Eros Thanatos
Richard von
Schaukai
Blau Memorial Collection
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r
EROS THANATOS
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RICHARD SCHAUKAL
EROS TBANATOS
NOVELLEN
WIENER 'VERLAG
WIEN UND LEIPZIG
1906
Dieses Buch wurde bei Fr. Winiker & Schickardt,
k. IIa k. Hofbaehdruekem in Brünn, in einer
einmaligen namerlerten Auflage von 800 In
Pergamentpapier gehefteten Exemplaren ge-
druekU Dio Hummern 1— Iß sind auf Japan
abfftzogiii und ▼om Aator signiert. Dsr Preis
eines solehen Lnxiisexemplars betrftgt 15 Marie.
Dieses Exemplar hat die Nummer
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Eros hat Dich ersaht: Ou folgtest dem
Ueblicheii Knaben.
Lächelnd geleitet er Dich: plötzlldi erkennst
Du den Tod.
510762
Werke von Richard Schaukai:
Gedichte 1893
Rflckkehr. Ein Akt 1894
Verse (1892—1896) 1896
Tristia. Neue Gedichte 1898
Tage und Träume 1899
Sdunuclit Neue Vene 1900
,€iiicr, der eelne Frau besucht, und lodre Szenen 1902
Oku Bflcher sind
verf riffen und werden nicht mehr aufgelegt.
Meine Gärten. Einsame Verse 1897
Interieurs aus dem Leben der Zwanziglfthrigen 1901
Vorabend. Ein Akt in Versen 1902
Von Tod zu Tod und andre kleine Geschichten 1902
Das Buch der Tage und Traume i9ÜZ
Pierrot und Colombine oder das Lied von
der Ehe 1902
MJmi tynx. Eine Novelle 1904
Ausgewihlte Qediclite (1899/1904) 1904
E. T. A. Hoffmann 1904
Wilhelm Busch 1904
Großmutter. Ein Buch von Tod und Leben . 1908
Kapellmeister Kreisler. Dreizehn Vigilien aus
einem KUnstlerdasein 1906
Verlaine-Heredia. Ausgewählte Nachdichtungen 1906
Helnebrevlarlum 1897
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INHALT
Efos (1905/6)
Das Stelldichein (1905/6)
Die Sängerin (1905)
Coelestin Merkel (1903)
Uli. Eine Alltagsgeschichte (1897/1906)
EROS
Eine Sonate aus der galanten Zelt
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Otto Julius Bierbaum
herzlich
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ieder, wie jährlich, hatte der alte Gärtner
f T zur Feier des Namenstages der verehrten
Herrin schon in fraher Morgenstunde ein
stattliches Blumengewinde auf der Terrasse
vorbereitet, diesmal ein buntes Tableau,
nicht ohne Geschmack an einer ganz mit
weißen Bülten umkleideten Staffelei befestigt.
Alsbald auch huschte neugierig die Jungfer
herbei, den festlich gedeckten Prahstücks-
tisch zu prüfen. Der Kammerdiener konnte
sichs nicht versagen, ihr, wie sie sich so
über das zierliche Arrangement der Tassen
und Tetler beugte, von rttckwärCs, nicht
eben allzusanft, an die enggemiederte Taille
zu greifen, daß sie vor Kitzel kichernd zurück-
und ihm fast in die rasch auseinander ge-
breiteten Arme fuhr. Die schöne Gräfin hatte
das fürwitzige Spiel bemerken mOssen. Jetzt
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trat sie, um eine stQrmischere Entwicklung
der Szene zwischen dem Gesinde zu ver-
hindern, vernehmlich rauschend durch die
verglaste FlUgeltüre hervor. Sie schien es
nicht zu achten, daß sich der peinlich über-
raschte Diener mit einem unter tiefem Bflck-
ling stotternd vorgebrachten GlQckwunsch
aus der Sache zu ziehen unternahm, so ^^ut
oder so schlecht es ihm der leidige Moment
eingegeben hatte. Auch daft die Zofe mit
unwilliger Pantomime dem Verdachte des
Einverständnisses zu wehren versuchte, ge-
rufite die Herrin nicht zu bemerken. Der
Bediente entfernte sich betreten, indem er die
beiden Lakaien an den Tisch wies. Eben
erschien auch von der Gartenseite her der
Graf. Er kam hastig Uber die Treppe. Die
Anwesenheit des Gebieters iiemmte den
Schritt des Kammerdieners im geräumigen
Saale. Er blieb, halb noch zum Gehen
gewendet, mehr aber die Achsel zurück als
geradeaus schauend, einen Augenblick un-
[6J
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schlüssig stehen, verzögerte überlegend sein
Verschwinden, nicht ohne der ihm schmollend
gefolgten Zofe eine Grimasse zu schneiden.
Der Graf kttfite seiner jQemahiin die Iflssig
ihm entgegengehobene Rechte und rückte sich
mit einigem Geräusch an ihre Seite. Der Gräfin
entging seine Befangenheit nicht. Doch im
Nu auch hatte sich der Gewandte wieder
gefunden, mit zärtlichem Lächeln sprach er
von dem heutigen Feste, das der Morgen,
der Park mit ihnen zu feiern schienen,
indem sie, der Gattin zugunsten, in rau-
schender Schönheit^ durch heih'e Anmut die
freudigen Stunden verherrlichten. Auch er-
mangelte er nicht, aufmunternd ihr dn Qe-
schenlc auf dem damasten glänzenden Tisch-
tuche näher zu schieben^ eine kostbare Vase von
erheblichem Gewichte. Sie zeigte auf blauem
Grund [In Biskuiirelief eine mythologische Be-
gebenheit: Daphne, wie sie, von Apollo ver-
folgt, schon unter seinen begehrenden Händen
sich in den rettenden Lorbeerbaum verwandelt
[7J
Nachdenklich blieb der schimmernde Bliclc
der Gräfin an den zarten weißen Figürchen
haften: dämmernd tauchte das merkwürdige
Geschick der Nymphe vor dem träumenden
Geiste der blauäugigen Frau herauf. Die
Worte des redseligen Gemahles klangen an
ihrem Ohr vorbei . . .
Sehr zu paß geriet diesem der Gratulations-
besuch des Kapitäns, der, seine Annäherung
durch ein vernehmiiches Schnauben, wie es
Kurzatmigen eigen ist, verkQndend, die zur
Linken des leichten Tisches gelegene Treppe
soeben heraufstieg. Der mächtige Blumen-
strauß, den er mit strahlendem Antlitz der
von ihm schon ob ihres hochgebornen
Standes nach GebOhr verehrten Dame flber-
reichte^ die schickliche Ansprache, die er
mit schön gedämpfter Herzlichkeit — dies
war sein Hauptstück — vor ihren sanft
errötenden Wangen hielt, gaben dem
Grafen die Überlegenheit und damit die gute
Laune wieder. Ein mit der vollen Hand
[8]
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dem breiten Rücken des Gratulanten aufge-
zielter kräftiger Schlag, den der Geschmei-
chelte in ehrfflrchtiger FreiuidschaftUchkeit
— auch dies ein von ihm gern betontes
Element gelassenen Umgangs — > entgegen-
nahm, leitete ein fröhliches Gespräch ein, das
bald zu reichlich zwei Dritteilen der glück-
liche Gast mit aufgestutztem Obermut bestritt.
Der Kapitän war Icein Jüngling mehr> und
seine besten Jahre verdarb ihm^ der sich,
ein weicher Adorant, durch schwärmende
Melancholie in manchem Zirkel manches
Herz, freilich nicht auf lange Dauer, zu ge-
winnen verstanden hatte, ein Qbermflßig
gewdlbter Bauch. Fettleibigkeit ist ein be-
quemer Anlaß zu wohlfeilem Spotte, der,
so harmlos er vorgebracht scheint, der
verwundenden Schneide nicht entbehrt, ja
grausamer verletzen mag als etwa ein der-
berer, nicht an so unwillig ertragene Mängel
geknüpfter Scherz. Der Kapitän war eine un-
verwüstliche Zielscheibe. Er bot sich sogar wie
ein zur EntwOrdigung geborner Sklave Freun-
den, die Edelleute von einigem Ansehen
vorstellten^ selbst dar. Diesmal erbat er
sich von der Hausfrau die gnädige Er-
laubnis, einen jungen Kameraden, den
Fflhnricli von Turneck, präsentieren zu
dürlcii — der Kapitän präsentierte nur
Adelige von geprüfter Abstammung — , er-
tiielt sie und die sclimetctielhafte Gewahr
Überdies» den neuen AnlcOmmüng gleich
zum Mittagstische mitzubringen. Er ging, und
Gra^ Paris versäumte die Gelegenheit nicht,
ihn zu begleiten und sich so einer Unter-
redung zu entziehen, die, wenn sie sicherlich
auch nicht auf das Wesentliche gesteuert
hatte, doch durch den Mangel an Unbefan-
genheit ihm unbequem zu werden drohte.
Auf dem unter ihren behaglichen Tritten
Icnirschenden Kiese des Vorgartens angelangt
schlang er leicht seinen behenden Arm in
den massivern des Freundes und lieft
sich mit höflicher Aufmerksamkeit von ihm
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die Anstalten verraten, die zur Erhöiiung
der Festfreude für den Abend geplant er-
schienen. Man wollte^ erfuhr er, die Grflfin
durch eine musilcalische Darstellung er-
götzen, die im Park am Flusse nach ein-
gebrochner Dunkelheit bei dem flackernden
Scheine weniger Faclceln nur gleichsam aus
dem Stegreif sich auftun sollte. Die Qrund-
zQge der im übrigen der Laune, der Ein-
bildungskraft und Geistesgegenwart unge-
zwungener Akteurs zu überlassenden Szene
seien von Gurnemann entworfen.
»Natürlich«! bemerkte lächelnd der Graf.
Der Kapitän fiel sofort ein: »Und er spielt
und singt auch den Prolog.«
Gurnemann, ein junger Diplomat, der
fürstlich H . . . . sehen Mission am Hofe zu
K. zugeteilt, war dem Alteren, wenn nicht
verhaßt, doch lästig, da er, nicht ohne
schmeichelhaften Erfolg und mit noch
größerer Bewußtlieit dieses Erfolges, bei der
Gräfin, obwohl selbst verheiratet, kokett die
Rolle des begOnstigten Amoro«o mimte. Nie-
mand in dem kleinen Kreise hatte seine
Ausnahmsstellung unbemerkt bleiben können.
Verstand es docii der auf körperliche Vor-
zflge eitle, vorlaute Ournemaniii diese seine
neidenswerte Beziehung jederzeit in wenig
angenehme Erinnerung zu bringen^ teils indem
er, einigermaßen plump, Ansprüche des nah
Vertrauten geltend machte, teils durch eine
Art von Httteramt, das er sich Uber den
engern Verkehr des gräflichen Hauses an-
gemaßt hatte.
In der Seele des Grafen erhob sich mit
immer lebhaftem Farben das Bild des frühen
Morgens. An der Seite des erregt auf ihn
los sprechenden Freundes schreitend, befand
er sich in Gedanken bei der samtäugigen
Dame, die ihn heute endlich erhört hatte.
Er sah sie im dämmrigen Alkoven — das
Licht des von jubehiden Vögeln angekündigten
Tages drang durch die im kühlen Luftzug
schwankenden LeinwandvorhSnge der Fenster
[12]
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herein — , ihr aufgelöstes tiefschwarzes Haar,
das dUnne Seidenhemd, halb herabgeglitten
von den matten runden Schultenii den nackten
Fuß, wie er in dem rosa Pantöffeiclien
zierlich wie in einem BlOtenIcelche ver-
schwand. Sein Herz zog sich zusammen im
Nachgefühl der beseligenden Stunde, die
er, über den Ballcon, ein schon Erwarteter,
eingestiegen, im Raiisch der lange ver-
lialtenen Begierde genossen hatte. Fast wan«-
delte ihn die frevle Lust an, den Begleiter,
den er sich treu ergeben wußte, in das l<öst-
liche Geheimnis einzuweihen, Frau Jolanthe
Qumemann, die Spröde, habe ihn, Paris,
liebend in ihre Arme geschlossen, unter dem
melancholischen Sebastian des Da Vinci,
den auch der Kapitän einmal im helige-
musterten Schlafgemache hatte bewundern
dürfen, da die Kunst alle Rflume weiht und
Gönnern eröffnet Nicht verhehlen freilich
Iconnte sich der Graf, daß ihm, dem sattsam
Verwöhnten, diesmal zu gutem Teile die Eitel-
[I3j
«
keit der Dame zum Erfolge verholten hatte. Er
mochte, ohne tiefere Leidenschaft für sie, wie er
sich fand, das Weib bemitleiden, das, nach-
dem es seinen wundervollen Körper ihm nicht
verweigert hatte, ein Leben lang mit unaus-
bleiblichen Selbstvorwflrfen der Erinnerung
an eine kaum bedankte Übereilung nachzu-
hangen verurteilt schien. Denn die reizende,
reiche und auch geistig begabte Frau hatte,
ohne den Taumel gebäumter Sinne, wenn
nicht zur Rechtfertigung, doch zur Erklärung
des entscheidenden Schrittes in Anschlag
bringen zu dürfen, eigentlich nur einer Laune,
einer kecken und also um so sichrer später
sie zu peinigen geeigneten Laune, sich wie
mit trotzig geschlossnen Lidern überlassen,
die — es stand ihm klar vor Augen — den
Empfänger beschenkte, ohne ihn zu bereichern.
Was bedeutete diese charmante Episode in
seinem, weiche Epoche mußte das Abenteuer
in ihrem Leben vorstellen]
Die Gräfin war, als die Männer sich ent-
[14]
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fernt hatten, noch eine Weile am Frühstücks-
tische sitzen geblieben. Ein unangenehmes
Gefühl wollte sich nicht bannen lassen. Schon
der Auftritt zwischen den Bediensteten halte
ihr wie ein fibler Geschmacic auf der Zunge
die heitre Wirkung des Fest morgens geschä-
digt. Sie war, entschlossen, sich störenden
Einflössen, die von außen kämen, zu versagen,
mit sehend-ttichtschauenden Blicken dem pein-
lichen Vorfall ausgewichen. Die Verspätung,
das sichtlich befangne Erscheinen des Gatten
mußten im Verfolg der Abergläubischen die
Ankündigung unliebsamer Ereignisse l>edeuten.
Sie war gewohnt, den gelassenen Gang ihres
Oaseins durchaus nicht aufhalten, ihren eignen
Neigungen hingegen ungehinderten Lauf zu
lassen. Das leichtsinnige Wesen des zu kleinen
irr- und Wechselfahrten seit jeher schon ge-
stimmten Gatten, eine bequeme äußere Lage,
ihre sieghafte Schönheit, der man jede Laune,
]a manche Unart zugute schrieb, hatten sie
mehr und mehr dazu vermocht, sich als ein
[16]
nur zum OenieBen, zum Herrschen gebildetes
GescfK^pf zu em]ifindefi; die Wonne der
weiblichen Demut, der Hingabe, des Dienens
im weitesten und edelsten Sinne, war ihr fremd
geblieben, ihrer selbst voll bewußt, empfand
sie die Welt als einen nicht allzu großen,
sidi um sie langsam Ins Enge ziehenden
Kreis von selbstverständlichen willfährigen
Bemühungen um ihre Zufriedenheit. So hatte
sie dem einen, dem andern, nachlässig geruh-
sanii manche Annäherung verstattet^ die ein
eitler Mann wohl als persönliche Gunst hätte
auslegen können, während es Im Grunde nichts
anders war als Lässigkeit in Ansehung jeglicher
Pflichten, soweit sie selbst dabei das verpflich-
tete Wesen hätte vorstellen müssen. Oberfläch-
liche Beobachter, von dem Gemahl auf die
Lebensgefährtin schließend, zählten gar eine
Reihe allgemach begnadeter Liebhaber auf. Daß
dem bisher durchaus nicht so war, dazu trug
nicht zum geringsten Teil der Umstand bei,
daft durch den nichts weniger als auf Ihre
[16]
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Person gesammelten Gatten ihre Sinne zwar
gereizt worden waren, sich aber nicht ent-
faltet, ja wohl kaum noch geblüht hatten.
Auch hielt eine in enger Icalvinischer Geistes^
zucht erwachsne, bedingungslose, unlcritische
Fiömmigkeit sie, wenn nicht von gelegent-
lichen Gedanken und Vorstellungen, docti von
Wünschen ab, die irgendwie die Fleisches-
lust streiften. So war sie, bei gesundem, voll-
saftigem Körper an einen zerstreuten und zer-
streuenden Mann als den am wenigsten ge-
eigneten Erzieher ihrer dumpfen Seele ge-
wiesen, eigentlich noch nicht zur Frau gereift
und ein verwöhntes Kind geblieben, das
hinter der schirmenden Halle hoheitsvollen
Gebahrens unschuldig sein Dämmerwesen
trieb. Das zuzeiten in Fernen verlorne
Träumen ihrer blauen Augen konnte einem
Erfahrnen verraten, daß hier ein Leben noch
nicht zu seinem Ringe sich gerundet hatte . . . .
Da Paris den Kapitän offenbar noch eine
Strecke Weges begleitet hatte, begab sich
2
die Gräfin^ gefolgt von ihren Hunden^ in den
Park hinauf. An einer schattigen Stelle waren
einige Stühle um einen zierlichen Tisch zu einer
kleinen Gruppe versammelt. Sie ließ sich da mit
einem in Seide gebundnen Buche nieder. Doch
ihre Gedanken verweilten nicht auf den Zeilen.»
Dort überraschte die Langhingestreckte die
Baronin Lisa^ ihre Outsnachbarin, gleichfalls
eine hohe Gestalt, doch nicht von der kräfti-
gen Fülle der Gräfin, vielmehr Uberaus zart
und bei ihrer ungewöhnlichen Größe fast zu
schlank^ strohblond und aus grauen ver-
schatteten Augen vor sich hinblickend.
Sie setzte sich neben die Freundin und
spielte vertraut mit den Hunden. Von Lisa
wußte die Gräfin, daß ihr Paris nicht gleich-
gültig geblieben war. Sie hätte mehr, hätte
wissen mOssen, daß bis vor kurzem noch
weit draußen im Land ein überaus verliebtes
Pärchen bei sichern Herbergsleuten nachmitt-
täglich sich zusammenzufinden pflegte
Nicht nur zu gratulieren, war die Baronin
[18]
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gekommen. Der regen Eifersucht der Ge-
liebten hatte nicht verborgen bleiben Icönnen»
was der stumpfern Gattin entgangen war.
Und was jene peinigte, daran sollte diese
nicht ungekränkt vorüberwandeln dürfen. Haß
gegen die Ruhe der schönem Partnerin an
dem Ungetreuen — Lisa emirfand seine Un-
treue als ein Verbrechen^ und nur an ihr
selbst begangen — stieg, je schwieriger sich
die heikle Aufgabe gestaltete, in der Illegi-
timen auf, die nicht einmal das Recht besitzen
sollte, sich in der empörendsten Weise fOr
verraten zu halten, sich offen zu beklagen.
Mit der heitersten Unbefangenheit — Frauen
sind ja geborne Diplomaten — fing sie an.
Ob Gurnemanns kämen? Natürlich doch?
Wann wflren die Oberlästigen nicht zu finden,
zu empfinden gewesen 1 Der Gräfin war hier
zugleich — es galt ein größeres — eine
scharfe Sonde ins Herz gesenkt. Sie konnte
nicht verteidigen, wo sie^ was Max Gurne-
mann, den Amoroso, betraf, Argwohn gegen
[isj
sich selbst vermuten mußte. Sie befand sich
einen Augenblick unsctilüssig über die Farbe
der zu erteilenden Antwort Doch die unleid-
liche Frau mochte tragen^ was sie deren
Gatten aufzubürden In leiser Dankbarkelt fUr
seine zärtliche Dienstwilligkeit sich verwehrte.
Und so fanden die Damen einander darin
einig, daß Frau Jolanthe Gurnemann ein
widerliches Geschöpf sei, kokett ohne das
natOrliche Maß der Schicklichkeit, zudringlich
ohne Berechtigung, anspruchsvoll ohne Billi-
gung der Bedürfnisse andrer. Es war eben
nicht zu verkennen, daß ihr, der Tochter des
geadelten Pächters^ Im letzten Grunde der
Takt mangle^ den entbehren und mit solcher
Entbehrung aus Hüfliclikeit sich abfinden zu
müssen, man keine zwingenden Gründe
gelten lassen wollte. Ja, daß sie — rasch ent-
schlossen spielte Lisa ihren Trumpf aus —
unverschämt nach den Männern angle, sei
der Gipfel ihrer Prätension. Wie unangenehm
der teuersten Freundin ihre Bemühungen um
[SO]
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Graf Paris sein müßten f.. . Die Baronin
harrte der Wirkung ihrer mit dem Tone
des herzlichsten Bedauerns^ wobei sie die
Hände der vor ihr Ruhenden teilnehmend er-
griff^ ausgesprochnen Worte. Die grauen
veischatteten Augen hätten verrateui was
ihre Worte zu verbergen nach einem lang-
jährigen Hofleben nur zu geschicl<t waren,
wenn nicht die Gräfin, im bittern Vorgefühle,
wie nun einmal der Tag auf das ärgerlichste
zu verlaufen bestimmt sei, nach dem Aus-
kunftsmittel geforscht, der boshaft Teilneh-
menden die ganze Last überzuwälzen, und
dabei instinktiv ihre eignen Bücke gleichsam
nach innen hätte sinken lassen. Konnte sie
auch der Nebenbuhlerin aus Stolz nicht zu-
geben, daß sie eine wäre, sie fand ein Wort,
das die zu ihrer Plage allzu Kinderreiche
tief kränken mußte: »Mein Mann beschäftigt
mich«,sagte sie spitz, »nichtso unehigeschränlct
wie der Deine Dich, meine Liebste.« Der
Baronin schoß das Blut in das magre Gesicht;
[2lJ
Ihre ganze Haltung ließ sie fallen und rief:
»Und der Deine betragt Dich uneingeschränkt,
mein Schatz!« Die Qrflfin hatte sich indem
geräumigen Armstuhle halb erhoben. Die
Stirne vorgesenkt, die blauen Augen sprü-
hendy rief sie: »Willst Du Dich etwa selbst
damit brQsten, weil niemand anders ihm
seine Qeschmacklosigiceit neidet?« Den per-
sönlichen Schimpf mit ihrer schneidendsten
Waffe parierend, fuhr die Beleidigte auf:
»Wohl magst Dus Geschmacklosigkeit heißen,
gerade eine Frau Oumemann mit den kärg-
lichen Oberresten eines Feuers zu beglttcken,
das in der Ehe trübe genug brennt!«
Unglückseligerweise erschien in diesem
Augenblicke, da die beiden Frauen wie
Fechter im Ausfall einander gegenüber
hielten, Graf Paris. Das gewohnte lose
Scherzwort erstarb ihm auf den Lippen,
als er mit dem geübten Blicke des stets auf
der Hut Schleichenden die Situation übersah.
Die Baronin, hochgerötet, stand gehfertig.
[22J
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Er ergriff ihre Hand, — jetzt galt es, mehr
als die Stimmung einer Stunde: galt, die
Bequemiiciikeit vielleicht einiger Woctien
zu retten^ das fühlte er — küßte sie galant
und zwang sie sanftgebieterisch an seine
Seite. »Geheimnisse, Liebling?« rief er der
Gattin zu, die sich langsam in den einer
Ruhbank ähnlichen Sessel zurücksinken
ließ, und zog die Baronin mit sich fort.
Außer Hörweite von seiner Frau gelangt^
begann er, die Baronin heftig mit dem Arm
an sich pressend: »Was gibt's, was hast Du,
Lisa? Eine Eifersuchtsszene mit Elviren?«
»Abscheulicherl« - noch zitterte die Er-
regung in der gegen ihren Willen von der
vernichteten Gegnerin also hastig Hinweg-
gezerrten — »Ich verbiete Ihnen, mich so zu
nennen!« »Warum, meine Güttin?« Er war
stehen geblieben. Seine klugen kleinen Augen
drückten maßloses Erstaunen aus. »Was habe
ich verbrochen — außer an ihr, die Du, Böse,
jetzt eben so schonungslos, scheint's, miß-
[23J
handelt hast?« »Wa$ Sie verbrochen haben,
Oraf Paris? Sie wagen es, mich zu fragen?»
«Ich wage es«, rief der Graf, der längst
bei sich festgestellt hatte^ daß Lisa der früh-
morgendliche Besuch bei Joianthen verborgen
geblieben sein musste. »Ich wag* es.« »Ich
aber habe ke\ne Lust, in den Schlamm zu
treten, Du — Sie Wüstling!« sprudelte die
Wütende. Lächelnd versucht' er's, sie zu
lassen. Sie sprang vor der Berührung wie
rasend zurttcic. Er drängte nach. Sie stand an
einem Boslcett, in das der Weg abzweigend
mündete. Sie hineinzwingen, ihr an den Hals
fallen, ihren Mund, Stirn, Wangen, Hals und
Augen mit heftigen, stürmenden Küssen be-
declcen, war die jähe Tat eines sieghaften
Willens.
An ihrer Brust flüsterte er; »Innigstgeliebte,
banne Deine schöne Eifersucht! Du weißt
doch, daß ich einzig Dir gehöre!« Es ge-
lang ihm^ sie unter währenden Liebkosungen
zu beschwichtigen. Arm in Arm verließen
[24]
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sie das ßoskett, Lisa mit sich selbst nicht
im reinen; verlegen, willenlos. Er bat sie
inständig; mit Gabriel; ihrem Gatten, zur
Mittagstafel unbedingt zu erscheinen. Er
werde bis dahin alles bei Elviren in Ordnung
gebracht; eine förmliche Versöhnung vor-
bereitet haben. Er half ihr in die Sänfte, er
drängte sich mit halbem Oberkörper ihr
nach und ließ eine Weile seine schmeichelnde
Hand auf ihrem Knie aufruhen. »Leb' wohl,
meine geliebte Lisa«, flüsterte er. Und nach-
winkend noch: »Auf Wiedersehen 1«
Dem langsam ZurUckwandelnden ward
einigermaßen bange bei dem Gedanken,
nun vor der Gattin erscheinen zu mOssen.
Er verzögerte seinen Schritt noch mehr.
Aber der in allen Ränken und Abenteuern
Erfahrne fand bald den Weg zum Erfolge.
An der Windung, die zu ihrem Sitze ge-
leitete, begann er zu laufen« Atemlos
scheinbar stand der Geschmeidig- Hochge-
wachsne voi Eiviieu. Er kniete nieder. Er
[25]
stützte seine langen gebräunten Hände auf
ihre Schenkel, die sie unwiilig wegschob.
»Elvire, meine Liebste^ was hast Du?« rief
er. »Du siehst einen unglücklichen Gatten
im Staub vor Deiner Majestät!» Das thea-
tralische Pathos wagte er mit seinem harm-
losesten Lächein, mit einer fibertriebnen Geste
der Verzweiflung zu begleiten.
»Ihr habt gestritten? Sie scheint erbittert,
nur mit Mühe ist es mir gelungen, sie zu
bewegen, daß sie wiederkehre. Ich habe
verbrochen, Versöhnung zwischen Euch zu
stiften* Hilf dem Unseligen, der nicht ahnt,
was die Unzerfarennüchen hat entzweien
können!«
Der Gräfin war reichlich Zeit geblieben,
zu bedenken, womit die Leidenschaft Lisas
sie ttbeischüttet hatte. Unzählige Male hatte
sie sichs wiederholt, dafi diese nicht anders
hätte handeln können, wenn sie nicht Gewiß-
heit besätSe, und hundertmal halte sie selbst
dem widersprochen. Nun lag ihr Mann vor
[96]
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ihr, den sie scheute, vor dessen Überlegner
Klugheit, dessen Spotte der Enggeistigen
immer bangte. Sie war in ihren Entschließungen
noch nicht fertig, schwankte zwischen Stolz,
Ingrimm und Zweifel. Er nQtzte den Moment
»Die arme Lisa hat Dir gewiß, nicht
wahr, eine Eifcrsuclitsszenc gemacht? Die
gute Seele I Sie liebt mich eben heiß — .«
Er lächelte boshaft »Du siehst, wie behutsam
ich ihre Hoffnungslosigkeit karessiere. Denk
doch, Liebste, Säße, wie traurig es der
Verblühten ums Herz sein mag. So oft sie
Dich sieht, meine strahlende Aphrodite, wird
ihr karger Leib von Neid geschüttelt Gönn'
ihr die Wonne eines kleinen Wutanfalls.
Bedenke, die Frau hat sieben Kinder an
ihrem dürftigen Busen genährt.« Dieses Ar-
gument verfehlte seine Wirkung. »Und ich
keines!« Keuchend hatte sie s herausgestoßen.
Dunkle Röte überzog ihr Antlitz. Die blauen
Augen schimmerten. Aus seiner Ungeschick-
lichkeit gestaltete der Graf die zärtliche
L27J
Schlinge, mit der er die nun in Tränen —
Bitterlcelts- und Nervenirflnen — Gelöste, eine
Tauinelndc, einting. Einen Arm um den
schluchzenden Leib gelegt, auf sie ein-
sprechend zärtlich-gedämpft wie auf ein
Kind, fQlirte der Gewandte die Rat- und
Willenlose. Die kaum getrockneten Zähren
mit vorgeneigteni Haupte, so gut es anging,
bergend, schritt sie nun rasch an der
stumm-erstaunt aufblickenden Jungfer vorbei
in das innerste ihrer Gemächer. Doch sich
der Abspannung hinzugeben, ließ ihr der
kundige Gatte nicht Zeit, wohl wissend,
daß es jetzt auf rasche Übergänge an-
käme, jähen Szenenwechsel. Er schickte
die Zofe sofort hinter ihr drein, selbst noch
in der Türe mit sorglos heitrer Stimme
mahnend, sich bei der Toilette nicht zu
versäumen.
Die Tafel war im Freien, hinter dem
Schlosse gedeckt. Der Platz der Gräfin glich
[28]
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einer Blumentaube. Man hatte eine drei-
teiüge chinesische Tapetenwand mit Gewin-
den bekränzt. Die zuhöchst angesteckten,
lauter rote Rosen, sammelten sich wie ein Dach
über dem Sitze. Der Kammerdiener war, nach
einem letzten beherrschenden Blick über die
Tafel hin, zu melden gegangenj daß man be-
dient sei. Die Gesellschaft befand sich, in
Gruppen aufgelöst, in dem höher gelegenen
Teile des alten Parkes. Die Herren boten den
Damen die Hand und geleiteten sie die sanft
absteigenden Wandelwege hinab, an getürmten
Felsgruppen vorbei. Vor einem auf der Muschel
blasenden pausbäckigen Götterknaben blieb
Frau Gurnemann stehen, das schlohweiße
Musselinkleid über dem weißen Seiden-
strumpfe zierlich mft der Linken gerafft:
»Er bläst heute den Triumph Ihrer Ehe,
Gräfin Elvirc. Sie wandte das kecke
Profil über die Achsel weg nach der An-
gesprochnen, die der Baron führte. Der
Graf, mit der Baronin voraus, hielt an. Die
f29j
Baronin sagte ganz laut: »Man hört ihn
nicht. € Niemand Iconnte die heftige Röte
entgehen, die die Wangen der Gräfin heiß
bis in die Schläfen hinauf überflog. Sie
zwang sich zu einem Lächeln. Die große
schöne Frau fand Icein Wort der Entgegnung.
Der Baron winlde seiner Gattin verlegen-
mißbilligend zu. Der Graf blickte Jolanthen
an. Sie hielt den Blick aus...
Die rote Reihe der Lakaien faßte die
Sessellehnen an und neigte die gepuderten
Locken.
Der Fähnrich von Turneck wandte bei
Tische kein Auge von der Gräfin. Er schob
sogar die weitgebauchte Vase, die ihm den
vollen Ausblick auf sie hemmte, etwas zur
Seite. Doch errötete er, da er sich sofort
auch seiner Ungeschicklichkeit bewußt ge-
worden war. . . Der Kapitän hatte sich's nicht
nehmen lassen, ihn der Hausfrau selbst an der
Hand aufzufahren. Es war ein zarter Junge.
In seinem regelmäßigen frischen Gesichte
[»0]
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glänzten die Augen wie zwei dunlcle
FrQchfe. Er hatte die Icleinsten Füße, die
wohl je ein Fähnrich besessen haben mochte.
Kaum um eine Spanne waren sie länger als
die der stattlictien Gräfin. Als sie itim die
Hand reichte — der Aufruhr der bekämpften
Bewegung stand ihr wie eine Flamme unter
den Wimpern — , zitterte diese einen Augen-
blick. Der Fähnrich nahm's als ein gutes
Omen. Er küßte die schmale Hand inniger,
als es die Gräfin sonst verstattet haben wttrde.
Jetzt saß er in lodernder Glut und trieb, da
er des Weines nicht schonte, die Lohe nur
immer hülier und höher empor. Er liebte
begehrend, mit dem wilden Willen rascher
Jugend.
Guraemann seinerseits ward zusehends ver-
stimmter. Er, der gewohnt war, in gelassner
Muße selbstgefällig der Gräfin zu huldigen, der
in Duetten ihr als Sänger, dann wiederum, das
Buch in der Hand, aus dem er Hymnen und
Oden vorias, als ein Gestalter, ein Dichter fast
[31]
sich ihr genähert hatte — so erschuf er den
Augenblick — , fand sich heute wie von
einem Feinde gedrängt. Unruhig wandelte
sein Blicic die Tischgenossen entlang. Seine
gepflegte Hand zerknallte das weiße Oebflck.
Sein Fv&f ermutigt durch den Kampf um das
Vorrecht, wagte sich an den Seidenpantoffel
der Nachbarin. Hastig, empört, gewarnt vor
diesem Gatten des verdächtigsten Weibes,
zog die Gräfin das schlanke Bein zurttck.
Qumemann erbleichte. Er fühlte einen Sieger
über sich... Da trank mit ehrerbietiger Nei-
gung, doch die verhaltne Leidenschaft im
Blick und um die sanft gebräunte Lippe,
der Fähnrich der Hausfrau zu. Sie dankte,
indem sie an ihrem Glase nippend hinüber-
schaute. Gurnemann schien's ein Einverständ-
nis. Er rückte den Stuhl ab... Der Kapitän
bestritt aufgeräumt das Tischgespräch. Er
höhnte über täppische Sitten mancher dem
Kreise nicht ganz unbekannt gebliebner
Landstädter. Nie war er herber, als wenn
(32]
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er verurteilte, was er selbst an sich einst zu
überwinden gehabt hatte. Graf Paris leitete den
Kaskadenbach persönlichen Spottes in das
behagliche Bett allgemeinerer Verhältnisse.
Da kam an den Fähnrich auch die Gelegen-
heit, sich lauter vernehmen zu lassen. Er
sprach hinauf zur Stirnseite, befeuerte seinen
Witz an beifälligen Blicken. Die Gräfin ließ
auf dieser Insel lauterer Kraft die Seele aus-
ruhen. Ihr ekelte heute vor dem KapHfln,
Gurnemann haßte sie geradezu. Der Un-
glLickselige unternahm es gar, in vertrau-
lichem Flüstertöne sie gewissermaßen an
Beziehungen zu mahnen, die sie eben
jetzt durchaus nicht gelten zu lassen
gestimmt war. Mit erhöhter Stimme, kalt,
ja schneidend, mit einem verachtenden Bücke
strafte sie ihn, lieferte den Flüsterer der ali-
gemeinen Aufmerksamkeit in peinlicher Weise
aus. Frau Gurnemann nahm's mit Genug-
tuung auf. Sie ahnte dieses schöne Bild
ichsüchtigen Friedens verschattet; vielleicht
8
[»»]
zerstört. Ihrem eitlen Manne gönnte sie
jede Demütigung, um so mehr, als sie ihm
gegenüber, den sie nicht willig ertrug, sich
schuldig zu fohlen tief begründeten Anlaß,
aber nicht die geringste Lust empfand. Die
Baronin zQrnte Paris noch immer, daß sie
sich hatte zu einer Versöhnung willig finden
lassen, so kalt gemessen diese auch vor sich
gegangen war. Der junge Vikar am untern
Ende der langen Tafel — es saßen noch unter-
schiedliche QSste daran — beobachtete stumm
die Runde. Kaum daß er hie und da auf offen-
bar mitleidige Fragen seiner Nachbarin, einer
hochgewachsnen Base des Hausherrn, ant-
wortete, die ihn durch ihre dunkeläugigesicher-
kalte Gegenwart eher verwirrte, als ganz zu
sich selbst gelangen ließ. Komtesse Fanni hatte
allen Grund, sich über ihren zweiten Nachbar,
den knabenhaften Fähnrich, zu beklagen,
der, unruhig nach oben hin gewendet
Ihrer kaum achtete. Den Kapitän aber,
der sich ihr oft veitfaut-iachehid zuneigte,
f34j
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mochte sie längst nicht leiden. Sie ahmte
ihm sonst gerne nach, wie er hochtönende
Namen mit Behagen aussprach, als genösse
er saftige Speise.
Im nachmittagskahleren Gange zwischen
beschnittenen grUnen Wänden längs dem
weitgestreckten Becken der Neptunfontäne
war es Gurnemann gelungen, Seite an Seite
mit der Gräfin, sie ihren Schritt etwas ver-
zögern zu machen. Aber als er, neuerlich
unbesonnen, schtJchteme Vorwürfe wagte,
enteilte sie ihm und nahm mit Bestimmtheit den
Arm des erbebenden Fähnrichs.
Gurnemann stand, klein, kurzhalsig, hoch-
schultrig, einen Augenblick still. Dann machte
er kurz auf den Hacken kehrt und schritt mit
der Gebärde eines Schlüssigen hinweg . . .
Am Flusse ward Anstalt zur Theaterunter-
nehmung getroffen. Er mischte sich an-
ordnend unter die Bediensteten, geriet mit
dem Kapitän in leichten Streit, schrie einen
Bootsknecht unwirsch an und brach sich an
3*
[35j
einem Latemenpfahle des Qerflstes den schön
gespitzten Nagel des rechten Zeigefingers.
Nun war seine Wut völlig.
Am Arme der schweigenden Gräfin war
der Fflhnrich — er zitterte von der Zehe
bis zum Scheitel, der Schweiß drohte aus
allen Poren ihm hervorzubrechen — , un-
wissend, ob er führe oder geführt werde,
in den dunlcelsten Teil des weitläufigen
Parlces gelangt Seine Gedanken waren, wie
eine Tigerkatze alle ihre Sehnen zum Sprunge
spannt, auf das einzige Ziel gerichtcl: diese
wunderschöne Frau zu besitzen oder — so
schoß seine wilde Jugend kopfüber durchs
Ziel — den Tod zu finden. Die bis an die
Grenze des Wahnsinns stOrmende Erregung
seiner Pulse hatte sich der sonst so ruhigen
Frau mitgeteilt. Auch ihr Blut brannte. Sie
war sich des Aufruhrs ihrer aus dem Schlaf
gescheuchten Sinne nicht bewußt. Unmut
gegen den Verräter von Gemahl und die
willigen Frauen, seine Mitschuldigen, erfnllte
[36J
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sie. Ihr unklares Denken schloß immer
mit dem tragischen Refrain »Rache«. Der
Fähnrich schwieg. Als ob er gefühlt hätte,
daß ihm, öffnete er nur den Mund, das
Herz entschlüpft wäre, hielt er den immer
drängender emporsteigenden Feind im Busen
krampfhaft nieder. Da6 dieser stärker wäre
als sein bangender Wille — seine Feigheit,
nannt' er's knirschend — , wußte er schon.
Wollüstig ließ er ihn heranwachsen. Seine
Augen verdunkelten sich von innen heraus,
als er an einer Wendung des Weges der
Gräfin zögernd um die Profillinle herum
und vom Ühr hinab in den Nacken sah,
hinter dessen weichem Flaum die Sonne,
sich langsam senkend, brannte. Befangen
wandte die Hohe den schlanken Hals* Da
trafen ihre Augen die seinen, sie hielten ein-
ander lest. Noch kämpfte jedes mit Wider-
ständen. Aber siegreich blieben diese fester
und fester zusammenwachsenden Bücke...
£r hielt sie in seinen Knabenarmen und
[87]
weinte vor schmerzendem Glück. Der Gräfin
schlug das Herz bis in den Hais. Sie
hatte die Augen geschlossen, ließ eine flam-
mende Dunkelheit wie einen Vorhang nieder-
rauschen über Ereignissen, deren jähen Sturz
aufzuhalten sie sich nicht für fähig hielt.
Wie eine Ertrinkende verschwand sie in den
Wogen einer nie geahnten Leidenschaft...
In ihm aber jubelte eine grelle Fanfare, und
unwillkürlich sang er leise mit einer heisern
Stimme, die aus den kochenden Tiefen der
Sinne stieg, die stürmenden Takte eines
Relterltedes. Wie er sie ergriffen, wie er
diesen unter dem knisternden Atlas gleich
dem Edelwild mit den Flanken zitternden
Leib sich unterworfen halte, der sich an ihn
drängte, als suche er eins zu werden mit
der stählernen Härte seines Qberschlanken
Körpers: er wußte es nicht. Es war Raub,
wie Feuer raubt, aufbäumend, lodernd, ver-
zehrend. . . Nun saß sie, die als eine Diana
seiner Einbildungskraft erschienen war, ab-
[38]
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weisend in ihrer majestätisch-kühlen, Lächelns
ungewohnten, großiinigen Art, aufgelöst, ein
sanftes seliges Kind, auf seinen Knien, das
sonst 80 frei und gebietend getragene Haupt
an seiner Brust, die warmen Finger um
sein Handgelenk geschmiegt, haltlos, leise
schluchzend in der Seligkeit der unbedingten
Darbietung. Das Weib in Gräfin Eivire war
erwaclit, nackt lag es, mit weictien Gliedern,
zärtlich, dankbar, demütig am Herzen des
Lebens... Die Sonne stand tiefer zwischen
den Baumkronen. Plätschern erhob sich. Sie
liatten nidit sein geachtet. Und wie sie nun
beide den glttckgebrochnen Bück in sQßer
Müdigkeit an der Urne hinanstreifen ließen,
in die aus einem bronznen Lüwenhauple
das reine ruhige Wasser fiel, tauchte lang-
sam die Weit herauf, lautlos, schattenhaft
wachsend, und beschloß den unermeßlichen
Horizont des Gefühls. Da fuhr die Gräfin
mit beiden Händen zum verstörten Haarbau
empor. . .
I39J
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Der Graf, in Gesellschaft Jolanthens, fühlte
sich einigermaßen unbequem. Ihm war es
darum zu tun, die Baronin völlig auszusöhnen.
Daran hinderte ihn Frau Gumemann. Die
Eitle war iiiclit willens, mit einer Alkoven-
freundschaft sich zu bescheiden : sie ver-
langte Triumph im vollen Sonnenlichte der
Sozietät. Der Graf seinerseits war nicht ab-
gesinnt, die leicht Eroberte der Baronin hin-
zuopfern, dachte er doch die Zugängliche
leicht wieder vom Augenblick und seinen
Wonnen zu überzeugen. Mehr war ihm
an der Baronin Freundschaft zu seinem
Hause als an der Amour gelegen, die ihn
flüchtig mit der Gumemann verband. Die
Baronin und seine Frau sollten im Leben
noch eine weite Strecke zusammen gehen.
Wohin die Woge die habsche Joianthe
werfen mochte, war ihm im Innersten gleich-
gültig. Schon spitzte sich die Situation wiedor
bedenklich zu. Die Gräfin war verschwunden.
Die Baronin mußte sich für doppelt ver-
140J
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nachlässig! halten, um so mehr, als sie ein
Opfer gebracht hatte, das schwer und schwerer
ihr Selbstbewußtsein belastete. Aber auch
Frau Qumemann empfand, daß heute mehr
auf dem Spiele stand als körperliche Zunei-
gungen: ihre Stellung in diesem Kreise. Sie
hatte sich — so ward's ihr, noch dunkel zwar,
doch langsam immer deutlicher gegenwärtig
— durch die Hingabe nicht, wie sie vielleicht
vorübergehend hatte glauben mögen, den
Grafen Paris und sein Haus gesichert,
hatte im Gegenteil — ihr kleines braunes
Gesicht überzog die wachsende Röte des
Unmuts — durch diesen Schritt der sorg-
fältigst gepflegten Beziehung in ihrem Kern
geschadet. Es galt, alles zu retten. So
kämpften beide Frauen einen iieftigen Kampf
gegeneinander, indem sie, jede für sich,
die Ereignisse dieses Tages, instinktiv mehr
als verstandesmäßig, überflogen. Der Graf
stand mitten inne und empfand die drohende
Nähe dieser geballten Atmosphäre. Ent-
[4lJ
schlössen verließ er Jolanthen, sich der
Baronin anzutragen. Er verschaffte der Ver-
blüfften einen offenbaren Sieg, indem er
sie am Arme mit rascheren Schritten weiter-
führte. Die Niederlage war fOr Frau Gume-
mann vollständig, da sie sich dem Kapitän
Oberlassen fand, indem der Baron es vorzog,
mit Gräfin Fanni zu plaudern: er war
Frau Jolanthen gegenüber seiner selbst nie
ganz sicher. Der Kapitän, verdrießlich, aus
den Regionen des Gebltttes in das der
Geduldeten zu geraten, wie denn gesell-
schaftliche Streber immer äußerst feinfühlig
gegen Ballast sind, schritt stumm neben
der Gurnemann einher. Ihrem Gatten waren
einige der jttngem Herren an den Fluß
gefolgt. Der Rest der Gäste verweilte in
den Gewächshäusern. Der Pfarrer hatte sich,
unbehaglich, verzogen.
So kam es, daß Gurnemann, als er, die
Gesellschaft ans Wasser zu holen, zurück-
kehrte, niemand im Rondell fand» Verstimmt
[42]
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und unschlüssig ging er umher. Er stieß
auf den Fähnrich, den die Gräfin, plötzlich
gewarnt, gebeten hatte^ möglichst unbefangen
zu den übrigen sich zu gesellen. Sie selbst
war auf einem Umweg in das Schloß ge-
langt und saß nun erschöpft vor dem Spiegel
des Trumeaus. Die Fenster standen offen.
Das Abendrot brannte über den Gipfeln der
Platanen. Ein leichter Lufthauch strich herein
Sie schloß träumend die Augen. Ein paar
verwelkte Blumen glitten aus ihrem GOrtel
unterm Busen. . .
Der Fähnrich sprach mit krampfhafter
Laune auf Gurnemann ein. Als dieser nach
der Gräfin fragte^ erhielt er eine verlegene
Antwort. Ein Argwohn, den seine Eitelkeit
sich nicht eingestehen mochte, stieg in dem
Obelgesinnten auf. Schon kündete Fackel-
schein vom Flusse her den Beginn der Dar-
stellung. Ein Chor erscholl. Graf Paris
sammelte die kleine Gesellschaft Man fahn-
dete nach der Hausfrau. Niemand wollte sie
[43]
gesehen haben. Der Oraf sandte einen
Bedienten ins Schloß. Frau Gurnemann trat
an ihn heran, gewillt, ihn nicht mehr frei-
zugeben. Er wich ihren fast drohenden
Bücken aus. Doch hielt sie sich an seiner
Seite. Der Kapitän bot der Baronin den
Arm und war sofort in den aufgeräumten
Ton geraten, der Wissenden ankündigte, er
befinde sich in der ihm genehmen Atmo-
sphäre. Die Gräfin erschien. Qumemanni
bleich vor Aufregung, stellte sie mit seinen
Augen zur Rede. Ängstlich verfolgte der
Fähnrich ihre Bewegungen. Die kurze Zeit,
die zwischen der leidenschaftlichen Szene
und dieser Begegnung lag, hatte sich ihm
mit Ewigkeiten gefttUi
Man war an das Ufer gelangt. Sitze warteten
der Gäste. Die Bedienten hielten Mäntel
in Bereitschaft. Die Fackeln warfen einen
zitternden Schein auf die stummen Fluten.
Eine Fähre legte an. Gurnemann zögerte* . .
Da wandte Mti die Gräfin. Nur ein Augen-
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blick war's, aber wie ein Tiger hinter iiira
her, iiatte Gurnemann ihn gepacliti (iiesen
flüchtigen Bück, der zartlich-verhraut den
Ffihnrich suchte. Der Gräfin schlug das
Herz gewaltig. Sie wußte von der Gefahr.
Sie sah den ergrimmten Feind. In Qurne-
manns Antlitz waren alle Muskeln gestrafft.
In dieser Qualminute fand die sonst so Un-
beratene, was einzig taugen konnte: sie ließ
ihr Auge in dem Gurncmanns verweflen,
zwang sich mit übermenschlicher Anstren-
gung zu einem Lächeln. Gurnemanns Krampf
entspannte sich. Noch zögerte er. Da gewann
ihr Lächeln Sicherheit Der Kopf schwindelte
ihm. Und das Lächeln warb... AIkt auch
Frau Gurnemann, der sich Graf Paris ge-
schickt entwunden hatte, war dieses Lächeln
nicht entgangen. Sie sah ihres Gatten Unter-
liegen, sah die Schöne, Gehaßte Siegerin
über den kleinen, verachteten Mann. Wehr-
los stand sie. Ihr Busen flog. . .Der Kapitän
mahnte jovial den Hauptakteur an seine
[45]
Rolle. Gumemann sprang auf die Fähre.
Die Grflfin ließ sich völlig ermattet in einen
der leichten Stühle nieder. Der Graf trat
vor und Icündigte, ihre Hand ergreifend und
küssend — sie ließ sie ihm willenlos mit
launigen Worten das Spiel an. . .Kaum hatte
er einige Sätze gesprochen^ als ihn ein Ge-
räusch von der Fähre her unterbrach. Man
strengte sich an, zu selieii; was es gätoe.
Die Fähre war in den Schatten gelangt.
Gurnemann, in der heftig erregten Stimmung,
die ihn bezwang, war, auf dem Floße vor-
wärts eilend, mit der Bewegung des langsam
wieder heran geruderten Fahrzeugs in Gegen-
satz geraten und gestrauchelt. . . »Es ist
nichts!« rief er hinüber, da der Graf mit
mächtiger Stimme — er warf seine Unruhe
so von sich in die Luft — anfragte.
Die Fähre schwamm näher. In einem
weißen Mantel stand Gurnemann an der
Längsseite. Die Mandolinen begannen. Sonst
herrschte Schweigen. Nur die Wellen kämpften
[46]
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gurgelnd gegen das Hindernis der durch das
Einstemmen der Ruderstangen gestauten
Plätte.
Während Oumemanit sang, bemühte er
sich, das Dunkel am Ufer zu durchdringen,
das bei dem verstärkten Scheine der an Bord
der schwimmenden Bühne allmählig reichli-
cher entzündeten Fackeln nur immer tiefer
drüben heraufwuchs. Einen Augenblick glaubte
er den Fflhnrlch zu erkennen, dessen schmales
Gesicht sich hinter den Schultern der Gräfin
hervorbog. Er deutete den Knechten an, näher
anzufahren. Der Nachtwind rauschte durch
die Kronen der alten Bäume. Wie magneti-
siert verfolgte die Gräfin Gumemanns Bewe-
gungen. Die Worte seines Liedes verklangen
vor ihren Ohren. Die Fülle dieser Stunden
machte ihr Herz heftiger und heftiger
schlagen. Sie fühlte ihre Sinne schwinden.
Die Schatten der Fackeln tanzten über dem
Wasser. Die Bäume schienen sich bis auf
sie herabzuneigen. Drohend schimmerte ihr
[47]
Gurnemanns gespenstisch blasses Antlitz ent-
gegen. Mit einem leisen Aufsclirei sank sie
in Ohnmacht. . . Wie ein Rasender drängte
Gurnemanm an den Rand der Fähre. Er sah
den Fähnrich zu Füßen der Gräfin. Un-
willigen Sinnes^ schienen ihm die Leute nicht
schnell genug zu rudern. Mit einem verzwei-
felten Satz erreichte er das Ufer^ glitt an ihm
aus und versank im Wasser. Nun drängte alles
zum Flusse. Den Jüngling von seiner Frau
fortschiebend, versuchte Graf Paris, die
Bewußtlose zu sich selbst zu bringen. Der
Kapitän hatte eine Ruderstange erfaßt^ an
der er die Fähre rascher heranzog. Gurne-
mann schien unter diese geraten zu sein.
Der Fähnrich, ausgeschlossen von der Ge-
liebten^ im allgemeinen Tumult seiner selbst
kaum bewußt, warf sich in den Strom. Es
gelang ihm, Qurnemann zu erfassen, den der
weiße Mantel, schwer ihn umwindend, hemmte.
Atemlos, den Mund voll Wasser, gurgelnd,
klammerte sich dieser an ihn an. Da drang
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gerade die Fahre mächtig gegen die Ringen-
den. Qumemann hatte den Fähnrich an der
Kehle erfaßt. Wie im Wahnsinn drückte er
zu. Der Jüngling sank unter. Die Fähre —
an der jetzt Gurnemann sich fing ~ ging
über ihn hinweg. Die trampelnden Schiffer
schrien. Mit Zischen verlöschten einige
Fackeln stürzend im Wasser...
Als die Gräfin die Augen aufschlug, er-
blickte sie den schnell geborgenen Toten.
Man hatte den Mantel über seinen Körper
gebreitet, die gräßlich verzerrten Züge noch
nicht bedeckt. Neben der Leiche stand
Gurnemann, vor Kälte zitternd. Der Kapitän,
mit gesenkten Mundwinkeln, hielt eine
Fackel
[49J
4
DAS SiELLDICHElN
Ein Nachtstück
4*
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Artur Schurig
sein Bruder in Stendhal
Der Marquis de Troaiilesy ein blu^imger
Attache der firanzösiachen Mission in Wien,
genoß das heitre Leben dieser liellen Stadt
mit der bewunderungswürdigen Ausdauer
eines neu Angeicommenen. In jeder schönen
Frau sali er das Ziei eines siegreiclien
Angriffs. Er hatte sich schon während der
ersten Tage nach seinem Eintreffen in allen
Häusern des Adels einführen lassen, und da
er noch in der Hochflut der Saison seine
Zuteilung erlangt hatte, war er auch also-
gleich mitten im Tumulte der gesellschaft-
lichen Lustbarkeiten. Seine feurige Jugend, sein
lebhaftes Auge, der Liebreiz seiner feinen Züge,
die etwas von einem vortrefflich gezogenen
Pferde besaßen, die Anmut seiner gewandten
Höflichiceity nicht zuletzt auch der Ruf großer
Reichtümer ^ er war der einzige Sohn ihn
vergötternder Eltern — boten ebensoviele
[55]
Garantien der glücklichsten Attachements.
Und bereits besaß der vielfach Gerühmte,
heimiich Beneidete auch einen nicht zu ver-
achtenden Feindy ein Umstand, der das
Interesse, das man an dem schönen Fremden
nahm, nur noch steigern konnte. Ohne viel
nach bestehenden Beziehungen zu fragen,
hatte der Marquis unter andern der Gräfin
Fanny Hohenmauth, der Gattin eines hohen
FunktionfifS der Monarchie, seine begehrende
Huldigung zu Fflßen gelegt und, gewöhnt,
nicht allzu lange zu tändeln, nachdem er
der entzückenden Frau ein paarmal an drittem
Orte begegnet war, sie allein zu Hause
zu finden die günstigste Gelegenheit wahr-
genommen. Durch die verdüsterten Spiegel-
Salons mit den vom Fußboden aufreichen-
den chinesischen Vasen und den vergolde-
ten Pfeiler-Konsolen war er, vom Lakaien
geführt^ in das Boudoir der Gräfin gelangt,
die ihn — sie hatte sich eigentlich über-
raschen lassen — etwas verlegen empfing.
156J
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Gr&fin Fanny wußte, warum sie bangte. Es
war die Stunde^ da sie jeden Augenblick
George Allan Seymours Besuch gewärtigen
mußte. Dies aber war der Gebieter der
reizenden Dame. Der Marquis, nachdem er
sich mit einem Büclce vergewissert hatte,
daß sie allein sei, koßte der Gräfin mit
zarter Inbrunst die schmale Hand, und, indem
er sie in der seinen behielt, sah er, das von
loclcigem Haar umrahmte Jünglingsantlitz
erhebend, mit einem seiner schmachtendsten
Blicke in diese kornblumenblauen Augen.
Ihre Befangenheit stieg, da er sich mit der
Ritterlichkeit des gebornen Frauenfreundes
auf ein Knie niederließ und an die leis Er-
schauemde folgende Worte richtete : »Gräfin,
Sie sehen, daß ich alles auf der Degenspitze
trage : Ehre, Leben und Herz. Ich liebe Sie
vom ersten Augenblick an, da ich das
Glück hatte, Sie zu sehen. Ich bin Ihrer
mit allen Gedanken des Tages und der
Nacht. Ich kenne kein andres Ziel als
[57J
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Sie. Hier lege ich mein Geschicl< in Ihre
kleinen Hände!« Nach diesen mit einer
wohlklingenden gedämpften Stimme rasch;
aber deutlich gesprochnen Worten erfaßte der
Marquis auch die andre Hand der Dame,
vereinte beide sanft, indem er sie mit der
Rechten umfaßte, und legte die Linke leicht
an die Stelle, wo unter dem Spitzenjabot
sein junges Abenteurertierz pochte. Da
schlug die kleine Pendttle auf dem weiften
Marmürkamin die vierte Stunde. »Stehen
Sie auf, Marquis«, sagte die Gräfin mit
einer Stimme, in der dem Knienden Ver-
heißung zu beben schien, »stehen Sie aufl
Es könnte jemand kommen.« Der Marquis
jedoch, ohne sich von der Stelle zu rUhren,
rief: »Sagen Sie, ob Sie mich lieben können,
Gräfin, ob ich Sie lieben darf!« Da dem durch
die Angst geschärften Gehör der Gräfin
soeben aus den anstoßenden Gemächern
nahende Schritte vernehmbar wurden, entwand
sie mit einer vom Entsetzen gestärkten
[58j
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Bewegung des Oberkörpers ihre Hand der
Umklammerung des ungestümen Liebhabers,
und, indem sie einen Sctiritt zurück sprang,
flüsterte sie, nur um diesen gefäiirlichen
Auftritt zu beendigen, mit gesdilofinen
Augen — der iVlarquis deutete das Zeichen
günstig — : »Vielleicht«. Sofort stand er auch
wieder auf seinen Füßen, schob den Degen
zurecht und legte die Hand auf die Lehne
eines mit lilarotem Damast aberzogenen
Pauteuils. Die Schritte erklangen nun un-
mittelbar hinter seinem Rücken. Er wandte
sich um. Der Bediente meldete Mr. George
Allan Seymour, und der Gemeldete folgte
ihm fast auf den Fersen. Der Marquis sah
ihn an und erkannte in ihm seinen Feind.
Allan Seymour war ein hochgewachsner
Mann von einigen Dreißig. Vollendet war
die Schmalheit seiner Hüften, vollendet die
Breite seiner Schultern, auf denen ein runder
mächtiger Nacken sa6. Dieser trug einen
dämonisdien Kopf. Das Gesicht hatten
[59]
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Leidenschaften zerrissen. Der Mund schien
eine aufgebrochne Spalte. Die Augen wan-
derten unaufhörlich.
Die Gräfin war einer Ohnmacht nahe. Die
beiden Diplomaten begrüßten einander kalt.
Und als der Marquis nacti einem kurzen
gleichgültigen Gespräche ging, schlug jener,
der sich rasch wieder gesetzt hatte, gelassen
Bein Uber Bein. Diese Bewegung erfüllte
den Scheidenden mit einer unsäglichen Wut.
Zwei Tage darauf bei einer großen Cour
sagte der Marquis zu der schönen Gräfin:
»Gräfin, ich will nichts wissen von einem
Nebenbuhler. Aber auf daß Sie ^cher seien,
habe ich mit Ihrer Kammerfrau ein Einver-
ständnis getroffen.« Die Gräfin erbleichte.
Die Kühnheit dieses Vorgehens war ihr wie
eine Verheißung gewalttätiger Ereignisse.
Das Einverständnis mit der Kammerzofe
hatte sich einfadi genug treffen lassen. Der
Bediente des Marquis war beauftragt worden,
noch^ an demselben Abende, da Hector
• [60]
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de Troailies der Gräfin seinen ersten, so
ungewöhnlichen Besuch abgestattet hatte,
sich dem Mädchen zu nähern und ihr die
Liebe seines Herrn anzutragen. Er hatte den
Befehl zur vollsten Zufriedenheit beider Teile
ausgeführt. Er konnte alsbatd dem Marquis
berichten, daß Pepi, die übrigens ein äußerst
liebenswürdiges Geschöpf wäre, sich der Ehre
solcher Zuneigung völlig bewußt sei.Darüber^
wie sein Gebieter dazu gekommen sein
modite, ihrer gewahr zu werden> hatte dem
Verschlagenen der Augenblick hinweg helfen
müssen. Er beließ der Angelegenheit den
Kosenschimmer eines duftigen Geheimnisses,
was das junge Ding nur um so sehnsüchtiger
zu stimmen geeignet war.
Am dritten Tage nach jenem ersten Besuche,
gegen elf Uhr nachts, fand sich der Marquis,
der durch seinen Bedienten alle Wege hatte
ebnen lassen, im dunkeln Mantel unter den
Arkaden des zweiten Hofes im Palais Hohen-
mauth ein. Ein Windlicht beleuchtete den langen
[61]
Korridor, der zu den Küchen und Gesinde-
räumen führte. Leise trat der Jüngling in den
Hof. Rund um den mit Steinen gepflasterten
Innern Raum liefen in naliezu doppelter Stock-
hi^he, wie im Vorderhause, Galerien.
Er hatte nicht allzu lange gewartet, als
ein leichter Schritt aus der Tiefe des
finstern Korridors sich vernehmen ließ. Zag-
haft kam Pepi heran und fühlte sich also-
gleich zfirtlich umfangen. Das Mädchen unter
die Leuchte ziehend, wo er es mit einem
prüfenden Blicke musterte, sagte der Marquis:
»Meine süße Kleine, wo ist deine Kammer?«
Nach dieser kurzen Ankündigung eines roman-
tischen Liebesuntemehmens, das der Zofe seit
zweimal 24 Stunden den Kopf verwirrte, und
naclidem er sie noch herzhaft abgeküßt und an
sich gepreßt hatte, gab er ihr durch eine ent-
schiedne Wendung seines Körpers zu ver-
stehen, daß er nunmehr mit ihr zu gehen
bereit sei. Das arme Ding, das sich beileibe
nicht einen so raschen Verlauf des Abenteuers
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vermutet hatte^ versuchte einige Abwehr.
Aber der energische Arm des jungen Mannes
zwang sie zu einer kleinen Wendcistiege,
die von oben her düster erleuclitet war.
Ohne weitern Widerstand, willenlos, ließ
sie sich von dem mit der OftÜchlceit bald
Vertrauten ftthren. Der Marquis genoB in den
sanften Armen dieser demütigen Magd seiner
Wünsche ein ungestörtes Vergnügen, das ihm
um so reizender erscheinen mußte, als er das
Manöver mit der Kammerjungfer eingeleitet
hatte, ohne im entferntesten die Möglichiceit
eines so annehmbaren Genusses zu ge-
wärtigen.
Einige Tage hatte er seine bescheidene
Kleine mit den Abfällen sozusagen einer großen '
Passion zu beglDcken gewußt, als er die
Zeit für gekommen erachtete, das Abenteuer
in seinem Sinne zu nutzen. Mittlerweile
war er auch in andrer Richtung nicht müßig
gewesen. Er hatte sich wieder einmal, und
zwar zur Stunde, da Seymour bei der Grfifin
[63]
sich einzufinden pflegte, im Boudoir der ver-
ehrten Frau gezeigt und nicht versäumt, den
schweigsamen Allan, den er diesmal durch
Beharrlidilceit mit ihm fortzugehen nötigte, in
der vertraueneinflüßenden Sorglosigkeit fri-
scher Jugend auf das charmante Verhältnis
aufmerksam zu machen, das ihm durch einen
liebenswürdigen Zufall im Hotel Hohen-
mauth sich ergeben hAtte. Der Unglilckliche
ahnte nicht, daß Seymour durch diese Mit-
teilung, hinter der er nichts anders als eine
Finte zu argwöhnen imstande war, nur um so
wachsamer seinen Schritten nachzuspüren
bewogen ward. Er glaubte, alles getan zu
haben, den schwerfälligen Gefährten über
einen etwaigen Verdacht zu beruhigen, dessen
völlige Grundlosigkeit darzutun die unum-
wundene Aufklärung ihm bei seiner Menschen-
unkenntnis geeignet erschien.
Bei einer Pirutschade war es, dafi sich
der Marquis, der, mit den andern Kavalieren
wetteifernd, Gräfin Fanny die üblichen Huldi-
[64J
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gungen dargebracht hatte, scheinbar harm-
los an ihre Seite tretend, indem sich ihr
Wagen wieder in Bewegung setzte, diese
schnellen Worte ihr fast ins Ohr zu flüstern
unterfing: »Gräfin^ ich werde morgen nachts
in Ihrem Schlafgemach auf Sie warten.«
Während die Lippizaner in immer rascherem
Trabe sich der Kortege anschlössen, hatte
die Gräfin an der Seite ihres schwerhörigen
Gatten Zeit, Uber die Kühnheit dieser An-
Icündigung sich zu beruliigcn. Selbstver-
ständlich würde sie dem mehr als tollen
Unternehmen rechtzeitig noch zu steuern
wissen. Der Abend des kommenden Tages
war einem großen Empfange geweiht,
den der Gesandte Spaniens den Vertretern
der Mächte und der Elite der Gesellschaft
gab. Spät genug angesetzt, mochte sich das
Fest, wenn sich die Mitglieder des Hofes
zuraclcgezogen hätten, wohl weit Uber Mitter-
nacht erstrecken. Immerhin war es von dem
Marquis eine Vermessenheit sondergleichen,
6
[65]
mit der Neigung des Grafen zu langwierigen
Spielpartiell rechnend, eine verhältnismäßig
SO frühe Stunde für ein Stelldichein unter
dem ehelichen Dache seiner Dame zu wflhlen.
Die GrSf in ertappte sich In einiger Verlegenheit
bei Erwägungen Ober die Möglichkeiten, nicht
etwa wie der Marquis von seinem frevelhaften
Beginnen durch energische Zurechtweisung ab-
zubringen ware^ sondern wie die Ausfahrung
des in seiner Verruchtheit so verfflhrerischen
Unternehmens sich wohl gestalten wflrde.
An diesem Nachmittag ergab sich keine
Gelegenheit, den Marquis zu warnen; denn
schon hatte sich die zuerst beabsichtigte
schroffe Zurechtweisung des jungen Mannes
in miBbtlligenden Tadel, dieser ab^ Im Ver-
laufe der stummen Erörterung in eine dem
Leichtsinnigen nicht vorzuenthaltende War-
nung verwandelt, ohne dafi die Gräfin sich
dieses Umschwungs ihrer Anschauung völlig
bewußt geworden wäre.
Ais Gräfin i aiiay am andern Tag erwachte
[66j
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und ihr auf silberner Platte von Pepi das
Frühstück serviert wurde, fiel ihr — es war
hoher Mittag — das bevorstehende Ereignis
dieser Nacht ein und, indem sie sich eines
frühern andeutenden Wortes des Marquis,
das sie anfangs wohl verblüfft hatte, später
jedoch von ihr im geselligen Taumel wieder
vernachlässigt worden war, entsann, glaubte
sie, ein Obriges getan zu haben, wenn sie
dem Mädchen mit strengen, aber nicht weiter
bei der peinlichen Sache verweilenden Worten
die gefährliche Betrauung verwiese. Kaum
aber hatte sie der mit gesenkten Augen sie
bedienenden Zofe auch nur den Namen des
Marquis genannt, als das Mädchen, sich und
sein vermeintliches süßes Geheimnis verraten
wähnend, weinend der Gräfin zu Füßen fiel
und sie um Gottes und aller Heiligen willen
beschwor, ihre Gnade ihr nicht zu entziehen.
Die Verwirrung der Magd deutete die Gräfin
in ihrem Sinne, sie verbat sich jedes weitre
Wor^ verwies Pepi ernstlich ihre Unvor-
[67J
sichtigkeit, und, innerliclist gerOhrt über die
mutige Hartnäckigkeit des schönen jQnglings^
der sich wirklich schon aller Mittel und
Wege, zu seinem Zieie zu gelangen, ver-
sichert zu haben schien, entließ sie sie mit
der zweideutigen Weisung, in Hinkunft ihr
eignes Wohlergehen besser im Auge zu
behalten. Keinen Moment ward sie gewahr,
daß, hätte das Mädchen wirklich als die ver-
traute Unterhändlerin des Marquis vor ihr
gestanden, ein ganz andres Benehmen der
erzürnten Herrin am Platze gewesen wflre.
Pepi entfernte sich mit Zittern. Ein Briefchen,
ihr am Morgen von jenem findigen Bedienten
zugesteckt, hatte ihr den. Besuch des vor-
nehmen Geliebten fOr diese Nacht in Aus-
sicht gestellt. Sie. wußte sich keine Möglictp-
keit, den Besuch hintanzuhalten, war aber
entschlossen, den Marquis diesmal nicht in
ihre Stube einzulassen. •Diesmal«, wieder-
holte sie sich. Denn mit heißem £rröten
gestand sich das arme Ding, daß ein jflhes
[68]
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Abbrechen der sttßen Verbindung ihr das
Herz auf Lebensdauer versehren müßte.
Der Abend kam heran. Die Gräfin ließ sich
von Pepi beizeiten anlileiden. im hohen
Spiegel ihres Trumeaus fing sie gelegentlich
scheue Blicke der Zofe auf, die zu bemerken
sie sich selbst verwehrte. Während ihr Pepi
mit bebenden Fingern das Haar ordnete,
waren die Gedanlcen der beiden Frauen bei
dem kühnen Abenteurer, der unterdessen, von
Seymour zur Besichtigung eines vor kurzem
aus England jsingehoffnen jungen Pferdes
eingeladen, das unruhige Tier auf der Reit-
bahn zwischen seinen Schenkeln auf die in
seinen Muskeln noch verborgnen, erst zu
entwickelnden Fähigkeiten prüfte. Mit ver-
schränkten Armen, finster lauernden Blickes
wie immer, stand der Besitzer inmitten des
mit feinem Sande bestreuten Kreisrundes,
während die Frfihlingßdämmerung langsam
einfiel. Durch einen seiner Spione war er in
Kenntnis des von dem Franzosen mit Pepi
[69]
für heute verabredeten Stelldicheins, und
argwöhnisch wie nur je der an die Reize
einer andauernden Liaison gewöhnte Lieb-
haber einer nicht eben unzugänglichen Frau,
hatte er dieses wie ledesmal seine besondem
Vermutungen. Auch war sein Plan schon
zum Entschlüsse gereift. So oft der Marquis
das Kammermädchen aufsuchte, hatte Allan
die Qrflfin mit der er sich fast täglich
irgendwo traf ^ nicht aus den Augen ge-
lassen. Weiters war ein Bedienter des Hauses
bestochen, der über die Zusammenkünfte
des sorglosen Parisers mit der kleinen
Kammerzofe zu berichten hatte.
Strahlend in Jugend und Schönheit, der
die innerliche Erregung einen neuen eigen-
tümlichen Reiz verlieh, erschien die Gräfin
au! der spanischen Botschaft. Sie war so
entourierti daß geraume Zeit weder Allan
noch der Marquis sich ihr zu nähern in die
Lage kamen. Der Engländer sagte ihr, als
er ihr die Hand küßte — es stand nur der
[70j
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apostolische Nuntius unmittelbar daneben,
ein paar jflngere Herren waren, als sie den
GQnstling kommen sahen, bewundernd und
nicht ohne Scheu vor dem berühmten
Fechter zurückgetreten — »Der Kutscher hat
Ordre.« Die Gräfin erzitterte. In ihren
Diensten befand sich seit einigen Wochen
ein Kutscher, den Seymour dem Grafen at>-
getreten hatte, ein jenem blind ergebner
totsichrer Landsmann. Da ihre Zusanimen-
kOnfte in der Flucht der Saisonvergnügungen
dem' beiderseitigen Wunsche nicht hftufig
genug sich ergeben hatten, war zwischen
den Beteiligten das Übereinkommen getroffen
worden, daß der Kutscher die Gräfin an
gewissen Abenden, wenn ihr Gemahl dem
geliebten Spiel oblag, auf eine Stunde zu
Seymour führte, dann aber, wofern er den
Grafen nicht abholte, leer nach Hause fuhr,
während die Gräfin später zur pünktlich
festgesetzten Heimkehr einen von Seymour
bereit gehaltenen Wagen bis an die Hinter-
(71J
pforte des Palais benutzte. Es war im
Laufe der Wochen niemals vorgekommen^
daß der alternde Gatte die Gemächer seiner
jungen Frau zur Nachtzeit besucht hätte.
Übrigens waren diese kurzen nächtlichen
StelldichefTi nur als eine Gunst dazu-
gekommen, die die vor Seymours Jähzorn
zitternde Gräfin ihm nicht abzuschlagen
wagte; obgleich sie jedesmal mehr tot als
lebendig nach Hause kehrte.
Die Ankündigung hatte sie wie ein Blitz-
strahl getroffen. Sie behielt so viel an
Geisteskraft, ihm nicht sofort abzusagen, was
unfehlbar nur Unheil gestiftet haben wOrde.
Aber ihr Kopf rang nach einer annehmbaren
Ausflucht, die sich im Laufe des vorgeschrit-
tenen Abends ergeben würde. Als sie nach
dem spät servierten Souper mU qualver-
dunkelten Blicken Allan suchte, war er nicht
zu entdecken. Er hatte sich bereits in seine
Wohnung begeben, denn er hielt es nicht
für nötig, weitere Verabredungen zu treffen.
[78]
r
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»Heute haben Sie Ihre Seladons bald ver-
lassen, teuerste Gräfin«, sagte eine näselnde
Stimme neben ihr, als sie, die Hand an die
hoch wogende Brust gedrückt, einen Augen-,
blick geistesabwesend auf ihre Fußspitzen
starrte. Es war eine alte Exzellenz, die sich
diese Vertraulichkeit gegen die junge Frau
herausnahm. Sie iächelte mit ihren weißen
geraden Zähnen und sagte: »Sie haben sich
beide heute nicht allzusehr angeshrengt.«
Aber während sie diese Worte aus der
umschnürten Kehie hauchen ließ, hatten ihre
gehetzten Gedanken nichts als den ver-
blutenden Verzweiflungsschrei: Was tun,
um Gottes willen, was tunl Denn daß
auch der Marquis seiner Ansage sich ge^
treu erweisen würde, stand ihr Ober jedem
Zweifel.
Dieser hatte, ohne sich von jemand zu
verabschieden, seinen Wagen bestiegen und
sich zu einer Straßenkreuzung führen lassen,
die, in einiger Entfernung des Hotels Hohen-
[73]
maut» abgelegen genug war, das Ziel seiner
Fahrt zu verbergen. Zu FuB — er entließ
den Kutscher — setzte er den Weg fort,
alle Glückseligkeit des Freibeuters im Herzen.
Bald stieg die dunlde Masse des alten
Hauses vor ihm auf. Die Toreinfahrt stand
offen. Der Pförtner schlief, wie gewöhnlich.
In seinen Mante! gehüllt glitt der Marquis
an der gegenüber liegenden Wand vorbei
durch einen Gang zum zweiten Hofe.
Wieder sah er Ober sich das hohe Kreis-
rund der altertOmlichen Emporen, deren
eine — das wußte er — vor dem Schlaf-
gemache der Gräfin gelegen war. Der Mond
hatte einen Hof. Der heftige Frühlingswind
gelangte nicht hinab in den stillen Kessel^
aber die am Himmel stürmisch treibenden
Wolken verrieten seine junge drängende
Kraft. Pepi, die in dem obern Stock an
einem der aneinander stoßenden Glasfenster
der geschlossnen Galerie voll Bangen ge-
lauscht hatte, erschien in Hast, mit den
[74J
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Zeichen hochgradiger Erregung. »Die Gräfin
weiß allesy« stieß sie mit Iceuchender Brust
hervor. »Du hast ihr doch nicht gestanden?«
rief der Marquis. Das Mädchen mul^te sich
erst besinnen, ob und was sie gestanden
haben icOnnte. Sie erinnerte sich, wirkiich
nicht mehr des Inhaltes der demütigenden
Unterredung, obwohl ihr alle Begleitumstände,
bis auf den Reflex der durch ihre Hand gleiten-
* den Haarflechten ihrer Herrin, bewußt waren«
Nach einigen schlecht genug versinnüchten
Kreuzfragen hatte der Marquis sich so weit
vergewissert, daß die Dame seiner Wünsche
nicht etwa in die allzu fleischlichen Umwege
eingeweiht sein möchte, die ihn zum Ziele
zu fahren bestimmt waren. Der Elfersucht
des Weibes in der Gräfin hätte er seine
Sache nicht ausliefern wollen. Als er nach
einigem Sträuben in Pepis Kammer angelangt
war, verlangte er, wie von einer plötzlichen
Neugierde gestachelt, das Schlafzimmer der
Gräfin zu sehen. Im Gefühle doppelten Un-
175|
rechts gegen die Henrin, die sich ihr im
besondem erst heute so gütig erwiesen hatte
und deren ihr anvertraute häusliche Stille
sie . durch das heimliche Einfijhren eines
Fremden ungescheut unterbrochen, ja ge-
schändet zu haben sich würde vorwerfen
müssen, ließ ihn das Mfldchen ein. Er ver-
weilte lange im Anblicke der einzelnen
Gegenstände des schweigenden, von Weiß
beherrschten Raumes. Stumm hielt die Zofe
Wacht über ailzu vorwitzige Biicice ihres
Beherrschers. Da er eine dritte Türe t>e*
merkte — die eine führte zu einem Ankleide-
zimmer, die zweite in einen kleinen Vor-
raum, an den sich das vordere Stiegenhaus
schloß — , wollte er wissen, wohin sie leite.
Pepi öffnete, und ruhige Mondeshelle drang
in das Gemach, umspulte das bereitete Bett.
Sie traten auf eine Art von verglaster Altane,
eine der Emporen, die um den Hof sich
reihten. Er sah durch das Fenster — es
stand halb offen — in eine ziemliche Tiefe
[76J
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auf die Steinfliesen des zweiten Hofes
hinab. — In diesem Augenblick erscholl ein
dumpfes Rollen hinter Mauern. »Die Grflfinl«
rief das Mädchen erschreckt. Auch den
Marquis hatte dieses Geräusch merkwürdig
ins Herz getroffen. Es war nicht die ge-
wohnte sieghafte, nur nach Erfüllung durstige
Zuversicht» die in dem Auflauschenden ihre
stolzen Flflgel breitete, es war wie die
dumpfe Ahnung eines ungewissen Schick-
sals, das ihn Uberschattete. Auch eine plötzliche
Erinnerung an das gütige Gesicht seiner fer-
nen Mutter stieg wie eine mahnende Vision vor
seinen innem Augen auf. — Schon aber hatte
die Kammerfrau ihn fast fußfällig beschworen,
das Schlafzimmer augenblicklich zu verlassen.
Er zögerte. Er konnte sich nicht trennen von
der Ruhe dieser erwartenden Wände, dem
schlichten Betpult, auf dessen dunkelbrauner
Diele sie ihre tägliche Andacht verrichten
mochte, dem schneeigen Bett, auf dem das
sanfte Mondiicht flutete. Da man im Korridor
[77]
unten eine Glastüre gehen horte, erzitterte
das Mädchen am ganzen Körper, und
indem sie ihre Bitte eindringlicher und ihre
eigne gefährdete Person in den Vorder-
grund schiebend wiederholte, wollte sie den
i\Aarqul8, an den sie sich, wenn er nicht an
Ihrer Brust lag in der Stille der Nacht, kaum
heran wagte, leis an der Schulter in das
Nebengemach drängen. Er aber war, als
hatte er Zeit und als ginge ihn die ganze
Sache nichts an, in seltsamen Heimats-
gedanken, zu denen ihn der mild leuchtende
Mond stimmte, wieder durch die geöffneten
Türen auf die Altane getreten und stand,
die Hand auf die FensterbrUstung gelegt,
in den Anblick des Itchtgebadeten Hofes
versunken. Diesen iMoment benutzte die
vor Sorge um ihre Sicherheit ganz außer
Besinnung gebrachte Kammerzofe, hinter
ihm die Türe zu schließen und mit einer
raschen Bewegung auch alsogleich zu ver-
sperren. Er sah sich auf der Empore un-
[78]
Digitized by Google
mittelbar vor dem Schlafzimmer seiner Dame
mit sicli selbst und dem Mond eingeschlossen.
Die Sache kam ihm nicht eben anheimelnd
vor. Er klopfte, aber er hörte wieder
eine TQre gehen und unterließ die Wieder-
holung des vorlaufig wohl vergeblichen Ver-
suches, das Madchen an sein Versäumnis zu
mahnen.
Fepi war der Gräfin entgegengeeilt, die,
unfähig, sich den Gefahren zu steUen, die
ihr aus dem Zusammentreffen der beiden
Rivalen drohten, ihren Gatten durch das
Vorschützen einer plötzlichen Unpäßhchkeit
vermocht hatte, vom Spieltische, unwillig
genug, aber nach außen höflich wie immer,
sich zu ungewohnter Zeit zu erheben und sie
auf Ihre dringende Bitte nach Hause zu be-
gleiten. Der von Seymour, den er fürchtete
wie den Teufel, angewiesene Kutscher hatte,
da er also den Grafen ins Schloß zu bringen
sich genötigt sah, sofort nach seiner Ankunft
im Stalle die Pferde einem der schlaftrunknen
[79]
Stallburschen Übergeben und war sporn-
streichs zu seinem Gebieter gelaufen, ihn
über das Geschehnis aufzuklären. Seymour,
dessen Wagen im Hofe hielte ließ den Mann,
nachdem er seine Meldung, ohne ein Wort
zu erwidern, entgegengenommen hatte, stehen,
wo er stand, und fuhr unverzüglich zum
Hotel Hohenmauth. Audi auf die geringsten
Vorsichtsmaßregeln verzichtend, ohne Degen,
im leichten Nachtgewande, wie er war, begab
er sich mit seinen festen Schritten — den
Wagen hieß er ihn erwarten, als handelte
CS sich um eine Staatsvisite — zum Portier,
ließ sich die Rückkunft des Grafen und der
Gräfin bestätigen, danicte kalt für die Aus-
kunft und schritt als wär es heller Tag,
ruhig durch den Gang, durch den der Marquis
gekommen war, in den zweiten Hof. Der
Pförtner, der sich längst abgewöhnt hatte,
Uber die Absichten gewisser Herren sich
Gedanken zu machen, blickte ihm kopf-
schüttelnd nach, doch da er den Wagen
]80]
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halfen sah, dessen Laternen ihren Schein in
die Einfahrt sandten, während das Schnauben
der Pferde im GewOlbe widerhallte, sprach
er sich mit einer unwillkürlichen Handbewe-
gung von aller Schuld frei und trollte sich
wieder zu seinem Weibe, ihr für den Rest
der Nacht die Betreuung des Hotels aber-
lassend.
Seymour, der, sowie er sich dem mond-
beschienenen Platz näherte, sich wieder in
die Wächterrolle fand, die er seit einiger Zeit
angenommen hatte, blieb unter dem Hoftore
stehen und musterte sorgfältigmit dem scharfen
Auge des Jägers zuerst den Hof selbst, dann
seine Umgebung. Langsam hob er seine Blicke
zu den Emporen. Voll beschienen vom Monde
stand, noch immer träumend, — denn die Gräfin
hatte sich, ihre Furcht kaum bemeistemd, bei
ihrem Gatten verweilt — oben hinter den
Scheiben der gegenüber liegenden Altane der
Marquis. Seymour erkannte ihn sofort. Un-
wüikUriich fuhr seine Hand nach dem Platze
6
[81]
der gewohnten Waffe. Aber er ließ sie alsbald
sinken, denn ein unheimlicher Gedanke war
mit der Deutlichkeit einer Erscheinung plötz-
lich vor ihm aufgetaucht. Leise verließ er
seinen Posten und stieg, vorsichtig Schritt
vor Schritt setzend, die Treppe, die ins erste
Stockweric fahrte^ hinauf. Von dem Icleinen
Vorplatze zweigte ein schmaler Gang ab. Er
durchschritt ihn, betrat ein Zimmer, in dem
eine Wanne stand, und befand sich mit einer
Wendung nach rechts in dem rückwfirts an
das Schlafgemach der Gräfin anstoßenden
Raum, durch den die Kammerzofe gewuim-
hch, indem sie einige Garderobestätten
passierte, Ober eine kleine Wendeltreppe
unmittelbar aus ihrer im Erdgeschosse gele-
genen Kammer sich zu ihrer Herrin begab.
Hier hielt Seymour und überlegte. Entweder
wartete der Marquis auf die allgemeine
Ruhe im Hause, oder er war hinausgetreten,
während die Gräfin sich entkleidete. Die
Stille im Schlafgemache beruhigte ihn Uber
[82]
diese Annahme. Fanny war noch nicht in
ihrem Zimmer eingetroffen. Er erinnerte sich,
daß er ja wie ein Rasender herangefahren
war; seit der Nachricht des Kutschers waren
iceine zehn Minuten verstrichen. —
Die Gräfin hatte Tee Icommen lassen,
den sie in Gesellschaft ihres Mannes tranlc.
Sie fQhlte sich wohler. Er sah ihr einiger-
maßen mißtrauisch unter die Lider. Was
bedeutete diese plötzliche zärtliche An-
näherung der Frau, die ihm seit Jahren schon
aus dem Wege ging? Sein geschwächtes
Gehör hatte ihn frühzeitig verbittert. Als
sie ihn dann allein ließ, saß er nachdenklich,
die Hand auf dem silberbcschlagnen Stocke,
während sein Schatten, da die Kerzen lang-
sam niederbrannten, riesengroß an der Wand
hinaufwuchs« ^ .
Mit hochklopfendem Herzen erwartete Pepi
draußen die Gräfin. Diese wollte das Mädchen
befragen, unterließ es aber. Nufnicht verlassen
durfte sie heute die Zofe. Sie befahl ihr, das
6*
[88]
eigen« Bett bei ihr im Zimmer aufzuschlagen.
Pepi erschrak. Sie hatte sich noch keine rechte
Vorstellung davon gemacht, wie sie den Mar-
quis befreien sollte. Es blieb ihr nichts anders
übrig, als den Liebhaber einzugestehen.
Aller ihrer Zweifel überhob sie jedoch
ebie schreckliche Erscheinung. Als sie der
Orlfin, mit dem hoch gehaltnen Doppel*
leuchter voranschreitend, die Tür geöffnet
hatte und zurücktrat, blieb die Herrin, wie
von einer entsetzlichen Ahnung gewarnt, an
der Schwelle stehen. Ihr Zögern hatte kaum
einen Augenblick angedauert Sie faBte sich,
flt>er8Chritt die leichte Erhöhung und —
stand Allan Seymour gegenüber. Mit einem
durchdringenden Schrei ließ Pepi, die
ihr gefolgt war, den Leuchter fallen. Sie
glaubte, einen MOrder zu erblicken. Dunkel
herrschte im Gemache, denn auch der Mond
war von einer Wollte verfinstert. Seymour
ergriff das Mädchen bei der Rechten, schleu-
derte sie in die Mitte des Zimmers und deu-
[S4J
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tete mit einer gebieterischen Handbewegung
auf die Türe, die ins Nebengelaß führte. Sie
entfloh; geduckt wie ein Schläge fürchtender
Hund. Die Gräfin hatte beide Hände an ihre
heftig atmende Brust g^efit Ihr schwindelte.
Allan fing sie auf. Er geleHete sie zu einem
Diwan, ließ sie darauf niedergleiten und ver-
schloß mit zwei raschen Umdrehungen des
SchlQssels die Türe zum Korridor. Ruhigen
Schrittes trat er dann zur BaÜcontilre und zog
- die Oardlnen zu. Ein vorsichtiger Bilde
streifte den in die äußerste Eclce des gläsernen
Käfigs geduckten Marquis, der instinktiv die
Augen schloß. Dann begann sich Seymour
gelassen zu entkleiden. • •
Der Marquis war, auf Knien und Händen
schleichend, bis unter das noch immer oflen ste-
hende Fenster seines unfreiwilligen Lauscher-
postens gelangt. In fieberhafter Aufregung er-
wog er nur den einen Gedanken : wie hmab in
den Hof gelangen ? Er versuchte, sich die Tiefe
vorzustellen, und schauderte, denn die Verhält-
186]
nisse des Hauses waren weit Uber den ge-
wöhnlichen. Ein Sprung war unmöglich« Er
vermied jede Bewegung, da er sich unfehlbar
durch s^nen Schatten auf den Vorhängen
hätte verraten müssen... Eine grausige
Frage sprang plötzlich in ihm auf: Hatte ihn
Seymour bemerlct? Er verwarf diesen Ein-
fall sofort Dann hfltte er ihn ja nicht hier
belassen dOrfen. Es wäre zu einem Ent*
scheidungskampfe gekommen. Er tastete un-
willkürlich nach seinem Degen; der fehlte.
Er erinnerte sich, ihn bei Pepi an die Kom-
mode gelehnt zu haben...
Unten in der Toreinfahrt stand das an
allen Gliedern zitternde Mädchen und strengte
sich an, den Geliebten zu erblicken. Wohin
war er verschwunden? Er konnte doch nicht
wahrend ihrer kurzen Abwesenheit unvor-
sichtiger- oder tollkOhnerweise in das Schlafe
gemach getreten seinV Jetzt bemerkte sie
etwas wie einen Schatten an der TUre, die
nach innen führte, und ersah die vorgezo-
[86]
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genen Stoffe. Was ging dort oben vor?
Ihr stand das Herz still... Sie erraffte ^ich.
Ohne die Polgen ihres Beginnens zu erwägen,
eilte sie zum Pförtner. Bei seinem matt er-
leuchteten Fenster stockte sie. Nein, das war
der richtige Ausweg nicht. Der Qedanice
an den Grafen machte sie schaudern« In
ihrem armen Kopfe drehten sich die Ge-
schehnisse dieser Naclit wie im Wirbel. Ret-
tung für den Eingeschlossenen mü&ie ge-
schafft werden... Und, an dem von der
langen schwarzen Bank im Vorzimmer aus
seinem Halbschlummer überrascht auftanmeln-
den Kammerdiener vorbei, stürzte sie, ohne
anzuklopfen, — er hörte das Pochen ja doch
nicht — in das Zimmer, wo noch immer, auf
den Krückstock gestützt» der Graf vor sich
hinträumte. Bei dem Anblick des Mädchens
sprang er empor. Seine gelbe magre Hand
klammerte sich an die Tischkante. Heiser
stieß er heraus: »Was gibt's V« »Die Frau
Qrafm . . . < Mehr konnte Pepi nicht stammeln.
[87]
Bis in die Kehle schlug ihr das Herz. Einen
Leuchter ergreifend stolperte der Graf durch
die Türe. Neugierig schloß sich der Kammer-
diener dem seltsamen Zug an . . .
Der Marquis in seinem Olasgehause hörte,
daß eine TOr aufgestoßen wurde. Seiner Sinne
beraubt vor Angst, — er glaubte nicht anders,
als es konnte nur ihm gelten — fuhr er
auf und schwang sich über die Brüstung des
Fensters. Da hing er nun über dem schwei-
genden Hofe, voll beschienen vom Mondlicht,
beide Arme innen um die Täfelung geklam-
mert, in einer verzweifelten Lage. . . Der Graf
klopfte an die Türe zum Schlafzimmer seiner
Gemahlin. Seymour, sich halb erhebend,
bedeutete Ihr, zu antworten. Sie rief; »Wer
ist da?« »Ich!« schrie der GraL »Bist du
zu Bett? Mach auf!« Die Gräfin klammerte
sich an Seymour. Er stieß ihren Arm weg
und flüsterte: »Ich gehe. Mach ihm dann
auf.« Und er begann sich anzukleiden.
Wahrend sie mit fliegenden Pulsen Licht
[88j
schlug lind den drangenden Gatten mit einer
dem Schluchzen nahen Stimme beschwichtigte,
— schon war sie an der Tür, um Seymour
zur Eile anzutreiben — zog dieser mit einem
Ruck die Vorhange vor dem Balkon aus-
einander. Er hatte sich diesen Triumph auf-
sparen wollen, denn er war vom Anfang an
gewillt, den Feind zum Sprung und so zum
Selbstmord zu zwingen. Er konnte Fanny nicht
verlassen, ohne ihr gezeigt zu haben, daß, wo
George Allan Seymour herrsche, ein Neben-
buhler verloren sein müsse. Als der Marquis,
dessen Augen wie gebannt an der Türe hingen,
die Vorhänge sich bewegen sah, ließ er mit
einem Schrei die BrOstung los. Der dumpfe
Aufschlag seines Körpers hallte herauf. »Da
liegt Dein Knäblein«, sagte Seymour. Der
Mondschein floß um ihn. Schon aber hatte
er auch die Klinke zur Kammer nieder-
gedrückt und war verschwunden.
Die Türe, vom Grafen mit einem FuBh-itt
gesprengt, flog ins Zinuner. Er stürmte zur
[89J
4
Balkontflre, liB sie auf, sfttrzte hinaus und lehnte
sich weit über den Rand. Unten lag ein Mann. . .
Seymour hatte im Schatten des Torwegs
seinen Bliclc Uber den Hof wandern lassen.
Wenige Schritte vor ihm schwamm der zer-
schmetterte Leichnam des Marquis in einer
großen Blutlache. Oben beugte sich der
weiße Kopf des Grafen vor...
Seymour schritt durch den Gang und das
erste Tor — die Pfdrtnerin, die Pepi gefolgt*
war, stand schon eifrig tratschend bei den
Lakaien — zu seinem wartenden Wagen
und sagte dem Kutscher, ihn an der Schulter
aus dem Schlummer rttttelnd: »Nach Hause.«
[90j
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I
DIE SÄNGERIN
Eine Tragigroteske
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Emil Strauß
dem verehrten Künstler
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Den blanken Zylinder mit der im Gelenk
unnatürlich versteiften linlcen Hand wie
zu verbindlicher Abwehr vorgestreckt, das Pro-
gramm und die violetten Sitzscheine zwischen
zwei Fingern der gleichfalls weißbehand-
schuhten Rechten, das glattgescheitelte Haupt
Ober den ein wenig emporgezogenen Schultern
hinabgeneigty drängte sich Herr Alexander
Schreiner, ein junger Beamter des Ministeri-
ums für Verkehrswesen, durch das rings um
die Sesseireihen gestaute Publikum der Steh-
plätze. Langsam nur, in Icurzen Schritten^
zögernd, kam er weiter. Vor ihm schritt
mit frei, leicht und stolz getragenem Halse
seine Frau, eine hochgewachsene schlanke
Blondine, in schwarzem, jetbesetztem Seiden-
kleide. Man machte ihr, die geradeaus sah
und Fächer, Opernglas und Spitzenkopftuch
nachlässig hob, beflissen Platz. Herr Schrei*
[U5)
ner> viel kleiner als die Oatün^ fühlte sich
zu Dank verpflichtet, empfand aber dunkel,
daß man ihm darum nicht anstünde. Dies ver-
ursachte ihm einige Verlegenheit. Er spürte,
wie sich seine sorgfältig rasierten Wangen
allmählich mit einer dunkeln heißen Röte
Aberzogen, die er an sich nicht leiden
konnte. Endlich waren sie, vom Saaldiener
geführt, zu ihren Plätzen gelangt^ die un-
angenehm genug gelegen waren: auf dem
Podium selbst und in der ersten Stuhlreihe,
so daß die Kammersängerin bei ihrem wieder-
holten Auftreten jeweils zweimal an Herrn
Schreiner als dem Inhaber des linken Eck-
sitzes vorüberzugehen^ ja sich mit einiger Un-
bequemlichkeit an ihm vorbei' zu schieben
gezwungen sein mußte. Als Herr Schreiner
kaum seinen Platz eingenommen und, nach-
dem ihm ein höflicher Versuch, den allzu eng
an den benachbarten anstoßenden Sessel etwas '
abzurücken, mißlungen war, mit betonter Ge-
lassenheit Bein über Bein gelegt hatte, so
[96]
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daß über dem um die starken Knöchel stramm
wie ein Handschuh schließenden schmal ge-
schnittenen Lacklcnöpfelschuh der straff an-
gespannte durchsichtige schwarze Halbseiden*
strumpl zum Vorscheine kam und das tadel-
los gebügelte Beinkleid mit seinem tulpen-
förmig verbreiterten Ende vorn steif in
die Höhe stand^ trat auch schon hinter
seinem Rücken die nach der ersten kurzen
Pause nunmehr bei ihrer dritten Nummer an-
gelangte Kammersängerin mit schwirrendem
Rauschen ihrer seidnen üntergewänder
wieder gegen die Zuhörerschaft hervor. Es
schien Herrn Schreiner, als sei sie an ihm
voll unverhohlener Verachtung vorbeigeschrit-
ten; jedenfalls hatte sie die verspäteten An-
kömmlinge keines, auch nicht des flüchtigsten
Biickes gewürdigt. Nun stand sie neben dem
schwarzen glänzenden Flügel im Lichte vieler
elektrischer Glühlampen. Sie legte ihre Lor-
gnette und das Spitzentaschentuch hart an dem
äußersten Hand auf dem mächtigen Instrument
7
[97]
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4
nieder — der Klavierspieler rückte rasch beide
Dinge noch etwas weiter von sich weg,
offenbar, auf dafi die lange Perlenkette des
Augenglases nicht irgendwo anstoße und
störend mittöne — , verneigte sich leicht, mit
einer fast unmerklichen Beugung des kräftig
und gerade gewachsenen Nackens, räusperte
sichi indem sie mechaniscti wieder nach
dem Taschentuche griff und es an die
kurze Oberlippe drückte, wandte sich dann
mit einem lautlosen Zeichen an den wartend
zu ihr aufblickenden Begleiter und begann.
Sie sang ohne Notenblatt, die Finger im
Schöße vor dem Obermäßig eingeschnflrten
Leibe gefaltet, und bewegte manchmal, als
gäbe sie sich bezwungen der Gewalt der
Töne hini leise den Oberkörper in der
Richtung zum Publikum. Sie trug ein mit
blafiroten Blumen bemaltes und mit einzel-
nen ebenso gefärbten Bandschleifen besteck-
tes enganliegendes weißes Kleid, das in ziem-
lich tief binabreichendem keilförmigem Aus-
[98]
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schnitte den durch eine dflnne Tflilschdrpe
kaum geschützten vollen Busen sehen Keß.
Ihr Rücken war geschmeidig, sein Schwung
von den Schultern zu den Hüften von
vollendeter Schönheit. Die Sängerin un-
ausgesetzt 80 nur im Profil zu s^en, konnte
auf die Dauer nicht von angenehmster Wir-
kung bleiben. Wenn sich auch beim Singen
die Backen sehr weich, fast zärtlich rundeten
und die reizende Linie des Rückens für den
vollen Anblick der reifen Frau entschädigte,
so wirkte doch der ungewohnte Standpunkt
im ganzen wenig vorteilhaft auf die Beurtei-
lung ein. Das von entstellendem Öffnen des
mittelgroßen männlich festen Mundes beglei-
tete «beredte» Singen erschien nachgerade
im höchsten Grad unnatürlich, die von Koket-
terie durchaus nicht freien wiegenden Be-
wegungen des Oberleibes gegen das Publikum
hin waren geeignet, durch ihre Wiederholung
zu verstimmen, und die breite Front der
gedrängten Zuhörerschaft zumal störte und
7»
[99]
ärgerte zugleich* Da safien in den vordersten
Reihen zumeist ältere Herren und Damen von
Rang und Nolorietät, bemerkenswert durch
gesellschaftliche Stellung und Gl Ucksgüter,
junge» im eieictrischen Lichte fahl erschei-
nende Frauen in kostbaren Toiletten» mit
glitzerndem Schmuctc und den geh'Qbten
Augen übermüdeter Vergnügungssüchtiger,
steüe, schmal wangige Mädchen, denen die
Oesanglehrerinnen den Besuch des Konzerts
dringend angeraten hatten, alle in Positur,
niemand in einer natürlichen Haltung, die
Nachbarn einander wechselseitig beobachtend,
jedermann dabei voll Begehren, selbst be-
obachtet zu werden. Diese Leute — Herr
Schreiner stellte das mit Verachtung fest»
obwohl er selbst zur »Kunst« keine andre
Beziehung besaß als die eities seinen Plalz
bezahlenden Theater- und Konzertbesuchers
— » diese Leute neigten alle den Kopf ein
wenig zur Seite und trachteten mit grOßerm
oder geringerm' Erfolge, sich ein sehn-
[100]
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süchtig-träumerisches Aussehen zu geben. Sie
spielten die auf den FtUgeln des Liedes dem
Irdischen Entrückten, sie schwärmten mit
zierüch verschränkten oder in eleganter An-
dacht ruhenden Armen. Sie hatten sämtlich ein
unsäglich dumm-gerührtes Mienenspiel, viel-
mehr eine Maske von holder Menschen-
freundlichkeit und zerfließender Milde, die den
Hohn geradezu herausforderte. Alles das in Ver-
bindung gebracht mit der vorgeneigten Sän-
gerin, die, wenn sie ihre Stimme zur schmel-
zenden Flöte versüßte, unwillkürlich und doch
mit Bewußtsein (sie drückte die angespann-
ten Lider ein) die Augen schloß^ das dröh-
nende Beifallklatschen nach Jedem der kurzen
Lieder, die Wichtigtuerei des notenblatt-
wendenden Gehilfen, eines unruhigen, jungen
Menschen mit dichten Künstlerlocken und
erregt leuchtenden schwarzen Kirschenaugen,
ließen eine weihevolle Stimmung am wenigsten
bei Herrn Schreiner aufkommen, der mit seiner
anfänglichen Verlegenheit durchaus noch nicht
[101]
fertig geworden war und nur allmahiig ver-
suchte^ mit flüchtig streifenden Blicken sich des
überfüllten Saales zu bemeistern. Auch Herr
Alexander Schreiner gehörte zu den Menschen,
die in der Offentlichlcett nichts in seiner
natürlichen Beschaffenheit aus sich hinaus
lassen, die ihre echten Empfindungen und
Bewegungen unter der Gewalt einer über-
mächtigen, weil viel zu wichtig erachteten
Außenwelt in einem spitzen Winlcel, einer
falschen Nuance brechen. Wenn er seine
Arme ineinander legte, tat er es mit dem
Gefühle: Jetzt lege ich meine Arme inein-
ander. Wenn er nachlässig seine Finger be-
sah, geschah es mit dem verschnörkelten
Motto »gepflegte Nachlässigkeit«. Dazu kam,
daß er seiner selbst nie ganz sicher war,
immer irgendwelche eingebildete Gefahren
bestand, immer irgendwelchen angstvoll gewAr-
tigten Unannehmlichkeiten sich ausgeliefert
sdi. Er war sich jedes roten Piecks seines Ge-
sichtes, jedes hervortretenden Fadenendes an
[102]
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seinen Handschuhnähten bewußt. Er bangte
beständig um peinliche Toilettefehl er^ spürte
die Blicke aller ihm im Rücken Sitzenden
etwa au! eine vom allzu hohen Kragen aufgerie*
bene und bereits entzfindet schwellende Stelle
seines Nackens gerichtet. Nicht am wenigsten
fürchtete er die stillschweigende Kritik seiner
gelassenen blonden Frau^ besonders ihren
nur durch ein feines Lächeln sich verraten-
den gutmütigen Spott. Heute beunruhigte
ihn mancherlei. Zunächst sein allzu sehr den
Blicken ausgesetzter Platz, dann die Nähe
der Sängerin^ endlich auch das Publikum im
einzelnen, denn er hatte schon eine Anzahl,
wie er meinte, teils mißgünstiger, teils lieber
vermiedener Bekannter entdeckt. So saß er,
aufgebracht über sein ängstliches Schwitzen
und die ihm an sich überaus verhaßte Aus*
dünstung durch seine Aufregung nur noch stei-
gernd, äußerst mißgelaunt, gedrückt, eingesun-
ken neben seiner im Sessel schlank bequem
zurückgelehnten Gattin. Er hörte die Lieder,
U03]
die die Kammersängerin mit der gewohnten
Meisterschaft absang, ohne den geringsten
seelischen Eindruck. Herr Schreiner war
leisen ErsdiOtterungen seines bttrgerüclien
Qleicfigewichtes sonst nicht abgeneigt Heute
aber starrte er geistesabwesend zumeist auf
den schmalen Rücicen des Klavierspielers
oder in die blitzenden Kugelaugen seines
Oehiifen, manchmal auch an der grauen
glänzenden Wand empor, selten nur irrte
sein banger Blick an der Gestalt der Sän-
gerin entlang. Herr Schreiner liebte mit regen
Sinnen die Schönheit weiblicher Formen.
Er konnte einem wohlgebauten Beine, einem
elegant beschuhten Fu6e, namentlich wenn
iiire Inhaberin die Röcke höher hob, als
unbedingt geboten schien, mit Beharrlichkeit
nachgehen, ganz versunken in den Anblick
der immer wieder graziOs sich aus den
Kleidern entwickelnden Wade. Er konnte
im Ballett mit angestrengter Autmerksamkeit
die Büste einer sich windenden und beugen-^
[104J
den Tänzerin beobachten, einen straff Uber
die Hüften gerafften, enggescbnittenen Frauen«*
rock verfolgen wie ein SdiweUUiund das
angeschossene Wild. Er ging auch —
sonst nicht eben das, was man einen Schön-
geist zu nennen pflegt — gern in Gemälde-
sammlungen und stand dort lange vor baden-
den Nymphen und mehr oder minder keu-
schen Susannen, er sammelte alle Lieferungs-
werke, die »le iiu au salon« oder »la fenime
et son Corps« in gelungenen und weniger
gelungenen Biiderfolgen brachten. Auch war
er auf die äußere Erscheinung seiner Frau
bedacht wie eine zärtliche Ballmutter, suchte
jeden Kleiderstoff, jedes Paar Schuhe, jeden
Fächer für sie oder mit ihr aus und war ein-
geweiht in alle Einzelheiten der weiblichen
Toilettekunst Seine zahlreichen Freundinnen
hatten ihn, als er noch Junggeselle war, gern
als sachkundigen Beurteiler bei ihren Ein-
käufen herangezogen. Stolz berief er sich
seiner Gattin gegenüber noch immer auf
[105J
diese unwiderlegliche, hOchst schmeichelhafte
Tatsache. Übrigens liebte er, ein harmloser
Epikureer» eine schmackhafte Kflchei gute
lichte Havannazigarren» bequeme Sitzmöbel»
ein breites weiches Bett und konnte niemals
heiß genug baden. Er besaß eine sehr feine,
weiß und rote Haut» die leider Witte-
rungseinflQssen und mechanischen Einwir-
kungM gegenüber von der äußersten Delika-
tesse war, sodaßauch nurdie geringste Reizung
durch ein nicht genug scharfes Rasiermesser
oder eine nicht ganz trockne und reine Finger-
spitze unfehlbar auf ihrer Oberfläche ent-
stellende Flecken und Finnen bewirkte. Die
Unvorsichtigkeit, gelegentlich einmal einen
Raseur aufzusuchen, — gewöhnlich besorgte
er dieses reinliche und peinliche Geschäft
eigenhändig, und zwar mindestens einmal
täglich und unter Anwendung aller möglichen
Maßregeln zur Verhatung von Ausschlägen
— büßte er regelmäßig mit gleich zu Eiter-
kiigelchen aufgetriebenen Verletzungen der
[I06j
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Poren, sein Körper war, wenn er den oft
aus ihm hervorbrechenden Schweiß nicht all-
sogleich durch ein Seifenbad unschädlich
machte, auch sonst zu derlei Hautverunstal-
tungen nur allzu leicht geneigt, seine ge-
pflegte und vor den wechselnden Temperaturen
beständig durch Handschuhe geschützte Hand
versammeltebeidergering^tenErregungsleden-
des Blut unter ihrer Oberfläche, erschien dann
dunkel gerötet und ließ sich feucht anfühlen.
Auch schadete ihr entschieden zu heftiges
Waschen. Dann ward sie rauh, und ihr
Gewebe sprang in feinen Rissen. Aufierst
empfindlich war Herrn Schreiners in den Flö-
geln sehr bewegliche, schön gestreckte, wenn
auch etwas zu lange Nase. Nicht nur, daß
sich auf ihr häufig IcOrnige Erhöhungen oder
entzOndete Flecken zeigten, sie empfand
auch die Anwesenheit jedes Dinges in einer
heftigen, zumeist beleidigenden Weise, indem
der Geruchsinn bei Herrn Schreiner ais zu
einer geradezu Icrankhaft gesteigerten Inten-
[107]
sität vervollkommnet bezeichnet werden mußte.
Besonders die Frauen waren diesem Sinne
greifbar nahe gebracht durch eine Empfind-
lichkeit fOr die allerfeinsten, flflchtigsten Ele-
mente ihres duftenden Wesens, die dem
Besitzer dieser maßlos entwickelten Eigen-
schalt zwar unerhörte Genüsse verschaffte,
aber auch große Pein zu bereiten imstande
war. Er erzählte selbst in vertrautem Kreise
mit Vorliebe, daß er manche Ereignisse^
die Nähe einer schönen Tischnachbarin, die
Umarmung einer hingebenden Tänzerin, noch
tagelang nachher aus den mit seinen Part-
nerinnen in Berflhrung geratenen Kleidern sich
in plastischer Fülle in das sinnliche Gedächt-
nis zurückzurufen befähigt sei, ja daß er,
wenn er von seiner Frau, der er bei aller
Scheu des geistig Tieferstehenden sehr zu-
getan war, einige Tage rfiumlich entfernt
wäre, sich den Genuß ihres persönlichen Ein-
drucks durch eine Nase voll aus ihrem Kleider-
oder Wäscheschranicezu bereiten begnadet sei.
L108]
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An diesem Abend — heftig stürmten in
der Stadt laue MArzwinde und wirbelten den
Fußgängern den Staub der trocknen Straßen
in die Augen und die Nasenlöcher — geschah
etwas, das Herrn Schreiner ans der dumpfen
Behaglichkeit eines seit Jahren traulich be-
friedeten Ehelebens herausreißen und ins
Grenzenlose eines verheerenden Schicksals
schleudern sollte. Als die Sängerin ihr vier-
tes Lied beendigt hatte und sich unter dem
üblichen Beifallstosen an jenem linken Eck-
plätze vorbei in das Künstlerzimmer des
Konzertvereins begab — sie war eine hoch-
berühmte Künstlerin und die seelenvolle
Innigkeit ihres Gesanges von der maß-
gebenden Kritik ein für allemal festgestellt
fiel der dunkle Blick ihrer schwermütig
unter maden Lidern ruhenden schwarzen
Augen auf Alexander Schreiner und blieb
sekundenlang an ihm hängen. Herr Schrei-
ner empfand dieses auch von seiner Gattin
bemerkte unscheinbare Ereignis tief in der
[109]
Magengrube. Ihm ward fast schwindlig vor
dem Oberschwang der in einem Aufruhr
plötzlich gesträubten Nerven. Er sah seine
Frau an, lächelte ein wenig, klemmte sein
Monokel ein, Heß es blitzschnell über die
zwei ersten Bankreihen funkeln, nahm es
wieder aus der Augenhöhlei reinigte es sorg-
fältig in seinem großen Taschentuche,
wechselte die Beinstellung und schneuzte
sich geräuschvoll. Dann starrte er, als sei
nichts geschehen, an der grauen Wand em-
por. Kurz darauf erschien die Sängerin wieder
auf dem Podium. Bei ihrer raschen An-
näherung vom Rücken her befiel Herrn Schrei-
ner ein Zittern, das seinen ganzen Körper
durchdrang. An seinem kurzgestutzten Schnurr-
bärtchen zupfend^ wagte er kaum aufzu-
schauen, ward aber dazu durch das Verhalten
der Sängerin selbst gezwungen, da diese
ihn im Vorbeischreiten — sie hielt ihr
rauschendes Kleid mit der Rechten an sich
' abermals^ und zwar, indem sie sich etwas
[110]
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zurückwandte, diesmal mit einem vollen,
wenn auch raschen Blick ansah, ihm war
einigermaßen unheimlich zumute. Er rückte
an seinem Stuhle, räusperte sich, legte die im
Handschuh glühend heißen Hände ineinander,
langte wiederum sein Monokel hervor und
suchte, indem er es an der Gestalt der
Sängerin auf und ab wandern ließ, sich
zu fassen. Aber das Zittern seiner Glieder
legte sich nicht. Er hob das Monokel
ab und begann mit heroischem Gleich-
mut die kleine, bis tief in den Rücken hinab
gebräunte Frau zu beobachten. UnwillkOr*
lieh blinzelte er dabei nach seiner Gattin
hin. Doch diese saß ruhig, selbstsicher wie
immer. Er behielt ihr feines blondes Profil.
Es war wie ein duftiger Schatten neben ihm;
er empfand es als einen Schutzgeist.*.
Seltsam erregte ihn jetzt das Lied, das die
Italienerin sang. Es war ganz offenbar an
ihn gerichtet. Jede ihrer Bewegungen war
für ihn bestimmt. Und — das Blut schoß
flll]
ihm in die Schläfen — alle Leute im Saale
mußten das bemerken. Es war zu auffäUigi
wie sie, rückwflrts tretend, näher und
naher an ihn herankam, wie ihr Busen sich
rascher und stürmischer hob, wie ihre Arme,
sonst so ruhig, sich an den geschmeidigen
Körper preßten. Er schloß die Augen. Da
stieg das Lied körperhaft in sein Herz,
schnürte es mit tausend Armen zusammen
und preßte es dergestalt, daß er die Kon-
vulsion schmerzlich spürte. Es war, als
hätte die Fremde sich seiner bemächtigt,
als wäre er nicht mehr sein eigen, willenlos
der Gefangene dieser unheimlichen Frau.
Sie war nicht einmal schön. Sie hatte nicht
mehr die Elastizität der ersten Jugend. Auch
schien ihre gelassene Vornehmheit nichts als
Routine zu sein« Und plötzlich entdeckte er
sogar einen gemeinen Zug um ihre Mund-
winkel, ihren Stirnvorsprung. Daß sie dem
Publikum so oft ihre üppige Büste entgegen*
reckte, erschien ihm abstoßend. So wehrte
[112]
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er sich gegen die Gewalt, der er zu unter-
liegen bangte. . .Die beiden folgenden Lieder
überhörte er völlig. Er wandte kein Auge
von der kräftig-schlanken Gestalt, sah mit
angestrengter Aufmerksamkeit wie sie dem
Klavierspieler ihre Zeichen gab, erwartete
krampfhaft einen erneuten Blick des Ein*
Verständnisses. Diesmal versagte sie ihm
den. Sie ging an ihm vorbei, als wäre er
Luft Aber daß sie sich mit ihrer Schleppe
beschäftigte, glaubte er, eifersüchtig beob-
achtend, als einen Beweis ihrer Befangen-
heit deuten zu dürfen. Nun kam alles dar-
auf an, ob Sic, zurückkehrend, ihr Betragen
ändern würde. Der Beifall wollte kein Ende
nehmen. Sie mußte sich noch einmal zeigen. . .
Und sie kam. Raschen festen Schrittes stieg sie
die leise knarrenden drei, vier Stufen zum
Podium herauf. Sie kam wie ein Fieber-
hauch. Er saß da, die Arme zu den Knien
gestreckt, die Beine aufgestellt, den Blick,
der geradeaus gerichtet schien, in sich selbst
8
zurückgezogen wie in eine Scheide. Sie
grüßte das Publikum mit einem strahlenden
Ldchelfi, sie grüßte es abermals, sie ver-
neigte sich tiefer und docli vertrattter, ein
verwöhnter Liebling, und diesen großen
breiten Blick des Glückes - eines gespielten
Glückes, spöttelte zag sein Zweifel — schenkte
sie mit einer raschen Wendung ihm. Er war
getroffen, bis ins Innerste eischilttert*.* Noch
einmal im Laufe des Abends sah sie ihn an,
und gutmütig lächelnd sagte auch seine Frau
mit ihrer klaren Stimme zu ihm: »Du hast
eine Eroberung gemacht.« Ihm war durchaus
nicht wohL Sein Herz schlug heftig, seine
Pulse flogen, er schwitzte am ganzen
Körper. Als er — der Saaldiener stand
schon mit ihren Überkleidern vor ihnen, vorn,
am Rande der Bohne, verneigte sich die be-
jubelte Sfingerin wieder und wieder — als
er seiner Frau in den mit Spitzen besetzten
Pelzmantel half, wagte er es nicht, sie an-
zuschauen. In seiner Seele brannte das Büd
[luj
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dieser berückenden Italienerin, -er sah iltre
matt leuchtenden Schultern, die Haare^ die
sich ihr im Nacken ringelten, das bloße
Stück des Armes Qber dem prall sich schmie-
genden langen Handschuh. Und er sah
in einer nahen, greifbaren Vision diesen
ambrabraunen Körper, katzenartig behend,
mit einem sonnigen SchmelZi sah die schlan-
ken vollen Beine, den Scbwmig der Httfte,
das scheibenrund aus welchem Fleisch auf-
tauchende Knltf die gestreckte Wade, die
feinen Knöchel. Ihn schwindelte. Stolpernd
verließ er hinter seiner Frau das Podium.
Er kämpfte mit sich, ob er .sich nach der
noch immer oben Verwellenden umsehen
dürfe. Plötzlich riß es ihn herum. Dort stand
sie lächelnd. Perlen schimmerten um ihren
schönen Hais, das Weiße ihrer wundervollen
Augen schimmerte. Sie neigte sich. Die ver*
gleitende Busenfalte spielte flutend. Er war
' zitternd auf seinem Platze verharrt Vor ihm
hielt ein junger Mensch mit zerrauftem Haupt-
8*
[iiöj
haar und verschlissenem Hemdkragen. Er
hatte sich mit den übrigen Besuchern jetz^
da sich die Sitzreihen leerten, nach vorne
gedrängt Heftig in die Hände klatschend^
schrie er ihren Namen, einen kurzen Namen
voll Orangenduft. Herr Schreiner wiederholte
mit tonloser Stimme diesen Namen* Jetzt flog
ihr Blick aber die Menge weg n^ch seiner
Seite hin. Ihn durchrann es eisig. Jetzt,
jetzt! Sie mußte seinen brennenden Augen
begegnen. Und da hielt er ihren Blick...
Oder hielt sie seinen? Es war wieder nur
ein Moment. Aber ihm war wie in der Um-
klammerung einer schlüpfrigen Schlange. . .
Vor dem Hause, eh er in den Wagen stieg,
zündete er sich eine Zigarette an. Er tat es
langsam, als wollte, er sein Blut bändigen.
Seine Frau kehrte sich nach ihm um. Er
verzögerte seine Hantierung. Noch ein jovia-
les Wort mechanisch zum Kutscher. Ein feiner
Sprühregen ging nieder. Die enge asphaltierte
Gasse blinkte im Scheine der Laternen.
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Die Tttr fiel ins Scliloß. Die Pferde zogen an.
In den Zeitungen las er, daß die Kammer-
sängerin, Frau Lucia Wendtheim-Corma, »der
Liebling des Publikums<y »die Nachtigall von
Belluno«, sich »auf allseitiges Verlangen«
entschlossen habe, ein zweites, letztes Konzert
zu geben. Tag und Stunde würden zelt-
gerecht kundgemacht werden. Also blieb
sie noch am Orte. Eigentlich hatte er ge
wDnscht, sie wäre mit dem Nachtzuge nach
Paris oder London abgereist. Denn da sie
geblieben war, mußte er ja nun zu ihr.
Mußte er? ihm fielen seine beiden blonden
Mädchen ein, Grete und Hilda, vier und
drei Jahre alt. Aber es war nur ein undeut-
licher Gedanke, wie in Nebe! gehallt Er saß
vor seijiem Schreibtische. Mechanisch blät-
terte er in den Akten. Er ergriff die Feder
und schrieb. Als er dreimal die Lettern
Lucia Gorma auf das grOnliche Konzeptpapler
gemalt hatte, zerrift er es und warf es hinter
[117]
$ich. In der Mittagspause ging er nicht
nach Hause, sondern schlenderte in der Stadt
umher. Wie gebannt blieb sein Auge an
einer Plakatsäule hängen. In fingerdicken
Buchstaben stand ihr Name da: Lucia Gorma.
Und — näher herantretend sah er's — das
Abschiedslconzert fand zu Ende der Woche
statt. Fünf Tage noch. Er hielt hinter der
Plakatsäule, als suchte er dort Schutz und
Dockung. Als er sich endlich von dem
Magnete der Ankündigung losriß, wäre er
fast unter die Räder eines rasend schnell
heranfahrenden Wagens geraten» Er taumelte
zurück. Der Kutscher rie{ ihm etwas Grobes
nach.
Alexander Schreiner ging gesenkten Hauptes
und blickte bei Jedem Schritt auf die Spitzen
seiner Lacicschuhe. Es war Zeit zum zweiten
Frühstück. Er suchte ein Hotel auf, in dem
er mit seiner Frau, wenn sie nicht zu Hause
speisteui die Mahlzeiten einzunehmen pflegte.
Dienstbereit hatte der bekannte Kellner bei
[118]
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seinem Eintritt ihm die Mittagszeitimg neben
den Teller gelegt Er blätterte die Fremden-
liste auf. Ein Orakel. Sie muftte doch schon
einige Tage hier sein. Es schien unmöglich,
daß sie heut erst in der Liste verzeichnet
wäre. Wenn sie jedoch. . .Er durchlief rasch
die kurzen Absätze^ die die Passaglere der
einzelnen Gasthöfe »in Auswahl« aufzählten.
Da: Hotel Kronprinz: Frau Lucia Wendthcim-
Corma, Kammersängerin, und Begleitung,
Nizza. . . Ihm flimmerte es vor den Augen.
Schicksal also?
Für diesen Abend hatte er schon vor einer
Woche in einem Vorstadttheater eine Loge
für sich reservieren lassen. Ihm fiel ein,
daß er vergessen hätte, Elsen die Logen-
nummer mitzuteilen. Er bat den dicken Zahl-
kellner, dies telephonisch zu besorgen, nach-
dem er sich, obwohl es bereits wiederholt
geschehen war, durch einen prüfenden Blick
auf das Billett abermals von der Richtigkeit
seiner GedAchtnisangaben Überzeugt hatte.
Im Bureau versicherte er sich zunächst^
ob sein dort verwahrter zweiter Fraclc-
anzug nebst Zugehör in Ordnung sei, ließ
dem Bedienten telephonieren, daß er ihm
einiges noch Erforderliche rechtzeitig brächte,
tranlc zu verschiedenen Malen des endlos
sich dehnenden Nachmittags schwarzen
Kaffee, schrieb ein paar völlig zwecklose
Briefe, nahm öfters einen und denselben
umfangreichen Akt ohne Ergebnis vor,
streckte sich von Zeit zu Zeit in seinem
tiefen Lederfauteuil ermOdet aus ihm
war, als sei sein Rückgrat geknickt —
und begann sich endlich in Erwartung
des zur Hilfeleistung sonst so bequemen
Bedienten langsam selbst umzukleiden.
Die Uhr tickte einförmig. Die verschlissenen
M(3bel standen in einer verzweifelt nüch-
ternen Verfassung um ihn herum. Nun
begann es zu regnen, was ihn noch
melancholischer stimmte.
Als er in die Loge eintrat, war seine Frau
[120]
noch nicht angekommen. Er nahm zuerst
im Hintergründe, dann an der Brüstung Platz,
ließ sein Glas im Hause gedanlcenlos um-
herwandern und geriet in Unruhe, als das
Orchester einsetzte und seine Frau immer
noch ausblieb. Ob zu Hause — er war
beiläufig um neuneinhalb Uhr vormittag
fortgegangen — etwas geschehen war? Er
sah auf die Uhr. Dreiviertel acht. Sie
pflegte nicht eben pünktlich zu sein. Aber
ihn peinigte der bohrende Gedanlce, zur
Strafe fflr seine bösen Absichten wäre —
seinen Kindern ein Unglück zugestoßen.
Beim geringsten Geräusche fuhr er nach
hinten herum. Ein beliebter Komiicer betrat
die Szene und sang mit fetter Stimme ein
geschraubtes Entreelied. Es handelte von der
ungemeinen Lust der Ehemänner an tollen
Seitensprüiigcii. Der Komiker scfiilderte diese
Lust als ein ganz und gar harmloses Vor-
kommniSi rechnete behaglich mit einer ver-
ständnisinnigen Hörerschaft, zwinkerte ver-
[121]
traut in das Parkett hinab und schlug sich
etliche Male auffordernd auf die feiaten
Sdienkel. Da ging in der Loge nebenan die
Türe. Schreiner verspürte den raschen Luft-
zug. Eine Dame war eingetreten und begann
sich^ mit heitrer Stimme flüsternd, ihrer
Oberldeider zu entledigen. Es half ihr nie-
mand. Auch liel^ sich bald darauf eine zweite
Frauenstimme vernehmen. In Herrn Alexander
Schreiners Körper fing mit eins das Blut zu
leochen an* Er saß Icnapp an der Seite der
Nachbarloge, denn er hatte seiner Frau den
Innern Platz aufbehalten. Unmittelbar neben
ihm ließ sich hörbar atmend die Dame^ die
zuerst gesprochen hatte, nieder. Ihr weiß
behandschuhter Arm schob sich last auf
Spannenlange an den seinen heran. Nun
begann sie behende an ihrem Opernglase
zu schrauben^ das — er sah es blinzelnd
— an einein schimmernden Stiele be-
festigt war. Das Theater war stark ver-
dunlcelt Die Musilc hatte aufgehört. Eine
[122]
Soubrette und der Komiker tauschten Hebens-
würdige Anzdglichkeiten aus... Plötzlich
fühlte Herr Schreiner, wie die Dame ihr
Gesicht ihm zuwandte. Ihr Atem berührte
seine Wange. Er blickte auf. Das Blut
stockte ihm. Sie war es. . .In diesem Augen-
blick öffnete der Schließer die Tflre seiner
Loge. In ihren Mantel eingehfillt, das Spitzen-
tuch lose um den feinen Kopf geschlungen,
stand seine Frau, schmal und hoch einen Mo-
ment im Lichtschein^ der vom Gange hereinfiel.
Herr Schreiner hatte sich erhoben. Es konnte
nebenan nicht unbemerkt bleiben, wie schlank
er gewachsen war — die niedrige Loge trug
ihr Teil bei zu dieser vorteilhaften Geltend-
machung — , wie elegant seine lässige Höflich-
keit sich gegen seine Frau fluflerte. Er glaubte
zu bemerken, daß die Dame aufmerksam
seinen Bewegungen folgte. Deshalb ließ er
einen Moment die entblößte, heute angenehm
bleiche Rechte auf der roteiv Samtbrüstung
aufruhen^ ehe er sich völlig sehier Frau ent-
[123]
gegenwandte. Diese war nicht eben gesprft-
chtg. Das verdroß Hin. Sie lieft sich jedes
Wort herauspressen. Wie aus einer Zitrone,
dachte er voll Unwillen. Oft, zumeist, wenn
er sich irgendwie im Unrecht fühlte und
sich's nicht eingestehen mochte, überfiel
ihn dieser bis zur Wut anschwellende Un-
mut gegen Else. Er suchte eigensinnig
nach einem Vorwande, sie ins Unrecht zu
setzen, ereiferte sich, stolperte gleichsam,
kam immer mehr in Zorn und haßte sie end-
lich, da sie ihn durchschaute und mitleidig-
schmerzlich übersah. Heute hatte er sie ver-
stört durch das mehr als seltsame Zusammen-
treffen mit der Nachbarin, das sie sicherlich
bei sich irgendwie zu deuten unternehmen
wQrde, empfangen und aberlegt; ob er ihr
die Anwesenheit der Sängerin, mit einem
Scherzwort den Effekt kurz vorweg nehmend,
verraten sollte. Aber seine Aufregung ließ ihn
die richtige Gelegenheit versäumen. Und da
er, bei wachsender Feindseligkeit gegen
[124J
ihre aufreizende Ruhe, angestrengt über eine
Mögliciii^eit nachsann, seine Unbefangenheit
in den Augen Eisens nicht zu gefährden,
steigerte sich seine Scheu und ging wie eine
Wollce von ihm aus und auf die Gattin Uber,
die sich nur um so abwehrender in sich selbst
zurückzog, gegen ihren bewußten Willen,
wie sich etwa eine Pflanzenfaser, die als
Ftthler zielend vorragt, zusammenlorttnimt
unter dem beißenden Hauche starlcen Tabaks.
Ais sie sich niederließ, hatte sie auch schon
die Insassin der Nachbarloge erkannt. In ihr
war blitzschnell eine Trübung vor sich ge-
gangen. Sie hatte sofort etwas wie eine
unlautre Atmosphäre um sich herum emp-
funden, eine Atmosphäre, die sich ver-
dichtete, schwer wurde und ihr das freie
Atmen behinderte. Sie war den ganzen Weg
aber mit sorglichen Gedanken an ihre beiden
jy^ädchen beschäftigt gewesen^ die sie nicht
gern in der wenig verläßlichen Obhut der Kurse
zurückließ. Einige kurze Fragen ihres Mannes
[1351
hatten ihre Unbehaglichkeit noch vermehrt»
Seine Stimmung war ihr durchaus nicht ver-
borgen geblieben. Auch war sie sich der
eignen Unliebenswllrdiglceit bewußt und
litt unter dem Eindruclcey den sie auf den
eiupfiiidiichen, zuzeiten sehr zärtlichen Gatten
wirkte.
Die Italienerin ihrerseits hatte das Ehepaar
gleichfalls erkannt. Sie prQfte mit der Per*
sonen, die in der Offentlicitkeit zu stehen
gewohnt sind, eignen Unverschämtheit den
Anzug der Frau, wobei sie sich sogar ihres
an langer Perlenkette hängenden Lorgnons
bediente^ und wendete sich dann mit einem
Ausdruck; der von Mißachtung nicht frei war
— so schien's Elsen, die sich voll Empörung
so beobachtet sah — wieder von ihr ab und
der Btthne zu. Alexander Schreiner hatte
seine Arme auf der BrOstung aufgestemmt —
er markierte wieder einmal fOr den »Pöbel«
den aristokratisch lässigen Weltmann —
und verfolgte mit seinem Operngiase jede
[126]
Bewegung der jetzt in einen ländlichen Chor
gesammelten Statistinnen. Er bezweckte,
mit dieser Hingabe an die im allgemeinen
freilich nicht allzu verführerische Weiblich-
keit der Szene die Eifersucht der Nachbarin
wachzurufen, gab aber sein Beginnen wieder
auf, da er argwöhnte, er könnte sich's durch
seine, übrigens nicht sehr sichre Bühnen-
gönnermiene etwa gar bei der Gorma ver-
derben. Um sie zu versöhnen, blickte er
sich nunmehr, mit stark Übertriebener Un-
befangenheit an seinem kurzgestutzten Schnurr-
bärtchen zupfend, nach ihr um. Wieder sah
er dieses nicht eben scharf geschnittene, aber
durch seine dunkein HauttOne doch lein
gegen, die Umgebung abgesetzte Profil, den
weichen vollen Arm im eng anschließenden
Handschuh und die reife Büste, die für ihn
etwas Berauschendes besaß. Langsam schob
er seinen Arm näher an den ihren heran,
indem er sich mit seinem Opemglase
zu schaffen machte. Die trennenden Wände
fl27]
I
gingen nach unten zu in leichtem Schwung
in das rote Lchnpolster der Brüstung
über. Wenn sie ihren Arm auf die Scheide
legte, konnte er ihn mit seiner Schulter
streifen. Er suchte diese BerQhning her-
beizufOhren, und es gelang ihm einmal.
Er hielt den Atem an und wartete... Der
Arm bewegte sich nicht. Nun ließ er die
gehemmte Luft heftig durch die Nase aus-
strOmeni kehrte sich gegen Else und ver-
suchte so, scheinbar ganz arglos, durch das
Gewicht seines Rückens den Druck langsam
zu steigern. Die Italienerin ließ den Arm ge-
lassen herabgleiten. Er erbleichte... Im
Zwischenakte setzte sich Elsa in den Hinter-
grund der Loge. Er blieb an seinem Platze.
Seine natürliche Schüchternheit vertrug sich
nicht ganz gut mit den gewaltsamen An-
strengungen, Aufsehen zu erregen. Er
empfand auch deutlich, wie viel ihn alle
diese Mittel und Mittelchen kosteten, schfimte
sich nicht so sehr seiner unwürdigen
[I28j
Digitized by Google
Bemühungen als ihrer Halbschfächtigkelt
und verstärkte nur immer mehr die leidige
ßefangenheit.
Die Italienerin plauderte angeregt und
ziemlich laut mit ihrer Gefahrtin. Sie war
augenscheinlich Gast in der Loge. Der
Abend verstrich ohne dankenswerte Ergeb-
nisse. Alexander Schreiners Unmut war zu
höchst gestiegen, als die Sängerin seinen
letzten Versuch, ihr durch die ahermaiige
Aufrichtung seiner eleganten Gestalt zu im-
ponieren — diesmal im weiten Abendpelz,
den Zylinder auf dem Kopfe — nicht zu be-
achten geruhte. Auf der Treppe konnte er
sie nicht mehr erblicken, denn seine Frau
war allzu rasch mit ihrer Toilette fertig ge-
worden, so daß sie ihren Wagen erreichten,
ehe jene aus der Türe getreten war, die aus
dem Gange vor den Parterrelogen ins Foyer
fahrte. Seine Üble Laune entband bei der
Gattin geheimen Groll, fast Feindseligkeit.
Schweigend saßen sie im Wagen neben-
9
[1291
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einander, schweigend sdirilten sie die teppich-
bedeckte Stiege zu ihrer Wülinung empor.
Während Else noch mit dem Entkleiden be-
scliäftigt war, lag Alexander bereits gegen die
Wand gekehrt und schien fest zu schlafen.
Dem war durchaus nicht so. Ersann auf Rache.
Rache war es, ganz ausgesprochenermaßen
Rache^ die er erwog, Rache an seiner Frau.
Morgen mußte er die Gorma besuchen. Ja^
er muftte! Schon um dieser da neben ihm
zu beweisen... Andre Mflnner taten ganz
andre Dingel Es war ja geradezu lächer-
lich, wie er sich da eingemummelt hatte in
dieser £he. Unglaublich, wirklich! Aber
das sollte ahders werden! Er wollte dieser
Frau zeigen, was es heiße, einen Mann, wie
er einer war, nicht für gefährlich zu halten.
Sie sollte...! Doch nein. Sie durfte nichts
erfahren. Das wflre im höchsten Orad un*
bequem gewesen. Aber genießen wollte er, in
vollen Zügen genießen! Denn daß er der
Italienerin nicht gleichgültig geblieben war,
[180]
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das stand ja fest. Morgen würde er sie auf
suchen. Und er sah wieder ihren Körper vor
sich, hüllenlos, ambrabraun, duftend nach
wundervollen Essenzen. • . Jedenfalls wQrde
er morgen zum Friseur gehen. Und nicht zu
vergessen war, daß er ganzseidene Strümpfe
anzöge. ...Ob er Blumen mitbrächte? Nein,
das wäre kindisch gewesen. Nachlässig wollte
er bei ihr erscheinen, nachlässig, aber mit
der unausgesprochen ersichtlichen Absicht,
sie zu besitzen. Er wollte kommen wie ein
geborener Sieger. Das mußte sie bestechen.
Und er griff — den Schlafenden zu spielen,
hatte er ganz vergessen — nach der Tube
Vaseline, sein Gesicht, das, von innen heraus
erhitzt, schmerzhaft brannte, mit der Salbe
zu bestreichen.
Die Sftngerin trank den Thee in Gesell-
schaft ihres Freundes, des Fretherrn David
von Fleischer, als ihr Herrn Schreiners Karte
Ubergeben ward. Sie las erstaunt den un-
U31J
bekannten Namen und reichte die Karte dann
dem Baron^ der schweigend die Achseln
zuckte. *Ich lasse bitten«. Herr Schreiner
trat ein. Er hatte einen dunkelgrauen Geh-
rock und hellgraue Beinkleider gewählt, die,
im Ot>er8Chenkel wie Knickert)ocker8 ge-
schnitten, um die Wade herum eng, wenn
auch nicht anschmiegend schlössen und kelch-
förmig über den FuiS hinab fielen. Seine
weifie Weste mit breitem Oberschlag warf
keine einzige Falte. Er hatte sie erst
knapp vorm Verlassen des Bureaus an-
gelegt. Sie war vom Bügeln gekommen.
Die Anwesenheit eines Dritten beunruhigte
ihn, um so mehr, als er den Baron Fleischer
langst vom Sehen kannte. Die Dame des
Hauses wies mit einer einladenden Hand-
bewegung die beiden Herren aneinander. Der
Baron hatte sich lässig erhoben. £r war ein
Fünfziger mit schon stark angegrauten gepfleg-
ten Backenbartstreifen und dichtem gestutztem
Schnurrbari Seine Kälte, die man unfreundlich
fl32j
Digitized by Google
nennen konnte, trieb Herrn Schreiner den
Angstschweiß auf die unmittelbar vor dem
Eintreten noch gründlich mit Teintpapier
gereinigte Stirne. Die Sängerin lächelte.
Sie liatte den jungen Mann sofort erlcannt.
Sie liaif ihm. »Wir sind gestern abend Nach-
barn gewesen.« »jawohl, gnädige Frau.« Er
fühlte, daß er seinen Besuch irgendwie zu er-
klären verpflichtet sei, und stotterte ein paar
Phrasen, die diesem Zwecke galten. Die Gorma
nahm es gnädig hin. Der Baron schwieg. Nun
erging sich Herr Schreiner In mißfälligen
Bemerkungen über die gestrige Aufführung.
Der Baron sah nach der Uhr. Es war eine
dritte Tasse gebracht worden. »Darf ich
Ihnen ein wenig Thee einschenken?« fragte
die im Nachmittagszwielicht mttd und
gealtert aussehende Frau und rückte sich
ganz vom t^enster ab. Herr Schreiner
trank verlegen seinen Thee. Die Sängerin
sinrach von den Theatern der Stadt Ihre
Stimme hatte einen stark fremdländischen
[133]
Tonfall, auch suchte siie manchmal mit einiger
Ziererei nach den Worten. Einsilbig betei-
ligte sich der Baron am Gespräch. Endlich
erhob er sich. Herr Schreiner sprach sich
Mut zu. Auf die Gefahr hin, diesem Herrn
unausstehlich zu erscheinen, wollte er blei-
ben. »Meine Gnädigste«, sagte der Baron
Fleischer zu der Dame des Hauses und
sah ihr dabei voll ins Gesicht, »ich schicice
also den Wagen um ein viertel nach sieben
Uhr€. »Tun Sie das, lieber Baron«, sagte
die Gorma und drückte dem Scheidenden,
der mit der Linken den Rock schloß, lebhaft
die Hand. Herr Schreiner glaubte einen
Blick des Einverständnisses zu bemerken,
der nach Spott aussah. Spott Uber ihn?
Das »Einverständnis« wäre nicht schwer
zu erraten gewesen. Denn nur Herrn Schrei-
ner unter den Tausenden, die Frau Lucia
Wendtheim-Corma bewunderten und wie auf
der Konzerfbflhne, so in ihrem Privatleben
mit neugieriger Aufmerksamkeit begleiteten,
fl84]
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war es unbekannt geblieben, daß die Signora
seit Jahren ein Verhältnis mit dem unver-
ehlichten Freiherm David v. Fleischer unter-
hielt. Von ilirem Gatten Wendtheim wußte
man nicht viel mehr, als daß sie ihn einmal
vorzeiten geheiratet hätte.
Der Baron empfahl sich steif von Herrn
Schreiner. An der Türe — Herr Schreiner
hatte sich wieder gesetzt — schien er noch
einmal mit seinen Blicken gleichsam etwas
zu rufen, denn die Sltngerin Uchelte, wie
man lächelt, wenn man nicht wohl deutlicher
antworten kann, da jemand störend im Wege
sitzt. Dann ging er. Gott sei Dank, dachte
Herr Schreiner und war auf einige Minuten
wieder voll Untemehmung^mut. Die Gorma
wandte sich nun mit der größten Liebens-.
Würdigkeit ihm zu und fragte ihn, wie es
Herrn Schreiner alimählich vorlcam, etwas
unverblümt nach seinen Familienverhältnissen
aus. Als sie von seiner Frau sprach und
ihre Erscheinung lobte, empfand er das äußerst
[185]
peinlich. Er ging aucli nicht auf dieses Thema
ein. Noch unangenehmer war ihm die Er-
kundigung nach seinen Kindern^ die in der
allerunschuldigsten Form der Welt: »ob er
Familie habe« gestellt war. »So komme ich
nicht zum Ziele«, dachte der Aufgeregte.
Er hatte bereits jede Zuversicht eingebüßt.
Aber er konnte ihr doch um Gottes willen
nicht jetzt plötzlich ins Gesicht sagen, daß
er sie liebe, ^ruz abgesehen davon, daß dem
durchaus nicht der Fall war. Er brachte das
Gespräch auf den Baron und verriet mit
den ersten Worten seinem Gegenüber, daß
er keine Ahnung von den Beziehungen hätte,
die die Dame mit ihrem Freunde verbanden.
Sie überwand eine leise Befangenheit und
plauderte dann um so sorgloser von dem
liebenswürdigen »alten Herrn«. Was hat sie
vor? dachte Herr Schreiner. Die Jungfer er-
schien und meldete, daß das Bad bereit sei.
Mit einem bezaubernden Läclieln — er
erinnerte sich dieses Lächeins aus dem Kon*
fl86]
Digitized by Google
zert — entließ sie ilin . . . Da stand er nun
auf der Treppe und kam sich äußerst albern
vor. Während er langsam die Stufen hin-
abstieg, hatte er allen Ernstes den Gedanken,
diesen Besuch seiner Frau zu erzählen, mög-
lichst unbefangen natürlich, so etwa mit:
»Denk dir nur^ wo ich heute war«, zu be-
ginnen. Aber er fühlte, er würde den klugen
stummen Augen seiner Frau gegenüber er-
röten, und dann war alles verloren* Dann
hatte er Unfrieden im Hause, das heißt die
gewisse unerträgliche bleischwere Stimmung,
wenn seine Frau umher ging, als ob er nicht
da wäre. Und wozu auch ? Ohne jegliches Ent-
gelt auf der andern Seite. Denn dieser Besuch
war ja ganz offenbar verunglflckt. Ja, ja, ver-
unglückt Es war beim besten Willen nichts
anders heraus zu deuten. Sie war höflich ge-
wesen, aber nicht mehr. So hätte sie jeden an-
ständig gekleideten Menschen empfangen,
noch dazu einen, dessen Karte einen Mann aus
halbwegs gutem Hause nannte: Ministerial-
[137J
beamien und nichtaktiven Kavailerieleutnant.
Er mußte die Sache von vorn anfangen.
Aber wie, wenn er morgen wiederkäme
und dieser Baron Fleischer wieder da-
säße oder sie ihn gar in dessen An-
wesenheit abweisen ließe?... Ihm fiel ein
rettender Gedanke ein. Er wollte ihr
schreiben. Natürlich. Jetzt, nachdem er sie
besucht hatte, war ein Brief das einzige
Mittel, das die Hindernisse der An-
näherung hinwegzuräumen imstande war. . .
Oder neue zu schaffen? Er verwarf diese
Möglichkeit ebenso schnell, wie sie in ihm
aufgetaucht war.
Zu Hause entwickelte er eine ungewohnte
Beweglichkeit. Er turnte mit den hocherfreu-
ten Kindern, pfiff. Den Blicken seiner Frau
wich er aus. Da er ihr aber beim Abend-
essen gegenüber saß, begann er mit an-
schaunlicher Beredsamkeit allerhand Belang-
loses zu erzählen. Sie veitiielt sich meist
schwelgend.
[I38j
Digitized by Google
Am nächsten Tage gab er folgenden Brief
zur Post:
»Gnädigste Fraul
Mein Besuch bei ihnen ist mir eine pein-
liche Erinnerung. Ich war gelcommen, Ihnen
so viel zu sagen, und bin gegangen, ohne
auch nur den Zweck meines unbescheidenen
Erscheinens angedeutet zu iiaben. Dürfte ich
hoffen, daß Sie ihn erraten haben? Geben
Sie mir Gelegenheit^ meine Ungeschicklich-
keit, die einer begreiflichen Befangenheit
entspruni^en war, wieder gut zu machen. — In
dieser Hoffnung küsse ich, gnädige Frau,
Ihre Hand als Ihr ergebener..-.«
Als er mit eii^ner Hand dieses Schreiben
in den Brietkasten steckte, schien es ihm,
als warnte ihn eine innere Stimme vor dem
törichten Beginnen. Er fiberhörte sie. Aber
seine Laune war nichts weniger als gehoben.
Nicht wie ein Held erschien er sich, sondern
wie ein Besiegter. Er vermied den Gedanken
[139J
an seine Frau, kaufte aber seinen Kindern
in einer Spiel Warenhandlung einige Kleinig-
keiten, die er Auftrag gab, ihm bereit zu
stellen, da er sie selbst abzuholen willens
war. Um sich zu zerstreuen, ging er zuerst
zu seinem Friseur, dann zur Maniküre, end-
lich zum Zahnarzt, der ihm die Zflhne grOnd-
lieh reinigen mußte. Von einem Bekannten
ließ er sich ins Kaffeehaus führen, einem
Ihm seit Jahren ungewohnten Aufenthalte.
Sie saßen bei Kaffee und Kognak und sprachen
von »alten Zeiten«, gemeinsamen KuUssen-
erinnerungen und sonstigen galanten Aben-
teuern. Der Freund, ein blondbärtiger Drei-
ßiger, laut und brei^ spottete aber Herrn
Schreiners zurückgezogenes Ehemanns- und
Vaterleben. Nachdem dieser unzählige Ziga-
retten geraucht hatte, so daß sein Anzug,
auch durch die stickige Atmosphäre des
Kaffeehauses überhaupt, und sein Atem
einen Übeln Geruch ausströmten, begab er
sich tangsam nach Hause. Die Spielsachen
[uoj
Digitized by Google
fQr seine Kinder hatte er abzuholen ver-
gessen, sie fielen ihm ein, als er schon fast
vor seiner Wohnung angelangt war. Unter
dem Vorwande, den Kindern diese Freude
nicht zu verzdgem, kehrte er uni> nahm das
Palcet in Empfang und schritt wieder die-
selbe Strecke. Die bereits angezündeten
Laternen kontrastierten mit der Früh Im gs-
stimmung des lauen Abends. £r empfand plötz-
lich Lust^ mit seiner Frau ein wenig spazie-
ren zu fahren. Doch verwarf er sofort auch
wieder diesen Gedanken, da er dunkel zu ahnen
glaubte, daß sich dahinter etwas wie auf-
steigende Gewissensbisse verbarg... Der
Abend zu Hause verlief ohne besondres Vor-
kommnis. Die Kinder freuten sich Uber die mit-
gebrachten Sachen. Else halte ihre Migräne und
ging früher als gewöhnlich zu Bette. Er saß
allein unter der Lampe und nahm einen
französischen Roman vor. Es gelang ihm
nicht, zusammenhängend zu lesen. Seine
Gedanken schweiften ab. Sie waren voll
[UlJ
Bitterkeit. Daß ihn zum Beispiel seine Frau
ersucht hatte, dem Abendgebete der Kinder
fern zu bleiben, — es war sonst nicht seine
Gewohnheit, zu dieser täglichen letzten
Szene in der Kinderstube zu erscheinen —
hatte ihn verdrossen. Er gefiel sich einiger-
maßen in der Rolle eines Ausgestoßenen.
Die höhnischen Worte seines Freundes fielen
ihm ein. Er holte einen alten Jahrgang des
Journal amüsant hervor und suchte sich an
den frivolen Zeichnungen zu erheitern* Sie
waren ihm alle zu wenig lasziv. Er kramte
in seiner Bibliothek nach galanten Büchern,
fand eine mehr als freie Ausgabe des Boc-
caccio und spornte seine träge Phantasie
blutig. . •
Vormittag im Amte ließ ihn der Vor-
steher rufen und erteilte ihm in gemessener
Form einen Verweis wegen Nachlässig-
keit in der Dienstf Uhrung. Er habe schon längst
ein ernstes Wort mit ihm sprechen wollen.
Er mfisse ihn in seinem eignen Interesse
Digitized by Google
darauf aufmerksam machen, daß derlei Dinge,
wie er sie sich in seiner Geschäftsgebarung
habe wiederholt zuschulden kommen lassen,
nicht angingen. Man habe sich auch bereits
höhemorts miBbüligend über dies und
das ausgesprochen. Er fand keine Entschul-
digung. Ein Gefühl tiefer Demütigung fraß
Sich in sein Herz. Am liebsten hätte er laut
geweint. Er saß lange Zeit vor seinem
Schreibtisch und starrte in den sonnen-
beschienenen Hüf des Hinterhauses. . . Als
auch am Nachmittage kein Antwortbrief sich
einfand, ging er zum Hotel. Der Portier trat
ihm in der Türe seiner Loge entgegen und
fragte nach seinem Begehren. Die Signora
sei nicht zu Hause. Sie sei ausgefahren.
Langsam drehte sich Herr Schreiner auf den
Absätzen herum. Es war ihm, als müsse er
den Mann aufs Gewissen befragen, ob das
auch der Wahrheit entspreche. Aber er nahm
Abstand von diesem offenbar kompromittie-
renden Versuche, dankte mit betonter Nach-
[U3J
1
lässigkeity zwei Finger an der Hutkrempe,
und ging. Er kehrte in das Bureau zurück
und ließ nach Hause telephonieren, daß er
heut erst später kommen würde. Nachdem
er einige Male vergeblich einen Anlauf zur
Arbeit genommen hatte, schrieb er einen
langen Brief an die Sängerin, überlas ihn
und zerriß ihn. Ein Kollege trat ein und
fragte nach dem Verlaufe der Unterredung
mit dem Vorsteber. Argerlich gab Herr
Schreiner den Hauptinhalt zum besten. Der
Kollege, ein magrer, glatt rasierter, fast
kahler Pole, war ganz seiner Ansicht, daß
das Vorgehen des Chefs durchaus unbegrün-
det, vielleicht überhaupt nur einer Laune
entsprungen sei. Mit einer Empfehlung an
»die Gnädigste c entfernte ersieh, nicht ohne
nochmals wiederholt zu haben, Schreiner
möge sich nur ja kein graues Haar über die
dumme Sache wachsen lassen.
Endlich kam folgender Brief zustande:
[144]
Digitized by Google
»Gnädigste Frau !
Sie haben meinen Brief erhalten und mir
nicht geantwortet. Ich bin bei Ihnen gewesen,
und Sie haben mich abweisen lassen. Wenig-
stens schien es mir so. Ich will noch einmal
versuchen, ob ich mich in dem allen nicht
vielleicht täusche. Es gibt ja solche Zufälle
im Leben. Sie waren verhindert. Sie hatten
vor, den Brief gestern zu beantworten. Sie
hatten meine Adresse verlegt. Was weiß
ich... Ich weiß nur das eine, daß ich auf
die Gefahr hin, neuerlich und unverkennbar
abgewiesen zu werden, wenn ich auf diesen
meinen letzten Brief wiederum iceine Antwort
erhalten sollte, morgen gegen fOnf Uhr noch
einmal zu Ihnen gehen muß. Sie haben
mein Schicksal in Ihren Händen, die ich küsse.
A. Sch.«
Zu Hause fand er Gesellschaft vor. Die
Schwägerin Anna und ihr Mann waren zu
Besuch. Der Anblick des dicken gemüt*
liehen Menschen erquickte Herrn Schreiner
10
[146]
in der Seele. Er war in seiner behag-
lichen Nähe SO sicher. Vor ihm erzählte
er denn mit humoristischer Färbung und mit
einer verlognen Schneidigkeit renommierend^
den Auftritt beim Vorsteher. Er wußte, daß er
hier gutmütigen Spottes ttber ein solches Vor-
Icommnis sicher war. So rettete er auch die
Geschichte vor seiner Frau, bei der sonst —
das ahnte er ^ seine Erzählung ein stiUes
und ihm nur um so peinlicheres Ver-
denken erzeugt hätte.
Die beiden Schwestern waren in Haus-
frauen- und Kinderangeiegenheiten voll Eifers
eingesfK>nnen. Er trank mit dem Schwager
Olas um Glas. Allen Ernstes hatte er die
Absicht, sich heute zu berauschen, was ihm
schließlich auch gelang. Er fiel ins Bett
und schlief sofort ein.
Um so trübseliger gestaltete sich das Er-
wachen nach mehrmaligem Wecken des un-
geduldigen Mädchens. Richtig hatte er sich
auch heute verspätet. Atemlos wie ein Schul-
["«]
Digitized by Google
knabe kam er im Bureau an. Der Schweiß
stand ihm unter dem Hute, sein Hemd klebte
am Körper. »Der Herr Chef habe nach ihm
gefragt«, richtete sich verneigend der Diener
aus* Eine Ausrede auf den Lippen^ klopfte
er bei dem grämlichen Vorgesetzten an.
Dieser empfing ihn höchst ungnädig. Herr
Schreiner stand vor ihm wie ein ertapptes
Kind. Er schämte sich der unwürdigen
Situation unsäglich... Lächelnd kam der
Kollege wieder. Er konstatierte, daß Herr
Schreiner Pech habe. Leider hätte er,
der Kollege, selbst die unangenehme Auf-
gabe gehabt, ttber Befragen melden zu
müssen, daß Jener noch nicht anwesend wäre.
Der Chef habe seinen unleidlichen Tag.
Herr Schreiner möge sich nur nichts daraus
machen. Er, der Kollege, habe derlei schon
so oft einstecken mttssen. Ob sie sich wohl
auch so herauswachsen wollten im spätem
Leben, wenn sie zu Würden gelangt wären !
Der Kollege lächelte in freudiger Zuversicht
und steckte sich eine neue Zigarette an...
Abermals war von Lucia Cornia I^eine Ant-
wort gekommen. Und er hatte diesen Brief
doch durch einen Dienstmann sofort zutragen
lassen, der — so gab er ihm zu verstehen
— sich etwas verziehen könne, nicht all-
sogleich davoneilen müßte. Keine Antwort,
auch mit der Post nicht. Und es wurde
Nachmittag. Herr Schreiner wanderte in den
Sfraßen umher. Ein Regenschauer fiel nieder.
Er ging in eine Hutniederlage und ließ sich
den genäßten Zylinder neu aufbügeln.
Während er wartete, trat ein Herrschafts-
diener ein und stellte sich^ gleichfalls wartend,
neben ihn. Herr Schreiner empfand dies
wie eine Demütigung. Um dem Kerl mehr
Achtung einzuflößen, setzte er sich auf die
Pudel und schlenkerte mit den Beinen. Auch
hantierte er laut an seinem silbernen Feuer-
zeug und erreichte damit, daß der Bediente
nach schwedischen Zöndhölzchen in die
Hosentasche fuhr, was ihn wieder einiger-
[1481
Digitized by Google
maBen versöhnlich stimmte. Er dankte gnfldig.
Kaum war er auf der Straße angelangt, als
sich der Regenschauer erneuerte. Lr war, um
nicht abermals den Hut zu schädigen, ge-
n6ügjt, in einen Hausflur zu treten, wo schon
mehrere Fußgänger Unterstand gefunden
hatten. Wagen auf Wagen rollte vorüber.
Herr Schreiner begann sie zu zählen, gab
es aber wieder auf. Der Zeiger der großen
eisernen Standuhr rückte nur langsam weiter.
Schließlich fuhr er mit einem Fiaker behn
Hotel vor. Der Kutscher fragte, ob er
warten solle. Dies schien ilnn eine böse
Vorbedeutung. Doch um nicht das Schick-
sal zu versuchen, behielt er das Fuhrwerk.
Der Portier lüftete kaum die Kappe. Im
Vestibül stand eine hoch gewachsene Dame
in langem grauem Regenmantel, mit den
Lippen an dem Schleier zupfend. Augen-
scheinlich eine Aristokratin. Herr Schreiner
setzte sein Monokel auf. Es en^litt ihm und
zerbrach auf den Steinfliesen. Die Dame
wandte sich ab. Sie hatte gelächelt Herrn
Schreiner schoß das Blut in den Kopf. Er
ging ein paar Schritte zurück, der Un-
bekannten zu beweisen, daß dieses lächer-
liche Mißgeschick ihm nichts bedeute. Ja, er
brachte es Ober sich, mit dem Ende seiner
Schuhe an die Splitter zu rühren. Ohne sich
diesmal bei dem Portier erkundigt zu haben, -
stieg er die wenigen Stufen hinan zum Auf-
zuge* Der Liftjunge fragte nach der Nummer.
Die wußte er nicht »Erster Stock«. Als sie
sich geräuschlos in Bewegung setzten, fragte
er wie nebenbei: »Frau von Gorma ist zu-
hause?« »Ja«, sagte der Liftjunge. Eine
schreckliche Angst warf sich mit zottigen
Klauen auf Herrn Schreiners Brust: Jetzt
mußte sich's entscheiden. Wenige Minuten
später stand er vor der weiß lackierten
Tür. Er überlegte. Endlich klopfte er. Ein
Griff nach der Krawatte. Die TOr aHneie
steh. Die Zofe stand vor ihm. Das Wort er^
starb ihm. »Die Gnädige ist nicht zu Hause.«
Digitized by Google
Ein Blick in den Vonaum liaite ilin «Inen Herren-
Überrock bemerken lassen. . • Das Mädchen
schien ihn bis in die Knochen zu verachten.
Er hinterließ seine Empfehlung. Dann stieg
er schwerfällig die Stufen hinab... Der
Wagen wartete. Eilfertig riß der Kutsciier
die Decken van den nassen Rttcken der
Pferde. Er hatte eine längere Abwesenheit
erwartet. Als er schon im Coup^ saß,
beugte sich der Fiaker herab. »Wohin, Euer
Gnaden £r nannte seine Adresse* . •
Zu Hause schien es ihm merkwttrdig still.
Auf zweimaliges Läuten — er hatte seinen
Schiüssel nicht bei sich — erschien der
Diener und lächeite verlegen. »Die gnädige
• Frau ist verreist«. »Verreist...?« Sein Herz
stand starr. »Es liegt ein Brief füt den
gnädigen Herrn auf dem Schreibtisch« . . .
In Hut und Mantel stürzte er in sein Zimmer.
Dort auf der grünen Ledermappe mit den
vergoldeten Ecken lag ein Brief. Die Zfige
seiner Frau. Mit dem Bleistift hingeworfen.
[151]
Er riß den Umschlag ab. Ein violettes Brief-
blatt lag darin.
»Gnädige Fraut Wollen Sie, bitte» liirem
Gatten sagen, daß seine ßemtthangen mir
lästig fallen. Ich glaube, Sie werden Mittel
und Wege finden^ ihn von weitern Schritten
abzuhalten, die für Sie und ihn nur von
unangenehmen Folgen begleitet sein mußten.
In Hochachtung Ihre ergebene
Lucia Wendlheim-Cürma,
Kammersängerin.«
Herr Schreiner hielt das Briefblatt in
der Hand. Mechanisch wiederholten seine
Lippen den Inhalt der kurzen, in liegenden
Zügen geschriebenen Zeilen. Vor seinen
Augen fitmmerte es. In seinem Kopfe dröhnte -
es. Dann war alles still Er hielt sich
an der Stuhltehne. Der Diener räusperte
sich. Herr Schreiner führ herum. Die beiden
Männer standen einander gegenüber, der
Diener verlegen, dumm lächelnd, Herr
Schreiner noch immer den Brief in der
[162J
Digitized by Google
Hand. Er zwang sich zu Rnhe. »Wann ist
die gnädige Frau abgereist?« »Mit dem
Mittagsschnellzug, gnädiger Herr. Ich hab'
noch den gnädigen Herrn benachrichtigen
wollen, aber die gnädige Frau hat gesagt,
es ist nicht nötig, der gnädige Herr weift
schon. Die gnädige Frau ist nach Hollbrunn
gefahren«. Zu den Schwiegereltern natürlich.
Er wollte fragen: »Mit den Kindern?« Aber
er verschluckte die Silben. Der Diener fuhr
sich mit beiden Händen an den HQften
herab. »Die kleinen Fräuleins lassen den
gnädigen Herrn vielmals grüßen.« Herr
Schreiner fühlte^ daß er eine klägliche Figur
machte. Er wandte sich um, zog den breit-
lehnigen Stuhl unter der Schreibtischplatte
hervor und ließ sich schwer in ihm nieder.
»Es ist gut. Ich werde läuten, wenn ich dich
brauche.« Langsam entfernte sich der Be-
diente. Er hörte an seinen knarrenden
Schritten, daß er sich nach ihm umsah. Nun
safi er vor seinem Schreibtische. Die Bilder
[153J
seiner Frau, seiner Kinder standen vor ihm.
In iliren OlSsern spiegelte sich das Dämmer-
licht des einfallenden Abends. Die Uhr
ticlcte. Unten rollten Wagen Plötzlich
icratzte es an der Tttre. Der Diener hatte
die drei Hunde In das anstoSende Zimmer
gelassen, als ob er seinen Herrn zu
trösten versuchte. Herr Schreiner erhob sich,
öffnete die Türe. Die Hunde sprangen an
ihm empor. Da rannen ihm — seine Brust
hob sich stoilweise — dicice Trfinen aber
die Wangen. . . . Erst wanderte er ruhelos
durch die Zimmer. In der Kinderstube, wo
ihm jedes Stttclc von einem verlornen Leben
erzahlte, verweilte er. Er weidete seinen
Schmerz an diesen stummen Zeugen eines
jäh zerbrochenen Glücks. Der Nußknacker,
der Nikolaus, der Krampus, die steirische
Bauerin : alle sahen sie ihn an. Diese steifen
bunten Minner und Frauen druckten eine
unsflgtiche Trauer aus. Er setzte sich auf
eines der kleinen Stühlchen vor dem Kachel-
[154J
Digitized by Google
Ofen neben der grofien Pttpi>enwiege, preßte
die Hände vor die Augen und scliluchzte.
Aber da er sich dabei ertappte, daß er
seinem Schluchzen zuhörte, stand er wieder
auf — es war unterdessen fast ganz finster
geworden — , rief dem Diener und hieß ihn
im Anicleidezimmer den Smolcinganzug mit
allem Erforderlichen vorbereiten. Er konnte
nicht zuhause bleiben. Er mußte irgendwohin,
unter Menschen. Die Luft dieser verlassenen
Zimmer lastete immer schwerer auf seinem
Herzen. . . Anfangs hatte ihn eine Art von
Trotz abhalten wollen, seiner Frau zu
schreiben. Wie es ganz im Anfang dieser
denlcwürdigen Heimkunft mit ihm sich ver-
halten hatte, wußte er nicht mehr. Aber
daß da keinerlei Trotz in ihm gewesen war,
der erst später, durch einige Geißelhiebe
von Erwägungen gereizt, sich empor ge-
bäumt hatte, das fühlte er deutlich. Jetzt,
nach dem Besuch im Kinderzimmer, nach
dies^ reidilldien Tränen, war er ganz Un-
' [155|
terwUrfigkeit, ganz Demut Er schrieb einen
langen anlclagenden und flehenden Brief,
stand ein wenig erleichtert auf und begab
sich, mit sich selbst bis zu einem gewissen
Grade zufrieden^ in das ans Badezimmer
stoßende Kabinett, wo der Diener schon
alles bereit gelegt hatte und dienstfertig
wartete.
Den Brief in der Hand, um ihn nicht
etwa schüei^lich in der Rocktasche zu ver-
gessen, trat er in den Abendnebel hinaus.
Zunächst wollte er ein Theater aufsuchen,
und zwar ein flbermatiges, ganz ungebun-
denes Stück zu sehen. Er wählte ein
Vaudevilleunternehnien der Vorstadt, erhielt
richtig noch einen Platz in der ersten Parkett-
reihe und trat nach einem letzten Blick
in den hohen Wandspiegel der Garderobe,
das auf dem Wege gekaufte Monokel im
Auge, den Spazierstock mit der Krücke
über den linken Arm gehängt, an seinen
weißen Handschuhen knOpfelnd, in den
[166]
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Zuschauerraum. Man war mitten im ersten
Akt. Er musterte im Rampenlicht die An-
wesenden. In einer Parterreloge sah er den
Grafen Verminges, einen ehemaligen Regi-
mentslcameraden, mit seiner Frau, einer
kleinen, brünetten, beweglichen Person. Er
erinnerte sich ihrer wohl. Die Heirat hatte
damals im Regiment Aufsehen gemacht. Sie
war die Tochter eines reich gewordenen
Erzeugers ätherischer öle, von Haus aus
nicht eben wohl erzogen, abci bildsam. Im
zweiten Akte besuchte er das Ehepaar, das
sich augenscheinlich miteinander nicht zum
besten zu amüsieren gesonnen oder in der
Lage war, denn der Graf starrte zumeist mit
seinem Glase in eine gegenüber liegende
Loge, die Gemahlin wandte trotzig Icein
Auge von der Bühne. Ein verlegenes Zögern
beim Eintreten Qberwindend, gab sich Herr
Schreiner als erfreuter alter Bekannter. Die
beiden kamen aus einer kleinen Garnison.
Wie er erfuhr, waren sie auf der Durch-
[167]
reise. Man verabredete ein gemeinsames
Abendessen. Erleichtert atmete Herr Schreiner
auf. Ein Teil der Nacht war vorläufig
angebracht. Bliclce des intimen Einver-
ständnisses zur Loge empor — auf die
Umsitzenden berechnet — gab er bald
als erfolglos auf, denn Verminges hatte
sich wieder seinen Betrachtungen ge-
widmet, aber es war ihm unterdessen
doch gelungen, ein QefUhi der Sicherheit
in sich heranzuzüchten^ und die wieder-
gewonnene Behaglichlceit — er rüttelte
nicht an ihrer dünnen Decke, unter der
wie unter der leichten Eisschicht eines
schmutzigen Gerinnsels allerlei Ungeklärtes
schwamm, verlieh ihm soviel Selbst-
bewußtsein, daß er sogar eine hUbsche
Soubrette auf sich aufmerksam zu machen
suchte, indem er des öftern seine weiß
behandschuhten Hände über den silbernen
Stockgriff legte und hin und herrückend
sem Augenglas auffunkeln ließ. —
[158J
Digitized by Google
Im Hotel, das die Menage Verminges ge-
wählt hatte, fand sich bald ein Freund des
Grafen ein, ein junger Diplomat, der Herrn
Schreiner mit gemessener Höflichkeit be-
grüfite^ nur um sich desto lebiiafter seiner
Nachbarin zu widmen, neben der ein Platz sich
als für ihn reserviert erwies. Herr Schreiner
konnte bald bemerken, was niemand lange
ein Geheimnis zu bleiben vermochte^ daß
die «Gräfin und der junge Mann^ der eine
fade gelbe Physiognomie besaß und alle
möglichen Menschen im Saale lässig scherzend
grüßte, sich im vollsten Behagen miteinander
befanden. Der Gemahl, der sich gewohnter-
maßen von seiner Frau aufgegeben sah^
rückte an den Regimentsicameraden heran,
und die beiden leisteten ein Erkleckliches
im Trinken und Zutrinken. Es war ein
Viertel vor Mitternacht, als sich die Gesell-
schaft trennte. Der Diplomat, der bei Tisch
Herrn Schreiner kehier erheblichen Ansprache
gewürdigt hatte — dieser nannte ihn im
[159]
stillen einen arroganten Laffen empfahl
sich am Wagenschlage, Verminges aber hatte
mit Alexander Schreiner eine gemeinschaft-
liche Nachfeier in einem Vergnügungs-
Etablissement verabredeti wo er auch, als
dieser kaum die letzte vorhandene Loge
besetzt hatte, sehr aufgeräumt erschien.
»Nun wollen wir lustig sein, Bruder!« Mit
diesen vielversprechenden Worten übernahm
der Graf die Führung, und rasch hatte sich
an dem Tische der neuen alten Freunde
eine Anzahl tief dekolletierter und hoch
frisierter Dämchen eingefunden, die Back-
hühner mit Salat und gemischtem Kompott
sowie unzählige Qiardinettos verspeisten und
sich Uberaus toll betrugen. Zu vorgerückter
Stunde, als der Zigarrendampf den Raum
mit blauen Wolken erfüllte und die grellen
elekhrischen Lampen flbeischwelte, saß eine
schwarze üppige Kleine Aiexandern auf den
Knien und küßte ihn wiederholt auf den
Mund, was er anfangs abgewehrt hatte,
rieol
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spater aber aus Scham vor Verminges
geschehen ließi obwohl er er wieder-
holte bei sich diese sophistische Beteuerung
— keinen ihrer Küsse erwiderte.
Auch der Graf hatte eine Schöne aus-
gewählt oder sich von einer wählen lassen
und bereits einige Male Zeichen großer Un-
geduld von sich gegeben, die Herr Schreiner,
der nicht recht wußte oder zu wissen begehrte,
wie das alles enden sollte, beharrlich miß-
verstand. Endlich erhob sich VermingeSi
rief dem ZahUcellner, man teilte nach ehiem
nicht sehr aufrichtigen Abwehrversuche des
Grafen die beträchtlichen Kosten der Unter-
haltung, und nach einem icordialen Hände-
drucke sah sich Alexander Schreiner plötzlich
auf der Straße mit dem Mädchen, das, in einen
roten Plflschmantel mit Pelzbesatz gehallt
und auf hohen Stöckeln trippelnd, um sich
gegen das Frösteln in der feuchten Nachtluft zu
wahren, halb an sehiem Arme, so als wäre
das selbstverständlich! vor dem Portal des
u
[isi]
Digitized by Google
Etablissements nach einem der nahe haltenden
Wagen zu rufen Auftrag gegeben hatte.
Ziemlich wirr im Kopfe, wie betfluht vom
Dunste des Lokals und der Weiber, ohne
rechte Besinnung, was geschehen sei, was
geschehen werde, stieg Alexander ihr nach
in das dunlüe Coupö, lieft sich von der
schauernden Kleinen an die liebebereite Brust
ziehen, erwiderte, halb im Traume, den
zärtlichen Druck ihrer Schenkel und kam
erst zu sich; als der Fiaker, indem er die
Pferde etwas verhielt, nach dem Ziele der
Fahrt fragte. »Zu dir«, sagte die junge
Dame. Das gab Herrn Schreiner wie mit
einem Schlage die Herrschaft über sein aus
dem Zügel gefallenes Innenleben zurück.
Ohne sich auf weitere Erörterungen elnzu-
lassen. Im OefQhle langst versäumter Pflicht,
fuhr er die Zusammenschreckende an: »Wo
wohnst du?« Als sie zögerte, wiederholte
er die barsche Frage, erfuhr eine Gasse und
ehie Hausnummer, rief sie dem Kutscher zu
[168]
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und warf sich rückwärts in den Wagen,
die Augen schließend, die Hände über dem
JMagen faltend. Das Mädchen saB einige
Augenblicke verschüchtert da^ dann hob sie
eine bereits zum Keifen schwankende Stimme
und beklagte sich bitter über die Unfreund-
lichkeit ihres Kavaliers. Da dieser nicht ant-
wörtetei erklärte sie, mit dem Fuß aufstamp-
fend^ sie werde ihn um keinen Preis bei sich
empfangen, da sie mit ihrer Mutter zusammen
wohne und die Mutter nie und nimmer — sie
wiederholte die ihr offenbar sehr wohllautende
Phrase — zugeben würde, daß sie einen
Herrn usw.
Seinen Hut aus dem Gesicht in den
Nacken schiebend, griff Herr Schreiner nach
der Wagenklinke. Da die SchOne fortfuhr,
die über allen Zweifel erhabene Lauterkeit
ihrer Mutter gegen einen unbekannten An-
greifer zu verteidigen, steckte Alexander den
Kopf beim rasch herabgelassenen Fenster hin-
aus, hieß den Kutscher halten, sprang aus dem
[X63J
Wagen, warf jenem eine große Silbermünze hin
und verschwand um die nächste Straßenecke.
Er hörte, daft der Wagen stehen geblieben
war, vernahm ein erregtes Zwiegespräch
und begann zu laufen. Er lief, als seien ihm
Häscher auf den Spuren, er lief so, daß ihn
ein Wachmann, der sich erst verwundert
nach ihm umgesehen hatte, anrief. Er lief
immer rascher durch unbekannte Gassen und
stürmte endlich in ein kleines Kaffeehaus,
aus dessen verhängten Fenstern der trübe
Schein herabgedrehter Gasflammen drang.
Hier ließ er sich völlig erschöpft nieder,
bestellte einen schwarzen Kaffee und harrte
mit Herzklopfen, ob seine Verfolgerin (denn
nur eine Verfolgung hatte er wie eine Ge-
fahr im Sinne) ihn an seinem doch nicht
ganz sichern Platz erreichen würde. Ais
der dampfende Kaffee von einem Ober-
nächtigen Kellner aufgetragen war, zahlteer
allsogleich, netzte kaum die Lippen mit dem
hei^n dünnen Getränk und eilte ins Freie.
[164]
Digitized by Google
Der ganze Aufenthalt hatte nur wenige Minuten
gedauert. Die Straße war leer. Unter einer
Laterne stand wieder ein Wachmann. Er trat
auf ihn zu und — in seiner Nähe fühlte er
sich sicher — fragte nach dem nächsten
Einspflnnerstandpiatze. Der Mann — es war
derselbe, der ihn vorhin angerufen hatte; offen-
bar war er ihm gefolgt — sah ihn arg-
wöhnisch an, da aber Alexander mit gut
gespielter^Qelassenheit ein Zigarrenetui her-
vorzog, ihm eine Zigarre entnahm und sich
in aller Ruhe mit dem an einer langen
Kette hängenden Taschengeräte die Zigarre
zurecht schnitt, ja den Angeredeten endlich
gar um Feuer bat, gab dieser alle Einwände
gegen die verdächtige Erscheinung auf und
erteilte willig Auskunft. Inzwischen war in
torkelndem Holpern ein nlcfatbesetztes ein-
spänniges Fulirwerk herangerumpelt. Herr
Schreiner rief den schlaftrunknen Kutscher
an, und erst als die Scheiben der Wagen-
türen um ihn klirrten, fohite ersieh geborgen.
|166J
Um 4 Uhr morgens lag er in seinem Bette.
Totenstille umfing ihn. Allerlei Gedanken
schwangen verwirrend im FrOhllcht. Aber
seine Müdigkeit war größer als ihre Macht.
Er entschlief, ohne sich, wie ihm von seiner
Frau angelernt worden war, die Zähne und den
Mund vor dem Zubettgehen gereinigt zu haben.
Als Herr Schreiner erwachte, war es
heller Tag. Ein schrecklicher Gedanke riß
ihn aus der von dumpfem Kopfschmerz
begleiteten Schlaftrunkenheit empor. Er
tastete nach der Uhr: sie zeigte die elfte
Stunde. Er hatte also richtig verschlafen.
Was war zu tun? Er klingelte dem Diener.
Dieser erschien erst nach mehrmaligem
Läuten. Offenbar hatte ihn die Köchin wieder
einmal unmittelbar vom Lager holen mOssen,
auf dem er sich in jeder unbeschäftigten
Stunde - - und er schuf sich deren nur allzu
viele — auszustrecken pflegte. »Warum hast
du mich nicht geweckt^ Kerl ?« schrie den in
der Türe Zögernden Herr Schreiner an. »Ich
11661
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habe mindestens fünfmal geklopft, gnädiger
Herr. . .« *Was sind das für dumme Aus-
reden! Du weißt wohl, daß ich unbedingt
heraus mußU — »Ich habe geglaubt, daß
der gnädige Herr heute « »Du hast
gar nichts zu glauben, Trottel!« Und mit
der Hilflosigkeit eines Kindes sofort in einen
weinerlichen Ton verfallend, fuhr er fort:
»Was soll man denn jetzt machen, was soll
man denn jetzt machen?!« Der Bursch
erlaubte sich vorzuschlagen, daß er den
gnädigen Herrn im Amt abmelden würde.
(Seine militärische Vergangenheit ließ ihn
immer die Fachausdracke finden.) »Ab-
melden! Esel!... Aber es geht ja nicht
anders!« jammerte Herr Schreiner, der sich
bereits mildem Gedanken, weiter zu schlafen,
vertraut gemacht hatte. Nur das lästige
Schreiben erschien ihm als eine irgendwie
zu umgehende Pflicht... »Out« Der Diener
wollte sich entfernen. »Halt, dummer Kerl!«,
brüllte Herr Schreiner. Die rote Physiognomie
tl67j
des Bedienten erschien wieder in der Tfir-
spalte. »Mach die Tür zu und komm her!«
Er tat es. »Wie du wieder aussiehst! Du
liast dich gewift wieder von der Mali erst
wecken lassen N Josef beteuerte seine Un-
schuld mit der sattsam bekannten Engels-
miene. »Schweig!« Der Diener wollte sich
zurückziehen. »Bleib doch!« Josef stand
steif. Das verwirrte Haar fiel ihm in die
breite niedrige Stirn. Mit einem Blicke des
Hasses maß ihn Herr Sdireiner. »Du wirst
dich anständig anziehen. Nicht in Livree.
Einen ordentlichen Zivilanzug, runden Hut.
Aber Handschuhe, verstehst dul« Josef
verstand. »Fahrst hin und gehst zum Herrn Rat
N... Zu wem gehst du?« »Zum Herrn Rat
N.« wiederholte Josef stramm. »Du fragst den
Bureaudiener, ob du selbst zum Herrn Rat
hinein darfst. Und wenn er dich angemeldet
hat, so sagst du dem Herrn 'Ra^ daß ich
krank bin und heut noch schreiben werde.«
Der Bursche stand, gewitzigt durch die
(iGöJ
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vielen Anrufe, still. »Also gehl Worauf
wartest du noch ?« Der Bediente verzog sein
breites Gesicht' zu einem freundlichen
Grinsen und öffnete langsam die TOre. Er
war nicht ganz sicher, ob Ihm sein Herr
schon alles gesagt hätte. Und Herr Schreiner
überlegte auch. »Nein, es geht doch nicht.
Ich muß .heraus. Wart nochl« rief er.
Der Bediente wandte sich triumphierend
um. »Wart noch! Du kannst dich mittler-
weile anziehen. Aber sofort und ordentlich,
hörst duV« Der Diener, froh, jetzt sicherlich
ans Ende der Unterredung gelangt zu sein,
verschwand eiligst Herr Schreiner erhob
sich gähnend, fuhr In die gelben Schlaf-
schuhe und den über die Stuhllehne ge-
hängten blauen Morgenrock und schritt
im langen Nachthemd durch die un-
geheizten Zimmer. Wahrend er ging, kam
die ganze Jämmerlichkeit seiner Situation
wie eine Sturzwelle Spülicht über ihn. Ihm
war das Weinen nahe. Auf dem Schreib-
tische standen das Bitd seiner Frau, die Bilder
seiner Kinder. Er nahm die Photographien
in ihren Glasrahmen und ktl&te sie metir-
mais. Dann, als hätte er eine vo^schriebene
Handlung verrichteti zog er die Lade auf,
entnahm der Papierschachtel einen großen
Bogen und setzte die Feder zum Schieiben
an. Er muüte abermals gähnen; der Krampf
tat ihm wohl. Er nieste Icräftig. Daft er das
Taschentuch nicht bei sich hatte^ verdroß
ihn. Aber er wollte nicht wiederum nach
Josef läuten. So zog er den Nasenschleim
hoch, seufzte tief und begann in lang-
gestreclcten Zügen den Entschuldigung^brief
an den Amtsvorsteher. Es ging ihm schwer
vonstatten. Die Uhr zeigte 20 Minuten nach
Elf. Es war keine Zeit zu verlieren. Er
beendigte das Schriftstück^ das ihm beim
Überlesen etwas viel an Unterwürfigkeit zu
bieten schien, leckte den gummierten Rand
des Umschlags — natürlich war der
Markenbefeuchter wieder einmal nicht mit
[170J
Digitized by Google
Wasser gefüllt! — , schrieb eine umständliche
Adresse und übergab den Brief dem unter-
dessen bereits geräuschlos hinter ihm ein-
getretenen Bedienten. »Du gibst das draußen
ab und wartest eine Weile. Vielleicht
bekommst du Antwort, aber es ist keine
nötig«.«.. Sollte er sich wirklich noch
einmal zu Bett begeben? Die Sonne schien
wundervoll warm. Auch verspürte er einen
nicht geringen Frühstückhunger. Aber was
blieb ihm denn übrig? Ausgehen konnte
er doch nicht. . . Seiner Frau schreiben? Er
verwarf den Gedanken erschreckt Es WOrde
doch wohl das Klügste sein, sich aus-
zuschlafen. Auch schmerzte ihn jetzt der
Kopf heftig. Er warf den Bildern Abschieds-
blicke zu, denen er einen süß schmachtenden
Ausdruck gab» und verfügte sich in das
Schlafzimmer zurflck. Das bedeckte Bett
Eisens gab seinen Gedanken wieder die un-
erwünschte Richtung. Auch hatte er sich in
der Zerstreuung eine Zigarette angezündet.
[UlJ
die ihm den Rest der Schläfrigkeit zu ver-
treiben nur aüzu geeignet schien. Er schleu-
derte sie weg und warf sich auf das zer-
wühlte Lager. Er zog di« Decke hoch hinauf
und schloß die Augen mit Nachdruck. Aber es
gelang ihm nicht mehr, einzuschlafen. Und
je länger er lag, um so beunruhigender
wurden die einander treibenden Gedanken.
Plötzlich schoß ihm das Blut in die Schläfen,
so siedend, daß er die Augen Öffnete und
sich im Bett aufsetzte. »Um Gottes willen,
wohin soll das führen V« fragte er sich, und
er wiederholte diese Phrase mechanisch
mehrmals. Der gestrige Abend, die wilste
Nacht stiegen wie gräßliche Gespenster vor
ihm auf. Er kam sich geschändet vor, ver-
worfen, wie ein Verbrecher. Er griff sich
an den Kopf. »Wenn jetzt ein Fieber kämel
Wenn jetzt ein Fieber kämel« flOsterte er.
Er begann ein Gebet um Fieber an Gott
zu richten, ein wohlgesetztes Gebet, in
dem alles aufgezählt war, was ihm zu-
Ln2j
Digitized by Google
gestoßen sei, und Gott darauf aufmerk-
sam gemacht wurde, daß er diesen einzig
richtigen Ausweg aus den Drangsalen
ihm in seiner großen Güte eröffnen möge.
Denn ein Fieber, eventuell sogar Lebens-
gefahr . . . Lebensgefahr I Er frohlockte
bei der Vorstellung, da{3 man seiner Frau
ein Telegramm nachzusenden sich genötigt
sehen wttr^e, daß sie daraufhin umgehend
zurück zu kommen veranlaßt wäre . . .
Aber nein, das war ja unmöglich ! So etwas
konnte nie und nimmermehr geschehen. Im
Gegenteil. Es mußte immer ärger und
ärger kommen. Daß seine Frau mit ihrer
Abreise einen übereilten Schritt getan haben
konnte, war ihm noch nicht einen Augen*
blick eingefallen. Jetzt dämmerte etwas
Ähnliches wetterleuchtend durch sein Gehirn.
Aber die drückende Schwüle der Atmosphäre,
das dunkellastende Sichverdichten von Massen
Uber ihm war gleich wieder vorhanden....
Scheidung! Diese Möglichlceii fiel plötzlich
[173J
wie ein Wettersclilag auf ihn herab.
Scheidung I Natürlich I Daran dachte sie*
Die Abreise war die Einleitung zum Aus-
einandergehen. Er wand sich in Qualen unter
der Wucht dieser Vorstellung. Eine lebhafte
Szene spielte sich vor den Augen seiner
Seele ab. Er sah sich jammernd, winselnd,
um Gnade flehend. Dumpfe Wut grollte im
Hintergrunde seiner Brust Und der Haß
wollte sich erheben. Da schoben sich die
lichten Bilder seiner beiden blonden Mädchen
lautlos an seiner Seele vorbei, glitten langsam,
wie auf Nimmerwiedersehen scheidend, vor-
Ober. . Er sah sich auf die Knie stürzen,
die Hände ringen, hörte seine ohnmächtigen
Schreie... Er warf die Decke ab. Sein Ge-
sicht glühte. Aus der Nachttischlade holte
er einen Handspiegel hervor und betrachtete
sich lange, eingehend, mit Forschergenauig-
keit. Wie er aussah! Gedunsen, rot, die
Augen trüb, glasig, verquollen, das Haar
fettig, wirr, schütter, an Kinn und Wangen
Bartstoppeln, die Nase aufgetrieben, die
Nasenlöcher voll Schmutz. Er schneuzte sich,
prüfte wie ein Schnupfer das Ergebnis.
Schmutz. Und so oft er sich wieder schneuzte,
rußiger Unrat. Sein Blick fiel auf seine
Finger. Sie waren gleichfalls rot. Die Nägel
hatten schwarze Ränder. Er hauchte in seine
Hand. Sein Atem stanic. Er empfand einen
grenzenlosen Ekel vor seiner Person. Dann
warf er das Nachthemd ab und eilte in das
Badezimmer. Der Ofen war noch warm. Er
ließ das Wasser in die Wanne stttrzen und
begann sich einzuseifen. Während er das
Messer am Riemen glatt zog, dachte er so
lebhaft an seine Frau, daß ihm Tränen in
die Augen traten. Haß gegen sich selbst
erfüllte ihn, indem er den Abend, die Nacht
wieder überlief. Vermingesl Was hatte er
diesen blöden Kerl treffen müssen ! Natürlich
die »Gräfin« hatte ihn gelockt! Diese —
Dirne 1 Und er gefiel sich darin, auf die
ünbelcannte allerlei Schmähungen zu häufen.
[175J
Plötzlich errötete er heftig. Die Küsse jenes
Mädctiens brannten auf seinen Wangen. Er
wusch sich mit Gewalt in dem bis an den
Rand gefällten Becken des Waschtisches,
ließ die Brause über seinen Kopf gehen^
rieb sich immer wieder die Augen, den
Mund, die Nase. Hoch aufatmend ging er
ans Rasieren, seifte sich nochmals gründlich
ein. Seine breite Brust dehnend, zog er die
Wange mit der Linken übers Kinn straff.
Er setzte das Messer an. Es ging gut. Kaum
daß er sich ein Haar aussprengte. Da klopfte
es. Der Bediente. »Nun ?« »Der Herr Rat
läßt sagen, er erwarte den gnädigen Herrn
morgen bestimmt.« »So, danke, es ist gut.«
Was das bedeuten mochte? Eine böse
Ahnung stieg in ihm auf Das Frühstück
verzehrte er in trüben Oedanken. Er aß und
ad, ließ sich zum Schluß noch ein Qlas
Sherry reichen, trank es gierig auf einen
Schluck, trank außerdem zwei, drei Gläser
Wasser. Die Post hatte zwei Rechnungen
[1761
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gebracht und ein Modejournal fOr seine
Frau. Er zog es aus der Umschlagsschleife.
Da fiel ihm ein, ob sie wohl jemals wieder
selbst diese Schleife entfernen würde, hier
in ihrer Wohnung, bei ihm? — Seine Brust
ward von neuem bedrüclct von all den
quälenden, auf Unheil weisenden Gedanken. .
Er setzte sich an den Schreibtisch und
schrieb an Else. Er schrieb Bogen um
Bogen, fast eine Stunde lang. . . Ihm fiel
ein, daß er nachmittag im Bureau erscheinen,
daß er alles wieder gut machen könnte. Er
würde sagen, daß er sich zum Kommen
gezwungen, sich am Morgen sehr schlecht
befunden hätte.... Was für eine Krank-
heit er wohl nennen sollte? Kopfschmerzen?
Zahnweh ? Er sann auf etwas Erheblicheres,
unbedingt Mitleid Erregendes. —
Herr Schreiner hatte es doch nicht aus-
gehalten. Er war gegen vier Uhr ins Bureau
gekommen. Ais er sich nach dem Vorsteher
[177J
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erkundigte^ erfuhr er, daß dieser sich bereite
entfernt hatte. Das bedeutete eine Ent-
täuschung für ihn. Denn nun war sein
Märtyrergang eigentlich ganz überflüssig
gewesen. Anderseits war er der Notwendig-
Iceit enthoben, eine Krankheitsgeschichte zu
erzähleni bei der ihn die Verlegenheit ge-
gewiß übermannt haben würde. Lügen war
seine schwache Seite. Am nächsten Tage
war die ganze Sache so gut wie vergangen.
Da biieb nicht viel mehr zu tun übrig, als
sich einfach zu melden. Freilich mußte er
irgendwie, ohne aber etwa damit zu prunken,
anbringen, daß er bereits am Nachmittage
gel<ommen wäre, Icranic, wie er sich gefühlt
hätte. Aus Pflichteifer...? Würde ihm das
jener glauben. Nicht nur eine Komödie ver-
muten und um so unbarmherziger verfahren?
Hohn war Herrn Schreiner ja noch lieber
als die gewisse stillschweigende Nicht-
beachtung. Cr war nicht ohne schüchternen
Oirgeiz. Er wollte von Zeit zu Zeit sogar
[178]
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als Arbeitskraft hervorstechen, und es ver-
droß ihn dann, wenn man diese Betätigung
nicht allzu ernst nahm. Es lastete ein Fluch
auf ihm. Man wollte ihn nicht als Beamten
gelten lassen. Und das BOseste an der
Sache war, daß er sich selbst ja auch
nicht so recht als Beamter fühlte, wie er
sich üt>erhaupt immer nur in Rollen und
Situationen zu »fflhlen« imstande war. Er
»fühlte steh« als Lebemann, wenn er um
zwölf Uhr nachts, das Monokel eingeklemmt,
mit Freunden ein oder das andre Mal im
Jahr ein Nachtlokal betrat Er »fühlte« sich
als Reiter« wenn er auf vier Wodien zur
Waffenübung eingerückt war, »fühlte« sich
als Sportsinann, wenn er einem Tennismatch
zusah. Nichts Ganzes kam aus ihm heraus,
weil er selbst nirgends ganz darin steckte.
Was war er denn eigentlich? Und er quälte
sich, wie so oft, eine Formel zu finden
für diesen unglückseligen, von Launen
gepeinigten, befangenen und ungeschickten
12»
[179J
Menschen, der er im Grunde war. Gelernt
hatte er auch nicht allzuviel. Ihm fehlte
immer da und dort etwas. Er beneidete die
aristokratischen Jünglinge um den kräftigen
Schatten, den sie im Leben warfen. Diese
»hochmütigen Buben«, die, so oft es nur
irgend anging, ihren bürgerlichen Bekannten
verleugneten, wenn es zum GrüßL'ii kommen
sollte, wegsahen oder sich angelegentlich
schneuzten, diese sehr gut gekleideten »Ach-
und Krach-Absolventen« von Fortbildungs-
kursen und Ackerbauschulen, diese Rekord-
raucher und geborneii Jäger: wie wunder-
voll sicher waren sie doch alle! Und er,
Herr Schreiner, der gebildete (war er
übrigens gebildet?), der vermögende (sie
war doch eigentlich nur eine halbe Sache,
seine Verniögiichkeit, zu viel und zu wenig,
wie man's nahm, jedenfalls nicht genug für
die »Welt«, für einen Bürgerlichen in der
»Welt«), der gut Placierte, der Verheiratete,
der Hübsche, der Elegante (er traute auch
[ISO]
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seiner Eleganz nie reclit^ sah sidi immer
in Wirlclichlceit und »bildlich« prttfend im
Spiegel an, verglich, argwöhnte, alimte
nach, verwarf wiederum, wechselte), der
Wohlgeborene (das kannte ihm doch niemand
nehmen: er war aus guter Familie, man
hatte sogar ein Wappen im Hause!), er, er
war nie etwas, er imponierte niemand, ja,
er fügte sich nicht einmal gut ein, er stieß
an, er war im Wege, er gefiel nicht. Das
war sein größtes Unglück. Er hätte sich
alles verziehen, wenn er gefallen hatte. Aber
er gefiel nicht. Seine Eitelkeit ließ ihn das
immer wieder übersehen. Umso schwerer
empfand er dann die schlagenden Beweise
von der Richtigkeit seiner tiefinnerst ver-
borgen kauernden Oberzeugung. Damals,
als er der ägyptischen Tänzerin in die
Garderobe gedrungen war, noch als Gy-
mnasiast, und sie ihn mit zornflammenden
Augen hinausgewiesen hatte, während er
doch wußte, daß allabendlich sein Freund,
[181]
I
der Kadett Oraf Eugen Bodde, ihr bei der
Toilette Gesellschaft leistetet... Das war ja
wieder so ein eklatanter Fall, das mit dieser
Lucia Gorma! Was war sie denn eigentlich?
Eine alternde Person, ei«e Frau mit Vergangen-
heit und ohne Zukunft als Weib. Und er war
doch immerhin Herr Alexander Schreiner mit
den gerade gewachsenen Beinen, dem schlan-
ken Hals, der hohen Taille, dem schön geschnit-
tenen »französischen« Gesicht. Sie war eine
berühmte Sängerin. Gut. Aber was war
schlieftlich daran? Man konnte sich seinen Sitz
bezahlen, und nun saß man da, und sie sang
vor. Und da sie eine gute Stimme und viel
Schule hatte und immer wieder sang und die
Zeitungen sie seit Jahren lobten, kam »alles«
in diese Konzerte, und man »riß sich« um
die Billette. Das war ja immerhin nichts
»Soziales«. Sie war eben doch jemand, der
für Geld sich auf ein Podium stellt und
etwas zum besten gibt. Und der und jener
durfte derweil mit seiner Nachbarin plaudern
[182]
Digitized by Google
und brauchte gar nicht einmal hinzuhören auf
diese ältliche Dame, die ein Lied nach dem
andern herunter sang. Nun sagte man zwar,
sie habe »Seele in ihrem Gesang«! und so
weiter. Was sdion diese Zeitungsschreiber
davon wissen I Seele, Seele t Er konnte das
nun einmal gar nicht finden. Ja, einen schön
geschwungenen RUcicen hatte sie. Und über-
haupt — eine ganz prächtige elastische
Figur. Und Augen...! Heir Schreiner verlor
sich In diesen Augen. Sie starrten Ihn aus
den Winkeln des Zimmers an, sie wuchsen
aus diesen Winkein hervor, sie Icamen ihm
naher, sie gingen in ihn hinein... Als er
sich erraffte, stand in dem einen Winkel ein
Spucknapf, in dem andern nichts. Spuck-
näpfCy philosophierte er, stehen eigentlich
immer hinter all diesen schönen Dingen ...
Herr Schreiner besah, was auf - seinem
Schreibtisch sich angesammelt hatte seit
gestern abend... Gestern abend! — Eine
Weit lag dazwischen. Er seufzte unwiil-
1183J
Digitized by Google
I
kOrlich. Ob die Akten diesen Seufzer mit
beeinflußt haben mochten, zog er nicht
weiter in Erwägung. Jedenfalls waren sie
geeignet dazu! Herr Schreiner war ganz
unwillig geworden. Es war wirklich zu arg.
Natürlich hatte man nun gerade ihm wieder
alles das da hingelegt! Und was noch dazu!
Da war wieder so eine entsetzliche Konzes-
sionsgeschichte I Der dickste Akt sicherlich,
der seit Monaten ins EinreichungsprotokoU
gelangt war. Und — Herr Schreiner hob
ihn, der reichlich ein Kilogramm wog, näher
zum Auge empor — stand denn auch
wirklich sein Zeichen darauf? War er denn
wirklich gerade ihm wiederum zugeteilt
worden? ja. Da stand es. »S« mit Bleistift
flüchtig geschrieben. Ihm war diese Höllen-
maschine zugewiesen, ihm ganz allein. Da
galt kein Zweifel... Cin Gedanke stieg
In ihm auf^ ein teuflischer, subalterner
Gedanke. Wie, wenn er dieses Zeichen
änderte V... Ihm wurde heiß und käli bei
[184J
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dem Gedanken. Aber es war ihm wirklich un-
möglich, sich jetzt durch diesen Akt durch-
zubeißen. Und er war sicher, daß man ihn an-
treiben wttrde. Er fühlte sich unf Ahig^ irgend
etwas zu arbeiten. Mit erneuter Heftiglceit
drangt durch diese Erwägung herbeigelockt^
der Kopfschmerz aus seinem Versteck her-
vor. . . Aber die seiner arglosen Natur völlig
unangemessene Niedrigkeit dieser Überlegung
enthüllte sich auch sofort in ihrer ganzen
scheußlichen Nacktheit. Er fragte sich mit
fürchterlichem Ernst, ob er wirklich fähig
wäre, eine derartige Unerhörtheit zu begehen ?
Ganz abgesehen davon, daß es ja der reine
Wahnwitz gewesen wäre, da man unfehlbar
hätte daraui kommen müssen und das Ärgste
an maßregelnden Folgen in einem solchen
Falle zu befürchten stand, ganz abgesehen
von dieser praktischen Unmöglichkeit der
Ausführung bei einigermaßen heller Ver-
nunft, hatte er sich die Frage zu beantworten^
ob er, wenn sich dieser Betrug hätte er-
[l8öj
möglichen lassen, imstande gewesen wäre,
ihn zu verüben. . . Ihm schwindelte. Er mußte
sich an den Schreibtisch halten, obwohl er
auf seinem bequemen Stuhle saß« Er ver-
sank ins Bodenlose der menschlichen Ver-
ruchtheit. Eine solche Möglichkeit war ja
Grund genug zum Selbstmord! Wenn er
sich dieser MögUchIceit Überführte, mußte er
zum Revolver greifen. Denn wo war die
Grenze? Was für schauderhafte Abgrunde
schlummerten in seiner Seele V! Er war einer
Ohniuacht nahe... Und mit eins warf die
Erinnerung an die entsetzliche Kette wQster
Geschehnisse der letzten Tage Ihren wachsen-
den Schatten auf sein zerstörtes Gemflt. Was
war aus ihm geworden, ihm, Alexander
Schreiner, dem glücklichen Ehemann und
Vater, dem guten Sohne, braven Beamten,
behaglichen Genießer der unschuldigen
Freuden des Daseins I Ein von seiner Frau
verlassener Verbrecher, ein von seinen
Kindern entfernter WUstling, ein Lügner und
[186J
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beinahe ein BetrOgerl Dieses >beinalie« stieß
einen Dolch in sein Herz. Beinahe! Alles
Im Leben war »beinahe«... Und
sciiiießlich war die »Ausfttlining« ja Neben-
sache. Die Möglichkeit war das Furcht-
bare. An was fUr dünnen, haarfeinen Fäden
hing man über dem Verbrechen! Wo fing
denn eigentlich der Wille des Menschen an^
wenn solche Dinge möglich waren wie die
Geschehnisse dieser Tage? Es war gut^ dafi
der bewußte heitre Kollege erschien, wohl-
wollend, wie inimer die sind, die sich aiigen-
bliciüich im Vorteil fühlen, die einen Vor-
sprung haben in diesem Schnecken-Wett-
rennen: Bflrgerliches Dasein. Herr Schreiner
konnte über den Akt jammern, und da war
die ganze Geschichte wie weggeblasen. Es
war ja eine Lächerlichkeit; solche Angelegen-
heiten ernst zu nehmen^ fgu tragisch 1 Und
Herr Schreiner gewann es, wiewohl mit
einigem Schaudern, über sich, seine fürchter-
liche Idee als einen guten Witz preiszugeben.
[187J
Er versicherte dem lächelnden Kollegen, daß
er soeben nachgedacht hätte, ob er nicht
das Zuteilungszeichen S. in den Anfangs-
buchstaben P. seines, des Kollegen, Namens
habe verwandeln sollen. Er stieß dabei
den Kollegen freundschaftlich in die Seite
und schüttelte sich vor Lachen. Der Kulkge
lächelte auch, aber Herrn Schreiner schien
es, als lächelte er nur ganz äußerlich, als
faßte jener ihn schärfer ins Auge, als
sähe er in Kammern voll verbrecherischer
Möglichkeiten herein. Seiji Lachen brach
sich. £r fühlte, daß seine Augen ihn ver-
rieten, daß es in seinem Kopfe zu bohren
begann. Er war verlegen geworden und
schwieg. Auch der Kollege, der plötzlich
eine sehr ernste Miene angenommen hatte,
schwieg, und man trennte sich, Herr
Schreiner mit dem Gefühle, daß hier eine
Erklärung hätte abgegeben werden müssen,
die — so sagte er sich voll Verzweiflung
— notwendigerweise mißverstanden worden
[iböj
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wäre und deren Mangel doch eine Kluft
schuf, eine niemals mehr zu überbrückende
Kluft, wobei er, Schreiner, tief unten am
Rande des Spaltes und jener jenseits auf
ragender Höhe saß und — sitzen blieb in
alle Ewigkeit Er war fürchterlich ver-
stimmt. Und er wußte sich keinen Rat, als
auszugetien. Nach Hause wollte er nicht So
prüfte er seinen Vorrat Im Kasten. Der
Frackanzug fehlte. Er hatte ihn ja neulich
abend... neulich abend! er hielt eine
Zeit lang schaudernd vor diesem Gedanken
*— an jenem verhängnisvollen Abend, an-
gezogen. (Denn dieser war es, der erste
Theaterabend, sagte er sich, wie wenn darin
eine Entschuldigung gelegen hätte, an deren
brüchige Stütze er sich zu klammern ver-
mochte.) So ließ er denn um seinen Diener
telephonieren mit dem Aufh'äg, alles Er-
forderliche mitzubringen, und begab sich
mit Überwindung an die Arbeit. . . Der
Bediente kam. Herr Schreiner kleidete sich
[189J
mit Umständlichkeit um, tränkte seine Taschen-
tücher — er hatte deren immer zwei bis
drei bei sich — mit Kölnischem Wasser,
besah sich aufmerksam mehrmals in dem in
die innere KastentOr eingelassenen Spiegel
und verließ nachdenklich, unschlüssig, wo-
hin er sich wenden sollte, das Bureau.
Sein Weg führte ihn an dem Hotel vor-
be\, in dem die Kammersängerin wohnte. Ein
Wagen hielt auSerhalb der Reihe der dort
gewöhnlich aufgestellten Mietfuhrwerke. Ihm
fiel der Wagen ein, den der Baron Fleischer
damals ihr zu schicken versprochen hatte.
Und ihn wandelte die Lust an, sich hieher
zu stellen, in den Schatten einer Anschlag-
säule, und zu warten. Worauf, wußte er
selbst nicht. Auf ihr Erscheinen natürlich.
Denn sie mußte ja Icommen. Es war die
Theaterzeit Sie wfirde doch nicht zu Hause
bleiben, diese Vergnügungssüchtige, diese..!
Er gefiel sich darin, sie mit häßlichen Namen
zu bewerfen.... Wie er so da stand, sich
[190]
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der Passanten wegen ein möglichst unbe-
fangen-sorgloses Aussehen zu geben be-
müht, fiel sein müßiger Bück auf die An-
schlagsäule vor seiner Nase. Irgend etwas
hatte ihn angezogen, eine Gewalt, der er
sich unterwarf, ohne ihr nachzusinnen...
»Lucia Gorma« stand mit den aufdriiiglich
dicken Lettern, die er so gut kannte, auf
einem gett)en Plakate gedruckt. Die Ankün-
digung von neulich. Er buchstabierte den
seltsam melodischen Namen. Er las mecha-
niscii weiter. Das Programm. Bei dem Namen
Schubert fiel ihm der Gehilfe des Klavier-
spielers ein... Hugo Wolf? So? Hatte sie
damals Hugo Wolf gesungen? Möglich,
möglich, sagte er sich. Er hatte ja gar nicht
acht gegeben .... Preise der Plätze. , . Und
wiederum stieg sein Blick empor zu den
unheimlich breiten Lettern Ihres Namens:
Lucia Gorma. Der I-Punkt war so dick wie
die Samtballen an einem spanischen Bolcro-
hute. £r versenkte sich in diesen i-Punkt,
[iDlj
der seine Umrisse zu verlieren begann, sicfi
ausdehnte wie ein verschwimmender Tinten-
klecks, sich über das ganze Papier dehnte. . .
Er wandte sich ab. Da war es ihm, als
hatte er etwas vergessen, als sei ihm etwas
aufgefallen, das er unbedingt noch prOfen
müßte. Er Heß in einiger Erregung den Blick
wieder über die Ankündigung wandern. Und
auf einmal las er: Heute den 18. März
halb 8 Uhr abend. . . Heute, den 18. März. . .1
Um Gottes willen, das war ja heute! Und
blitzschnell zählte er nach. Es stimmte. Das
war das zweite, das letzte, das Abschieds-
konzert Und sie mußte jeden Moment
herunter kommen. Eine Sh'aßenstanduhr
zeigte auf ein Viertel nach sieben.
In dickem Augenblicke wurden die Flügel-
türen des Hotelflurs weit aufgerissen. In
einem mit Hermelin besetzten Mantel er-
schien, an den Handschuhen nestelnd, die
Kammersängerin. Herrn Schreiner stand der
Atem still. Es war, als käme sie gerade auf
[192]
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ihn zu. Die Füße wurzelten ihm im Boden.
Sein Herz schlug wie ein Hammer. Das Licht
der rediten Wagenlateme fiel voll auf ihr
jetzt olivengelbes Gesicht, die wunderbaren -
Augen hatten einen weichen, tiefen Schimmer.
Da traf ihn ihr Blick. Sie stieß einen leisen
Schrei aus und wandte sich einen Moment
lang wie nach Hilfe um. Der Hoteldiener>
der den Wagenschlag hielt, verharrte in
seiner zuwartenden, ausdruclcslosen Haltung.
Sie betrat den Wagentritt. . . Auch mit Herrn
Schreiner war eine Veränderung vorgegangen»
seit ihn dieser körperhafte Blick berOhrt.hatte.
Es trieb ihn vorwärts. Mit ein paar mäch-
tigen Sätzen stand er am Wagen, als
die Sängerin sich eben darin niederlassen
wollte. Die vor ihm befindliche Tür auf-
reißen, sich in den Wagen stürzen, die
Italienerin ergreifen, war eins. — Sofort kam
ihm auch die Besinnung wieder. Er ließ die
Arme kraftlos herabgleiten, er drängte zurück
wie vor einem Übermächtigen Feind. Aber
13
[193]
scholl hatte jene, indem sie ihn heftig vor
die Brust stielt, daB er taumelte und —
er war mit einem Beine bereits außerhalb
des Wagens — fast hintenüber gestürzt
wäre, sich mit einem Sprung aus dem
Coup^ gerettet, eben ais die Pferde sith in
Bewegung setzten. Der Ruclc erst schleu-
derte Herrn Schreiner zu Boden. Sogieich
auch hielt der Wagen wieder. Beide Türen
standen offen. Neugierige (langten heran.
Herr Schreiner erhob sich miihsam, putzte,
heftig Iclopfend, an seinem Oberrocke. Ein
Icleines Veilchenmädchen hielt den Zylinder.
Die Gorma aber rief nach einem Wach-
mann. Der Hoteldiener, ein Liftjunge, ein
Kellner waren herbeigeeilt Mit empörten
Gesten begleitete die Sängerin ihre lauten
Erklärungen. Herr Schreiner putzte weiter
an seinen Kleidern, empfing mechanisch den
Huty griff mechanisch in die Tasche, um
der Kleinen etwas Geld zu verabreichen.
Ihm war es, als sei sein Herz plötzlich er-
[194J
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firoren. Ein Wachmann kam. Herr Schreiner
stand auf demselben Fleck. Erst als er
sah; daß die Gorma mit wütenden Gebärden
auf ihn wies, der Polizist näher trat, machte
er eine halbe Wendung. Da lag auch schon
die schwere Hand auf seiner Schulter. Er
hörte eine Frage an sich richten, er sah,
wie die Hotelbediensteten sich um die Ita-
lienerin sammelten, sah die Kopf an Kopf
wachsende, wogende Menge der Zuschauer,
sah dem Wadimann in ein ehrliches bärtiges
Antlitz. Einen Moment tauchten die blassen
Bilder seiner beiden blonden Mädchen vor ihm
auf, er sah seine Frau neben sich sitzen in jenem
Konzert, die feine Profillinie schwebte wie
ein Schatten von ihm weg. . . Er nahm den
Hut ab und fuhr mit dem Ärmel an dessen
Umfang entlang. Dann tat er einen Schritt
zurück. Plötzlich wanlcten ihm die-Kniee.
Der Wachmann stützte ihn. »Es ist ein
Besoffener«, hörte er eine jugendliche Stimme
aus dem Haufen sagen. Sein taumelnder
13»
[19Ö]
Blicksuchte nicht mehr den Sprecher...
Nur der Schlag der Wagentüre fiel noch in
sein Bewußtsein. . .
Als er wieder zu sich kam, fand er sich auf
einer Öffentlichen Bank. . . Er wollte sich er-
heben. Da hielt ihn jemand fest ^ Er wußte
alles. Da war der Wachmann, drüben die
Plakatsäule. Noch immer standen, von
einigen andern Polizisten zurückgedrängt.
Neugierige scharenweise in der Nähe.
Höflich fragte ihn sein Begleiter, ob er sich
kräftig genug fühle, ihm zu folgen. Er bat >
um einen Wagen und schloß wieder die
Augen... Ein Einspänner — »Jetzt ist alles
gleich«, sagte er sich — war herangerufen
worden« Sie stiegen ein. Das Klirren der
Scheiben rief ihm die letzte Nacht ins Ge-
dächtnis. »Sterben! Sterben!« murmelte
er* • • « •
%
9
Das Verhör war kurz. Man behielt Ihn
nicht, da ihn ein Beamter agnoszierte. Es war
ein Schulkamerad; den er seit der Matura
[196] 4
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nicht mehr gesehen hatte. Er war in der
Mathematik einer der besten gewesen. Mit
einem welimütigen Lächeln drückte er ihm die
Hand. Mit gemessener Achtung^ in die sich
Zweifel mischten, öffnete ihm der Wachmann
die Tttr. Er schritt ins Freie. . .
Herr Schreiner war entschlossen, sich
zu töten. Er trat in eine Waffenhandlung,
in der er beicannt war. Er hatte seine
Gewehre dorther bezogen. % Man war im
Begriffe, den Laden zu schließen. Er bat,
ihm noch einen Revolver zu verabreichen,
da er morgen früh verreisen müsse.
Auch ließ er sich die Waffe laden und sah
gedanlcenvoll zu. »Sie schreiben das auf die
Rechnung«, sagte er und grQßte. Den
Revolver aber steckte er in die Hosentasche.
Er vernahm noch, wie die Rolläden donnernd
herabgelassen wurden...
Sein Weg führte ihn an einer hell-
erleuchteten Einfahrt vorOber. Er kannte
diese Einfahrt. Hier fand das Konzert
[197J
«
statt. Noch immer fuhren Wagen vor. Er
muftte eine Zeitlang warten, eh er weiter
schreiten Iconnte. Da stand er^ den Zylinder
in die Stirne gedrückt, müd, unsäglich
müde. Wo war sein Haus, wo war die
Weit?. . • Die Laternen ilacicerten im Winde.
Neugierige drängten ihn vorwärts. Er stand
in der Einfahrt selbst. »Voll, das Konzert?«
wandte er sich mit stumpfem Grinsen
an den Portier. >Ah natürlich, mein Herr.
Ausverkauft« Herrn Schreiner beschiich
eine lächerliche Scham, hier stehen zu
mitesen, während, mit aufgehobenen Röctcen,
Damen, den Kopf noch unwillkürlich ge-
beugt, wie sie den Wagen verlassen
hatten, an ihm vorbeieilten. . . Da grttAte ihn
jemand. Der Freund aus dem Kaffeehause*
»Auch ins Konzert?« Etwas in Herrn
Schreiner sagte: »Ja.« Der Freund schob
seinen Arm unter den seinen. »Die Geschichte
hat schon langst angefangen. • . Wo hast du
deinen Platz?« Herr Schreiner murmelte, er
[198J
*
Digitized by Google
habe soeben bemerkt, dafi er $ein Billett
vergessen fafitte. »Wie ärgerlich!« meinte
jener. »Aber wenn du schon da bist^ —
du bist ja ohne Frau? Geh wenig-
stens auf eine halbe Stunde hinein. Nimm
dir eine Eintrittskarte in den Saal.« Er
zog ihn vorwärts und wiederholte: »Wenn
du schon da bist« ... In der Garderobe
half ihm jemand aus dem Mantel. »Es wäre
ja wirklich schade, wenn du nach Hause gehen
mftfitest. Und du bist gar im Frack. Immer
nobell« Herr Schreiner lächelte ein mOdes
Lächeln. »Hast du den Abend irei?« Herr
Schreiner l^lagte über Kopfschmerzen, irgend-
eine Teufeisfratze neben ihm oder in ihm
grinste und kicherte vernehmlich. »Du solider
Ehemann, nur keine Ausrede,« wehrte der
Freund ab. >Wir drah'ii heute einmal zu-
sammen.« ...Das Ohr an die Türe gelegt
standen die Saalhüter. Ein sonderbares Ge-
räusch wie von vielen starken Flügeln über
einem Weiher ließ sich vernehmen. »Die
[199]
klaischen sich schon jetzt die Hände wund,«
sagte der Joviale. Und nun wurden sie ein-
gelassen. Herr Schreiner schritt hinter dem
andern Herrn, als gehöre er zu ihm. Als
dieser an seine Banicreihe gelangt war und
sich mit einem unehrlichen, verbindlichen
»Ich würde dir sehr gerne meinen Sitz ab-
treten « an ihn wandte, fiel ihm
erst ein, daß er überhaupt Icein Billett ge-
löst hatte. Der Saaldiener sah ihn fragend an.
»Ich habe meine Karte vergessen,« sagte Herr
Schreiner. »Besorgen Sie mir einen Stehplatz.«
Und er drückte dem Diener ein größeres Geld-
stück in die Hand. Dieser hatte den Herrn im
Frack längst eingeschätzt und lächelte ver-
ständnisinnig. Herr Schreiner stand im Ge-
dränge, das, nachdem ihn der Bedienstete ver-
lassen hatte, sich enger um ihn zusammen-
schiofi. Er sah eine große Anzahl von mehr oder
minder gepflegten Hinterköpfen. Auch stieg ihm
der Geruch dieser vielen, nicht allzu reinlichen
Menschen peinigend in die Nase...
[20oJ
Digitized by Googl
Eine Bewegung ging durch die Ver-
sammlung. Man klatschte stürmisch. Lucia
Gorma stand auf dem Podium und ver-
neigte sich, lächelndi immer wieder. Sie
trug eine fliederblaue Toilette mit reicher
Goldstickerei. Herr Schreiner verbarg sich
instinktiv hinter dem Rücken eines lang
aufgeschossenen studentisch aussehenden
jungen Menschen mit wOster Mähne. Die
Kammersängerin wendete sich mit einem
leisen Zeichen an den Begleiter. Sie hatte
die Hände vor dem übermäßig eingeschnür-
ten Leib ineinander gelegt und neigte sich,
als sie zu singen begamii indem sie den
Mund rundete und die Augen bis hoch unter
die Lider steigen lieB^ mit den vorquellenden
Brüsten gegen das Publikum. Sie bewegte den
Oberkörper wiegend hin und her und preßte
dabei ihre Arme dicht an den Rumpf. Herr
Schreiner sah sich selbst auf dem Podium,
er sah seine Frau Im jetbesetzten schwarzen
Setdenkleid, er maß die Entfernung des
1201]
Standplatzes der Sängerin von dem Sitze,
den er damals eingenommen hatte. Dabei
hatte er sich etwas vor- und seitwärts ge-
drängt. Ein dicker Herr trat atemholend einen
Schritt zurüclc. Herr Schreiner stand in
einer Lücke. . . .In diesem Augenblicke war es
ihm, als hätte ihn Lucia Gorma bemerict
Er zitterte vor Aufregung am ganzen Leibe,
Der Angstschweiß trat ihm hi großen Tropfen
auf die Stirne. Nein. Noch nicht. Aber
jetzt. . . Und eine Art Fieber schüttelte ihn
soy daß sein Nachbar itu befremdet ansah. «
Er versuchte zu fächeln. . .
Plötzlich brach die Sängerin jäh bn Gesang
ab. ihre Augen schienen etwas Entsetzliches
wahrzunehmen. Herr Schreiner, der sich
gewissermaßen an seinem Revolver in
der Tasche hieit^ sagte folgenden Satz
halblaut, wie ein Irrer, vor sich hin: |
»Jetzt ist alles aus. Sie wird schreien.
Sie wird auf mich zeigen. Sie wird auf
mich zeigen. . .1«
1209J
Digitized by Google
Des Publikums bemächtigte sich eine große
Unruhe. Die Kammersängerin lehnte an dem
schwarzen Flügel. Der Klavierspieler stand
mit verlegener Miene neben ihr. Die Personen,
die auf dem Podium ihre Plätze hatten,
rUclcten mit den StQhien. Ein Herr mit einer
Glatze und Pockennarben erhob sich und
bot der Italienerin seinen Sitz an. Sie dankte
mit einem ihrer automatischen schmeicheln-
den halben Blicke . . . Herr Schreiner trat
jemand auf den Fuft und kehrte sich be-
flissen um. Der Jemand sah ihn grimmig an
und grinste dann. Die Bewegung Herrn
Schreiners schien sich Lucia Gorma mit-
zuteilen. Sie wandte sich mit einer rühren-
den Gebflrde an den pockennarbigen Herrn
und fahrte ihr Taschentuch mehreremale an
den Mund, und. . . — in Herrn Schreiner stand
alles Leben still — der pockennarbige Herr
lenkte suchend seine kurzsichtigen Augen
nach seiner Richtung. Nun hob die Gorma
leicht den zu einem Viertel etwa entblOfiten
[203j
vollen Arm. Der Herr streckte seinen Kopf
vor, wie eine Schildkröte den ihren aus dem
Gehfluse streckt. Ein zweiter Herr, unter-
setzt und mit einem rötlichen Vollbarte, hatte
sicli halb fragend von seinem Platz erhoben.
»Jetzig jetzt,« murmelte Herr Schreiner
zwischen den Zähnen. Der Herr mit dem
rötlichen Vollbarte war noch nicht ganz ein-
geweiht, worum es sich handle. Da trat
Lucia Gorma einen Schritt der Rampe näher.
Eine Ewigkeit schwang sich mit dem Surren
einer Mficke aber Herrn Schreiner hin. Seine
Augen hielten die Sängerin mit dem Ausdruck
eines Ertrinkenden Und im Moment,
als alle drei Küpfe sich wie auf Stielen nach
ihm hin drehten und ganz genau sich auf ihn
einstellten; hatte er^ wie zur Abwehr, den Re-
volver herausgerissen, hoch gehoben und los-
gedrückt. . . Mit einem gellenden Schrei brach
die Italienerin zusammen. Jetzt erst hörte Herr
Schreiner den Schuß und zugleich das Pol-
tern vieler hundert StDhle. Rechts und links
[804]
Digitized by Googl
fühlte er sich ergriffen. Mit einer über-
menschlichen Kraft faßte er nach der linken
Brusttasche, in der sein Portefeuille steckte,
das die Bilder seiner Frau und seiner Kinder
enthielt. Die Finger auf diese Stelle, die
sich hart anfühlte, gepreßt, schweigend, ließ
er sich von vielen Fäusten vorwärts stoßen,
dem Ausgange zu...
[205i
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Ein Capriccio
An Wilhelm von Scholz
Digitized by Google
»Sie haben den Cölestin Merkel gekannt,
Baronin, der neulidi gestorben ist?«
»Ja, flQciitig. Eigentlich gar nicht. . . Sie
waren ja gut mit ihm?«
»Out! Wenn Sie wollen... Obgleich ich
eigentlich mit niemand oder — mit jeder-
mann gut bin...€
»Also ist das kein Unterscheidungsmerk-
mal?«
»Eigentlich nicht.«
»Aber was wollen Sie von Herrn Cölestin
AAerkel erzählen? Denn Sie wollten doch
etwas erzählen ?€
»Erzählen V Ich wollte nichts Bestimmtes
erzählen, Baronin.«
»Also erzählen Sie Unbestimmtes!«
»Befehlen Sie wirklich?«
»Aber natOrlidi. Ich bitte Sie, es ist ja
so unsäglich langweilig heute... Pst! Man
14*
[211J
darf das die gute nicht merlcen lassen.
Sie nimmt solche Aufrichtigkeiten leicht itbel.«
»Hat die Gräfin unrecht, wenn sie
sie Obel nimmt?«
»Nein. Bei Gott nicht I Ich würde mich
auch dafür bedanken als Hausfrau.. •€
»Was Ihnen^ gnädigste Baronin. . . «
» . . . nichl passieren kann, wollen Sie sagen,
Herr v. Radomanskil Ersparen Sie sich derlei
Konventionalitätenl Ich gähne so schon oft
genug.«
»Sie sind heute ungnädig, Baronini« -
»Finden Sie? Ich weiß nur, daß ich es
werden müßte, wenn ich gezwungen würde,
noch lange mit Ihnen so zwecklos Konver-
sation zu machen... Aber laufen Sie mir
nur ja nicht weg I . . . Verstehen Sie mich doch !
Ich will hören, aber nicht reden. Sie sprechen
mit zu vielen Fragezeichen.«
»Ich werde Ihnen also, Baronin, von
Colestin Merkel erzählen.«
»Aber natürlich 1 Auch von seiner Schwester
[212]
Digitized by Google
und seiner Tante, wenn Sie wollen. Nur
fragen Sie mich niclit um meine Meinung
oder ob ich das und jenes vielleicht schon
wußte! Erzählen Sie gut, spannend, lebendig,
aber nicht emotionierendl«
Ach werde mich bemühen, Ihren Anforde-
rungen gerecht zu werden, Baronin I«
»Gutl Bemühen Sie sich, Herr v. Rado-
manslcil«
Baronin Micki lehnte den in der Mitte ge-
scheitelten feinen Kameenkopf mit einer unsäg-
lich müden^ graziösen Bewegung in den tiefen
grOnen Lederlehnstuhl zurttck und streckte
Ihre schmalen, in weißen, mit Spitzenentre-
deux reich besetzten Strümpfen und weißen
Atlashalbschuhen wie Konfekt verwahrten
Füßchen gegen einen großen bauschigen
dreifarbigen Fußpolster aus. Herr v. Rado-
manski rttckte den Polster zurecht. Ein leises
Heben und Senken des zarten Kinns war die
dankende Antwort.
>COiestin Merkel ist an gebrochenem
[218J
4
Herzen gesloriieii.. . Lficheln Sie nicht»
Baronin! Kann ein dicker Mensch nicht an
gebrochenem Herzen sterben? Natürlich war
auch ein akutes Leiden da. Aber das ist
Nebensache. Tatsächlich ist er doch an ge-
brochenem Herzen gestorben... Wanioi?
Ja, das ist eben die Geschichte. . . Sie haben
ihn gelcannt In seiner Glanzzeit freilich,
damals, als er noch der Schöne hieß:
»Philipp der Schöne.« Er schrieb sich in
diesen Tagen Cölestin Philipp Merlcel. Im
»Institut« war das freilich dann sein Spitz-
name Sie wissen, daß er auch ein
Verhältnis mit der Gräfin Mitzi Kiuinerstatt
hatte. . .Belieben Sie sich zu erinnern, Baro-
nin. . .Seine Glanzzeit also. Er war reich, er
war schön, er hatte ein stadtbekanntes Ver-
hältnis mit einer Gräfin. Und diese Gräfin
war ehie große Dame. . . Sie lächeln? Netn,
nebi, Baronin, sie war eine große Dame.
Daran konnte auch unser armer Cölestin
nichts ändern. Obwohl er sie eigentlich
[2UJ
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niemals — kompromittierte. Eine große
Dame darf kein Verhättnis haben, das sie
absolut nicht kompromittiert. Das ist zu
harmlosy also fast geschmacktos. Nicht wahr,
Baronin. . . V*
»Lieber I4err v. Radomanski! ich iiatie
Sie doch gebeten, nicht Fragen an mich zu
richies...«
»Habe ich Sie etwas gefragt, Baronta...?
Ach, pardon, ich soll ja nicht — fragen!. . .
Also weiter! Cölestin war, wie gesagt, der
Liebhaber der schönen <jräfiin Mitzi...«
»Nim, wissen Sie, schOn....?«
»Sie belieben Ihr Prinzip zu brechen,
gnädigste Baronini«
»Wieso?«
»Sie bemerkten soeben...«
»Darf ich nichts bemerken?«
»O, bitte, soviel Sie wollen I Aber ich
habe geglaubt. . . *
»Das war ein Aberglaube... Nur fragen
sollen Sie mich nicht. Das ist so ISstig.«
[216J
»Sie wünschen also, Baronin
»ich wünsche nichts, ich habe nur gesagt:
Schön...?«
»Also nicht einmal das wollen Sie der
armen Gräfin zugestehen?... Ich für meine
Person versage mir jedwedes eigene Urteil.
Aber für Cölestin darf sie doch schön ge-
wesen sein?... Nicht?... Und ich glaube,
daß auch andre. ..<
» Geschmacicssache. «
»Gewiß. Aber Sie müssen zugeben, daß. . .
Übrigens verlange ich gar nichts. Gräfin Mitzi
zählt nicht mehr. Sie hat sich selbst über-
lebt. Sie ist nicht einmal eine große Dame
mehr. Fassons la dessus. . .Cölestin warder
Sohn eines Triester Großkaufmannes. Er
hatte in seiner Jugend alles. Nur Iceinen
Namen. Das war der Schmerz seines Lebens. . .
Begreifen Sie das, Baronin?. . .Nicht wahr?
Man ist jung, man hat ücld, man hat ein
distinguiertes Air, man liat Verbindungen,
andrerseits Iceinerlei lästige Verwandte, aber
[216J
keinen Namen I Ist das nicht traurig?...
Cölestin dachte ernstlich daran, sich adop-
tieren zu lassen. Es gelang ihm nicht Es
ist das nicht so einfach... So tröstete er
sich denn mit seinem Viererzug, seiner Loge
in der Oper, seinem Kammerdiener — er
besaß einen, den der Prinz von Leans wegen
Diebstahls entlassen hatte; unterschätzen
Sie dieses Moment nicht! — , tröstete sich
mit seiner Gräfin. . .Eines Tages lernt Coleätin
eine kleine Putzmacherin kennen. Sie ge-
fallt ihm. Er lädt sie ein. Sie soupieren
zusammen. Sie gefällt ihm noch besser.
Und — «
»Machen Sie nicht so unanständige Pausen !«
»Sie mi^verkennen diese Pause, Baronini
Sie war sehr anständig. Cölestin hat die
kleine Putzmacherin — geheiratet.«
»Ach, das hab" ich ja gar nicht gewußt!«
»Wenige haben das gewußt. Erlauben
Sie...?«
»Bittet« Er schob den Polster diesen
[217]
*
PorzellanfUßchen bequemer, im spiegelblanken
Saale neben ihrer UchtgecUmpften Ecke
wogte ein "Walzer. Wei6e Seide^ weifte
Seide. Sie sahen miwiUkttrlich beide hin-
über. . . Ein Diener k^m mit Eis. . .
»Sie werden fragen: Warum hat Cölestin
diese Person geheiratet V Ja. Das ist das
Leben... Sie mflssen nflmlich wissen^ Baro-
nin, daß die Pause — eine übrigens aus-
gefüllte Pause — sehr lange währte. Fünf
Jahre fast. . . Wie sie ihn gewann V. . .Ja — ,
wie gewinnen die Frauen die Manner V Eine
Preisfrage. Sie war nicht hübsch. Sie war
nicht eben wohlerzogen. Sie war eine
junge Putzmacherin. Aber sie war eine
kluge Putzmacherin. Sie hatte den Ehrgeiz,
Frau Merkel zu werden. • .Und Cölestin war
in den fünf Jahren, da sie üui an ihrem
Zauberfädchen hielt, älter geworden, älter,
dick, — ja, dick ; er hatte immer zum Embon-
point geneigt aber nun war seine Neigung
erwidert vollüihalfüch ertiOrt worden, — Und
[ai8]
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Cölestin war nicht mehr reich. Er hatte
enorme Schulden kontrahiert. Sein Vater, der
Großkaufniann, war gestorben. Er scheint
auch ein wenig zu gut gelebt zu haben, der
Oroßlcaufniann. Kurz, COleslin war auf eine
mediokre Rente gesetzt. Er tiatte keine Loge
mehr, keinen Viererzug und keine Gräfin...
Les iiaisons... Sie wissen, Baronin...! £in
diclcer Cölestin ohne Viererzug, ohne Loge,
ohne Geld, ohne Grafin... Und die Putz-
macherin besaß den Ehrgeiz^ Frau Merkel
zu werden . . .
...Sie erraten, Baronin, was einem ele-
ganten Offizier abrig bleibt, der eine kleine
Putzmadierin geheiratet hat. Er geht. Cölestin ^
ging. Er wurde ... Ja, was wurde er denn ?
Zunächst eigentlich nur Oberleutnant in der
Reserve. S|>ater Agent. Ich weift nicht mehr,
In welcher Branche. Sie Iflchebi, Baronin?
...Wie grausam I... Sie lädieln, wenn Sie
sicii Piiilipp den Schönen als Agenten vor-
stellen. . .Was sind wir, Baronin V Sic transit
|219J
. . . oder zu deutsch : Es kann jeder auf den
Hund kommen. Das heißt, es gibt Menschen,
die gewissermaßen das Zeug dazu besitzen . . .
Und doch. Bedenken Sie, Baronin, die Sie
also grausam lächeln ! Cölestin Philipp Merkel
und seine Aspirationen! Cölestin und sein
Qiaube an sich selbst! COlestin und seine
stolzeMutter ! . Hier wird dieSache tragisch. . .
Ich habe seine Mutter nicht gekannt. Aber
ich war auf dem besten Fuße mit ihm, als
sie starb. Sie starb fern von ihm im Süden.
Er erhielt sogar das Schreiben verspfitet, das
ihn an ihr Krankenlager berief. . . Er war
nicht mehr der glänzende Cülestin damals,
wenn auch noch immer ein Mann der großen
Weit. . • Sein Schmerz war aufrichtig. Und
damals erzählte er mb- auch, wie seine
Mutter an ihm gehangen hatte, wie sie einst
stolz auf ihn gewesen war, was sie für Hoff-
nungen in ihn gesetzt hatte. Er war ja hübsch
gewesen, talentiert, reich, er hatte Verbindun-
gen besessen. . »Damals habe ich COlestin fast
[230]
liebgewonnen. Wir sind so schwach, Baronin 1
Wir verwechseln das egoistische Mitleid, das
entsetzt eigene Schicksale kombiniert^ mit
der Zuneigung... Ich kann es ja sagen-
ich habe mich über den schönen Philipp oft
und oft lustig gemacht Ich war einer der
Ärgsten, wenn es gal^ Anekdoten aufzu-
bringen, die von seiner Aristokratenjägerei
handelten, seinem Grafensport, seinen berühm-
ten »Freundschaften«. Ich habe das böse
Wort geprägt: »Wenn Cölestin jemand
von uns »aus Versehen« gegri^t hat, hat
er bereits einen Rechtstitel erworben.«
...Aber ich gestehe, damals, als der dicke
Cölestin vor mir saß, in seiner nicht sehr
soignierten Bluse, unrasiert, fahl, vor seinem
Schreibtisch, wo neben seiner Gräfin seine
Mutter stand, ...damals hab' ich ihm sehr
gerührt die Hand gedrückt und mich
sogar ein wenig geschämt. . . Was bei mir
etwas heißt, Baronhi, nicht wahr?...
Also, wo blieb ich denn ? Ja, beim Agenten. . .
f22lj
Cölestin hatte sich zurückgezogen. Erhesaft
den Takt — eigentlich besaft er immer Takt
— » uns nicht mehr aufzusuchen, seit er —
Ehemann und Agent geworden war. . .Als er
noch Reserveoffizier war, nur Reserveoffizier,
besuchte er den einen oder den andern von
uns. . • Später nicht mehr. Er schehit nicht
mehr allzu herzlich akzeptiert worden zu sein,
seit er — sagen wir: keinen Kammerdiener
mehr i>esa6. Ich glaube, als er sich von diesem
trennen mußte, hat er Tränen vergossen.
Vielleicht hat er um den alten Pius — er
hieß nämlich Pius, der Strolch, und bestahl
ihn, daß es eine Passion war — , vielleicht
bat er um den alten Lumpen mehr Tränen
vergossen als um seinen Viererzug..., jeden-
falls mehr als um Gräfin IMitzi, die ihn schon
längst, ehe sie offiziell miteinander gebrochen
hatten, ganz sans g^ne betrog. . .Bitter mag
es fttr COlestin gewesen sein, daß sein Nach-
folger bei Gräfin Mitzi auch Phis »erbte« —
ich darf mich doch so ausdrücken? Der alte -
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Spitzbube wird nicht ermangelt habeni seinen
dicken Herrn vor dem entmenschten Paare
ztt ▼eranglimpfen. So sind diese Kanaillen . . .
Ja, was soll ich Ihnen noch erzählen, Baronin V
... Ob er Kinder hatte, Cölestin ? Nein, das
blieb ihm ers|>art Aber eins hatte ihm das
Schicksal noch aufbewahrt Auch die Putz-
macherin betrog ihn. Ob er's je erfahren
hat, weiß ich nicht. Aber einer von uns
brachte die Neuiglceit in den Klub, und es
wurde viel gelacht. Ja^ ja, gelacht, Baronini
Obwohl Ich meiner Ehre schuldig bin, Ihnen
zu beteuern, daß ich damals nur — ge-
lächelt habe.«
»Und wieso ist denn eigentlich dieser
drollige Kauz an gebrochenem Herzen ge-
storben ?«
»Baronin, Sie sind entsetzlich I Wieso?!
Ja, genügt Ihnen das alles nicht?«
»An gebrochenem Herzen zu sterben...?«
»Ja, wenn Sie dieser Auffassung nach
[328]
dem Erzählten noch nicht geneigt erscheinen,
Baronin, dann muß ich freilich bekennen, daß
er einer — Gedarmverscblingung zum Opfer
fiel.«
»Pfui!«
4
[88*1
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I
LILl
Eine Antagagescbicbte
15
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An Hermann Hesse
t5»
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Dann war der Abschied gekommen. Pflr alle
diese Liaisons in den Badeorten kommt
ja einmal der Tag des Abschieds. Er war
tieimgereist Da war er nun wieder zu Hause.
* . .Anfangs war er wie versciiQttet £r ging
umlier, legte die Dinge vor sicti tiin^ sah sie
an, geistesabwesend, fremd, sprach mit den
Menschen, denen er begegnete, über AlUäg-
lichiceiten mit einer fernen^ Idanglosen Stimme.
Stundenlang saß er Uber einem Buche, dessen
Seiten er nicht umblSiterte. Er hatte sein
Jus wieder vorgenommen und wollte durch
intensives Lernen alle andern Gedanken ver-
scheuchen. Aber ihm war, als ginge irgend-
wo etwas vor, das er unrettbar versftumte,
und gequält Vang er mit der Unaufmerk-
samkeit, den ängstlichen Gedanken. Cr
[229]
1
war in der letzten Zeit, der des höchsten
Paroxysmus seiner Liebe zu Alice, roh und
brutal gewesen^ jetzt wurde er immer stiller,
fast einsilbig, scheu. Alles ekelte ihn an,
die gewohnten Gesichter, die er vergessen
hatte, die regelmWgen Tagcsgeschehnisse:
das Leben war ihm eine Last. Er war zu
gar nichts fähig. Manchmal schrieb er Briefe,
manchmal Verse. Und mit fieberhafter Un-
gedttid harrte er auf Nachricht — von ihr.
Er erhielt sich in eüiem zitternden Erwarten
des Wiedersehens, an das er doch wieder
nicht glaubte, weinte oft, wenn er ganz
allein war. . .
Einmal fuhr er, wie er des Ottern tat, auf
seinem Rad ins Freie. Es war ein kflhler
Augustabend. Tagsüber hatte es mehr-
mals geregnet. Er glitt über den Kiesweg
unter tropfenschweren iCastanienbäumen, an
tiraunen Feldern vorilber. Sein gleichglltiges
Fahrtziel war diesmal »die Abtei«. Sie lag ^
eine Stunde vor der Stadt, hinter dem Villen-
[230]
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viertet. Knapp vor der großen Brflcke Uber
den trägen gelben Fluli, unterhalb der Wein-
berge sprang er ab und richtete etwas an
den Pedalen. Da ging ein Mädchen an
ihm vorbei. Er sah auf. Plötzlich fiel ihm ei»,
daß er hatte großen sollen. Aber sie war
schon weiter gegangen. Er blickte ihr nach.
Sie hatte ein moosbraunes dünnes Cape
um die Schultern und ein dunkles glattes
Kleid an. In den Händen hielt sie nichts. Die
Gestalt erschien frei, selbstbewußt getragen.
Sie hatte sich nicht umgesehen.
Zwei Tage darauf fuhr er wieder zur Abtei.
Er hatte die Erscheinung längst vergessen.
In der Nähe der Brücke fiel ihm das Mädchen
ein. Er erinnerte sich, daß hinter der BrUcke,
vor dem kleinen Tannenwalde, die einfache
Villa ihrer Eltern läge luid daß er als
Kind mit seiner Cousine unter den hoben
Pappeln des Vorgartens mit Lili gespielt
hätte. Sie war die einzige Tochter zurück-
gezogener Leute, unter drei Geschwistern
[231]
das älteste, eine kleine fflrsorgliche Haus-
mutter. Er entsann sich ihres widerspen-
stigen, mürrischen, oft rauhen Wesens, ihrer
dcbnippischen Kinderworte> ihrer hochrntttig-
ttnartigen Gebflrden. Er stieg vom Rad^ und
indem er es sorgh'ch Ober die den Weg
-Säumenden Steine hob und an der Lenk-
stange mit der Rechten weiter führte, schaute
er Ober die Latten in den dunkeln Garten
hinein. Er hegte die unbestimmte Hoffnung,
das Mädchen wieder zu erblicken. Und jen-
seits der Wiese, unter dem hohen kleinen
Eisenbaikone der einstöckigen Villa, sah er
wirklich ein weißes Kleid. Sie war es. Sie
hielt ein Buch und eine Rakettasche und
bückte sich von Zeit zu Zeit freundlich zu
einem kleinen Kinde, das einen großen zot-
tigen Hund hinter sich her zog. Er blieb
stehen und wartete, bis sie vorOber käme.
Sie kam mit Ihren sichern leichten Schritten,
in einem weißen Blusenkleide, ohne Hut,
das blonde, feine Haar in spärlichen Kräu-
[232]
sein um die freie, reine Stirn. Wie sie sich
mit einer heitern, nicht allzu hohen Stimme
in sanfter Güte zu dem blassen freund-
lichen Kinde niederbogt bewunderte er die
wohlgefälligen Wendungen ihres geschmei-
digen, ungemein zarten Körpers und die
ruhigen halb geschlossenen Lider mit den
laitgen Wimpern. Sie ging ganz nah am
Lattenwerk und an ihm vorüber, und da
er sie unverwandt anstarrte, mochte wohl
sein Bliclc ihre Augen getroffen haben:
sie sah zu ihm her, mit jenem hoch-
mütig abweisenden Ausdrucke, den er an
ihr, wenn sie Icaum danlcend an ihm vorbei
schritt, schon vor Jahren bemerkt hatte. Er
wurde verlegen und griff nach der Kappe.
Sie wandte sich ab, als ob sie ihn nicht be-
merkt hätte, beschleunigte aber ihren Schritt
und bog um das Haus.
Unmutig bestieg er sein Rad und fuhr
heim, als ob sein Ausflug nur ihr gegolten
hätte. Als er wieder neben den Feldern
[238]
I
glitt, fiel ihm Alice ein, und nacli Hanse
gekelirt, sclirleb er ihr einen vierzehn Seiten
langen sehnsüchtig - klagenden Brief nach
Ungarn, wo er sie seit kurzem bei einer
Schwägerin wußte. Das war an einem Frei-
tag gewesen.
Sonntag vormittag, als er im Garten mit
Lina, der Cousine, saß, nachdenklich über
einem Paragraphen desPrivatrechtes, zwischen
den zahnen in einem goldbeklebten Papier-
spitz eine Zigarre, sagte das Mfldchen,
plötzlich von seiner Stickerei aufblickend,
beide Hände auf den Knien:
»Harry, möchtest du nicht einmal mit mir
zu Arendts hinaus? Die Liii kennst du ja
noch aus der Kinderzeit. Wir hatten dort
eine hflbsche Tennispartie. Wolf, der älteste
von den Buben, soll gut spielen. Die Lili
hat mich öfters aufgefordert^ ich liabe nie
daran gedacht«
Und so kamen sie Montag, einhalb fOnf
Uhr, an einem trüben Septembernachmittage,
[234J
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sie im Wagen, er auf dem Rade, bei Arendts
an. Die Mama saß im geräumigen Garten-
zimmer, die Tür zum Balkon stand offen.
Ein Dienstmädchen in saubrer Schürze
deckte einen großen Famiilentisch. Die
Mutter empfing ihn herzlich. Sie rief nach
Lili. Der kleine Otto sprang herein, wurde
auf den Schoß genommen, zappelte aber
baid ungeduldig und idetterte hinabi da
er die Tennisldnder zu holen beauftragt
war. Lili kam. Sie erschien Im Zimmer
größer. Sie gab ihm ruhig die Hand. Ihre
Augen waren blau. Die langen, feinen
Wimpern und die bogenförmigen Brauen
unter der Intelligenten gewölbten Stime, der
kleine^ nicht zu rote Mund, die schmalen
blassen Wangen, die gebrechliche Gestalt,
alles war wie an einem schönen Kinde;
aber man hatte das GetOhl^ ein erwachsenes
MAdchen vor sich zu haben, mit dem man
nicht mehr tändeln konnte.
Als sie zusammen zum Tennisplatze
[23&J
gingen, der unter schattigen Buchen unweit
eines glatten Teiches in zierlicher Sauber-
Iceit lag, betrachtete er die still neben ihm
Schreitende, indem er gleichgültige Worte
an sie richtete, aufmericsam. Sie war von
Mitte]gi:Oße und überaus schlanlc. Ihre langen,
schmalen Kinderarme hingen nicht ungefüg
aus den Schultern heraus, sie waren leicht
und folgten gefällig ihren Schritten. Sie hatte
nichts von dem unnatürlichen Gang ihres
Alters. Man merkte, daß sie über ihre Be-
wegungen nicht nachdachte. Die Lider senkte
sie meist über die wunderbar blauen trau-
rigen Augen, aber wenn sie sie rasch und
ohne Scheu empor hob, verbreitete sich über
ihr liebliches (deines Gesicht ein warmer
Glanz. Sie hatte noch immer die ab-
gebrochene, unwillige Art, zu antworten,
sie war nicht freundüch, er empfand sich
ihr gegenüber als einen Eindringling. Frei-
lich hörte er aus ihren selbstbewußten, etwas
eiteln Reden, wieviel sie sich in der »Welt«
[23öJ
umgetan zu haben meinte, wie sehr sie
sich seinen Jahren an Erfahrung überlegen
glaubte.
Sie spielten zweimal in der Woche. Er
kam regelmäßig. Er hatte sich an das ange-
nehme, ruhige Haus gewöhnt.
Manchmal unternahmen sie einen großem
Spaziergang, zu vieren, Lina mit Wolf, einem
der Brttder, voran, er mit Lili hinterdrein. Er
sagte ihr viel von seinen Ansichten, drängte
Ihr oft, unwillig über ihre Kälte, seine reifere
Meinung auf. Allmählich ward sie ihm eine
willige Zuhörerin, selten mit stillen Worten
ihn unterbrechend, scheinbar geneigt, sich
erzählen zu lassen. Er merkte, wie sie ihm
bald unentbehrlich ward. Er hätte sie gern
an der Hand genommen und wäre mit ihr
durch das Feld geschritten, schweigend, nur
von dieser sanften Berührung begltickt.
Seine Briefe an Alice nahmen darum nicht
ab. Er lebte ein Doppelleben, halb in der
Ferne, mit seinen Erinnerungen und WOnschen,
1237)
halb in einer traumhaften kindlich-schönen
Gegenwart. Auch an seinen Freunden, die
wieder mit ihm verkehrten^ fand er aUmUhUg
Gefallen. Er begann zu arbeiten, las die
Werke der Dichter mit reiner Freude
und dachte oft sorgfältig und mit einer ihm
sonst ungewöhnlichen Gelassenheit Uber sich
und seine Ziele nach.
Dabei kam er allmählig in eine zartlich-
keusche Liebe, die er in schflchternen
Worten Lili entgegentrug. Sie nahm alles
an, ihm gegenüber immer mehr von
ihrem wideisprucfasfreudigen Wesen lassend,
gleichsam veredelt durch seine ritterlich-
andächtige und doch herablassend-spielende
Neigung. Er wußte selbst nicht, wie ihm zumute
war. Er hatte ihr mehr gesagt, als man
Mädchen zu sagen pflegt, mit denen man
einen tflndelnden Flirt anhebt; aber er glaubte
selbst nicht recht an * diese Dummheiten«,
mehr als je klammerte er sich an die Ferne,
mehr als je warf er sich mit leidenschait-
[238]
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liehen Worten Alice hin, die seine stand-
hafte Liebe mit zärtiich-tröstenden Briefen
nährte.
Einmal fand er einen Gedanlcen in seiner
Seele, der unter seiner Betrachtung schnell
und stark heranwuchs, den Gedanken einer
Heirat. Wie schön mochte es sein, sich mit
diesem reizenden Madchen zu 'verloben!
Er gefiel sich in der Situation, ging dem
Gedanken eifriger nach, ja er säumte nicht,
ihn Lili sorgfältig zu unterbreiten. Sie hatte
für alles ein gütiges Lächeln und zarte, an-
heimelnde Antworten. Und er nahm ernst,
was wie ein Spiel gekommen war. Er Über-
legte und fand, daß es sein Glück werden
könnte. Und da er mit solchen Plänen
nicht allein bleiben konnte, vertraute er sie
seiner Mutter. Sie hatte anfangs daffir nur
ein Lachein, das gutmütig duldende Lachein
einer Mutter; als sie aber in seiner Hart-
näckigkeit eine tiefer wurzelnde Absicht
merkte^ fand sie gUtig abweisende, ja un-
[239]
gläubige Worte. Das stachelte und kränkte
ihn. Er sprach sich in eine Heftigkeit
hinein^ die dem Ganzen fern gelegen hatte.
Und er suchte bei LUi StQtzen seiner
Wünsche. Die Briefe än Alice wurden sel-
tener. Endlich, in einem jähen Entschlüsse,
ließ er packen und fuhr nach Wien, wo er
ja der Studien halber schon längst hätte
sein sollen.
II-
Das war doch nicht das Leben, wie er es
liebte. Die Mietwohnung mit ihrem ver-
blafiten, geschmacklosen Mobiliar, dem er
nur notdurftig durch ein paar dicke Tcppiche
und zahlreiche Photographien nachhalf; die
tägliche Besorgung der kleinen, nur allzu
notwendigen Forderungen der Häuslichkeit;
der Verkehr mit Leuten, die ihm nichts zu
geben hatten als verwischte oder mühsam
verrenkte Typen niedriger Menschenformen;
[240]
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das Uiibchagliche eines nicht nach dem
Zeiger geregelten Stundenplanes; die Unbe-
quemlichkeiten der Entfernungen^ das geringe
Auskommen, das ihm zugewiesen und das
so wenig mit seinen WOnschen in Einklang
zu bringen war: alle diese Umstände ließen
ihm ein eigenes Heim doppelt erstrebens-
wert erscheinen, und er ft-agte sich, ob ihm
die Theater und die Museen^ das gerdusch-
vollere Leben, dem er zuweilen ja recht gerne
nachging, die Sorglosigkeit, die warmen
Einzelheiten einer unbekümmert nur den
Studien lebenden häuslichen Existenz auf-
wiegen konnten. Wie er seine Haar- und
Barttracht, unbefriedigt nach einem aus-
dr ucksvollen Stile fahndend, in kurzen Zeit-
abschnitten änderte und sich selbst lächelnd
dieser kindischen Unbeständigkeit wegen be-
mitleidete, verspottete, um kopfechOttelnden
Bekannten den Tadel aus dem Munde zu
nehmen, so trieb ihn seine Neuerungssucht
auch in den Vorgängen, in die er sich
16
[241]
brachte, von Station zu Station, und seine
Ungeduld, die Verzweiflung über sich selbst
und seine ungesicherte Lage, die trüben
Zukunttsaussichten verwirrten ihn sogar in
den Stunden reinen SichfQhlens, bei der an-
gestrengten, freilich nur nach Tagen zählen-
den, stoclcenden Arbeit. Er war nicht mehr
der Knabe, der die Literatur in allem suchte^
sich selt>st in icOnstiiche Verhältnisse setzte
und Gelesenes in die Erscheinungen trug,
er sah mit geöffneten Augen um sich und
geriet über die rücksichtslose Öde der Be-
ziehungen und die Unericiariichiceit der
Geschehnisse in ein Fieber, wie es einen
fröstelnden Schwimmer mitten im See packt
und ans Land jagt. Aber wie der Schaudernde,
mit heftigen Ruderbewegungen gegen die
Macht der aufgeregten Wellen ankämpfend^
in seiner frierenden Mutlosigkeit nur langsam
sich dem Ufer nähert, so bebte seine hin
und her geworfene Seele nach dem Gestade
der Heimat in Entfernung schätzender und
[242]
I
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überschätzender Angst. — Seine Feierstunden
waren die Genüsse an den Dichtern und
Philosophen. Da kam er aus seiner Enge in
die weiten Rflume; in denen er Atem holen
und seine Flügel ruhig und dankbar aus
gebreitet halten konnte, wie ein Adler, der
im Fluge rastet Qber den Wolken, einsam
in der reinen Sonnennflhe.
An Lili dachte er mit stiller Liebe, ohne
eigentliche Inbrunst. Er gab sich keine
Rechenschaft über ihre Beziehungen. Er
schrieb aus Stimmungen heraus und erhielt
die Antworten in andre Stimmungen hinein.
Das nahm dem Verkehr viel von der
Wahrheit der Rede und Gegenrede. Denn
er konnte sich nicht in einem Ton erhalten.
Und er künstelte immer an der jeweiligen
Phase* Sie freilich blieb sich gleich. Kindlich-
scherzhaft, nie kOnstlich anders, als es um
sie stand, aber immer launenhaft, zupfte sie
an seinen Begriffen mit spielenden Fingern
und schenkte ihm oft weniger die kräftigende
[248J
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Macht ihrer ursprOnglichen Ideen, als sie
ihn, ohne böse Absicht, mit den Deutlich-
keiten kunstloser Worte auf nur mit Wider-
willen von ihm begangene Fahrten wies, die
zu den alltäglichen Anlassen mancher JVlit-
teilungen and Bemerkungen fahrten.
III.
Als er zum ersten Male wieder mit Lili
zusammentraf, mußte er sich über die über-
triebene Art ärgern, mit der sie ihren Abscheu
über sein verändertes Aussehen, die allzu
langen, links gescheitelten Haare und den
rasierten Schnurrbart zum Ausdruck brachte.
Dieser Arger gab dem Tage sein Gepräge.
Er war unwillig und schied vcrstimuit. Trutz-
dem war er glücklich gewesen, als er ihr
die Hand gegeben und sie ihn mit ihrer
hellen, immer etwas zu kuti angeschlagenen,
mokanten Stimme gefragt hatte: »Was wollen
denn Sic wieder daV« Aber dann waren der
Ärger und die bösen Gedanken gekommen.
und alles war für heute aus gewesen. In
seinem Unmut brachte er des Abends, als er
mit der Mutter allein war, das unselige
Thema vor, das beide immer zerbrochen
entließ: die Elendi^^keit und den Druclc
der mittelmäßigen Verhältnisse, das Nicht-
sein-dQrfen und Nicht-woUenHlQrfen, dieses
Herumkrieclien unter kleinlichen Jochen, die
ganze Erbärmlichkeit der beschnittenen Flügel
und der Ode, die Zukunft heißt.
Erregt ging er hin und her. Das milde,
weiße Licht der Lampe lag über dem
schweren Tisch, eine gesättigte Wärme
füllte das dunlcel tapezierte, bequem aus-
gestaltete Zimmer, die Messingklinken an den
altertümlichen Türen glänzten, und wenn
ein einsamer Wagen vorbeifuhr, zitterten die
Fensterscheiben. Die Mutter saß mit vor-
gebeugtem Nacken, beide Arme über den
Knien müde hängen lassend, auf dem
Stuhle neben dem grünen Kachelofen, Sie
war etwas erhitzt, und das über den
[246J
Schlafen ergrauende Haar stand ein wenig
zerzaust über der blassen Stirn, die von
denselben Falten durchzogen war wie seine
breiter gewölbte. Beide Hände in den Hosen-
taschen^ blieb er vor ihr stehen.
»Und das ist mein Leben I« rief er.
»Wozu denn dieses Arbelten, das mühe-
volle vvüchenlange Sitzen vor den Büchern,
wenn das alles doch nur zur Ode führt 1
Was liegt denn vor mir? Der »Beruf«!
Karrengaul zu sein, eingespannt mit den
andern, — das lieißt doch, den Sargdeckel
über sich zuschlagen. Begreifst Du meine
Angst, die sich an das bissei Schöne im
Leben klammert? Wenn ich frei wArM Wenn
ich hinaus konnte in die Weltl Aber da
heißt es, und es ist ganz natürlich uad
gerechtfertigt: »Du hast lange genug studiert,
stell dich auf eigene Füße! Erwirb U Ja,
erwerben! Aber was erwerb' ich denn?
Was bringt mir das Amt? Eine Lappalie.
Und wannV... Der Vater freilich, der kann
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es schon gar nicht mehr erwarten, bis ich
etwas bin. Etwas binl Wenn ich's heut
nicht bin, werde ich's morgen? Und was
bin ich schon, wenn ich einmal, was weiß
ich; als Oberlandesgerichtsrat stolziere ? Dann
bin ich etwas I So meinen sie's Ja alle...
wenn ich nur studieren konnte, immer
studieren, selbständig, ohne diesen hasten-
den Ruf hinter mir: Schluß I Wenn ich
reisen könnte! Ich pfeife auf den Beruf 1...
Pas sollten die Leute hören. »Verdorben«,
worden sie sagen. Aber ich will kein
»nützliches Mitglied der menschlichen Ge-
sellschaft« werden, ich bin aus einem
andern Stoff. Aus dem macht man nicht
die Qerichtsrflte und die Notare. Ich bin
ein Künstler. Ich bin das Oberflltesigste,
das auf der Welt herumläuft. Ich bin ein
Sonnenlichtiänger, ein Träumer. Der Vater,
der mich »so genau« kennt, der sagt natür-
lich geringschätzig: »Willst du vielleicht so
ein Skribler werden und hinterm Busch ver-
[247J
hungern ?« Nein, ich will nicht verhungern I
Ich bin nicht der Mensch dazu, ich lebe nur
in der Schönheit, nur in einem gewissen
Überfluß. Ich weiß, was Du sagen willst.
Du willst mir sagen: »Und du willst hei-
raten?! Du willst dich ins Elend hinein*
setzen mit keiner andern Aussteuer als
deiner Verwöhntheit? Du, der du dir keinen
Wunsch versagen, du, der du nur im Reich-
tum gedeihen kannst, der du dir Teppiche
über Teppiche legst und jedes Buch kaufst,
dessen Einband dir gefflllt^ der du noch nie
in deinem Leben mit deinem Monatgeld
ausgekommen bist, der du, wenn du zu Hause
lebst, Schulden machen mußt du willst
heiraten, willst mit 2000 Gulden — und ob
du die hast, weißt du nicht einmal — dich
mit einer ebenso verwöhnten Frau in zwei,
drei kleine Zimmer zurückziehen, deine
Frau vielleicht gar arbeiten sehen V Du, der
du im Jahr mehr Kleider und Zigaretten
brauchst als. . . c _ Nicht wahr, das alles
[248]
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willst Du sagen V Nicht wahr, MamaV Und
schau, obwohl ich so ein Mensch bin, ob-
wohl ich ein Verschwender, ein leicht-
sinniger, unpralctischer, verwöhnter, egoisti-
scher Mensch bin^ obwohl ich keine Aus-
sichten habe, obwohl ich weiß, daß ich
mich durch einen solchen Schritt far mein
Leben vielleicht an die Scholle feßle, ob-
wohl ich so ungeschickt bin zum Entbehren,
Entsagen, Verzichten, trotzdem, ja trotzdem
will ich'sl Ja, ich will die Lili heiraten,
wenn es nur halbweg9 mOgüch ist Es ist
meine Idee vom GlOck. Ich kann mir nicht
helfen... Du weißt, wie ganz anders ich
gedacht, wie ich immer gesagt habe: »Ich
muß eine reiche, sehr reiche Frau bekommen,
sonst kann ich nicht leben; denn ich
selbst vermag mir nichts zu erwerben und
werde es gewiß nie zu etwas bringen.«
Und begreifst Du denn nicht, was für ein
großes Gefühl es sein muß, das d a s über
den Haufen wirft und schreit: »Nein, ich
[249]
will etwas ganz anders. Ich will eine kleine
Frau haben und glücklich sein, einmal glück-
lich sein!...« Mir kommen sie ja selbst,
diese gräßlichen, ernüchternden, heißen Ge-
danken: »Werd' ich das können, wird das
möglich sein?« O, Du weißt ja gar nicht,
was mich alles quält! Was mir alles im
Kopf herumstOrmt: Ob sie mich auch wirk-
lich lieb hat. Ob sie nicht kühl denkt.
Ob sie mich nicht nur so hinhält, wie kein
Mfldel einen Verehrer ausläßt Ob sie nicht
mit einem Mal in die Vernunft hinein
springt. —-Und könnt ich ihr unrecht geben '?
Was sag' ich mir denn selbst? »Unsinn«,
sag* ich mir. »Dein Leben ist unterbunden,
wenn du dich veri^nnst. . .« Aber was wird
denn aus diesem Leben? Wenn ich nicht
diese eine Hoffnung hätte und die Kunst,
wo wär' ich denn 11.... Jetzt erschieß ich
mich nicht, nein , jetzt noch nicht! Jetzt
ist die Hoffnung trotz alledem noch zu
gewaltig. Dieses ewige »Vielleicht doch«
[2öOj
wird mich noch lange narren... Aber laß
mir dieses Ideal! Ich kratze und schabe ja
selbst genug daran herum. Laß mich diesem
Stern nachgehen, bis mir die Beine den
Dienst versagen I«
Die Mutter sah ihn an, so schmerzlich, so
innig, daß er innehielt.
»Du tust mir weh, Heinrich,« sagte sie mit
ihrer weichen zärtlichen Stimme. »Was ich
um Dich leide, das kannst Du Dir nicht
vorstellen.«
»Ich weiß, Mama, ich weiß. Aber verzcifi
mir. Ich kann nicht anders. Ich bin roh.
Ich geh' es zu. Aber wozu in Selbsttrug
leben?«
»Ich lebe in keinem Selbsttrug^« seufzte
sie. »Ich kenne Dich zu gut. Ich zermartere
mir den Kopf, wie das werden soll.«
»Sei gescheit, Mama,« sagte er und blieb
vor ihr stehen. »Wohin das führen soll?
Denk nicht daran. Freu Dich mit mir aber
den Moment.«
[25lJ
»Heinrich!«
»ja, ja, ich weiß. Icli rede Unsinn. Ich
--ach Gotti Mama, ich bin so unglücklich I«
IV.
Der Fasching war vorbei. Wenn er Lili
besuchte, saB sie im weißen Hausicleid unter
ihren in langen Reihen aufgestellten Photo-
graphien in dem schmalen lichten Zimmer,
das er so lieb hatte. Ober den Ständer-
pfosten kleiner leichter Tische hingen die
Tanztrophäen, die Damenspenden und Kotil-
lonfächer; aber auf dem kleinen Sekretär
standen Veilchen und Hyazinthen, und auf
den Dächern der einstöckigen Häuser gegen-
über glänzte schon ein FrQhlingsgrOßen.
Nun war endlich die schreckliche Zelt
vorbei, da er seine feine zierliche Lill .in dem
Gedränge erhitzter, geputzter, Nichtigkeiten
plappernder Menschen fast haßte. Endlich
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war die hochmütige Maske gefallen. Sie saß
bei ihren Arbeiten unter Büchern, und ihr
stilles liebes Lächeln glänzte in den treuen
blauen Augen. Er sah sie an und fühlte
seine Liebe mit großen, weißen Schwingen
in einem schimmernden JSteere sonnenzittern-
der Luftwellen atmen, er hatte einen Drang
in sich, diesem i^leinen blonden schmalen
Kinde sich an die Füße zu schmiegen und
gluckvergessen zu träumen. Wie Schatten
gingen die Vorgänge des Lebens an seiner
müden Seele vorüber. Er hatte die Atmo-
sphäre dieses Zimmers in den Gliedern, sein
Herz beugte sich in einem schauernden Ent-
zückeui in keuscher Andacht sehnender
Hoffnungsfalle.
Wenn er dann zu Hause saß vor seinen
Büchern und sein auftaumeinder Blick sich
auf das sanfte, schwermütige Bild senkte,
unter dem in ungleichen Zttgen »Lill Arendt«
Stande dann kam die wilde Jagd der verdräng-
ten eifersüchtigen, peinigenden Zweifel-
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gedanken wieder. Wie Heuschrecken schwärm-
ten sie schattend über den bebenden Saaten
seiner Wflnsdie* Lili hatte nie den rechten Mut
zu ihrer Liebe gehabt Und die Leute, die
immer ihre Glossen machen und so zudringlich
mit ihren Urteilen sind, hatten ihn »freund-
schaftiich« gewarnt vor dem »oberfiächiichen,
leoketten Geschöpf«. Grob war er geworden,
heftig, wütend hatte er ihnen das Wort
zerbrochen, aber heimlich bohrten sich die
giftigen Spitzen in sein argwöhnendes, zer-
martertes Denicen. Sie war ja wirldich
seltsam, wenn sie unter den Menschen er-
schien. Sie lächelte so glücklich in den
Armen ihrer eleganten Tänzer, plauderte so
übermütig mit »diesen Laffen«, sie war so
scharf, so schnippisch mit ihm, ihrem ailzu
getreuen, unmutverbitterten Schatten. Freilich,
wenn er sie in einem langsamen Walzer-
schritte fest umschlungen hielt, wenn sich
ihr blondes blasses Köpfchen wie eine
Blumenicrone Uber den schmalen Kinderhals
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senkte; wenn er in Ihre himmelblauen zärt-
lichen Augen bückte und bei der schmeichelnd
wiegenden Musik die lästigen Menschen
vergaß, dann verzieh er ihr, dann bat
er ihr ab mit bettelnden Knabenblicken,
dann dankte er ihr mit selig-stummen Lippen
oder mit weich-fiübternden Worten. Aber
die Zweifel stiegen wieder aus der auf-
gewtthlten Asche seiner bösen Gedanken
wie dUnne narkotische Rauchsäulen, in
nebelnde Schichten vergleitend. Er rannte
dann oft nachts verzweifelnd durch die
leeren Straßen, oder er vergrub sich mit
zitternden Nerven in seine Dichter, oder
er ließ seine zuckenden Klagen in erregte,
in zagende Verse gleiten . . . Dann sah er
sie wieder und bat ihr den letzten langen
bittem Brief ab;
V.
Da ihm der Gedanke seiner Heirat mit
dem über alles geliebten Mädchen bei der
Attssictiislosigkeit der nächsten Jahre wie
eine lodernde Fackel alles geordnete Über-
legen andrer Dinge versengte, lief er in
seiner Ratlosigkeit zu der Großmutter, mit
der sicli ein vernünftiges Wort sprechen lieft
und bei der er sicher war, nicht unter dem
wehmütig-zärtlichen Vertrösten seiner Mutter
und den spöttiscti-ungläubigcn Witzen seiner
beiden nächsten Freunde zu leiden. Die Qrofi-
mutter empfing ihn herzlich und mit dem
stillen Vorwurf, schon ganz übersehen und
zurückgesetzt zu sein, den sie mit der un-
logischen Beharrlichkeit alter, etwas ver-
grämter Leute immer mitankiingen lieft. Er
setzte ihr mit hastigen schttchtemen Worten
seine Lage auseinander. Wie er sich von
den Frauen losgerungen habe, wie er,
wenn er ganz aufrichtig sein solle» auch von
Liti durch die geänderten Umstände, in den
neuen Wiener Verhältnissen gehofft hatte
ablassen zu können, wie er aber, unruhig
und unzufrieden, bei seinem bald verzwei-
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feinden, alles verneinenden Charakter sich
80 unwohl gefohlt hätte in dem feind*
liehen, aiiBer aller Beziehung zu seinen Nei-
gungen unzugänglich verharrenden Wien,
wie er geflohen sei und^ zurückgekehrt,
sich wieder in den kaum gelockerten süßen
Banden gesehen, wie er in qualvollen Ver-
nunftgedanken mit seinem ersehnten Ziele
gerungen und wie er sich endlich davon
überzeugt habe, daß er wirklich ohne Lili
nicht leben könne und daß er sie erringen
müsse, allen Bedenken^ allen Sorgen, allen
Warnungen zum Trotz. Er hatte sich in eine
Aufregung gesprochen, die auf den vom
Stubensitzeii und Lernen gebleichten und
schmäler gewordenen Wangen als eine fieber-
hafte glänzende ROte erschien. Hilfeflehend
sah er zu den ruhigen ZQgen dieses gütigen
milden runden alten Gesichtes auf. Die
Großmutter aber begann mit ihrer herzlichen
Stimme, in den zerrissenen Fügungen ihrer
aufrichtigen Sprechweise zu hrOsten und zu
17
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sänftigen, £r blickte ihr angstvoll <;iemütig
in die grauen lieben Augen, lioffend und
ungeduldig, ehcf ürditig und ängstlich. Aber
die weichen^ fast sduneictielnden Worte
sagten nur immer:
»Schau. Sei gescheit Hab sie lieb und
lern brav. Aber, Harry, denk dochl Du
bist ja so Jungt Und ihr zwei seid so ver-
wöhnt. Und Du bist ja noch lang nichts«
Und binden kannst Du Dich nicht, Du bei
Deinem erregten, flüchtigen Temperament.«
Er ging davon wie im Traum. »Soll ich mich
losmachen?« fragte er sich. »Soll ich dieses
Jus, das zu nichts führt, hinwerfen, zu
einer Zeitung gelien? Aber dann bin ich
erst recht nichts, Und warten? ich bin
zweiundzwanzig, sie ist zwanzig« Wie lange
soll ein MM mit zwanzig Jahren warten?
Und wenn ich selbst annehme, sie hätte mich
so lieb, annehme, daß sie es wagt und
wartet, drei, vier Jahre wirklich treu und
hoffend wartet^ bin ich in drei, vier Jahren
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derselbe V Hab' ich nicht die Pflicht, mich
jetzt zu erklären, bindend zu erklären ? Aber
wenn das Unmögliche dann geschieht, wenn
ich wirklich gegen mich nicht kann, soll ich
durch die Trostlosigkeit einer Pflichtsache
dieses reine, liebliche. Geschöpf beleidigen?
Und darf ich andrerseits so gemein sein^
brutal zu brechen, zu verraten, Treue zu
mißbrauchen?«
Er war so unglücklich. Er hätte am liebsten
laut geweint. »Und daß Gräßliche daran ist
das,« sagte er sich, »daß der Gedanke so
wunderschön ist und nicht gedacht werden soll.
Warum nicht? Weil uns das ausreichende
Geld fehlt? Ist denn Geld alles V Und kann
ich mir denn wirklich nicht Geld verdienen?«
Er mußte sich Nein sagen. Er war ja doch
nicht der Mensch dazu, sich zu verdingen»
Er war doch der wohlgeborene Sohn ge-
achteter Eltern. Den ward er nicht los. Da
half kein Sträuben. Er war zu schwach.
Und hätte das auch einen Sinn gehabt?
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Er muBte ihr doch eine Stellung bieten, er
konnte sie doch nicht an ein ungewisses,
schwankendes Dasein fesseln. Es mußte doch
um Himmels willen etwas Sicheres sein...
Er Oberlegte zum so und so vielten Male
die Berufe. Advokat? Undenkbar. Dauert
zehn Jahre mindestens. Gericht? Da mußte
er fort und kam doch auch nur bis zu einem
gewissen kleinen Ziele, dann blieb er sitzen.
Und vier Jahre dauerte es Ja auch hier, bis
er als gewissermaßen fundierter Bewerber
auftreten konnte. Verwaltungsbeamter V Es
blieb ihm nichts anders übrig . • . Aber
die Reisen? Er mußte doch endlich ein-
mal die Welt sehen. Er mußte doch auf
ein Jahr wenigstens hinaus... Durfte er
diesen Wunsch überhaupt aufkommen lassen?
Das hieß ja dieser endiosen Wartefrist ein
Jahr zulegen. . . £r dachte an seinen Lieb-
llngsplan, Philosophie zu studieren und sich
zu habilitieren. »Zu spät. Ich darf nicht.
Ich muß in den Beruf, ich muß ehebaldigst
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in den Beruf . Ich muß mich begraben. Alte
Träume vom langen, langen, einsamen, be-
harrlichen, durch keinen Amtszwang gestörten
Studieren müssen ausgetrieben werden, bis
kein Funke mehr aufflackern kann... Wie
aber kommen mir Oberhaupt diese Ideen?
Ich sollte ja freudig allem entsagen, was mich
von ihr entfernt! Ekelhafter Unbescheidener,
der ich immer wie ein Kind alles zugleich
packen wUU Aber Bescheidenheit ist Stagna-
tion. Ich bin ein Künstler, ein ewig Un-
bescheidener. Ich hab' das Recht dazu...€
Ja, Recht I Und nicht einmal aus der mate-
riellen Hausabhängigkeit hatte er sich zu
befreien gewußt trotz dem Titanentrotze
und diesem zehrenden, bOsen Unmut Uber
die Fessel, die er am Fuße mit sich schleppte..»
»Du bist ein Schwächiing,« schrie es in
ihm. »Gib dich auf, wie dich das Leben
aufgibt I £rschieß dich! Mach ein Ende!«
»Uli, Lili,< ft^te er, »sOSe kleine blonde
Uli, Schutzgeist, hilf mir!« Und so flOchtete
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er sich nach Hause» zu ihrem Bilde, schrieb
ihr einen verzweifenen Brief und vergrub
sich in seine Bücher, traurig und wie zer-
schnitten, mitten entzwei geschnitten» gren-
zenlos elend* . «
»Wie ist denn das möglich gewesen?«
fragten die Leute. »So ein vielversprechen-
der Junger Mann»« meinte ein Gütiger. »Er
war ein hUbscher Bursch,« sagte die Baronin
Nini, »wirklich ein hübscher Bursch...«
Seine Mutter aber saß bei ihm und hielt
seine vericrampfte weiße Hand. Ihre Augen
waren erioschen» stumpf. Und um sie heriim
stand dieses voll geräumte, behagliche Zimmer
mit den vielen Bildern und den glänzenden
Büchertiteln. Eine Lampe brannte auf dem
Fensterbrett. • . Warum brennt diese Lampe?"
Und warum ticlcen die unermfldlidien
Uhren ?... Der Vater schlich herein mit ge-
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runzelten Brauen, blaß und scheu. »Man
muß ihm den Revolver aus den Fingern
bringen,« flüsterte er dem Arzte zu... Dann
fiel wieder die StiUe herab wie ein dichter
Schleier. Der PrOhlingsMfind aber rttttelte
an den Scheiben...
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32101 023644238
C t
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