liebe mit großen, weißen Schwingen 
in einem schimmernden JSteere sonnenzittern- 
der Luftwellen atmen, er hatte einen Drang 
in sich, diesem i^leinen blonden schmalen 
Kinde sich an die Füße zu schmiegen und 
gluckvergessen zu träumen. Wie Schatten 
gingen die Vorgänge des Lebens an seiner 
müden Seele vorüber. Er hatte die Atmo- 
sphäre dieses Zimmers in den Gliedern, sein 
Herz beugte sich in einem schauernden Ent- 
zückeui in keuscher Andacht sehnender 
Hoffnungsfalle. 

Wenn er dann zu Hause saß vor seinen 
Büchern und sein auftaumeinder Blick sich 
auf das sanfte, schwermütige Bild senkte, 
unter dem in ungleichen Zttgen »Lill Arendt« 
Stande dann kam die wilde Jagd der verdräng- 
ten eifersüchtigen, peinigenden Zweifel- 



[253J 



gedanken wieder. Wie Heuschrecken schwärm- 
ten sie schattend über den bebenden Saaten 
seiner Wflnsdie* Lili hatte nie den rechten Mut 
zu ihrer Liebe gehabt Und die Leute, die 

immer ihre Glossen machen und so zudringlich 
mit ihren Urteilen sind, hatten ihn »freund- 
schaftiich« gewarnt vor dem »oberfiächiichen, 
leoketten Geschöpf«. Grob war er geworden, 
heftig, wütend hatte er ihnen das Wort 
zerbrochen, aber heimlich bohrten sich die 
giftigen Spitzen in sein argwöhnendes, zer- 
martertes Denicen. Sie war ja wirldich 
seltsam, wenn sie unter den Menschen er- 
schien. Sie lächelte so glücklich in den 
Armen ihrer eleganten Tänzer, plauderte so 
übermütig mit »diesen Laffen«, sie war so 
scharf, so schnippisch mit ihm, ihrem ailzu 
getreuen, unmutverbitterten Schatten. Freilich, 
wenn er sie in einem langsamen Walzer- 
schritte fest umschlungen hielt, wenn sich 
ihr blondes blasses Köpfchen wie eine 
Blumenicrone Uber den schmalen Kinderhals 

[254] 



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senkte; wenn er in Ihre himmelblauen zärt- 
lichen Augen bückte und bei der schmeichelnd 
wiegenden Musik die lästigen Menschen 
vergaß, dann verzieh er ihr, dann bat 
er ihr ab mit bettelnden Knabenblicken, 
dann dankte er ihr mit selig-stummen Lippen 
oder mit weich-fiübternden Worten. Aber 
die Zweifel stiegen wieder aus der auf- 
gewtthlten Asche seiner bösen Gedanken 
wie dUnne narkotische Rauchsäulen, in 
nebelnde Schichten vergleitend. Er rannte 
dann oft nachts verzweifelnd durch die 
leeren Straßen, oder er vergrub sich mit 
zitternden Nerven in seine Dichter, oder 
er ließ seine zuckenden Klagen in erregte, 
in zagende Verse gleiten . . . Dann sah er 
sie wieder und bat ihr den letzten langen 
bittem Brief ab; 

V. 

Da ihm der Gedanke seiner Heirat mit 
dem über alles geliebten Mädchen bei der 



Attssictiislosigkeit der nächsten Jahre wie 
eine lodernde Fackel alles geordnete Über- 
legen andrer Dinge versengte, lief er in 
seiner Ratlosigkeit zu der Großmutter, mit 
der sicli ein vernünftiges Wort sprechen lieft 
und bei der er sicher war, nicht unter dem 
wehmütig-zärtlichen Vertrösten seiner Mutter 
und den spöttiscti-ungläubigcn Witzen seiner 
beiden nächsten Freunde zu leiden. Die Qrofi- 
mutter empfing ihn herzlich und mit dem 
stillen Vorwurf, schon ganz übersehen und 
zurückgesetzt zu sein, den sie mit der un- 
logischen Beharrlichkeit alter, etwas ver- 
grämter Leute immer mitankiingen lieft. Er 
setzte ihr mit hastigen schttchtemen Worten 
seine Lage auseinander. Wie er sich von 
den Frauen losgerungen habe, wie er, 
wenn er ganz aufrichtig sein solle» auch von 
Liti durch die geänderten Umstände, in den 
neuen Wiener Verhältnissen gehofft hatte 
ablassen zu können, wie er aber, unruhig 
und unzufrieden, bei seinem bald verzwei- 

[2Ö6J 



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feinden, alles verneinenden Charakter sich 
80 unwohl gefohlt hätte in dem feind* 
liehen, aiiBer aller Beziehung zu seinen Nei- 
gungen unzugänglich verharrenden Wien, 
wie er geflohen sei und^ zurückgekehrt, 
sich wieder in den kaum gelockerten süßen 
Banden gesehen, wie er in qualvollen Ver- 
nunftgedanken mit seinem ersehnten Ziele 
gerungen und wie er sich endlich davon 
überzeugt habe, daß er wirklich ohne Lili 
nicht leben könne und daß er sie erringen 
müsse, allen Bedenken^ allen Sorgen, allen 
Warnungen zum Trotz. Er hatte sich in eine 
Aufregung gesprochen, die auf den vom 
Stubensitzeii und Lernen gebleichten und 
schmäler gewordenen Wangen als eine fieber- 
hafte glänzende ROte erschien. Hilfeflehend 
sah er zu den ruhigen ZQgen dieses gütigen 
milden runden alten Gesichtes auf. Die 
Großmutter aber begann mit ihrer herzlichen 
Stimme, in den zerrissenen Fügungen ihrer 
aufrichtigen Sprechweise zu hrOsten und zu 

17 

[257] 



sänftigen, £r blickte ihr angstvoll <;iemütig 
in die grauen lieben Augen, lioffend und 
ungeduldig, ehcf ürditig und ängstlich. Aber 
die weichen^ fast sduneictielnden Worte 
sagten nur immer: 

»Schau. Sei gescheit Hab sie lieb und 
lern brav. Aber, Harry, denk dochl Du 
bist ja so Jungt Und ihr zwei seid so ver- 
wöhnt. Und Du bist ja noch lang nichts« 
Und binden kannst Du Dich nicht, Du bei 
Deinem erregten, flüchtigen Temperament.« 

Er ging davon wie im Traum. »Soll ich mich 
losmachen?« fragte er sich. »Soll ich dieses 
Jus, das zu nichts führt, hinwerfen, zu 
einer Zeitung gelien? Aber dann bin ich 
erst recht nichts, Und warten? ich bin 
zweiundzwanzig, sie ist zwanzig« Wie lange 
soll ein MM mit zwanzig Jahren warten? 
Und wenn ich selbst annehme, sie hätte mich 
so lieb, annehme, daß sie es wagt und 
wartet, drei, vier Jahre wirklich treu und 
hoffend wartet^ bin ich in drei, vier Jahren 

[358 1 



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derselbe V Hab' ich nicht die Pflicht, mich 
jetzt zu erklären, bindend zu erklären ? Aber 
wenn das Unmögliche dann geschieht, wenn 
ich wirklich gegen mich nicht kann, soll ich 
durch die Trostlosigkeit einer Pflichtsache 
dieses reine, liebliche. Geschöpf beleidigen? 
Und darf ich andrerseits so gemein sein^ 
brutal zu brechen, zu verraten, Treue zu 
mißbrauchen?« 

Er war so unglücklich. Er hätte am liebsten 
laut geweint. »Und daß Gräßliche daran ist 
das,« sagte er sich, »daß der Gedanke so 
wunderschön ist und nicht gedacht werden soll. 
Warum nicht? Weil uns das ausreichende 
Geld fehlt? Ist denn Geld alles V Und kann 
ich mir denn wirklich nicht Geld verdienen?« 
Er mußte sich Nein sagen. Er war ja doch 
nicht der Mensch dazu, sich zu verdingen» 
Er war doch der wohlgeborene Sohn ge- 
achteter Eltern. Den ward er nicht los. Da 
half kein Sträuben. Er war zu schwach. 
Und hätte das auch einen Sinn gehabt? 

|259j 



Er muBte ihr doch eine Stellung bieten, er 

konnte sie doch nicht an ein ungewisses, 
schwankendes Dasein fesseln. Es mußte doch 
um Himmels willen etwas Sicheres sein... 
Er Oberlegte zum so und so vielten Male 
die Berufe. Advokat? Undenkbar. Dauert 
zehn Jahre mindestens. Gericht? Da mußte 
er fort und kam doch auch nur bis zu einem 
gewissen kleinen Ziele, dann blieb er sitzen. 
Und vier Jahre dauerte es Ja auch hier, bis 
er als gewissermaßen fundierter Bewerber 
auftreten konnte. Verwaltungsbeamter V Es 
blieb ihm nichts anders übrig . • . Aber 
die Reisen? Er mußte doch endlich ein- 
mal die Welt sehen. Er mußte doch auf 
ein Jahr wenigstens hinaus... Durfte er 
diesen Wunsch überhaupt aufkommen lassen? 
Das hieß ja dieser endiosen Wartefrist ein 
Jahr zulegen. . . £r dachte an seinen Lieb- 
llngsplan, Philosophie zu studieren und sich 
zu habilitieren. »Zu spät. Ich darf nicht. 
Ich muß in den Beruf, ich muß ehebaldigst 

[860J 



in den Beruf . Ich muß mich begraben. Alte 

Träume vom langen, langen, einsamen, be- 
harrlichen, durch keinen Amtszwang gestörten 
Studieren müssen ausgetrieben werden, bis 
kein Funke mehr aufflackern kann... Wie 
aber kommen mir Oberhaupt diese Ideen? 
Ich sollte ja freudig allem entsagen, was mich 
von ihr entfernt! Ekelhafter Unbescheidener, 
der ich immer wie ein Kind alles zugleich 
packen wUU Aber Bescheidenheit ist Stagna- 
tion. Ich bin ein Künstler, ein ewig Un- 
bescheidener. Ich hab' das Recht dazu...€ 
Ja, Recht I Und nicht einmal aus der mate- 
riellen Hausabhängigkeit hatte er sich zu 
befreien gewußt trotz dem Titanentrotze 
und diesem zehrenden, bOsen Unmut Uber 
die Fessel, die er am Fuße mit sich schleppte..» 
»Du bist ein Schwächiing,« schrie es in 
ihm. »Gib dich auf, wie dich das Leben 
aufgibt I £rschieß dich! Mach ein Ende!« 

»Uli, Lili,< ft^te er, »sOSe kleine blonde 
Uli, Schutzgeist, hilf mir!« Und so flOchtete 



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er sich nach Hause» zu ihrem Bilde, schrieb 
ihr einen verzweifenen Brief und vergrub 

sich in seine Bücher, traurig und wie zer- 
schnitten, mitten entzwei geschnitten» gren- 
zenlos elend* . « 

»Wie ist denn das möglich gewesen?« 
fragten die Leute. »So ein vielversprechen- 
der Junger Mann»« meinte ein Gütiger. »Er 
war ein hUbscher Bursch,« sagte die Baronin 
Nini, »wirklich ein hübscher Bursch...« 

Seine Mutter aber saß bei ihm und hielt 
seine vericrampfte weiße Hand. Ihre Augen 
waren erioschen» stumpf. Und um sie heriim 
stand dieses voll geräumte, behagliche Zimmer 
mit den vielen Bildern und den glänzenden 
Büchertiteln. Eine Lampe brannte auf dem 
Fensterbrett. • . Warum brennt diese Lampe?" 
Und warum ticlcen die unermfldlidien 
Uhren ?... Der Vater schlich herein mit ge- 



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runzelten Brauen, blaß und scheu. »Man 
muß ihm den Revolver aus den Fingern 
bringen,« flüsterte er dem Arzte zu... Dann 
fiel wieder die StiUe herab wie ein dichter 
Schleier. Der PrOhlingsMfind aber rttttelte 
an den Scheiben... 



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